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K n q o 1 G
Malnis,
Ill'ustrirte
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer DermKslchtlgunI der Anthropolllgie und Ethmlllgre^
Begründet von Kart Undree.
In Verbind» ng mit Fachmännern
herausgegeben von
vi'. Kichard Kiepert.
Achtnnddreißigster Band.
Grnnn schweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1 8 8 0.
H™t»Wt.U„Irers _
Philosophische ÖGnm
'Ottltul far vciW . <
ßer,|n N 4. Chaussee
-e t j Q
Jnhaltsverzeichniß.
Deutschland. Das Elsaß im 13. Jahr-
hundert. Von Dr. Bruno Stehle 8.
28. Zinkproduktion von Schlesien 191.
Abnahme des polnischen Großgrundbe-
sitzes in Posen 191. Merkwürdige Vo-
gesenberge. Von Prof. G. Gerland.
I. Donon 217. 233. II. Ungersberg.
Climont 263. III. Hohnack 298. Wal-
tenberger's Bayerisches Hochland und
Salzburg 239. Geographische Gesell-
schast in Baden 334. Der ehemalige
Lauf der Mulde 334.
O e st e r r e i ch - U n g a r n. Dampfschissfahrt
auf der Drina 15. Reifnitz in Kram 109.
Bevölkerung von Budapest III. Bevöl-
kerung Bosniens 176. Neue Volkszäh-
lung 176.
Belgien. Farbe der Augen und Haare 191.
Schweiz. Bücherproduktion 110. Baden
in der Schweiz 239.
Skandinavien. Ein illustrirtes Werk
über Skandinavien und Großbritan-
nien 356.
Frankreich. Wissenschaftliche Missio-
nen 15.
Italien. Das Val de Eogne in Piemont.
Von W. Bertram 39. 55. Lucca und
seine Umgebung 49. 65. 81. Die Rui-
Russisches Asien. Sibirien. Eisen-
bahn nach Tjumen 80. Bevölkerung
von Toms! 127. Goldminen im Gou-
vernement Jenifeisk 144. Schlechter Zu-
stand der Wasserwege 159. Handel von
Nikolajewsk 159. Chabarowka Haupt-
stadt der Küstenprovinz 159. Die Chun-
chusen im Süd-Ufsuri-Gebiet 173. 304.
Nordenskjöld's projektirte Expedition nach
den neusibirischen Inseln 223. Uni-
versität in Tomsk 223. Der Markt von
Obdorsk 223. Jadrintzew's Expedition
in den Altai 239. Statistisches 304.
Der Kreis Karkalinsk 304. Telegraphen
318. Ehandaschewski im Norden des
Gonv. Tobolsk 383.
Mittelasiatische Gebiete. Postverbin-
dnng mit Europa 93. Dampfschifffahrt
auf dem Ural 93. Die Flora von
Turkestan 127. Untersuchung des oberen
Jrtysch 144. Ujfalvy's zweite Expe-
dition nach Turkestan 144. 318. Be-
völkerung von Russisch-Turkestan 159.
Muschketow im Zerawschan-Gebiete 159.
Ein neues Projekt zur Verbindung des
Aralsee mit dem Kaspischen Meere 191.
Telegraph im Transkaspischen Gebiete
223.' Nothstand 223. Civilverwaltung
von Ferghana 239. Die geologische Ex-
pedition zum Zerawschan- Gletscher 343.
Viehverluste in Turkestan 383. Russische
Truppen auf Alai 384.
<L u r o p a.
nen von Metapontum 87. Bekämpfung
der Malaria 110. Schulbildung der
Rekruten 192. Das Aetna-Observato-
rium 239.
Griechenland. Die letzte Volkszäh-
lung 143. Trockenlegung des Kopais-
Sees 143. Etymologien griechischer
Namen 143. Dampfschiff-Verbindung
des Piräus 192.
Europäische Türkei. Hungersnoth
am Marmara-Meere und in Makedo-
nien 15. Volkszählung in Ostrumelien
III. Das Waldgebirge von Bellova in
Ostrumelien 166. Antikenmuseum in
Konstantinopel 272. Skizzen aus Ober-
Albanien. Von Sp. Gopoevic;.
I. Durazzo 302. II. Tirana 329.
III. Kruja 345. IV. Lesch 360.
V. Drivasto 361. Kiepert's Karte
der Unter-Donau- und Balkan-Länder
350. Rückgang Konstantinopels 367.
ökodra, das Herz Oberalbaniens. Von
Sp. G op c e V ic. 377.
Bulgarien. Die Grenze zwischen Bul-
garien und Rumänien 102.
Montenegro. Viehzucht III.
Serbien. Geologische Landesaufnahme
219.
U f i e n.
Kaukasien. Reise in Daghestan 176.
Karte der Unterrichtsanstalten 176. Die
kaukasischen Juden 187. 199. Ossetische
Grammatik 208. Reisen von Mitglie-
dern der kaukasischen Sektion der K.
Russ. Geogr. Gesellschaft 208. Bewäs-
serung der Milskischen Steppe 288.
Trinkwasser für Baku 318. Naphtaqnel-
len 318. Geologische Untersuchungen 384.
Türkisches Asien. Oliphant's Reise im
Ostjordanlande 80. Midhat Pascha über
die deutschen Kolonisten in Palästina 80.
Schweizer Expedition nach den Küsten
des Rothen Meeres 93. Roth in Ar-
menien und Kurdistan 93. Das heutige
Syrien. Nach L ort et 98. 113. 129.
145. 161. Humann über die Bevölke-
rung des vordern Kleinasien 223. Ver-
deutsche Palästina-Verein 239. Lortet's
Untersuchung des Tiberias-Sees 350.
Arabien. Schapira's Reise in Jemen.
Von H. Kiepert 183. Huber in Dschof
318. Goldmine im Bezirke San» 318.
Persien. Der russische Handel mit Per-
sien 222. Kurdenunruhen 384.
Türkische Ehanate. Einiges über die
Turkmenen 220. 231.
B r i ti s ch -I n d i e n. Elfenbeinproduktion
95. Vorkommen des Rhabarber im Ge-
birge nördlich und westlich von Indien
96. Vorbereitungen zur Volkszählung
240. Wilde Thiere in Bengalen 240.
Rumänien. Ein- und Ausfuhr im
Jahre 1879 III. Ueberbrückung der
Donau III. Zufrieren der Donau bei
Galatz 272. Nationalitäten in der Do-
brudscha 335.
Rußland. Wachsen des Ostseehafens Li-
bau 15. Die Liven in Kurland 71.
Expeditionen nach Lappland und dem
Weißen Meere 126. 143. 335. Pferde-
ausfuhr 1879 126. Anzahl der Medi-
cinalpersonen 126. Statistik des Grund-
besitzes 126. Pferde im Don-Kazaken-
Lande 126. Regulirung der Weichsel
176. Fabriken im Kreise Petersburg
176. Kronstädter Fort 176. Postkurs-
buch 192. Meliorationen im Gouverne-
ment Rjazan 192. Die Entwässerungs-
arbeiten im Poläß 254. 366. Vertiefung
der Dniepr-Mündung 254. Die Wolga-
brücke der Orenburger Eisenbahn 254.
Dampsschissfahrt nach Nowaja Zemlja
254. Geologische Untersuchung im Gou-
vernement Astrachan 272. Kalmyken-
Schulen 272. Import von Wolle 335.
Wiederbewaldungsarbeiten 335. Be-
wässerung der Steppen-Gouvernements
350. -Export Finnlands 366.
Folgen der Hungersnoth in Kaschmir 318.
Vorkommen von Diamanten 384.
Hinterindien. Elfenbeinproduktion 95.
Im Innern von Hinterindien (Har-
m and's Reife) 177. 193. 209. 225.
241. 257.
China nebst Vasallenstaaten. Der
Jaru-dsang-po in Tibet 45. Die Be-
völkerung in dem Centralzuge des nord-
westlichen Himalaya. Von Dr. Kon-
rad Ganzenmüller 59. 74. Russische
Handelsexpedition nach Kalgan 93. Ney
Elias in Ostturkestan 93. Prfchewalski's
Expedition 93. 159. 310. 350. Rha-
barber im Gebirge nördlich und westlich
von Indien 96. Die koreanische Insel
Ollon-to 127. Reisen von Missionären
127. Russische Dampfschiffahrt 159.
Die Füße der chinesischen Frauen 304.
Die Wassermasse der nordchinesischen
großen Ströme 350.
Korea. Ein verschlossenes Land. Reisen
nach Korea. Von Ernst Oppert 25.
Waarenverkehr in Gensanshin 144.
Japan. Küstenaufnahmen 127. Der
Dampfer „Nordenskjöld" 240.
Inseln. Auf Java. Nach Desire
Charuay 1. 17. 33. Missigits in Nie-
derländisch-Ostindien. Von v. Rupp-
recht 150. Die Erdbeben des Juli 1880
auf den Philippinen. Von F. Blu-
mentritt 315.
VI
Inhaltsverzeichnis
% f x Ii a.
Riebeck's Reiseprojekt 94. Afrikas Elfen-
beinreichthum 85. Die Völkerverhältnisse
Afrikas. Von A. Erniuin 157.
Marokko. Dr. O. Lei?z' Uebersteigung
des Atlas'88. Dr. O. Lenz' Reife
von Tarudant nach Jler und Fum-el-
Hosfan 104. Eolvile's Ritt durch das
nordwestliche Marokko 153. 167. JUl.
Algerien. Choify's und Flatter^ Mor-
Untersuchungen für die "Trandfahara-
Bahn 3». Algeriens Entwicklung 93.
Abnahme der Löwen 93. Straußenfarm
159. Telegraphen nach Wargla 192.
Palmenkultur und Brunnenbohrungen
der Franzofen in der Algerischen Sahara.
Von Prof. Th. Fischer 330.
Tripolitanien. Handelsverkehr III.
Cainperio über den Handel zwischen
^Tripolitanien und dem Sudan 335
Sakiara. .Len^ in Arauan 319. Flattert ^
Expedition 319.
Aegyp tisch es Reich. Wiederaufleben
des Sklavenhandels in Aegypten 64.
Jnnker'sZ Reise zuL den? Monbuttu 93.
Emin-Bey am Albert-See 93. Fracca-
roll in Darfur 94. Matteucci's Reise
M
94.192.319. Fraccaroli'sTod 144. Han-
delsverkehr 240. Befriedigende Lage des
Landes 335. Volkszählung 336.
Abeffinieu. Rohlfs' Gesandtschaftsreise
64. 240. 351. Italienische Expeditionen
in Schoa 94. 351. Des Franzosen
Lombard Reise 254.
Ostafrika. Die Medfchertin-Somali 44.
280.
Das Innere. Die dritte belgifche-Ex-
pedition unter Ramaekers 80. Buch-
ner's Expedition 93. Thomson am
Lukuga 94. Die neuesten Berichte von
der Uganda-Mission 107,^367...Thom-
son's Rückkehr nach der Ostküste 128.
215. Des Dr. Potagos' Reisen im
Gebiete des Nil und Helle 135.151. Pro-
jektive Missionsreisen ani Mittlern Congo
159. Earter's und Cadenhead's
Ermordung 192. 255. 351. Fünfte
belgische Expedition 192. 255. Thom-
son's Rückreise vom Lukuga nach Zan-
lihnr 915. Neue deutsche Expeditionen
sbon Schoeler und Pogge) 240. 351.
Easati nach dem Njamnjam-Lande 255.
Katholische Missionen 351. Junker's
Reise im Njamnjam-Lande.254. Pro-
testantifche Miffionsreifen 36?.
D e r S ü d e n. Dampferverbindung zwischen
Natal und den Vereinigten Staaten III.
Die Jesuitenmission im Lande der Ma-
tabele III. Phipfon-Wybrants' Reise
in das Gebiet zwischen Limpopo und
Zambesi 255. Holub's neues Reisepro-
jekt 319. Sitten und Gebräuche der
Ovaherero bei Geburten. Von E.Dan-
nert 363.
Der Westen. Semelle nach dem Birnie
144. Flegel wieder nach dem Binus
240. Gallieni's Expedition nach dem
Niger 240. Die französische Station
am Ogowe 255. Französische Regie-
rnngsexpedition nach dem Niger 352.
Lenz' Ankunft in Medina 352. Se-
mells's Tod 367. Neuer Weinstock ent-
deckt 367. Quintin über die anthropo-
logischen Verhältnisse des südwestlichen
Sudan 367.
Inseln. Die Hova-Regierung auf Mada-
gaskar 31.
Ier Kontinent von Australien.
Fleischexport III. Australische Typen und
Skizzen. Von C. E. Jung. VII. Die
Diggings 118. VIII. Im Busch 170.
IX. Die Squatter 203. X. Bushranger
236. Arbeiternoth und chinesische Ein-
Wanderung 224.
Süd austra lien. Die Port-Darwin-An-
siedelung an der Nordküste von Austra-
lien 91. Heuschreckenplage 128. Reiches
Goldfeld in der Port-Darwin-Ansiede-
lung entdeckt 319.
Victoria. Batman-Denkmal 112.
NeufüdWales. Besuch der Ausstellung
in Sydney 112.
Kleinere Inseln des Stillen Hceans.
Melanesien. Die religiösenAnschauun-
gen der Bewohner der Neu-Hebriden.
Von M. Eckardt 12. Lithographische
Steine aus Nen-Kaledonien 32. Mytho-
logie und Sagen auf den Banks-Jnseln.
Von F. Birgham 73. Miklucho-
Maclay auf Neu-Guinea 144.
M i k r o n e f i e n. Die Bewohner der Mort-
lock-Jnseln 31. Segelkarten der Marfhall-
Jnfulaner 32.
Polynesien. Götter- und Helden-Sngen
aus Hawaii. Von F. Birgham 72.
Neuseeland. Abnahme der Maori 128.
Aerolith 128. Finanznoth 128.
Nordamerika.
Britisch-Nordamerika. Eisenbahn aus
Newsoundland 112. Fredericton desini-
tiv Hauptstadt von Neu-Braunschweig
128. Eingeborene in Eanada 255. Der
Name Rainy Lake 255. Petitot über
die Etscha-Ottine 255. Newsoundlands
Fischerei, Ackerbau, Erzreichthum 256.
Vereinigte Staaten. Baumanpflan-
zung in Kansas 15. Dall's neue Reise
nach Alaska 32. Geographische Biblio-
thek in New ^ork 32. Tiefenmessungen
unterhalb des Niagara-Falles 32. _ Au-
stern-Export 47. Ratzel' s „Vereinigte
Staaten von Nord-Amerika" 47. Der
Ruby-See in Nevada ausgetrocknet 47.
Gold- und Silberreichthum der Vereinig-
tcn Staaten 112.
Mexiko. Das neue Territorio de Sierra
Mojada und dessen Mineralschätze 32.
Charnay's archäologische Reife 47.
Inseln. Eolumbus' Leiche 112. F. A.
Ob er's Aufenthalt auf den Karibischen
Inseln 247. 266. 282. 296. Die ame-
rikanischen Tieffee-Forfchungen im Cari-
bischen Meere. 251.
Eolombia. Erevaux' neue Reise 256.
Panama und Darien. Nach A. Reclus
273. 289. 305. 321. 337. 353. 369.
Guayana. Eine Reise zu den Auca-
Buschnegern in Holländisch - Guayana.
VonKarlMüller-Mylius 121. 139.
Die zahmen Thiere bei den Indianern 160.
Brasilien. Missionäre am Purus 47.
Südamerika.
Wiener's Reise von Quito nach Para
368.
Paraguay. Besserung der Zustände 43.
Argentina. Straußensarm 47. Lista's
Reise in Patagonien 47. Neue Eisen-
bahnen 48. Weinproduktion 48. Er-
sorschung des Rio Vermejo und Rio
S. Francisco 128. Zeballos' Reise in
den Argentinischen Pampas 368.
Feuerland. Fortschritte 256.
Chile. Aufnahme des „Alert" an den
südlichen Küsten 48.
Ecuador. Sitten der Jivaros 160.
Wymper zum zweiten Male auf dem
Chimborazo 256.
Inhaltsverzeichnis
VII
"Aolar-Heöiete.
Dänische Expedition nach Grönland unter
Holm 48. Dritte Nordpolexpedition des
„Willem Barents" 48. 255. 320. How-
gate's projektive Station in Lady
Franklin Bay 43. 255. 352. Norden-
skjöld's Nordpolarreisen 48. Polarfahrt
der „Eira" 64.320. Nachsuchung nach der
„Jeannette" 64. 255.384. Nordenskjöld's
neues Werk über die Umsegelung Asiens
94. Untersuchung der Dänemark-Straße
durch den „Jngols" 224. Ueberwinte-
rung auf Nowaja Zemlja 254. Arktische
Reise des „Corwin" 255. 320. Sibiria-
kow nach dem Jenisei 320. Schwatka's
Expedition zur Aufsuchung von Ueber-
resten Franklin's 336. Mißglückte Fahrt
der Gulnare 352. Die wissenschaftlichen
Expeditionen der Dänen in Grönland
352. Sir Allen Houng's projektirte
antarktische Fahrt 384.
Hermischte Uufsätze und Wittheitungen.
Anthropologisches.
Die geschwänzten Menschen 23. Ueber den
Farbensinn der Naturvölker. Von N.
Andree 155. Geruchssinn 160. Die
Verbreitung der Albinos. Von Richard
Andree 374.
Ethnologisches ssoweit es nicht unter
den einzelnen Ländern verzeichnet ist).
Kartographie der Naturvölker 32. Die
Pflege der Kinder in den ersten Lebens-
jähren bei verschiedenen Volksstämmen
252. 269. Ethnographische Bemerkungen
zu einigen Rechtsgebräuchen. Von
Richard Andree 286. 301. Die
Frühlingsfeier der Slaven. Von F. Hu-
bad 312. 326. 346.
Vermischt es. Tieffeeforschungen 64. Der
Elsenbeinreichthum Afrikas und Indiens
95. Geographische Erbsünden 95. Die
amerikanischen Tieffeeforfchungen im Ca-
ribischen Meere 251. Die Meeresunter-
suchungen im Golse von Biscaya 256.
Luftballonfahrt und Färbung des Mee-
res 272. Pferdebestand der Erde 272.
Größte Höhe der Eisenbahnen 272. Eine
Revision des Sargasso-Meeres 368.
Vom Büchertische.
H. I. Klein, Lehrbuch der Erdkunde 16.
E. Oppert, Ein verschlossenes Land 25.
Ratzel, Die Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika 47.
Die Nordpolarreisen A. E. Norden-
skjöld's 1858 bis 1879 48.
Meyer's Deutsches Jahrbuch 1879 94.
Humoristisches. Bruchstücke aus geographi-
schen Lehrbüchern, 1733 bis 1760 95.
Gaston deBezaure, Auf dem „Blauen"
Flusse 128.
Dieffenbach, Völkerkunde Osteuropas
176.
Waltenberger, Bayerisches Hochland und
Salzburg 239.
Europäische Wanderbilder 239.
S t a n l e y' s Reise durch den dunklen Welt-
theil 351.
Nordlandfahrten 357.
An nie B r äff ey, Sonnenschein und Sturm
im Osten 367.
O. Pefchel, Abhandlungen zur Erd- und
Völkerkunde 382.
O. Schneider, Typenatlas 384.
Biographisches. Personalia.
Todesfälle. Broca. 126. Cadenhead
192. 255. Carter 192. 255. Fortune
125. Fraccaroli 144. Horner 125.
Macleod 125. Moß 126. Neumann
126. Petersen 125. de Semells 367.
Smith-Fordes 125. Swanzy 126. —
Ballay 255. Bastian 224. Bayol 240.
Bianchi 351. Braconnier 192. Buch-
ner 93. Casati 255. Cecchi 94. 351.
Charnay 47. Chiarini 94. Choisy 30.
Colvile 153. 167. Crevaux 256. Dall
32. Depelchin III. Dutrieux 255.
Easton 127. Emin-Bey 93. Flatters
30. 319. Flegel 240. Fraccaroli 94.
144. Galliern 240. Guppy 350. Hammer
352. Harou 255. Hildebrandt 31. Holm
48. 352. Holub 319. Howgate 48.
Hüber 318. Im Thurn 160. Jadrintzew
239. Junker 93. 351. G. King 127.
Kubary 31. Kuntze 368. Lecart 367.
Lenz 88. 104. 319. 352. Lista 47. Litch-
field 367. Lombard 254. Lortet 350.
Matteucci 94. 192. 319. Michaelis 144.
Miklucho - Maclay 144. Mifon 255.
Müller 208. Muschketow 159. Ney
Elias 93. Nordenskjöld 223. Ober 247.
266. 282. 296. O'Flaherty 367. Oli-
phant 80. Palmer 367. Pavy 255.
Pennazzi 94. Petitot 255. Phipson-
Wybrants 255. Pogge 240. Potagos
135. 151. Prschewalski 93. 159 310.
350. Quintin 367. Ramaekers 80.
Resyek Polak 47. Riebeck 94. Riley
127. Rohlss 64. 240. 351. Samsonow
272. von Schöler 240. 351. Schwatka
336. von Seidlitz 208. Semellk 144.
Soleillet 352. Southon 351. Stecker
64. Steenstrup 352. Stein 176. 208.
Stokes 367. Thomson 94. 128 215.
Tjagin 254. Ujsalvy 144. Whymper
256. Wiener 368. Williams 367.
Wookey 367. Zagurski 208. Zeballos 368.
Mitarbeiter, soweit sie sich genannt haben.
R. Andree 155. 286. 301. 374.
W. Bertram 39. 55.
F. Birgham 72.
F. Blumentritt 315.
E. Dannert 363.
M. Eckardt 12.
A. Erman 157.
Th. Fischer 330.
K. Ganzenmüller 59. 74.
G. Gerland 217. 233. 263. 298.
SP. Gopöevic; 302. 329. 345. 360. 377.
F. Hubad 312. 326. 346.
C. E. Jung 118. 170. 203. 236.
H. Kiepert 183.
K. Müller-Mylius 121. 139.
von Rupprecht 150.
H. v. Schlagintweit-Sakünlünski 96.
B. Stehle 8. 28.
Europa.
Italien.
Die Wasserleitung von Lucca 50.
Der Dom in Lucca 51.
Hauptthür des Doms in Lucca 52.
Ein Begräbniß in Lucca 53.
Fenster des Oratoriums Santa Maria
della Rosa 54.
S. Michele in Lucca 66.
Das Rathhaus in Lucca 67.
Santa Maria Bianca in Lucca 68.
Die Kirche S. Frediano in Lucca 69.
San Agostino in Lucca 70.
Griechenland.
Cerigo 98.
Syra 98.
Illustrationen.
Norwegen.
Der Vöringfos 358.
Blick von Stalheim in das Närödal 359.
Asien.
Türkisches Vorderasien.
(2 o x t e t' s Reise.)
Smyrna 99.
Mersina 100.
Der Direkli-Tasch bei Mersina 101.
Meerbusen von Alexandrette 114.
Alexandrette 115.
Das Dorf Beilan 115.
Paß von Beilan 116.
Das Schlachtfeld von Jfsos 117.
Der Kasios 118.
Ansicht von Tripoli 130.
Eine Straße von Tripoli 131.
Frauen aus Tripoli 132.
el-Mina, der Hafen von Tripoli 133.
Capoeta fratercula, der heilige Fisch von
Tripoli 134.
Der syrische Fischgott 134.
Schloß Raymond's de Saint-Giles in Tri-
poli 135.
Ansicht von Beirut und dem Libanon 146.
Juden von Beirut 147.
Scheich von Der-el-Kamr 148.
Drusenfürftin! Dame mit dem Tantur;
Beiruterin im Putze 162.
Tantur, Kopfschmuck der Drusenfrauen 163.
Eine Wiege der Maroniten 164.
Der Maronite Hassan, ein Mukari oder
Pferdeknecht 165.
VIII
Inhaltsverzeichnis
Hinterindien.
(Harmand's Reise.)
Zug des Fürsten von Basiae zum Wasser-
feste 178.
Der Me-chüng zwischen Pack-mun und Kein-
ntei-ai 179.
Lagerplatz laotischer Fischer zwischen den
Felsen am Me-küng 130.
Besuch des Statthalters von Kemmerat 182.
Ankunft vor dem Dorfe La-khön 194.
Lager unter Bambus am Fuße der Berge
von La-khön 195.
Lager im Walde am Fuße der Berge von
La-khön 196.
Felfen schwarzen Marmors in den Bergen
von La-khön 197.
Abreise von La-khön 197.
Ansicht von Phu-Wa 198.
Marsch durch Bambu-Dickicht 210.
Typen von Wilden in Nam-Nau 211.
Was die Khas besonders interessirt 212.
Nachtlager 213.
Ein verwundeter Elephant 214.
Hütte von Wilden am Ufer des Se-bang-
hieng 226.
Thor eines Dorfes der Wilden am Se-
bang-hieng 227.
Instrument, dessen sich die Khas beim Acker-
bau bedienen 228.
Flöte der Khas 228.
Ein Waldbach während der Regenzeit 228.
Wilde, die ihr Reisfeld gegen die Vögel
vertheidigen 229.
Aushöhlungen im Walde Döng-Kephö 230.
Plan einer Hütte der Khas Duöns 242.
Betende Khas Duöns 243.
Pirogen der Pu-Thays 244.
Fluß unter Bäumen 245..
Köcher der Stieng als Probe der Kunst-
fertigkeit der indochinesischen Wilden 246.
Pfeifen von indochinesischen Wilden 246.
Haus eines reichen Annamiten 258.
Borderseite eines Hauses eines reichen An-
nannten 258.
Das Fort von Cam-Lö 259.
Besuch des Mandarinen von Cam-Lö 260.
Reise im Palankin über die Dünen 261.
Die Mission Bo-Liöu 262.
Java.
(Charnay's Reise.)
Avenue in Batavia 2.
Haus in Batavia 3.
Ein Kampong 4.
Inneres eines malaiischen Hauses auf
Java 5.
Allee von Feigenbäumen in Buitenzorg 6.
Corypha elata im Palmeng arten von
Buitenzorg 7.
Der Gamelan 18.
Der Mangku-Nagoro 19.
Lanzentanz 20.
Dolch- und Stocktanz 21.
Tanz der Frauen 22.
Gesammtansicht des Tempels von Boeroe-
Boedor 34.
Relief des Tempels von Boeroe-Boedor 36.
Tempel von Brambanam 37.
Ruinen der Tausend Tempel 33.
Sumatra.
Missigit von Jndrapoerie nach der Ein-
nähme durch die Niederländer im März
1879 150.
M i t t e l a m e r i k a.
Panama und Darien.
Haus in Colon 274.
Statue des Columbus in Colon 275.
Front Street in Colon 276.
Kirche und Säule in Colon 276.
Straße in Chagres 277.
Panorama von Panama 278.
Kirche Santa Ana in Panama 290.
Kloster San Francisco in Panama 291.
Jesuitenkollegium in Panama 292.
Wäscherinnen am Chorillo 293.
Aus der Vorstadt von Panama 294.
Soldaten von Panama 306.
Chepigana 308.
Typen aus Darien 309.
Haarputz einer reichen Frau in Darien 321.
Wie man in Darien die Kinder trägt 322.
Real de Santa Maria 323.
Molineca 323.
Pinogana 324.
Kautschuksammler (caucheros) 325.
La Palma 338.
Die querida in ihrer Küche 339.
Begegnung mit Kautschuksammlern 340.
Der Pueblo Paya 340.
Hütten und Typen der Cuna-Jndianer 342.
Fahrt auf dem Caquirri abwärts 354.
In den Sümpfen des Atrato 355.
Schiffslieutenant L. N. B. Wyse 356.
Wanderung der Affen 370.
Pisisi 371.
Ein Toldo 372.
Horizontale Lage in der Hängematte 373.
Garapates 373.
Reclus' Arbeitsplatz 374.
Anthropologisches.
Geschwänzter Fötus des anatomischen Mu-
seums in Erlangen 24.
Neugeborener Knabe mit schwanzartiger
Vorragung in der Steißbeingegend 24.
Karten.
Lage der alten Stadt Metapont 88.
Die Grenze zwischen Bulgarien und
Rumänien 103.
Dr. Potagos' Reisen im Gebiete des
Nil und Helle 136.
Der Wald von Bellova in Ostrumelien
166.
Dr. Harm and's Routen zwischen Kem-
mevät, La-chön und Hne 181.
Schapira's Route in Jemen 184.
Facsimile einer laotischen Zeichnung des
Se-bang-hieng 212.
Karte des Isthmus von Panama 279.
Generalkarte des Südlichen Darien. Von
L. N. B. Wyse 307.
Mt besonderer DerücksirktigunZ cker AntKroyologie unä Gtknologle.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
cn.^ Jährlich 2 Bände 4 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten iqqa
oraiutfcfyttjetg 3um Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. ^ ^ ^
Auf Java.
(Nach dem Französischen des Herrn Dösirö Charnay.)
^Sämmtliche Abbildungen nach Photographien des Reisenden.)
Jeder Reisende, dessen Ziel der äußerste Orient ist,
macht, gleichviel wohin er gelangen will, in Singapur Sta-
tion, und das zu seinem Glücke: lernt er doch so eine der
merkwürdigsten Städte der Erde kennen, die ihn mit ihrer
wundervollen Lage, ihrem bunten Völkergemisch (obgleich erst
1819 gegründet, zählt sie heute bereits 150 000 Einwohner-
aller Nationalitäten!) und ihren entzückenden Umgebungen
reichlich für einen achttägigen Aufenthalt entschädigt. Bon
dort gelangt der Reisende in zwei Tagen nach Batavia, wo
ihm, nach einer prächtigen Fahrt zwischen Sumatras grün-
belaubter Küste zur Rechten, und Bauka und anderen In-
seln, die in ihrer üppigen Vegetation wie Smaragden aus
der Fassuug des purpurnen Meeres hervorstrahlen, zur Linken,
die einsame Rhede an niedriger und sumpfiger Küste eine
Enttäuschung bereitet und ihn nicht im Entferntesten die
Schönheiten ahnen läßt, die seiner harren.
Ein kleiner Dampfer bringt den Passagier ans Land,
wo ihn, nach Erledigung der Douaneförmlichkeiten, ein Wa-
gen zum Hotel, und zwar zuerst in die Hauptstadt, das alte
Batavia, führt, welches mit seinen langen Straßen, seinen we-
nigen, ärmlichen öffentlichen Gebäuden und seinen an schmntzi-
gen Kanälen gebauten holländischen Komtoren wenig Jnter-
esse gewährt. An einem Kali (Kanal) geht es entlang, den
rechts Schuppen und Waarenlager, links eine Baumallee
einfassen, während in der Ferne schon die Schattenrisse der
Palmen erscheinen. Hier und da tauchen chinesische Woh-
nungen auf mit ihren wunderbaren Vorhallen und bizarren
Globus XXXVIII. Nr. 1.
Friesen, Blnmenvasen, grotesken Baumgruppen, Aquarien
und Voliören; immer mehr entfaltet sich die Vegetation und
zwischen kleinen Palästen und reizenden Villen hindurch ge-
langt man endlich zum Gasthof. Ein Malaie, der dem
Reisenden als Bedienung gegeben wird, nimmt dessen Kos-
ser und Kleider vor und macht seine Sache so gut, daß, ohne
daß einer des andern Sprache auch nur im Geringsten kennt,
beide sich vortrefflich verstehen. Bei Tische stellt er sich hin-
ter den Stuhl, reicht die Speisen und bereitet den Kari.
Es ist dies ein entsetzliches Gemisch von allen denkbaren
Stoffen: Reis, Spiegeleier, Omelette, getrockneter und ge-
kochter Fisch, Huhn, Hammel, Gurken, Beefsteak, das Ganze
mit einer gelblichen, aus vier oder fünf furchtbaren Nachen-
beißern zusammengepfefferten Sauce begossen — eine viel ge-
rühmte Speise, die aber für den Gaumen eines Uneingeweih-
ten nur ein ekelerregendes Allerlei ist. Um 7 Uhr ist es
dnnkel; alles eilt barhäuptig ins Freie, um sich in den dicht-
belaubten Avenuen für die Nachtruhe zu erfrischen. Früh
beginnt das Leben wieder, denn jeder will die kühlen Morgen-
stunden ausnutzen. Die lange Veranda des Hotels ist dicht
besetzt von Latten in leichten Gewändern, die ihre Glieder
in großen Rotangfautenils recken, die Männer in Cabajas,
die Frauen mit herabhangendem Haar, in reichen Sarongs
und barfüßig in goldgestickten Sandalen. Nun uaht die
Stunde der Promenade; Fußgänger, Pferde- und Pony-
gespanne beleben die Straßen; Malaien beiderlei Geschlechts
steigen, wie die Hindus in den Ganges, 'Zu Tausenden in
2 Auf
die Kalis hinab um die Waschungen vorzunehmen; hierbei
herrscht der-peinlichste Anstand: vollständig bekleidet tauchen
die Frauen in die Fluth und lassen die nassen Kleider erst
fallen, wenn sie sich mit frischen Gewändern bedeckt haben.
Ein leichtes Gefährt trägt den Fremden durch die Stadt;
wie der Wind jagt das Pony: malaiische Quartiere, euro-
päische Läden, zierliche Hütten, prächtige Paläste, Plätze,
Brücken, Kampougs fliegen vorüber — es ist ein großartiges
Panorama, ein entzückendes Kaleidoskop. Batavia ist ohne
Frage eine der schönsten Städte der Welt, aber wohlverstan-
den, es ist keine eigentliche Stadt, sondern der riesigste und
schönste Park, in dem Häuser und Paläste zerstreut liegen;
anstatt der Straßen ziehen sich breite, von großen Bäumen
umsäumte Avennen in der herrlichsten tropischen Vegetation
entlang, und die schönen Häuser mit ihren Säulen-Verandas,
Java.
die sich weiß von dem dunklen Schatten der Palmen und
Varingen abheben, ähneln griechischen Tempeln inmitten
eines heiligen Haines.
Die Bevölkerung Batavias ist sehr gemischt. Außer dem
Malaien und dem Javaner sieht man den Hindu, den Ära-
ber, und den beweglichsten aller Fremden, den unvermeid-
lichen Chinesen. Thätig, sparsam und ausdauernd, äuge-
strengt arbeitend und noch mehr geldgierig treibt er sich,
gleichviel zu welcher Zeit oder bei welcher Hitze, auf den
Straßen oder den Hotelhöfen umher oder dringt auch in die
Zimmer ein; als geschäftiger Zwischenhändler hat er sich des
Kleinhandels der ganzen Insel bemächtigt und beutet als
Makler, Kaufmann, Pfandleiher Malaien und Javaner in
gleichem Maße aus; er ist der Jude des Orients; nnver-
änderlich wie dieser in seinen Dogmen nnd Gewohnheiten,
Avenue in Batavia.
durchschreitet er alle Civilisationen und mischt sich in alle Ra-
cen ohne irgend etwas von ihnen anzunehmen; sehr religiös,
wird er durch die Religion doch nicht von seinen Fehlern
und Lastern geheilt und, um zu Vermögen zu gelangen scheut
er keine Niedrigkeit, bebt er vor keinem Verbrechen zurück.
Die eingesessene Bevölkerung Javas besteht aus drei Ra-
cen: dem Sundaner im Westen und auf den Bergen, dem
Javaner im Centrum und Osten und dem Malaien an der
Küste und in den Städten. Alle drei sind gewöhnlich klein
und gut gebaut, aber von wenig entwickelter Muskelkraft;
sie sprechen verschiedene Dialekte und die Verschiedenheit ihrer
Schädel entfernt sie beträchtlich von einander. Der Malaie
hat einen breiten und platten Kopf, viereckige Stirn, euro-
päisch wachsende Haare; der Javane langen Kopf, höhern
Schädel, ovale Stirn und die Haare im Halbkreis; beide
schwarze, etwas schräge Augen mit gelblicher Hornhaut,
stumpfe Nase und vorspringende Backenknochen. Die Java-
ner sind seßhaft 7 Ackerbauer und Sklaven; feit 20 Jahr-
Hunderten gehen sie von einem Joch unter das andere und
nahmen nach einander die Lehren Brahma's, Buddha's und
Mohammed's an. Wie alle schwachen und unterworfenen
Racen sind sie sehr religiös und leben ohne Bedürfnisse und
ohne Freude im alten Schlendrian dahin.
Einer stolzern Race gehört der Malaie an: er ist Krie-
ger, Seemann, Pirat oder Kaufmann und läßt sich nie leicht
unterdrücken; wo er aber, wie auf Madeira, Amboiua, Ma-
kassar u. s. w., unterworfen ist, stellt er den Holländern die
tüchtigsten und tapfersten Rekruten. In Batavia ist er
gern Bedienter, und als solcher gefällig und dienstfertig, da-
bei aber mit Vorliebe faul und höchst empfindlich: der
Weiße, der ihn verletzt, setzt sich seiner sichern Rache aus
und man berichtet Fälle, in denen der Malaie seinen Herrn
überfallen und mit spitzem Bambu erstochen hat.
Die Malaien leben in den Vorstädten am Ufer der
Kalis, wo ihre Hütten aus Rohr im Schatten der Bambus
einen sogenannten Kampong bilden. Ihre Weiber sind
Auf
Wäscherinnen oder Kleinhändlerinnen; vom frühesten Morgen
an sieht man sie unter den großen Bäumen der Alleen mit
ihrem Kram hocken, und Orangen, Pampelmusen, Bananen,
Reis, Käri oder Thee feil halten. Sie sind häßlich, ent-
kehren aber doch in ihrer an das Chinesische erinnernden
Gesichtsbildung einer gewissen Anmuth nicht, wenn ihre zier-
liehen Formen im bunten Sarong stecken und die seinen
Java. 3
nackten Schultern und Arme aus der hohen Verhüllung des
Busens hervorschlüpfen.
Die weiße Nace hat ans Java keine Kolonie gegründet,
sondern nur eine Niederlassung, wie die Engländer in In-
dien; ebenso wenig wie dort giebt es hier einen einzigen
Europäer, der sein Land bebaut und seinen Stamm fort-
pflanzen will. Mau geht hin um ein Amt auszuüben, ein
Hans in
Eigenthum zu verwalten, wenn möglich Vermögen zu erwer-
Ken und dann nach Europa zurückzukehren. Unter diesem
verzehrenden Klima, wo jede Arbeit eine Anstrengung ist,
wo die geringste Bewegung eine schwächende Transpiration
nach sich zieht, könnte die europäische Race nicht gedeihen;
sie siecht dahin und verkommt. Die erste Generation soll
auf 7 Kinder 5 Mädchen hervorbringen, bei der zweiten
die Familie aussterben. Die Männer zwar widerstehen län-
ger, die Frauen aber müssen entsetzlich leiden, und die Kinder,
bleich und blond wie ihre Mutter, ähneln kleinen Christus-
Batavia,
bildern aus Wachs. Weiber und Kinder gehen nur Mor-
gens von 7 bis 10 Uhr an die Luft, und zwar stets zn
Wagen; den Tag über schließen sie sich ein, um erst nach
5 Uhr wieder zu erscheinen. Wie viel Einwohner, die man
um ihr vermeintliches Glück, iu dieser herrlichen Gegend
leben zu können, beneidet, sehnen sich nach den feuchten Ebe-
nen und den Nebeln Hollands zurück! Die geringe Anzahl
der europäischen Damen erklärt die ziemlich häufigen Ver-
bindungeu von Weißen mit Malaiinnen oder Mestizen (Non-
nas). Diese meist freien Vereinigungen, die häufig aus
1*
Auf Java.
Gewinnsucht — denn es giebt reiche —, häufig aber auch
aus wirklicher Liebe, denn es giebt auch schöne Malaiinnen,
geschlossen werden, sind nie sehr angesehen, ja, die gewöhn-
liche Formel, ein solches Ereigniß zu verkünden, ist: „Herr
U. N. heirathet die Mutter seiner Kinder." Trotzdem be-
sitzt die Malaiin einen gefürchteten Einfluß auf ihren Ge-
bieter und, legitim oder nicht, dürfte eine eingegangene Ver-
bindung nicht ungestraft gebrochen werden. Ohne Erlaubuiß
seiner Frau soll es kein Gatte wagen, sich zu entfernen;
trotzt er gar ausdrücklichem Verbot, so wacht die Rache über
ihm; bei seiner Abreise zeigt das Weib weder Verzweiflung
noch Zorn, ihr Schmerz wie ihr Groll ist geheim, aber ein
langsames, unbekanntes und spurloses Gift rächt sie an dem
Treulosen. Bei seinen Messungen im Hospital erfuhr
Charuay, daß die weißen Soldaten, ebenso wie die Einge-
borenen, mit malaiischen Frauen leben und nach Ablauf ihrer
Dienstzeit meist sehr gern nach Europa zurückkehren würden,
wenn sie nicht aus Furcht vor den Folgen auf immer an
die Insel gefesselt wären.
Einen Ausflug muß jeder Reisende von Batavia aus
machen: nach Buiteuzorg (spr. Beutensorg). Charnay
wurde dazu durch Zweierlei veranlaßt: eine Aufwartung beim
Generalgouverueur, für den er eine Empfehlung hatte, und
den Besuch des berühmten botanischen Gartens. Bon allen
Eisenbahnen, die sich auf Java auszudehnen beginnen, ist
die von Batavia nach Buiteuzorg die älteste; sie gewährt
den großen Vortheil, 60 Kilometer in zwei Stunden durch-
fliegen zu können, während früher die Geschäftsleute wegen
der weiten Entfernung dorthin gezwungen waren, in der
versengenden Hitze der Stadt oder dem giftigen Hauche des
alten Batavia auszuharren. Die Bahn durchschreitet die
Stadt in ihrer größten Breite, ein neues Panorama, wel-
ches eine vollständige Idee von diesem wundervollen Park
giebt. Außerhalb erstrecken sich ausgedehnte Vorstädte weit-
hin; au reizenden, im Waldesgrün versteckten Villen, an
Kampongs mit ihren reinlichen, sorgfältig gepflegten, aus
schwarzen und weißen Bambusstäben quadratisch und recht-
eckig gezeichneten Hütten vorbei geht es ins offene Feld;
Ein Kampong.
rechts und links ist die Vegetation üppig: über Dickichte von
Bananen-, Orangen-, Pampelmusen- und Mangelbäumen
ragen die hohen Kokos- und die schlanken Stämme der Areka-
palmen empor; Maniokfelder, deren breite, glänzende Blätter
denen des Ricinus ähneln, fliegen vorüber; Taufende vou
Stangen erinnern mit ihren jungen zweiglosen Stämmchen
an eine Hopfenpflanzung, aber anstatt der dicht belaubten
Ranken umringt sie der Betel mit seinen mageren Stengeln
uud lanzettförmigen Blättern. Nun folgt die Bahn einem
Kanal, dessen Wasser überall hingeleitet ist, um die umgeben-
den Reisfelder fruchtbar zu machen. Die Männer ackern,
aber die Frauen stecken und ernten den Reis; in langer
Reihe bis an die Knöchel in den Boden versunken, pflanzen
sie ihn zu je drei Stengeln und so gerade und regelmäßig
wie nach der Richtschnur, eine lange und mühsame Arbeit,
und doch noch nicht so mühsam wie die Ernte, denn ans dem-
selben Felde reift der Reis nicht ans gleiche Weise: während
die eine Pflanze noch grün ist, ist die andere schon reif und
Halm bei Halm, Achte bei Achte werden die Körner ge-
sammelt. Nun erscheinen Berge am Horizont, uuaufhalt-
sam geht es aufwärts, eine prächtige Kakaopflanznug hin-
durch und Buiteuzorg ist erreicht.
Buiteuzorg (d. h. Ohne - Sorge) ist die Residenz des
Gencralgouverncurs; am Fuße des Vulkans Salak, von zwei
Flüssen bespült, mitten in der herrlichsten Landschaft, hat es
stets frisches Wasser für seinen Park, seine Landhäuser und
seine Bäder, die dem Europäer wie dem Malaien eine täg-
liche Notwendigkeit sind; häufiger Regen reinigt die Luft
und die Nächte sind fast kalt; dieser wunderbare Aufenthalt
ist die Gesundheitsstation Batavias.
Eine dunkele, geheimnißvolle Allee von indischen Feigen-
bäumen fuhrt vom Haupteiugaug zum Palast; doch ist sie
nicht etwa, wie die etwas überschwäugliche Phantasie eines
Reisenden behauptet, in einem einzigen Baume geschnitten,
sondern sie besteht aus einer Reihe von allerdings nur sechs
Bananenfeigen ans jeder Seite, die sich durch Vervielfälti-
gung ihrer Stämme genähert haben, ohne jedoch mit ein-
ander zu verwachsen. Das Gebäude ist in griechischem Stil
erbaut, nur eiu Erdgeschoß mit Säulengängen und Marmor-
fliesen; die hintere Seite, ebenso luxuriös wie die vordere,
Auf Java.
geht auf einen entzückenden Garten, in dessen zwei kleinen
Seen sich die großen weißen Blüthenkronen und die kolossa-
len. über 6 Fuß im Durchmesser großen Blätter der Victo-
ria Regia ausbreiten ; riefige Bambu in verschiedenen Far-
den rauschen und flüstern im Winde; die Perle von Buiten-
zorg aber ist seine Palmensammlung; es ist dies die
vollständigste der ganzen Welt.
Nach seiner Rückkehr uach Batavia und Beendigung
seiner Messungen machte sich Charnay auf die Reise nach
Samarang, von wo er nach
So erakarta oder Solo weiter-
gehen sollte, eine Fahrt von 36
Stunden. Zu Lande ist die Reise
bedeutend interessanter, aber auch
viel theurer und viel länger, und
da er nicht viel Zeit hatte, ent-
schloß er sich, die Fahrt zur See
zu machen. So fuhr er am 13.
Juli ab und kam am 16. Nach-
mittags auf der Rhede von Sa-
marang an. Wie in Batavia
dieselben niedrigen und sumpfigen
User; die ganze Nordküste Javas
bietet denselben Anblick dar. wäh-
rend im Gegentheil die südliche
selsig ist und die Wogen des In-
dischen Oceans sich an den Strand-
flippen brechen.
Weniger groß als Batavia
und weniger schön, ist Samarang
doch eiue recht hübsche Stadt;
Alleen, Vegetation, Häuser, alles
im selben Stile, nur etwas we-
uiger majestätisch. Was aber be-
deutend anders ist, das ist die
Bevölkerung; hier trifft man viel
mehr Araber, die an dieser Seite
der Insel den Chinesen den Rang
streitig machen. Bei den Man-
nern ist durch deu Sarong, das
Tuchgewand und die geflügelte
Kopfbedeckung die kleine Hose, die
Eabaja und das platte Tuch des
Malaien verdrängt; so angethan
mit dem Kriß (Dolch) im Gürtel,
schreitet der javanische Kaufmann
oder Besitzer steis, abgemessen,
schweigsam einher: eine traurige
Natur, auf der ein Joch lastet.
Die Umgebungen von Sama-
rang sind eben; ekle Düfte steigen
ans den Sümpfen empor, die bei
jeder Flnth die Meeresgewässer
überschwemmen; die Stadt ist uu-
gesund. Um die Eisenbahn nach
Soerakarta zu erreichen, durch-
schreitet man eine schlammige Ebene und fährt eine halbe
Stunde lang mitten durch niedrige, feuchte Gründe, die kei-
nen Reiz haben als ihre großen Bambuhecken.
Fünf Stunden braucht man, um nach Soerakarta zu ge-
langen. Bald steigt der Weg, aber der unregelmäßig an-
schwellende Boden begrenzt den Blick; grünende Hügel, eine
steinerne Mauer oder ein Bambugebüsch verdecken jeden
Augenblick die Landschaft; endlich erreicht man einen ziem-
lich ärmlichen Wald von gleichen breitblättrigen Bäumen;
es ist der Teakbaum, dessen Holz für Bauzwecke in den heißen
Corypha elata im Palmengarten von Bnitenzorg.
Ländern sehr gesucht ist. Nun tritt die Bahn in die Ebene
hinein; hier wird alles freundlicher; mit jedem Schritt wird
die Kultur reicher; die Landschaft dehnt sich aus und in der
Ferne tauchen die bläulichen Spitzen der drei Vulkane auf,
die ungefähr den Mittelpunkt der Insel einnehmen.- links
der Lawoe, rechts der Merapi und der Merbaboe.
Mit dem Eintritt in die Residenz Soerakarta öffnet sich ein
Paradies von Reichthum uud Wunder, wie es schwer zu
schildern.
Auf leicht gewellter Ebene
leuchten aus dem reichsten Grün
unzählige Dörfer hervor; gigan-
tische Bambus bilden den Umkreis,
während die einzelnen Gebäude
von Brotbaumen, Kokos-, Baua-
nen- und Arekapalmen beschattet
werden. Ueberall ist der Boden
durch Plateaus in allen Größen
nivellirt, so daß nicht ein Zoll
breit Erde unbenutzt bleibt und
kein Tropfen Wasser, welches sich
in Tausenden von Kanälen über
diese großen und kleinen Flächen
ergießt, verloren geht. Ueberall
Reisfelder in den verschiedensten
Stadien, dazwischen Zuckerrohr-,
Taback-, Maniok- uud Indigo-
Pflanzungen. Eine Unmenge Ar-
beiter beleben das Feld, Zucker-
rohrschueider, Reispflanzerinnen,
Wagenführer; schwarze Büffel
und blonde Zebus tragen auf
ihrem Rücken Kinder, die sie be-
wachen; kleine Mädchen in Evas-
kostüm hüten Gänse und bilden,
in diesem reinen Lichte und dem
saftgrünen Nahmen, Bilder, die
man nie vergißt. Und das ist
nicht etwa ein Punkt, sondern
ein langes Panorama, welches sich
auf mehr als 20 Stunden weit
dem erstaunten Auge des Reisen-
den darbietet.
Solo oder Soerakarta ist
die javanische Stadt im eigent-
lichen Sinne des Wortes, die hei-
lige Stadt, die Residenz des
Kaisers und Sultans von Java,
des Nachkommen der Kaiser von
Mataram. Es ist auch die Re-
sideuz des Maugku-Nagoro,
eines ebenfalls — natürlich un-
ter der Oberhoheit der Holländer —
selbständigen Fürsten.
Der Bahnhof ist 3 Kilo-
meter von der Stadt entfernt;
auch diese Mühe wird überwunden und ein reizendes Hotel
nimmt den Reisenden auf. Charuay's erster Besuch galt
dem Residenten, für den er Empfehlungsbriefe hatte; sein
Palast ist kaum 50 Meter vom Hotel entfernt, aber die Eti-
kette verlangt, sich zu Wagen und schwarz gekleidet zu ihm
zu begeben. Derselbe — er spricht Französisch wie ein Pa-
rtfer — empfing ihn mit gewinnendster Liebenswürdigkeit,
versprach ihm Hülfe und Schutz und stellte ihm zu Aus-
flügen in die Umgegend die Postpferde der Regierung zur
Verfügung. Außerdem ließ er für ihn um eine Audienz
8 Bruno Stehle: Das
beim Mangkn-Nagoro nachsuchen und verschaffte ihm Zutritt
zu dem einige Tage später stattfindenden großen Feste, wel-
ches der Kaiser zur Feier der Beschueidung seiner Söhne
veranstalten sollte.
Ins Hotel zurückgekehrt, beeilte sich der Reisende das
lächerliche und bei der entsetzlichen Hitze geradezu unerträg-
liche Kostüm mit einem weißen zn vertauschen und sich aufs
Gerathewohl in die Straßen von Solo zu stürzen.
Das Kaufmanusviertel ähnelt denen von Samarang und
Batavia; wenn aber letztere Stadt den Eindruck eines riesi-
gen Parkes macht, so erscheint Soerakarta geradezu inmitten
eines wirklichen Waldes verloren; die Straßen sind in einen
wahren Hochwald von Palmen, Brotbäumen und Varingen
gehauen und die Häuser verschwinden hinter den mächtigen
Laubgebüschen.
Wunderbar ist die Physiognomie der Straßen; während
die eine wie eine Wüste daliegt, wimmelt die andere vom
stärksten Leben, Kanslente beiderlei Geschlechts nehmen, nn-
ter dem Schutze von Tnchlappen und Sonnenschirmen, das
Trottoir ein und bieten den Vorübergehenden Kleider, Kupfer-
geräthe, Gemüse, Früchte, Getränke und Speisen an. Und
doch wie wunderbar! in dieser wimmelnden und krabbelnden
Bevölkerung hört man kein anderes Geräusch als das
dumpse Murmeln ruhiger Mengen; kein Lachen bei den
Kindern, keine Unterhaltung bei den Erwachsenen; alle spre-
chen leise, eiu schweigsames Volk. Obgleich in der ver-
schwenderischsten Natur lebend, sind die Leute doch arm: sie
haben keine Bedürfnisse, sagt man; hätten sie welche, sie
würden sie nicht befriedigen können. Männer und Weiber
tragen den Sarong, ein Stück Stoff in schreienden Far-
ben und wunderbaren in der Schweiz gedruckten Zeich-
nungen, welches tit losen Falten wie ein Weiberrock slat-
tert; die Männer schließen ihren Oberleib in ein enges
Wamms und die Weiber in dnukleu Stoff, der sie verunziert.
Die Kinder wälzen sich nackt im Staube umher.
In der Avenue des Kratous, d. h. der kaiserlichen Rest-
denz, verkehren die officielle Welt und die Würdenträger des
Palastes; in grellere Farben und feineres Tuch gehüllt als
die gewöhnlichen Sterblichen, den Kopf in eine Mütze von
weißer, blauer oder schwarzer Glanzseide gepackt, die wie eine
Kuchenform aussieht, den Kriß im reichen Gürtel, so stolzi-
^saß im 13. Jahrhundert.
ren diese Herrschasten langsam nnd würdevoll einher, den
Diener mit gelbem, grünem oder braunem Sonnenschirm,
je nach der Würde, hinter sich; für Prinzen von Geblüt ist
der Schirm von Gold. Letztere haben übrigens, ebenso wie
die hohen Würdenträger, außerdem noch ein Gefolge von
Lanzenträgern und zwei Pagen oder jungen Mädchen, von
denen die eine den kupfernen Spncknapf, die andere die gol-
dene Betelbüchfe trägt.
Diese Leute, und besonders die Frauen, sind häßlich.
Doch muß man unterscheiden: dort, wie so vielfach, existirt
eine unterworfene und eine unterwerfende Race, die eine
durch die Knechtschaft verunstaltet, die andere durch das
Wohllebeu verfeinert; die Ackerbaner uud Arbeiter haben
einen andern Typus als die herrschende Klasse und sind viel-
leicht ein Gemisch von Malaien und Papuas, welche man
mit dem Namen Kalanks bezeichnet und die noch in reiner
Nace auf gewissen Theilen der Insel existiren sollen.
Allmälig wurde es Nacht, und da Charnay nicht allein
umherstreisen konnte, ohne sich in der vollständig nnbekann-
ten Stadt zu verirren, so ließ er anspannen und den Knt-
scher nach seinem Gefallen in die Alleen und Vorstädte hin-
ausfahren.
Die Straßen sind belebt wie am hellen Tage; jeder
Waarentisch hat seine Laterne; in den entfernteren Theilen
muß jeder Mensch von Polizeiwegen eine solche haben, da
die Stadt nicht erleuchtet ist; die Armen tragen nur ein an
einem Ende angezündetes Stück trockenes Holz, welches sie
beim Gehen schwingen, so daß sie in den dunklen Alleen wie
große feurige Fliegen erscheinen, welche wunderbare Kreise
beschreiben.
In den Vorstädten deckt tiefes, geheimnißvolles Schwei-
gen den ungeheuren Wald; man könnte sich in der Wüste
glauben; der Mond scheint voll hernieder, aber sein weißes
Licht dringt kaum durch die Schatten der Bäume; es erhellt
nur die Wipfel, wirft funkelnde Perlen auf die leuchtenden
Blätter des Brotbaumes, häugt sich in Lichtstreifen an die
langen Palmen der Kokosbänme und bricht sich in Feuer-
garbeu auf den hin- und herwankenden Bambngebüfchen.
Ein zauberhafter Anblick, ein bewältigender nud unVergleich-
licher Eindruck!
Das Elsaß im 13. Jahrhundert.
Von Dr. Bruno Stehle.
In unserer mittelalterlichen Quelleusammlung, den „Mo-
numentis Germaniae", ist einerseits ein großer Schatz für die
Geschichte der Geographie enthalten, andererseits spiegeln
diese Nachrichten die Anschauungs - und Denkweise jener
Zeiten über geographisch-naturwissenschaftliche Objekte wie-
der. Die Baseler und Colmarer Geschichtsbücher von 1266
bis 1305 gewähren uns eine solche Fülle geographischer
Notizen, daß aus ihnen nicht schwer ein Bild von dem Lande
und den Bewohnern des Elsasses im 13. Jahrhundert zu
gewinnen ist, und ich habe deshalb die für die Geschichte
dieses Landes so wichtigen Annalen nach den angegebenen
Gesichtspunkten untersucht uud die zerstreuten Nachrichten
in einer zusammenhängenden Darstellung bearbeitet. Nicht
zum ersten Mal mache ich auf das Eigenartige dieser Ge-
schichtsbücher aufmerksam. Jasse hat in den „Monumen-
tis Germaniae", Pabst in der Vorrede seiner trefflichen
Ueberfetzung, Lorenz in „Deutschlands Geschichtsquellen"
darauf hingewiesen, daß der betreffende Verfasser ein schar-
ser Beobachter kleiner wie kleinster Umstände, ein Freund
der Naturbetrachtung sei; ein Mann, der in der kritischen
Auswahl von Bedeutendem und Unbedeutendem eben nicht
sehr genau verfahre, aber alles in ausgezeichnetem Maße
besitze, was die Dominikaner Erudition nannten, und worin
sie ihren Zeitgenossen Albertus Magnus verehrten; und
Pabst fügt hinzu, daß die Echtheit uud Zuverlässigkeit der
gebotenen Nachrichten fast überall, wo es möglich sei, durch
einen Vergleich mit den Urkunden bestätigt werde. Trotz-
dem sind die Schätze in dem kleinen Büchlein noch nicht ge-
Dr. Bruno Stehle: Das
hoben und nur in einer Abhandlung finde ich die be-
treffenden Notizen ausgezogen, ohne daß sie aber zu einem
vollständigen Ganzen verarbeitet wären.
Von dem Verfasser selbst ist wenig bekannt. Nach seiner
eigenen Angabe ist er 1221 geboren, trat 17 Jahre alt in
den Predigerorden, 1238, was er im Jahre 1287, seinem
50jährigen Mönchsjubiläum, der Mitwelt erzählt. Doch
waren in dieser langen Zeit keineswegs die engen Kloster-
mauern sein Lieblingsaufenthalt; vielmehr trieb es ihn hin-
aus in die weite, schöne Welt, und so finden wir ihn auf
Reisen bald in der Schweiz, bald in Frankreich oder Deutsch-
laud, um überall mit wahrem Bienenfleiße den nöthigen
Stoff für seine Arbeiten zu sammeln. Von ihnen kommen
für uns folgende in Betracht: 1. Die Jahrbücher von Ba-
sel; 2. die größeren Jahrbücher von Colmar; 3. die Zu-
stände des Elsasses im Beginn des 13. Jahrhunderts;
4. die Beschreibung des Elsasses; 5. die Beschreibung
Deutschlands.
Sind diese Schriften für die Geschichte der Geographie
wie für die Kenntniß der geographischen Verhältnisse des
Elsasses im 13. Jahrhundert von großer Bedeutung, fo
hinterließ er ein zweites Denkmal, das Zeuguiß vou seiner
Liebe zu diesen Studien ablegt. Er verwandte seine Kennt-
nisse praktisch und zeichnete 1265 einen Atlas auf zwölf
Pergamenthäute. Dieses Werk, einmal verfertigt, ruhte
nicht im Staube der Klosterbibliothek, vielmehr nahm er es
elf Jahre nachher wiederum vor und unterzog es einer Ver-
beffernng. Leider ist dieses kostbare Werk, das eine Perle
unter unseren Antiquitäten sein würde, nicht auf uns ge-
kommen, wenigstens wissen wir nichts mehr von ihm. Wenn
auch aus dem Mittelalter verschiedene Erdgenlälde er-
halten sind, so ist doch der Verlust der zwölf Karten
auf Pergamenthäuten, die demnach für die damalige Zeit
einen stattlichen Atlas ausgemacht haben müssen, schwer für
die Geschichte unserer Wissenschaft.
Das aus der mathematisch-astronomischen Geographie
Mitgeteilte giebt die Beobachtungen an Sonne, Mond und
den Gestirnen wieder. Wie sehr diese im Kloster zu Colmar
gepflegt wurden, zeigt das Astrolabium, dessen sich die Col-
marer Mönche bedienten, um die Höhenwinkel der Gestirne
zu messen. Ende November 1303 erschien nach der letzten
Abendandacht der Polarstern an dem Astrolabium im 62.
Grade, nach der Frühmesse im 55. Die Sommersonnen-
wende erscheint im 68., die Wintersonnenwende aber soll
im 17. Grade erscheinen. Sonnen- und Mondfinsternisse
werden vielfach erwähnt und vorher verkündet. Auch von
anderen ausfallenden Phänomenen am Firmament giebt
der Verfasser Knude. 1267 Mitte Juli erschien bei Sonnen-
ausgaug in der Nähe des Mondes ein großer, schöner Stern,
der sich von hier aus mit reißender Schnelle gegen Osten
bis in die Mitte des Horizontes bewegte. Hinter sich ließ
er einen Schweis, eine weiße oder feurige Wolke, zurück,
der fast eine Stunde lang sichtbar blieb. Der Stern selbst
zerfiel in zwei Theile, einen größern, welcher vorauseilte,
und einen kleinern, welcher nachfolgte; beide verfchwan-
den zu gleicher Zeit. In manchen dieser Erscheinungen
sieht der kindliche Glaube das direkte Eingreifen Gottes,
sei es um die Menschen zu schrecken, sei es um den Worten
seiner Diener mehr Nachdruck zu verleihen. So erschien
zu Straßburg 1276 nach Palmsonntag eine rothe Wolke
in der Form eines Kreuzes. Ebenso waren im Jahre vor-
her gegen Ostern um die Sonne zwei Kreise von der Farbe
i) Bulletin de la Societe d'histoire naturelle de Col-
mar 1870: Essais sur le climat de l'Alsace et desVos^es
par M. Charles Grad.
Globus XXXVIII. Nr. 1.
Elsaß im 13. Jahrhundert. 9
des Regenbogens sichtbar gewesen, welche sich gegenseitig
schnitten und so zwei Kreuze zu bilden schienen; sie erschienen
während der Predigt eines Minderbruders, der zu einem
Kreuzzug über das Meer aufforderte. In der Nacht vom
7. August 1287 erschienen zwei Sterne, der eine sehr groß,
der andere sehr klein; sie erhellten plötzlich die Nacht wie
die Sonne und ebeuso plötzlich verschwaudeu sie. Unter
manchen von den Erscheinungen, welche der Chronist berich-
tet, können wir uns wegen der knappen, annalistischen Form
wohl kaum etwas Bestimmtes denken. So wenn 1288 er-
zählt wird, daß eine Veränderung in der Nähe der Sonne
vor sich gegangen fei.
Sind diefe Nachrichte» etwas dürftig, so fließen sie um
so reichlicher auf dem Gebiete der physikalischen Erdkunde,
und hierin liegt gerade die Bedeutung des Werkes, einer
Quelle ersten Ranges, geeignet, wie keine andere, die phy-
sikalischen Verhältnisse des Elsasses im 13. Jahrhundert zu
beleuchten.
Hoff ]) giebt die Erdbeben in der oberrheinischen Tief-
ebene erst vom 14. Jahrhundert an. Ich kann dieselben
aus dem 13. Jahrhundert dnrch folgende Zahlen vermehren:
1279; 1280 am 26. Oktober; 1289 geschahen an einem
Tage fünf Erdstöße; 1295 Anfangs April wird ebenfalls
ein sehr starkes Erdbeben gemeldet. Diese Zahlen werden
um so interessanter, da wir den Herd dieser Erdbeben in der
oberrheinischen Tiefebene kennen, nämlich die Gegend um Basel,
die im Ganzen 120 Mal von Erdbeben heimgesucht wurde,
die wir nachweisen können. Dasselbe Verhältniß wie im 13.
Jahrhundert findet man bei einem Vergleich mit denjenigen
Erschütterungen, die in neuerer Zeit ausgezeichnet sind. Nach
Hoff hat Straßburg Ende des vorigen und Anfangs dieses
Jahrhunderts mehrmals leichte Erschütterungen erlitten,
wie 1755 (mit Lissabon), 1784, 1802, 1808. Ferner
Colmar September 1801, Hagenau 1780 December und
März 1805.
Gewitter, Blitze und Donner, zumal wenn sie in den
ersten Monaten des Jahres eintraten, erregten ganz beson-
ders die Aufmerksamkeit und wurden forgsani niedergeschrie-
ben, wie denn auch heute uoch diese Erscheinungen im Februar
oder März in manchen Gegenden als Zeichen eines unfrucht-
baren Jahres angesehen werden. Zwei schwere Gewitter
suchten das Elsaß in dem Jahre 1291 am 15. und 25. Ja-
nuar heim. 1288 leuchteten heftige Blitze am 4. Februar,
während 1280 und 1283 Gewitter aus Mitte uud Ende
März berichtet werden. Eine genaue Vergleichung mit den
Beobachtungen in unserm Jahrhundert, die Herrenschneider
in Straßburg 1801 bis 1836 angestellt hat, läßt sich schwer
anstellen, da die Angaben unseres Chronisten nicht so ge-
nau sind, daß wir sie in die modernen Aufzeichnungen ein-
reihen können. Aber wir finden Aehnliches, und dieses ge-
uügt vollständig, um die gleichen klimatischen Erschein»«-
gen in den verschiedenen Zeitabschnitten durch die sich
gleichbleibende geographische Lage des Landes zu erklären.
Ebensowenig können wir die Richtung, aus welcher die
angeführten Winde und Stürme kamen, genau bestimmen,
wenn freilich einzelne Andeutungen zu folgerichtigen Schlüf-
fen berechtigen. 1288 kam ein Sturm am 2. Februar, der
einen großen Wald beim Hohenack^) verwüstete. In der-
selben Zeit, fährt der Chronist kurz nachher fort, kam ein
großer Sturm, der in Flandern das Meer ans seinem Bett
drei große Meilen weit über das Land trieb und mehr alö
50 000 Menschen tödtete. Daß damit einer der Meeres-
x) Hoff, Geschichte der natürlichen Veränderungen der Erd-
oberfläche II.
2) Im Münsterthale, westlich von Colmar.
2
10 Dr. Bruno Stehle: Das
einbrüche gemeint ist, die von 1205 bis Ende jenes Jahr-
Hunderts dauerten und denen die Znydersee ihre Entstehung
verdankt, kann wohl nicht zweifelhaft sein. Es waren dies aber
Nordwestwinde. Und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der-
selbe Sturm, der in den Niederlanden so furchtbar wüthete,
bis nach dem Elsaß hin sich fühlbar machte, und den Wald
am Hohenack zerstörte. Nach der Lage und Beschaffenheit des
Berges kann der Wald nur im Norden desselben gelegen haben,
wo der Berg plateauartig sich allmälig in das Thal der Weiß
senkt, während er im Süden aus dem Thal der Fecht oder
dem Münsterthal ganz schroff ansteigt. Dieses Thal ist
aber nach Osten, Süden und Westen völlig geschlossen, so
daß Wälder, am Südfuße gelegen, höchstens von Lokal-
winden, die aber nie mit einer solchen Heftigkeit auftre-
teu, getroffen werden können. Bedeutende Stürme, die
weiterhin Erwähnung finden, waren 1275 Ende Fe--
bruar, 1291 Ende September, 1303 am 30. November,
1294 ohne Angabe des Tages; 1275 Anfangs August wü-
thete ein gewaltiger Sturm, der Weiustöcke und Bäume ver-
uichtete. Zweige trieb er drei Meilen weit, und im Dorse
Hergheim entführte er einen Knaben fammt der Wiege.
Auch die Nachrichten über die jährlichen Temperatur-
Verhältnisse und Niederschläge, so ungenau sie sind, geben im
Großen und Ganzen ein Bild, das unserm heutigen sehr
entspricht. Heiße Sommer, daneben manchmal sehr kalte
Winter, plötzliche und starke Temperaturschwankungen, reich-
liche Sommerregen, ziemliche Feuchtigkeit der Luft, vor-
herrschende Südwest- und Nordostwinde, beträchtliche Ba-
rometerschwankungen sind die charakteristischen Eigenschaften
des heutigen elsässischen Klimasa). Eine genaue Anf-
zählung und Schilderung der einzelnen Jahre ans dem
Mittelalter verglichen mit unserm Jahrhundert zeigen, daß
die eben angeführten Hauptzüge auch auf eine Zeit, die
sechshundert Jahre hinter uns liegt, trefflich Passen.
Unter den ganz heißen Sommern im Elsaß hebt Berfas-
ser die Jahre 1283 (am 10. Mai fand man schon das
erste neue Korn), 1293 und 1304 hervor. Das Jahr war
heiß, berichtet der Chronist von letzterm, und ohne Regen,
und es wuchs ein trefflicher Wein, „der die Zungen der
Armen wunderbar löste". Es herrschte eine so große Hitze,
daß die alten Leute sämmtlich versicherten, zu ihrer Zeit sei
nie ein so heißes Jahr gewesen. Kühle Sommer werden
dagegen 1274 bis Ende Juni, 1286 (wo schon Mitte Sep-
tember im Wasgenwalde Schnee fiel) und 1290 erwähnt.
Aehnlich zeichnen sich die verschiedenen Winter bald durch
ausfallende Kälte oder ebenso große Milde aus. Als be-
sonders streng werden z. B. hervorgehoben: das Jahr 1272,
drei Wochen hindurch herrschte große Kälte, die stärkste drei
Tage vor Weihnachten. 1276 war der Winter hart
und lang; in den Bergen des Elsasses fiel der Schnee am
6. December, in der Ebene am 25. December; er dauerte
bis zum 10. Februar. 1294 kam eiue so starke Kälte, daß
um Hagenau viele Weinstöcke zu Grunde gingen, die Linden
und andere Bäume sich spalteten, die Fische im Wasser,
Vögel und Menschen in den Wäldern umkamen. 1302
kam um den 13. December erträgliche Kälte; um den 21.
December kam aber strenge Kälte, welche die Armen schwer
drückte und bis zum Dreikönigstag anhielt. 1305 hielt der
Winter lange an. Den Schafen und anderm Vieh wurde
Stroh als Futter gegeben. Störche und viele andere kleine
Vögel kamen vor Hunger und Frost um. Lerchen wurden
viele gefaugeu.
Im Gegensatz dazu melden warme und angenehme Win-
ter uns die Jahre: 1274, 1278; 1279 waren die wilden
cf. Charles Grad 1. c. p. 269.
Elsaß im 13. Jahrhundert.
Gänse und Kraniche wegen der Milde des Winters nicht
in das Elsaß gekommen. 1283, erzählt der Annalist, war
der Winter warm. Am 25. März brachten die Weinstöcke
Schößlinge und Blätter hervor. Acht Tage nach Weih-
nachten aber waren an mehreren Orten Getreideähren er-
schienen. Am 12. März kamen Schwalben in das Elsaß.
An demselben Tage hielten die Kukuke und die Fledermäuse
ihren Einzug in die Dörfer, blühte das Korn. 1289 bis
1290 war der Winter warm; noch vor Weihnachten trugen
die Pflanzen Blüthen, die Bäume Blüthen und Blätter.
Jäger fanden in der Zeit Erdbeeren im Elfaß; vor dem
6. Januar hatten schon Spechte und Hühner Junge; die
Bäume behielten ihr altes Laub, bis neues an ihnen hervor-
sproß. Vor dem 13. Januar brachten die Weinstöcke
Schößlinge, Blätter, Blüthen, badeten, Knaben zu Egis-
heim^) in fließendem Wasser. Am 2. Februar 1290 hörte
man Pfauen, sah man Störche; einzelne Hühner, Spechte,
Tauben hatten bereits im Januar Junge. Durch Milde
zeichneten sich ferner aus die Winter 1292, 1302 und
1304.
Solche milde Winter find im Elsaß überhaupt nicht
selten. Im vorigen wie in diesem Jahrhundert kamen sie
vor und hängen von den Süd- und Südwestwinden ab,
denen auch der rasche Temperaturwechsel, der so oft im El-
saß eintritt, zu verdanken ist. Dieser wirkt besonders auf
den Fremden höchst empfindlich und ist ihm nicht minder
auffallend, als unserm Chronisten, der im Jahre 1272 be-
merkt: drei Wochen hindurch war große Kälte, die stärkste
drei Tage vor Weihnachten. Am Weihnachtstage aber trat
Thauwetter ein. Ja selbst solche Ausnahmefälle, daß nördlicher
gelegene Gegenden sich einer milderen Temperatur erfreuten,
als südliche, wie wir es im letzten Winter erlebten, finden
sich im 13. Jahrhundert erwähnt. Ausdrücklich wird aus
dem Jahr 1303 berichtet: Der Winter war in Rom kalt,
im Elsaß dagegen warm.
Nicht selten kommen im April oder Mai, wenn das
Frühjahr schon mit seiner ganzen Pracht in das Rheinthal
eingezogen ist, recht empfindlich kalte Tage, Geschenke uu-
seres zweithäufigsten Windes, des Nordost. Auch diese Er-
scheinung uns aus dem 13. Jahrhundert schon mitznthei-
len hat der Chronist nicht unterlassen. Am 14. April
1279, am 15. April 1288, am 24. April 1284 gingen die
Weinstöcke zu Grunde. Am 31. Mai fiel, „wie vielfach er-
zählt wird", Reif in Egisheim.
Als ein wichtiges Moment für die Klimatologie werden
heutzutage die Niederschläge in den einzelnen Ländern beob-
achtet. Wir würden uns wundern, wenn unserm scharffich-
tigen Beobachter dieses entgangen wäre. Die regnerischen
Sommer oder der, wenn auch vorübergehend, fußhochliegende
Schnee in den Straßen, dazu laugaudauernde Nebel, die oft
wochenlang uns jeglichen Blick anf den schönen Schwarz-
oder Wasgenwald zu mißgönnen scheinen, sind gerade keine
Gabe, für die wir nns bei Jupiter pluvius besonders zu
bedanken brauchen. Doch trösten wir uns; vor sechs
Jahrhunderten hat es auch nicht anders in unserm lieben
Elsaß ausgesehen, wie uns der Colmarer Chronist mittheilt.
1271 war vom 18. August bis 12. Januar nebliges Wet-
ter; selten nur zeigte sich die Sonne oder der Mond; die
Temperatur war gemäßigt. 1275 gab es viel Schnee; bei
Rnsfach2) konnte kaum ein Pferd laufen, bei Bern und
Granfelden lag er vier Fuß hoch. 1282 fiel so viel Schnee,
daß Niemand sich erinnerte, seit 30 Jahren ihn jemals so
1) Egisheim südwestlich von Colmar.
2) Zwischen Colmar und Mühlhausen.
Dr. Bruno Stehle: Das
hoch gesehen zu haben; auch sollen mehrere Menschen durch
den Frost umgekommen sein. 1290 war der Sommer kühl
und regnerisch. Mangel an Niederschlägen zeigen der Herbst
1273, Herbst 1284, wo über ein Vierteljahr die Luft schön,
milde, angenehm und fast ohne Regen war.
Was der Verfasser aus dem Gebiete der Hydrographie
berichtet, betrifft hauptsächlich den hohen oder niedrigen
Wasserstand des Rheines und etwaige Überschwemmungen
desselben wie in den Jahren 1274, 1275, 1290 und 1302;
und es stehen deshalb diese Nachrichten in engem Zusammen-
hange mit all dem, was über die Niederschläge gesagt ist,
da jene von diesen letzteren ja abhängig sind.
Die bedeutendste Überschwemmung von den eben ange-
führten war die vom Jahre 1302 Anfangs August. „Der
Rhein beschädigte die Brücke zu Basel, zerstörte die zu
Breisach, verdarb die Kornernte und that den Armen von Brei-
sach den größten Schaden. In Straßburg trat der Strom (eiu
Arm desselben) in viele Keller; ein Bürger fing einen Hecht
in seinem Keller. In Base! trat zu derselben Zeit der Rhein
in die Pferdeställe und übergoß den Rücken der Pferde
mit großen Wellen." Im Winter 1302 und in den Jahren
1304 und 1305 vermochte dagegen der Rhein wegen sei-
ner Seichtigkeit die Lastschiffe nicht zu tragen. Im Jahre
1282 wird erwähnt, totum Rhemim Fryburgum et
Brysacum proprio rivulo divisisse. Die Ueberfetzuug
von Pabst: „wie der ganze Rhein Freiburg uud Breisach
nur in der Größe eines kleinen Baches getrennt habe": ist
gewiß unrichtig *). Der Sinn kann vielmehr nur der sein,
daß eiu besonderer Arm des großen Rheiustromes bei Hoch-
wasser östlich an Breisach vorübergeflossen sei. Diese Er-
klärung wird gestützt durch eiue zweite Stelle aus dem
Jahre 1295: Der Rhein, welcher lange Zeit hindurch Brei-
sach vom Elsaß getrennt hatte, wandte sich in diesem Jahre
zum T h e i l aus die andere Seite des Berges 2).
Von anderen Gewässern wird wenig berichtet. 1289
Jannar überschwemmte die Jll die Flur von Herinkeim
(Hergheim)3) und andere nahegelegene Dörfer. Es war im
Januar, wie wir auch heute noch in den Wintermonaten
den höchsten Wasserstand der elfäsfifchen Flüsse finden. Von
einer allgemeinen Ueberfluthuug des Oberelsasses meldet der
Chronist aus dem Jahre 1281: „Das Wasser überfluthete
den Ort SUlz *) und that großen Schaden; ebenda erlitten
viele auch durch deu Saud Verluste. In Gebweiler stürzte
ein großer Theil des Berges durch den Ansturm des Was-
sers zusammen; in den Bergen des Elsasses thaten die
Sturzbäche den Leuten an Weinstöcken und Aeckern großen
Schaden." Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß hier ein
Wolkenbruch gemeint ist, von dem das Elsaß heimgesucht wurde;
und dieser verursachte möglicher Weise einen Durchbruch des
Belchensees oberhalb Gebweiler, wie dieses wirklich in den
folgenden Jahrhunderten mehrfach vorgekommen. Dadurch
wäre der Einsturz eines Theiles von dem Berge zu erklären.
In der Abhandlung „die Zustände des Elsasses im Anfang
des 13. Jahrhunderts" wird allgemein von den Gewässern
gesagt: Bäche und Flüsse waren damals nicht so groß wie
jetzt (am Ende des Jahrhunderts), weil die Wurzelnder
Bäume die Feuchtigkeit des Schnees und Regens längere
Zeit in den Bergen zurückhielten, ein Beweis zugleich dafür,
1) cf. Jahrbuch für die Literatur der Schweizeraeichichte
1867, 172.
2) Der „Bach" Rhein bei ^chlettstadt, der sich im Jahre
1301 in der Übersetzung von Pabst findet, beruht auf falscher
Übersetzung. Rivus heißt auch an dieser Stelle „Arm",
„Rheinarm".
3) Oestlich von Ruffach, südlich von Colmar.
4) Bei Gebweiler.
Elsaß im 13. Jahrhundert. 11
daß der Wasgcnwald wie das Elsaß damals bewaldeter ge-
weseu sein müssen, als in späterer Zeit, worauf ich nachher
hinzuweisen habe.
Unter deu Erzeugnissen werden Korn, Gerste, Hafer,
Pfirsiche, Aepsel, Birnen, Kirschen, Erbsen, Bohnen, Linsen,
Erdbeeren, Himbeeren, Haselnüsse, Melonen, Trauben, Lein
am meisten erwähnt. Einige Mal nennt der Chronist zur
Unterscheidung die Obstarteu mit deutscheu Nennen, wie
„Regelsbiren" und „Gigilsbireu", zwei Birnenarten, die
heute noch im Oberelsaß dieselben Namen führen. Ferner
führt er „Gruouacher" Aepfel an. Auch dieses Wort hat
sich in dem Volke bis auf den heutigen Tag erhalten. In
Sulz wurden hundert eingemachte „Kabisköpfe" um zwei
Solidi verkauft. Kabisköpfe, eine auch im übrigen Deutsch-
laud vielfach angewandte Bezeichnung für Kraut- oder
Kohlköpfe, wurdeu imElfaß immer viel augebaut und aus-
geführt, weshalb auch die Elfäfser seiner Zeit von den
Franzosen den Spottnamen töte de choucroüte erhielten.
Hier sei noch erwähnt, daß der gewöhnliche, saure Wem
beim Chronisten „Nappes" heißt, ein Ausdruck, der vom
Volke auch heute uoch gebraucht wird.
Blüthezeit wie Eruteu, Quantität und Qualität der
Früchte lernen wir aus den Annaleu kennen. Freilich sind
die Nachrichten auch hier uicht immer zu einer Vergleichuug
zu verwertheu, da besonders frühe Blüthe oder Reife des
Getreides, Obstes und Weines angegeben ist; immerhin sind
die Notizen sehr schätzenswerth, weil sie uns gerade in ihren
Abnormitäten eine gewisse Regelmäßigkeit zeigen, an die auch
unser Jahrhundert gewöhnt ist. 1284 saud mau am Pfingst-
feste oder den 24. Mai reife Erdbeeren, Erbsen und Kir-
scheu in großer Menge, „was ich sonst selten gesehen," setzt
der Chronist hinzu. Das Jahr 1304 ist oben als ganz
ausnehmend heiß geschildert, uud es ist so zu begreifen, daß
man am 24. Juni schon reise Trauben sah. Sechs Mal
ist die Reife der Erdbeeren, Himbeeren und Kirschen Anfangs
Juni erwähnt. Wenn schon Anfangs August 1297 reife
Trauben auf den Tisch des Conventes kamen, so ist dabei
wohl an Frühtrauben zu denken, die eigens für den Tisch
des Klosters gezogen wurden. Mehrfach sind die Wein-
lesen im September augegeben, während in nnserm Jahr-
hundert der Herbst erst im Oktober beginnt.
Von Interesse dürfte es endlich sein, die einzelnen Wein-
ernten zu verzeichnen, da im 13. wie im 19. Jahrhundert
von diesen vielfach das Wohl und Wehe der Bauern unserer
Reichslande abhängt. Als günstig bezeichnet Verfasser sol-
gende Jahre: 1279 war der Wein im Allgemeinen gut,
aber es gab weuig, eiue Weinlese gab es fast nicht. 1284
wuchs guter Wein in reichlicher Fülle, aber es schien nicht,
als ob er Dauer haben werde. 1287: Au deu Stelleu,
wo sonst harter Wein wuchs, gedieh in diesem Jahre ein
trefflicher Wein, dagegen wuchs harter iu den Bergen, die
sonst den vorzüglichsten Wein im Elsaß zu liefern pflegten.
1291 wuchs ein edler, trefflicher Wein. 1293 gab es, wie
man allgemein sagte, guten Wein in Ueberslnß. 1297:
Das Faß Wein wurde zu Colmar um eiuen Denar ver-
kauft, damit nur die Fässer leer würden. Ein Faß „Rap-
pes" wurde deu Armen für ein leeres Faß verkauft. Es
wuchs eine Fülle trefflichen Weines. 1303 ist ebenfalls
als ein günstiges Jahr bezeichnet; nicht weniger 1304, wo
auf den Bergen ein trefflicher Wein in großer Fülle wuchs.
Nur das Jahr 1302 wird als ein ungünstiges Weinjahr
erwähnt. Im Elsaß wnchs ein geringer Wein, in Zürich
und Worms dagegen sollte er gut geratheu sein. Die Straß-
burger Predigermönche kauften daher Wein in Worms und
führten ihn zu Schiff nach Straßburg.
Wogende Kornfelder und wohlgepflegte Obstbäume zierte»
12 M. Eckardt: Die religiösen Anschauungen der Bewohner der Neu-Hebriden.
damals wie heute die Tiefebene, an den Bergen gedieh tresf- an einzelnen Stellen weit in das Tiefland hinein erstreckt
licher Wein, während die Höhen des Wasganes stattliche zu haben, da der Chronist ausdrücklich berichtet: es gab da-
Walder krönten, deren Bäume nicht selten eine Dicke von mals im Elsaß viele Wälder, welche das Land unfruchtbar
neun oder zehn Fuß erreichten. Diese Wälder schienen sich machten an Korn und Wein.
Die religiösen Anschauungen d>
Von M. Ecka
Vielfach ist den Völkern, die noch nicht nach allen Rich-
tungen hin erforscht, jede religiöse Regung abgesprochen,
oft auf den Bericht eines Reisenden hin, der die Sprache
des Volks, um das es sich handelt, schlecht oder gar nicht
versteht. Bei Einzelnen zieht er vielleicht Erkundigungen
ein, wie über Gott, Uber ein künftiges Leben u. s. w. gedacht
wird; ein verneinendes Zeichen, da die betreffende Frage
ihrem Sinne nach nicht verstanden ist, läßt ihn zum Schlüsse
kommen, daß die Befragten höherer Vorstellungen überhaupt
uicht fähig sind. Der Stab wird gebrochen; das Volk zu
den sogenannten „religionslosen" geworfen. Nicht derartige
oberflächliche Erkundigungen können diese Frage deshalb
hinreichend beantworten; dazu bedarf es eines gründlichen
und häufigen Verkehrs mit den Eingeborenen, des Stu-
diums der Sitten und Gebräuche derselben, bei denen Auge
und Kopf klar zu halten ist. Der Vorstellungskreis des
„Wilden" ist meistens ein völlig anderer, er begreift die ge-
stellten Fragen oft nicht und macht durch die trotzdem ver-
langten und gegebenen Antworten die Verwirrung nur noch
größer.
So ist es auch auf den Hebriden gegangen. Georg
Forster berichtet (Cook's zweite Reise): „Ihre Religion
ist uns ganz unbekannt geblieben!" Darauf hin rechnete
man die Stämme unter die Religionslosen. Später erfuhr
man wenig mehr, nur soviel ward konstatirt, daß, wie bei
allen rohen Naturvölkern, der Glaube an böse Geister, Zau-
derer u. s. w. sehr rege sei.
Die nachfolgenden Zeilen sollen nun, hauptsächlich ge-
stützt aus Mittheilungen einzelner aus den Inseln wirkender
und gewirkt habender Missionäre und anderer dort angesiedel-
ter Europäer, zu dem Vorhandenen Neues hinzufügen, die so
wenig gekannten religiösen Verhältnisse der Bewohner dieser
umfangreichen und interessanten Inselgruppe eingehender
schildern 1). Vielfach sind die religiösen Elemente hier unter
Sitten und Gebräuchen verborgen, die wir nicht ohne
Weiteres als Aberglauben, Betrug :c. verwerfen dürfen.
Das Bestreben, das ihrer Meinung nach Wahre erkannt
zu haben, ist da, steht diese Erkenntniß auch aus einer außer-
ordentlich niedrigen Stufe.
Der Glaube an ein höchstes Wesen, den Schöpfer, ist
auch auf den Hebriden verbreitet, deutlich fpricht sich das
in der Sage der Bewohner von Aneityum, der südlichsten
Insel der Neu-Hebriden, aus. Vor der Einführung des
Christenthums, das hier jetzt völlig Wurzel gefaßt hat, hieß
der oberste Gott, der so heilig war, daß seinen Namen nur
x) Eine ausführliche Schilderung der Inseln und ihrer
Bewohner nebst Segelanweisung für den Archipel vom Wer-
sasser dieses erschien in den „Verhandlungen des Vereins für
naturwissenschaftliche Unterhaltung zu Hamburg", Band IV, 1877
svergl. „Globus" XXXV, S. 175). Im Anschluß daran be-
handelte in demselben Bande I. D. E. Schmeltz in eingehendster
Weise „Die Thierwelt der Neu-Hebriden", und Dr. R. Krause
„Schädelformen der Neu-Hebriden".
c Bewohner der Neu-Hebriden.
)t in Hamburg.
die Priester aussprechen dursten, „Nugeraiu". Er war der
Schöpfer der Jufel. Eines Tages bemerkte er nämlich
beim Fischfang in seinem Netze einen außergewöhnlich großen
und schweren Gegenstand, zog ihn mit Mühe empor und
statt des erwarteten Fischsegens kam Aneityum zum Vorschein.
In seiner Freude schuf er nun die Menschen, das „Wie"
ist nicht gesagt, gab ihnen Muls u. s. w. die Hülle und
Fülle und beschloß, ihnen ein ewiges schönes Dasein zu ge-
währen. Doch seine Kinder verscherzten seine Gnade bald.
Während der Abwesenheit Nugerain's durchbohrten sie eines
Tages dessen große Muschelschalen, die er als Hülle stets
zu benutzen pflegte, mit einem Palmblattstengel und ver-
brannten dieselben dann. Zur Strafe verurtheilte der er-
zürnte Gott das Geschlecht der Menschen zum Sterben.
Auf Veite haben sich zwei Götter vereinigt die Welt
zu schaffen. Es sind „Maitikitiki,, und „Tamakaiä.". In Ero-
manga ist es „Nabu", der nach der Schöpfung der Erde
zuerst die Frau erschuf. Diese gebar einen Sohn, von dem
die Eromanger in direkter Linie abstammen. Die übrigen
Inseln bevölkerte Nabu nun in ähnlicher Weise. Selt-
samerweise ließ er jedoch die Menschen auf allen Vieren
gehen, die Schweine dagegen aufrecht. Dies verdroß aber
die Vögel und Reptilien derart, daß sie eine Versammlung
beriefen, auf der vor allem die Eidechse eine Abänderung ver-
langte, die Bachstelze dagegen dieselbe lebhaft bekämpfte.
Die Eidechse drang durch, kroch nach Schluß auf eine Kokos-
palme und sprang von oben auf den Rücken eines Schwei-
nes, so daß dieses auf die Vorderbeine sank, und von dem
Augenblicke an sich nicht wieder erheben konnte. Die
Schweine gingen nun sämmtlich auf allen Vieren, die Men-
schen dagegen aufrecht. Von dem Schutzgott und Schöpfer
Aniwas und Futuuas, „Maifiki", erzählt man sich: Er habe
vor langer, langer Zeit ein großes Canoe, voll von Män-
nern, Weibern und Kindern, von den Tonga nach Aniwa
und Futuna geleitet und sei dann in seine Heimath, den
Ocean, zurückgekehrt. Gelegentlich besuche er jedoch seine
Getreuen, meistens in Gestalt eines schönlockigen Mädchens,
sie zu segnen oder zu strafen. (Die Bewohner von Futuna
sind Polynesier, diejenigen Aniwas Melanesier, die einen
polynesifchen Dialekt, dem von Rarotonga ähnelnd, reden.)
Der Glaube an ein Jenseits ist auf allen Inseln verbreitet.
Fast durchgängig fehlt jedoch der Begriff des Paradieses,
während die Hölle überall eine große Rolle spielt. Auf
Aneityum heißt die Unterwelt „Jmai", eingeteilt war sie
in zwei Abtheilungen. An einem Orte gab es Ueberflnß
an Hams, Brodfrucht :c., ferner ein reiches Jagdgebiet, an
dem andern wurden die Verdammten, namentlich die verab-
fchennngswürdigsten, die Geizigen und die Mörder, über spitze
Steine geschleppt, mit scharfen Gegenständen in der durchbohr-
ten Nase, nebenbei Hunger und Durst leidend. Der Eromanger
lebt in dem seiner Meinung nach im Westen belegenen Jen-
seits genau so wie auf seiner Insel, anch nimmt er dieselbe
sociale Stellung wie hier ein. War er z.B. ein Häuptling,
M. @(färbt: Die religiösen Anscham
so wird er auch im Schattenreiche herrschen u.s.w. Dasselbe
glauben auch die Bewohner von Ngnna. Bei ihnen heißt
dieses zweifelhafte Jenseits „Bokas". Der Verstorbene hat
hier jedoch noch keine Ruhe. Dieser Ort ist gewissermaßen
das Wartezimmer. Nach einiger Zeit stirbt er zum zweiten
Male, steigt tiefer hinab und leider auch zu einem Orte,
an dem er sich in jeder Beziehung verschlechtert. Dieser
heißt „Mangalnlnlnlu". Hier muß er abermals ein Weil-
chen hausen und zwar länger wie in Bokas. Endlich stirbt
er zum dritten Male und nun hat die arme Seele in „Manga-
seäsea" Ruhe. Es wird nichts wieder von ihr gehört und
gesehen. Die Neugier und das Bewußtsein, ein besonders
großer Zauberer und heiliger Mann zu sein, trieben einst
einen Bewohner von Farelapa (einem Dorfe Ngunas) Na-
mens Mnnuaifn dazu, eine Reife in diese Regionen und
zurück zu unternehmen. Er schlug die Erde sechsmal mit
einer Zauberruthe. Beim sechsten Schlage öffnete sie sich
und unter furchtbaren Donnerschlägen stieg er zn Bokas
hinab. Dort sah und erkannte er zahlreiche „natemates"
(Geister der Verstorbenen). Ohne Aufenthalt schritt er vor-
wärts, bis er sich unterhalb Tiklasoa, einem andern Dorfe, be-
fand, um hier durch eine Quelle wieder an die Oberfläche zu
steigen. Allein diese hatte ihren Ursprung oberhalb des Schat-
tenreiches. Es blieb ihm daher nichts Anderes übrig, als auf
demselben Wege, den er gekommen, nach Farelapa znrückznkeh-
rat. Als Geschenk der Geister brachte er zahlreiche Proben ihrer
Nahrung mit empor: ein Stück Schweinefleisch, ein Huhn,
Hams und einige Bananen. Seine Zauberkraft und Hei-
tigkeit wurden natürlich jetzt außerordentlich gefürchtet. Die
Macht der Priester besaß er in ausgedehntem Maße, ja be-
stimmt glaubte man von ihm, daß er des Nachts, während
Alles um ihn schlummerte, die Zunge zu enormer Länge
hervorschnellte, die Geister derjenigen einzuziehen, denen er
nicht wohl wolle.
In Vat6 heißt die andere Welt „Cacinototo"; an ihrem
Eingange sitzt Salatan, der jeden Eintretenden mit einer
Keule auf den Kopf schlägt. Aehnliche Ideen herrschen
auch auf den übrigen Inseln. Populär, wenn ich so sagen
darf, werden Schöpfer, Unterwelt n. s. w. natürlich nicht.
Es sind zu große, heilige Dinge und nur mit Furcht spricht
man ihre Namen aus. Die in zweiter Linie stehenden nun
folgenden Gottheiten sind weit mehr in Gebrauch, wenn-
gleich sich anch noch die später aufgeführten Specialgötter einer
größern Beliebtheit erfreuen. Vor allem verehrt der Ein-
geborene die Geister der Verstorbenen, die Natmas oder
Natemates. Dann aber auch Sonne nnd Mond. Diese
stellte man sich auf Aueityum als Mann und Weib vor,
die vor langer, langer Zeit auf der Erde gewohnt hätten.
Im Laufe der Zeit sei die Sonne zum Himmel empor-
gestiegen und habe dem Mond geheißen zu folgen, was
dieser auch gethau. Die einzige Tochter Sina ist beim
Vollmond in demselben sichtbar. (Diese Sina kennen auch
die Samoaner als im Mond befindlich.) Zur Feier dieses
Ereignisses fanden Tänze u. s. w. um rohe Holzblöcke mit
geweihähnlichen Aesten an den Seiten statt. Auf geheilig-
ten Steinen wurde Schweinefleisch, Früchte, selbst Kawa ge-
opfert, von dem die Priester zum Zeichen, daß das Opfer
willkommen geheißen sei, etwas nahmen und den reichen
Rest dem Volke überließen, das sich daran delektirte. Anf Ero-
manga werden steinerne Nachbildungen des Neumondes nnd
des Vollmondes, Letztere einem großen Armringe ähnlich,
verehrt. Diese Mondbilder strtd der Sage nach nicht von
Menschen gemacht; würde Jemand dieselben nachmachen,
würden sie sofort vernichtet.
Die Geisterwelt ist eine sehr umfangreiche. Den Geistern
der Verstorbenen werden auf dem sogenannten „ Mar um"
igen ber Bewohner ber Neu-Hebriben. 13
oder „Malavaran", dem öffentlichen Versammlungsplatze der
Dörfer, besoudere Bildsäulen, hohle Baumstämme, aus die viel-
sach ein Gesicht eingeritzt ist, gesetzt. Auf Mallicollo, Nguna,
krönt man die Stämme hier und da mit dem Schädel des
Betreffenden, oder auch mit einer hölzernen Nachahmung
desselben, aus die dann mit einem Brei aus Kokos und
einer Schlingpflanze, sowie Lehm, oder auch einer harzigen
Masse, Gesichter modellirt werden, deren Augen hier uud
da große Muscheln bilden. Das Innere des Kopfes ist
mit Gras, Steinen :c. gefüllt. (Nach Berichten Albertis'
finden sich derartig zubereitete Schädel auch in Katan, 25
Miles von der Mündung des Fly River, auf Neu-Guinea.)
Der etwa fünf Fuß lange, unten zwei Fuß starke Stamm,
der sich nach oben verjüngt, trägt an diesem seinem dünnern
Ende einige circa drei bei vier Zoll von einander entfernte
Oeffnnngen. Durch Schlagen mit einem Stocke lassen sich
auf dieser seltsamen Trommel, die zugleich so heilige Zwecke
verbindet, die verschiedenartigsten Töne hervorbringen. Bei
allen religiösen Festen, die mit Vorliebe während des Voll-
mondes stattfinden, begleiten „heilige Männer" mit dieser
eigenartigen Musik die feierlichen Tänze und sonstigen Zei-
chen der Verehrung, die den in der Trommel wohnenden
Geistern dargebracht werden. Als besonders geheiligte
Bäume, die den Versammlungsort zieren, gelten Casnarinen.
Zuweilen, wie unter anderen auf Ambrym, ist der „Tempel-
räum" besonders durch Bambuspallisadeu und Rohrwände
eingefriedigt. Ein leichtes Dach schützt die darunter befind-
lichen, hier aus Baumsarrn gefertigten Idole, die, in roher
Weife geschnitzt, einen roth und weiß bemalten Kopf darstel-
len. Commodore Goodenongh sah unter diesen eine durch
besonders ausgeführte Brüste als weiblich bezeichnete Ge-
statt. Die Mitte nahm die erwähnte Trommel ein. Opfer-
steine standen umher. Vor jedem Bild lagen eine Menge
Opfergaben, fo daß es schwer hielt, sich hindurch zn winden.
Ratten und Vögel haben hier stets reiche Nahrung; rän-
men sie etwas darunter auf, so hat nach der Meinung der
Gläubigen der Geist die Gabe dankbar angenommen.
Außer diesen verehrten Geistern existiren nun noch
eine Menge Specialgottheiten. Ein Gott schützt das
Haus, sein Bild dient daher vielfach als Stütze am Ein-
gange oder steht vor demselben (unter anderen auf Vauua-
Lava). Fast immer ist er aus Baumsarrn in der erwähn-
ten Weise gefertigt *). Ein anderer Gott schützt die Quellen
der Bäche und Flüsse; wieder einer die Pflanzungen. Auf
Tanna errichtet man ihm inmitten derselben Gerüste, auf
welche Opfergaben niedergelegt werden. Für Fischfang
und Jagd ist gleichfalls ein gütiges Wesen; dann sogar
auch für die Küche, dessen Pflicht es ist, dafür zu sorgen,
daß die Mahlzeiten regelrecht und gesund zubereitet werden.
Auf Ngnna besitzen die „Priester" für jeden Special-
gott eine entsprechende steinerne Nachbildung, „natatapu"
genannt. Die Natatapus für den Schweinegott, dem die
Fruchtbarmachung dieser verbreiteten Thiere obliegt, stellen
z. B. einen Theil desselben, gewöhnlich die Schnauze, dar,
für den Gott der Pamspflanznng gilt eine Namsnachbil-
düng :c. Auf Aurora (Maiwo) sah Bischof Selwyn 1878,
daß die Eingeborenen eifrig Blätter aus einen derartigen,
unter einem Baum befindlichen Stein streuten, bittend, daß
die Schweine recht fruchtbar seien. Der Wechsel der Jahreszeiten
sowie jede Witternngsänderung sind gleichfalls von Göttern
verursacht. Ans Eromanga jedoch wird der Regen der Sonne
zugeschrieben. Sobald das zu Zeiten erwünschte Naß nicht regel-
i) Zwei Exemplare dieses Idols besitzt das in seiner Art
einzig dastehende Museum Godeffroy in Hamburg. Abbildung
bei Eckardt, Archipel der Neu - Hebriden (Verl), d. V. f. n. U
z. H. IV).
14 M. Eckardt: Die religiösen Anschau
mäßig fällt, werden die Sterne zornig und werfen die Sonne
so lauge mit Steinen, bis sie zum Nachgeben gezwungen ist
und wieder regnen läßt. Den officiellen Verkehr mit der
Geisterwelt vermitteln die Priester, die vielfach zugleich Häupt-
liuge sind, oder sogenannte „heilige Männer", denen Uber-
natürliche Gaben zugeschrieben werden. Aus Nguna ist eine
Priesterklasse, „Narifona" genannt, so mächtig, daß sie Regeu
und Sonnenschein nach Belieben verursacht; eine andere, „Na-
mummt" genannt, macht Krankheiten, heilt, läßt sterben,
ruft Stürme hervor, treibt Teufel aus u. s. w. Ist Je-
maud vom Teufel besessen, resp. einem bösen Geiste aus
Bokas, dem Orte, der, wie erwähnt, die erste Station zur
Unterwelt bildet, von dem die Geister jedoch nach Belieben
zurückkehren können, um die Lebenden zu quälen, so sieht der
Namunnai mit seinen tief ins Innere blickenden Augen das
genau. Er geht mit einigen Blättern in der Hand zu deni
Unglücklichen, stellt ihm seine schreckliche Lage vor, läßt sich
Geschenke zusagen und befiehlt dann dem nnfauberu Geist,
sich in einen Stein oder eine Eidechse :c. zu verwandeln,
natürlich war das Eine oder das Andere vorher unter den
Blättern geschickt verborgen. Der Eingeborene trägt nun,
um sich uach Kräften vor allen bösen Geistern zu schützen,
im Armring oder dem Gürtel ein mit bunten Farben be-
maltes Zweiglein eines gewissen Baumes. Vielfach ver-
legt man deu Sitz der bösen Geister auch in die Vulkane.
Die schwarzen Begleiter des Com. Wisemann von I. Br.
M. S. „Cnracoa" weigerten sich bei der Besteigung des
Nasowa auf Tanna deshalb auch bis zur Kratermüuduug
zu gehen, da der im Innern hausende sehr böse Geist sie
verschlingen oder steinigen werde. Die „Krankheitsmacher"
spielen auf den Hebriden eine große Rolle. Hat ein solcher
einen bösen Geist veranlaßt Jemand krank zu machen, so läßt
der Leidende nichts unversucht, beide zu versöhnen. Das
Muschelhorn wird geblasen, je nach dem Grade der Schmer-
zen leichter oder stärker, daß nur der „nahak" nicht ver-
brenne. Der „Nahak" ist eine von dem Erkrankten be-
rührte Speise oder dergleichen, deren Rest sich der Krank-
heitsmacher zu verschaffen gewußt hat; verbrennt er nun
diesen, so ist das Leben unrettbar verloren. Stirbt der
Betreffende trotz allen Blasens und aller Opfergaben, die
dem Gefürchteten dargebracht werden, dennoch, so waren
letztere einfach ungenügend. Rev. Geddie erhielt auf Anei-
tyum einst diese hier „iiatinas" genannten Nahaks. In
einem kleinen Bastsäckchen fand sich ein irdenes Gefäß, dann
in einem zweiten Sacke eine Zinnschachtel mit einer schwar-
zen Masse, Reste eines Blattes einer den Geistern geheilig-
ten Pslanze; ferner menschliche Haare, Fragmente eines
weiblichen Schurzes aus Pandanusblätteru, und Stückchen
Zuckerrohr, aus denen der Saft gesogen war. Soll die
Beschwörung vor sich gehen, so sucht sich der Kraukheits-
macher irgend etwas von der zu schädigenden Person zu ver-
schaffen, z. B. etwas Haar, angebrochene Nahrung, Stückchen
der Kleidung, käut dazu eine Quantität Blätter der gehei-
ligteu Pslanze, rührt alles in den Topf und setzt ihn ans
Feuer, zu den Natmas bittend, daß sie die betreffende Per-
fon krank machen. Je mehr nun dieser Mischmasch er-
wärmt wird, desto größer werden die Schmerzen des Bethei-
ligteu. Diese geheimnißvolle Prozedur heißt „naragess".
Die Bedeutung des Tabu, das auch hier gilt, ist bekauut,
und will ich daher nicht näher daraus eingehen. Belegt der
Priester oder Häuptling etwas mit dem Tabu, so ist es heilig,
unantastbar. Wird das Tabn gebrochen, so wird der Be-
treffende mit dem Tode bestraft; gelingt es ihm zu eutkom-
men, so strafen ihn die Götter sicherlich. Das Zeichen des
Tabu ist gewöhnlich ein an einer Stange befestigter Büschel.
Die Schilderungen der Schließung der Ehe, der Be-
gen der Bewohner der Nen-Hebriden.
schneidung, Leichenfeier und ähnliche Gebräuche unterlasse
ich, als hierher nicht gehörig; Näheres darüber in meiner
erwähnten Abhandlung. Versagen kann ich mir jedoch
nicht die Darstellung eines größern religiösen Festes zu
geben, dem Rev. Gordon auf Espiritu Santo beiwohnte,
und das in seinen Hauptzügen den auf den übrigen Inseln
gebräuchlichen sehr ähnelt. Anwesend waren aus dem um-
fangreichen Festplatz einige Taufend Eingeborene. Zu Be^
ginn trat eine hervorragende Persönlichkeit an die vorhin
erwähnte Trommel und begann diese geschickt zu bearbeiten.
Im Takte bald deu Körper vorwärts, bald rückwärts bie-
gend, tanzten dazu eine Anzahl junger Leute. Das Fest
war eingeleitet. Nuu begab sich der Priester zu einem
der unter prächtigen Casnarinen errichteten Opfersteine, der
augenscheinlich neu errichtet war, während ein anderer, etwa
5 Fuß langer, 3 Fuß breiter, 1 Fuß dicker ans vier starken
1 Fuß hohen Pfeilern ruhender, Altar dem vorigen Jahre
anzugehören schien, legte unter gewissen Bewegungen seinen
Zauberstab aus denselben, um ihn, als die beiden Häupt-
linge zweiten und dritten Grades hervortraten, jeder eine
grüne ungefähr 6 Fuß lange blätterreiche Weinrebe senkrecht
über dem Kopfe haltend, mit der rechten Hand zu ergreifen und
hinter den nun in gewandten bestimmten Sprüngen über den
Platz Davoneilenden heftig hin und her zu schwingen,
ihnen in derselben Weise folgend. Allmälig näherten sich
diese drei von oben bis unten roth bemalten, mit Zweigen
gewisser Pflanzen phantastisch geschmückten wunderlichen Hei-
ligen wiederum dem Altar, auf den nun der Priester sprang,
in der Linken den Sack haltend, mit der Rechten einen etwa
15 Zoll langen Stab ergreifend. Noch war dieses nicht
geschehen, als eine Anzahl der Anwesenden sich bemühte,
Ferkel in Säcke und Körbe zu stecken, je 20 wanderten
mit fabelhafter Geschicklichkeit in einen Sack; die Vorberei-
tuug auf den nun folgenden zweiten Akt, „apromos" ge-
nannt. Eine Anzahl junger Leute vertheilte sich zu Be-
giuu desselben, etwa 2 bis 3 Aards von einander entfernt,
in zwei Reihen ans den Festplatz, jeder in seiner rechten
Hand eine 2 Aards lange Ruthe, der Mittelrippe eines
Kokosblattes ähnlich, haltend. Auf jedem Ende stand ein
Mann, der nach einem gegebenen Zeichen durch die Reihen
zu laufen begann, von jedem der Jünglinge einen Schlag
mit der Gerte um die Brust empfangend, und selber mit
den über dem Kopfe emporgehaltenen Armen einen klat-
schenden Ton hervorbringend. Am Ende der Reihe rieb
sich jeder dieser Büßer mit Taro ein, dem Körper die Schläge
weniger empfindlich zu machen, die Jünglinge tauschten die
eiumal benutzte Ruthe gegen andere und die Scene begann
von Neuem. Bald war der Platz dicht mit Ruthen bedeckt.
Die Opfer schienen wild vor Erregung oder Schmerz zu
sein. Ein Zeichen und wieder änderte sich die Seene. Vier
bis fünf Tänzer traten auf; die Säcke mit den Ferkeln
wurden herbeigeschleppt, eines nach dem andern heransge-
zogen und in die Luft geschleudert. Jeder Tänzer suchte
diese sonderbaren Bälle zu fangen und brachte die schrecklich
schreienden zur Erde fallenden zu dem noch immer auf dem
Altar nach dem Klang der Trommel tanzenden Priester,
der jedes Ferkel mit dem erwähnten Stab durch einen Schlag
aus die Schnauze tödtete. So wurden an 200 Thiere ge-
tödtet, um am Abend, nebst einigen nachträglich geschlach-
teten großen Schweinen, gekocht und gegessen zu werden.
Bevor die schauerliche Mahlzeit begann, verließen noch
etwa hundert Frauen, je vier in einer Reihe, den Busch.
Die Gesichter mit verschiedenen Farben in Streifen bemalt
hielten die äußeren Glieder in ihren Händen Speere oder
Ruthen, die Übrigen kurze gebogene Stäbe oder Keulen, auf
die sie sich, nach vorn geneigt, beim Vorwärtsgehen zu
Aus allen
stützen schienen. Um die Knöchel trugen Alle Schnüre ge-
trockneter, Kastanien ähnelnder, Nußschalen, die ein seltsames
Getöse hervorbrachten. Nach dem Takte der, von den Vier-
den Reigen eröffnenden Frauen geschlagenen, 15 Zoll lan-
gen Bambustrommel stampften sie etwa 3 Fuß vorwärts,
dann, ohne die Haltung zu ändern, 2 Fuß zurück und be-
wegten sich so, in der Geschwindigkeit von 100 Aards in
der Stunde, über den ganzen Platz. Nun war der ossidelle
Theil beendet, das ersehnte Mal begann.
Die Stellung der auf deu Hebriden wirkenden Missio-
näre ist eiue sehr schwierige und gefahrvolle, uud nur lang-
sam gewinnen sie Terrain. 1878 waren 11 europäische
Missionäre, 89 eingeborene Lehrer auf 50 Stationen Ver-
th eilt; 86 Schulen wurden von 2433 Schülern besucht.
Die kirchliche Gemeinde betrug in Summa 2644. Die 1279
Seelen starke Bevölkerung von Aneityum ist ganz zum Chri-
stenthum übergetreten, ebenso die 192 Seelen zählende kleine
Insel Aniwa, das „Madeira" der Hebriden. Von den
circa 10 000 Bewohnern von Tanna nehmen nur circa
120 am öffentlichen Gottesdienst Theil. Auf Nguua (500
Einwohner) und den unter der Obhut zweier europäischer
Missionäre und vier eingeborener Lehrer stehenden Nachbar-
Erdtheilen. 15
infeln Pele (150 Einwohner), Metafo, Makuru, Tongoa :c.
sind circa 100 Gläubige. Auf Vats (3000 Einwohner)
circa 500. Schlimm sind die Bewohner Mallicollos (10 000),
dann Santos (20 000) jc. Einzelheiten werde ich in einem in
Vorbereitung befindlichen Nachtrag zu meiner früheren Ab-
Handlung bringen. Erwähnen möchte ich noch, daß die durchweg
evangelischen Seudliuge durchaus uicht iu der tadelnswerthen
Weise der, namentlich in der Südsee vielfach vorkommenden, blut-
saugenden Bekenner Christi vorgehen, die kein Mittel nnver-
sucht lassen, sich oder die Kirche zu bereichern, nein, auf dor-
nigem Pfad, umdroht von Gefahren aller Art, vom schreck-
lichsten Tode oft ereilt, wirken sie. Der Kuriosität halber
erwähne ich noch, daß ein Mr. de Fonvielle in der Sitzung
der Pariser Geographischen Gesellschaft vom 6. Juni 1879
mittheilte, daß sämmtliche Einwohner des Archipels, 250 000
bis 300 000 (in Wahrheit etwa 70 000), Katholiken
und im Herzen Franzosen seien, die nur darauf warteten,
daß die französische Flagge aufgehißt werde. Ob Mr. de
Fonvielle wohl einmal in Bat« die Meinung der Eiugebo-
renen über die Wee, Wees (Oui, Oui), wie sie die Fran-
zosen heißen, gehört hat? Dann würde er sicherlich nicht
so Wunderbares berichten.
Aus allen
Europa.
— Die Donan-Dampffchifffahrts-Gesellschaft beabsichtigt,
den von ihren Schiffen befahrenen Stromlinien nun auch die
Drina, den vielgenannten bosnisch-serbischen Grenzfluß,
hinzuzufügen. Zu diesem Zwecke wird sie zunächst im Laufe
des gegenwärtigen Sommers diesen Fluß durch einen
Dampfer von geringem Tiefgange untersuchen lassen. Die
serbische Regierung hat ihre Grenzbehörden angewiesen, dem
Unternehmen keine Hindernisse in den Weg zu legen.
— Neuerdings sind unter anderen vom französischen
Unterrichtsminister folgende wissenschaftliche Miss ionen
vergeben worden: an Rens Brson eine geologische Studien-
reise nach Island, an Gustave Lombard eine Mission
nach Abessinien und Schoa, um Untersuchungen über die
Statistik, Topographie, Verfassung und Regierung dieser
Länder anzustellen.
— Der russische Ostseehafen Liban in Kurland, welcher
uach ossicieller Angabe vom September 1375 erst 19 767 Ein-
wohner zählte, soll jetzt deren 29 390 besitzen. Daß dort in
Folge der deutschen Zollpolitik große Hafenbanten in Angriff
genommen worden sind und ein lebhafter Unternehmnngs-
geist sich fühlbar machte, berichteten wir früher („Globus"
XXXVI, S. 47); zu verwundern ist es darum doch, wenn
die Stadt in so kurzer Zeit fast um das Dreifache ihrer Ein-
wohnerzahl sich vergrößert haben sollte.
— An der Norfcfüfte des Marmara-Meeres herrscht
ebenso Hungersnot!), wie in Kleinasien und Armenien.
Nach der „Allg. Z." sind im Bezirke von Gallipoli, My-
riophyton, Ganos u. f. w. während der letzten Monate fast
sämmtliche Kinder und ältere» Leute verhungert. Von den
Feldern ist kaum der dritte Theil bestellt worden, zum Theil
weil das Saatkorn vom durchziehenden Militär verzehrt
worden ist. Die Dörfer, welche von den Russen während
der Okkupation niedergebrannt wnrden, sind noch nicht wie-
der aufgebaut worden, und seit drei Jahren liegen die Aecker
ohne Bestellung. Etwa 29909 sogenannte Flüchtlinge dnrch-
ziehen nnstät den ganzen Bezirk um Nahrung zu suchen.
Erdtheilen.
In Maeedonien in den Kazas von Drama, Serres,
Newrekop (am Mesta oder Karasu) herrschen ähnliche Ver-
Hältnisse: in einzelnen Dörfern, wie z. B. Makros, waren
die Einwohner gezwungen, eine kreideartige Erde zu essen,
in Folge dessen viele zu Grunde gingen. Der Sanitäts-
arzt Lcontios, welcher diese Dinge berichtet, mußte seine In-
spektionsreise wegen der herrschenden Anarchie und des
Räuberunwesens halber unterbrechen.
Nordamerika.
— In den Prairie-Staaten herrscht ein allgemei-
nes Interesse für Anpflanzung von Bäumen, welche
Nutz- und Brennholz geben und dem dürren, verbrannten
Boden wieder die nöthige Feuchtigkeit verschaffen. Der Eisen-
bahnbau und die neuen Ansiedelungen im fernen Westen
machen immer größere Ansprüche an Holzverbrauch, und der
Holzmangel macht sich drückend fühlbar und nöthigt zu gro-
ßen Ausgaben. Die Eisenbahnen, die dort im Jahre 1879
gebaut wurden, bedurften allein 10 Mill. Holzschwellen.
Schon vor 1873 sind Versuche zum Anpflanzen von Bäumen
Seitens der Eiseubahn-Eompagnien gemacht worden, aber
ohne großen Erfolg, woran theils die Wahl ungeeigneter
Lokalitäten, theils die schlechte Pflege der Pflanzungen die
Schuld tragen mag. Hier und da waren die Bäume allzu
nahe an die Bahnen gepflanzt worden, wodurch sie dem
Niederbrennen durch Funken der Lokomotiven ausgesetzt
waren. In den letzten Jahren ist jedoch das Anpflanzen der
Bäume durch die Anstrengungen der Havard Baumschule zu
West Rockbnry, Mass., befördert worden, namentlich in Kau-
fas an der Fort Scott und Golf-Eisenbahn. Dort sind be-
reits mehrere hundert Acker Land mit Bäumen bepflanzt
und Kapitalisten von Boston haben im letzten Winter die
Bepflanznng vou weiteren 560 Ackern mit Bäumen in Kon-
trakt gegeben.
Dieser letztere Kontrakt ist an die Firma von Robert
Douglas und Söhne zu Waulegan, Jlls., vergeben, welche
das größte Geschäft im Lande für Baumzucht betreibt.
Diese Firma hat es übernommen, jene 560 Acker zu pflüge«
16 Aus allen
und auf jedem Acker 2720 Bäume zu pflanzen und sie zu
verpflegen, bis. sie Schatten geben, was etwa in zehn Jahren
der Fall sein wird. Alsdann werden sie an die Eigenthü-
mer des Landes übergehen und für jeden Baum unter der
Zahl von 2000 auf den Acker wird ein Cent abgezogen, und
nur Bäume, die mindestens 6 Fuß hoch sind, werden gezählt.
Die ganze Anzahl der akkordirten Bäume beträgt über
1^/2 Millionen und der Ausfall von Zehntausenden von Bän-
men, wenn auch nur ein Cent per Stück verloren geht,
würde für die Kontraktoren doch einen Verlust von Tansen-
den von Dollars machen. Diese Bestimmung genügt, um
die richtige Pflanzung und Pflege durch tüchtige Leute zu
garantiren. Daß der Profit aus diesen Waldanpflanznngen
sich nach Jahrzehnten auf viele Millionen belaufen wird,
liegt auf der Hand. Es ist freilich keine Spekulation von
heute auf morgen, aber sie ist nicht bloß eine gewinnbrin-
gende, sondern auch eine höchst verdienstliche, die weit und
breit jener Gegend ungeheure Vortheile bringen und ihre
Knltnrfähigkeit außerordentlich erhöhen wird.
Die Bäume, welche man anpflanzen wird, sind Vorzugs-
weise der Catalpabaum (300 Acker) und der Ailanthns (200
Acker), auf den übrigen 60 Ackern wird man Versuche mit
verschiedenen Baumarten anstellen. Der Catalpa und der
Ailauthus wachsen sehr schnell; der erstere liefert ein weiche-
res Holz für Zäune, Eisenbahnschwellen :c., der letztere da-
gegen giebt ein hartes Holz für Bauten, Möbel und zum
Brennen. Man erwartet, daß diese Pflanzung bald Nach-
ahmung in anderen Prairie-Staaten finden wird.
(Amerik. Schweizer-Zeituug.)
Vom B ü ch e r t i s ch e.
H. I. Klein's Lehrbuch der Erdkunde für Gym-
nasien, Realschulen und ähuliche höhere Lehranstalten (Braun-
schweig, Fr. Vieweg u. Sohn 1830) verdient an dieser Stelle
eine Erwähnung, weil der als naturwissenschaftliche Auto-
rität bekannte Verfasser den Hauptnachdruck beim Lehren
der Geographie auf die Behandlung der natürlichen Gestal-
tnng der Erdoberfläche gelegt wissen will und sein Werk
von diesem Gesichtspunkte aus abgefaßt hat. Und das ganz
mit Recht! Denn wenn in neuerer Zeit im Unterrichtsplane
der höheren Lehranstalten der Geographie ein größeres Ge-
wicht beigelegt wird, so kann diese Disciplin ihre bildende
Kraft doch nur voll entfalten, wenn sie nicht, wie früher,
lediglich in den Geschichtsstunden als unumgänglicher An-
httngsel vorgetragen, oder wenn dabei nur eine größere
Menge von Namen und Zahlen, die doch nur verwirren,
den Schülern eingeprägt wird, sondern wenn die großen
dauernden Verhältnisse der Länder und Meere vorgeführt,
wenn anstatt auf einzelne Fakta, auf das Gesetzmäßige und
allgemein Gültige der Hauptnachdruck gelegt wird. Dr. Klein
hat, von diesem richtigen Grundsatze ausgehend, das topo-
graphische Detail, welches in ähnlichen Lehrbüchern oft über-
wuchert, auf das unumgänglich erforderliche Maß beschränkt
und dadurch Raum für eine ausführlichere Behandlung der
physischen und astronomischen Erdkunde, welche letztere in
ähnlichen Büchern meist fehlt, der Oceanographie u. s. w.
gewonnen, kurz für Dinge, welchen jeder Unbefangene eine
Erdtheilen.
größere Bedeutuug für den Unterricht beimessen wird, als
den wechselnden staatlichen und administrativen Einrichtungen,
schwankenden Bevölkerungsziffern und dergleichen. Für den
Politiker, Gelehrten und Geschäftsmann hat fo etwas wohl
großes Interesse; dem Schüler aber frommt es z. B. mehr,
die allgemeine Bevölkeruugsdichtigkeit der Länder kennen zu
lernen, als die Einwohnerzahlen von so und so viel Städten
auswendig zu wissen, nur um uach fünf Jahren zu erfah-
reu, daß dieselben sich bedeutend geändert haben. Auch hal-
teu wir es für recht wichtig, daß die Schüler einen Begriff
von dem Wefen und Wirken der Quellen und Wasserfälle,
der Deltas und Seen, der Vulkane und Gletscher erhalten
und möchten ihnen gern dafür eine Menge von Jahreszah-
len und Königsreihen erlassen.
Das Wichtigste über jene Dinge, über die Oberflächen-
gestaltuug und die klimatischen Verhältnisse der Erdtheile :c.
behandelte Klein in durchaus ansprechender, leicht verständlicher
Weise und unterstützt seine Darlegungen durch eine Fülle
von gut gewählten charakteristischen Abbildungen (im Gan-
zen 86) und Kartenskizzen (55 an Zahl). Auch das ist nur
anzuerkennen. Denn — sagt er in der Vorrede — „gerade in
der Erdkunde kann das Wort den Mangel der Anschauung am
wenigsten ersetzen. Für das Verständniß der individuellen
Eigeuthümlichkeiten und deren Rückwirkung auf die Kultur-
entwickelung ist es von Wichtigkeit, daß der Schüler eine
bestimmte Vorstellung gewinne, wie sich beispielsweise das
deutsche Mittelgebirge auch in seinen äußeren Formen von
den Alpen oder den Gebirgen der Auvergue unterscheidet,
oder wie ungleich der Anblick der Pampas und der Flächen
Südafrikas ist. In dieser Beziehung sind gute Abbildungen
ganz unersetzlich." Was die Karten anlangt, so sind diesel-
selben mit Absicht leer und skizzenhaft gehalten: sie sollen
den Atlas nicht überflüssig machen, sondern nur rasch orieu-
tireu. Theilweise sind es rohe Höhenschichtenkarten, und
diese Darstellnngsweise des Terrains erscheint uns für solche
Skizzen durchaus die richtige. Ja, wir würden es mit
Freude begrüßen, wenn sich dieses vorzügliche Mittel, das
Terrain zu veranschaulichen, mehr und mehr einbürgerte.
Nur wäre die erste Bedingung, daß von Fachleuten mehr
Länder in dieser Weise nach den Originalquellen bearbeitet
resp. solche Karten mehr veröffentlicht würden; eine bei der
Weitsichtigkeit und Zersplitterung des Materials überaus
zeitraubende, mühselige, aber auch interessante und lohnende
Arbeit. Alsdann gewännen die Karten von Italien z. B. oder
der sogenannten Balkanhalbinsel und andere theilweise ein
anderes Aussehen, als in den vorliegenden Skizzen. Wir
möchten dies dem Verfasser für eine zweite Auflage recht
ans Herz legen, ihm auch empfehlen, diese Darstellungsweise
später in noch weiterm Umfange als jetzt anzuwenden.
Zum Schlüsse können wir nicht unterlassen, darauf hin-
zuweisen, daß das Klein'sche Lehrbuch durch größeru und
kleinern Druck das Pensum für eine niedere und höhere
Stufe des Unterrichts unterscheidet und deswegen den Schü-
ler durch die ganze Anstalt begleiten kann. Der Geographie
sind zwar unseres Wissens in den höheren Gymnasial- :c.
Klassen keine besonderen Unterrichtsstunden eingeräumt, viel-
leicht trägt dieses Lehrbuch dazu bei, daß es hier und da
geschieht. a.
Inhalt: Ans Java. I. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Bruno Stehle: Das Elsaß im 13. Jahrhundert. I. —
M. Eckardt: Die religiösen Anschauungen der Bewohner der Nen-Hebriden. — Aus alleu Erdtheilen: Europa. — Nord-
amerika. — Vom Büchertische. — (Schluß der Redactiou 6. Juni 1830.)
Die Redaction übernimmt keine Verantwortung für die Znrücksendnng von unverlangt zur Recension
eingesendeten Büchern.
Rcdactcur: Dr. N. Kiepert in Verlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicweg und Svhn in Braunschwcig.
&■
MM für Jättder.
Band XXXVIII.
"4
%
43.
J£2.
lit besonderer HerürkstcKtigung äer AntKroßologie und GtKnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
cyv . ;/■ rt- Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten lOCA
■OtCtUlt I CylüCtg ,utn mretje von 12 Mark pro Band zu beziehen. e
51 11 f Java.
(Nach dem Französischen des Herrn Desire Charnay.)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien des Reisenden.)
II.
Am nächsten Tage um ein Uhr wurde Charnay von dem
Dolmetsch der Residenz zu Wagen iu den Palast abgeholt.
Dieser Palast ist eine Stadt in der Stadt; von Mauern
eingeschlossen, von Kasernen umgeben, von Höfen und Gär-
ten durchschnitten, beherbergt er eine ganze Bevölkerung von
Beamten, Dienern und Schützlingen. Den innern Dienst
versehen nur Frauen.
Man tritt in einen weiten Hof, in dessen Hintergrunde
sich zwei riesige Hallen hinter einander erheben; die erste, der
Dalem, dient als Audienzsaal; ihr vorauf geht ein Peristyl
mit einem Giebel, an dem das Wappen des Mangkn-Na-
goro prangt; sie ruht auf 34 Pfeilern mit vergoldeten Rund-
stäbchen, ist mit Kunstgegenständen, Fanteuils und Tischen
ausgestattet, mit Marmor gepflastert und wird Abends mit
Fackeln und 25 großen Petroleumkronenleuchtern erhellt.
Von irgend welchem Lokalkolorit keine Spur: Möbel, Bron-
zen, Divans, alles kommt aus Paris; aber dieser nach allen
vier Seiten hin offene Palast bildet einen frischen und für
das sengende Klima Javas höchst geeigneten Saal.
Die zweite Halle hinter der ersten ist nicht so umfang-
reich, aber traulicher. Die Ausstattung ähnelt derjenigen
der ersten, ist aber reicher: ein schöner Smyrnateppich bedeckt
die Mitte; japanische Bronzevasen, große chinesische Töpfe,
Divans, Spiegel, Gemälde und Statuen bilden das Mobi-
liar. Den Hintergrund nehmen drei Zimmer mit großen
Fenstern ein, von denen die beiden zur Seite höchst einfach
sind, das mittlere aber, ganz von Gold starrend, ein Meister-
Globus XXXVIII. Nr. 2.
werk javanischer Tischlerkunst ist; es zu betreten ist unter-
sagt: es dient den Söhnen des Mangkn-Nagoro zun: Aufent-
Haltsort iu der Hochzeitsnacht und entspricht somit dem
amerikanischen bridal room.
Ein ziemlich häßlicher, aber freundlich aussehender Greis
empfängt den Fremden und den Dolmetsch mit einem Lä-
cheln, drückt ihnen die Hand und ladet sie zum Sitzen ein.
Es ist der Fürst, was man übrigens seiner Kleidung nicht
anmerkt, da er hierin dem untersten Javaner gleicht. Die-
ner kriechen hinter ihm her und zwei reizende kleine Mädchen
in niedlichen Gewändern hocken an seiner Seite nieder, den
Spucknapf und die Beteldose in den Händen.
Die beginnende Unterhaltung ist banal, wie eine jede,
die mit Hülfe eines Dolmetsch geführt wird; Charnay spricht
von dem schönen Lande, welches er bewundert, der Fürst von
Europa, das er bedauert nicht gesehen zu haben, dessen Er-
sindungen, Kuust und Politik er jedoch ungefähr kennt.
„Warum haben Eure Hoheit (dies ist der Titel) die Welt-
ausstelluug nicht besucht?" — „Ja, wenn ich erst 50 Jahre
alt gewesen wäre, hätte ich es sicher nicht unterlassen, aber
ich zähle 70, und das ist zu spät!" Mittlerweile reichen
Diener aus kostbaren Tellern Ingwer und Thee umher.
Dann stellt der gntmüthige Alte seinen ältesten Sohn vor,
der sich auf Knien nähert und erst nach vielen Kniebeugun-
gen erhebt. Der Fürst hustet, speit aus uud lächelt, um
seine langen schwarzen Zähne zu zeigen; der Gebrauch des
Betels allein könnte sie nicht so färben, sondern die Javaner
3
18 Auf
der bevorzugten Klassen benutzen eine Tinktur, um ihnen
diese Ebenholzfarbe zu geben, auf die sie stolz sind, denn,
sagen sie, weiße Zähne zu haben, heißt das nicht Affen und
Hunden nachahmen?
Die Besichtigung des Palasts zeigt noch mit Gallerien
umgebene Höfe und Wohnzimmer für die Frauen; doch sieht
man letztere nur als Dienerinnen mit Scheuren, Waschen und
Putzen beschäftigt, da der Fürst trotz der Sitte nur eine
Lebensgefährtin und keinen Harem hat. Die inneren Höfe
sind mit Pflanzen und Blumen in chinesischen und japani-
schen Töpfen, Vogelkäfigen, armseligen Kiosks und verkrüp-
pelten Bäumen geziert, die grell gegen die prächtige Vege-
tation der Umgebung abstechen. Ein Hanch von Verkommen-
heit weht über diesen zurückgezogenen Hosen; alles ist zu
europäisch, zu modern. Noch wurden die Marställe, darin
besonders Ponies aus Timor, besichtigt und die Garden ge-
zeigt, denn der Fürst hat ein eigenes Regiment und den
Rang eines Obersten in der holländischen Armee, ein Titel,
aus den er stolzer ist als auf seine Würde als javanischer
Fürst.
Die Spazierfahrt des nächsten Vormittags bot an sich
mehr Genuß als der Endzweck, dem sie eigentlich galt: der
Besuch einer der Zuckerfabriken des Mangku-Nagoro, wozu
dieser den Reisenden eingeladen; denn so interessant auch
eine Fabrik ist, so war es doch für einen Freund laudschast-
licher Farben und Schönheit eine etwas harte Zumuthuug;
doch gewährte diese windesschnelle Fahrt im sechsspännigen
Wagen, der chinesische Kirchhof zur Linken, die Flußüber-
gänge auf Fähren, die Kampongs und ihre Bewohner eine
reichliche Entschädigung für die Mühe. Und überdies war
der Empfang höchst schmeichelhaft; ein Sohn des Fürsten
war ausdrücklich dazu anwesend und setzte ihm ein angeneh-
mes Frühstück vor, bei dem ein guter Rheinwein keine zu
verachtende Würze war. So gestärkt, ließ man die Fabri-
kation des Zuckers vom Zerstampfen des Rohres an bis zur
Verladung in Säcke am Auge vorübergehen und kam noch
Der Gamelan.
zeitig genug in Soerakarta wieder an, um im Palaste
einem Bajaderentanze beizuwohnen. Der mächtige Saal
war tageshell erleuchtet; der Fürst nahm in der Mitte Platz,
der Dolmetsch zur einen, Charnay zur andern Seite. Links
hocken zwölf Jünglinge mit nacktem Oberkörper, aber reichen
Untergewändern, inmitten zahlreicher Dienerschaft; rechts
sitzen, in dnnkele Stosse eingewickelt, fünf Javaninnen auf
der Erde, und hinter ihnen regungslos 60 Javanen in
schwarzen Kleidern und Hüten bei einer Sammlung der selt-
samsten Instrumente. Es ist dies das Orchester des Für-
sten, der „Gamelan", welcher in Java großen Ruhm genießt.
„Dieses Orchester ist vom ersten Mangku-Nagoro geschaffen
worden) und ich bin der vierte," äußerte der alte Herr.
Diese Musik besteht aus kupfernen Instrumenten und
Arten von Kochtöpfen in allen Formen und Größen, von
der zweilöchrigen Spiegeleierpsanne bis zum riesigsten Stein-
butteukessel; aus Reihen von Kupferplatten, von zwei Zoll
bis fast ein Meter Länge, die auf kleinen und großen Bronze-
gestellen ruhen; aus Tttfelchen von tönendem Holz, die, in
derselben Anordnung, au die afrikanische Marimba erinnern;
aus kleinen und großen Gongs von 10 Centimeter bis 6 Fuß
Durchmesser; eudlich aus zweisaitigen Geigen unbekannter
Form. Jeder Musiker ist mit Stöcken und Stäbchen be-
Waffnet, an denen Gummikugeln sitzen, um damit die In-
strnmente zu schlagen.
Aus ein Zeichen des Gebieters setzt sich das Orchester
in Bewegung; ein Wirrwarr von seltsamen Tönen wird
laut, zum Theil höchst sanft, silbern, klagend, und dazwischen
das Brausen der Gongs; manchmal taucht ein reizendes
Motiv aus, aber im Allgemeinen schlägt es ans Ohr wie
einKakophonie sonder Gleichen. Von Zeit zu Zeit begleitet
die durchdringende, schreiende Stimme der Weiber diese kla-
gende Musik und man fühlt sich geneigt, diese schwarzgeklei-
deten Männer für Todtengräber zu halten und sich eher in
eine Leichenfeier als in ein Freudenfest versetzt zu wähnen.
Vom ersten Tone an lösen sich vier junge Leute von dem
Haufen ab; sie stecken in rothen Hosen, die Hüsten in grell-
farbigen Sarongs; im Gürtel haben sie schöne, reich mit
Silber eingelegte Dolche und auf der Brust eine goldene
Tafel; ihre Kopfbedeckung, aus einem steif gestärkten java-
nischen Tuch, welches ihnen den Kopf einzwängt und hinten
zwei große Flügel stehen läßt, ist höchst originell; die Ober-
c
Auf Java.
Uppen sind mit Kork geschwärzt, um Schnurrbarte vorzn-
stellen. Sie nähern sich kriechend, werfen sich mit gefalteten
Händen vor dem Fürsten nieder, stehen ans und grüßen.
Diener bringen ihnen Lanzen, und der Lanzentanz beginnt:
sie gruppiren sich, entfernen sich, drohen und kämpfen; aber
alles das mit so abgemessenen Bewegungen und in so lang-
samem Rhythmus, daß man schwerlich einen kriegerischen
Tanz darin entdecken könnte; sie heben die Füße, drehen sich
um und treten auf, als ob sie auf Eiern gingen; diese
Bursche werden sich nie ein Leides anthnn, und die Lufthiebe,
die sie austheileu, werden nie Jemand treffen.
Nun geht es zum Krißtanz. Die vier neuen Künstler
kommen in derselben Weise und ebenso kostümirt vor, nur
anstatt des Kopftuches ha-
beu sie einen prächtigen ja-
vanischen Helm in Form
eines Diadems und am lin-
ken Arm eine Art Schild
von ausgeschnittenem und
vergoldetem Leder, welcher
einen zweiköpfigen Adler
vorstellt. Kampf, Parade,
Bewegungen weniger lang-
fam; die Kriß treffen sich,
schlagen los, ertönen beim
Klange der Musik, die ihren
Gang etwas beschleunigt;
man sieht doch etwas; ein
Lob für den Krißtanz!
Noch mehr Beifall ist
der Tanz mit Stöcken Werth.
Von den vorigen unter-
scheiden sich die Tänzer
durch eine ganz wilde Kops-
bedecknng und den goldenen
Schild in der Hand; hier
wird die Bewegung be-
stimmter: Hieb, Nachhieb,
Parade; sie schlagen wirk-
lich drauf los, man hört
Höh gegen Holz, und die
Schilde erdröhnen unter
den Schlägen der Kämpfer.
Das Orchester läßt kriege-
rische Klänge hören, die
Geigen kreischen, die Gongs
donnern und die Kasserollen
gerathen in Aufruhr; der Fürst wird lebendig, schlägt den
Takt, macht ein glückliches und stolzes Gesicht nnd sieht den
Fremden mit einem Ausdruck au, der sagen will: „Was
meinen Sie? haben Sie jeAehnliches gesehen?" Dieser ver-
beugt sich zum Zeichen der Zustimmung, beglückwünscht ihn
und bedankt sich für das große Vergnügen; Weine und Er-
frischungen werden umhergereicht; der Fürst trinkt Wasser.
Jetzt kommt die Reihe an die Weiber, die sich ihrer Ver-
hüllung entledigen; die Hoffnung aber, sie alle zusammen
eine Art Ballet tanzen zu sehen, wird getäuscht: einzeln sol-
len sie ihre Kunst zeigen. Die erste schreitet vor mit uack-
teil Schultern uud Armen, den Busen mit einer Schärpe
bedeckt, die ihn wie ein Brett einqnetscht; unter dem an der
Hüfte offenen Sarong trägt sie eine Hose, und an jeder
Seite flattern zwei kleine blaue Enden, mit denen sie ihre
Gesten begleitet. Der Kopfputz ist der in Java gebränch-
liche: ans dem Hinterkopf zusammengewundene und-geknotete
Haare mit Blumen dazwischen.
Wie soll man von diesem Tanze sprechen, der des Cha-
Der Mangkn-Nagoro
rakters entbehrt und den man nicht begreifen kann? Was
meint dieses ausdruckslos blickende Mädchen mit ihren schläf-
rigen Gesten? Sie reckt sich aus, verschränkt die Arme,
windet die Hände aus einander, alles mit einer verzweislnngs-
vollen Langsamkeit; sie spielt die Besiegte und zu Boden
Geworfene, während man bis 100 zählen könnte. Ihre
Hüsten sind unbeweglich; der Tanz ist züchtig, man sieht
kaum die Füße der Künstlerin; nur ihre Extremitäten be-
wegen sich wie die Fühlfäden kranker Infekten oder die Füße
sterbender Spinnen, ohne daß man eine Ahnung von den
Gefühlen hat, die sie ausdrückt. Von Zeit zu Zeit stoßen
ihre Gefährtinnen einige klagende Töne ans, als ob Katzen
heulten, und sie selbst murmelt, wie einen Todtengesang, uu-
verständliche Worte.
Welch wunderbarer
Volksgeist, der in Spielen,
die jeden andern zur Aus-
gelassenheit hinreißen, für
seine Gesänge nur tödtliche
Trauer, für seine Tänze
nur die tiefste Melancholie
findet! Es scheint, als ob
dies entkräftete Volk nur noch
Entsagung und Schmerz
ausdrücken und in Gesang
und Tanz nur Abscheu vor
dem Leben und die Trauer
einer seit 20 Jahrhunderten
in Knechtschaft und De-
müthignng zugebrachten
Existenz darstellen kann!
Wie dem auch sei, wahr-
scheiulich haben diese Art
Genüsse für den Javanen
denselben Reiz wie für uns
das beredteste Ballet, und
sicherlich würden sie ihre
Tänzerinnen nicht gegen
die nnserigen vertauschen,
denn auf Charuay's Frage,
ob er jemals europäische
Tänzerinnen gesehen, ver-
hüllte Seine Hoheit das
Gesicht mit einem Ausdruck
des Abscheues, der des hei-
ligeu Antonius iu der Wüste
würdig gewesen wäre.
Um 11 wurde die Sitzung aufgehoben nnd Charnay
bedankte sich bei dem Fürsten, der sich in der größten Liebens-
Würdigkeit zeigte und ihm sogar die Tänzer, den Gamelan
nnd den Palast zu Photographiren gestattete, was denn auch
am nächsten Tage geschah.
Der Hauptzweck von Charnay's Reise nach Java war
gewesen, die Aehnlichkeit gewisser buddhistischer Ruinen mit
denen Central-Amerikas zu koustatireu. Die wichtigsten die-
ser Ruinen liegen bei Boeroe-Boedor und Bram-
b an am am Di eng, zwei Tagereisen von Samarang und
im Kediri, dem östlichen Theile der Insel. Boeroe-Boe-
dor sollte den Schluß der Excursion bilden. Andere Ruinen
befanden sich auch auf dem Lawoe, 13 Stuuden von Soera-
karta, und der Reifende beschloß, sie zu besuchen. Zwar
sollte die Reise beschwerlich sein: die Straße hörte am
Fuß des Berges ans, von da bis zum Dorfe Soekoe mußte
geritten und der Rest zu Fuße abgemacht werden; trotzdem
wollte er es versuchen, und so bestellte er zwei Postpferde
und fuhr eines Morgens um 4 Uhr, mit seinen photogra-
20
Auf Java.
phischen Geräthschaften versehen, ab. Zuerst ging Alles
glatt, aber nach circa achtstündiger Fahrt brach der Wagen
entzwei und er mußte die Nacht in einem Kampong znbrin-
gen; doch benutzte er sein Mißgeschick um verschiedene Auf-
nahmen zu machen. Ziemlich niedergeschlagen kam er wie-
der nach Soerakarta zurück.
Man tröstete ihn damit, daß die Ruinen von Soekoe
nur ein Restaurationsversuch einer Epoche des Verfalles
seien und aus dem 14. Jahrhundert stammten. Nach
Rasfles wären sie noch jünger und gingen nicht über das
15. Jahrhundert hinaus, 1435 bis 1440, weniger als 40
Jahre vor dem Aussterben der Hindureligion auf Java.
Nach demselben Autor wären die Denkmäler von Soekoe die
gröbsten und gewöhnlichsten der Gebäude, die in der Insel
zerstreut liegen und gehörten einer entarteten Sekte des Brah-
manismus an. Die interessanteste Seite dieser Ruinen
Lanzentanz.
ebenso wie der Denkmäler der letzten javanischen Epoche wäre
ihre außerordentliche Aehnlichkeit mit den Gebäuden Mexikos
und Nukatans. Das kann ein reiner Zufall sein, fügt
Fergnfson in seinen Abhandlungen hinzu, aber die Aehn-
lichkeit ist erstaunlich. Uebrigens nehmen die Ethnologen
ohne Anstoß an, daß die malaiische Race sich von der Osterinsel
bis Madagaskar habe erstrecken können; in diesem Falle
widersteht nichts, daß diese oder eine verwandte Race sich
bis nach dem amerikanischen Kontinent ausgebreitet hat.
Charnay, der beide Länder, Java und Central-Amerika, ge-
sehen, war von der Aehnlichkeit der Denkmäler ganz über-
rascht. Fergusson sagt, daß die Javanen ebenso wenig wie
die Amerikaner sich gegenseitig die Baukunst haben lehren
können; daß aber vielleicht ein alter, gemeinsamer Glauben,
das Blut, die Erbinstinkte mit einem Wort, bei beiden Völ-
ker überleben, wieder aufwachen und dieselben Wirkungen
in so großer Entfernung hervorgebracht haben.
Charnay versuchte nicht noch einmal nach Soekoe zu ge-
langen, um so mehr, als am Tage nach seinem Wiederein-
treffen in Soerakarta, am 24. Juli, das Fest bei dem Kai-
Auf
ser stattfinden sollte; er wohnte diesem bei und hatte nicht
Ursache es zu bereuen. Um 6 Uhr Morgens fanden sich
bei dem Residenten die hervorragendsten holländischen Kauf-
leute, die oberen Beamten und die javanischen Prinzen ein;
letztere in Uniform, die Civilisten in Schwarz, und begaben
sich von dort zu Wagen nach dem Kraton.
Wie der Palast des Mangku -Nagoro, ist auch der des
Kaisers eine kleine Stadt für sich, aber er hat das Ansehen
Java. 21
einer Festung, was dem andern fehlt. Der erste Hof ist in
der That von zwei dicken Ringmauern umgeben und man
durchschreitet einen langen Gang, der dem Eintritt in eine
Citadelle gleicht. Ein reichgekleideter, jovial aussehender
Greis von 75 Jahren empfängt die Gesellschaft: es ist der
Onkel des Kaisers. Dann öffnet sich ein riesiger Hof und
mit ihm eins der wundervollsten Bilder. Mitten im Hos
umfaßt eine mächtige Halle eine Menge in glänzenden Ge-
Stocktanz.
tan thront in der Mitte des Dalems auf vergoldetem Sessel;
links von ihm sein Onkel auf einem Polster, einen mächtigen
Betelpriem kauend; näher bei ihm der Erbprinz, ein reizen»
der zehnjähriger Knabe mit gekreuzten Beinen, während
rechts von ihm der Resident auf erhöhtem Fantenil Platz
nimmt. Ebenfalls rechts sind Reihen von Sesseln für die
europäischen Gäste aufgestellt, die sich nach dreimaligem
Gruß darauf niederlassen.
Auf ein Zeichen des Kaisers nähert sich ihm kriechend
ein blaubemützter Javaue und harrt vor ihm mit gefalteten
Dolch- und
wändern: rechts, links, überall, wohin man blickt knien Tau-
sende von Menschen in tiefer Andacht. Die Brust ist nackt,
der untere Körper steckt in grellfarbigen Röcken und enorme
goldene Ketten heben sich glänzend von ihrem bronzenen
Teint ab. Auf dem.am Hinterkopf zusammengezwängten
Haar sitzen hohe weiße, blaue und schwarze Mützen. Der
ganze hintere Theil des Hoses ist mit ebenfalls hockenden
Weibern angefüllt.
Links befindet sich der Gamelan des Kaisers und etwas
weiter entfernt ein europäisches Militärmusikcorps. Der Sul-
Auf Java.
Händen; das ist der erste Minister. Wie Charna.y von dem
Onkel des Kaisers erfährt, bezeichnet die einfache schwarze
Mütze die unteren, die weiße die Palastbeamten, die blaue
den ersten Minister und die Mitglieder der königlichen Fa-
milie; aber die schwarze goldeingefaßte und edelsteinbesetzte
ist nur ein Vorrecht des Kaisers.
Nach Empfang des Befehles begiebt sich der Minister auf
seinen Platz zurück; der Gamelan beginnt eine javanische
Weise, Kanonendonner ertönt und jedermann erhebt sich.
Der Sultan führt die Spitze, indem er dem Residenten den
Arm bietet, Alles folgt und man begiebt sich in einen med-
lichen mit Laubgewinden und Teppichen geschmückten Pavillon.
Hier erscheinen die Söhne des Sultans, sieben in uuge-
fähr gleichem Alter von 12 bis 14 Jahren: obgleich illegi-
tun sind sie doch Prinzen; nach ihrer kleinen, zart und fein
gebauten Figur, den Blumenkränzen, den goldenen Ketten
Tanz der Frauen.
und Schmucksachen, die ihre nackten Oberkörper, Arme und
Hände zieren, dem Schildpattkamm, der ihre Haare festhält,
zu urtheilen, könnte man sie für schöne junge Mädchen hal-
ten. Bei ihrem Eintritt ertönt Musik und Gamelan und
Militärorchester geben abwechselnd ihre schönsten Weisen zum
Besten. Nach Beendigung der Ceremonie nimmt jeder wie-
der in derselben Reihenfolge seinen Platz ein; Erfrischungen
uud spanische Weine werden herumgereicht, und jedesmal,
wenn der Resident sein Glas erhebt, bringt er unter dem
Beifall der Menge einen Toast auf den Sultan und den
Thronfolger aus. Träger schreiten vorüber mit Speise-
und Blumenspenden für die Moscheen. Beim Abzug die-
selben Förmlichkeiten wie bei der Ankunft; die Musik schwelgt
in Kupsertönen, die Kanonen donnern und die Gesellschaft
setzt sich in Bewegung.
Damit war der erste Theil der Feier beendet; am Nach-
mittag fand ein „Rantpof" statt. Um 2 Uhr war Alles
für die Vorstellung bereit. Auf dem Platze des Kratons
bildeten mit starken Lanzen bewaffnete Javanen ein Carrä
von 50 bis 60 m Seitenlänge in vier Reihen, von denen
Die geschwär
die ersten beiden auf den Knien lagen und die dritte und
vierte standen, eine undurchdringliche Hecke von haarscharfen
Spitzen, in deren Mitte ein mit Stroh bedeckter Bambn-
käsig, dessen Thür nur durch eine schwache Schnur zugehal-
ten war, einen Tiger einschloß. Auf ein gegebenes Zeichen
beginnt der Gamelan eine ziemlich langsame, kriegerische
Weise und zwei Männer stecken das Stroh mit einer Lunte
in Brand. Die niederregnenden Feuergarben setzen den
Tiger in Wuth; er sucht zu fliehen, brüllt, springt empor
und rüttelt an seinem Käfig, bis die Flamme das Seil er-
reicht und die aufspringende Thür ihm gestattet, hinauszu-
stürzen. Wie der Stier in der Arena weiß er zuerst nicht,
wohin; er bleibt stehen und zaudert, da erblickt er die beiden
Männer, die sich immer noch nach dem Takte der Musik
zurückziehen, und springt auf sie los; diese jedoch flüchten
hinter die Lanzenreihe, die sich hinter ihnen sofort wieder
schließt; nun geht er nochmals rückwärts, duckt sich und ver-
sucht mit verzweifelter Anstrengung in großartigem Sprunge
die lebeude Mauer zu durchbrechen; aber vergebens, wohl
zwanzig Spitzen bohren sich ihm in die Brust und ein wil-
der Aufschrei, der das Beifalljauchzen der Menge übertönt,
entringt sich ihm; wehe denen, die im Todeskampfe seine
furchtbaren Tatzenschläge treffen sollten: die Lanzenschäste
zersplittern davon wie Glas.
en Menschen. 23
Das Schauspiel ist schön, grandios, wild aufregend; ein
neuer Käsig wird gebracht und ein zweiter Tiger erleidet
dasselbe Schicksal wie sein vorangegangener Bruder. Häufig
indessen ereignet sich hierbei auch Unglück: manchmal ist des
Thieres Sprung so gewaltig, daß er nur die äußersten
Lanzenspitzen streift, jenseits auf deu Platz stürzt und bis
unter die Wagen hin verfolgt werden muß, unter die er
flüchtet zum großen Schrecken der Pferde, die, toll vor Angst,
wiehern, ausschlagen und durchgehen.
So endete dieser großartige Tag. Zum Schlüsse führen
wir die Titel der Personen an, die dabei eine Hauptrolle
spielten. Der Sultan heißt: „Seine angebetete Hoheit, der
Gegenstand der Verehrung, der Nagel der Welt, der Ober-
kommandant des Kriegöheeres, der Diener des Barmherzigen,
der Herr des Glanbens, der Erhalter der Religion, welcher
der Neunte ist."
Sein Sohn: „Seine Hoheit, der Gebieter, dem man
dient, der ausgezeichnete junge Herr, der die Provinz auf
seinen Knien trägt, der göttliche Monarch, der Sohn des
Herrschers von Maharam."
Der Mangku-Nagoro endlich macht es verhältnißmäßig
kurz: „Seine Hoheit, der Gebieter, dem man dient, der
ausgezeichnete Herr, der Kavalier, der die Provinz auf sei-
um Knien trägt, der da ist der Vierte."
Die geschwänz
a. Die Frage nach „geschwänzten Menschen" wird neuer-
dings in den anthropologischen Vereinen und Zeitschriften
Deutschlands lebhaft erörtert und vom Embryo bis zum er-
wachfenen Mauue verfolgt, so daß es wohl geratheu er-
scheinen mag, darüber einen kurzen Bericht hier zu erstatten.
Zuuächst ist ein im 12. Bande des „Archivs für Anthro-
pologie" enthaltener Aufsatz des Freiburger Anthropologen
A. Ecker hier zu erwähnen, der eine große Menge neuer
Thatsachen über die anatomischen Verhältnisse der Steiß-
gegend beibringt und für das Vorhandensein von Schwanz-
bilduugen eintritt. Er weist darauf hin, daß so etwas frei-
lich bei gewissen Leuten Anstoß erregen könne, die von einer
Verwandtschaft des Menschen und Assen nicht gern reden
hören, fügt aber sehr treffend hinzu: „Es scheint, daß es
immer nur die uäheren Verwandten sind, die den in die
Höhe gekommenen Vetter geniren, der entfernteren schämt
er sich nicht. Ich sollte aber denken, wenn der Morallehrer
bereitwillig anerkennt, daß der Mensch die Bestie in sich
trägt, wosür leider die Exempla odiosa sich häufen, so
sollten wir Naturforscher nicht prüder sein und zugestehen,
daß er sie auch an sich trägt."
Was zunächst den menschlichen Embryo betrifft, so ist
es eine längst bekannte Thatsache, daß derselbe in früher
Zeit in einen schwanzsörmigen Anhang ausläuft. Ecker's
Icones physiologicae (Leipzig, 1851 bis 1859, Tas. XXV,
Fig. 7 b, Taf. XXVI, Fig. 1 bis 4, 7, 9, 12, und XXX,
Fig. 2) geben davon Abbildungen, ebenfo Kölliker in seiner
„Entwicklungsgeschichte", und der angeführte Auffatz im
Archiv für Anthropologie Taf. II, 19 bis 28. Nur über
die Größe und die anatomische Beschaffenheit dieses Embryo-
schwänzchens sind die Forscher nicht einig gewesen und Ecker
bringt daher die Sache ins Klare. Die Größe betreffend,
so finden sich bei menschlichen Embryonen von 9 bis 12 mm
Länge Schwänzchen von 1 bis l^/s rarn Lange. Die Form
t e n Menschen.
ist die eines sich allmälig verjüngenden gekrümmten Kegels,
dessen Spitze bisweilen nochmals umgebogen ist. Ueber den
anatomischen Bau dieser schwanzartigen Verlängerungen
sind die Untersuchungen gegenwärtig noch im Gange; nur
soviel steht fest, daß derselbe sich zurückbildet und allmälig
in einen bloßen Höcker, den Steißhöcker, übergeht.
Indem wir hier auf anatomische Einzelheiten nicht weiter
eingehen können, heben wir nur noch hervor, was Professor
His im Leipziger anthropologischen Verein über denselben
von ihm bearbeiteten Gegenstand bemerkte (Sitzung vom
20. Februar 1880). Unter „Schwanz" versteht er einen
gegliederten, von der Fortsetzung der Wirbelsäule durchzogenen
und von Theilen der animalen Leibeswand gebildeten Körper-
anhang, der den After überragt^). Beim menschlichen Em-
bryo glaubt also His das hintere Körperende nur insoweit
Schwanz nennen zu sollen, als es den After überragt. Hin-
sichtlich der von Ecker erwähnten Rückbildung hat man sich
zu vergewissern, ob zu einer Zeit des embryonalen Lebens
die Wirbelsäule mehr Glieder besitzt, als dem bleibenden Zu-
stände entspricht. Bei Embryonen aus dem ersten Monat
bestimmte His die Körpersegmente von der untern Kopf-
grenze ab bis zur Steißspitze hin auf 35. Da die Seg-
mente zwischen den Wirbeln liegen, so entspricht dies 34
Wirbeln, einer Zahl, die auch anderweitig bestätigt wird.
x) Mit dieser Definition kann, wie Lenckart hervorhebt,
der vergleichende Anatom sich nicht einverstanden erklären, denn
beim Huhn z. B. liegen die Schwanzwirbel im Innern. _ Anderer-
seits ist die Lage des Afters nicht unbedingt entscheidend, da
derselbe beim Zitteraal z. B. an der Kehle liegt, so daß dieser
Fisch nach der obigen Definition nur aus Kops und Schwanz
bestehen würde. Die Insertion des Beckens an_ die Wirbelsäule
muß daher der vergleichende Anatom zum Kriterium nehmen;
wo, wie bei den Fischen, Beckenwirbel fehlen, ist eine scharfe
Sonderung zwischen Rumpf und Schwanz überhaupt nicht
möglich.
24
Die geschwänzten Menschen.
Daraus ist zu schließen, daß auch bei den sehr jungen Em-
bryonen, die His benutzte, bis zur Steißspitze hin genau so
viel Segmente waren, als der fpätern Anzahl von Wirbeln
entspricht. Es bildet sich also kein gegliederter Abschnitt der
Wirbelsäule zurück.
In Betreff des iunern Baues ergiebt sich aus den
Durchschnitten der Embryonen, daß in dem nach vorn in
die Höhe geschlagenen Körperabschnitt die Kloake bis nahe
zur Schwanzspitze reicht, und etwa l1^ bis 2 Wirbelhöhen
unterhalb dieser sich öffnet. Der kurze Uberragende End-
abschnitt aber hat die Charaktere eines echten Schwanzes.
His kam danach zu dem Schlüsse, daß der menschliche Em-
bryo einen kurzen, höchstens zwei Wirbelhöhen umfassenden
Schwanzstummel besitzt, der auch der Rückbildung nicht an-
heimfällt. Für diesen Stummel genügt der Ausdruck
„Steißhöcker".
Wenn nun auch ganze geschwänzte Völker in das Be-
reich der Fabel zu verweisen sind, so ist damit doch nicht
stützten, umgekehrten und der Längenachse nach in der Mitte
durchschnittenen Kegels nicht unähnlich, dessen Umfang nur
am Rande seines frei herabhängenden, rundlich stumpfen Endes
unerheblich abnimmt, reicht derselbe nach oben in Gestalt einer
gleichförmigen, konvexen Erhabenheit bis nahe an die Sym-
physis sacro-coccygea. Die ganze Länge dieses nach hinten
halbcylinderförmigen Fortsatzes, welcher an der Oberfläche
aus einer glatten, festen, 2 bis 21/2mm dicken Haut besteht
und im Innern bei angewandtem Druck sich knorpelig an-
fühlt, beträgt ungefähr 5 cm, von denen etwa 2^/z aus den
freien und 2% auf den unter der Haut fortlaufenden Theil
desselben kommen. Er erscheint an seinem frei herab-
hängenden Theile ungeachtet seiner derben, ungegliederten
Struktur etwas beweglich--. Die Breite dieser Steiß-
beinverlängernng giebt ihrer Länge nur wenig nach, die des
freien Endes ist etwas geringer und dürfte der eines Mittlern
Ma nnesd anmens gleichkommen."
Eine Abbildung dieses merkwürdigen „Schwanzmenschen"
Fig. 1.
ausgeschlossen, daß
nachgewiesene embryonale
Verhältniß bei einzelnen
Individuen als nicht erb-
liche Bildung fortbestehen
könne. Und hierfür liegen
in der That unanfechtbare
Beweise vor. Sieht man
ab von älteren Fällen dieser
Art, die Meckel (Handbuch
der' pathologischen Anato-
mie, Leipzig 1812, 1, 385)
und Forster (Die Mißbil-
düngen des Menschen. Je-
na 1861) anführen, so hat
ganz neuerdings L. Gerlach ^
in Erlangen einen ge-
schwänzten Fötus von
77 mm Länge mit haarfein
auslaufendem fchwanzähn-
lichen Anhange beschrieben
(Äig. 1); ferner giebt Dr. Geschwänzter Fötus des anato-
Neumayer tn Ltitcmnatt die Mschen Museums in Erlaugen.
Abbildung eines neugebore-
nen Knaben, der in der Gegend des Steißbeines eine mit
normaler Haut überzogene und noch eine etwas härtlich an-
zufühlende IV2 Zoll lange, an der Basis mehrere Linien
dicke, nach dem Ende zu allmälig schmäler werdende Canda
besaß, die auch bei geringen Reizungen sich bewegte (Fig. 2).
Den interessantesten Fall endlich beschrieb neuerdings der
Chefarzt der griechischen Armee Dr. Ornstein in den Ver-
Handlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft 1879,
S. 303. Im Juli vorigen Jahres wurde ihm ein 26jähri-
ger aus Livadia gebürtiger Grieche Namens Nikolaus Agos
vorgestellt, über dessen Militärtüchtigkeit er entscheiden sollte.
„Als der durch Stimmenmehrheit für tauglich befundene
Mensch uns beim Abtreten den Rücken zukehrte, machte sich
unterhalb der Kreuzbeiugegend eine zapfenartige Verlänge-
rung derselben ohne irgend eine Veränderung der normalen
Hautfarbe in auffallender Weise bemerkbar. Bei näherer,
sogleich an Ort und Stelle, später im Atelier des Photo-
graphen vorgenommener Untersuchung ergab sich, daß es sich
um einen anscheinend senkrecht vom Kreuzbein herabsteigenden
rundlichen Fortsatz des untern spitzen Theils dieses Knochens
handele, welcher sich indessen bei sorgfältiger Besichtigung
als ein wenig gegen das Becken zu konkav gekrümmt her-
ausstellt. Der Form nach dem oberu Abschuitt eines ge-
Fig. 2.
ist nach der Photographie
in der Zeitschrift für Eth-
Biographie 1879, Tafel 17,
' mitgetheilt.
Wie gewöhnlich häufen
sich in der Wissenschaft die
interessanten Fälle, wenn
erst einmal einer oder ein
paar bekannt geworden sind
und so hat denn neuerdings
Dr. Max Bartels in Ber-
lin seine Beobachtungen
über „eine besondere Art
von geschwänzten Men-
schen" in der dortigen na-
tursorscheudeu Gesellschaft
mitgetheilt. Er uuterschei-
det fünf Arten von Men-
schenschwänzen, über welche
er im Archiv für Anthro-
Neugeborener Kuabe mit schwänz- potogte berichten wird. Der
artiger Vorragung in der Steiß- Vortragende wollte nur eine
beiugegend. derselben in der Gesellschaft
naturforschender Freunde
zur Besprechung bringen, weil sich ihm Gelegenheit geboten
hatte, selbst einen solchen Fall zu beobachten. Es handelt
sich hier um einen dreitägigen kräftigen Knaben, zu dem
Dr. Bartels vor einigen Jahren gerufen wurde und an des-
sen Kreuzsteißbeingegend „sich ein erhabenes dreieckiges Haut-
seld von bilateral-symmetrischem Bau mit nach oben gekehr-
ter Basis und nach unten gerichteter Spitze markirte." Wie
der Vortragende durch eine Abbildung erläuterte, bot das
Gebilde einen Anblick dar, als wenn ein kurzer, an der
Wurzel breiter Schwanz dem Körper unmittelbar am Ende
der Rückenwirbelsäule aufliegt. Wohlbemerkt war die Unter-
fläche dieses schwanzartigen Gebildes nicht frei, sondern der-
artig mit der Körperoberfläche fest verwachsen, daß die Sei-
ten desselben durch deutlich markirte Furchen von der Nach-
barhaut abgegrenzt waren, während die Basis des Dreiecks,
das die Umgegend um mehrere Linien überragte, ohne merk-
liche Grenze in die Haut des Rückens überging.
Der Vortragende erblickt in dieser Bildung eine der fünf
oben angedeuteten Formen, und bezeichnet im Gegensatz zu
den „freien" Schwänzen diese Form als „angewachsene
Schwänze". In der medizinischen Literatur findet sich
nur noch ein ähnlicher Fall, der im Jahre 1808 von Labour-
dette veröffentlicht wurde.
Ein verschlossenes Land.
25
Ein verschlo
Reisen nach Korea. T
Unter allen Ländern Asiens, man könnte fast sagen der
Erde, nimmt Korea eine gesonderte, eigentümliche Stellung
ein. Durch seine Lage als eine lang gestreckte, an drei Sei-
ten vom Weltmeere bespülte Halbinsel mit mächtiger Küsten-
entwickelung und nicht minder durch ein herrliches Klima
wie wenige Gebiete begünstigt, ist es auf einer überaus tie-
fen Stufe der Kultur stehen geblieben, hat allen Versuchen,
die gemacht wurden, es mit neuem Leben zu erfüllen, erfolg-
reichen Widerstand entgegengesetzt, und ist noch heute eines
der am wenigsten bekannten Länder. Während es der That-
kraft russischer und englischer Reisenden gelungen ist, den
Kern des asiatischen Festlandes, Pamir und Lob-nor, Tibet
und das Land der Tanguten, zu erforschen — an Korea und
dem Widerstande seiner Regierung sind europäischer Witz
und europäische Macht bis jetzt stets gescheitert. Kein For-
schnngsreisender kann sich rühmen, die verhältnißmäßig
schmale Halbinsel durchkreuzt, von ihr mehr als einige Küsten-
striche gesehen zu haben; ja nicht einmal die Küstenlinie ist
durchweg erforscht, und man stößt auf große, vor der Haud
unlösbare Schwierigkeiten, wenn man versucht, die verschie-
denen Küstenausnahmen europäischer Kriegsschiffe mit den
Umrissen einheimischer resp. chinesischer Karten in Ueber-
einstimmung zu bringen.
Bezeichnend ist es, daß sich schon in dem Titel des vor-
liegenden, zu gleicher Zeit englisch und deutsch erschienenen
Buches das Mißglücken der Oppert'schen Expeditionen aus-
spricht: es sind Reisen nach Korea, nicht solche in Korea,
die er uns schildert. Denn es ist ihm nicht besser ergangen,
als anderen vor ihm: in das Innere des Landes einzudrin-
gen gelang ihm nicht und bei seinen wiederholten Versuchen,
Verbindungen mit dessen Einwohnern anzuknüpfen, hat er
sich stets in der Nähe feines Dampfers und der Seeküste hal-
tcn müssen.
Herr Oppert hat der verschlossenen Halbinsel von China
aus im Ganzen drei Besuche abgestattet, die beiden ersten,
nur durch einen Zwischenraum von wenigen Monaten ge-
trennten im Jahre 1866, den dritten und letzten zwei und
ein halb Jahr später, also 1863 oder 1369. Genau giebt
er den Zeitpunkt nicht an, wie er überhaupt über mancherlei
äußere Umstände, die zu erfahren den Leser interessiren muß,
Stillschweigen beobachtet, z. B. darüber, ob er bei seinen
Versuchen, die Regierung von Korea zur Oesfuung ihres
Landes und zu freundschaftlichem Verkehre mit fremden Na-
tionen zu veranlassen, lediglich aus eigener Initiative oder
im geheimen Auftrage irgend einer Macht gehandelt hat.
Denn für einen Privatmann muß ein solches Unternehmen
fast zu großartig und kühn erscheinen. Der erste Besuch der
koreanischen Küste war eine Art Rekognoscirnng: während
einer Fahrt nach Nin-tschwang hielt Oppert sich fünf Tage
lang in einer Bucht des Golfes Prince Jerüme auf und
unterhielt mit den Bewohnern der Nachbarschaft und selbst
mit den Beamten so freundlichen Verkehr, daß er baldigst
eine zweite Reise unternahm mit der Absicht, den nach der
koreanischen Hauptstadt Se'ul führenden Fluß, den Kan-
kiang, aufzufinden, in Folge dessen mit der dortigen Regie-
i) Deutsche Originalausgabe. Mit 33 Abbildungen in
Holzschnitt und 2 Karten. Leipzig. F. A. Brockhaus. ' 1880.
Globus XXXVIII. Nr. 2.
ssen es Land.
on Ernst Oppert^).
rnng in direkte Verbindung zu treten und die Eröffnung
des Landes zu veranlassen. Ersteres glückte ihm nach eini-
ger Anstrengung in der That: im August fand er die West-
liche oder Hauptmündung des Kan-kiang, fuhr dieselbe eine
Strecke bis zur Stadt Kan-wha-su hinauf und nahm sie auf,
was sofort für die unmittelbar darauf stattfindende, übrigens
resultatlos verlaufene französische Expedition unter Admiral
Roze von Nutzen war, aber der Hauptzweck, die Eröffnung
des Landes, wurde von der koreanischen Regierung natürlich
mit allerlei Ausflüchten, höflich zwar, aber bestimmt abge-
lehnt. Das Mißglücken der Roze'scheu Expedition (vergl.
über dieselbe „Globus" XXIV, S. 129 und 145), welche
wegen der Ermordung französischer Missionäre nnternom-
men worden war, hatte nur eine Verschärfung der alther-
gebrachten Abschließung Koreas und neue Christenverfolgun-
gen zur Folge. So überaus elend der Zustand des Heeres,
der Flotte und der Befestigungen in Korea ist, so jämmer-
lich die Bewaffnung der Soldaten und die Mannszucht, so
mächtig war durch den erfolglosen Angriff der Franzosen
der Regierung der Kamm geschwollen; da sie selbstverständ-
lich auch nicht die leiseste Idee von europäischer Macht hatte,
so glaubte sie nun der ganzen Welt, zu Lande wenigstens,
die Spitze bieten zu können.
Durch einen geflüchteten Missionär wurde Herr Oppert
zu seiner dritten Fahrt veranlaßt, die nicht so friedlich ver-
lief, wie die früheren. Es handelte sich dabei um ein höchst
seltsames Unternehmen, zu welchem christliche Koreer den
Plan entworfen hatten: nämlich darum, sich gewisser Reli-
quien, an deren Besitz das Glück des Regenten und seiner
Familie hängen sollte, und welche an einem wohlbekannten
Platze südlich von Se'ul aufbewahrt wurden, zu bemächtigen
und dadurch den Regenten zum Nachgeben d. h. zur Eröff-
nnng seines Landes zu zwingen. Man mußte, um au jenen
Platz zu gelangen, mit einem Dampfer einen Arm des
Prince-Jgrüme-Golfes hinauffahren, welcher sich sast 30 Mei-
len (wohl nautische) ins Innere des Landes erstreckt, und
dies war nur einmal im Monate während 30 Stunden zur
Zeit der Springflnth möglich, wo dieser sonst fast trocken
liegende Arm eine Tiefe von höchstens drei Fuß erreicht.
Muthig ging Oppert an diese gewiß abenteuerliche Unter-
nehmung; allein das Unglück wollte, daß sich sein Dampfer
verschiedentlich verzögerte, und obwohl er den bewußten Platz
ohne Anfechtung erreichte und denselben ohne Bewachung
antraf, so fehlten ihm doch die Werkzeuge, den durch einen
großen Steinblock versperrten Zugang zu den Reliquien zu
öffnen, und er mußte, um nicht mit feinem Dampfboote auf
dem Trockenen sitzen zu bleiben, unverrichteter Sache abzie-
hen, erhielt sogar noch Feuer von koreanischen Soldaten,
und Korea blieb den Europäern verschlossen wie bisher.
Die Erzählung dieser hier kurz skizzirteu drei Fahrten
bildet den zweiten Theil des Buches (Kapitel 7 bis 9,
Seite 160 bis 292), welchem sechs Abschnitte über korea-
nische Geographie und Ethnologie, Staatsverfassung und
Regierungsform, Geschichte, Sitten, Gebräuche und Religion,
Sprache und Schrift, Produkte, Naturgeschichte, Han-
del u. s. w. vorangehen. Es ist begreiflich, daß der Ver-
fafser während dreier so flüchtiger Besuche nicht viel Ge-
legenheit gefunden haben wird, sich eingehend über alle jene
4
26 Ein verschl
Gebiete des Wissens selbst zu unterrichten. Indessen hat er
sich fleißig in der vorhandenen Literatur umgesehen, hat in
Schanghai mehrfach Gelegenheit gehabt, mit geflüchteten
christlichen Koreern und Missionären, die im Lande selbst
gewirkt hatten, zu verkehren, und hat endlich gewiß bei seinen
drei Expeditionen darauf geachtet, seine durch Lesen und Er-
knndignngen gewonnenen Kenntnisse durch eigenes Anschanen
zn prUsen. Aus solche Weise ist es ihm gelungen, ein
immerhin interessantes Buch zu schreiben (lesenswerth sind
namentlich das erste, zweite, vierte und sechste Kapitel); wir
glauben, daß der Verfasser schon zufrieden ist, wenn er durch
sein Werk nur die Aufmerksamkeit auf Korea lenkt. Schon
dies wäre ein Fortschritt zum Bessern: denn ist die Welt
erst einmal aus das Land und seine Vorzüge aufmerksam
geworden, so hat sicherlich die Absperrung desselben die längste
Zeit gedauert; diese Wahrheit haben in unseren Tagen Län-
der von ganz anderer Bedeutung fühlen und anerkennen
müssen.
Manches in der Charakterisirung der Koreaner und
ihrer Regierung — die übrigens nicht oder wenigstens nicht
mehr, wie allgemein angenommen wird, von China abhän-
gig ist (S. 73) — erinnert sehr an türkische Zustände.
Hier wie dort ein ehrliches, treues, gutmüthiges Volk und
eine korrupte Regierung und Beamtenwirthschast. Folgen-
der Passus (S. 35) könnte fast ohne Aendernngen ebenso
gnt in einem Buche über das türkische Reich wie über Ko-
rea stehen:
„Eine eigenthümliche, für die Wohlfahrt und gute Ver-
waltung des Landes indeß schwerlich zuträgliche Einrichtung
ist die, daß sämmtliche Beamte, vom Gouverneur abwärts
bis zum niedrigsten Polizeisoldaten, zu ihren Stellen nur
auf zwei Jahre ernannt werden und ihre Funktionen an
einem und demselben Orte für diese kurze Frist ausüben;
nur in seltenen und ausuahmsweisen Fällen wird die Anits-
dauer auf ein ferneres Jahr verlängert. Nach Ablauf die-
ses Zeitraums erfolgt ihre Versetzung an einen andern Platz,
wofür jedesmal eine neue, und nach den Verhältnissen ziem-
(ich bedeutende Kaufsumme erlegt werden muß. Die natür-
liche Folge hiervon ist, daß den Beamten bei diesem bestän-
digen Wechsel gar keine Zeit gegeben ist, sich in den Gang
der Geschäfte und in die verschiedenen Lokalverhältnisse hin-
einzuarbeiten, und während sie gar kein Interesse für das
Wohlergehen der ihnen nur auf kurze Dauer anvertrauten
Provinzen, Distrikte u. s. w. gewinnen können, sind sie im
Gegentheil hauptsächlich nur darauf bedacht, sich während
ihrer Amtsdauer durch Erpressungen auf möglichst schnelle
Weise für den von ihnen erlegten Preis mit Nutzen bezahlt
zu machen. Die Stellen werden eben nur als Einnahme-
quellen betrachtet, die so schnell und so weit ausgesogen wer'
den müssen, wie der kurze Aufenthalt einem jeden gestattet;
daß das unglückliche Volk dadurch einer beständigen systema-
tischen Ausraubung überliefert wird, thut dabei wenig zur
Sache — die Regierung befolgt und erreicht dabei zwei Zwecke,
den einen, indem sie durch den häufigen Verkauf der Aemter
ihren Seckel füllt, den andern, indem sie eine Annäherung
der Beamten an das Volk von vornherein verhindert, und
zwischen beiden gleichsam eine beständige Schranke aufrichtet."
Oder man lese Folgendes (S. 19): „Die letzte ossicielle
Zählung der Bevölkerung Koreas ergab ein Resultat von
71/2 bis 8 Mill. Einwohnern, wobei jedoch zu bemerken ist,
daß auf die Richtigkeit eines solchen Census nicht der ge-
ringste Werth gelegt werden kann. Da nämlich ein jeder
Ort seine Steuerquote nach der Zahl seiner Bewohner zu
berechnen hat, so liegt es im Interesse der Ortsbehörden,
soweit dies irgend möglich ist> die wirkliche Anzahl zu ver-
heimlichen und geringer anzuschlagen, mn die Steuerlast nach
ssenes Land.
Kräften zu verringern, oder wenigstens der Centralregiernng
fo gering als möglich anzugeben, wovon allerdings nicht die
Bevölkerung, sondern sie selbst den Nutzen ziehen." U. s. f.
Im Jahre 1864 starb der letzte Nachkomme der Könige
aus der Ni-Dynastie, worauf seine Wittwe einen entfernten
Verwandten, einen Knaben von vier Jahren, adoptirte, des-
sen Vater als Regent alle Macht an sich gerissen hat (wenig-
stens damals in den sechsziger Jahren) und mit der größten
Grausamkeit ausübt. Von diesem Zeitpunkte an datirt eine
Aera des Despotismus und des Schreckens, wie sie selbst
'von den an ein absolutes Regierungssystem gewöhnten Ko-
reern bisher nicht erfahren worden war. Schwere Verbre-
chen kommen bei diesem ehrlichen, gntmüthigen Volke selten
vor; Diebstahl wird sehr streng bestraft. Während nun früher
die Todesstrafe sehr selten vollzogen, die Verbrecher dagegen
nach abgelegenen Inseln verbannt wurden, ist jetzt die Ent-
hanptnng eine sehr gewöhnliche Strafe geworden, der nament-
lich Keiner entgeht, welcher auch nur den leisesten Schatten
des Verdachtes einer schlechten Gesinnung gegen die Herr-
schenden Machthaber, den Regenten und seine Genossen, auf
sich geladen hat.
Der Koreer unterscheidet sich nach Oppert (S. 115),
der hierfür sich aus eigene Erfahrung berufen kann, im Cha-
rakter vortheilhaft von seinen Nachbaren, sowohl im Anftre-
ten wie durch die Offenheit seines Benehmens. Er ist, selbst
in den unteren Ständen, von Natur ernst und gelassen,
ohne daß dadurch eine offene Munterkeit und Freiheit aus-
geschlossen werden, die bei näherer Bekanntschast mehr zu Tage
treten. Sie sind dnrchgehends ehrlich, treu und gntmüthig
und schließen sich, sobald sie sehen, daß man es gut mit ihnen
meint, mit fast kindlichem Vertrauen auch an Fremde an.
Bei den Beamten, namentlich den höheren, liegt die Sache
freilich anders.
Im Gang fest, sicher und behende, verräth die Körper-
bildung der Koreer eine größere Selbständigkeit und freiere
Bewegung als die der Japanesen, denen sie, wie den Chinesen,
an Größe und Stärke überlegen sind; auch zeigt ihre ganze
Haltung mehr Thatkrast und Energie und einen entwickel-
tern kriegerische» Geist, als man bei diesen findet. Dagegen
läßt sich nicht leugnen, daß sie trotz aller ihrer Körper- und
Charaktervorzüge au geistiger Ausbildung und Sittenfeinheit
bedeutend hinter denselben zurückstehen; meistens plump
von Manieren und ohne wirkliche Lebensart, geben sie sich
ganz, wie sie sind, und es fehlt ihnen der Schliff, den man
selbst bei den geringeren Klassen in China und Japan nie
ganz vermissen wird. Auch bei den höheren Ständen nnd
Beamten, denen man eine gewisse ernste Würde und Gran-
dezza in ihrem Auftreten nicht absprechen kann, tritt dieser
Mangel an feinerer Gesittung hervor, sobald sie ihren amt-
lichen Charakter bei Seite fetzen und sich gehen lassen — der
rohe Naturmensch tritt dann ganz unverhüllt hervor. Eine
rühmliche Ausnahme von der allgemeinen Regel ist vielleicht
allein für diejenigen in Anspruch zu nehmen, die im Gefolge
einer Gesandtschaft sich einige Zeit in Peking aufzuhalten
genvthigt gewesen sind und die dort etwas von dem seinen
Tone der höhern Beamtenwelt sich haben aneignen können.
Eine merkwürdige Erscheinung ist die niedrige und ver-
achtete Stellung, welche die Priester in Korea einnehmen.
Die ossicielle Religion, wenn überhaupt von einer Religion
die Rede sein kann, ist der Buddhismus, der um das Jahr
372 n. Chr. von China aus Eingang im Lande fand und
sich allmälig ausbreitete. Im Punkte der gänzlichen Miß-
achtung aller ihrer religiösen Gebräuche und Förmlichkeiten
aber stehen die Koreer kaum über dem Niveau ganz wilder
Völkerschaften, gewiß nicht auf der Stufe, wie man sie bei
einem Volke, das doch nicht aller Kultur fremd ist, voraus-
Ein verschl
setzen könnte, und tief unter der, zu welcher sich selbst die
Chinesen und Japanesen erheben. Die Priester bilden in
Korea die letzte unter den sogenannten verächtlichen Kasten,
zu welchen außerdem die Beamten der Präfektnren, die
Schlächter und Lederarbeiter gehören und welche erst hinter
dem eigentlichen Gros des Volkes, den Landbewohnern, Acker-
dauern, Hirten, Jägern, Fischern u. s. w., uud eben Uber den
Leibeigenen rangiren. Oppert hält diese gewiß seltene Miß-
achtnng der Priester und damit der Religion und aller reli-
giösen Gebräuche für eiue Folge der moralischen Verkommen-
heit und nnziemenden Lebensweise der Priester, gegen welche
die Negierung schon wiederholentlich hat einschreiten müssen,
ohne jedoch damit etwas zu erreichen. Schon vor Jahr-
Hunderten, wie noch heute, ist es ihnen nur gestattet, ihre
Bet- uud Wohnhäuser außerhalb der Städte und an den
Ausgangspunkten der Ortschaften zu errichten.
Diese Mißachtung der Priester ist vielleicht eine der Ur-
seichen, welche die Einführung des Christenthums seit dem
Ende des vorige« Jahrhunderts erleichterten; eine andere
muß in dem Charakter des Volkes selbst gesucht werden.
Kein anderer asiatischer Volksstamm ist mehr befähigt, wie
die Koreer, aus wirklich iunerm Gefühl die christliche Lehre
anzunehmen. „Der Chinese läßt sich taufen, wenn er da-
durch einige weltliche Vortheile zu erlangen glaubt — der
Koreer hat nicht allein solche nicht zu erwarten, sondern nur
Verfolgungen, Martern und häufig den Tod. Er wird
Christ aus Ueberzeugung, nicht aus pecuniären Nücksich-
ten . . . Es ist eine nicht sortzulengnende Thatsache, uud
jeder, der nur einigermaßen mit den Verhältnissen, speciell
in China, bekannt ist, wird dieser Behauptung beipflichten,
daß, wenn überhaupt dort von einem Erfolge die Rede sein
kann, ein solcher nur von katholischen Missionären erzielt
worden ist. Ganz abgesehen davon, daß dieselben sich weit
mehr mit der Sache identificiren, indem sie sich durch An-
nähme der Kleidung, der Sitten und der ganzen Lebensweise
der Eingeborenen diesen mehr assimiliren als ihre protestan-
tischen Kollegen, bietet der katholische Ritus dem dem äußer-
lichen Sinnesreiz zugänglichen asiatischen Charakter weit
mehr Nahrung als der einfachere der protestantischen Kirche.
Es kann daher nicht Wunder nehmen, wenn die leichtcmpfäng-
lichen Koreer sich der neuen Lehre, die ihnen in so zusagen-
der Form gebracht wurde, zuwandten, und dieselbe bald viele
Tansende vou Bekenner» gewonnen hatte."
Was das Loos der koreischen Frauen anlangt, so ist
es wenig von demjenigen der chinesischen verschieden. Die
Anzahl derselben in einem Hanse richtet sich nach der Stel-
lnng und dem Vermögen des Mannes; da aber die mittleren
und unteren Stände meist arm sind, so sindet man dort
selten mehr als eine Frau. Feierlichkeiten beim Eingehen
einer Ehe finden nicht statt, und der Mann kann mit dein
Weibe wie mit seinem übrigen Eigenthnme nach Belieben
schalten und walten. Die Frauen müssen sich im Hanse in den
ihnen bestimmten Gemächern aufhalten und werden bei den
höheren Ständen noch mehr von der Außenwelt abgesperrt,
als in China. Nur auf dem Lande, wo sie einen Theil der
Feldarbeit zu verrichten haben, genießen sie etwas mehr Frei-
heit. In den Städten aber uud größeren Ortschaften ver-
stößt es entschieden gegen die gute Sitte, wenn sie sich bei
Tage auf der Straße sehen lassen. Dafür werden im Som-
mer um 9 Uhr Abends, im Winter noch früher, in der Ne-
fenes Land. 27
sidenz und den anderen Städten auf ein gegebenes Zeichen
die Thore geschloffen, worauf fümmtliche Männer die Stra-
ßen verlassen müssen und sich nun die Frauen allein mehrere
Stunden lang in der frischen Luft ergehen können. Hat sich
ein Mann verspätet, so wird er ohne aufzublicken so schnell
als möglich seiner Wohnung zueilen, und keinem wird es
beikommen, das strenge Verbot zu übertreten und einer Fran
auch nur im Geringsten beschwerlich zu fallen. Die gute
Sitte erfordert sogar, daß jeder Mauu, der einer spazieren
gehenden Dame begegnet, seinen Fächer vor das Gesicht hält,
nm nicht erkannt zu werden, und sich auf die andere Seite
der Straße begiebt.
Bei allen guten Charaktereigenschaften, welche Oppert
den Koreern nachrühmt, fehlt ihnen jedoch der Trieb weiter
zu kommen, und dies zusammen mit der Nachlässigkeit nNd.
Absperrungspolitik der Regierung ist die Ursache, daß die
reichen Hülssmittel des Landes unbenutzt uud brach liegen.
Das Klima ist ein gemäßigtes, durchgängig schön und ge-
sund, im Sommer wegen der Nähe des Meeres nicht allzu
heiß, im Winter nur im Norden sehr kalt; seine Zuträglich-
keit zeigt sich schon in der großen Menge steinalter Leute,
denen man überall begegnet. Die Vegetation ist außer-
ordentlich reich, weist viele heilkräftige Kräuter und Nntzhöl-
zer auf, darunter im Süden den Kork-, Manlbeer- und Fir-
nißbanm, die Theepflanze, den Bambn, den Weinstock, allerlei
Obstbäume; aber nichts davon wird gepflegt und von keiner
Art verstehen die Bewohner sonderlichen Nutzen zu ziehen.
Es gedeihen zwar allerlei Getreidearten, wie Weizen, Rog-
gen, Gerste, Hafer, Mais, Buchweizen uud Hirse, ferner
Hülsenfrüchte, Kohlarten und andere Gemüse; doch die Haupt-
nahrung des Volkes bildet der Reis. Auch Hanf, Flachs,
Tabak, Krapp, Indigo und der in China hochgeschätzte Gin-
sing wächst, wie er eben wachsen will. Von Viehzucht ist
kaum die Rede; schou um nicht den gefährlichen Verdacht
des Reichthnms auf sich zu ziehen, vermeiden die Leute, mehr
als ein Paar Ochse» zu halten; Schafe zu halten soll aus-
schließlich Vorrecht des Königs sein. Dagegen finden sich
Gänse, Enten und Hühner in Menge. Flüsse und Meer
sind reich an Fischen, im Westen und Südosten besonders
an Häringeu und Sardellen, die in Massen in das Innere
des Landes geschickt und außerdem noch als Dünger verwen-
det werden. Von feineren Meeresprodukten sind Perlen uud
Austern zu nennen. Weit wichtiger aber sind die unter-
irdischen Neichthümer des Landes. Oppert ist der festen
Ueberzeugung, daß kein anderes Land des asiati-
schen Kontinentes Korea an Mineralreichthum
gleichkommt; es finden sich Gold, Silber, Kupfer, Stein-
kohlen, Schwefel, Arsenik, Quecksilber, Blei, Zinn, Eisen
und schöne Marmor- und Grauitsorteu. Allein abgesehen
von einigen wenigen Gruben, welche die Regierung in ober-
flächlicher Weise ausbeuten läßt, verbietet sie auf das Streugste
alles Nachgraben und Suchen von Edelmetallen und bestraft
die Zuwiderhandelnden felbst mit dem Tode. Nur im Ver-
stohlenen wird Goldstaub aus dem Sande mehrerer Flüsse
gewonnen und über die chinesische Grenze geschmuggelt.
Es lohnte sich in der That, ein solches Laud dem Ver-
kehre und Handel zu erschließen, nnd inan muß eö bedaueru,
daß des Verfassers Bemühungen nach dieser Richtung hin
so gar uicht von Erfolg gekrönt gewesen sind.
28
Dr. Bruno Stehle: Das Elsaß im 13. Jahrhundert.
Das Elsaß im
Von Dr.
Ueber den Bergbau des Elsasses, der schon unter Otto
dem Großen in Blüthe war, erfahren wir sehr wenig.
1295 wurden in dem elsässischen Dorfe Türkheiml), wo
wenige Jahre zuvor arme Leute Gyps gefunden, Blei und
Silberadern entdeckt. Auch die Erde, welche man „Margil"
(Mergel) nennt, und mit welcher die Aecker von den Land-
leuten gedüngt werden, wurde erst nach dem Jahre des
Herrn 1200 gefunden. Ferner wird erwähnt, daß bei
Heidelberg 1293 eine Goldmine und bei Schaffhausen und
Basel kostbare Steine (wohl Rheinkiesel) gefunden worden
seien.
Mit den mannigfaltigsten Nachrichten über die Thier-
welt des Elsasses erfreut uns der Chronist. Wölfe, die
1271 in Usfholz2) mehrere Kinder und 1272 in Watt-
weiter2) und in den nahegelegenen Dörfern mehr als 40
Kinder fraßen, hausten im Wasgenwald, wie Bären, deren
letzter im Jahre 1760 im Leberthal geschossen wurde. Etwas
unglaublich klingt die Bärengeschichte aus dem Jahre 1296:
„In den Bergen des Elsasses wurde ein Knabe, der Ziegen
hütete, von einem Bären geraubt und blieb zwei Jahre
unter den Bären. Dies geschah um das Jahr 1265, und
noch wird dieser Hirt im Elsaß umhergehen. Dieser Hirt
ging, da ihn der Hunger trieb, in eine Bärenhöhle und
wäre gern daselbst geblieben, um sich der Hungersgefahr
zu erwehren; als er aber keine Bären fand, kehrte er voll
Schmerz zu den Seinen zurück." Auch Adler horsteten in
den Hochvogefen, wie aus einer Notiz von 1292 hervorgeht,
nach welcher ein Adler zu Rappoltstein zwei Störchen ihr
Nest beraubte und die jungen Störche in den Klauen da-
vontrug. Daß diese letzteren ebenso wie heute die allge-
meine Aufmerksamkeit erregten und nicht minder als die
eigentlichen Frühlingsboten galten, sehen wir aus den zahl-
reichen Nachrichten über ihre Ankunft, Wegzug, Brutzeit
und anderes mehr. Der Tag, an welchem man ihre An-
kuuft erwartete, war Petri Stuhlfeier oder der 22. Februar,
was mit unseren heutigen Beobachtungen stimmt. Von
diesem Tag an, entweder zurück- oder vorwärtsgerechnet,
wird meist ihr Eintreffen gemeldet. 1281 kamen nur we-
uige am 22. Februar, die meisten am 12. März; 1233
am 8. Februar, 1287 am 8. Februar, 1290 am 2. Fe-
brnar, 1291 am 1. Februar, 1292 am 12. März. Die
Zeit ihres Wegzugs fällt heute zwischen den 10. und
15. August. Auch für das dreizehnte Jahrhundert müssen
wir diesen Monat annehmen, da der Verfasser es für
nöthig gefunden hat, den ausnahmsweise frühen Wegzug
vor dem 25. Juli 1230 besonders zu verzeichnen.
Von Fischen wird eine Art im Jahre 1236 genannt.
Während der Wintermonate waren im Elsaß die Fische, die
man „Ruovolkin" nennt, im Ueberflnß. Der Name „Nuo-
Volke" hat sich im Munde des Volkes bis aus unser» Tag
erhalten. Es ist die Quappe oder Lota, sonst in Süddeutsch-
land meist Dreische genannt. Auf eine ausgedehnte Bienen-
zncht läßt eine Stelle von 1274 schließen, wo die Fülle von
1) Westl. von Colmar.
2) Bei Cernay.
Z. Jahrhundert.
no Stehle.
Wachs und Honig die Aufmerksamkeit und Bewunderung
des Verfassers erregt. Weniger erfreulich war 1269, 1270
und 1271 die Menge der Raupen, deren Unwesen ein Prie-
ster mit Weihwasser Einhalt that; 1286 war das Land
von einer ähnlichen Plage, Heuschreckenschwärmen, heim-
gesucht.
Einige interessante Notizen finden sich über die Ein-
führnng verschiedener Thiere in das Elsaß. So wird von
den Hühnern erzählt, daß nur eine Art von kleinen Hühnern
gehalten worden sei; erst später wurden große Hühner mit
Bärten und Kämmen, ohne Schwänze und mit gelben Bei-
nen durch Fremde aus entfernten Gegenden eingeführt.
Wir werden nicht irren, wenn wir darunter die Cochin-
chinahühner verstehen. Der Chronist erzählt weiter: „Es
gab nur eine Gattung von Ringel- und Holztauben; die
griechischen Tauben, die Federn an den Füßen haben, uud
mehrere andere Sorten wurden erst später in das Elsaß
eingeführt. Fasanen brachte zuerst ein Kleriker aus den
überseeischen Ländern mit. Weiße Bären, weiße Eichhörn-
chen, weiße Hasen, Vögel, Kameele und Löwen wurden erst
später in das Elsaß eingeführt." Diese Thiere kamen nicht
selten in damaliger Zeit durch die Verbindung des Abend-
und Morgenlandes in Folge der Kreuzzüge in unsere Ge-
genden.
Sind die Nachrichten, die wir über das Land Elsaß
gesammelt, reichlich genug, um uns ein Bild zu entwerfen,
das sich einer gewissen Vollständigkeit erfreut, so würden
wir wohl mehr wünschen über die Leute, die damals das
herrliche Land bewohnten.
Wie heute war schon damals die Fischerei in der Jll
ein bedeutender Erwerbszweig. Nach einer Mittheilung aus
dem Jahre 1275 wohnten von Straßburg bis Mühlhausen
1500 Fischer. Sonst wird nur noch an einer Stelle von
einem Handwerker gesprochen, einem Töpfer, der in Schlett-
stadt zuerst thöuerues Geschirr mit Glas verkleidete. Allge-
mein spricht sich über diese Verhältnisse Verfasser in den „Zu-
ständen im Beginn des 13. Jahrhunderts" aus und zwar mit
folgenden Worten: „Kanflente gab es nur wenige; und alle
wurden für reich gehalten. Meister in den mechanischen Kün-
sten waren selten, und auch sie galten für reich. Es gab nur
wenig Wundärzte, noch weniger Aerzte für innere Krank-
Helten, wenige Inden. Ketzer waren an vielen Orten in
großer Menge: diese haben die Predigermönche, unterstützt
durch die Macht der Herren (d. h. des Adels), „löblich"
ausgerottet. Diejenigen, welche mechanische Künste trieben,
waren in denselben weit zurück, nachmals aber machten sie
darin höchst bedeutende Fortschritte." Als Beweis dafür
dient uns eine Nachricht, die an einer andern Stelle gegeben
wird: Ein Techniker erfand eine Maschine, das Wasser
durch die Straßen von Straßburg zu leiten. 1293 heißt
es von ihm: Der Erfinder und Meister der Maschine, der
zu Straßburg die Breusch durch die Straßen leitete, fiel
von der Maschine und gab den Geist auf. „Karren waren
selten und die Wagen, welche man gebrauchte, ohne Eisen.
Eiserne oder mit Eise» beschlagene Wagen kamen erst später
von Schwaben aus nach dem Elsaß."
Dr. Bruno Stehle: Da
Was Verfasser von dem Priesterstande, was er von den
damaligen Gelehrten, unter denen er neben Albertus Magnus
Johannes von Sacrobusto, der ein Buch zur Berechnung
des Kirchenjahres schrieb, ganz besonders erwähnt — dieses
Buch war später sehr verbreitet und fand also schon in
diesem Jahrhundert aus Paris seinen Weg in die einzelnen
Klöster —, was wir ferner von den Orden und der Grün-
duug neuer Ordenshäuser erfahren und anderes mehr:
dieses alles würde uns zu weit führen und liegt außer dem
Bereich der uns gestellten Aufgabe. Die mitgeteilten Spiele
dagegen sind ein nicht unwesentlicher Beitrag zur Charakte-
ristik des Lebens und Treibens des Volkes. 1286 am I.Mai
hielten die Bürger von Straßburg Spiele auf dem Wasser
in Schiffen. Als aber die Menge, welche zu dem Schau-
spiel gekommen war, sich über die Brücke zurückzog, brach
diese, und mehrere Menschen kamen jämmerlich um das
Leben.
Höchst ergötzlich sind die Spiele aus dem Jahre 1304,
die den derben Witz der Bauern wiederspiegeln. Am Tage
der Beschneidung des Herrn ließen die Bauern von Wintzen-
heim^) ihren König mit seinen dreizehn Würdenträgern,
dem Bienentrnchseß uud den übrigen nahe der Mühle im
bloßen Hemde unter der Brücke durch das Wasser ziehen,
um so zu erproben, ob er der königlichen Ehren Werth sei.
Alle gingen mit ihrem König frohen Muthcs unter der
Brücke durch bis auf einen. Ein anderer hatte aus Ge-
ringschätzuug freiwillig auf seine Würde verzichtet. Den
verspotteten die jungen Burschen: mit lautem Geschrei be-
klagten sie ihn, wie einen ihrer Verwandten, läuteten die Tod-
tenglocken, verkündeten seinen Tod. Am folgenden Tage
legten sie einen Besen auf die Bahre und trugen denselben
wie den Leichnam eines Gestorbenen in die Kirche: hin-
hielten sie die Todtenfeier, dann trugen sie den Besen an
das Wasser und warfen ihn hinein.
An theatralischen Aufführungen zur Belustigung des
Volkes fehlte es im 13. Jahrhundert in den elsässischen Dör-
fern nicht; der Chronist fährt an dieser Stelle mit den Wor-
ten fort: „In verschiedenen Dörfern führten die Armen
verschiedene Spiele auf. Einige stellten den Papst und die
Kardinäle dar; andere spielten öffentlich in den Dörfern und
auf den Straßen Kaiser und Könige."
Dieses sind die einzelnen Nachrichten, die zerstreut und
mit historischen Notizen vermischt zu den verschiedenen
Jahren sich finden. Die gegebenen dürften wohl genügen
zu einer geographischen Skizze des Elsasses vor 600 Jahren
und zeigen zugleich, daß sich der Charakter des Klimas
unseres Landes im Wesentlichen nicht geändert hat, daß viel-
mehr nicht selten ganz überraschende Übereinstimmung ge-
troffen wird. Zum Schlüsse gebe ich die Beschreibung des
Elsasses und Deutschlands vollständig, da ich glaube, daß
eiue derartige Schilderung, vor 600 Jahren niedergeschrieben,
wegen der Eigenart der Darstellung, der Auffassung natur-
wissenschaftlicher Objekte und des positiv Gebotenen von
allgemeinem Interesse sein wird.
1. Beschreibung des Elsasses.
In Deutschland liegt eine Landschaft, Elsaß genannt, von
der Nordsee etwa 61 oder 70 Meilen entfernt, eine Strecke, die
ein Mensch in 3 Wochen mit Leichtigkeit zurücklegen kann.
Diese Landschaft erstreckt sich zwischen den Städten Straß-
bürg und Bafel 16 Meilen in der Länge und 3 Meilen in
der Breite, wie gewöhnlich gerechnet wird. Sie enthält 90
Konvente von Nonnen und Mönchen.
*) Westl. von Colmar.
Elsaß im 13. Jahrhundert. 29
In Europa liegt eine Landschaft von mäßiger Größe,
welcher der Südpol völlig unbekannt ist; den Nordpol aber
hat sie, wie man glaubt, im 50. Grade über sich. Das ist
das deutsche Land Elsaß. Dasselbe hat Konstantinopel, die
Stadt der Griechen, welche nach dem Atlas unter der süd-
lichen Linie liegt, im Osten; von da bis in das Elsaß kann
ein gesunder starker Mann bequem in 8 Wochen gelangen.
Auch im Westen von ihm liegt eine Stadt, Cordova genannt,
und dorthin kann ein Mann bequem in 7 Wochen gelangen.
Das Elsaß liegt am Rhein. Der Nheinstrom aber ent-
springt im Süden und fließt gen Norden. Er ist bei Eon-
stanz drei Tagereisen vom Elsaß entfernt und fließt mitten
durch Deutschland. Er entspringt ans dem Berge... und
ergießt sich bei Utrecht in das große Meer. Er wird auf
eine Länge von 150 Meilen geschätzt.
Der Nhonesluß entspringt in den Schweizer Alpen und
ergießt sich in das Mittelländische Meer.
Die Donau entspringt in Schwaben, vier Tagereisen
vom Elsaß entfernt. Sie durchströmt Deutschland, Ungarn
und nachher barbarische Länder und fließt eudlich bei Kon-
stantinopel in das Pontische Meer. Sie hat eine Länge von
560 Meilen, die ein Mann in 8 Wochen zurücklegen kann.
Es durchfließt Deutschland auch der Elbstrom, der
in Böhmen seine Quelle hat uud in den Oceanus münden
soll.
Von Freiburg im Uechtland bis nach Wien sind 150
Meilen und von Wien bis an die Nordsee sind 150 Mei-
len; dies ungefähr wird die Länge und Breite (Deutsch-
lands) sein.
Gelegen ist dies Land unter der siebenten Breite; sein
längster Tag hat 18, sein kürzester 6 Stunden.
Im Elsaß sind trinkbare Wasser der Rhein und die Jll,
außerdem viele Bäche, Ouelleu und Brunneu. Einige von
diesen sind 50, andere 40, andere 30, andere 20, andere 15,
andere 10, noch andere 5 oder weniger Fuß tief. Das
Wasser der Brunnen ist im Winter warm, im Sommer
kühl; das der Bäche dagegen im Sommer warm und im
Winter kalt. Ja es ist so kalt, daß das Wasser in einer
Nacht zu festem Eise wird.
Dies Land wird dnrch häufigen Regen bewässert. Der
Schnee fällt bis zur Höhe eines Fußes. Er hält zuweilen
nur eine Stunde an, dann wieder einen Tag, eine Woche,
auch mehrere Wochen lang; in einigen Oertern und Bergen
dauert er bis zur Sommersouueuweude.
Im Elsaß wächst ein trefflicher Weißwein in reichlicher
Fülle. Die Stöcke aber werden durch Stangen sorgsam
gestützt. Es giebt dort auch reichliches Breuuholz und viele
Fruchtbäume werden daselbst gepflanzt.
Das Elsaß ist zum Theil eben, zum Theil bergig. Es
giebt in demselben Wiesen und Fruchtgefilde, Wälder und
Felder. Zum Säen des Getreides werden sechs oder vier
kleine Pferde gebraucht. Es wächst daselbst Korn, Spelt,
Gerste und Hafer; es gedeihen auch Hülsenfrüchte, Bohnen,
Erbsen, Wicken, Linsen, und vieler Kräuter Samen er-
sprießt daselbst.
Es giebt dort große und kleine Pferde, auch Schlacht-
rosse, welche gerüstete Ritter mit Gewalt gegen die Feinde
und von denselben zurücktragen. Es giebt dort Rinder und
Schafe, Ziegen und Schweine, Esel und Maulthiere, von
Hunden viele, von Wölfen mehrere Arten; dazu Hirsche,
Bären, Füchse und mancherlei andere Arten, welche hier
nicht alle ausgezählt werden können. Es giebt dort Vögel,
welche zur Sommerzeit kommen uud im Wiuter wieder da-
von stiegen, und zwar folgende Arten: Störche, Ringel-
tauben, Turteltauben, Kukuke, Wachteln, Gänse, Schwal-
ben uud Fledermäuse. Es giebt dort Gänse und Enten
30 Aus allen
und mehrere Arten von Hühnern. Waldvögel sind daselbst
vielerlei Art.
In den Bergen wie in der Ebene liegen Burgen. Auch
starke Städte sind daselbst, starke und zahlreiche Dörfer, und
volkreich ist das Land.
Beschreibung Deutschlands.
An den Küsten des Oceans liegt ein Land, das Thento-
nia, Alemannia oder Germania genannt wird. Dasselbe
liegt, wie man sagt, in der Nähe des Seesterns oder des
Nordpols: von den Einwohnern wird erzählt, daß der Nord-
stern oder der Wagen es umkreise. Dies Land heißt Theu-
tonia von dem Riesen Thento, der darin hauste, und dessen
Grabmal bei Wien dem Wanderer gezeigt wird. Alemannien
wird es von dem Alemannischen See genannt, au dem die
Stadt Konstanz liegt. Germanien endlich heißt es, weil es so
viele Menschen erzeugt; denn kein Land der Erde, behanp-
tet man, enthalte bei einem solchen Umfange so viele Men-
schen. Und zwar gelten diese Menschen als treu, arbeitsam,
bei den barbarischen Nationen geschätzter als andere.
In der Länge erstreckt sich dieses Land von Utrecht oder
von der Stadt Lübeck, welche an dem Gestade des Oceans
gelegen ist, wo es das Meer berührt, bis an die Alpen, das
sind die Berge, welche Alemannien von Italien oder Lon-
gobardien trennen. Vom Ocean bis zn den Alpen sind 120
oder 240 Meilen1), die ein Mann in 4 Wochen bequem
nach Süden zurücklegen kann.
In der Breite erstreckt sich das Land von der Stadt Frei-
bürg, die Burgund benachbart ist, gegen Osten bis zur Stadt
Wien, die an den Grenzen Ungarns liegt. Diese beiden
Städte sind nach der Schätzung mehrerer Leute 120 Meilen
von einander entfernt; ein Mann kann den Weg bequem in
4 Wochen zurücklegen.
Durchströmt wird das Laud vom Rhein, der in den
Alpen, das ist in den Bergen, welche Italien von Aleman-
nien scheiden, und zwar auf dem Berge Septimus entspringt
und durch den Alemannischen See fließt, an welchem die
Stadt Konstanz liegt. Außerdem liegen am Rhein die
Städte Basel, Straßburg, Mainz, Köln und viele andere,
deren Aufzählung nicht hierher gehört.
Es sind aber in diesem Lande Thentonia vier weltliche
Fürsten, welche das Recht haben, den römischen König zu
küren. Einer ist der Herzog von Sachsen mit 2000 Mark
Mit dieser zweiten Zahl sind unzweifelhaft gemeine
Meilen d. h. Wegstunden gemeint, deren 10 auf 6 elsässische
gerechnet werden.
Erdtheilen.
Einkommen; einer der Pfalzgraf, das ist der Herzog von
Baiern, mit 20 000 Mark Einkommen, 5000 von der Pfalz-
grafschaft und 15000 vom Herzogthum, einer der Markgraf
von Brandenburg mit 50 000 Mark; einer der König von
Böhmen, der zuverlässig auf 100 000 Mark geschätzt wird.
Es sind auch drei Regulärfürsten, das heißt solche, die unter
den Regeln des Papstes stehen, Wähler der römischen Kö-
nige, nämlich der Trierer, der drei Suffragane und 3000
Mark als Einkommen für seinen Unterhalt hat, der Main-
zer, der 17 Suffragane und nach zuverlässiger Rechnung
7000 Mark Einkommen hat, der Kölner, der nur 5 Suff-
ragane hat und doch auf ein Einkommen von 50 000 Mark
geschätzt wird.
Außer diesen drei Erzbischöfen giebt es noch vier an-
dere: den Rigaer mit 7 Sussraganen und 1000 Mark Ein-
kommen; den Magdeburger mit 7 Sussraganen und 4000
Mark nach der gewöhnlichen Schätzung; den Bremer, der
ebenfalls 7 Suffragane hat, und dem von seinen Getreuen
5000 Mark Einkommen zugeschrieben werden; endlich der
Salzburger, der 7 Suffragane hat und auf 20 000 Mark
oder mehr Einkommen geschätzt wird. Im Ganzen hat
Deutschland an Bischöfen uud Erzbischöfen 60.
Gelegen ist Deutschland an den Küsten des Oceans
zwischen dem Rhein und dem Elbstrom, wie es auf der
Karte dargestellt ist; es liegt in der Richtung des Windes,
der Circinus oder Tracia genannt wird ; es erstreckt sich
bis an die Alpen, die Italien und Germanien trennen und
höher sind, als die übrigen Berge.
In Deutschland liegt eine Gegend, die das Elsaß ge-
nannt wird. Dieselbe soll von dem Ocean in der Richtung
der Achse oder des Nordpols etwa 90 Meilen entfernt
sein, die ein Mann in drei Wochen mit Leichtigkeit zurück-
legen kann. Genannt wird diese Gegend ans lateinisch Al-
satia von dem Bach oder Fluß Alsa, zu deutsch aber heißt
sie „Elsase", und so wird sie von den Einwohnern genannt.
Die Alsa entspringt bei einer stattlichen Burg Namens
Psirt, nahe dem trefflichen, großen, schönen, wohlgebauten,
an Besitzungen, Einkünften und guten Mönchen reichen
Cisterzienserkloster Lützel. Jene Gegend erstreckt sich zwischen
den großen, schönen, edlen Städten Straßburg und Basel,
die, wie man sagt, 16 Meilen von einander entfernt sind,
doch könnte ein starker Mann diese Strecke ohne allzugroße
Mühe wohl in einem l) Tage zurücklegen. In der Breite
werden vom Rhein bis an die Berge drei oder vier Meilen
gerechnet.
i) Mit Recht vermuthet Jaffv in dieser Zahl einen Schreib-
fehler.
Aus allen
Afrika.
— Eine der Expeditionen, die zu Vornnterfnchnn-
genfür die projektirte Trans sah ara-B ahn in die alge-
rische Sahara abgeschickt worden sind, die unter Führung
des Ingenieurs Choisy gestellte, ist Ende März nach Tug-
gnrt zurückgekehrt, nachdem sie zwischen Ued Rhir und El-
Golea ausgebreitete Untersuchungen vorgenommen hatte.
Den Weg von El-Aghnat bis El-Golea hat sie topographisch
uud geologisch aufgenommen, die Länge des zuletzt genannten
südlichsten Ksars der französischen Sahara sorgfältig bestimmt,
erdtheilen.
die Wege durch die Sauddünen im Süden von El-Golea,
welche die Eisenbahn nach Jnsalah hier zu passiren haben
würde, rekognoscirt und auf dem Rückwege nach Uargla die
Zuflüsse des Ued Mia uach ihrer geographische» Breite fest-
gelegt. (Peterm. Mitth.)
— Aus Algerien kommt die Nachricht, daß Oberst-
lientenant Flatters, welcher von Wargla aus durch das
Gebiet der Tuareg nach dem Süden vordringen sollte, um
eine Traee für die „transsaharische" Eisenbahn ausfindig
zu machen („Globus" XXXVII, S. 223), aus Mangel an
Mitteln und wegen zu großer Schwierigkeiten nach Alge-
Aus allen
rien hat zurückkehren müssen. Er gedenkt dort die
heiße Jahreszeit zu verbringen und im kommenden Oktober
seine Reise wieder aufzunehmen.
— Die Hova-Regieruug auf Madagaskar. Im
Nachstehenden stellen wir nach I. M, Hildebrandt
(Zeitschr. d. Ges. f. Erdk. zu Berlin XV, Heft 2) einiges
über die malaiische Herrschaft auf der afrikanischen Insel
zusammen. Der Reisende sagt, daß er sich des Gedankens
nicht erwehren könne, daß die Hova durch Nachäffung enro-
päischer Civilisation und Frömmelei, durch tief eingefleischte
Jmmoralität mit ihren schlimmen Folgen, durch Trunk und
andere Laster in der jetzigen Generation ungemein geschwächt
sind und wohl in Zukunft noch mehr geschwächt werden.
Es wird für sie sehr schwer sein, ohne Hülfe von europäi-
scheu Truppen die gesammte Insel Madagaskar zu unterwer-
fen. Der ganze Norden und Westen, mit Ausnahme einiger
Handelsplätze an der Küste, ist noch unabhängig, der Süden
und Südosten ebenfalls. So fand Hildebrandt an der Bai
von Baly (Westküste) zwei Dörfer, das eine Residenz einer
Sakalava-Königin, das andere von mohammedanischen Händ-
lern bewohnt, welche die rothe Flagge Zanzibars resp. des
Islam führen. Die Hova haben hier keine Macht mehr, ja
nicht einmal Verkehr unterhalten sie mit den Süd-Sakalaven,
wenn sie dieselben auch als ihre Uuterthauen betrachten. In
Mojanga z. B. haben sie dieselben nur durch einen Kunst-
griff sich unterworfen. Radama I. griff diesen wichtigen
Platz im Jahre 1824 an uud kam nach langen Kämpfen an-
geblich durch Verrath in seinen Besitz. Aber die Sakalaven
standen immer und immer wieder auf, bis Jemand Radama
rieth, die heiligen Gebeine der alten Sakalava-Könige, welche
anf einem nahen Hügel beigesetzt waren, in das Fort zu
bringen. Das geschah, und nun erklärten die Sakalaven ihre
Unterwürfigkeit; denn gegen die Besitzer ihrer größten Reli-
quien könnten sie nicht streiten. Die Hova erlaubten ihnen
nun, jedes Jahr den alten Kultus bei den Gebeinen zu ver-
richten; in der letzten Zeit strebten aber die englischen Mis-
sionäre danach, diesen Gebrauch als heidnisch zn unterdrücken.
Die Hova-Regieruug ertheilt keine Erlaubniß zur Ansben-
tung von Metallen (Kupfer, Zinn, Kohlen :c. kommen viel-
fach vor), denn sie weiß sehr wohl, daß wenn erst einmal
ein Strom europäischer Goldsucher sich über Madagaskar er-
gösse, ihr Reich baldigst zu Ende wäre. So wurden in den
fünfziger Jahren an der Vavatobe-Bncht (Westküste) Stein-
kohlen entdeckt, und es bildete sich eine französische Gesell-
schaft, um dieselben auszubeuten. Man hatte 200 bis 300
Schwarze und 10 Europäer angestellt, die Arbeiten waren
schon in vollem Gange, da sandte die Regierung Truppen,
und als die Franzosen anf dreimalige Aufforderung, die Ar-
beit einzustellen, nicht achteten, kam es zum Kampfe. Meh-
rere Weiße fielen, die Schwarzen flohen und man mußte die
Sache aufgeben.
Von allen eingeführten und von vielen ausgeführten
Artikeln werden 10 Procent in natura, seltener in Geld er-
hoben; vom Ebenholz, gegen dessen Export sich die Hova
lange sträubten, sogar die Hälfte. Keiner der Zollbeamten
an der Küste, nicht einmal die Kommandanten, welche in den
Forts der Küstenplätze stationirt sind, beziehen irgend wel-
chen Gehalt und sollen dennoch gesetzlich den ganzen Zollerlös
an die Regierung abführen. In stillschweigender Ueberein-
knnft begnügt man sich aber in Antananarivo mit einem
raisonablen Antheile, welcher theils der Königin, theils den
Minister» und anderen einflußreichen Personen ab und zu
gesandt wird; das Uebrige theileu die Zollbeamten mit dem
Kommandanten. Ueberhaupt wird jeder Negieruugsdienst uu-
entgeldlich verrichtet. Die Soldaten erhalten, auch auf dem
Marsche, keine Löhnung oder Verpflegung; es wird ihnen
aber manchmal ein Stück Land zur Reiskultur angewiesen.
Die 1877 „befreiten" afrikanischen Sklaven müssen jetzt fast
alltäglich „für die Königin" oder für die Kirche umsonst
arbeiten; nach Sonnenuntergang mögen sie dann sehen, wo
Erdtheilen. 31
uud wie sie ihren Hnnger stillen. — Jene Kommandanten
der Forts dürfen nnter keinen Umständen dieselben verlassen,
besonders nicht nach Sonnenuntergang; zur Zeit Radama's I.
stand Todesstrafe darauf. Ueberhaupt ist es allen Malagas-
sen bei Todesstrafe oder lebenslänglicher Zwangsarbeit ver-
boten, die Insel zu verlassen, um in ein anderes Land,
z. B. europäische Kolonien, zu gehen.
Eine merkwürdige Steuer wird im Hova-Reiche erhoben
in Gestalt des Schwanzstückes — vody ondry — eines jeden
geschlachteten Ochsen; dasselbe wird stets der Königin oder
deren Stellvertreter übergeben, und diese Sitte findet sich
auch bei deu unabhängigen Sakalaven, wo es nebst den
Unterschenkeln eines Vorderbeines der Dorfobere erhält.
Man erzählt, daß in alter Zeit vor einem der Hova-Könige
ein Ochse geschlachtet wurde. Bei der Vertheilung des Flei-
sches wollte Niemand das Schwanzstück. So gebt es mir,
sagte der König. So geschah es und geschieht noch heute.
Vor etwa zwei Jahren beanspruchte die Königin, daß mau
an diesem Stücke, wie in alter Zeit (und noch heute bei deu
Sakalaven) Sitte war, die Haut belasse. Natürlich wurden
durch dies Gesetz die Rindshäute Antananarivos stark ver-
stümmelt , und die Kaufleute wollten sie nicht mehr anneh-
men. Da wurde denn das Gesetz aufgehoben. Die Häute
der vielen tausend Ochsen, welche am Neujahrsfeste in der
Hova-Provinz geschlachtet werdeu, beansprucht ebenfalls die
Regierung. Jenes Schwanzstück spielt auch soust noch eine
Rolle in den Sitten der Hova. Keine Heirath gilt für ge-
schlich uud rechtlich geschlossen, bei welcher nicht die Eltern
der Braut das vody ondry vom Bräutigam angenommen
haben, wodurch sie ihre Zustimmung zn der Verbindung kund
thnn. Uebrigeus wird es in letzter Zeit durch andere Ge-
schenke ersetzt, die dann aber den alten Namen behalten. Das
Rindvieh spielt überhaupt eiue große Rolle bei den Hovas,
und die Königin wie ihre Minister besitzen große Herden
davon, die von den Fort-Kommandanten bewacht werden.
Früher wurde viel Schlachtvieh aus den Hova-Küstenplätzen
nach Mauritius und Bonrbon ausgeführt, bis sich die Re-
gierung diesen Handel durch einen hohen Exportzoll verdarb.
Um nun diesen Schaden einigermaßen zu decken, erließ sie
an alle Küstenplätze den Befehl, daß (zur Vertheuerung des
Fleisches) täglich nur eine bestimmte Anzahl aus den osfi-
ciellen Herden geschlachtet werden sollten. Auch bestand das
kleinliche Verbot, Geflügel zu verkaufen und Fische zu fau-
gen. Ein strenges Gesetz verbietet überdies seit Alters den
Hovas jegliche Ausfuhr von Kühen. An alles das kehren
sich die Sakalaveu natürlich nicht.
Inseln des Stillen Oceans.
-- Der au Umfang und Bedeutung hervorragendste Ar-
tikel im 2. Hefte der „Mittheilnngen der Geographischen Ge-
sellschast in Hamburg" für die Jahre 1373 bis 1879 ist der
von I. Kubary über „Die Bewohner der Mortlock-
Inseln (Karolincn-Archipel)", eine ausführliche mit Abbil-
düngen versehene anthropologische und ethnologische Beschrei-
bnng derselben, welche eine Fülle neuen und interessanten
Materials enthält. Wir können hier unmöglich Einzelheiten
daraus mittheilen, machen aber darauf aufmerksam, daß
Kubary für Mortlock, das G. Gerland auf seiner „Ethno-
graphischen Uebersicht" des Großen Oceans (Petermann's
Mitth. 1872, Tafel 8) zu Mikronesien zieht, eine polyne-
sischc Bevölkerung anzunehmen Gründe hat. Er fand
nämlich besonders auf der Insel Satüan einen Typus mit
ziemlich dichtem und langem Bartwnchse, wie er ans sämmt-
lichen Karolinen nur als vereinzelte Ausnahme vorkommt.
Die Möglichkeit einer von Süden, von den Nnknor-(Mon-
teverde-) Inseln ausgehenden Vermischung der Typen erscheint
ihm zweifellos; denn außer dem starken Bartwnchse dieser
Insulaner und zahlreichen anderen ethnologischen Momenten
besagt auch die Tradition der Mortlocker, daß früher ein
Verkehr zwischen Mortlock und Nnknor existirte. Da nun
32
Aus allen Erdtheilen.
die Bewohner von Nuknor aber reine Polynesier sind (auch
sie bezeichnete Gerland als Mikronesier), so schließt Knbary,
daß die Mitte der Central-Karolinen von einem Menschen-
schlage bewohnt ist, der aus einer Vermischung eines mehr
malaiischen und eines polynesischen Elementes entstand. Das
wird durch mancherlei die polynesische Race charakterisiren-
den Momente bestärkt, welche sich auf Mortlock bis heute
erhalten haben. So sind z. B. die mortlockschen Kriegswaf-
fen, besonders die Kenlen, in Form und Namen mit den
schon verschwindenden samoanischen übereinstimmend; auch
ist der mortlocksche Ea^ol bloß das zum Segelführen umgear-
beitete nnkuorsche Cauoe und dieses wieder das Modell des
samoanischen Fangota-Canoes. Ferner spricht für diese Ver-
Mischung der Typen die Sprache, welche eine Reihe Wörter
gemeinsamen Stammes aufweist. Vou großem Interesse ist
auch, was Knbary über die Seefahrten der Mortlocker
mittheilt und über die dieselben leitenden Sternkenner (pal-
lauu), die ihre Wissenschast im Geheimen von Generation
zu Generation vererben und eifersüchtig bewahren. Da nur
ein solcher den Zusammenhang der Erscheinungen der Ele-
mente mit der Jahreszeit durch Erfahrung kennen gelernt
hat, so bestimmt er die Zeit der Reise: er ist also der Ka-
lender der Insulaner. Auf See leitet er das Fahrzeug nach
gewissen Sternen, aber nicht blind und ohne Berechnung,
sondern je nach dem Winde und dem Strome verschieden,
das Gelingen der Reise beeinflussende Kursänderungen vor-
nehmend. Er ist also Sternkenner und Seeführer. Hat trotz
der größten Vorsicht das Fahrzeug getrieben und ist das ge-
suchte Land verfehlt worden, oder hat ein Sturm die Segler
verschlagen, so berechnet der palläuu vermittels seiner Kennt-
niß aller zur Karoliueu-Gruppe gehörigen Inseln und deren
Leitsterne die Möglichkeit, eine derselben zu erreichen. Dem-
nach sind in seiner Person drei Eigenschaften vereinigt, näm-
lich die eines Astronomen, eines Navigatenrs und eines
Geographen.
Bei diesem Anlasse erklärt L. Friederichsen jene Segel-
karten der Marshall- (und wahrscheinlich auch der Karolinen-)
Insulaner, welche Hörnsheim (s. „Globus" XXXVII, @.224)
neuerdings abgebildet, aber nur unzureichend erklärt hat,
und von denen das Museum Godeffroy fünf Exemplare be-
sitzt. Diese Karten sind aus dünnen Bambnrohrstäben zu-
sammeugesetzt, und darauf sind kleine Muscheln befestigt,
welche die Lage der Inseln andeuten. Die Rohrstäbe sind
unter verschiedenen Winkeln zusammengebunden, deren Rich-
tung die durch die Meeresströmungen verursachte Dünung
bezeichnen sollen, während wiederum gebogene Stäbe den zu
segelnden, vom Winde bedingten Kurs vorstellen. Friede-
richsen gedenkt dieselben bald eingehender zu beschreibe».
Nebenbei sei als Nachtrag zu Richard Audree's Aufsatz
„Die Anfänge der Kartographie" („Globus" XXXI, S. 24)
bemerkt, daß das gleiche Heft der Hamburger Mittheiluugen
auf S. 306 zwei vom Könige von Kororofa (am Binus) in
den Sand gezeichnete Karten und das 1879 in Washington
erschienene Prachtwerk „Narrative of the secoiad arctic
expedition made by Charles F. Hall" acht von Eskimos
gezeichnete Küstenkarten enthält.
— Auf der Halbinsel Dneos auf Neu-Caledouieu
hat M. Albert Lavigue an dem Berge Knmnrn Lager vor-
trefflichen lithographischen Steines entdeckt, welcher
nach in Sydney angestellten Versuchen demjenigen von Solen-
Hofen nichts nachgeben soll. Der Gouverneur der Insel hat
dem Entdecker das Ausbeutungsrecht von zweien der sieben
Brüche, welche er in den letzten drei Jahren bloßgelegt hat,
auf 13 Jahre ertheilt.
(Bulletin de la Societe Commerciale de Paris.)
Nordamerika.
— Zu Anfang Mai hat W. H. D all eine neue wissen-
schaftliche Fahrt nach Alaska angetreten, die gleich jener
von 1873 und 1874 im Auftrag der II. 8. Coast Survey
auf einem Segelkutter unternommen wird. Zunächst beab-
sichtigt er, in den inneren Passagen des Sitka-Archipels
einige hydrographische Arbeiten vorzunehmen, dann längs
der Küste an verschiedenen Stellen bis Cooks Jnlet und
Unalaschka magnetische Beobachtungen anzustellen, ferner
nördlich von der St. Lawrence-Insel vorzugsweise den Strö-
mungen und Seetemperaturen seine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden, endlich durch die Bering-Straße und bis Point
Barrow hinauf zu gehen. Als astronomischer Assistent be-
gleitet ihn wie auf deu früheren Reisen M. Marcus Baker.
(Dr. Behm in den „Mittheilungen".)
— Unter dem Narttett „New York Geographical Library
Society" hat sich in Newyork eine Gesellschaft gebildet,
deren Zweck es ist, eine freie Bibliothek geographischer Werke,
Karten, Instrumente zc. zu errichten und zu unterhalten.
Eine solche Bibliothek ist sür eine Weltstadt wie Newyork
nahezu unentbehrlich und deren freie Benutzung wird sicher-
lich segensreiche Folgen haben.
— Eine Abtheilung von Vereinigte-Staaten-Jngenienren
hat kürzlich unterhalb des Niagara-Falles Tiefen-
Messungen vorgenommen. Es war höchst schwierig, sich
dem Falle in einem kleinen Boote zu nähern. Große
Wassermassen wurden weit von den Fällen weg in den
Strom geschleudert, und das Getöse war so schrecklich, daß
kein anderer Laut zu vernehmen war. Nahe am Ufer fand
man 83 Fuß Tiefe, weiter stromab 100 und bei der geneig-
ten Eisenbahn 192 Fuß. Die durchschnittliche Tiefe der
Swift Drift, wo der Fluß plötzlich sich verengert, und seine
Schnelligkeit zu groß ist, um gemessen zu werden, beträgt
153 Fuß. Unmittelbar unterhalb der untern Brücke, wo die
Wirbel beginnen, ergab sich eine Tiefe von 210 Fuß.
— Die Goldminen der Sierra Mojada im nörd-
lichen Mexiko, über welche auf S. 159 des 37. Bandes des
„Globus" berichtet wurde, haben so viel Leute angezogen, daß,
wie wir in Petermann's Mittheilungen (Bd. 26, S. 198)
lesen, sich daselbst schon eine Stadt von 1500 bis 2000 Ein-
wohnern gebildet hat. Dieselbe liegt am Nordabhange jenes
Gebirges unter 27° 30' nördl. Br., ungefähr auf der Grenze der
beiden Staaten Chihnahua und Coahuila, und zählt in ihrer
Umgebung bereits an 150 Minen. Im Oktober 1879 hat
die Regierung die Umgegend dieser Stadt Villa de Sierra
Mojada zu einem besondern Territorium, „Territorio de
Sierra Mojada", erhoben, so daß Mexiko jetzt aus 27 Staa-
ten und 2 Territorien (außer dem erwähnten noch Unter-
Kalifornien) besteht. Doch lesen wir in der „Allgemeinen
Zeitung" vom 30. Mai dieses Jahres, daß „sich die Aus-
sichten nicht verwirklicht haben, welche man sich von den
Reichtümern der Sierra Mojada versprach, wohin Tausende
geströmt waren, uud welche man für ein zweites Califor-
nien ausgab". Vielleicht wird demnach das neue Territo-
rium ebenso bald wieder verschwinden, als wie es entstan-
den ist.
Inhalt: Auf Java. II. (Mit fünf Abbildungen.) — Die geschwänzten Menschen. (Mit zwei Abbildungen.) — Ein
verschlossenes Land. (Reisen nach Korea. Von Ernst Oppert.)— Dr. Bruno Stehle: Das Elsaß im 13. Jahrhundert. II.
(Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Afrika. — Inseln des Stillen Oeeans. — Nordamerika. — (Schluß der Redaction
13. Juni 1880.)
Redactcur: Dr. N. Kiepert in Verlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunsckweig.
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Äsch«st für Jättdet.
Band XXXVIII.
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JQ 3.
M!t besonderer Berücksicktigung cker AntÜroxologie unÄ Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
<Tß f/ ^ - Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten I LLsj
-OVClUtt|U)U)CtCJ zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
Auf Java.
(Nach dem Französischen des Herrn Dösire Charnay.)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien des Reisenden.)
III.
Am 26. Juli fuhr Charnay mit der Eisenbahn nach
Djokd j okarta; es ist dies eine dreistündige Fahrt durch
eine ähnliche Gegend wie bei Solo, ja vielleicht noch schöner
durch die rosaschimmernden Berge, welche den Horizont be-
grenzen. In diesem Theile der Insel herrschen die Zucker-
fabriken vor, jeden Augenblick verderben hohe Schornsteine
die Landschaft. Brambanam, dessen herrliche Ruinen
auf dem Rückweg besucht werden sollten, bleibt rechts liegen,
und um 10 Uhr ist das Ziel erreicht.
Djokdjokarta ist wie Solo eine ganz javanische Stadt,
allerdings nicht so wichtig, doch ist auch sie der Sitz eines
unabhängigen Fürsten und eines Provinzresidenten, dessen
Palast mit seiner Front nach der dem Fürsten zu Ehren er-
bauten holländischen Festung blickt; auch hier finden wir eine
Waldstadt, einen großen Platz vor dem Kraton und, wie
dort einen Tiger-, so hier einen Leopardenzwinger.
Unser Reisender ließ es seine erste Sorge sein, sich Post-
pferde zu verschaffen, denn die Eisenbahn hört hier auf und
wer nach Boeroe-Boedor will, muß die Reise zu Wa-
gen machen, eine angenehme Abwechselung, die noch dazu
das Gute hat, daß sie dem Touristen mehr Zeit zum Sehen
gewährt. Die schönen Ruinen sind 15 Stunden von Djok-
djokarta entfernt, in der prächtigen Residenz Kadoe. Der
gemiethete Wagen war eine schwarze viersitzige und sechs-
spännige Kalesche; zum Glück aber traf Charnay noch zwei
Landsleute, die dasselbe Reiseziel im Auge hatten und durch
deren Gesellschaft die Kosten getheilt und das Vergnügen
verdoppelt wurde.
Globus xxxvill. Nr. 3.
Bei der Abfahrt sahen die Reisenden zu ihrer großen
Ueberraschung zwei Javanen hinter dem Kutscherbock stehen,
deren Zweck bald klar werden sollte; denn kaum entfernt sich
der Wagen aus der Stadt, so heulen sie, springen abwech-
selnd herunter und bearbeiten die armen Pferde mit Peitschen-
hieben und kräftigen Flüchen, während der Kutscher ruhig
ans seinem Sitz bleibt und sich damit begnügt, die Zügel
zu halten und zu lenken. Die begütigenden Einreden der
Franzosen nützten nichts, ja die Rasenden verdoppeln noch
ihre Anstrengung, indem sie die unglücklichen Gäule mit
Steinwürfen anstacheln. Der Weg ist schön und gut erhal-
len; gelb blühende Tulpenbäume säumen ihn ein; Büffel-
wagen, Lastponies und eine große Anzahl Männer und
Weiber beleben ihn wie die Straßen einer großen Stadt;
fast ohne Unterbrechung geht die Fahrt im Galopp aus einem
Dorf ins andere, bis endlich die erste Station erreicht wird.
An großen Schuppen, die den Regierungspostpferden zu
Ställen dienen, ist ein riesiges Schutzdach befestigt, welches
die ganze Straße überdeckt; unter demselben tummeln sich zu
Hunderten Javanen beider Geschlechter, die mit Früchten,
Eßwaaren und Getränken handeln; aber ach! über dieser
Menge weht ein Hauch trostlosen Elends; Lumpen bedecken
ausgemergelte, vor der Zeit verwelkte Gestalten, nicht min-
der unappetitlich sind die feilgebotenen Maaren, und um die
Januuerscene voll zu machen, lungern wahre Herden von
schwindsüchtigen, räudigen, ekelhaften Hunden umher! Fort
von dieser Stätte des Elends! Zum Glück ist der neue
Vorspann fertig, Heuler und Kutscher stehen mit freundlich
Auf Java.
Auf
grinsendem Gesicht und ausgestreckten Händen da — eine
Sprache ohne Worte, die in allen Ländern verstanden wird —
das Trinkgeld wird gezahlt, andere treten an ihre Stelle
und weiter gehts im Fluge. Sobald aber eine kleine An-
höhe kommt oder ein Fluß, den selbst Fußgänger durchwaten
können, versagen die Pferde den Dienst und weder Peitsche
noch Steinwürfe bringen sie aus ihrer Widerspenstigkeit;
im erstern Falle werden zwei Paar Büffel requirirt, im an-
dern hilft eine Schar von 50 bis 60 Javanen, beide Male
natürlich auf Extrakosten der Reisenden. Beim letzten Re-
lais endlich tritt an die Stelle der schweren Kalesche ein
leichterer Wagen, der nur vier Pferde bedarf. Gleich hinter
der Station wird die Hauptstraße verlassen und auf einem
Nebenwege geht es direkt südwärts dem Ziele zu. Eine
herrliche Allee wird durchfahren und vor den erstaunten
Augen der Reisenden steht auf einem Hügel mitten in einer
entzückenden Landschaft eins der schönsten Denkmäler der
Welt, der Tempel von Boeroe-Boedor.
Vor dieser Riesenschöpsuug steht man zuerst rathlos;
das Auge empfängt nur den überwältigenden Eindruck eines
enormen Ganzen; nur allmälig wird es Licht; die einzelnen
Theile lösen sich, wie ebenso viele wunderbare Bauten, wie
eine lange Reihe von Meisterwerken ab; die herrliche Vege-
tation, die Großartigkeit des Gebäudes, das strahlende Licht,
alles vereinigt sich um den Beschauer iu Entzücken zu ver-
setzen und eine Wirkung aus ihn hervorzubringen, die er nie
vergißt!
Der gelehrte Direktor des Leydener Museums, Doktor
Leemaus, hat im Auftrage der holländischen Regierung
eiue Monographie über diesen Tempel veröffentlicht, deren
Zeichnungen allerdings den Photographien bedeutend nach-
stehen, deren Text aber höchst lehrreich und interessant ist;
ihm entnehmen wir die nachfolgenden Erklärungen der
Details.
Der Tempel von Boeroe-Boedor, nach Leemans dem
achten Jahrhundert angehörig, ist unter allen Denkmälern
Javas die glänzendste Manifestation des buddhistischen Gei-
stes. Er erhebt sich auf einem natürlichen Hügel, der ihm
in seinem untern Theile als Basis dient, während der obere,
mit Steinen bekleidet, das eigentliche Gebäude bildet, welches
nicht ein Monument in unserm Sinne ist, da es kein osfe-
nes Innere hat, sondern der Hügel, auf den es sich stützt,
eine volle Masse ist. Er besteht aus einer enormen Gruppe
von fünf in gebrochenen Linien laufenden, mit Nischen für
die Buddhabilder versehenen Gesimsen, welche ziemlich
schmale Rundwege oder Gallerten bilden, an denen sich die
denkbar schönsten Basreliefs bis ins Unendliche hinziehen.
Diese Gesimse springen hinter einander zurück und bilden
so eine abgestumpfte Pyramide, auf deren obersten Terrasse
eine Meuge durchbrochener Rotunden (im ganzen Gebäude
zusammen 555!) Buddhas in natürlicher Größe enthalten,
während in der Mitte sich eine riesige Kuppel über einem
kolossalen Buddha wölbt. Das Denkmal mißt ungefähr
120 m in der Basis auf 40 in der Höhe; einen bessern
Begriff von den riesigen Dimensionen aber wird man sich
machen können, wenn man weiß, daß alle Basreliefs hinter-
einander eine Linie von über 5 km Länge bilden würden!
Diese Reliefs stellen die Legende der Familie des künf-
tigen Buddha dar, die Geschichte seines Vaters Suddhodana
und seiner Mutter Maya (Blume der Schönheit, der Tu-
gend) ; die göttliche Verkündigung, daß der Gott Bodhisattva
in ihr Fleisch werden wird: sie wird den Prinzen Siddartha
gebären, der den Hos seines Baters verlassen, alle Freuden
und Reichthümer, ja die königliche Würde aufgeben soll, um,
29 Jahr alt, das Einsiedlergewand anznthuu und Sakya-
Muni, der große Reformator, zu werden; sie zeigen somit
<wa. 35
die ganze Epopöe des Buddha, wo in 136 Bildern 25 000
Personen die wunderbare Geschichte des Gottes tanzen,
sprechen und singen; und bei alledem ist nichts Groteskes
darin, wie bei den meisten Tempeln Indiens, nein, die voll-
endetste Kunst hat diese Kompositionen geschaffen und allen
Figuren Leben eingehaucht.
Betrachten wir dasjenige Relief etwas näher, von dem wir
umstehend eine Abbildung gegeben haben. Der oberste Theil
stellt Sakya-Muni dar, wie er sich in einer Gesellschaft vor-
nehmer Männer, vielleicht Fürsten, wie aus ihrer Kopf-
bedeckuug zu schließen, unterhält. Im zweiten gewähren
ein Fürst und eine Fürstin in ihren Palästen angesehenen
Leuten Audienz. Die dritte Abtheilung drückt symbolisch
folgende Idee aus: Sakya -Muni, der zukünftige Buddha,
empfängt die Huldigungen mächtiger göttlicher Wesen; auf
einem Lotuskissen durchschreitet er das Meer, dessen Ufer in
einiger Entfernung durch Bäume und konventionelle Felsen
angedeutet sind; rechts von ihm heben zwei große Schlangen
oder Nkgas ihre Köpfe aus der Tiefe des Oceans; links
reichen drei Meergeister, auf den Wogen kniend, Schätze ihres
Landes dem Frommen dar, der ihr Reich durchzieht; endlich
schmücken ihn auf Wolken getragene himmlische Geister,
unter ihnen auch zwei fromme Brahmanen, mit Blumen
und Kränzen; unklar bleibt die Bedeutung des Halbkreis-
förmigen Gegenstandes hinter Sakya-Muni; doch ist das
für das Verständniß des Ganzen nicht erheblich. Sicher-
lich ist dieses Relief eins der schönsten von Boeroe-Boedor,
sowohl in Bezug auf die Idee als auf die Ausführung, ja,
kompetente Kritiker behaupten, daß das Original mit den
schönen Werken der griechischen Kunst verglichen werden
kann. Die letzte Abtheilung derselben Tafel stellt ein Schiff
dar, welches Wind und Wogen aus Klippen treiben; von
der Bemannung hat sich einer unten an das Steuerruder
festgeklammert; ein Königspaar mit einem Kinde steht am
User und vertheilt Gaben an zwei alte und vier junge Leute,
vielleicht die gerettete Mannschaft des Schisses; etwas entfernt
erblickt man ein ans Pfählen erbautes Haus, wie man sie
noch in gewissen Theilen von Holländisch-Ostindien sieht.
Das Gefammtgefüge des Tempels ist wesentlich buddhi-
stisch und erinnert in seiner Form an die Topen Indiens,
deren älteste aus der Zeit Asoka's, den man als den Kon-
stantin des Buddhismus betrachten kann, herstammen. Er
war es, der im Jahre 250 v. Chr. diese Religion zur
Staatsreligion erhob, während sie bis dahin, ebenso wie das
Christenthum vor Konstantin, nur die Armen und Elenden
zu ihren Bekenner» gezählt hatte, und von der Regierung
nur geduldet worden war. Die bedeutendsten dieser Topen
sind zu Sauchi in Bhopal, zu Sarnath bei Benares, zu
Gandhara iu Afghanistan und zu Manikyala im Pendschab
zwischen Indus und Hydaspes. Sie waren dazu bestimmt,
in ihrer Mitte Reliquien des Buddha in einem Dagoba,
einer Art Reliquienschrein, zu bewahren.
Diese Denkmäler hatten im Allgemeinen die Form eines
Kegels oder einer halbkugelförmigen Kuppel; sie waren
massiv, und da nun jeder König, welcher neue Reliquien
niederlegte, zugleich den alten Bau mit einer neuen Schicht
dicken Mauerwerkes umhüllte, so erreichten diese Gebäude
jene beträchtlichen Dimensionen. So war durch stete Neu-
bauten der Durchmesser der Tope von Manikyala, die am
meisten an den Tempel von Boeroe-Boedor erinnert, allmälig
bis aus 127 Fuß, die Peripherie aber auf circa 400 Fuß
gewachsen; außerdem hatte sie noch für die gläubigen Wall-
sahrer zwei äußere Gallerien, die ihren Durchmesser auf
159 Fuß und den Umfang auf 500 Fuß erhöhten. Die
fünf Gallerien von Boeroe-Boedor, welche ebenfalls für die
Processionen der Gläubigen bestimmt sind, entsprechen genau
5*
38 Auf
dieser alten Tradition; nimmt man dazn die Form, das
massive Innere, die Dagobas, die Skulpturen, so wird man
kaum an seinem rein buddhistischen Ursprung zweifeln können.
Zn Meugün in Birma existirt eine Pagode ganz modernen
Ursprungs, die ebenfalls fünf Rundgänge aufweist — ein
beachtenswerthes Zeichen, wie dieselbe Tradition und die-
selbe Bauart sich zwei Jahrtausende hindurch erhalten hat
und in von einander so entfernten Ländern sich wiederfindet.
Die Besichtigung war beendet; aber erst wurden noch
mehrere Photographien angefertigt, dann erfrischte ein aus-
gezeichnetes, mit guten Weinen gewürztes Mahl unter dem
Schatten der großen Bäume vor dem Tempel selbst die
Reisenden. Die Nacht ist da und mit ihr der Abschied;
das Wetter ist milde, die Straße gut, der Himmel blitzt von
Sternen; aber nicht er alleinleuchtet zur Fahrt: Milliarden
von Leuchtkäfern lassen ihre Funken sprühen uud erhellen
mit ihrem zauberischen Lichte Wasserflächen, Reisfelder, Pal-
men; mit Feuerbränden zum Schutz gegen Tiger bewaffnete
Wanderer beleben die Straße; Alles aber überstrahlt der
Java.
Mond, der nun aufgeht und sein weißes Licht über die
ganze Landschaft ergießt. Todtmüde, aber trunken vor Wonne,
kamen Charnay und seine Gefährten um Mitternacht in der
Stadt wieder an.
In Brambanam, wo sie am nächsten Vormittag um
11 Uhr mit der Eisenbahn anlangten, bestehen die Ruinen
erstens aus einer Gruppe von Tempeln auf Pyramiden, die,
nach dem Trümmerhaufen zu urtheilen, recht beträchtlich ge-
Wesen sein müssen. Ein einziger steht noch; seine vier kleinen
Kapellen enthalten unter anderen einen Ganesa und eine
Göttin Lakshmi; erstem-, der Gott der Weisheit, der auch
die Heirathen und sonstigen wichtigsten Handlungen leitete,
ist unter der Gestalt eines Elephanteu dargestellt, aber nur
mit einem Stoßzahn, da er den andern im Kampfe mit
Wifchnu verloren. Vor jedem Idol befindet sich ein kleines
unterirdisches Behältniß, aus dem heraus ein versteckter
Priester feilte Orakel ertheilte. Die Umgebung ist mit
Fliesen, Statuentrümmern und gemeißelten Steinen über-
säet; auch sieht man noch die Unterbauten, auf denen sich
Ruiueu der T
andere Tempel und der Palast der Priester erhob, doch er-
laübt der beklagenswerte Zustand dieser Ruine nicht' ihre
genauen Verhältnisse anszumesseu; wohl nur ein Erdbeben
war im Stande, eine solche Verwüstung zu bewirken, Men-
schen möchten sich schwerlich die Mühe gegeben haben, Alles
dermaßen zu zerstören.
Nach Besichtigung der Ruinen schickte sich der Führer
an, den Rückweg nach dem Bahnhof anzutreten. Doch wie?
sollte das Alles fein, was von den gerühmten Taufend Tem-
peln übrig geblieben? Ob aus Unwissenheit oder Faulheit,
der Cicerone beharrte dabei, so daß die Reisenden beschlossen,
ans eigene Hand Nachsuchungen anzustellen. Und zu ihrem
guten Glück! denn nicht allzuweit und entfernt finden sie
eine zweite Gruppe Tempel, die um eiueu größern in der
Mitte in Form eines Quadrats liegen, dessen Seiten je
fünf Gebäude zeigen: im Ganzen also ein Komplex von
17 Tempeln.
Doch weiter noch! Fünf Meter davon, auf einem
mächtigen Erdwall, mit vier von Ungeheuern bewachten
.tseitb Tempel.
Eingängen, erhebt sich die ausgedehnteste dieser Tempel-
gruppeu, der Schaudi-Siva: 300 Gebäude, die sich quadra-
tisch um das beträchtliche Mittelheiligthum reihen und so
drei breite Alleen bilden. Alle diese Tempel, reizende
Pavillons von eleganter Bauart mit drei Meter Seiten-
länge ans acht Meter Höhe und überkragendem Innern,
sind sich ähnlich und unterscheiden sich nur durch die Bas-
reliefs, die sie, allerdings minder schön und vollendet als die
von Boeroe-Boedor, schmücken; sie enthielten und enthalten
zum Theil noch Buddhas, die, sowohl in Lebensgröße wie
in Miniatur, stets dieselbe stereotype traditionelle Form
zeigen.
Die Ruinen zu Brambanam sollen bis ins 4. Jahr-
hundert hinaufgehen, eine Annahme, für die man keine
Stütze hat. Ueberdies geht aus der Gestalt der Tempel
und ihrer Idole ohne Zweifel ihr dschcünistischer Ursprung
hervor: es sind Bnddhas, oder vielmehr Tirthankars, d. h.
dschamistifche Götter und Heilige in Vermischung mit dem
brahmanifchen Olymp. Da nun der Buddhismus, der
Nachfolger des Brahmanismus, sich erst später in den
W. Bertram: Das 3
Dschainismus, eine Fusion der beiden vorausgehenden Lehren,
verwandelt hat, so folgt daraus natürlich, daß die Denk-
mäler von Brambanam, welche dieser letzten Religion an-
gehören, jünger sind als der Tempel von Boeroe-Boedor;
und so wird Sir Stamsord Rassles Recht haben, wenn
er den Ursprung von Brambanam erst in das 11. Jahr-
hundert setzt.
Es existirt nur ein sehr altes literarisches Denkmal,
welches vou Java spricht, nämlich ein Bericht über die
buddhistischen Länder von dem chinesischen Priester Fa-Hian
aus dem Jahre 415. Derselbe war im Jahre 400 vou
China uach Indien gereist, um dort nach heiligen Büchern
zu forschen, uud wurde bei seiner 15 Jahre später erfolgen-
den Rückkehr durch deu Sturm oder den Strom an die
Küste Javas verschlagen. Er erzählt, daß die Brahmanen
daselbst blühten, aber daß Bnddha's Lehre nicht sehr in
Ehren stehe; ein Beweis, daß der Brahmanismus dem
Buddhismus vorangegangen, und daß die Denkmäler, von
denen die Rede ist, im 4. Jahrhundert noch nicht existirten.
Nach ihm verdankt Java den Reis der Einfuhr durch die
Jndier an Stelle der Hirse, welch letztere als Haupterzeug-
uiß der Insel den Namen gegeben; von den Chinesen bis
l de Cogne in Piemont. 39
ins 6. Jahrhundert Ka-ling genannt, erhielt sie von da an
den Namen Dschava.
Charnay's Zweck war erreicht: er hatte sich von der
Ähnlichkeit und Verwandtschaft überzeugt, die er zwischen
den brahmanischen und buddhistischen Denkmälern Javas
einer- und denen von Palenque und Hukatau andererseits
vermuthet hatte.
Die Hauptpunkte, in denen die Übereinstimmung zu
Tage tritt, sind folgende: Die rohen Idole von Artza-Domas
bei Buitenzorg, die an die von Mexiko uud von Copan in
Guatemala erinnern; die stete Pyramidenform des Tempels
mit ähnlicher Treppe wie in Palenque uud Uukatan; die
Anordnung der Tempel, eine Art Oratorium, dessen ganzer
Inhalt ein Idol bildet, mit unterirdischer Orakelertheilung;
dieselbe innere Konstruktion: überkragendes Gewölbe; Einzel-
heiten der Ornameutation, Terrassen, Vorplätze; endlich
Anhäufung der Tempel zu religiösen Centren, die, fern von
Städten, Wallfahrtsziele bilden, wie in Palenque, Chicheu-
itza und später, zur Zeit der Eroberung, in Cozumel.
Somit war die Ausgabe des Reisenden erfüllt. Er
kehrte nach Batavia zurück, von wo er sich einige Tage
später uach Australien einschiffte.
Das Val de Co
Von W. Bertram, '
Wenn man von Courmajeur, dem piemontesischen Jnter-
laken, das schöne Thal der Dora baltea abwärts gen Aosta
wandert und hinter jenem romantischen Felsenpasse, Pierre
taillve genannt, die höhere Thalstufe, das Valdigue, verlassen
und zugleich dem bis dahin uus begleitenden, weithin leuch-
tenden Montblanc Lebewohl gesagt hat, dann öffnen sich auf
einer kurzen Strecke Weges, den schroffen mit Weinreben
und alten Burgruinen geschmückten Felsenhängen zur Linken
gegenüber, vier Thäler, welche ihre schäumenden Gießbäche
in die rasch dahin eilende Dora ergießen. Unvergleichlich
schön und eiues geschickten Pinsels würdig ist der Einblick
in das erste derselben, das Val Grisanche, unmittelbar hinter
dem kleinen Orte Liverogne, denn während aus der Ferne
die blendend weißen Firnmassen des mächtigen Rnytor her-
überleuchten, schiebt sich zur Rechten in die Thalösfnuug ein
dunkler Felskegel, dessen Gipfel von einem Kirchlein mit
weithin schimmerndem Thurm gekrönt ist, eben weit genug
entfernt, um sich lieblich von den im Vordergrunde malerisch
grnppirten Wald- uud Felspartien abzuheben. Der Ein-
gang der beiden folgenden Thäler, des Val de Rheme und
des Valfavaranche, die hinter Arvier sich öffnen und kurz
vor den Eisenhütten von Villeneuve ihre Gießbäche vereinigen,
ist weniger ausfallend und bietet, der niedrigeren Berge und
des eintönigen Vordergrundes wegen, wenig an landfchaft-
licher Schönheit. Fast vollständig versteckt ist dagegen das
Thor des vierten Thales, des Val de Cogne, welches dem
auf stolzem Felsen liegenden Schlosse von St. Pierre gegen-
über mündet und das der Tourist vergeblich suchen würde,
wenn nicht das Wahrzeichen des Thals, die weithin leuch-
teude Schneepyramide der stattlichen Grivola, über die Seiten-
wand des Thales hervorragte, und wenn nicht die gewaltig
brausende Grauteivie, die rechts von dem Dorfe Aimavilles
nc in PieINont.
stor zu Braunschweig.
umuittelbar aus der Tiefe des schroffen Felsens hervorzu-
brechen scheint, hinter jenen steilen Höhen ein größeres Thal
vermutheu ließe, das solch' wilde Wassermassen herabzusenden
im Staude ist. Gerade bei St. Pierre erweitert sich das
Thal der Dora bedeutend, um bis Chatillon in südöstlicher
Richtung zu ziehen, und gern gönnt sich der Wanderer «ach
dem laugen Marsche vom Fuße des Moutblauc her eine
kurze Rast, um sich iu den Anblick des sonnigen Thalbeckens
zu versenken, in welchem das Ange immer wieder an der
zur Rechten sich aufbauenden imposanten Becca di Nona
und dem halb von ihr verdeckten Mt. Emilins haften bleibt,
uul dann flüchtigen Fußes die uoch l1/^ Stunde entfernte
alte Römerstadt Aosta zu erreichen, wo er gewiß ist, in dem
anmuthig vor dem Thore gelegenen Hotel du Montblanc
eine freundliche Ausnahme und ein behagliches Unterkommen
zu finden. Gilt es doch, zu tüchtigen Gebirgswanderungen
Kräfte zn sammeln, und weiß man es aus Erfahrung, daß
es in einem Hochgebirge, an dem der Strom der Reisenden
bislang vorbeigesluthet ist, mit dem Comfort der Gasthäuser
oft nicht sonderlich bestellt ist. Monsieur Tairaz macht aber
seinem Rnse alle Ehre; seine Zimmer sind luftig und wohn-
lich, seine Küche befriedigt auch einen verwöhnten Gaumen
und sein Asti spumante ist vortrefflich. Bereitwillig
giebt er uns jede Auskunft und verspricht, zur rechten Zeit
Maulthier und Führer bereit zu haben, unser Gepäck auf
dem Saumpfade nach dem fechs Stunde» entfernten Cogne
zu schaffen, und da wir in dem Eßzimmer das bezügliche
Blatt der italienischen Generalstabskarte aufgehängt erblicken
und außerdem ein „rother" Guide durch das Thal vou
Aosta daselbst ausgelegt ist, so lassen wir uns behaglich auf
dem anstoßenden, geräumigen Balkon nieder, hoch erfreut,
unsere Wißbegierde über dies Eldorado Piemonts, zn dessen
40 W. Bertram: Das 2
Besuch uns die Lektüre der Tuckett'scheu Hochalpenstudien *)
verlockt hat, endlich befriedigen zu können. Allein getäuscht
legen wir alsbald das Reisehandbuch zur Seite, weil es von
dem, was wir wissen möchten, nichts enthält, und vertiefen
uns statt dessen in den Anblick des köstlichen Panoramas,
das sich bis zu dem Montblanc hin vor unseren Blicken aus-
breitet, und versuchen, uus einigermaßen auf der Karte über
die hinter der Becca di Nona liegende, nur wenigen Reisen-
den bis jetzt bekannte Gegend zu orientiren.
Das Val de Cogne liegt genau südlich vou Aosta, zwischen
der Dora baltea und dem Flüßchen Orco im Val de Locana,
der bei Chivasso in den Po mündet, und bildet eine Hoch-
alpengegend, die sich dreist den schönsten der ganzen Alpen-
kette, dem Ampezzaner-Thal und dem Engadin, an die Seite
stellen kann. Der Orco trennt die das Cogner-Thal im
Süden und Westen bildende Hochgebirgsmasse, die man nach
dem höchsten Punkte derselben die Grand-Paradiskette nennen
kann, von dem Höhenzuge, welcher vom Mt. Jseran fast
östlich bis Castellamonte zieht, während das Valsavaranche
dieselbe von den nach Nordost sich erstreckenden Contreforts
der grajischen Alpen scheidet. Die Grand-Paradiskette ist
über und über vergletschert, dagegen führen die nach der
Dora baltea, also nach Nord und Nordost zu liegenden,
immer noch bedeutenden Höhenzüge nur wenige, unbedeutende
Gletscher, ja sind im Hochsommer theilweise ohne Schnee.
Das Hauptthal erstreckt sich in südöstlicher Richtung, wird
von der Granteivie durchflössen und hat von St. Pierre
(628 m) an, wo dieselbe in die Dora mündet, bis zum Col
de FenZtre (2831 m), der die Grenze im S.-O. nach dem
Val Champorcher bildet, eine Länge von 32 km. Während
eine Anzahl zum Theil sehr steiler und beschwerlicher Pässe
(der niedrigste 2570 m) in das Herz des Thals führen,
giebt es nur einen auch für Maulthiere und Karren geeig-
neten Weg nach Cogne, welcher von Aimavilles, refp. von
St. Pierre meist der Granteivie entlang läuft, einen steilen
Hügel abgerechnet sehr bequem und völlig gefahrlos ist und
auch rüstigen Damen, welche einen 6- bis 7stündigen Marsch
nicht scheuen, empfohlen werden kann. Da der Reisende
aber aus Mangel an anderweitigem, nur einigermaßen er-
träglichem Unterkommen fast stets von Aosta aus seinen
Marsch antreten wird, so werden wir den ganzen Weg von
Aosta zunächst ins Auge fassen.
Wer von Courmajeur kommt, wird, um nicht zum zwei-
ten Male die staubige Chaussee zu Passiren, den iy2 Stun-
den langen Saumpfad auf dem rechten Ufer der Dora
wählen, indem er, Aosta durchschreitend, über den Pont
Suaz (570 m) geht, sich dann westlich wendet, eine alte vor
ihm liegende Moräne, Lote de Gargantua, links liegen läßt
und, immer dem breitesten und betcktensten der verschiedenen,
theilweise zwischen Gärten und Häusern hinlaufenden Wege
folgend, endlich das schöne Schloß Aimavilles erreicht, an
dessen Nordseite vorbei ihn der holprige Pfad nach dem Dorfe
Aimavilles führt. Wer dagegen von Chatillon oder vom Gr.
St. Bernhard kommt, möge die interessantere und aussichts-
Tuckett's Hochalpenstudien (Leipzig 1873) enthalten nur
eine flüchtige Schilderung eines Marsches von der Becca di
Nona über den Col de Tza-söche durch das Cogner-Thal bis nach
Canrpiglia und Pont im Val de Locana, dagegen eine ausführ-
liche Beschreibung einer Besteigung der Grivola von Valsavaranche
aus. Die Notizen der Reisehandbücher, selbst des erwähnten
Guide, sind außerordentlich dürftig; das Beste über das Thal
von Cogne mir Bekannte ist in den Abhandlungen des italieni-
schen Alpenklubs zu finden, welchem auch die meisten der unten
angegebenen Höhenangaben entlehnt sind. Reisenden, welche
dies schöne Thal gründlich kennen lernen wollen, ist Blatt 30,
Aosta, der italienischen Generalstabskarte (in Turin erschienen)
zu empfehlen; zu einem flüchtigen Besuche genügt Blatt IV von
Mayr, Atlas der Alpenländer (Gotha, Perthes).
de Cogne in Piemont.
reichere Chaussee nach St. Pierre auf dem linken Dora-Ufer
wählen, welche ihn bei La Sarre, dem ehemaligen Jagd-
fchlosse Victor Emmanuels, vou wo aus derselbe seine glän-
zenden Jagdzüge nach Cogne zu unternehmen pflegte, vor-
beiführtl) und in 1 x/4 Stunden ebenfalls nach Aimavilles
bringt, wo beide Wege sich vereinigen.
Bon hier aus ist man gezwungen zu Fuß zu gehen oder
zu reiten; auch ist sobald keine Aussicht auf Erbauung einer
Fahrstraße vorhanden. Der anfangs sehr steinige und Holpe-
rige Pfad führt bei der Schule und zwei Kirchen vorbei
steil bergan bis zum Weiler la Poya (850 m); links hat
man die Rochers d'Arberio (1004 in), rechts hört man in
tiefer Schlucht die wilde Granteivie brausen. Nachdem man
1/4 Stunde ziemlich eben neben einem offenen, zur Bewäs-
serung der Felder dienenden Kanäle gewandert ist, eröffnet
sich plötzlich der erste Blick auf die prachtvolle Schneepyramide
der Grivola (4011 in), während rechts zu unseren Füßen ein
alter römischer Aquädukt, Pont dÄel, inmitten eines gleichna-
migen Weilers auftaucht. Sobald sich nach wenigen Minu-
ten bei einer Biegung ein Theil des Thals uns erschließt,
führt der Weg steil hinab, an einigen Häusern und an einem
wundervollen, überdeckten Quell vorbei, über den Pont du Che-
vrit(953m), neben welchem man noch die Rndera von drei
älteren Brücken gewahrt, auf das linke Ufer der in Pracht-
vollen Kaskaden herabsteigenden Granteivie. Hier beginnt
der schönste Theil des Thals, das eng und schluchtig, mit
immer neuen Bildern bei jeder Wendung, zu beiden Seiten
von schroffen oft bewaldeten Felsenwänden oder Geröllhal-
den begrenzt, sich einige Stunden lang hinzieht, bis es bei
Epinel sich wieder erweitert.
Nachdem der Pfad sich etwas aufwärts gewunden hat,
erblickt man vor sich den Weiler Vieyes (1178 m), wo ehe-
mals eine elende Kneipe mit dem verlockenden Schilde Vin
sans pain dem durstigen Wanderer eine Erquickung bot,
jetzt aber mit der fortschreitenden Kultur sogar Kaffee,
Milch, Eier und Käfe zu haben sind, vorausgesetzt, daß man
das Glück hat, den Wirth zu Hause zu treffen und in der
mit anheimelnden Neu-Ruppiner Genofeva-Bildern und
dem in keinem piemoutefischen Gasthause sehlenden, lebens-
großen Bilde Victor Emmanuel's geschmückten, sonst aber
höchst primitiven Gaststube Einlaß zu erhalten. Hinter
Vieyes gelangt man zu einem ganz ansehnlichen Wasserfalle,
Kaskade de Lalex (1299 m), der rechts vielleicht an 100 m
herabstürzt, fodann an Ruinen alter Häuser, la Nuova ge-
nannt (1335 m), und endlich an einem mit riesigen Fels-
blöcken übersäeten Abhänge vorbei zu dem hölzernen Pont de
Laval (1384 m), der uns wieder aus das rechte Ufer des
Flusses führt. Hier erweitert sich das Thal, die ersten
Schneeberge werden sichtbar und vor uns liegt links am
Hange das Dorf Epinel (1478 m), der erste zn Cogne ge-
hörende Ort. Nun am Rande eines links sich erhebenden
Hügels hin, wo selbst dem Nichtbotaniker die Büsche des
stattlichen Astragalus alopecuroides L. in die Augen sal-
len, dann durch Getreidefelder nach dem Dorfe Crätaz
(1505 m) und wir stehen jenseits desselben hart am Ziele
unserer Wanderung, denn hinter der steinernen Brücke
über die Granteivie erblicken wir am Ende der vor uns sich
ausbreitenden, köstlich duftenden Wiesenfläche, dem Prä St.
Ours, den Hauptort des Thals, das Dorf Cogne (1536 m),
in welchem zwei Gasthöfe uns ihre wirthlichen Räume öffnen,
von denen wir das rechts an der Straße gelegene, fast in
die Wiese hineingebaute Hütel de la Grivola wählen, wo-
i) In alten Zeiten von den in Aostas Geschichte berühmten
Edlen von Challant bewohnt, jetzt dem Grafen Castiglione
gehörig.
W. Bertram: Das Vi
selbst eine außerordentlich zungenfertige Wirthin uns freund-
lich willkommen heißt.
Suchen wir uns nun etwas genauer über das Thal zu
unterrichten, so ergiebt ein Blick auf die Karte *), daß die Süd-
grenze durch den vom Grand Paradis erst O., dann N.-O.
laufenden Grat am Nordhange des Thals von Locana, die
Westgrenze dagegen von dem bedeutenden Höhenzuge gebildet
wird, welcher vom Grand Paradis über die Grivola an der Ost-
feite des Valfavaranche nach St. Pierre im Aostathale sich hin-
zieht. Die Nord- und Nordostgrenze bildet ein bei Aimavilles
beginnender, anfangs die Granteivie begleitender Höhenzug,
der aber bald genau O. bis zu den Grandes Roises läuft,
dann SO. sich wendet und bei dem Col de Fenötre mit
dem Südzuge zusammentrifft. Das alfo von den angege-
denen Höhenzügen umschlossene Gebiet besteht aus dem von
der Granteivie durchslossenen Hauptthale von Cogne und
aus vier Seiteuthäleru, welchen, abgesehen von den
kleineren, im Hochsommer meist trockenen Bächen, vier größere
Gießbäche entsprechen.
In dem Hauptthale von Cogne kann man recht wohl
drei Abtheilungen oder Stufen unterscheiden: 1. das untere
Thal von Aimavilles (620 m) bis Lilaz (1630 m), in welches
drei Seitenthäler, nämlich das Valnontey und Valeille von
Süden und das Val de Grauson von Norden her münden;
2. die nächst höhere Stufe, von Lilaz bis zur Alp von CH5-
vanis (1830 bis 2200 m), welcher ein südliches Seiten-
thal, das Val de Bardonnay, angehört, und 3. die höchste
Stufe, von Chavanis bis zum Col de Fenßtre, das überall
höher als 2350 m liegt. Die beiden letzten zusammen
werden Ballon d'ttrtier genannt.
Das Hauptthal wird bis Cretaz im Südwesten von dem
nach dem Valfavaranche zu liegenden Höhenzuge begrenzt,
der südlich mit der höchsten Spitze der ganzen Gruppe, dem
Grand Paradis (4178 m), endigt 2). Ans diesem Zuge
liegt etwa über dem Pout de Laval die schöne Pyramide der
Grivola (4011m) und weiter südlich neben dem Grand Pa-
radis die elegante Aiguille de l'Herbettet (4000 m), beide je-
doch vom Thale aus nicht zu sehen, so wenig als die vier nach
dem Cognerthale sich herabziehenden Gletscher, von denen der
bedeutendste der Glacier di Stragio (du Trajo) ist. Südlich
von der Grivola führt über den Grat (Col de Lanzon,3325 m)
die Route royale, ein beschwerlicher Paß, in das Valfavaranche.
Bei Cretaz erweitert sich plötzlich das Thal zu der schönen
Wiesensläche, an deren Ostende Cogne liegt. In dem südwest-
lichen Winkel dieser Wiese befindet sich der Eingang in das
erste und bedeutendste Seitenthal, das 2 bis 21/i Stunden lauge
Valuoutey, iu welches man von Cogne gerade so hineinsieht,
wie von Pontresina in das Roseggthal, und das sich Pracht-
voll von dein Cogne gegenüberliegenden Dorfe Gimillan
(2500 m) ausnimmt. Der überaus schöne Hintergrund
dieses Thals wird durch die kolossalen Höhen gebildet, welche
sich vom Grand Paradis östlich bis zum Tour du Grand
St. Pierre (3674 m) hinziehen und welche La Pointe
de la Lüne, la Tete de la Tribulatiou, la Töte du
Grand Cron und Noccia viva heißen. Unter den Glet-
schern ist der bedeutendste der von Cogne schön zu über-
sehende Glacier du Graud Crou; nördlich liegt der Gla-
Sehr schön sind die in Folgendem dargestellten Verhält-
nisse an einem von dein Abbe Carrel in Cogne im Maßstäbe
der Generalstabskarte gefertigten Relief zu sehen, welches der
genannte Herr sehr zuvorkommend jedem sich dafür Jnteressiren-
den in seinem Hause zeigt.
2) Auf der Mayer'fchen Karte ist die Lage des Grand
Paradis falsch angegeben; derselbe ist identifch mit der Becca
di Montandeni; der Grand Paradis genannte Berg ist mit
dem Tour du Grand St. Pierre und dieser mit der Pointe des
Sengiers verwechselt.
Globus XXXVIII. Nr. 3.
de Cogne in Piemont. 41
cier de l'Herbettet und östlich der Glacier de Mouey.
Der Uebergaug über die Cols in die Gemeinden Noasca
und Locana ist höchst beschwerlich und kann nur von tüch-
tigen Bergsteigern unternommen werden. Vom Tour du
Grand St. Pierre zieht sich an der Ostgrenze des Valnon-
tey ein mächtiges Contresort zur Granteivie hin, das ziem-
lich steil zwischen Cogne und Champlong endet und unmit-
telbar über Cogne Silvenoire heißt. Zwischen Cogne und
Lilaz ist das Thal wieder sehr enge, so daß die Granteivie
sich oft mit Mühe durch die Felsen hindurchzwängt; bei letz-
term Orte, eine gute Stunde von Cogne, erweitert es sich
wieder etwas, und gewährt einen freilich durch einen vor-
stehenden Felsen verdeckten Einblick in das zweite südliche Sei-
tenthal, das Valeille, dessen Hintergrund ebenfalls von
Gletschern ausgefüllt wird, welche theils vom Tour du
Grand St. Pierre und dem Pic d'Ondezana (Glacier du
St. Pierre), theils von der Pointe des Sengiers uud der
Grande Arola (Glacier du Valeille) überragt werden. Von
der Arola zieht sich abermals ein felsiges und steiles Con-
tresort nach Norden, das Valeille vom Val de Bardonnay
scheidend und östlich von Lilaz in mächtigen Felsrücken das
Thal der Granteivie durchsetzend nnd die erste Thalstnfe ab-
schließend. In schauriger Schlucht hat der Fluß sich durch
diesen Rücken Bahn gebrochen, jedoch nicht so tief fein Bett
ausgewaschen, daß er nicht genöthigt wäre, eine Viertelstunde
oberhalb Lilaz iu einem prächtigen Wasserfalle die tiefere
Thalsohle zu erreichen.
Die nördliche Seite des untern Hauptthals enthält
wenige Schneeberge und nur kleiue Gletscher. Der oberhalb
Aimavilles mit den Rochcrs d'Arberio beginnende und an-
sangs die Granteivie in südlicher, dann mehr östlicher Rich-
tnng begleitende Höhenzug erhebt sich bald ziemlich beden-
tend und bildet einen leichten Grat, ans welchem nordöstlich
von Vieyes der Pic de la Trombe (2660 m) liegt und über
welchen zwei Pässe in die Gemeinde Gressan nnd weiter
nach Aosta führen, der eine, von Epinel ausgehend, über den
Col du Drinc (2572 m), unmittelbar östlich vom Pic de
la Trombe, und der andere, von Cretaz ausgehend, über den
Col de Tza-seche (2790 m). Vom Col du Drinc ab entfernt
sich der Kamm etwas von der Granteivie und zieht östlich und
nordöstlich über die Pointe de la Valette (3120 m) und
den Pic Garin (3447 m) bis zur Pointe Nonsse. Nördlich
liegt nach Aosta zu die Gemeinde Charvensod nnd die
imposante Pyramide des Mont Emilins, daneben die
Becca di Nona. Nach Süden laufen vom Pic Garin zwei
Contreforts aus, deren westliches in einem Bogen in der
Richtung nach Cogne zu zieht, über dem Weiler Gimillan
in der Pointe de Vachense endet und die Westgrenze des
einzigen aber bedeutenden Seitenthals des rechten Ufers
der Granteivie, das Val de Grauson, bildet, welches von
dem Gießbäche gleiches Namens durchflössen wird. In
seinem untern Theile außerordentlich wild und schluchtig,
erweitert es sich oben zu einem ausgedehnten Kessel, in wel-
chen das zweite Contresort vom Pic Garin hineinragt, das
in dem Tour de Grauson seinen Abschluß findet. Die
Nordgrenze bildet der Höhenzug, welcher von der Pointe
Ronsse über den Col des Laures (3063 m, Paß nach
Brisogne) zu der Grande Roise (3340 m) führt; hier wen-
det sich der Kamm scharf nach Südosten und läuft über den
Col du Coronas (2900 m, Paß nach St. Marcel) nach
der Pointe de Tessonet (3341 m) und der Pointe Tersiva
(3563 m). Die Südgrenze des Thals bildet ein Felsengrat,
welcher von der Pointe Tersiva westlich, fast parallel mit der
Granteivie zieht und nicht weit von Cogne steil über dem
Weiler Molina endet. Im obern Theile des Thals lie-
gen eine Menge kleiner Seen, ziemlich in der Mitte das
6
42 W. Bertram: Das Val
größte ClMet des Thals, des Chklet de Grauson, wo ein
vortrefflicher Käse bereitet wird.
Die zweite Thalstufe beginnt oberhalb Lilaz (1630m),
wo sich ein schroffer Felsen erhebt, der die untere Stufe
nach Osten abschließt, und erstreckt sich etwa lx/2 Stunden
lang bis an das Delta von Chavanis, da, wo der schroffe
Felsen nördlich zu Ende geht. Der Weg führt nördlich
von Lilaz in steilem Zickzack den Felsen (la Balme, 1833 m)
hinauf, auf dessen Höhe man diese ganze Stufe überblickt,
und bleibt stets iu bedeutender Höhe über der rechts in der
Tiefe brausenden Granteivie. Zur Linken (nördlich) erhebt
sich eine der Südgrenze des Val de Graufon parallel lau-
sende Felsenwand, oberhalb deren sich schöne Alpweiden und
eine Anzahl Chs-lets befinden, gerade aus sieht man neben
elenden Hütten (le Cröt) die Chapelle de Notre Dame des
Neiges au Cr«t (2027 m), rechts davon, jenseits der Gran-
teivie, einen steilen mit Fichten bewachsenen Hang, durch
welchen sich der aus dem Ballon de Bardonney kommende
Gießbach eine malerische Schlucht gebrochen hat, und über
welchen von den rechts unten im Thale liegenden Hütten (les
Pianss) aus der Weg in das dieser Stufe angehörende Thal
von Bardonney führt. Daffelbe ist das kleinste der Neben-
thäler, liegt dem Valeille fast parallel, ist ziemlich öde und
wird ebenfalls im südlichen, obern Theile von Gletschern
abgeschlossen. Ueber den dasselbe im Südosten begrenzenden
Kamm, welcher nordöstlich von der Arola bis zur Grand
Pointe de Lavina (3330 m) zieht, führt ein häufig be-
gangener Paß (Col de Bardonney) nach Forzo im Val
Soana; ein anderer führt aus dem Thale östlich die Höhe
hinauf zum Col de Scaletta in das Val Campiglia.
Die dritte Thalstufe beginnt bei dem Delta von Chavanis,
da wo der Paradza von Norden her in die Granteivie fällt
und zieht sich östlich bis zum Col de Fenötre (2831 in),
über welchen der Saumpfad ins Val Champorcher führt.
Dieser Theil enthält schöne Alpenweiden, die nach Süden
und Osten in Geröllhalden übergehen, welche von Gletschern
überragt werden, und breitet sich nach Osten amphitheatra-
lisch aus. Es wird nach Süden, dem Val Campiglia zu,
von einem Kamm begrenzt, welcher von der Pointe de La-
vina in einem Bogen zum Col de Paradza zieht und wegen
der Gletscherselder und des steilen Südabhanges einen sehr
beschwerlichen Ueb ergang (über den Col Arietta oder Col
des Eaux-rousses) bietet. Vom Col de Paradza wendet
sich der Kamm in scharfem Winkel nordwestlich über die Becca
Costasse zum Tour de Poutou (3129 in), worauf er nord-
westlich von demselben bei der Pointe Tersiva mit dem oben
beschriebenen Höhenzuge zusammentrifft.
In dem ganzen Thale liegen sieben zu Cogne gehörige
Ortschaften, Epiuel (312 Einwohner) nordöstlich von der
Grivola, Cretaz (196 Einw.) am Nordwest-Ende des
Pr6 St. Ours, Cogne (640 Einw.) am Südost-Ende des-
selben, Gunillan (282 Einw.) nördlich von Cogne,
2500 in hoch, mit prachtvoller Aussicht in das Valnontey,
M o l i n a östlich von Cogne, in beut Winkel, wo der Gieß-
bach Graufou iu die mit schöner steinerner Brücke (Pont de la
Tine) versehene Granteivie steigt, Ch amp lo ng (40Einw.)
weiter aufwärts im Thale, wo der Gießbach Licone herab-
kommt (1604 rn), und Lilaz (190 Einw., 3700 m) am
Ostende der untern Thalstufe.
Mit Ausnahme von Cogne, welches durch feine Kirche
mit weithinfchimmerndem Thurme und einige anständigere
Gebäude einen wenigstens einigermaßen freundlichen Ein-
druck macht, haben fämmtliche Ortschaften ein äußerst ärm-
liches, düsteres Ansehen, welches sowohl durch die monotone
Bauart als anch durch die graue Farbe der Steine uud des
Holzes hervorgerufen wird, ja eine Menge Häuser gleichen
de Cogne in Piernont.
eher Ruinen als Wohnstätten lebendiger Wesen. Auf einem
steinernen Unterbau erhebt sich das blockhausähuliche Ge-
bäude, dessen Dach aus schweren, grobbehaueueu Steinplatten
gebildet und oft noch mit größeren Steinen belastet ist und
in welches sehr kleine Fenster nur einem kümmerlichen Lichte
Einlaß gestatten. An der einen Ecke befindet sich nach
außen zu der gemauerte Schornstein; eine Art hölzerner
Brücke, zuweilen auch ein gepflasterter Weg, führt in die
hoch gelegene Thür, die meist weit genug ist, um einem mit
Heu hoch beladenen Maulthicre Einlaß zu gewähren, und
einige roh behanene Balken der äußern Wand entlang die-
nen als Sitzplatz, auf dem Alt und Jung Abends nach voll-
brachter Arbeit sich niederläßt. Wie die Mehrzahl der
Häuser im Innern eingerichtet ist, vermag ich nicht anzuge-
beu; jedenfalls werden sie, da sie hauptsächlich zur Heuaus-
nähme eingerichtet sind und zugleich den Viehstand beherbergen,
den Bewohnern keine übergroße Bequemlichkeit bieten. Cogne
selbst macht, wie schon gesagt, eine Ausnahme. Die beiden
Gasthäuser mit ihrem Kalkverputz bilden eine augenehme
Unterbrechung des grauen Einerlei; hier und da sind noch
andere Hänser massiv erbaut, und besonders fällt ein großes
massives, mehrstöckiges Wohnhaus in der Nähe der Kirche
ins Auge, welches Viktor Emmanuel nebst seinem männ-
lichen und weiblichen Jagdgesolge, das oft sehr zahlreich war
und wohl an 40 Pferde mit sich führte, alljährlich zn?n
Absteigequartier diente. Als besondere Merkwürdigkeit ver-
dient erwähnt zu werden, daß hinter dem Hotel Grivola,
wo sich die Manlthierpost befindet, ein Laden etablirt ist,
dessen Besitzer tausenderlei Dinge in wahrhaft bewunderns-
würdiger Unordnung feilbietet und sich sogar damit besaßt,
einen Trunk schäumenden Bieres aus Aosta kommen zu las-
seu. An die Zeiten königlichen Besuchs erinnern auch die
theilweise chaussirten und mit wunderlichen Namen versehenen
Straßen, wie man denn ans großen Schildern an den Ecken
z. B. lesen kann: Rue de Lieutenant, Nne de Linee bo-
reale, letztere zu Ehren einer kleinen rosablühenden, Haupt-
sächlich nordischen Pflanze so benannt, welche für Italien
zuerst anf der in der Nichtuug der Straße liegenden Höhe,
Silvenoire genannt, entdeckt sein soll und die sich auch rechts
am Wege von Vieyes nach Epinel findet.
Nach dem Gesagten kann man sich nicht wundern, wenn die
ziemlich zahlreich auf den hohen Alpweiden liegenden Chälets
eben keine architektonische Schönheiten zeigen. Sie gleichen
im Ganzen und Großen den Sennhütten der Schweiz,
enthalten außer der Schlafstätte für die Sennen Keller oder
Kammer zur Aufbewahrung des Käse irnd lassen an Schmutz
nichts zu wünschen übrig. Wer nicht nöthig hat, etwa we-
gen einer Bergbesteigung die Gastfreundschaft eines Sennen
für die Nacht in Anspruch zu nehmen, thut jedenfalls besser,
allabendlich die sehr großen, von Maisstroh elastischen, un-
endlich hohen aber bequemen uud sehr reinlichen Betten im
Hütel Grivola aufzusuchen, wo er sicher ist, nicht von jenen
blutgierigen Springern belästigt zu werden, welche dem mü-
den Wanderer die Nacht unter dem Dache eines dagegen
abgehärteten Sennen zur Hölleuqual machen. Bei Tage
und während einer tropischen Hitze ist dem durstigen Berg-
steiger das plötzliche Auftauchen eines Chatet dagegen stets
eine angenehme Ueberrafchung, weil er sicher ist, falls er
zur rechten Zeit kommt und nicht allzu prüde ist, einen Napf
köstlicher Milch, jedenfalls aber in der Nähe gutes Wasser
zu finden.
Was nuu die Bewohner des Thals betrifft, fo gleichen
sie zwar den Gebirgsbewohnern jener Gegend, machen aber
doch einen etwas absonderlichen Eindruck, der vielleicht durch
die eigentümliche Kleidung, zumal die weibliche, hervorge-
rufen wird, vielleicht aber auch tiefer begründet ist. Jeden-
W. Bertram: Das V
falls ist es schwer für einen Touristen, der eine Woche dort
verkehrt, darüber ein richtiges Urtheil abzugeben. Während
man ganz stattliche Bursche sieht, die sammt beit älteren
Männern meist in einem grobwolligen, braunen Frack ein-
hergehen, ist der weibliche Theil der Bevölkerung Verhältnis^
mäßig etwas kleiner gerathen, wenn nicht etwa die außer-
ordentlich unvortheilhafte Tracht die Damen bedeutend kleiner
erscheinen läßt, als sie iu Wirklichkeit sind. Frauen und
Mädchen tragen einen sehr faltenreichen Nock von grobem
Tuch, der sich fast bis unter die Arme hinaufzieht und sie
entsetzlich dick macht. Den Oberkörper bedeckt ein äußerst
kurzes Mieder, aus welchem oben ein weißer, gefalteter,
stehender Kragen und unten ein über den halben Rock fal-
lender weißer Ueberwurf vou Leinen oder Baumwolle her-
vorquillt. Nimmt man nun noch weiße Hemdsärmel und
plumpe Holzschuhe hinzu, so ist die Toilette fertig, welche
eben nicht geeignet ist, ein vou nur spärlichem, kurzem und
straffem dunklem Haar umrahmtes Gesicht in ein vortheil-
hafteres Licht zu stellen, selbst wenn der Kropf fehlt, der bei
den Thalbewohnern von Cogne wie im ganzen Aostathale
keine seltene Erscheinung ist. Es ist leicht möglich, wie ver-
muthet wird, daß die Bewohner von Cogne von den Salas-
sern abstammen. Finden wir doch öfter, daß in abgeschlos-
senen Thälern der Menscheuschag viele Jahrhunderte lang
seine Eigeuthümlichkeiten bewahrt und es nur äußerst selten
vorkommt, daß er mit fremdem Blute sich vermischt. Sicher
ist, daß die Salasser nach der letzten Unterjochung durch die
Römer sich in die nnwirthlicheu Gebirge zurückzogen, und
durchaus nicht unwahrscheinlich, daß das Thal von Cogne,
in welchem sie seit Jahrhunderten reiche Eisensteinminen be-
bauten, ihr Mittelpunkt wurde. Interessant wäre es zu er-
fahren, wie die Bewohner der westlichen, in das Thal von Aosta
mündenden Thäler, vom Valsavaranche bis zum Bal Gri-
fanche, sich zu den Cognern verhalten; die südlich und östlich
gelegenen Thäler von Loeana und Champorcher dürften ihrer
Lage nach einen andern Menschenschlag bergen *).
2) Die Geschichte der Salasser, der Urbewohner des Thals
von Aosta und seiner Nebenthäler, ist eine höchst tragische. Es hatte
dies freiheitsliebende Volk, welches sich mit Ackerbau, nament-
lich aber mit Bergbau beschäftigte, der bei den zahlreichen Mi-
nen der Gegend und dem einstigen Holzvorrathe sehr lohnend
war, schon früh die Aufmerksamkeit uud Eifersucht der Römer
erregt. Durch die zahlreichen Kanäle, die nicht nur ihren Hoch-
öfeu und Schmieden, sondern auch ihren Aeckern das Wasser
zuführten, wurde den Bewohnern der untern Ebene viel Wasser
entzogen, und als diese sich bei dem römischen Senate darüber
beklagten, ließ sich derselbe die erwünschte Gelegenheit, mit den
Salassern anzubinden, nicht entgehen. Der Konsul Appius
Claudius wurde 143 D. Chr. beauftragt, deu Bewohnern der
Ebene Recht zu verschaffen, wurde aber vou den Salassern in
blutiger Niederlage zurückgewiesen. Ein neuer Feldzug endete
glücklicher für die Römer; die Salasser wurden in die höheren
Seiteuthäler zurückgedrängt und behielten bloß das Recht, das
Wasser an die Sieger zu verkaufen, welche nun selbst die Minen
zum Nutzen der Römer ausbeuteten. Als diese sich aber in
ihrem lleliermuthe bald weigerten, das Wasser zu bezahlen und
die ihrer Reichthümer und Erwerbsquellen beraubten Salasser
den Tribut nicht pünktlich zu zahlen vermochten, entstanden fort-
währende Reibereien. Um die kühnen Bergbewohner in Schach
zu halten, gründeten die Römer die Stadt Eporedia (Jvrea)
am Ausgange des Thüles uud legten dort eine Streitmacht hin.
Im Jahre 34 v. Chr. empörten sich endlich die Salasser, kün-
digten den Tribut und fielen in das ihnen von den Römern
geraubte Land ein, welchen Aufstand sie in furchtbarer Weise
25 v. Chr. wiederholten. Da gab Kaiser Augustus seinem Feld-
Herrn Terentius Varro Murena strengen Befehl, diesen Empö-
rungeil ein Ende zu machen. Dieser wußte sich endlich mit Ge-
walt uud List dkr Salasser zu beinächtigen; 36 000 wurden in
Jorea sul) hasta verkauft, um in entfernten Gegenden als Skla-
l de Cogne in Piemont. 43
Fast sämmtliche Bewohner, ausschließlich Katholiken,
nähren sich von Ackerbau und den Erträgen ihrer Bichherden,
die innerhalb der guten Jahreszeit auf die Alpen getrieben
werden. Während die ebeneren Partien des Thales, wo es
nur irgend möglich ist, zu ausgezeichneten Wiesen umgeschas-
fen sind, ist jeder knltivirbare Fleck an den Bergen mit nn-
säglicher Mühe zu Ackerland umgewandelt, auf welchem vor-
zügliches Getreide, Weizen uud Roggen, gebaut wird. Bei
der warmen Lage zieht sich die Grenze des Getreidebaues
sehr hoch hinauf und kann man noch unterhalb der Chapelle
de Notre Dame in einer Lage, die fast deni öden Kessel des
Weißenstein auf dem Albnlapafse gleichkommt (also bis
2000 m hiuauf), vortreffliche Weizenfelder erblicken. Es
würde freilich weder Wiesen- noch Getreidebau möglich sein,
wenn die Menschenhände nicht der Natur durch ein compli-
cirtes Berieselungssystem und eine unausgesetzte Düuguug
zu Hülse kämen. Nicht nur die Wiesen sind von zahllosen
kleinen Rillen, größeren Gräben und Hauptkanälen durch-
schnitten, souderu auch dem Ackerlaude wird in regenarmen
Zeiten täglich das nöthige Quantum Wasser zugeführt, uud
man kauu Männer und Weiber täglich mehrere Male die
steilen Höhen hinaufklettern sehen, um durch das Aufziehen
der Schütte und das Abstelleu der Gräben die Berieselung
zu reguliren. Daß zur Jnstanderhaltung der langen Kanäle,
welche das Wasser oft aus sehr fernen, höher gelegenen Ge-
genden herbeiführen und zuweilen sehr künstlich auf Agua-
dukten über Schluchten geführt find, viel Arbeit erforderlich
ist, leuchtet ein; die Cogner wissen aber, daß der ganze Er-
trag ihrer Felder und Wiesen und somit ihre Existenz da-
von abhängt und lassen sich deshalb weder Zeit noch Mühe
verdrießen. Man kann den fleißigen Leutchen nicht zusehen,
ohne mit Bedauern an manche Partien des nahen Thals
von Aosta zu denken, dessen einst so fruchtbare Hänge durch
den Unverstand und die Trägheit der Bewohner meist
in öde Wüsten verwandelt sind. Man sieht daselbst noch
jetzt die Spurcu der alteu Kanäle, dieser Lebensadern der
südlichen Kultur, aber sie liegen längst trocken und zerfallen
da. Nur bei heftigen Gewittern und anhaltendem Regen
füllen sie sich mit Wasser, während in trockener Zeit durch das
Ausrotten der Wälder auf deu Felsen uud Höhen die Quel-
len, die sie regelmäßig speisen sollten, versiegt sind. Müh-
sanier noch als die Bewässerung ist die Beackerung und
Düngung. Der höchst primitive Pflug kann natürlich nur
auf ebeneren Stellen gebraucht werden, während an den Hän-
gen Hacke und Spaten an seine Stelle treten. Der Dünger
wird ausnahmslos in großen Körben auf dem Rücken der
Maulthiere oft 300 bis 400 m hinaufgeschleppt, wie denn
auch die Ernte wiederum auf Manlthieren heimgebracht
wird. Man sieht auch hier, wie eingewurzelte Gewohnheiten
sich schwer ausrotten lassen und wie die Kinder an den Sit-
ten der Väter hängen: obgleich der PröSt. Ours bei Cogne
vollkommen eben ist und schöne, breite Wege hindurchführen,
quält sich Alt und Jung ab, die ganze Heuernte auf dem
Kopfe heimzutragen, während die ganze Arbeit in der Hälfte
Zeit und weit weniger anstrengend vollbracht werden könnte,
wenn in Cogne der Schubkarren bekannt wäre!
ven zu dienen; 8000 wurden in die römischen Legionen einge«
reiht und iu fremde Erdtheile hinweggesührt; ein kleiner Rest
zog sich in die unzugänglicheren Seiteuthäler zurück. Das Thal
vou Aosta wurde unter 2000 Prätorianer vertheilt uud aus dem
einstigen Lager des Barro ani Zusammenfluß des Buthier und
der Dora erblühte bald die dem Sieger Augustus zu Ehren
benannte Stadt Augusta Prätoria, das heutige Aosta.
44
Die Medschertin - Somali.
Die Medscher
Noch bis vor Kurzem gehörte die Ostspitze des afrikani- !
scheu Coutiueutes, das Somali-Land, zu den unbekannteren,
von den Reisenden vernachlässigten Theilen desselben. Die
Routen von Crnttenden (1847), Burton (1854) und von
Heuglin (1857) beschränkten sich auf das schmale Küsten-
gebiet und nur Speke drang 1854 bis 1855 ein Stück über
das der Küste parallele Singeli - Gebirge im Gebiete der
Wersiugeli südwärts vor, ohne jedoch sich je mehr als zehn
deutsche Meilen von dem Meere zu entfernen. Seitdem
ruhte die Erforschung des Landes länger als anderthalb
Jahrzehnte, bis sie im Jahre 1874 durch den Aarganer
Kaufmann Gustav Adolf Haggenmacher, Munzingens
Freund, Gehülfen und Todesgefährten, wieder aufgenommen
wurde. Auf seiner im Auftrage des Chedive unteruomme-
nen Reise drang er vou Berbera südlich bis Libaheli vor,
welche Orte in der Luftlinie 28 deutsche Meilen von ein-
ander entfernt sind, und hat uns, als er im Oktober 1375
von den Gallas unweit Tedschurra ermordet wurde, einen
sehr interessanten Bericht über das Land und Volk der So-
mali hinterlassen (Ergänzungsheft Nr. 47 zu Petermann's
Mittheilungen). Klärte uns derselbe über die westlichen So-
mali auf, so haben wir neuerdings von zwei Seiten Nach-
richten über die östlichen, die Medschertin, erhalten, erstlich
von dem französischen Kausmanne Georges Revoil
(s. „Globus" XXXVI, S. 78, und XXXVII, S. 256), auf
dessen eben erschienenes Bitch: „Voyages auCap desAro-
mates" wir noch zurückzukommen gedenken, und sodann von
Oberst Graves-Bey, der im Auftrage des Generals
Stone-Pascha, des ägyptischen Generalstabschefs, eine Reise
nach dem Kap Guardafui unternommen und darüber einen
Bericht erstattet hat, aus welchem die „Proceedings ofthe
R. Geographical Society" (June 1880) n. a. Folgendes
entnehmen.
Das Volk der Somali bewohnt das Land von Kap
Guardafui bis an die Küsten des Rothen Meeres (genauer
der Bai vou Tedschurra) und gegen Süden bis zum 7. (?)
Grade u. Br.x). Sie zerfallen in vier Hauptstämme, uäm-
lich die Medschertin, Urfangalli (Wersingeli), Jschak und
Jsa 2); die bei Weitem zahlreichsten und zugleich uucivilisir-
testen derselben sind die Medschertin, welche das Land von
Ziadeh (Bender Ziada in 48" 55' ö. L. Greenw.) bis zum
Kap Guardafui uud südwärts bis 7" n. Br. inne haben;
die anderen Stämme sitzen westlich von ihnen in der oben
angegebenen Reihenfolge. Das Land der Medfchertnis besteht
zum größten Theile aus einem Hochplateau, welches felsig
und steinig ist, von tiefen, engen Thälern durchschnitten wird
uud in Stufen oder Terrassen zerfällt, deren Höhe von 1000
bis 5000 Fuß über dem Meeresspiegel ansteigt. Der An-
Oberst Graves hält irrtümlicher Weise die Medschertin,
welche allerdings südlich bis zu 7° n. Br. sitzen, für die süd-
lichsten Somali, es wohnen aber noch südlich von ihnen die Ha-
wijah und Abgal, und außerdem wissen wir durch Dr. Fischer
<„Globus" XXXIII, S. 364), daß die Somali jetzt südwärts bis
zu 1° s. Br. vorgedrungen sind, während sie vorher nur bis an
die Mündung des Juba, also etwa bis an den Aequator reichten.
2) Nach F. Müller, Allgem. Ethnographie, S. 503, in
drei Stämme: die Adschi, zu welchen neben anderen als Unter-
abtheilungen die oben als selbständige Stämme angeführten
Medschertin und Wersingeli gerechnet werden, ferner die Ha-
wijah und R a h a n w i n.
tin-Somali.
blick des Landes von den Küstenbergen aus ist ein sehr auf-
fallender: eine Folge von Bergketten, deren Kämme dein
Auge als horizontale Linien erscheinen, nur selten aber, wenn
überhaupt je, Gipfel haben. Die geologische Formation nahe
der Küste besteht im Großen und Ganzen ans Kalk, daneben
etwas Sandstein und hier und da vulkanischen Felsen; stellen-
weise findet man ein rosenfarbenes Gestein, welches eine
vorzügliche Politur annimmt und offenbar marinen Ur-
sprungs ist. Die Oberfläche des Landes ist unfruchtbar und
felsig, die Erdkrume steinig und von geringer Tiefe und
bringt nichts hervor außer Gestrüpp, Schlingpflanzen und
dickes buschiges Gras. In den Thälern giebt es größere
Bäume uud aus den hohen Bergen an der Nordküste finden
sich prächtige Weihrauchbäume, von denen manche 2 bis
3 Fuß im Durchmesser halten. Der Giftbaum, aus dessen
Wurzeln die Eingeborenen eine schwarze pechartige Sub-
stanz zum Vergiften ihrer Pfeile gewinnen, kommt im gan-
zen Lande häusig vor und wächst besonders an den Rändern
der Schluchten. Ueberall finden sich Spuren starken Regen-
falles während der Regenzeit, über deren Periode die An-
gaben der Eingeborenen sich widersprechen; wahrscheinlich
aber stimmt sie ziemlich mit derjenigen des Nordostmonsuns
überein, wie die trockene Jahreszeit mit der Periode des
Südostmonsuns. Die schwersten Regen fallen zu Ende des
Winters und Anfang des Frühlings. Die Temperatur be-
trägt im Mai und Juni zwischen 85" und 95" F. und
steigt mit den Südwinden ans 105" bis 108".
Die Medschertin behaupten von einem fanatischen Ära-
ber Namens Darot oder Tah-rud abzustammen, der unter
der Regierung des el-Hadschag Ebn Justus (75 bis 95 der
Hedschra) aus seiner Heimath vertrieben wurde, uud leiteu
ihren Namen von dessen Urenkel ab. Wie alle Somali,
haben sie ein angenehmes Aenßere, nur sind sie vielleicht
etwas zu dünn, und besitzen kleine zierliche Hände und Füße,
wohlgeformte Köpfe, ovale Gesichter, schmale Lippen und
weite Nasenlöcher. Ihr Auge ist hell und intelligent, die
Haut schwarz mit röthlichem Schimmer und durchaus ver-
schieden vom Blauschwarz der Neger, das Haar wollig. Mit
diesen Ausnahmen stehen sie dem Negertypus so fern als die
besten Vertreter der weißen Race. Junge Leute tragen ihr
Haar lang und schmieren eine Mischung von Lehm und
Kalk hinein, wodurch dasselbe sein wolliges Aussehen ver-
liert und zu langen Locken gedreht werden kann; ältere Leute
rasiren sich dagegen den Kopf. Die Weiber tragen lange
Röcke vou weichem Leder oder buntem Kaliko, sowie ein
Stück von letztem Stoffe quer über die Schultern. Ein
blaues Tuch auf dem Kopfe ist das Abzeichen einer ver-
heiratheten Frau, während die Mädchen ihr Haar in kleinen
von Butter glänzenden Löckchen tragen und es mit Schnü-
ren weißer und rother Perlen schmücken. Die Männer
pflegen um den Hals einen Streifen Leder zu tragen, an
welchem zwei Stücke Bernstein von der Größe eines Hühner-
eies befestigt sind.
Die Medschertin scheinen stets in Furcht vor ihren
Nachbarn zu leben; denn nie gehen sie ohne Waffen aus
und Jedermann führt einen Wurfspeer und eine Lanze, mit-
unter auch ein zweischneidiges Schwert, statt des letztern
aber gewöhnlich einen schweren Knüttel bei sich. Die mit
Widerhaken versehene Lanze werfen sie mit außerordentlicher
Der Jaxu-dsa
Kraft und Geschicklichkeit etwa 25 Aards (u 3 Fuß) weit;
hat sich dieselbe in den Leib eines Feindes eingebohrt, so ist
es unmöglich, sie aus der Wunde herauszuziehen, ohne das
Fleisch ringsum in fürchterlicher Weise zu zerreißen. An
Stelle der Lanze treten sehr oft Bogen und vergiftete Pfeile.
Fast die einzige Beschäftigung des Volkes besteht in dem
Abwarten ihrer Herden, und nur wenige beschäftigen sich
mit dem Einsammeln des Weihrauchs und anderer Gummi-
sorten; in den Dörfern giebt es außerdem einige Kaufleute
und Haifischsänger. Ackerbau ist vollständig unbekannt, und
nirgends findet man Gemüse und Früchte außer in einem
kleinen Garten im Wadi Fahmme, den ein Araber sich an-
gelegt hat. Man theilte dem Obersten Graves ferner mit,
daß sich im ganzen Lande kein Korn irgend welcher Art
findet; für diesen Umstand macht er die Faulheit und den
Stolz der Leute verantwortlich, da die Männer Handarbeit
als eine Schande ansehen. Die Weiber indessen arbeiten
schwer, und alles, was in dem Lande geschafft wird, ge-
schieht durch sie. Die einzige» Industriezweige sind das
Weben von Matten, hauptsächlich für den Export, und die
Anfertigung von Lanzenspitzen, womit sich in jedem Stamme
eine kleine Anzahl Männer beschäftigen.
Gegenwärtig zerfallen die Medschertin in etwa 30 Unter-
stamme, deren jeder seinen besondern Häuptling und seinen
Kadi hat; alle aber erkennen die Oberhoheit des Osman
Mohammed Justus an, der den Titel „Boghor" oder Sul-
tan führt. Die Bevölkerung zerfällt in Dörfler, Halb-
nomaden und Nomaden. Die ersteren leben in den etwa
20 Dörfern au der Küste uud umfassen die Kaufleute,
Gummisammler und Haififchfänger. Die Halbnomaden
wohnen gleichfalls in den Dörfern und in deren Umgebung,
da sie aber Kameele, Schase und Ziegen besitzen, so müssen
auch sie umherziehen, um Weideplätze zu suchen; sie halten
sich an der Küste zwischen September und März auf und
ziehen nüt dem Nahen des Südwestmonsuns in die Berge.
Die echten Nomaden besuchen die Küsten selten uud bleiben
-po in Tibet. *45
dann nur wenige Tage dort, um Schafe, Butter, Felle und
Gummi gegen Kaliko, Reis, Datteln, Mais, Glaswaare
und Eisen auszutauschen. Im Innern giebt es weder Städte
noch Dörfer. Die Küstendörfer enthalten etwa 38 000 Ein-
wohner, einschließlich der Halbnomaden, deren Zahl sechs-
bis achtmal stärker ist als diejenige der eigentlichen Dörfler.
Die nomadische Bevölkerung, welche die Plateaus im Nor-
den bewohnt, soll etwa ebenso zahlreich sein. In den Ber-
gen gegen die Süd- und Südwestgrenze hin, zu beiden Sei-
ten des Wadi Nogal, leben elf Stämme, welche nie an die
Küste kommen und mit den übrigen Medschertin sehr wenig
Verkehr unterhalten. Mit ihnen zusammen beläuft sich die
ganze Bevölkerung auf etwas mehr als 105 000 Köpfe.
Das wichtigste der Dörfer ist Alluleh an der Nord-
küste, etwa 30 engl. Meilen westlich vom Kap Guardasni;
dasselbe enthält mehrere steinerne Häuser und etwa 350 über
eine schmale Landzunge zerstreute Hütten; diese Zunge liegt
zwischen dem Meere und einer kleinen Bucht, dem einzigen
stets sichern Ankerplätze für die kleinen Schiffe, welche die
Küste der Medschertin besuchen. Das weiter westlich ge-
legene Marejeh (bei Rsvoil „Bender Miraiah") ist gleich-
falls ein wichtiges Dorf, welches eine starke Ausfuhr vou
Myrrhen und Weihrauch hat. Von den fünf Forts, welche
angeblich den Ort decken sollen, fand Oberst Graves keine
Spur. Der Sultan, jetzt ein junger Mann von 19 Iah '
ren, lebt jährlich zwei bis drei Monate in Marejeh und
scheint die übrige Zeit im Lande umherzuziehen, um Tribut
einzusammeln. Der größere Theil seines Besitzes sowie der
seiner Unterthanen rührt voll der Plünderung gestrandeter
Schisse her; Oberst Graves behauptet wenigstens, daß zur
Zeit seines Besuches sich innerhalb eines Umkreises von
75 engl. Meilen um Cap Guardasui keine einzige Hütte
befand, welche nicht irgend einen Gegenstand enthielt, der
von einem im vorhergehenden Jahre gestrandeten Schisse
gestohlen war.
Der Jaru-dsa
Seitdem durch die große Reise des Panditen Natu
Singh vou Katmandn nach Lhassa uud von da nach den
Quellen des Satledsch (1865 bis 1866) im Auftrage des
unvergessenen Kapitäll F. G. Montgomerie die Erforschung
des tibetischeil Hochlandes in neuerer Zeit so glänzend wie-
der aufgenommen worden ist, hat dieselbe nicht wieder ge-
ruht, und wenn auch uicht alljährlich, so werden wir doch
häufig genug ulit neuen Ergebnissen, welche dnrch Einge-
borene in englischen Diensten ans tibetischem Boden erzielt
wurden, überrascht. Um hier nur das Wichtigste zu reka-
pituliren, so erinnern wir an desselben Nain Singh Reise
nach den Goldfeldern von Thok-Dschalnng und seine Ersor-
schnng des obern Judus und des Gartoktschu im Jahre
1867; an den Marsch des als „Nro. 9" bezeichneten Ein-
geborenen von Nepal nach Schigatze am Jarn - dsang - Po
und zurück uach Katmaudu 1871, wobei er den höchsten
Gipfel des Himalaja, den 29 002 Fuß hohen Ganrifankar,
in weiten Bogen umzog; an die Umwandernng des nördlich
von Lhassa in 15 190 Fuß über dem Meere gelegenen Sees
Teugri-Nor durch eiueu Halb-Tibetauer im Jahre 1871;
an die letzte großartige Reise Nain Singh's im Jahre 1874
durch das tibetische Hochland von dem Pangkong-See zum
g - Po i it Tibet.
Tengri-Nor und über Lhassa und Tschetang am Jarn-
dsang-po nach Assam, nachdem er zuvor 1873 Sir Dou-
glas Forsyth's Gesandtschaft nach Ost - Tnrkestan begleitet
hatte, und schließlich an die Reise von N — m — g, wel-
cher 1878 den Jaru-dsang-po von Tschetang etwa 21/2 Län-
gengrade (circa 200 engl. Meilen) stromabwärts verfolgt
und dessen große» nördlichen Bogen zwischen 93" und 95"
östl. L. Gr. entdeckt hat (s. „Globus» XXXV, S. 271;
die Karte reprodncirt in Petermann's Mittheilungen 1880,
Tafel 2 *). Jetzt enthält der letzt erschienene Jndian Sur-
x) Wie man in den letzten Jahren ziemlich allgemein an-
nahm, und wie es auch auf der erwähnten Karte dargestellt ist,
tritt der Jaru-dsang-po, der große Fluß von Tibet, als Di-
hong in die Ebene von Assam ein und bildet somit den Ober-
lauf des Brahmaputra. Noch hat freilich Niemand den Zusam-
menhang beider Ströme durch Augenschein nachgewiesen und noch
immer trennt ein unerforschter Strich von 20 deutschen Meilen
Länge den untersten bekannten Punkt des Jaru-dsang-po von
dem obersten des Dihong. Neuerdings ist denn auch R. Gor-
don in seinen! „Resort on the IrrawaddyRiver" (Rangoon
1879) gegen jenen Zusammenhang des tibetischen Stromes mit
dem Brahmaputra aufgetreten und behauptet, daß der Jaru-
dsang-po vielmehr den Oberlauf des Jrawadi bilde, daß der
46 Der Jaru-dsm
vey Report (für das Jahr 1878 bis 1879) einen inter-
essanten Bericht' Uber eine Reise eines eingeborenen Forschnngs-
reisenden, L— genannt, welcher bereits vor fünf Jahren
einen bis dahin unbekannten Theil des Jaru-dsang-po (in
dem englischen Originale kurz als Sanpo bezeichnet) näher
erforscht hat. Wir theilen daraus nach den Proceedings
öf tlie Royal Geographical Society (Jude 1880, p. 370)
Folgendes mit. Im März 1875 brach der Reisende von
Dardschiling in Britisch-Sikkim auf, durchzog das uuab-
hängige Sikkim und überschritt den Himalaja in dem Kan-
gra-lama La (d. i. Paß), jenfett dessen er im Fort Ganpa
Dschong festgehalten, aber schon am nächsten Tage unter
Eskorte ein kleines Stück weiter geschickt wurde. Allein
erst fünfzehn Tage später wurden er uud seine Gefährten
endgültig losgelassen und ihnen erlaubt, ihre Reise nach
Schigatze, der wohlbekannten Stadt unweit des Tfang-po,
fortzusetzen. Sie langten dort um die Mitte des Mai an;
wiederum wurde der Reisende L— vou dem dortigen Gou-
vernenr verhört und durfte nicht eher abreisen, als bis
einige Kaufleute eintrafen, die er überredete, für ihn Bürg-
fchaft zu leisten. Während er sich in Schigatze aufhielt,
herrschte unter den dortigen Einwohnern die größte Bestür-
znng in Folge der Nachricht, daß sich der Statthalter (Lieu-
tenant - Governor) von Bengalen uud Commissioner von
Dardschiliug iu Sikkim befände. Sofort wurden Truppen
zur Bewachung der Sikkim-Pässe abgesendet, und von Lhassa
wurden 13 Kompagnien tibetischer Soldaten, die aber zu-
sainmen nur 350 Mann stark waren, nach Schigatze in
Garnison gelegt. Dieselben führten Schwerter und für je
zwei Mann eine Flinte. Neben dem Bazar von Schigatze
liegt das vou 380 Mönchen bewohnte wohlbekannte Klo-
ster Tas chilnmbo. Trotzdem die Straße zwischen Schi-
gatze und Dardschiliug über Ganpa Dschong vortrefflich ist,
herrscht doch sehr wenig Verkehr aus ihr wegen der Absper-
rungspolitik der Chinesen; während seines 15tägigen Anfent-
Haltes in der Nähe von Ganpa Dschong pasfirte dort nicht
ein einziger Kaufmann.
Auf einer 80 Schritte langen Brücke aus großen Bal-
ken, die auf vier mächtigen Pfeilern ruhen, überschritt L—
den fischreichen Paina-Tschn (Penanang Tschu; rechter
Zufluß des Tsaug-po unweit östlich von Schigatze), folgte
demselben abwärts bis zu seiner Mündung und dann dem
Tsang-Po selbst etwa 50 engl. Meilen weit, eine Strecke,
die früher noch nicht erforscht worden war. Die.mittlere
Breite des Stromes konnte er hier nicht gut bestimmen,
da sich derselbe an manchen Stellen iu verschiedene Arme
theilt, an anderen sich mit kaum wahrnehmbarer Strömung
weit ausbreitet. Zwischen Schigatze und Dschagsa (Tschaksa,
wo eine eiserne Kettenbrücke über den Tsang-Po nach Lhassa
führt), wo der Weg südöstlich nach Jasi am Ufer des Jam-
dok-tscho, des berühmten „ringförmigen Sees", abgeht, sin-
det Bootsverkehr statt und zwischen Schigatze und Jasi beträcht-
licher Handelsverkehr: der Reisende begegnete oder überholte
täglich 300 bis 400 Leute mit Lasten und reiste etwa drei Tage
Jrawadi durch keinen andern großen tibetischen Fluß gespeist
werde und daß der Jaru-dsang-po mit keinem andern großen
Flusse, als mit dem Jrawadi, zusammenhänge, wie dies schon
von d'Anville angenommen worden ist. Bei der Kleinheit sei-
ner ZuflUsse und der Mächtigkeit seines Hochwassers sei für den
Jrawadi ein gewaltiger Oberlauf erforderlich, und dieser sei
kein anderer, als der Jaru-dsang-po. (Vergl. Proceedings of
the Royal Geographical Society, June 1880, p. 390.) Uns
sind die speciellen Daten über die Wassermenge der in Rede
stehenden Ströme und die Gordon'schen Ausführungen nicht
zur Hand, so daß wir über diese Frage nicht zu entscheiden
vermögen. Voraussichtlich wird aber die einfachste Lösung des
Räthsels, diejenige durch Okularinspektion Seitens eines einge-
borenen Explorers, nicht mehr lange aus sich warten lassen.
-Po in Tibet.
lang mit etwa 30 Kaufleuten aus Nepal, die sich mit Tuch
und Metall nach Lhassa begaben, während er einigen, von
dort mit Ziegelthee zurückkehrenden Kaschmiris begegnete.
Der Jamdok-tscho ist nach Angabe des Reisenden kei-
neswegs ein ringförmiger See, wie er in so markanter
Form auf allen Karten Tibets seit d'Auville's Zeit darge-
stellt worden ist; man theilte ihm mit, daß die Jaks und
Schafe, welche er auf den Bergen der angeblichen großen
Insel im See weiden sah, dorthin gelangt seien, ohne Was-
ser zu pasfiren, nämlich über eine Landenge von Süden her.
Nachdem L— den Paß Chamba La (zwischen dem
Jamdok-tscho und dem Tsaug-po) überschritten, erforschte er
einen zweiten, noch nicht aufgenommenen Abschnitt des großen
Stromes, den zwischen Tschak-dschawe-tschuri, jener eisernen
nach Lhassa führenden Hängebrücke, und der Stadt Tsche -
tang (91° 43' östl. L. Gr.), wo Rain Singh 1874 den
großen tibetischen Fuß überschritten hatte. Unterwegs kam
er bei Dörfern und Klöstern vorbei; bei letzteren achtete er
darauf, stets zu Fuß uud den Hut in der Hand nach or-
thodoxer tibetischer Sitte zu passireu; manche Leute sah er,
welche aus großer Frömmigkeit auf ihren Knien vorbei-
rutschten uud sich selbst platt auf die Erde legten. In
Tschetang konnte er den Strom in einem breiten Thale in
der Richtung Ost zn Nord bis zum Horizonte fließen
sehen; eine weit entfernte schneebedeckte Kette versperrte den
weitern Blick. Der Weg führt am rechten Ufer des Tfang-
Po jenseits Tschetang weiter, aber L— wurde vor demselben
gewarnt, falls er nicht in Begleitung einer großen Gesell-
schast von Kaufleuten reiste, da dort Räuber und wilde mit
Pfeil und Bogen bewaffnete Stämme in der Gegend von
Tschari wegelagerten. (Drei Jahre später hat dann, wie
bekannt, der Reisende ?!—m—g diesen Weg wirklich ein-
geschlagen und den Tsang-po abwärts bis Gjala-Singdong
verfolgt.) Nachdem sich L— deshalb sechs Tage in Tsche-
tang aufgehalten, verließ er, da er fürchtete, daß seine Mit-
tel ausgingen, um die Mitte Decembers die Stadt und
wandte sich südwärts in der Absicht, Nain Singh's Weg
von 1874 nach Assam einzuschlagen. BisTangschoch
(Tangschn) scheint er aber davon abgewichen uud erst von
dort bis Taw ang seinem Vorgänger genau gefolgt zu sein.
An letzterm Orte, der dicht an der Grenze Bhutans uud
nur noch circa 50 engl. Meilen von der Grenze Assams
entfernt liegt, wurden er und seine Begleiter vor die Be-
Hörden geführt, welche ihnen die Erlaubuiß zur Weiter-
reise verweigerten und sie in die öffentliche Mühle einsperr-
ten. Gleichzeitig mit ihnen wurden 300 Kaufleute festge-
halten, und zwei junge Männer, welche sich über dieses
willkürliche Verfahren etwas allzu frei äußerten, wurden
sofort eingekerkert uud ihrer Waaren beraubt, die verkauft
wurden. Zuletzt sollten drei berittene Soldaten nusern Reisen-
den und jene beiden jungen Leute nach Lhassa transportiren.
Glücklicherweise fand der Befehlshaber eines Forts unter-
Wegs in dem Dokumente, welches die Soldateil bei sich führ-
ten, einen Formfehler, sandte letztere nach Tawang zurück und
gab den Reisenden die Freiheit, worauf L— uach Schigatze
zurückkehrte, nicht ohne unterwegs sehr von der heftigen
Kälte zu leiden. Gegen Ende März 1876 traf er dort
seine letzten Vorbereitungen und kehrte dann aus demselben
Wege, wie Kapitän Turner im Jahre 1783, nach Dard-
schiliug zurück. In Phari, wo drei chinesische Beamte
uud 30 berittene Soldaten stationirt sind, wurde er wieder
einen Monat lang festgehalten, aber zuletzt Dank der Inter-
vention eines der angesehensten Männer im Orte freigelas-
sen; nun stieg er das Thal des Ammotschn jenseits Tschu mb i,
der Sommerresidenz des Radscha von Sikkim, hinab und er-
reichte den Paß Dschiliph La, von wo der Weg 15 engl.
Aus allen Erdtheilen. 47
Meilen weit sehr eben, dann aber 9 Meilen weit außeror- Straße sehr bequem und ohne alle natürliche Schwierigkei«
dentlich steil und schwierig ist; es war das die schlimmste ten, nur ist stellenweise nördlich von Phari das Futter für
Stelle, welche L— zu Yassiren hatte, seitdem er Indien die Sanmthiere spärlich. L—'s Abwesenheit von Indien
verlassen. Von Schigatze bis zu diesem Abstieg ist die hatte im Ganzen ein Jahr und vier Monate gedauert.
Aus allen
Nordmerika.
Zu den Handelszweigen, welche in den letzten Jah-
ren iu den Vereinigten Staaten einen wesentlichen
Aufschwung auszuweisen haben, gehört auch der Austern-
export. So wurden in den letzten vier Jahren, von 1375
bis 1879, 264230 Faß Austern im Werthe vou 1321 183 Dott,
nach Europa verschifft. Während der mit dem 31. März
d. I. beendeten sechs Monate wurden 59 643 Faß Austern
im Werthe von 293 318 Doll. uach Europa versandt, aller-
dings eine Abnahme gegen dieselbe Periode des Vorjahrs,
was aber wohl hauptsächlich aus Rechnung des milden Win-
ters zu setzen ist, der eine Verschiffung von Austern in grö-
ßerm Maßstabe uicht rathsam erscheinen ließ. Immerhin
dürften die Zahlen für den Aufschwung Zengniß ablegen,
welchen dieser Handelszweig innerhalb einer so kurzen Periode
genommen. (A. Z.)
— Mit dem im Frühling d. I. erschienenen zweiten
Baude von Prof. Friedrich Ratzel's „Die Vereinig-
ten Staaten von Nord-Amerika" (München, R. Olden-
bonrg) ist ein Werk vollendet, welches eine erstaunliche Fülle
von Material verarbeitet bietet, und das von der als geschickt
bekannten-Hand eines Mannes, dem die eigene Anschauung
der zu schildernden Verhältnisse zn Statten kommt.
Der zweite Band des Werkes schildert die kulturgeogra-
phischen Verhältnisse der Vereinigten Staaten. Dieselben
sind zwar in möglichster Vollständigkeit dargestellt, immerhin
aber waltete dabei die Rücksicht ans ihre allgemeinen Eigen-
schaften, ihre Beziehungen zu den natürlichen Daseinsbedin-
guugeu, zum Leben und zur Zukunft des nordamerikanischen
Volkes, endlich ihre geschichtliche Entwickelnng mehr vor als
das Streben nach Darbietung von möglichst vielen Einzel-
heiten. So wie im ersten Band die Naturverhältnisse, so
sollten hier die Kulturzustäude des großen Reiches zu einem
Gesammtbilde vereinigt werden, nnd in demselben sollten
die großen Züge nicht durch uuuöthige oder gar ungeordnete
Anhäufung von minder wichtigen Thatsachen ihrer natür-
lichen Deutlichkeit beraubt werden. Jede Seite des Kultur-
lebens der Nordamerikaner sollte aber eingehende BeHand-
luug finden nnd jede einzelne auch nach dem Maße der
Wichtigkeit, welche sie für uns Außenstehende besitzt. Selbst-
verständlich ergab sich dabei eine vorwiegende Berücksichtigung
der wirthschaftlicheu Zustände und Entwickelnngen, welche ja
in jedem Volke als breites Fundament dem ganzen übrigen
Knltnrbane zn Grunde liegen, eine besondere Beachtung
aber verdienen bei einem so jungen nnd daher so sehr noch
mit der Entfaltung der materiellen Möglichkeiten seines Lan-
des beschäftigten Volke, wie den Nordamerikanern. Voraus-
sichtlich werden die Nordamerikaner fortfahren, in den näch-
sten Jahrzehnten ihre Stellung als das in allen wirthschaft-
licheu Beziehungen hervorragendste Volk der außereuropäischen
Länder immer mehr auszudehnen und zu verstärken, und
ihr Wirtschaftsleben wird von immer größerer praktischer
Bedentnng für alle anderen Völker werden. Es schien daher
sowohl aus wissenschaftlichen als aus praktische« Gründen
wünschenswerth zu sein, dasselbe ausführlich darzustellen.
Die beigegebenen Karten und Figuren werden znr Verständ-
lichkeit der einschlägigen Verhältnisse sich dienlich erweisen.
Erdtheilen.
— M. Desire Charnay, dessen Reise in Java in
Nro. 1 ff. dieses Bandes des „Globus" geschildert wird, be-
findet sich auf Kosteu der französischen Regierung und des
M- Pierre Lorillard jetzt in Mexico, um die alten Denk-
mäler und Inschriften des Landes photographisch zn kopiren
und abzuformen. Die Kopien und Abklatsche sollen später
unter dem Namen Lorillard-Museum in Paris besonders
ausgestellt werden. Die Expedition ist ans zwei, vielleicht
auch drei Jahre veranschlagt, wovon eines ausschließlich auf
Ancatan zu verwenden , ist. Charnay war bereits 1857 in
Mexico und Mittelamerika, photographirte damals die Tem-
pel, Gräber und Monumente von Mitla, Palenqne, Chichen-
Jtza ix. s. w. und veröffentlichte darüber seine „Cites et
Ruines Am&ricaines". Die Kosten seiner Reise sind auf
300 000 Francs veranschlagt; das Journal derselben soll
später in der „North American Review", ein detaillirter
Plan der Expedition aber baldigst und zwar gleichzeitig in
Frankreich, Deutschland, England nnd Amerika erscheinen.
Obwohl die Mexikaner, wie leicht erklärlich, sehr dagegen
sind, daß die Reste der früheren Kulturstufen ihrer Heimath
entführt werden, so will Charnay doch versuchen, daß er von
der Regierung wenigstens einen Antheil an den zu eut-
deckenden Alterthümeru erhält.
— Wo früher, schreibt der „Leader" in Eureka, sich der
R u b y - S e e ausdehnte, findet sich jetzt kein Tropfen Wasser
mehr. Vor sieben bis acht Jahren war er 18 bis 20 Mikes
lang, seine Breite wechselt von % bis 2 oder 3 engl. Miles,
und au mehreren Stellen war er sehr tief. Zahllose Quel-
len, die am Fuße des Ruby-Gebirges entsprangen, speisten
ihn, so daß er die größte Wasseransammlung im östlichen
Nevada war. Während einer Reihe von Jahren ist er
nun allmälig ausgetrocknet und endlich ganz verschwnilden.
Der Grund davon ist räthselhaft; denn das Rnby- Gebirge
gilt als das größte und schönste zwischen dem Felsengebirge
und der Sierra Nevada, ist gut bewaldet und ist das wasser-
reichste in ganz Nevada. (Natnre.)
S ü d a m e r i k a.
— Seitens der „South American Missionary Society"
sind zwei Missionäre, Resyek Polak und Mc Canl in
Säo Pedro de Caxoeira am Pnrüs, dem großen süd-
lichen Nebenflüsse des Amazonenstromes, stationirt, welche
sich die Erforschung der Umgegend angelegen sein lassen. In
nächster Zeit gedenken sie einige noch unbekannte Zuflüsse
des Purüs zn besuchen, wobei ihnen von Nutzen sein wird,
daß Mr. Polak die Sprache der Hypnrina-Jndianer versteht.
Auch haben sie ihrer Gesellschaft versprochen, bald eine neue
Karte eines Theiles des Puriis einsenden zn wollen.
— Ein Engländer, Mr. George Beanmont, beabsichtigt,
in der argentinischen Provinz Buenos Ayres eine Straußen-
farm zn errichten nnd hat zu diesem Zwecke 101 Strauße
aus Afrika eingeführt.
— Don Ramon Lista, welcher jetzt Patagonien
bereist, erklärt, daß die Küste zwischen Bahia Rosas nnd dem
Hasen San Antonio keine Zukunft besitze. An letztem Punkte
besteht die Umgebung durchweg aus Sand ohne Gras oder
Wasser, nnd beim Graben erhielt man nur salziges Wasser.
Am 10. April schrieb der Reisende aus Bahia Blanca, daß
48 Aus allen
er zur Umkehr gezwungen worden wäre, hätte er nicht von
dem ihn begleitenden Kutter Wasser für die Pferde erhalten.
— Während des vergangenen Jahres hat das bekannte
englische Schiff „Alert" zuerst unter Sir G. S. Nares,
dann unter Kapitän Maclear die Kanäle an der Westküste
von Südamerika etwa unter50° südl. Br. untersucht und
ausgenommen, besonders den Trinidad Channel, welcher ans
150 Seemeilen nordwärts von der Magelhaens-Straße eine
freie Durchfahrt nach dem Stillen Ocean darbietet, so daß
die Schiffe die oft stürmische Fahrt über das offene Meer ver-
meiden können. Auch besuchte der „Alert" die Inseln S. F e l i z
und S. Ambro sio (etwa unter 26»südl. Br.), welche, nach
den in ihrer Umgebung gefundenen Seetiefen, weder mit
dem Festlande von Südamerika noch mit der Jnan-Fernan-
dez-Grnppe einen Zusammenhang zu haben scheinen. Maclear
beschreibt die Insel S. Ambrosio als vulkanisch und aus
horizontal geschichteten Laven bestehend, welche senkrecht von
Basaltmassen durchsetzt werden. Vegetation ist nur spärlich
vorhanden, Wasser gar nicht, und obwohl sich Seevögel dort
aufhalten, sind die Küsten doch zu steil und abschüssig, als
daß man dort Guano sammeln könnte. Den Tiesseelothnn-
gen zufolge scheint die Insel als ein vereinzelter Berg von
einem unterseeischen Plateau aufzusteigen. (Nature.)
— In der Argentinischen Republik hat soeben das
Eisenbahnnetz mehrfache Erweiterungen erfahren: die
Westbahn von Buenos Ayres nach Pergamino ist bis Giles
eröffnet worden; ferner hat sich der Finanzminister nach Villa
Mercedes begeben, um die Eröffnung der Bahn bis Sau
Luis vorzunehmen, und der Minister des Innern ist nach
Tncuman abgereist, um den Bau der Eisenbahn von dort
bis Salta feierlich in Angriff zu nehmen.
— Briefe aus dem Innern der A r g e n t i n i s ch e n R e -
publik melden, daß mehrere Tropas (Manlthier-Karawa-
neu) mit Weiß- und Rothweinen beladen, von San
Juan nach Rosario abgegangen sind. Man knüpft daran
die Hoffnung, daß in Zukunft mehr einheimische Weine in
Buenos Ayres getrunken und durch sie die bisher aus Frank-
reich und Spanien eingeführten verdrängt werden.
— Nach dem in London erscheinenden „South American
Journal" scheinen sich die Verhältnisse Paraguays,
welches durch deu Krieg gegen Lopez so jämmerlich herunter-
gekommen war, allmälig etwas zu bessern. Die Bevölkerung
nimmt, besonders durch Einwanderung, zn: es herrscht Ruhe
und Frieden; die Einnahmen sind zwar gering, werden aber
gewissenhaft und zu nützlichen Dingen verwendet. Während
Ende April 1878 in London 595 Ballen Tabak aus Para-
guay lagerten, stieg die Zahl 1879 auf 858, 1880 auf 2760
Ballen. Die englischen Gläubiger der Republik sangen wie-
der an zn hoffen, daß sie vielleicht doch noch einmal zn einem
Theil des Ihrigen kommen.
Polargebiet.
— Zu Anfang April d. I. ist eine neue dänische Ex-
pedition nach Grönland abgegangen, unter Marine-
lientenant G. Holm, der 1876 mit Steenstrnp einen Theil
des Distriktes Jnlianehaab untersuchte, und den der Architekt
Groth und der Eand. polyt. E. L. Petersen begleiten. Sie
soll Ausgrabungen im Distrikt Jnlianehaab vornehmen, wo
sich Ruinen des alten Bischofssitzes Garde befinden, und
anch mit Voruntersuchungen zn einer spätem Expedition nach
der Ostküste Grönlands sich beschäftigen. Herr Prof. Fr.
Johnstrnp in Kopenhagen schreibt darüber an Dr. Behm:
Bekanntlich ist man verschiedener Meinung gewesen, wo der
sogenannte „Osterbygd", d. h. die östliche Niederlassung, ge-
legen habe, ob es auf der westlichen oder östlichen Küste ge-
wesen sei, und man ist jetzt gesonnen, so viele Beiträge zur
serueru Beleuchtung der Frage wie möglich einzusammeln.
In Verbindung hiermit hat die Expedition deshalb auch
den Auftrag, eine für ein folgendes Jahr beabsichtigte Boot-
expedition nach dem südlichen Theil der Ostkiiste Grönlands
vorzubereiten, da hier keine Untersuchung vorgenommen wor-
den ist, seitdem Graah seine bekannte Reise in den Jahren
1829 bis 1830 unternahm. (Petermann's MittH.)
— Am 3. Juni d. I. hat das holländische Schiff
„Willem B a r e n t s" seine dritte Nordpolexpedition ange-
treten.
— Die englische Admiralität hat der unter Kapitän
H o w g a t e auszusendenden amerikanischen Nordpolexpedition,
welche in Lady Franklin Bay eine Station anlegen will,
die Lebensmittel-Depots zur Verfügung gestellt, welche Sir
G. Nares in den Jahren 1875 und 1876 an der Westküste
des Smith Sund errichtet f)at. Zum Expeditionsschiffe
ist der Dampfer „Gulnare" von 230 Tonnen bestimmt; die
Bemannung wird aus 15 Offizieren und Matrosen bestehen,
die Observations-Abtheilnng für die Station aus 25 Manu,
einschließlich die Gelehrten.
— Den ersten ausführlicheren Bericht in deutscher Sprache
über Nordeuskjöld's Umschiffung Asiens bringt uns
das eben bei F. A. Brockhans in Leipzig erschienene Werk
„Die Nordpolarreisen Adolf Erik Norden-
skjöld's 1858 bis 1879 " (mit 44 Holzschnitten und 4
lithographirteu Karten). Dasselbe ist der Hauptsache nach
eine Uebersetzuug von Alexander Leslie's „Arctic Voyages
of A. E. Nordenskjöld", einer nach den Quellen sorgfältig
zusammengestellten Uebersicht sämmtlicher Polarreisen des
berühmten schwedischen Geologen. Diese größtentheils streng
fachwissenschastliche Quellenliteratur, deren 193 Nummern
umfassendes Verzeichniß dem Buche beigegeben ist, beläuft
sich nach Leslie's Berechnung anf 6000 Druckseiten mit 150
Abbildungen und wurde für die Abfassung des vorliegenden
Buches, speciell für die Darstellung der schwedischen Polar-
expeditionen von 1858, 1861, 1864, 1868, 1872 bis 1873,
der Reise nach Grönland 1870 und der beiden Fahrten nach
dem Jenissei 1875 und 1376 durchgearbeitet. Das letzte
Kapitel jedoch, „Die Auffindung der nordöstlichen Durchfahrt
1878 bis 1879", hat in der deutschen Ausgabe auf Grund
neuerer ausführlicher Berichte, besonders der Briefe Norden-
skjöld's an den Mäcen der Polarforschung, Oskar Dickson,
eine beträchtliche Ergänzung und Erweiterung erfahren.
Vornehmlich möchten wir noch auf das hochinteressante erste
Kapitel, „Die Familie Nordenskjöld: autobiographische Skizze",
hinweisen, sowie auf Anhang I, den medieinischen Bericht
des Dr. Envall, welcher einerseits das Bild der Ueberwin-
ternng in der Mnsselbai 1872 bis 1873 in wünschenswerther
Weise ergänzt, andererseits aber so manche Veränderung in
den betreffenden Einrichtungen und der Ausrüstung der
späteren Expeditionen veranlaßt hat, für deren Zweckmäßigkeit
der vortreffliche Gesundheitszustand bei der Ueberwinteruug
der „Bega" das beste Zeuguiß ablegen sollte.
Inhalt: Auf Java. III. (Schluß.) (Mit fünf Abbildungen.) — W. Bertram: Das Val de Cogne inPiemont.I. —
Die Medschertin-Somali. — Der Jaru-dsang-po in Tibet. — Aus allen Erdtheilen.- Nordamerika. — Südamerika. —
Polargebiet. — (Schluß der Redaction 20. Juni 1880.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Verlin. S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Band xxxviii.
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Mit besonÄerer Berücksichtigung ller AntKroVologie ultt? GtKnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachinännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Jährlich 2 Bände 5 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten iooa
OraUnftfytDeig zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen. loo ♦
Lucca u n d sei
(Nach dem Französischen des M. Henri
(Sämmtliche Abbildung
Fährt man auf der Eisenbahn von Florenz über Prato
nach Lucca, so erblickt man unfern seines Zieles und bald
hinter der Station Altopascio zur Linken, im Süden, den
Wasserspiegel des Sees von B ientina, welcher den letzten
Nest der Sümpfe darstellt, welche einst Arno und Serchio
durch ihre Vereinigung bei Hochwasser gebildet haben. Noch
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde dieses ganze
schöne Thal von Sümpfen verpestet und die Einwohner vom
Fieber decimirt. Zur Zeit des Hochwassers ergoß sich von
Norden und Süden, von Serchio und Arno her gleichzeitig
die Fluth iu den See und bildete dort ein wahres Binnen-
meer. Man dämmte nun den Serchio und Arno ein, und
geschickt angelegte Schleusen dienten dazu bald den Gewäs-
fern des Bientina-Sees Absluß zu gewähren, bald denen
jener beiden Flüsse den Zutritt zu verwehren. Aber die
kleinen Bäche, die von den Pisaner Bergen Herabkommen,
und die starken Winterregen, welche keinen Absluß mehr
fanden, nachdem die Schleusen geschlossen waren, setzten
nichtsdestoweniger einen Theil des Landes unter Wasser:
10 000 Hektaren fruchtbaren Bodens waren alljährlich
mehrere Monate lang überschwemmt. Da entwarfen tos-
kanische Ingenieure, Meister in der Wasserbaukunst, den
Plan, dem Bientina-See Abfluß zu verschaffen, indem sie
einen Tunnel unter dem Arno hindurch führten und ein ehe-
maliges Strombett herrichteten, daß es den Ueberflnß des
Sees direkt ins Meer leitete. Damit war der „flüssige
Fdnd" besiegt; ohne mehr schaden zu können, wälzten sich
Globus XXXVIII. Nr. 4.
il e Umgebung.
Belle, französischen Konsuls in Florenz.)
m nach Photographien.)
nun die gelben Wogen des Arno zwischen hohen Dämmen
hin, in einem Niveau, welches höher liegt, als das des Bien-
tina - Sees. Toskana kann auf die Namen seiner großen
Ingenieure, eines Fossombroni und Zendrini, welche ihm in
nilblutigem Kampfe Provinzen gewannen, fast stolzer sein,
als auf die seiner berühmtesten Kriegshelden.
Jenes so eroberte Thal hat den Beinamen „der Garten
Toskanas" erhalten; „Obstgarten" oder „Baumgarten"
wäre richtiger. Wohin man blickt, Gehänge von Weinreben,
Bäche von-hohen Pappeln oder blühenden Hecken eingefaßt,
weiße oder Hellroth angestrichene Häuser mit langen Bogen-
gängen und ganze Dörfer im Grün verstreut, alte Kastelle
und Kirchtürme auf den bewaldeten Hügeln und im Hinter-
gründe von blauem Nebel umhüllten Felsenkännne der
Apenninen, die acht Monate im Jahre mit Schnee bedeckt
sind. Man meint, die Bewohner dieser entzückenden Land-
schast müßten glücklich sein; aber die Thatsachen entsprechen
dem Anscheine nicht. Denn die Landleute hier sind nur
Halbbauern oder Pachtmeier, d. h. sie bewirthschaftxn das
Laud^ eines andern, der die Hälfte des Ertrages erhält, und
die Pachtung (il podere) ist meist so klein, daß der Mann
darauf kaum seine Nahrung findet, so unendliche Mühe und
Sorgfalt er auch aus die Bewirthschaftuug des Bodens ver-
wendet. Deshalb wandern viele nach auswärts und suchen
sich lohnendere Arbeit; zu zehn oder fünfzehn thnn sie sich
zusammen, und wählen sich einen Anführer, dem es obliegt,
gute Arbeit ausfindig zu machen, den Lohn einzuziehen und
7
50 Lucca und sl
ihn zu vertheilen und die Interessen seiner Gesellschaft gegen
die Arbeitgeber und Behörden zu vertreten. Zu Tausenden
landen diese Arbeiter um die Mitte des Juni in Bastia auf
Korsika, auf dessen Westküste ohne ihre kräftige Hülfe die
Ernte nicht rechtzeitig eingebracht werden könnte. Für sie
ist das kein Exil: denn man spricht dort ihre Sprache, und
am Horizonte sehen sie stets die heimathlichen Berge von
Lucca.
Der Bahnzug nähert sich nun der Stadt Lucca: wie ein
riesiger Circus steigen die Berge rings an und schauen herab
aus das malerische originelle Städtchen in ihrer Mitte, mit
seinen wohlerhaltenen Befestigungen in Vaubau'scher Art,
die mit prächtigen Bäumen bepflanzt sind, über welche die
:e Umgebung.
Glockenturme herüberragen. Ehe man in den Bahnhof
fährt, sieht man zur Linken eine lange Reihe von Bogen
— es sollen 459 sein —, welche in der Ferne bei den Ber-
gen von Pisa anheben und nahe der Stadt Lucca in einer
Rotunde dorischen Stiles ihren Abschluß finden; diese schöne
Leitung bringt täglich 8000 Liter klaren gefunden Wassers
von Vorno und Guamo zur Stadt und ist ein Werk des
lncchesischen Ingenieurs Nottoliui, der es 1823 auf Befehl
der Herzogin Marie Louise von Bonrbon aufführte.
Lucca rühmt sich mit Recht, eine der ältesten Städte
Toskanas zu seiu; ehe noch von Florenz die Rede war,
war es bereits eine alte Ansiedelung. Ob es indessen eine
etruskische Stadt war, ist nicht ausdrücklich bezeugt; auch
ZL.....................»
ummilütr- ij'V'i; !.!
pill'inmnni,
Die Wasserleitung von Lucca.
haben sich dort keine etruskischen Denkmäler gefunden. Spä-
ter bemächtigten sich die Lignrer des Ortes, der bis in das
Augusteische Zeitalter hinein als lignrisch angesehen wurde.
218 kommt er zum ersten Male in der Geschichte vor, als sich
der Konsul Sempromus Longus nach seiner Niederlage an
der Trebia dorthin zurückzog. Im Jahre 177 v. Chr. wurde
er römische Kolonie und muß besonders in der Zeit Julius
Cäsar's von Bedeutung gewesen sein, da derselbe dort wieder-
holt mit seinen politischen Freunden Zusammenkünfte abhielt.
In der Kaiferzeit wird die Stadt wenig genannt, war aber
während des Gotheneinfalles eine wichtige Festung, die dann
von den Langobarden schwer zu leiden hatte. Einen beson-
dern Aufschwung nahm die schon früher von der Gräfin
Mathilde, den deutschen Kaisern und den Markgrafen von
Toskana mit Privilegien ausgezeichnete Stadt durch ihren
Handel im 11. und namentlich im 12. Jahrhundert, wo sie
sich unter gewählten Konsuln selbst verwaltete. Ihre Mün-
zen circulirten in ganz Italien; sie konnte mehrere tausend
Bewaffnete stellen und nahm mit Galeeren an den Kreuz-
zügen Theil. Dann aber folgten, wie in fämmtlichen italie-
nischen Städten, wilde Parteikämpfe zwischen Guelsen und
Ghibellinen: ein Haupt der letzteren, Castrnccio Interim-
Hellt, lieferte im Jahre 1314 Lucca den Pisanern aus, welche
drei Tage laug plünderten, brannten und mordeten; deren
Anführer Uguccione della Fagginola herrschte nun als wah-
rer Tyrann, bis er dem, der ihn gerufen, weichen mußte und
Castruccio von Ludwig dem Baiern zum Herzog vou Lucca,
Pistoja, Volterra u. s. w. erhoben wurde. Für Geld wan-
derte dann Lucca nach Castrnccio's Tode 1328 aus einer
Hand in die andere, wobei ihr Preis stets stieg, ihr Werth
52
Lucca und seine Umgebung.
aber ebenso stätig abnahm: nach einander besaßen sieCastra-
cani, Gherardo Spinola, Johann von Böhmen, die Brüder
Rossi von-Parma, Mastino und Alberto della Scala und
endlich die Pisaner, welche sie 26 Jahre lang entsetzlich
knechteten. Diese Periode lebt in der Erinnerung fort als
„schiavitü babilonica" (babylonische Knechtschaft), und bis
auf den heutigen Tag hat sich als Spur jener Tage, wenn
auch halb unbewußt, ein Gefühl der Feindschaft zwischen
Lucchesen und Pisanern erhalten. Erst Kaiser Karl IV.
gab der Stadt im Jahre 1369 gegen eine Summe von
100 000 Goldgulden, die ihr vom Papste, dem Marchese
von Este und anderen Großen vorgestreckt wurde, die Frei-
heit wieder. Allein von Neuem begannen innere Fehden,
bis die durch Haudel und Bankgeschäfte reich gewordene Fa-
milie der Guinigui, ähnlich den Mediä in Florenz, in zwei
Generationen die oberste Gewalt an sich riß. Nach dem
Hauptthür des Doms in Lncca.
Sturze Paolo Guinigui's, der 30 Jahre lang geherrscht
hatte, wurde von Neuem die Demokratie eingesetzt, die immer
aristokratischer wurde, bis 1799 die Franzosen die im 18.
Jahrhundert sehr gesunkene Stadt besetzten. 1805 schenkte
Napoleon sie mit dem Prinzessinnentitel an seine Schwester
Elisa Bacciocchi, welcher die Lucchesen ein gutes Gedächtniß
bewahrt haben, weil sie Straßen baute, den Unterricht, die
Künste und Gewerbe förderte, die Gefängnisse verbesserte
und viel für die Verschönerung und die Gesundheitspflege
der Stadt that. Als deshalb Napoleon gestürzt war und
seine großen und kleinen Satelliten mit ihm, war es nicht
das Volk, welches Elisa verjagte, sondern die österreichischen
Bajonnette. Marie Louise, die ehemalige Königin von
Etrurien, erhielt das Lündchen durch den Wiener Kongreß
zugesprochen, und nach ihrem Tode (1824) folgte ihr ihr
Sohn Karl Ludwig, der sich die Erbauung von Deichen,
Fahrstraßen, Brücken u. s. w. gleichfalls angelegen sein ließ.
Er hätte vielleicht noch mehr Gutes geleistet, wenn ihn nicht
54
Lucca und seine Umgebung.
seine österreichischen Vettern daran gehindert hätten; sein
GemUth war aber so furchtsam, daß er, als seine getreuen
Unterthanen 1847 von ihm eine Verfassung verlangten,
flüchtete und sein Land an Toskana abtrat, mit dem es 13
Jahre spater an Victor Emmanuel fiel.
Heute ist die frühere Republik nur eine schlichte Pro-
viuzialstadt, die innerhalb ihres Festungsgürtels thatenlos
schlummert, die aber mit ihren Denkmälern, ihren alten
Kirchen und Palästen für den Reifenden einen lohnenden
Anziehungspunkt bildet; man erfährt hier wieder einmal,
wie sehr durch die politische Zersplitterung des Mittelalters
in Italien das Aufblühen und die Verbreitung der Kunst
befördert worden ist.
Betritt man vom Bahnhofe aus durch die Porta S. Pie-
tro die Stadt, so erblickt man gleich rechter Hand den Dom
und wird gefesselt von sei-
ner reichen originellen Fa-
hnde, die eine Mischung
verschiedener Stilgattuugeu
darstellt, aber in ihrem
Ganzen an die Gothik der
französischen Kathedralen
aus dem dreizehnten Jahr-
hundert erinnert. Eine In-
schrist in der Vorhalle mel-
det, daß das Gebäude eine
Gründung des Bischofs
Anselms Badagio, nach-
maligen Papstes Alexan-
der II. (1061 bis 1073).
aus dem Jahre 1060 ist;
doch haben sich von der
ursprünglichen Anlage nur
die Grundmauern erhalten,
und dieselbe ist nicht nur
restanrirt, sondern während
des 13., 14. und 15. Jahr-
Hunderts vollständig nen
gebaut worden. Ihre Stelle
nahm vorher eine Basilika
ein, die der heilige Fredi-
ano, Bischof von Lucca
560 bis 588, erbaut hatte,
und in deren Krypta im
Jahre 708 die Reliquien
des afrikanischen Bischofs
S. Regulus übertragen
worden waren. 1060
wählte man anstatt der
Basilikenform als Grundriß das lateinische Kreuz mit drei
Schissen und vergrößerte den Chor; die Faxade aber blieb
damals unvollendet und die Arbeiten an derselben wurden
erst zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch Meister Gui-
detto von Como wieder aufgenommen. Von ihm rührt der
reiche Portikus vom Jahre 1204 her, welcher Anklänge an
den damals beliebten byzantinischen Geschmack zeigt; da der
Meister, den alten Glockenthurm neben der Kirche erhalten
sollte, war er gezwungen, den einen Bogen schmaler zu ma-
chen, als die übrigen. Die innere Ausschmückung wurde
30 Jahre später vou den lombardischen Künstlern Belenato
und Aldibrando ausgeführt. Wiederum wurden im Jahre
1308 Aeuderungen vorgenommen und der Bau fortgeführt;
Ser Matteo Campanari vergrößerte damals die Arme des
Kreuzes, erhöhte die Mauern und erbaute die Tribuna.
Später werden als Baumeister, denen man die Fenster des
Fenster des Oratoriums Santa Maria della Rosa.
Chors verdankt, Bonaventura Rolenzi von Lucca, Lippo
Pucci von Florenz (1336) und Meister Nikolas von Siena
(1363) genannt. Im Innern ist es schwerer, sich von dem
allgemeinen Bauplane Rechenschaft abzulegen. Man wollte,
wie es scheint, das Gewölbe mit Spitzbogen abschließen, die
auf viereckigen Pfeilern ruhten; als aber um 1372 die
Mauern auswichen, fürchtete man ernstlich für den ganzen
Bau und zog die berühmtesten Architekten und Ingenieure
Toskanas zu Rathe. Auf ihren Rath errichtete man die
noch heute vorhandenen schönen achteckigen Pfeiler, deren
Kannelüren als Fortsetzungen der Nippen und Bogen er-
scheinen. Auch die äußeren Strebepfeiler wurden damals
neugebaut oder verstärkt. Um 1400 fing man an das Aeu-
ßere des Gebäudes mit seinem reichen Schmucke an ver-
schiedensarbigem Marmor, Skulpturen und herrlichem Netz-
werk zu versehen. Leider reichten aber die Mittel nicht aus,
um die wunderbare Aus-
schmückung, welche man ge-
plant hatte, auf der dem
Blicke besonders ansgesetz-
ten Südseite auszuführen.
Man legte zwar noch die
Häuser, welche an den Dom
angebaut waren, nieder und
rasirte die Gärten, um
einen schönen Platz zu ge-
Winnen; aber die Kriege,
welche auf den Sturz
Paolo Gninigui's folgten,
machten diesen Verschöne-
ruugeu eine Ende. Erst
in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts wurde
dann der Dom mit allen
jenen Kunstwerken ge-
schmückt, welche man noch
heute darin bewundert, und
die wir hier nur aufzählen,
nicht beschreiben können.
Da ist im rechten Quer-
schiffe das schöne Marmor-
denkmal des päpstlichen
Sekretärs Pietro da Noceto
vom Jahre 1472, ein Werk
des lncchesischen Künstlers
Matteo Civitali, von
welchem auch das daneben
befindliche Grab des Do-
menico Bertini di Galli-
cano von 1479, zwei an-
betende Engel in der Cappella del Sagramento, der mit
schönen Basreliefs geschmückte Altar des H. Regnlns vom
Jahre 1484 und die ans zum Theil vergoldetem Marmor
bestehende Kapelle des Volto santo im Hauptschiffe (1482
bis 1484), welche ein altes Kruzifix aus Cedernholz, an-
geblich ein Werk des H. Nicodemus, umschließt, herrühren.
Ferner sind zu nennen die prächtigen Glasfenster von Pan-
dolfo di Ugoliuo aus Pisa (1485), die äußeren Verziernn-
gen an den Fenstern (1476), die Fresken im Gewölbe des
Mittelschiffes (1476), das farbige inkrustirte Marmor-
Pflaster (1475 bis 1478), die marmorne Ausschmückung
der doppelten Bogenstellnng der obern Gallerie (1476 bis
1481), die Chorbalustrade mit bunter Marmorinkrustation
und Basreliefs (1478), die Chorstühle iu der Sakristei mit
ihren Figuren und Perspektiven aus eingelegtem Holze
(1490), die Holzthüren der Faxade (1497) und die Kanzel
W. Bertram: Das T
(1498), alles Werke von Nikolas da Noceto und der beiden
Lucchesen Jacopo da Ghivizzano und Domenico Bertini.
Im 16. Jahrhundert gab es nur wenige Leute von Ge-
schmack; damals behandelte man die wunderbaren Schöpfnn-
gen früherer Jahrhunderte wie alten Plunder, den man
zerstören konnte. So durchbrach man 1521, um eine Ka-
pelle del Sagramento herzustellen, die Mauern des rechten
Querfchiffes und dabei verschwand das schöne Tabernakel
Bertini's, ganz abgesehen davon, daß dadurch der General-
plan des ganzen Baues gestört wurde und der geschnörkelte
Barockstil der Kapelle uicht zu der leichten zierlichen Bauart
des Domes paßt. Eine ganze Anzahl von Architekten und
Dekorateuren haben hier ihre Erfindungsgabe angestrengt,
um das, was ihre Borgänger geschaffen, umzugestalten oder
zu zerstören. Ein Bischof ließ sich, um direkt aus seinem
Palaste in die Kirche gelangen zu können, einen Gang er-
richten und die Arkaden des Porticus zumauern, wodurch er
das ganze Aenßere des Gebäudes schimpsirte; ein anderer
folgte ihm darin, indem er zum Besten seiner Familie
schmutzige Baracken an dasselbe anklebte, und in der schönen
Tribnna Campanari's nisteten sich Magazine und Frucht-
Händler ein. Erst seit der Annexion und besonders seit dem
Jahre 1870 ist eine Kommission ausschließlich damit be-
schüstigt, das ganze Gebäude wieder in denselben Zustand
wie im 16. Jahrhundert zu setzen; leider verfügt dieselbe
über zu wenig Mittel, um ihren mit Geschick und Verständ-
niß entworfenen Plan so bald ausführen zu können.
Außer den oben genannten könnte noch manch anderes
Kunstwerk hier angeführt, noch fo mancher lucchcfischcr
Künstlername hier genannt werden, wenn nicht der Raum
hier fehlte. So findet sich im linken Querfchiffe von Jacopo
della Quercia der herrliche Sarkophag mit der liegenden
Gestalt der Jlaria des Carretto, der 1405 gestorbenen zwei-
ten Gemahlin des oben erwähnten Paolo Gninigni, des
Herrn von Lucca. Auch einige große Florentiner Meister
sind vertreten; Fra Bartolommeo durch eine seiner schönsten
Kompositionen, die „Vergiue del Santnario" vom Jahre
1509, Domenico Ghirlandajo durch ein Hauptwerk in der
Sakristei. Gemeinden, Bischöfe, Adlige und Korporationen
de Cogne in Piemont. 55
wetteiferten damals, die Kathedrale zu schmücken und ihre
Kapellen zu bereichern; in Folge dieser Lebenskraft der ita-
lienifchen Gemeinden im Mittelalter, dieser Gläubigkeit und
diesem Eifer der Gemüther nahmen die Künste fast überall
jenen Aufschwung und jene Entwickelung, deren Spuren
uns uoch heute mit hoher Bewunderung erfüllen und uns
zum Beispiele dienen sollten.
Als Belle die Besichtigung des Domes vollendet hatte,
und schon abendliche Dunkelheit dessen Inneres erfüllte, trat
ein Leichenzug in denselben ein; barmherzige Brüder, das
Gesicht mit ihrer schwarzen Kapuze verhüllt, so daß nur die
beiden Augen zu sehen waren, trugen den Sarg, die Fackeln
warfen ihr phantastisches Licht bald hierhin, bald dorthin
auf das Gewölbe und die Denkmäler an den Wänden, und
wie die Todtenglocke dazu ertönte, konnte man sich in das
Mittelalter versetzt glauben. Man vergißt dann eben, daß
man keine Mönche vor sich hat, sondern brave Bürger, die
nach vollbrachter Arbeit sich im Cafv Garibaldi wieder zu-
sammensinden und über das allgemeine Stimmrecht debatiren.
Lucca besitzt an fünfzig Kirchen, welche fast alle aus
den ersten Jahrhunderten der christlichen Aera datiren und
dem Künstler wie dem Archäologen hochinteressante Studien-
objekte bieten. Sie alle zu beschreiben ist unmöglich; nur
einige der hervorragendsten können wir anführen.
Unmittelbar hinter dem Dome liegt das Oratorium
S a u t a M a r i a d e l l a N o f a, fo benannt nach einem alten
Freskobild der Madonna, welche drei Rosen in der Hand
hält; man sand dasselbe im 14. Jahrhundert unter den
Ruinen einer früher dort zu Ehren des H. Paulus errich-
teten Kapelle. Das zierliche Bauwerk hat zahlreiche Aus-
befferungen und Umänderungen erlitten und dabei feinen
einheitlichen Charakter vollständig eingebüßt; aber manche
Einzelheiten sind herrlich, wie die Fenster aus dem 13. Jahr-
hundert und die von Civitali's Schülern gemeißelte äußere
Thür der Südseite. 1873 hat ein Privatmann eine Re-
stauration der Nordseite unternommen, welche durch ein ge-
wohnliches modernes Fenster ganz entstellt war. Es wäre
zu wünschen, daß man auch die schlechten Fresken in den
Gcwölbekappen beseitigte.
Das Val de Co
Von W. Bertram,
Kehren wir nun int Hotel de la Grivola ein und schauen
uus dort etwas um, so führt uns eine steinerne Treppe ab-
wärts in die Küche und sonstigen Wirthschastsräume, auf-
wärts hingegen auf nur wenigen Stufen in den mäßig gro-
ßen Salon, während die meisten Logirzimmer noch eine
Etage höher liegen. Auf der Südseite befindet sich, nach
der bedeutend höher gelegenen Straße zu, jener breite, bereits
oben erwähnte Eingang, welcher von Maulthieren pasfirt
werden kann und zu den Heumagazinen führt. Die Zim-
mer sind meist mit Holz bekleidet, haben kleine Fenster (der
Salon sogar Doppelfenster), sind reinlich, entbehren aber
alles Luxus, wie man ihn in den Schweizer Hvtels zu sin-
den gewohnt ist. Ein Sopha, und zwar ein bereits ziemlich
abgenutztes, befindet sich nur im Salon; die Gastzimmer
begnügen sich mit Stühlen, Waschtisch, Nachttisch und den
; il e i Ii Piemont.
,astor zu Braunschweig.
bereits oben gewürdigten hohen, kolossalen Betten, welche
nur von zwei Personen regiert werden können.
Aus dem Salon tritt urnn durch eine Kammer auf einen
auch vom Flur aus zu erreichenden, das Haus au der Nord-
west- und Südwestseite schmückenden, schmalen, hölzernen
Balkon, von welchem sich eine wahrhaft entzückende Aussicht
eröffnet. Zu unseren Füßen ein kleiner Küchengarten, da-
hinter der im frischesten Grün prangende Pr« St. Ours und
jenseits desselben ein wundervoller Blick in die Hochalpen-
welt! Zur Rechten sieht man die schwarzen Hütten von
Gimillan hoch auf den Matten liegen, von wo aus man,
um die Pointe de Bachenfe herum, zum Col Tsa-söche auf-
steigt, und welche weiter nach links in jenen Felsengrat aus-
laufen, der die gerade vor uns über Cretaz sich öffnende dunkele
Schlucht begrenzt und scheinbar mit dem Pic de la Trombe
56 W. Bertram: Das V
endigt. Während im Hintergrunde der blendendweiße
Montblanc die Schlucht abschließt, erheben sich zur Linken
derselben die von der unsichtbaren Grivola auslaufenden
Contreforts, auf welchen man theilweise zwischen Fichten
versteckt die Chalets von Vermiana und die du Pucet am
Fuße der Pyramide du Pncet (3273 m) erblickt. Nach
S.-W. schaut mau direkt ins Valnontey hinein, aus welchem
besonders der Graud-Crou-Gletscher und die ihn überragen-
de« Schneeberge hervorleuchten, bei Mondschein ein ganz
unübertreffliches Bild. Um nach N.-O. Aussicht zu haben,
muß man etwas in die Wiese hineintreten, von wo man
Uber Cogne hinweg rechts von Gimillan die Schlucht erblickt,
durch welche der Grauson herabkommt, während rechts da-
von der Grat beginnt, der die Granteivie bis zur Pointe
Tersiva begleitet und auf dessen Matten man das Chalet
Taverona erblickt. Die Aussicht in das Hauptthal hinauf
wird durch das mit Silvenoire endende Contresort gehemmt.
Der Auseuthalt im Hötel Grivola an sich ist leidlich
und würde uoch mehr zu empfehlen fein, wenn die Verpfle-
gnng eine bessere wäre. Der Reisende muß mit Milch- und
Mehlspeisen, die oft wunderbar zubereitet werden, mit Sa-
lami und gebratenen Hühnern vorlieb nehmen. Der söge-
nannten Bouillon, die aber mit Fleisch keine Bekanntschaft
gemacht hat, kann man durch geriebenen Käse einen etwas
pikanteren Geschmack geben, wenn man nicht Vorsichts halber
selbst etwas Fleischextrakt bei sich führt. Ganz vorzüglich
ist der in Grauson bereitete Käse. Während der Reisende
nur Weißbrot zu esseu bekommt, giebt es „pour les pay-
sans" auch Roggenbrot, über dessen Beschaffenheit ich leider
kein Urtheil abgeben kann. Der gewöhnliche Rothwein ist
gnt; der Viuo d'Asti, der in Aosta vorzüglich ist, war hier-
durch das Alter verdorben. Die Preise (8 Fr. Pension)
sind mäßig; man darf nicht vergessen, daß sehr viel von
Aosta hertransportirt werden muß.
Was nun die von Cogne aus zu machenden Excursionen
betrifft, so richten sich dieselben natürlich danach, ob man ein-
fach Tourist ist oder wissenschaftliche Zwecke damit verbindet.
Wer von Aosta bloß bis Cogne wandert und nach einiger
Rast auf demselben Wege wieder zurückkehrt, der hat mit
Ausnahme des lieblichen Blicks ins Valnontey von der eigent-
lichen Pracht und Herrlichkeit des Thales nichts gesehen.
Man sollte mindestens eine halbe Tagestour daran wenden
und über den Pont de la Tine bei Molina den freilich nicht
besonder« Weg zu den Matten von Gimillan hinaufsteigen;
wer aber wirklichen Genuß haben will und ein paar tüchtige
Tagestouren nicht scheut, dem sei geratheu, den ganz uuge-
fährlichen Pic de la Trombe zu besteigen, und wenn er Zeit
hat, nach Chavanis hinaufzugehen und über la Suffe und
Taverona zurückzukehren.
Wer dagegen direkt mit der Gletscherwelt in Berührung
kommen will, pilgere ins Valnontey hinauf zum Chalet du
Money oder zum Col de Lauzon zwischen Grivola und Grand
Paradis, oder ins Valeille oder Bardonnay. Höchst inter-
essant, aber weniger aussichtsreich ist ein Ausflug ins Val
de Grauson.
Zu allen Tagestouren ist es nöthig, sich mit Proviant
zu versehen, weil unterwegs nirgends etwas zu bekommen ist,
als vielleicht zu guter Stunde in einem Chalet etwas Milch.
Eigentliche Führer giebt es in Cogne nicht; indeß besorgt
die Wirthin gern sür wenige Francs irgend jemand zum
Tragen des Proviants, allenfalls auch, falls der Weg dies
überhaupt gestattet (z. B. nach Chavanis, Aosta), ein Maul-
thier zum Reiten. Man verlasse sich übrigens bei mibe-
kannteren Partien nicht allzusehr auf solch einen Führer,
wenn er nicht ganz bestimmt erklärt, den Weg genau zu ken-
nen; man macht oft böse Ersahrungen damit und steht sich
de Cogne in Piemont.
meist bei einer guten Karte ebensogut. Für den Pic de la
Trombe weude man sich wegen Besorgung eines kuudigen
Burschen an den sehr gefälligen Abbs Carrel, der in den
oberen Regionen sehr zu Hause ist und außerdem manchen
guteu Rath ertheilen kann *).
Um den Pic de la Trombe zu erreichen (etwa vier Stnn-
den bis hinauf), geht man nach Epinel hinab, biegt bei den
ersten Häusern des Dorfes rechts ab, windet sich durch einige
Gassen und zwischen Gärten hindurch und gelangt, nachdem
man einen steilen Abhang zur Rechten hinaufgeklettert ist,
in einem Bogen an den nördlich von Epinel liegenden, stei-
len, mit Fichten bewachsenen Hang, an dessen Fuße ein zwi-
schen Hecken befindlicher Quell zum stärkenden Trünke ladet.
Nun beginnt das Steigen an dem abschüssigen Berge hin-
auf; es folgt eiue zu umgehende Schlucht, anderen jenseitiger
Wand ein loses Geröll das Klettern erschwert, worauf es
über grüne Matten zu einem einsamen, verfallenen und meist
verlassenen Chalet (Tavalion) geht, bei welchem ein dünner
Röhrenstrang ein freilich nur aui Morgen genießbares Was-
ser liefert. Man befindet sich hier unmittelbar über dem
Pont de Laval und hat bereits einen köstlichen Blick auf die
gerade gegenüberliegende Grivola und den von ihr sich herab-
ziehenden Glacier de Nemenon, welcher durch eine kolossale
Moräne gleichsam in seinem Sturze aufgehalten wird. Hin-
ter dem links vom Gletscher sich befindlichen Contrefort, das
auch la Petite Grivola genannt wird, liegt der Glacier du
Trajo (Stragio). In der Tiefe zu unseren Füßen braust
in dunkeler Schlucht die Granteivie, rechts tauchen die Hüt-
ten von Vieyes ans, zur Linken, über Epinel und Cretaz,
leuchten die hellen Häuser von Cogne. Nachdem man aber-
mals eine Schlucht umgangen hat, erreicht man über eine
mit Felsblöcken bedeckte Mulde eiu Plateau, von welchem
ein schwer zu findender Zickzackpfad direkt auf die Höhe zur
Rechten führt, worauf man, eine Zeitlang ziemlich eben fort-
fchreitend, bald die Einsattelung, den Col du Drinc, vor sich
liegen sieht, der in kurzem Anlauf gewonnen wird. Den
Kamm überschreitend eröffnet sich mit einem Schlage ein
überraschender Blick in das Thal von Aosta und auf die
Walliser Alpen, wie er schöner kaum gedacht werden kann.
Nim gilt es die nordwestlich etwa noch x/2 Stunde entfernte
felsige Kuppe zu erreichen, welche man gewinnt, indem man
an der linken Seite des Felsengrats emporklimmt, eine Zeit-
lang auf dem Kamme selbst hinschreitet, dann dicht vor der
höchsten Spitze an der Nordseite hinab- und über Geröll
und Grashalden endlich wieder emporklettert. Die sanft
gewölbte Kuppe, welche nach allen Seiten einen freien Ruud-
blick gewährt und auf der Generalstabskarte als Pointe du
Driuc bezeichnet ist, hat von dem Abbe Carrel den charakte-
ristischen Namen Pic de la Trombe von den zahlreichen daselbst
beobachteten Windhosen oder Tromben erhalten, die interessant
genug sind, um die Aufmerksamkeit der Reifenden in hohem
Grade zu fesseln. Während ringum sich kein Lüftchen regt,
hört man plötzlich ein eigentümliches Sausen, welches aus
dem nach dem Cognerthale zu liegenden zerklüfteten Gestein
zu kommen scheint. Neugierig blickt man sich um und gewahrt
mit einem Male eine kleine einige Fuß hohe Wiudhose,
welche langsam über das Plateau hinschreitend alle kleineren
Gegenstände, die in ihrem Bereiche liegen, erfaßt und in
raschem Wirbel hoch in die Luft führt, bis sie jenseits des
Plateaurandes wieder verschwindet. Vielleicht verdanken diese
Tromben der aus dem kalten Thale der Granteivie in das
warme Thal von Aosta herüberwehenden Luft ihren Ursprung.
Während wir Gelegenheit hatten, in einer halben Stunde
wohl an sechs derselben zu gewahren, sind sie nach Carrel's
i) Derselbe hält in Cogne eine meteorologische Station.
W. Bertram: Das T
Aussage an anderen Punkten des Höhenzuges noch nicht
beobachtet. Der Pic de la Trombe (2660 in) zählt ent-
schieden zu den schönsten Aussichtspunkten der Alpen und
würde unvergleichlich genannt werden müssen, wenn ihm
nicht die Zierden des Nigi und Generoso, die Seen,
mangelten. Man übersieht mit einem Blicke das Thal von
Cogne bis zum Col de Feustre hinauf, die ganze Grand-Pa-
radis-Gruppe, denRuytor, den Montblanc und die Walliser
Alpen bis zum Monte Rosa hin und davor das sonnige
Thal von Aosta bis zu seiner untern Biegung bei Chatillon.
Den Glanzpunkt bildet die mächtig aus dunkelem Thalgrunde
sich zum Himmel emporthürmende Grivola mit ihrem
Prachtvollen, reinweißen Schneegrat und der in seiner gan-
zen Riesengestalt in blendendem Glänze daliegende Mont-
blanc, während auf den Walliser Alpen es besonders der
Mont Velan, Mont Combin, das Matterhorn und der
Mont Rosa sind, welche unsere Blicke fesseln. Das dustige
Thal der Dom, in welchem wir St. Pierre und Aosta uu-
mittelbar zu unseren Füßen erblicken, und in welches man
in fünf Stunden über Gressan hinabsteigen kann, findet im
Osten einen großartigen Abschluß durch die in größter Nähe
liegende Becca di Nona und die grotesken Kuppen des Mont
Emilius und Pic Garin, welche durch grüne mit einzelnen
Schneehalden bedeckte Matten von uns getrennt sind.
Eine überaus lohnende, wenn auch etwas anstrengende
Tagestour, auf der sich uns ein prachtvoller, höchst instruk-
tiver Blick auf die ganze Grand-Paradis -Kette erschließt,
ist eine Exkursion in das obere Ballon d'Urtier mit dem
Rückwege über das Chalet Taverona. Man geht an der
Granteivie hinauf, indem man dicht hinter Cogne den nach
Molina führenden Weg links liegen läßt, und tritt bei Champ-
long auf das rechte Ufer bis Lilaz, wo die Wege sich theileu.
Ehe man den Felseupsad zur Linken ersteigt, versäume man
nicht, noch etwa eine Viertelstunde weiter im Flußthale auf-
wärts zu gehen, um den schönen Wasserfall der Granteivie
zu beobachten, die dort aus der zweiten Thalstufe sich brau-
send herabstürzt. Rüstige Fußgänger brauchen nicht ganz
wieder zurückzugehen, sondern suchen halbwegs sich einen Weg
nach dem sich den Felsen hinaufwindenden Zickzackwege zu
bahnen. Aus der Höhe (la Balme) hat man einen Pracht-
vollen Einblick in das Valnontey mit seinen ziemlich hoch
hängenden Gletschern, welche links von der Pointe de Lavina,
rechts durch den nun in seiner ganzen Majestät sich prüfen-
tirenden Grand Tour de St. Pierre gekrönt werden. Nach
N.-W., in der Richtung nach Cogne zu, füllt der schimmernde
Montblanc den ganzen Thalspalt aus, uebeu uns in schwin-
delnder Tiefe rüstet sich die Granteivie zu ihrem großen
Salto mortale, während vor uns die ganze zweite Thalstufe
sich entfaltet, zur Linken eine steile Felsenwand, welche die
prächtigen Alpenweiden von Taverona bis Gneula stützt,
gerade vor uns neben den elenden Hütten von le CrZt die
Chapelle de Notre Dame du Neige au Erst und dahin-
ter, den Horizont begrenzend, das grüne Delta von Chava-
nis. Der Weg führt nun weiter durch Getreidefelder, an
einzelnen Hütten und an einem schönen Quell vorbei, erst
mäßig, dann immer schärfer ansteigend, zur Kapelle, von wo
ab er in dem nun enger werdenden Thale eine tüchtige halbe
Stunde lang hoch an dem Felsen zur Linken hinführt, bis
er sich über dein Einfluß des Paradza in die Granteivie
eine Zeitlang nördlich wendet und, durch schöne Alpenwiesen
aufwärts leitend, in einem großen Bogen die rechts auf den
Höhen am linken Ufer des Paradza liegenden Chalets von
Chavanis erreicht (3^2 Stunden von Cogne). Wenn man
von hier aus noch ein halbes Stündchen weiter östlich bis zum
Chalet le Brouillot geht, so hat man ziemlich den höchsten
Punkt in der Mitte des großen Amphitheaters erreicht uud
Globus XXXVIII. Nr. 4.
; de Cogne in Piemont. 57
wird sich leicht orientiren können. Gegen Norden hat man den
Kamm, hinter welchem das Val de Granson liegt und an
welchem, von links nach rechts, die Chalets von Gueula, in
der Tiefe, links von dem kleinen oft ausgetrockneten See,
Pianas, etwas rechts darüber Jvergnenx, und znletzt über
den dicht vor uns auftauchenden Hütten von la Manda die
von Ponton am Fuße der Tersiva liegen. Bei Jvergneux
sieht man den Psad sich den Hang hinaufschlängeln, welcher
über den Grat in das Val de Granson führt. Im Osten
fallen sofort der Tour de Ponton und rechts davon die Becca
Costasse ins Auge, zwischen denen der Col du Fenßtre liegt.
Im Vordergrunde sieht man das Chalet du Paradza. Der
Südhang wird links vom Col du Paradza, rechts von der
Lavina abgeschlossen, und stellt eine öde Halde mit Gletschern
und ungeheuren Geröllhalden dar. Im S.-W. erheben sich
die übrigen schimmernden Schneegipsel der Paradis - Kette.
Um nun über das bereits erwähnte Taverona zurückzukehren,
steigt man zu den Hütten von Pianas hinunter und den
jenseitigen Hang hinauf, bis man anf einen sogenannten
Weg stößt, welcher westlich nach Gueula führt. Man hüte
sich jedoch, irgend einen der links sich abzweigenden Pfade
einzuschlagen, indem dieselben zu unübersteigbaren Schluchten
führen, sondern halte sich stets auf dem höchstliegeuden Wege,
der in großen, durch die an dem Felsengrat sich zur Gran-
teivie herabziehenden Schluchten bedingten Bogen nach den
Chalets von la Süsse und endlich nach dem von Taverona
führt, welches etwa oberhalb Lilaz liegt. Der ganze Weg
über die schönen Alpweiden, auf denen man großen Vieh-
Herden begegnet, ist unbeschreiblich schön, weil man beständig
in der höchsten Vollständigkeit die sämmtlichen Gipfel der
Grand-Paradis-Kette bis zur Grivola vor sich hat, und durch-
aus nicht beschwerlich. Anstrengend, besonders nach langer
Wanderung, ist dagegen der Abstieg nach Cogne. Bald
hinter Taverona scheint sich der Weg zu verlieren; bei eini-
ger Aufmerksamkeit wird man jedoch den sich den Abhang
hinabziehenden Pfad, welcher sich bald mit dem von der
Eisengrube Licone kommenden Wege vereinigt, gewahr wer-
den, der uuu steil in großem Zickzack und größtenteils auf
lofem Geröll sich ins Thal von Cogne hinabwindet und
schließlich zur Seite eines meist trockenen Gießbaches in fast
schnurgerader Linie anf die Brücke zwischen Champlong
und Molina ausmündet.
Um das Val de Grauson zu erreichen, geht man über
den Pont de la Tine, läßt, wenn man nicht zuvor dem
schönen Wasserfalle des Grauson dicht hinter Molina einen
Besuch machen will, den Weiler rechts liegen und steigt
zwischen Getreidefeldern und Mauern den Weg nach Gimil-
lan hinauf, bis ein Weg nach einer rechts sich zeigenden
Kapelle abbiegt. Denselben verfolgt man zwischen Wiesen
hindurch immer zur Linken des in der Tiefe brausenden Grau-
son. Sobald aber die Wiesen aufhören, muß man, statt
rechts zum Flusse hinabzusteigen, auf einem Zickzackpfade den
Berg zur Linken hinaufklettern, den eine kleine Kapelle krönt,
um so die euge Felsenschlucht des Grauson zu umgehen.
Nachdem man eine Biegung des Weges erreicht hat, wird der
schöne Rückblick in das Thal von Cogne abgeschlossen und
man sieht vor sich in einen tiefen Kessel mit einigen Wiesen
und elenden schwarzen Hütten, in welchem links von dem
Chalet Pilaz (oder Pila) ein schöner Wasserfall das Auge
fesselt. Nach kurzer Zeit wird der Gießbach überschritten
und man wendet sich durch die Wiesen dem schroffen Felsen
zur Rechten des Wasserfalls zu, dessen Höhe durch eine ein-
gehauene Treppe erreicht wird. Jenseits desselben beginnt
ein enges Defil«, in welchem der Weg oft steil aufwärts führt
und an dessen Ende endlich der kesselförmige obere Theil des
Thals sich öffnet, dessen größtes Chalet das am Fuße des
3
58 W. Bertram: Das Z
Tour de ©raufOtt liegende Chalet du Grauson ist und in
welchem man sich nach der oben gegebenen Beschreibung
leicht zurecht finden wird.
Die drei südlichen Thäler werden für den das meiste
Interesse haben, welcher direkt mit den prächtigen in diesel-
ben sich hinabziehenden Gletschern in Berührung zu konimen
wünscht und ein Freund wilder Hochgebirgsscenerie ist. Sie
sind leicht und ziemlich bequem zugänglich, während die aus
denselben nach Süden führenden Pässe nur mit großen Be-
schwerden und unter Leitung eines kundigen Führers zu be-
gehen sind. Der am häufigsten benutzte ist der königliche
Jagdweg über den Col de Lanzon, der von Valnontey aus
in großem Zickzack die Felswaud hinauf, dann mäßig an-
steigend endlich in das Valsavaranche hinüberführt. Um den
Grand-Cron- und Money-Gletscher in der Nähe zu sehen,
innß man von Valmiaua int obern Valnontey nach den Cha-
lets du Money hinaufsteigen oder gegenüber zu den Hütten
von Herbettet emporklimmen.
Alle drei Thäler, wie überhaupt der ganze südliche Hö-
henzug, beherbergen noch eine ziemliche Zahl des im übrigen
Europa so ziemlich ausgerotteten Steinbocks, zu dessen Jagd
der vormalige König Victor Emmanuel fast alljährlich nach
Cogne oder nach Ceresole in Val d'Orca (südlich vom Grand
Paradis) zu gehen pflegte. Die noch vorhandenen fogenann-
ten königlichen Jagdwege, die aber seit des Königs Tode
mehr und mehr in Verfall gerathen, und die von demselben
an mehreren Orten ausdrücklich zum Schutz des Steinbocks
angestellten Wildhüter zeugen noch heute von dem lebhaften
Interesse, welches der Re galantuomo einst für dies edle
Wild hegte. Auf die Tödtuug eines Steinbocks von der
Hand Unberufener, selbst der Wildhüter, war eine hohe Strafe
gefetzt, und hatte der muthige Schütz nach Tuckett's Bericht
nicht nur 600 Francs zu erlegen, sondern außerdem neun
Jahr Galeeren zu erwarten. Uebrigens müssen vor noch
nicht langer Zeit auch hier die Steinböcke noch häusiger ge-
wesen sein, denn man hat verschiedentlich mit Erfolg gekrönte
Versuche gemacht, sich der Jungen zu bemächtigen und in
zoologische Gärten überzuführen. Letzteres ist jedoch meines
Wissens nicht gelungen; der letzte Transport gelangte nur
bis Chamouuy, wo fämmtliche Thiere starben. Der Reifende
darf übrigens von Glück sagen, wenn er einen lebenden
Steinbock zu sehen bekommt; Tuckett ist auf seinen vielen
Wanderungen nur einige Male diesem interessanten Thiere
begegnet.
Ist nun das Thal von Cogne jedem Reisenden, der ein
Freund großartiger Sceuerie ist, angelegentlichst zu empfeh-
len, fo bietet es besonders dem Botaniker eine reiche Fülle
schöner und seltener Pflanzen, deren er anderswo nur höchst
einzeln oder nur mit großer Mühe habhaft werden kann,
ja einzelne Pflanzen, wie das Aethionema Thomasii Gay,
sind bis jetzt bloß hier gefunden worden. Schon auf dem
Wege nach Cogne begegnet er einer Anzahl seltener Sachen,
wie Galium rubrum, Echinospermum deflexum, Sisym-
brium strictissimum (vor Vieyes), Achillea tomentosa,
Alsine Jacquini, Geranium lividum, Astragalus alope-
curoides (zwischen Epinel und Cretaz), Campanula spicata,
Linnaea borealis, Digitalis media, Ajuga Chamaepitys,
Nepeta Nepeiella, Festuca flavescens Bell, (bei Vieyes).
Eine außerordentlich reiche Ausbeute liefert das Fluß-
bett der Grauteivie, in dessen Gries sich eine Menge Hoch-
gebirgspflanzen angesiedelt haben. Man thut jedoch wohl,
dasselbe vor Mittag zu besuchen, ehe die Gletscherwasser die
interessantesten Stellen unzugänglich gemacht haben. Hier,
besonders bei Epinel und vor dem Eingange ins Valnontey,
finden sich unter vielen anderen Sachen Astragalus arista-
tus und exscapus, Artemisia Mutellina und glacialis,
l de Cogne in Piemont.
Acbillea herba rota, Asperula longiflora, Epilobixxm
Fleischen, Juncus alpinus, Trifolium saxatile und cae-
spitosum, Equisetum variegatum; im Gries bei Lilaz:
Herniaria alpina, Hieracium pilosissimum Koch, Pele-
terianum und farinaceum, Poa nemoralis glauca. Ein
Hügel bei Cretaz beherbergt Armeria plantaginea, An-
drosace septentrionalis und dwerfe Rosa; auf dem Pro
St. Ours steht Rumex arifolius (dicht beim Gasthose),
Colchicum alpinum, Bulbocodium vernum, Rosa mon-
tana, graveolens, pimpinellifolia, coriifolia und ein-
namomea. Att den Felsen rechts am Eingänge ins Val-
noutey wächst Sempervirum Wulfeni, Peucedanum Oreo-
selinum, Hieracium pallescens und amplexicaule, gegen-
über auf Feifett das prachtvolle Hieracium lanatum, wei-
ter aufwärts auf einer Wiefe Phyteuma Halleri, Carex
a'terrima, Juncus Jacquini; am rechten Ufer Pinguicula
grandiflora, Thalictrum foetidum, Alsine recurva, se-
tacea und laricifolia, Sagina saxatilis, Silene Vallesia,
Astragalus leontinus, Epilobium Fleischeri und colli-
num, Bupleurum stellatum, Gentiana lutea. An den
Abhängen über Cogne nach Silvenoire findet man Orchis
ustulata und unter den Fichten Linnaea borealis. Im
Valeille kommen vor z. B. Sinapis Cheiranthus, Cera-
stium glaciale, Phaca alpina, Gnaphalium Leontopodium,
Achillea herba rota, Gentiana tenella, obtusifolia und
nivalis, Pedicularis rostrata forma glabrata, Ajuga
pyramidalis, Salix Lapponum und Juncus filiformis.
Im untern Theile des Val de Grauson: Aethionema
Thomasii (auf Geröll hinter der Kapelle), Lotus villosus,
Oxytropis lapponica, Astragalus aristatus und monspes-
sulanus (linkes Ufer), Crepis grandiflora, Artemisia nana,
Podospermum laciniatum uttd calcitrapifolium (bei Mo-
liua am Wege), Pirola chlorantha, Linaria italica, Pedi-
cularis rostrata, Scutellaria alpina, Colchicum alpinum,
Carex frigida und Avena distichophylla. Die Strecke
zwischen Lilaz und dem Delta von Chavanis bietet Semper-
virum Wulfeni, Androsace septentrionalis, Hieracium
lanatum, villosum und villosissimum (20 Minuten Vor
der Kapelle), Aethionema Thomasii, Matthiola varia,
Helianthemum alpestre, Silene Vallesia, Potentilla
alpestris, Athamantha cretensis, Laserpitium hirsutum,
Artemisia glacialis, Campanula Allionii, Pedicularis
gyroflexa und tuberosa, Oxyria digyna, Elyna spicata,
Carex sempervirens und andere, Avena distichophylla.
Der größte Reichthum entfaltet sich auf dem Delta von Cha-
vanis bis nach le Bronillot hin, sowohl auf der Höhe, als
in dem Winkel zwischen Grauteivie und Paradza, wo man
unter vielen anderen Pflanzen findet: Ranunculus rutae-
folius und pyrenaeus, Hugueninia tanacetifolia, Thlaspi
alpinum, Viola pinnata, Saponaria lutea (massenhaft),
Lychnis alpina, Geranium aconitifolium, Phaca astra-
galina, Oxytropis Halleri, Alchemilla pentaphyllea,
Epilobium origanifolium und alpinum, Rhodiola rosea,
Hieracium glanduliferum, Leontodon pyrenaicus, Gna-
phalium norvegicum, Scorzonera austriaca, Centaurea
axillaris (?) und nervosa, Valeriana celtica (massenhaft),
Gentiana tenella, excisa, aestiva, brachyphylla und
nivalis, Pedicularis gyroflexa, cenisia, incarnata, Ar-
meria alpina, Primula pedemontana, Salix Arbuscula,
Lloydia serotina, Elyna spicata, Juncus trifidus, Jac-
quini und triglumis, Luzula lutea und flavescens, Carex
atrata, nigra, foetida, capillaris und andere, Agrostis
rupestris.
Auf den Matten von Gneula nach Taverona zu - Petro-
callis pyrenaica, Oxytropis foetida, Paronychia argen-
tea, Adenostyles alpina, Campanula Allionii, Betonica
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerur
hirsuta, Tofjeldia. capitata, Avena sempervirens und
Aetliionema Thomasii (beide im Geröll über Champlong).
Fast ebenso lohnend ist die Ausbeute eiuer Excnrsion nach
dem Pic de la Trombe; hier wachse» unter vielen anderen
Pflanzen, besonders um den Col du Driuc herum: Anemone
daldensis, Arahis coernlea, Draba Johannis, Erysimum
pumilum, Saponaria lutea, Arenaria biflora, Oxytropis
lapponica und cyanea, Sibbaldia, Geum montanum,
Herniaria alpina, Saxifraga cliapensoides, adscendens
uitb andere, Artemisia spicata, Erigeron uniflorus, Va-
leriana saliunca, Pedicularis rosea, Androsace carnea,
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya. 59
8alix reticnlata, retusa und herbacea, Luzula spicata
und lutea, Carex frigida, curvula, nigra, capillaris und
andere, Festuca violacea Gaud. uud pumila, Poa laxa,
Avena sempervirens. Außer den genannten Touren
würden dem Botaniker die Abhänge über Gimillan, der
obere Theil des Val du Grausou, die Matten über Valnon-
tey zum Col de Lanzon hinauf, und das linke User der
Granteivie der zweiten Thalstufe, vou les Pianes ius Bar-
donnay hinauf, vielleicht auch die Abhänge über Cretaz,
unterhalb der Chalets du Poucet, zu empfehlen sein.
Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
Mit einleitenden allgemeinen Bemerkungen. Voll Dr. Konrad Ganzenmüller»
Die größte Massenerhebung der Erdrinde im öst-
lichen Asien wird durch das erhabenste Gebirgssystem
d er Erd e begrenzt. Das majestätische N an d g e b ir g e
des Himalaya erstreckt sich im Norden von Vorder-Jndien
zuerst vou Osten nach Westen, dann von Südost nach Nord-
west und hat eine Länge von 2400 hin oder 320 geogra-
phischen Meilen, was der Entfernung von Cadiz bis Ham-
bürg gleichkommt. Wenden wir einen aufmerksamen Blick
auf die Flußläufe in demselben, so zeigt sich uns eine merk-
würdige Region, welche die Wasserscheide zwischen drei nach ver-
schiedenen Seiten gerichteten Stromsystemen nnd einen gewissen
Mittelpunkt bildet: es ist dies das Quellgebiet des
Indus (mit dem Setledsch), des Ganges und des Brah-
mapntra, und das Hochgebirge wird daher naturgemäßer-
weise in den östlichen und den nordwestlichen Hima-
laya geschieden.
Die zusammenhängende gewaltige Gebügs-
masse, welche von der bezeichneten Wasserscheide nach
Nordwesten sich hinzieht und den Indus im Nordosten
und im Westen, sowie den Setledsch, den Spitislnß,
den Tschinab und den Dschilnm im Südwesten zur
Grenze hat, kann als Centralzug des nordwestlichen
Himalaya bezeichnet werden^). Die durchschnittliche
Gipfelhöhe beträgt hier zuerst 6000 bis 6400, im weitem
Verlauf 4600 bis 4900 in, im äußersten Westen aber erhebt
sich unter 35" 14' nördlich, 74° 34' östlich Gr. der Nanga
Parbat oderDiyamir ans8115 in oder 26 692 engl.Fuß.
Die Paßhöhe betragt im Südosten etwa 5200 und senkt
sich weiterhin im Allgemeinen auf 4300 in. Die niedrigste
Stelle des ganzen mächtigen Gebirgszuges bildet der nordwärts
von Kaschmir unter 34^ 21' nördlich, 75° 30' östlich Gr.
gelegene 3463 m hohe Dras- oder Tsodschipaß, welchen
der 3674 in hohe Gipfel des Groß-Venedigers in den enro-
päischen Alpen nur um 211 in überragt2).
x) Der Karakorum wird am besten zu dem Himalaya-
fy stein gerechnet. Vergl. Marhham, Bogle and Manning pp.
XXIII, XL.
2) Vergl. Petermann, Indien und Jnnerasien
(nördliches Blatt) in Stielcr's Handatlas Nro.64, Gotha 1376.
(Auf dieser Karte finden sich die meisten der im Folgenden an-
gegebenen geographisch wichtigen Punkte.) Bergleiche ferner
Schlagintweit, Reisen in Indien und Hochasien III. Karte, und
Petermann, Mittheilungen XVII (1871), Tafel 20; XXI (1875),
Tafel 8. Mit größter Genauigkeit ist fast der ganze Nordwest-
liche Himalaya dargestellt auf der Drew's Werk über Dfchemu
Der Indus oder Sindhu entsteht aus drei Quell-
slüsseu. Von diesen entspringt der längste und Wasser-
reichste, der Singhi-tschu (Löwenstrom), der als Hanpt-
quellsluß zu betrachten ist, am Nordost- oder Ostabhang des
6700inhohen Kailas-Parbat (auch Tise-Pik genannt'),
fließt zuerst nördlich, hat bei dem Sommerdorf Dfchiat-
schan eine Meereshöhe von 4835 in und wendet sich spä-
ter nach Nordwesten und Westen. Oberhalb Taschig an g
vereinigt er sich mit dem von Südost kommenden Lang-
tschn und bald daraus mit dem aus derselben Gegend her-
fließenden Gartung-tfchn. Unterhalb jenes Ortes ist der
Laus des Indus zuerst in einem weiten Thale, dann in einer
engen Schlucht zwischen Bergketten hin gegen Nordwesten
gerichtet. Unter 33° nördlich, 79° 15' östlich Gr. nimmt
er den von Süden kommenden Koynl auf. Bei Dora
wird sein Thal bis 3 hin breit. Eine kleine Strecke west-
wärts vom 79. Grade östl. Gr. wendet er sich nach Süd-
Westen und durchbricht eine Granitkette, welche sich weiter
nach West ans der rechten Seite des Flusses Hinzieht. Be-
vor derselbe sich wieder west- und nordwestwärts wendet, er-
gießt sich in ihn der Hanle. Bald darauf bildet das
Thal eine Ebene bis zu einer Breite von _6V2 hin. Das
Wasser hat einen langsamen Lauf und breitet sich zuweilen
1 hm weit aus. Weiter abwärts treten die Berge wieder
näher heran. Dann mündet der von Südwest kommende
Nidar- und später, gegenüber von Maya, der Pngha-
slnß. Bei Upschi, wo der Gyasluß auf der linken
Seite sich mit dem Indus vereinigt, wird das Thal wieder
breiter, bis es in der Gegend um Le, der Hauptstadt von
L adak, eine Ausdehnung von 9 hm erreicht. Der Indus hat
hier eine Meereshöhe von 3200 m. Im Ansang des Juli
1856 fand ihn Schlagintweit 22 m breit und in der Mitte
2,76 in tief. Vou den begrenzenden Felsen am linken
Thalrande bis zum Niveau des Flusses ist eine breite, sanft
abfallende Fläche, welche gut bewässert werden kann und
mit zahlreichen Dörfern und wohlbebauteu Felderu bedeckt ist.
Weiter nordwestwärts, nachdem die Berge wieder nahe an
und Kaschmir beigegebenen Karte: The Territories of the
Maharadja of Jummoo and Kashmir. With Portions of
the adjoinkig countries. Compiled chiefly from the Maps
of the Great Trigonometrical Survey of India. London 1876.
A) Nicht weiter im Osten, wie auf Nro. 64 in Stielcr's
Handatlas angegeben. Vergl. Petermann, Mitteilungen XVII
(1871), Tafel 20.
60 Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerm
den Indus herangetreten sind, wird derselbe nicht unbedeutend
durch den T.sanskhar verstärkt. Dessen Gebiet besteht aus
zwei Hochthälern, dem Tscharapa- (im Südosten) und dem
Pentse-Thal (im Nordwesten), welche beide in einer Linie
liegen, aber entgegengesetztes Gefälle haben und in das weite
nun entleerte Seebecken einmünden, in dem die Hauptstadt
Paduu gelegen ist. Der vereinigte Fluß nimmt nordnord-
östliche Richtung an und sein Thal wird bald so schmal,
daß man nur zur Winterszeit, wenn er gefroren ist, auf
dem Eise durch dasselbe nach dem Indus und nach Le ge-
langen kann. Auch das Judusthal ist weiter nach Nord-
westen fast immer sehr enge und bildet vielfach einen tief
eingeschnittenen Felsenkanal, der unten nicht mehr als 20 m
breit ist. Auf der linken Seite erheben sich die Felswände
steil bis 600 m, die Berggipfel sind etwa 2000 m über dem
Fluß oder 5000 m über dem Meere erhaben. Der be-
schwerliche Verkehrsweg führt zum Theil über die Berg-
rücken hin. Es kommt hier von Süden der Wanla-, dann
bei Atschinathang der Kandschi- und bei Maral der
nicht unbedeutende Suru-Fluß. Der letztere hat seine Quelle
nicht sern von der des Penise und nimmt unweit Kargil
den von Nordwesten von dem Deosaiplatean kommenden
Schigar mit dem Dras-Fluß auf. Zwischen Kartak-
scho und Skardo wird der Indus in einer Meereshöhe
von 2333 m auf der rechten Seite sehr bedeutend durch
den Schayok verstärkt. Erst um Skardo, der Haupt-
stadt von Balti, erweitert sich das Jndusthal wieder und
bildet eine Ebene von 32 km Länge und 1 bis 8 km
Breite. Unterhalb derselben wird der Strom abermals von
Bergen eingeengt und jenseits Rondn wird er so wild, daß
die Straße sein ödes fast ganz unbewohntes Thal verläßt und
seitwärts über die Höhen führt. Bei Haramofch erreicht
er feinen nördlichsten Punkt, durchbricht dann das Gebirge
und wendet sich nach Süden. Hier nimmt er auf der rech-
ten Seite den von Nordwest kommenden Gilgit und weiter-
hin auf der linken den von Südost herfließenden Astor auf.
Darnach verfolgt er eine Zeitlang westliche und dann weit-
hin durch wenig bekanntes Land im Allgemeinen südsüd-
westliche Richtung.
Im Süden von dem Kailas Parbat liegen 4650 m
über dem Meer die beiden heiligen Seen: der von Nor-
den nach Süden 24 km lange und von Osten nach We-
sten 17 km breite Mansarowar oder Mapang-tso
und westlich von diesem der wohl doppelt so große tiefblaue
Rakus-tal, welche als Quellbecken des Setledsch be-
trachtet werden. Dieser hat westnordwestliche Richtung,
nimmt unter anderen den von Norden kommenden Fluß
von Tschemerti auf und wendet sich unterhalb Schipki
nach Südwesten, das Gebirge in wildem Lause durch-
brechend. Er wird hier durch den Spiti verstärkt, wel-
cher aus dem Laro-tschu und dem Todi-tschn entsteht
und gegenüber von Schalkhar den Parang-Fluß auf-
nimmt. Der Spiti setzt die allgemeine Thalrichtung nach
Nordwest hin weiter fort. Von ihm führt der 4450 m hohe
Kuuzum- oder Kulzumpaß hinüber in das nächste
Längenthal, in das des Tschinab. Von dessen zwei Quell-
slüssen entspringt der Tschandrabhaga (Mondesgabe) am
Südostabhang des Baralatschapasses, nimmt zuerst
auf eine Strecke von 38 km südöstliche, dann südliche Rich-
tung, wendet sich aber plötzlich nach Westen und Nord-
westen, und vereinigtsich mit dem Snryabhaga (Gabe der
Sonne), fließt als Tschinab nach Nordwesten meist in
einem tiefen Felsenkanal und empfängt verschiedene Sturz-
bäche aus den Bergen und den Gletschern. Bei Atholi erwei-
tert sich das Thal im Norden zu einer sandigen Fläche.
Der Fluß hat hier eine Meereshöhe von 1939 m und
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
nimmt den von Norden kommenden Bhutna, sowie später,
etwas oberhalb Kischtwar, den Marn Wardwan auf.
Die Länge von der Quelle bis hierher beträgt etwa 520 km,
das Gefälle 3500 m. Dann wendet sich der Fluß nach
Süden, Westen und Südwesten. DieQuelle des Dschilum
liegt unter 35" 30' nördlich, 75° 21' östlich Gr. bei Ver-
nag; er fließt in nordwestlicher Richtung und in langsamem
Laufe durch das „herrliche Hochthal von Kaschmir"
und au dem Wnllersee vorbei. 23 km unterhalb dessel-
ben wird der Charakter des Flusses, mit dem sich bis dahin
alle Wasser von Kaschmir vereinigt haben, und der dort eine
Breite von 123 m hat, plötzlich ein anderer. Er stürzt,
das Gebirge durchbrechend, über Felsen in wildem, raschem
Laufe dahin, und ist zur Schifffahrt nicht mehr wie frü-
her tauglich; er verfolgt zuerst westsüdwestliche, dann West-
liche und zuletzt nordwestliche Richtung bis in die Gegend
von Mose ff er ab ad, unweit welcher Stadt er den von
Nordosten kommenden Kischenganga aufnimmt, worauf
der Dschilum sich endlich nach Süden wendet.
Nach Uebersteignng der von den heiligen Seen südwärts
gelegenen Himalayaregionen bietet sich auf einmal ein an-
deres Land den Blicken dar, denn es beginnen nun die Hoch-
flächen. Ungeachtet der bedeutenden Höhe dieser Gegend
ist die topographische Gestaltung jedoch keineswegs die einer
vollkommenen Ebene, da in nicht geringer Entfernung von
hier nach allen Richtungen hin Kämme und Berge 200
bis 300 m hoch dieselbe überragen. An den Kailas,
welcher nach den Vorstellungen der Inder als Götterberg
Meru den Mittelpunkt der Welt bildet, schließt sich im Nord-
westen der Tise Gangri an. Am höchsten wird derselbe in
dem Gebirgsrücken, der sich im Südwesten des Gartnng-tschu
hinzieht — so erreicht der Tschiblen-Pik unter 31°29'
nördlich, 80° 10' östl. v. Gr. 6250 m — und wird mei-
stens auf dem 5353 m hohen Tfchako-la überschritten.
Die ganze Gegend von 31 bis 33° nördlich und 79^/z bis
811/2° östl. v. Gr. bleibt fast durchweg auf einer Höhe
von 4000 m 1). Von der Wendung des Setledsch bei
Schipki zieht nach Norden der Porgyalkamm mit dem
6700m hohenPorgyalgipsel. Nicht weit davon beginnt
ein außerordentlich gewaltiger (im Einzelnen wieder sehr
mannigfach gegliederter) zusammenhängender Gebirgszug,
der im Allgemeinen weithin Nordwest-Richtung beibehält,
zu dem Großartigsten gehört, was der Himalaya überhaupt
bietet, und die Wasserscheide bildet zwischen dem Indus im
Norden einerseits und dem obern Setledsch, Tschinab uud
Dschilum andererseits. Im Südosten liegt zunächst unter
32° 22' nördl., 78° 28' östl. v. Gr. der 7 612 m hohe G y a - P i k,
westlich von diesem der 7534 m hohe Paranggipfel.
Hier führt ein Weg vom Setledsch das Spitithal auswärts
über den 5639m hohen Parangpaß nach dem 4540 m^)
hoch gelegenen 24 km langen, 6 bis 8 km breiten Berg-
fee Tfo Moriri und nach dem Jndusthal. Die güu-
stigste Uebergangsstelle in diesem Theil des Hochgebirges
bildet der weiter nordwestlich unter 32° 43' nördl., 77° 21'
östl. Gr. liegende 4330 m hohe Baralatschapaß, auf
dem sich die Wege nach Spiti (im Südosten), nach Ladak
(im Norden) und nach Lahol (im Süden) krenzen. Nord-
westlich von dem Paß beginnt eine Reihe von ungeheuer
mächtigen Gletschern und Schneefeldern. Der
Hauptkamm des Gebirges zieht längs desTfanskhar- und
Pentfethales hin, er sendet aber verschiedene Seitenrücken
aus, welche ebenfalls zum Theil mit Schnee bedeckt und
DerEiger in den Berner Alpen ist3975m, das Schreck-
Horn 4080 m hoch.
2) Die Mischab elhörner erreichen eine Höhe von 4554 m.
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerm
durch größere oder kleinere tief eingeschnittene Qnerthäler ge-
schieden sind. Besonders weit ausgedehnt und mächtig ist der
eiueStrecke nordwestlich von dem Umasi oder Bhar-dar-
Paß liegende Dnrang-Drang-Gletscher, und weiter-
hin, südostwärts von Snrn, erreichen die beiden Nnn-Knn-
Piks die Höhe von 7054 m; dann senkt sich das Gebirge
allmälig zu dem schon genannten Dras- oder Tsodschi-
Paß, welcher eine verhältnißmäßig bequeme und einen großen
Theil des Jahres zu passirende Uebergangsstelle von Kasch-
mir nach Balti darbietet, erhebt sich aber südwärts vom Ki-
schengauga zu dem 5125 m hohen Haramnk-Pik und
steigt zwischen dem Kischenganga- und Astorgebiet immer
höher und höher an, bis es in der ebenfalls schon erwähn-
ten, aus kolossalen Felsenmassen bestehenden Berggruppe
des Nauga Parbat eine Gipfelhöhe von über 8000 in
erreicht, und auf 16 km Länge auch nicht ein Punkt unter
6000 m liegt.
Alles Land zwischen dem obern Indus bis Koynl und
dem obern Setledsch bis Schipki gehört zu der tibetischen
Provinz Gnari KHörsum. Hier liegt unter Anderem
auf der rechten Seite des Singhi-tschu in einiger Entfer-
nuug von demselben, nördlich von dem Sommerdorfe Dschiat-
schan, das Hirtenlager Giatscharnsf in einer Höhe von
4794 m1) und am Gartnng-tschu unter 31° 44' nördlich,
80" 23' östl.v. Gr., 4343 in über dem Meer 2) die Handels-
stadt Gartok, in welcher im August und September eine
große Messe abgehalten wird. Von der Westgrenze Tibets
an umfaßt das Land zu beiden Seite des Jndnsthales die
dem Maharadscha von Dschenin und Kaschmir:
Nambir Singh 3) gehörenden Gouvernements von Ladak,
Balti und Gilgit. Ruptschu, zunächst im Westen von
Gnari Khorsum liegend, ist eine Provinz von Ladak. Die niedrig-
sten Gründe haben eine Meereshöhe von 4100 bis 4500, die
Berge eine solche von 6000 bis 6400 in. In dem ganzen
Lande, welches etwa 183 geographische Quadratmeilen groß
ist, sind vielleicht 500 Bewohner. Dieselben leben in Zelten,
deren Gesammtzahl etwa 100 beträgt (ein Zelt für jede Fa-
milie). Diese Zelte sind von Zeug aus Aaks- oder Ziegenhaaren
und ungefähr 4 in lang, 3 in breit und 2 in hoch; sie sind
mit kleinen Flaggen aus Mksschweiseu verziert. Der wich-
tigste Ort ist das unter 32° 48' nördlich, 78° 56' östl.v. Gr.,
4351 in hoch gelegene und von 20 Lamas bewohnte Klo-
ster Haule, welches als der „Große St. Bernhard"*) des
Himalayabezeichnet werden kann. Unter Ladak versteht man
alles Land zu beiden Seiten des Indus von Upschi (28 km
oberhalb Le) auf eine Länge von 160 km bis an die Grenze
von Balti. Es umfaßt 186 geographische Quadratmeileu.
Die Bevölkeruug beträgt nach einer auf Befehl des Maha-
radfcha von Deschemn und Kaschmir im Jahre 1873 ver-
anstalteten Zählung 20 621 Seelen (11106 männlichen,
9515 weiblichen Geschlechts). Die Hauptstadt ist Le, die-
selbe liegt unter 34° 9'nördlich, 77° 36'östl.v. Gr., 3515 in
über dein Meeres, ans der rechten Seite des Indus, 4km
von demselben entfernt, und 246 in über dem Spiegel des
Flusses; sie hat etwa 1000 Häuser (mit 3000 Einwohnern),
darunter ist ein Palast nnd ein bedeutender Bazar; denn
obgleich weder reich an Rohstoffen noch an Manufaktur-
waaren, ist Le doch der Sitz eines sehr belebten Transit-
Der Montblanc ist 4810 m hoch.
2) Das Finsteraarhorn 4275 m.
3) Sein Vorgänger hieß Gut ab Singh. Nach diesem ist
das „Reich" auf Petermann's starte (Indien und Jnner-Asien)
bezeichnet.
4) Das im Jahre 1762 gegründete Hospiz auf dem
Großen St. Bernhard liegt 2472 in über dem Meere.
5) Die Dreiherrenspitze ist 3505 m hoch.
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya. 61
Handels, zumal als das Emporium für Schalwolle oder
Paschmina zwischen Gartok und Kaschmir. Südlich vom
Indus liegt 4128 in über dem Meere *) das aus 40 Häu-
sern bestehende Dorf Gya an dem Flnsse gleichen Namens,
wo die Gebrüder Schlagintweit im Juni 1856 durch den
Anblick von blühenden Saaten überrascht wurden. Ts ans-
kh ar ist ein Distrikt, welcher sich von Ladak bis zur Wasser-
scheide auf den Centralzug des nordwestlichen Himalaya
erstreckt und fast genan mit dem Gebiet des gleichnamigen
Flusses zusammenfällt. Es stimmt ganz mit Ladak über-
ein sowohl durch den landwirtschaftlichen Charakter, als auch
durch Race, Sprache und Sitten der Bewohner, gehört
aber zu dem Gouvernement Udampur (weiter im Süden).
Die Größe beträgt 145 geographische Quadratmeilen. Die
Zahl der Bewohner ist gering. Dem Engländer Drew
wurden 43 Dörser bekannt, von denen jedes 10 bis 12
Häuser zählt; so mag die Summe aller Wohnungen 500
und die der Bevölkerung 2000 Seelen betragen. Der
Hauptort ist Padnn, 3461 m über dem Meere, am linken
User des Tsauskhar; es ist der Sitz eines Thanadars oder
Kreishanptmanns und einer Garnison. Das Land am
Indus westlich von Ladak wird Balti (oder auch von den
benachbarten Völkerstämmen nach persischer Weise B alt i st a n)
genannt. Es zerfällt in verschiedene Gebietsteile. Längs
des Indus liegt Kharmang oder Kartakscho, Skardo
und Roudu, südwärts von dem Stromthal (südlich von
Kartakscho): Kargil, südlich von diesem Kartse und
noch weiter südlich Suru; im Süden von Skardo das
Deosai-Platean und südostwärts Dras. Zu den auf-
fallendsten Eigentümlichkeiten von Balti gehören die steilen
hohen Felswände der Thäler und die Kahlheit der Abhänge.
DieThalsohlen der großen Flüsse liegen nur 2100 bis 2400 in
über dem Meere. Dras, Kargil, Suru und Skardo (zn-
sammen mit Tsanskhar) hatten bei der Zählung im Jahre
1873: 58000 Bewohner (29881 männlichen,28 119 weib-
lichen Geschlechts). Von Sandschak und Dah an der
Grenze von Balti gegen Ladak finden sich abwärts im In-
dns-Thale verschiedene kleine Ortschaften. Die Hauptstadt
Skardo liegt in einer Meereshöhe von 2267 m 2) auf der
linken Seite des Indus, 45 in über dem Flusse, unter
35° 20' nördl., 75° 44' östl. v. Gr. und besteht ans ver-
schiedenen Häusergruppen oder kleinen Flecken, welche über
die weite Fläche zerstreut sind. Sie war einst der Sitz des
Königs von Balti; mehrere Ruinen deuten auf frühern
Glanz. Die Verbindung mit der Hauptstadt von Ladak bleibt
den ganzen Winter offen. Unterhalb Rondn, welches auf der
linken Seite des Indus liegt, fließt der Strom zwischen
vertikal aufsteigenden Gneißselsen; an der schmälsten Stelle
ist er mit einer Seilbrücke überspannt, welche 113 m lang
ist. Kargil am Suru-Fluß besteht aus einer Vereint-
gung von verschiedenen kleinen Dörfern. Die Häuser von
Dras, 2994 in 3) über dein Meere, sind schlecht gebaut.
Eine Oessuuug in der Mitte des Daches dient als Kamin
und das Feuer wird in der Mitte des Wohnraumes ange-
zündet. Das 3650 bis 3950 in hoch gelegene Deosai-
Plateau ist gäuzlich nubewohnt. Westwärts von Balti liegt
Astor oder Hasora. Hier sind nur die Thäler des Astor-
Flusses und des Indus-Stromes bevölkert. Astor, ein Dorf
mit einem Fort, ist gegenwärtig die Hauptstation der „Gil-
git-Brigade", von welcher sich 1200 Mann daselbst befinden.
Südwärts von Ruptschu, gleichfalls an der Grenze von
1) Die Jungfrau 4167 m.
2) Der Julier-Paß, welcher von Bivio südostwärts ins
obere Engadin führt, ist 2287 m hoch.
3) Die Zugspitze 2960 m.
62 Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
Guar: Khorsum, ist das 100 geogr. Quadratmeilen große
Spiti. Dieses haben bei der Aufstellung von Gnlab Singh
als Herrscher von Dschenin und Kaschmir im Jahre 1846
die Engländer beansprucht; es war die erste ihrer Besitzun-
gen, welche von rein tibetischer Race bevölkert ist. Der
Hauptort ist Drangkhar, 3892 m Uber dem Meere am
rechten Ufer des Todi-tschu oder des Spiti-Flusses. Weiter
nach Westen liegt das Gebiet von Lahol; es umfaßt 87^
geogr. Quadratmeilen. Der östliche Theil steht unmittelbar
unter britischer Herrschaft und heißt daher auch Britisch-
Lahol, der westliche wird, wieTschamba mitPangi (und
noch andere Gebiete in jener Gegend), von einem einheimi-
schen kleinen Fürsten beherrscht, der aber den Engländern
tributpflichtig und ganz von demselben abhängig ist. In
Lahol findet man bedeutende Abnahme der Regenmenge und
den Uebergang zu dem trockeuen Klima von Ladak. Der
bedeutendste, iudeß nur aus einer geringen Anzahl von Häu-
sern bestehende Ort ist Kardong, 3120 in über dem Meer,
am linken Ufer des Snryabhaga nicht weit von dessen Ver-
einignng mit dem Tschandrabhaga (bei Tendi); es ist da-
selbst die nördlichste Missionsstation, in welcher sich eine
Zeitlang die drei deutschen Missionäre Jäschke, Heyde und
Pagel aufhielten. In Tschamba-Lahol liegt Triloknath
am linken, inPangi: Kilar am rechten Ufer des Tschinab.
Weiter abwärts an demselben Fluß liegt Padar mit
Atholi, westlich davon Kischtwar, nördlich von diesem
Wardwan und westwärts von diesen beiden am Dschi-
lnnt: Kaschmir mit der Hauptstadt Srinager.
Der nordwestliche Himalaya hat eine schmale
Achsenzone von Gneiß, welche zum Theil mit seinen
höchsten Erhebungen zusammenfällt. Silurische und
w a h r f ch e i n l i ch auch v o r s i l u r i s ch e Gebilde sind zu
beiden Seiten der Achsenzone in großer Mächtigkeit nnd
Ausdehnung, sowie in großer Mannigfaltigkeit der Gesteine
entwickelt. Von der devonischen Formation ist bisher
noch nichts vorgefunden worden. Die Steinkohlenfor-
mation und zwar mit Ausschluß von deren prodnk-
tivem Theile füllt weite innere Becken. Sie erlitt be-
trächtliche Znsammensaltnngen und in Folge dessen bedeu-
tende Zerstörung, ist daher jetzt spärlich verbreitet. Die
permischen Gebilde und die untere Trias fehlen.
Die Schichtgebilde der obern Trias und der rhä-
tischen Stufe sind innig vereinigt in ähnlicher Weise
entwickelt wie in den europäischen Alpen und nehmen große
Räume ein. In einigen Theilen, welche einer Erhebung
lange nicht unterlagen, sand eine regelmäßigeFortentwicke-
lnng der Sedimentsormationen statt; in den Jurabecken
von Spiti und Ruptschu reicht sie bis in die Kreideformation
hinein. Die Nnmmnlitenformation ist nur am
äußersten Südwestrand, entlang dem Abfall gegen die indische
Ebene und im Nordosten, entlang dem linken Ufer des In-
dns vom Hanle- bis zum Tsanskhar-Flnß entwickelt, in letz-
terer Gegend in Meereshöhen von 3300 bis 3600 m. Sie
erreicht hier eine Mächtigkeit von 1500 in und besteht zu-
meist aus rothen und grünen Schieserthonen, die mit Sand-
steinen und zuweilen mit losen Konglomeraten wechseln.
In Bezug auf die größere oder geringere Menge
a t m o s P h ä r i s ch e n N i e d e r s ch l a g s können wir im nord-
westlichen Himalaya überhaupt vier Regionen unterscheiden:
1. Die Region, in welcher Periodischer Regen fällt
(im Allgemeinen bis zu dem Centralzug sich erstreckend);
2. die Region, in welche der periodische Regen
nicht mehr hinreicht, wo aber noch Regen genug
fällt, um den Reisbau und das Wachsthnm der Sträucher
zu ermöglichen (Kaschmir und die Gebiete bis zur
Wasserscheide in dem Centralzug umfassend);
3. die Region, in welcher nur wenig Regen fällt
und Sträucher ohne künstliche Bewässerung nicht wachsen
(Theile von Balti und Astor einschließend); 4. die
regen arme Region (zu welcher Guari Khorsum,
fast ganz Ladak mit Ruptschu und der größte Theil von
Balti gehört). Das Klima von Tibet und Ladak
wird bedingt durch das Zusammenwirken der größten
Mittlern Erhebung der Erdrinde und der größten
Mittlern Trockenheit der Luft in der Breite von 28
bis 36v nördlich. Man kann im Himalaya für 260 m Er-
hebung eine Wärmeabnahme von 1"C. rechnen. In mittel-
hohen Lagen von Lafa in Tibet bis Le in Ladak kann
es vorkommen, daß ein ganzes Jahr hindurch der atmo-
sphärische Niederschlag kaum einen Zoll beträgt.
Die niedrigste Lage, in welcher Schneefall im Winter
im Himalaya beobachtet wurde, war 760 m über dem Meer.
Erst über 1500 m kommen häusiger Schneefälle vor, und
1800 in mag als die Grenze bezeichnet werden, wo regel-
mäßig im Winter Schnee fällt und wo derselbe eine Zeit-
lang liegen bleibt. Als die „Grenze des ewigen
Schnees" im Himalaya zuerst genau gemessen wnrde und
sich das Resultat ergab, daß dieselbe im Norden höher liege
als im Süden, entstanden Zweifel, bis das Gesetz gefunden
wurde, daß in den südlicher gelegenen Zügen die
Isotherme, welche mit der Schneelinie coincidirt,
einen höhern Temperaturgrad aufweist, als dies
weiter im Norden der Fall ist, und daß die Aus-
nähme und Unregelmäßigkeit nicht im Süden liegt,
weil zu nieder, sondern im Norden, weil zu hoch,
und daß hier die Urs ach e in der geringen Menge
des atmosphärischen Niederschlags zu suchen und
zu finden ist. Die Schneegrenze liegt auf der südlichen
(indischen) Seite des Hochgebirges von Bhutan bis Kafch-
mir — 27% bis 34V20 nördlich— mit einer Mitteltempe-
ratur von +- 0,6° C. bei 4950 m, auf der nördlichen (tibe-
tischen) Seite mit einer Mitteltemperatur von — 2,8° C.
bei 5675 m. Die Gletscher oder mehr „die h artg esro-
renen Schneebetten" reichen im Allgemeinen bis
3350 in herab *).. Fast alle zu dem Centralzug des nord-
westlichen Himalaya gehörenden Gebiete sind von einer solch
mächtigen Erhebung, daß nur in Balti Dörfer und in
Kaschmir Dörfer und Städte unter 1800 m oder
6000 engl. Fuß gesunden werden^). Der größte Theil
der Bewohner lebt auf Höhen zwischen 2750
bis 3 350 in 3), in Gnari Khorsum und Ruptschu im
Allgemeinen noch höher, wie z. B. das Kloster Hanle und
das Dors Gya das ganze Jahr hindurch, Norbu (am obern
Para, 4859 in), Kordzog (nicht weit vom Westufer des
Tso Moriri, 4676 in), Pugha (4651 in) im Sommer bewohnt
ist. Die Heerden werden im Himalaya in Tibet und Rupt-
schn bis auf Höhen von 4600 bis 4900 in hinaufgetrieben
und bleiben daselbst vom Juni bis znm September. Die Hirten
errichten kleine steinerne Wälle, hinter welchen sie sich gegen
die rauhen Winde schützen 4). In der Höhe von 5650 in
ist der Druck der Atmosphäre nur 5 0 Proc. oder
die Hälfte von dem Druck auf dem Meeresspiegel. Die
menschliche Natur gewöhnt sich indessen an diese Verminde-
rnng des Luftdrucks, wie an die Abnahme der Wärme. Das
Klima von Gnari Khorsum ist sehr kalt und sehr
1) Die extremste Schneegrenze in den Alpen unter 46y20
nördlich liegt mit einer Jahrestemperatur von — 4,4° C. an den
südlichen Abhängen bei 2800 vi, an der nördlichen bei 2770 m.
2) Der Rigi ist 1780 in hoch.
3) Der Watzinann 2740 m.
4) Die Viehweiden in den Alpen sind bis 2450 m,
mitunter auch noch etwas höher zu finden.
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya. 63
trocken. Der T so Moriri ist vom Ende Oktober bis An-
fang Mai fest zugefroren. In der Gegend um L e beginnen
die Fröste schon zu Anfang September und dauern mit we-
nig Unterbrechung bis Anfang Mai, fo daß nur vier Mo-
nate zur Bestellung des Ackers frei sind. Die mittlere
Jahrestemperatur betrug 1856 daselbst -f- 5,6° C.x). Auch
in Balti ist die Trockenheit noch sehr groß; nur die Höhen
unter 3000 m empfangen etwas mehr atmosphärischen Nieder-
schlag. Skardo hat eine mittlere Jahrestemperatur von
-f- 10,6° C. 2). In Tsanskhar ist es sehr rauh. Um
Dras fällt im Winter viel Schnee. Das obere Spiti-
Thal ist sehr regenarm, im untern wird es etwas fench-
ter und auch milder. Die mittlere Jahrestemperatur von
Kardong in Lahol beträgt -f- 6,7° (L3).
Der größte Theil des Centralzuges erhebt sich so hoch
über den Spiegel des Meeres, daß zusammenhängender
Wald von demselben gänzlich ausgeschlossen ist. Wenn
indeß auch an den Flüssen der großen Hochthäler Bäume
nur vereinzelt vorkommen, so werden doch zuweilen die Ge-
sträuche baumartig. Der Charakter der Flora beruht
auf Vermischung von arktischen und Steppen-
f o r m e n. Der Getreidebau überschreitet selten 3600 in;
vereinzelt findet er sich in Balti bis 4200, in Tibet bis
4480 in4). Die obere Grenze der Grasvegeta-
tion ist bei 4700 m; in Ladak finden sich aber Viehweiden
bis 5030 m. Der größte Theil der Höhen zwischen dem
obern Setledsch und Indus, welche der indische Nei-
sende Nain Singh 1867 überschritt, ist kahl und öde. Nur
an den Seiten der Flüsse findet fich Gras wuchs: so am
Singhi- und Gartung-tschn. „Das etwas tiefer ge-
legene Setledsch-THal bei Tirtapnri giebt reich-
liches Futter für die Heerden." Bei Tholing findet
man Getreidebau. Die Vegetation von Ruptschn
ist im Allgemeinen äußerst spärlich. Nur um Dorah
am Indus, bei Kordzog, im Westen des Tso Moriri,
sowie am untern Nidar-Fluß wächst Gras. „Der
Hauptcharakter von Ladak ist extreme Unfruchtbarkeit
und nur wie Oasen sind die kleinen fruchtbaren Gebiete an
den Flüssen zerstreut." Um Gya wird Gerste gebaut;
ungeachtet der bedeutenden Höhe stehen hier einige Pappeln.
Fast alles Land um L e wird gepflügt und mit Weizen,
Gerste und Lucerne besäet; es wachsen hier auch mitunter
Pappeln und einige Weiden- uud Tamarisken-
arten. Die Lonicera tatarica, die Heckenrose,
die Stachel- und Johannisbeere findet sich am Fuß
niederer Felsen. Weiter trifft man Anbau unweit der
Mündung des Tsanskhar, sowie im Wanla-Thal.
„Mit der Kahlheit der steilen felsigen Thalgehänge contra-
stirt aufs Angenehmste das schöne Grün der Frnchtbänme,
mit welchen alleBalti-Dörser umgeben sind." Um Skardo
wird ziemlich viel Weizen und Gerste gebaut. Bei dem
Orte Rondu stehen viele Frnchtbänme; Anbau von
Gerste findet man auch um Padun und Dras. Das
1) Christianssund (63°növbl.) hat eine mittlere Jahres-
temperatur von -f- 6° C.
2) Würzburg: -f- '104° C.
3) Bergen: 4- 7° C.
") In den Alpen: 1525 m.
| Deosai-Plateau dagegen ist trocken und steinig und
nur an den wenigen Flüssen finden sich einige kleine Weide-
plätze. Im Astor-Thal ist der anbaufähige Boden
sehr beschränkt. „Im obern Spiti- wie im Laro-
tschn-Thale findet sich vereinzelte Feldcnltnr nur da,
wo etwas mehr als gewöhnlich Befeuchtung eintritt, sei es
durch kleine Bäche oder durch einige der wenigen Quellen."
Auch künstliche Bewässerung durch Gräben von bedeutender
Länge sieht man in einzelnen Theilen angewendet, und an
manchen Orten steigen die Felder in drei bis sechs Fuß ho-
hen Terrassen die Höhen hinan. Es wächst namentlich
Weizen, Gerste, Buchweizen undHirse. Reicher wird
die Vegetation im Gebiet des Tschinab. Im untern
Bhutna-Thal sind zu beiden Seiten die Berge mit Eichen-
wäldern bekleidet und an den Usern findet sich Feldbau.
Die Höhen rechts und links vom Tschinab unterhalb
Atholi zeichnen sich durch ihre schönen Deodara-Cedern
aus, deren festes Holz, welches am wenigsten von Insekten,
wie Ameisen, zu leiden Hat, im Pendschab ganz besonders
geschätzt wird. Im Maru Wardwau-Thal sind Wäl-
der sehr häufig. Die Dörfer in Kifchtwar sind von Pla-
tanen und von Fruchtbäumen beschattet.
Unter den Thieren ist die zahme Katze allgemein in
Tibet, Ladak und Balti verbreitet. Die Hunde sind die
steten Begleiter der tibetischen Schäfer und folgen diesen über
5500 in hohe Pässe ohne merkliche Anstrengung. Der tibe-
tische Hase (Lepus pallipes), sowie das tibetische Mur-
melthier (Arctomys bobac) siud weit verbreitet; letzteres
besonders auf dem Deosai-Plateau. Ferner begegnet
man wilden Schafen, wilden Pferden oder Kyangs,
wilden Ochsen oder Aaks und Antilopen in großen
Heerden auf den höchsten Plateaus. Am obernJndus und
Setled sch, wie überhaupt iu den hochgelegenen Gebieten
des Himalaya, haben nicht nur die Schafe einen sehr dicken
und schweren Pelz als Winterkleid erhalten, sondern auch
die Ziegen haben an der Wurzel ihrer laugen Haare jene
^Dunen", welche die „Paschmina" zu den Geweben Kaschmirs
liefern. Hühner wurden in Ladak uud Balti erst durch
Gulab Singh eingeführt. Adler und Geier erheben sich
bis aufHöhen von 6700 bis 7000 in. Nach diesen mögen
die tibetischen Naben am höchsten vorkommen. Ueber
das Gebiet von Ruptschn und Spiti ist das tibetische
Rebhnhn oder der Tschakor (Perdix rufa) verbreitet.
Au den Ufern der Seen finden sich überall Wafservögel
in Menge, darunter große wilde Gänse. Trotz ihrer
Kälte enthalten die Wasser im Himalaya Fische in
großer Zahl; in einzelnen kleinen Bächen wurden dieselben
bis iu Höhen von 4600 in gesunden *). Schmetterlinge
sieht man im Allgemeinen bis 3950, in Ladak und Balti
sogar bis 4870 in. An den Ufern des Mansarowar
sind die großen Schwärme schwarzer Mücken sehr lästig.
Am Tso Moriri fand Hermann von Schlagintweit eine
kleine Krabbenart vom Genus Apus von 3/4 bis 1 Zoll
Länge. Das Vorkommen von Infusorien scheint im
Himalaya ebensowenig von irgend einer Höhe begrenzt zu
sein wie in den Alpen.
x) In den Alpen nur bis 2150 in.
64
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen
Afrika.
— Als der Rücktritt Oberst Gordon's von der General-
statthalterschaft des Sudan bekannt wurde, befürchtete man
allgemein, daß die dort errungenen Fortschritte wieder rück-
gängig gemacht werden, und namentlich der Sklavenhan-
bei in Aegypten aufblühen würde. Diese letztereVermu-
thnng ist schneller bestätigt worden, als selbst der größte Pes-
simist befürchtete; die authentischen Aktenstücke darüber
Seitens der Herren G. Schweinfurth, G. Roth und Gessi ver-
öffeutlicht jetzt die „Oesterreichische Monatsschrift für den
Orient" (1880, Nr 6). Schweinfurth schreibt: „Auf die erste
Nachricht hin, daß die Rückkehr Gordon's ans seinen Posten
oder die Besetzung des letztern durch einen europäischen Nach-
folger nicht mehr zn befürchten stände, haben die Händler von
Darfur sofort ihre seit langer Zeit daselbst aufgespeicherte
Waare vom Stapel laufen lassen, indem sie dieselbe direkt
nach Sint expedirten, ans dem alten Handelswege, der Ae-
gypten mit dem Gebiete des centralen Sudans in Verbin-
dnng setzt. Das geschah unbekümmert um ein eigenes, znr
Unterdrückung des Sklavenhandels in Sint errichtetes Amt,
an dessen Spitze Achmed Pascha Dasamali stand. Als die
erste Abtheilung der Karawane gegen Ende April in Siut
anlangte, entwickelte sich unmittelbar vor den Thoren der
Stadt ein lebhafter offenkundiger Handel. Jedermann aus
der Stadt ging nach dem Lager der Karawane, um sich da-
selbst die Sklaven anzusehen und seine Einkäufe zu machen.
Ungeschent währte dieses Treiben mehrere Tage, da weder der
Mndir noch der Direktor des Amtes der Abschaffung der
Sklaverei und des Sklavenhandels sich um die Sache zu küm-
meru schien. Die Welt hätte vielleicht von dem Ereignisse gar
nichts erfahren, wenn nicht ein Lehrer der amerikanischen
Missionsschule, Herr G. Roth, aus eigenem Antriebe nach
Cairo gereist wäre und den Fall hier selbst zur Anzeige ge-
bracht hätte.--Der Mndir von Siut, sein Stellvertreter
und der Direktor des Sklavenamtes sind ihres Amtes entsetzt
und hier vor ein Kriegsgericht gestellt worden (und 160 Skla-
ven wurden in Freiheit gesetzt). Graf della Sala, ein ehema-
liger österreichischer Offizier, ist auf Verlangen des englischen
Generalkonsuls zum Direktor des Sklavenamtes in Siut er-
uannt worden, und da er mit außerordentlichen Vollmachten
ausgerüstet wurde, so erwartet man von dem energischen
Auftreten dieser für den Posten geeigneten Persönlichkeit den
besten Erfolg."
Hat nun auch iu diesem Falle Remedur stattgefunden,
so doch noch nicht bei den Scheußlichkeiten, welche Gessi
ebenda aus Meschera-el-Rek berichtet. Danach hat ein ge-
wisser Justus, jetzt Pascha und Gouverneur des Seuaar,
den aus Schweiusurth's Reisewerk wohl bekannten Mon-
buttn-Fürsten Münsa hinterlistig ermorden lassen, dessen
Frauen und Töchter sich angeeignet und etwa 30 Moubuttu-
kuabeu, darunter einen Bruder des Erschlagenen, zu Eunu-
chen gemacht. Und solche Bestie bekleidet ein hohes Amt
unter der ägyptischen Regierung!
„Es ist zu beklagen — schreibt Gessi — daß Gordon sich
gerade in dem Momente zurückgezogen hat, wo er die Früchte
Erdtheilen.
seiner Anstrengungen ernten konnte. Der Vicekönig hat
wohl die besten Absichten, aber ich beginne zn verzweifeln
und Alles, was geschehen, als das Vorüberziehen eines Me-
teors zu betrachten. Diese Völker werden nun wohl noch
mehr von den Arabern gequält werden, denn zuvor, da letz-
tere nie vergessen werden, daß sie mit mir gemeinsame Sache
gemacht haben" (eben gegen die arabischen Sklavenhändler).
— Der König von Abessini en hat an den dcut-
sehen Kaiser einen Brief gerichtet, auf welchen die Antwort
in der nächsten Zeit abgehen soll. Mit Ueberbringnng der-
selben und von Geschenken ist Gerhard Rohlfs beanf-
tragt worden, welcher mit dem Könige persönlich bekannt ist.
Rohlfs wird nach Ausführung seines Auftrages zurückkehren,
während sein Begleiter auf der Reise nach Knfra, Dr. Stecker,
welcher ihm auch nach Abessinien folgt, versuchen wird, von
dort nach Süden vorzudringen. Danach zu schließen, hat
Dr. Stecker seine Reise über Mnrznk nach dem Sudan,
welche er im Einverständnisse mit der „Afrikanischen Gesell-
schaft in Deutschland" bereits angetreten hatte („Globus"
XXXVII, S. 158), aufgegeben und scheint sich auf die Heim-
reise gemacht zu haben. Man darf mit Recht gespannt sein
zu erfahren, was ihn zu diesem sonderbaren Entschlüsse be-
wogen hat. _
Polargebiet.
— Am 19. Juni ist der Dampfer „Eira" von Peter-
head zu einer Entdeckungsreise nach den arktischen Gebieten
abgegangen. Er hat eine Bemannung von etwa 25 Leuten,
einen Photographen, denselben, welcher Kapitän Nares be-
gleitete, und einen Arzt an Bord und ist auf zwei Jahre
mit Kohlen und Lebensmitteln versehen, obwohl er nicht so
lange Zeit fortbleiben soll.
— Die Regierung der Vereinigten Staaten läßt in
S. Francisco eine Expedition ausrüsten, um nach dem Nord-
polarschiffe „Jeannette" Nachsuchung zu halten. Es ist
dafür der Zollkutter „Corwin" bestimmt, der mit Lebens-
Mitteln auf ein ganzes Jahr versehen wird und zugleich die
Aufgabe hat, nach zwei vermißten Walfischfahrern zu for-
scheu. Kapitän Markham befürwortet, daß jedes Jahr, so
lauge die „Jeannette" abwesend ist, ein solches Schiff nach
ihr ausgesendet werde, um je nachdem Nachrichten von ihr
heimzubringen oder ihr respeetive ihrer Besatzung Hülse zu
bringen. _
Vermischtes.
— Die Franzosen wollen in der Tiesseeforschung
nicht hinter den Seemächten germanischen Stammes, Englän-
dern, Deutschen und Nordamerikanern, zurückbleiben. Am
15. Juli soll der große Regierungsdampfer „Le Travaillenr"
von Bayoune aus eine Fahrt längs der atlantischen
Küsten von Spanien antreten, an welcher Professor
Milne-Edwards und der Marquis de Foliu sich betheiligen.
Auch die Niederländer treffen Vorbereitungen für eine
Expedition nach Westindien, wo mit dem Schleppnetze
gearbeitet werden soll. (Nature.)
Inhalt: Lueca und seine Umgebung. I. (Mit fünf Abbildungen.) — W. Bertram: Das Val deEogne in Piemont. II.
(Schluß.) — Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Eentralzng des nordwestlichen Himalaya. I. — Aus
allen Erdtheilen: Afrika. — Polargebiet. — Vermischtes. (Schluß der Redactiou 26. Juni 1330.)
Redactcur: Dr. R. Kiepert in Verlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicweg und Sohn in Vranuschweig.
Hierzu eine Beilage.
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Band XXXVIII.
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Iii besonderer Berücksichtigung cker AntkroVologie und Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vi-. Richard Kiepert.
,x K. 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten iooa
Braunschwelg äUtn Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. °° *
Lucca und seine Umgebung.
(Nach dem Französischen des M. Henri Belle, französischen Konsnls in Florenz,)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
II.
Diejenige Kirche Luccas, welche nächst dem Dome die
Blicke am meisten auf sich zieht und in der Erinnerung des
Reisenden am besten hasten bleibt, ist unstreitig San Ml-
chele, deren prächtige Faxade den schönsten Schmuck des
gleichnamigen Platzes bildet. Im ersten Augenblicke kann
man nicht umhin, den Bauplan sonderbar zu finden; denn
die Fayade steht außer jedem Verhältnisse zum Schiffe, und
die eine Seite ist höher als die andere. Diese Anomalien
werden jedoch erklärlich, wenn man erfährt, daß der Bau,
fo wie er heutigen Tages dasteht, das Ergebniß von drei
ans einander folgenden Nestaurationen ist, welche zu sehr
verschiedenen Zeiten stattfanden und nicht zu Ende geführt
wurden. Die Gründung der Kirche reicht bis in das achte
Jahrhundert zurück; mehrere Urkunden aus jener Zeit be-
zeichnen sie als eine dem Erzengel Michael geweihte Kapelle,
welche auf der Stelle des altrömischen Forum errichtet wor-
deu war. Von letztem blieb nur ein Abzugskanal, etwas
Pflaster und am Rande Reste von Säulenhallen übrig, auf
welchen die adeligen Familien der Martini, Bulgarini, Or-
landi, Strambi und Paganelli, welche insgesammt in den
Blutfehden des Mittelalters ihre Rolle gespielt haben, ihre
Häuser und Paläste erbauten. Im 12. Jahrhundert wurde
die Kirche neu gebaut und vergrößert, um den städtischen
Rathsversammlungen, die sich in der kleinen Kirche San
Alessandro zu eng fühlten, zu den Sitzungen zu dienen. _
Der Name des Baumeisters ist verloren gegangen; keine
Inschrift, keine Urkunde nennt ihn; zahlreiche Anklänge
jedoch an die Kirche San Cristoforo und an den untersten
Theil des berühmten Baptisterium zn Pisa, die Identität
verschiedener Architekturstücke und Theile der Ausschmückung
berechtigen zu der Vermuthung, daß alle drei Gebäude Werke
desselben Künstlers sind, nämlich des Diotisalvi, dessen Na-
men auf einem Denksteine in San Cristoforo eingegraben
ist. Zudem sind Beispiele genug bezeugt, daß trotz des po-
litischen Haders zwischen Lucca und Pisa Künstler aus der
letztern Republik au den Bauten der erster« während des
13. bis 15. Jahrhunderts thätig gewesen sind.
Gegen Ende des 12. oder zn Beginn des 13. Jahrhnn-
derts beschloß man, San Michele gänzlich zn erneuern und
mit einer Fa^ade zu versehen, welche alles bisher Geleistete
an Schönheit und Zierlichkeit übertreffen sollte, vielleicht
weil die erste zu einfach erschien oder weil sie, was glanb-
licher ist, unvollendet geblieben war und nur die rings um
das Gebäude herum laufenden Arkaden existirten. Guidetto,
der Dombaumeister, wurde auch mit dieser Arbeit betraut,
bei welcher es galt, Vorhandenes weiter zu führen und die
eigene Phantasie zu zügeln.
Ursprünglich hatte man, wie die Kämpfer der Bogen
und Konsolen beweisen, nach altem Gebrauche eine Säulen-
Halle geplant; allein Guidetto ging davon ab und begnügte
sich damit, über der schon stehenden Bogenstellung noch vier
weitere mit überaus reichen und auf die mannigfaltigste
Weise mit Laubwerk und phantastischen Thierköpfen gcfchmück-
ten Säulchen zn errichten. Dabei aber gab er seiner Fa^ade
Globus XXXVIII. Nr. 5.
Lucca und seine Umgebung.
67
eine solche Höhe, daß sie die Dachgiebel der Kirche um ein Ve-
deutendes überragt und wie eine isolirte dünne Mauer erscheint,
der die vom Gebirge her wehenden heftigen Winde Schaden
zufügen könnten. Allerdings beabsichtigte er, wie die Ro-
settenfenster im vierten Stockwerke der Faxade deutlich be-
weisen, auch die Mauern der drei Schiffe höher zn machen;
aber er fand keine Zeit sein Werk zu vollenden, und erst
gegen Ende des 14. Jahrhunderts ging man daran, das
Dach der Kirche derFaxade entsprechend zu erhöhen. Allein
man führte das nur an dem südlichen Seitenschiffe durch,
während das Mittelschiff wegen Geldmangels unvollendet
blieb und das nördliche Seitenschiff gar nicht in Angriff
genommen wurde, wodurch man die Harmonie des Ganzen
störte. Auswärtige und innere Kriege verhinderten wäh-
rend des ganzen fünfzehnten Jahrhunderts die Wiederauf-
nähme der Arbeiten, und erst im sechzehnten, wo man viel
Geld auf Ausbesserung der Kirchen verwandte, geschah etwas
— leider das Falsche.- Gnidetto's Plan wurde nicht zu Ende
geführt, sondern die schon vorhandene Erhöhung des halben
Mittelschiffs der Symmetrie halber durch ein Gewölbe ver-
deckt, die schön proportionirten Fenster zerstört und dafür
große rechteckige Löcher in die Mauer gebrochen, die hohen
Bogen, welche den Glockenthurm tragen, zugemauert und das
Innere mit scheußlichen Altären und Kapellen verunstaltet.
Später zerstörte man den Chor vor dem Hauptaltar, die
beiden Ambonen, die Krypta, kurz alles, was sich noch von
Das Rathhaus in Lucca.
der alten Kirche erhalten hatte, und baute von außen an die
Reste der Apsis Buden und Läden an, die an Handwerker
und kleine Kauflente vermiethet wurden.
Erst in unserer Zeit war der gute Geschmack und die
Achtung vor Kunstwerken und historischen Erinnerungen groß
genug, daß sich Mittel fanden, die inzwischen ziemlich bau-
fällig gewordene Faxade von Grund aus wiederherzustellen,
den Fenstern des Schiffes ihre ursprüngliche Gestalt und der
Apsis die zierliche Einfachheit wiederzugeben. Es gereicht
dem Baumeister Pardiui, welcher die Renovation leitete,
zu hohem Lobe, daß er den anmuthigeu, harmonischen Stil
Guidetto's wieder gefunden und belebt, sich in den Geist des
zwölften Jahrhunderts so tief versenkt und die schöne Faxade,
welcher die beiden letzten Jahrhunderte so übel mitgespielt
hatten, mit so viel Geschick und Zartgefühl wieder herge-
stellt hat.
Das Innere der Kirche bietet außer einem werthvollen
Gemälde Filippino Lippo's, von welchem aber wegen der
Dunkelheit der Kapelle und den Leuchtern und dem Flitter-
staat des Altars fast nichts zu erkennen ist, nur sehr wenig.
Erwähnung verdient eine schöne Madonnenstatne von Mat-
teo Civitali am südlichen Eckpfeiler der Faxade, welche im
Jahre 1480 zum Andenken einer schrecklichen Pest errichtet
wurde, welche die Einwohner der Stadt deeimirte und erst
in Folge öffentlicher Gebete, Procefsionen und Gelübde der
Adelsfamilien gewichen sein soll.
Gegenüber der Kirche San Michele erhebt sich das
Rathhaus. 1370 hatte man auf dieser Stelle eine offene
Säulenhalle erbaut, in welcher sich das Gericht unter Vor-
sitz des Podesta versammelte. 1492 beschloß man dann,
dort einen Palast zu errichten, in welchem der Bürgermeister
wohnen und der große und kleine Rath zusammentreten sollte.
9*
68
Lucca und seine Umgebung.
Wahrscheinlich leitete Matteo Civitali und sein Sohn Nicola
den Bau, welchen einer seiner.Urenkel, Vineenzo mit Na-
men, vergrößerte und zu Ende führte. Heute hat darin ein
Gerichtshof erster Instanz seinen Sitz aufgeschlagen.
An einem kleinen Platze in der Nähe steht die Kirche
Santa, Maria fuori le mura (ö. i. außerhalb der Mauern),
auch Santa Maria Bianca genannt. Im elften Jahr-
hundert befand sie sich wirklich, wie ihr Name besagt, außer-
halb der Mauern und nahe bei einem der Stadtthore, und
erst 1260 wurde sie in die neue Ummanernng aufgenommen,
auf deren Fundament man kürzlich beim Neubau einiger
Häuser der Nachbarschaft gestoßen ist. Auch sie stammt
aus den ersten christlichen Jahrhunderten, wurde aber wie
alle alten Lnccheser Kirchen im II. und 12. Säculum neu-
gebaut; von dem ursprünglichen Gebäude hat sich uur eine
ganz byzantinische Skulptur der Madonna erhalten, welche
jetzt über der kleinen Seitenthür zur Linken eingemauert ist.
Ihre Fa^ade besteht, wie die dritte Abbildung zeigt, aus
einem untersten Stocke von sieben Bogen mit drei Thüren,
deren Architrave reich verziert sind, und darüber zwei Bogen-
stellnngen, wie bei San Michele, nur daß die kleinen Sän-
len derselben einfacher sind. Ganz oben erhebt sich noch nackt
und kahl eine Ziegelmauer, eiu Beweis, daß man die Front
im 16. Jahrhundert erhöhen wollte, um dann auch das In-
nere, wie bei San Michele, auszumauern; da dies aber nicht
ausgeführt wurde, so erscheint jetzt die Vorderseite um so
Santa Maria Bianca in Lucca.
gedrückter, als auch durch Aushöhuug des Bodeus etwa l1/^ w,
des Fundamentes verborgen worden sind. Das innere Ge-
wölbe wird von granitenen Säulen getragen, deren antike
Kapitelle von einem altrömischen Tempel, welcher vielleicht
auf demselben Platze gestanden hat, herrühren. Der ganz
aus weißem Marmor bestehende Hauptaltar, in Gestalt eines
Triumphbogens, ist ein Werk des Vincenzo Civitali — die
im 18. Jahrhundert hinzugefügte Attila entstellt ihn gänzlich.
San Francesco, im östlichen Theile der Stadt, enthält
die Grabmäler des Paolo Gninigni, des Herrschers von
Lucca, und des großen Condottiere Castrnccio Antelminelli,
aber sie ist unzugänglich, weil sie in ihrem Innern ein
Militärmagazin birgt.
Wenn man sich von hier nach der Nordseite Luccas zur
Kirche San Frediano, einer der merkwürdigsten und inter-
essantesten von allen, begiebt, kommt man durch eine kleine
dunkele uud schmutzige Gasse, deren Häuser eine auffallend
gebogene Linie bilden. Hier und da bemerkt man Reste
eines massiven Ziegelbaues, auch eiu halb Vergrabeues mäch-
tiges Thor im Rustika - Stil. Das war der Eingang zu
einem römischen Amphitheater, dessen äußere Bogen-
stelluugen zugemauert sind und jetzt Häuser und elende Bu-
den bilden. Nach dem plumpen Stile der Bogen im zwei-
ten Stocke und der schwerfälligen Bauweise zu schließen ge-
hört das Bauwerk der Zeit des Verfalles an. Im Jahre
553 befestigten sich die Gothen darin und hielten dort drei
Jahre lang eine Belagerung durch die Griechen unter Rar-
ses aus. In späteren Zeiten verwandelten sich die Galle-
rien und Bogen in Magazine, Gefängnisse uud dergleichen,
ja selbst ein Palast wurde daraus gemacht, und wo sich srü-
her Gladiatoren umgebracht hatten, wuchsen nun Gemüse
und Obstbäume. Im Jahre 1819 ordnete die Herzogin
Lucca und sei
Marie Louise Ausgrabungen an, welche ergaben, daß das
Amphitheater 54 Bogen zu zwei Stockwerken zählte. Auch
deckte man mehrere Reihen Stufen und 3 m unter dem heu-
tigen Boden das antike Pflaster auf. Die größte Axe des
ganzen Baues mißt 121 m, die der Arena 78, die Bogen
sind über 7 m hoch. Es ist zu bedauern, daß die inter-
essante Ruine nicht auf Kosten der Gemeinde gänzlich frei-
gelegt und im Stande erhalten wird.
Von der Arena, welche jetzt der Marktplatz einnimmt,
tritt man auf einen langen schmalen Platz, an dessen Ende
sich die graue ernste Faxade der Kirche San Frediano
mit ihrer großen byzantinischen Mosaik auf Goldgrund er-
hebt. Auf den ersten Blick macht die enorme Breite der
Front (siehe die vierte Abbildung) im Verhältnisse zu ihrer
ie Umgebung. 69
Höhe einen unangenehmen Eindruck; man bedenke aber, daß
die beiden Seitenflügel erst Zuthateu einer sehr späten Zeit
sind und nur die drei mittleren Abtheilungen dem Ursprung-
lichen Baue angehören. Diese Basilika ist eine der inter-
essantesten in Mittelitalien, wenn sie auch keineswegs den
viel gesuchten echten Typus lombardischer Baukunst vorstellt,
wie passionirte Archäologen behaupteten, sondern nur einen
Neubau aus dem Beginne des zwölften Jahrhunderts. Heber
den ursprünglichen Grundriß und die Orientirung der
Kirche ist eine Fluth von Abhandlungen für nnd wider ver-
faßt worden, die gedruckt oder handschriftlich in der Luccheser
Akademie aufbewahrt werden und jedenfalls die Geschichte
des Bauwerkes klargestellt haben.
Im sechsten Jahrhundert ließ der Jrländer Frediano
Die Kirche S.
(Frigidiauus), welcher von 560 bis 578 den bischöflichen
Stuhl von Lucca einnahm, am Ufer des Serchio, der damals
in der Nähe der Stadt floß, eine Kirche zu Ehren der Hei-
ligen Stephanus, Laurentius und Vincentins erbauen,
welche, als der fromme Bifchof in ihr begraben wurde, des-
sen Namen annahm. (Nach anderer Lesart gründeten sie
die langobardischen Könige Bertharic und Cunibert zu Ehren
des Frigidianns.) Die Apsis dieser Kirche befand sich auf
der Stelle der jetzigen Faxade von 1112, wie man 1344 durch
Ausgrabungen festgestellt hat. Daneben befand sich ein
Kloster, das in Urkunden vom Jahre 685 und 686 erwähnt
wird; es wurde von Fanlone, dem Majordomus Cunibert s,
restanrirt und reich beschenkt. Im Jahre 1112 ließ der
Prior Rotone die Basilika umbauen, zum Schutze gegen die
ediano in Lucca.
Überschwemmungen des Serchio um etwa 3 in höher legen
und vergrößern, und 1147 weihte sie Papst Engen III.
feierlich ein, als er auf einer Reife nach Frankreich die Stadt
Lucca berührte. Der Glockenthurm wurde erst später hin-
zugefügt, wie denn der ganze Bau erst im Jahre 1223
vollendet wurde. Bis in das 15. Jahrhundert blieb nun
die Basilika unberührt; dann aber begann eine Zeit, in wel-
cher eine wahre Manie herrschte, Kapellen und Altäre zu
bauen, außen anzuflicken, ja eine über die andere zu setzen
und dadurch den Gruudplan ganz zu verändern. Chor uud
Ambouen wurden außerdem zerstört, der Hauptaltar in ver-
änderter Gestalt auf eine andere Stelle gerückt und das kost-
bare Mosaikpflaster des Schisses regel- uud symmetrielos in
die Apsis verlegt. Erst neuerdings, in den Jahren 1844
70 Lucca und st
bis 1353, der Baumeister Pardini eine Nestauration
durchgeführt und, so viel als möglich war, dem Denkmale
seinen ursprünglichen Charakter wiedergegeben.
Die Fa^ade ist weit einfacher, als diejenige aller ande-
reu Kirchen in Lucca, und entbehrt der sonst beliebten Bogen-
reihen, der Mäander und des Schmuckes an phantastischen
Thier- und Menschenköpfen. Eine einfache Säuleustellung,
deren Gesims in der gleichen Höhe mit den Seitenschiffen
e Umgebung.
liegt, theilt sie in zwei Hälften, in deren obere ein großes,
1829 ausgebessertes Mosaik, Christi Himmelfahrt darstellend,
eingelassen ist. Offenbar war auch beabsichtigt worden, die
Lünetten über den Thüren in gleicher Weise mit goldgrnn-
digem Mosaik zu füllen, wodurch die Fa^ade ein viel reiche-
res Aussehen erhalten hätte, und ihre unteren Theile mit
den oberen mehr in Zusammenhang gebracht worden wären.
Im Innern erstaunt man über die Kühnheit des Baues,
San Agost
besonders des Mittelschiffes, das von dünnen Säulen getra-
gen wird: ernst in seinen Linien, wie in der Farbe des
Marmors, die hohen Wände ohne jegliche Verzierung, aus-
genommen ein einfaches Gesims unter den Fenstern. Die
Bogen, zwölf au jeder Seite, werden von antiken Säulen
getragen, die vielleicht aus dem Amphitheater herrühren; sie
sind theils von Granit, theils von Cipollino, von verschiede-
nem Durchmesser und ungleicher Höhe, was natürlich ans
) in Lucca.
die Dicke der gleichfalls antiken Basen von Einfluß war.
Auch die Kapitelle korinthischen Stiles gleichen sich nicht,
aber diese Unregelmäßigkeiten thnn dem Gesammteindrncke
keinen Abbruch und fallen erst bei genauem Studium auf.
Die Rundbogenfenster, welche von innen aus in eine Art
viereckiger Nischen eingesetzt sind, sind hoch und oft, besonders
an der Südseite, mit Skulpturen, Thiere darstellend, einige
auch mit bunten Glasmalereien geschmückt.
Die Liven i
Das Innere umschließt mancherlei Kunstwerke, wie den
großen alten marmornen Tausbrunnen mit Reliefs von
Meister Robertus aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, die
merkwürdig sind wegen der Trachten der dargestellten Per-
sonen; ein neueres Taufbecken von dem fruchtbaren Matteo
Civitali; in der Cappella del S. Sacramento die Reliefs
der Madonna mit vier Heiligen, ein Meisterwerk des Jacopo
della Quercia; ferner alte Fresken des Luccheser Malers
Amico Aspertini und anderes.
Es wäre in dieser und den anderen Kirchen der Stadt,
in S. Salvatore, S. Andrea, S. Anastasio, S. Cristoforo
Kurland. 71
und S. Agostino, die von 1324 datirt (s. Abbildung auf S. 70)
noch mancherlei zu erwähnen und zu beschreib^ es wäre
das aber eine den Leser ermüdende Aufzählung." Erwähnt
sei nur noch, daß in S. Cristoforo der Bildhauer Matteo
Civitali feine letzte Ruhestätte gefunden hat, als er 1501
im Alter von 65 Jahren starb. Doch meldet nur eine ein-
fache Inschrift seinen Namen und seinen Beruf — die Stadt,
welche er mit so vielen Bauten und Kunstwerken schmückte,
hat ihrem berühmten Sohne nie auch nur das bescheidenste
Grabdenkmal errichtet.
Die L i v eu i
Professor L. Stieda in Dorpat erwirbt sich ein großes
Verdienst dadurch, daß er jüngere Medianer in die anthro-
pologische Lausbahn hinüberführt und zur Verarbeitung des
reichen lebenden Materials der baltischen Provinzen veran-
laßt. Hier gerade kann im finnisch-lettisch-slavisch-dentschen
Völkergewirr eine gut und exakt durchgeführte Anzahl von
anthropologischen Messungen die wünschenswerthe Klarheit
in die ethnischen Verhältnisse bringen und die Resultate der
Sprachwissenschaft unterstützen. Es ist daher jeder Beitrag
willkommen. O. Grube gab uns 1878 „Anthropologische
Untersuchungen der Esten"; es folgte dann O. Waeber mit
„Beiträgen zur Anthropologie der Letten" und schließlich
Ferdinand Waldhauer mit seiner Jnaugural - Dissertation
„Zur Anthropologie der Liven" (Dorpat, Schnakenburg
1879). Auf die letztere Schrift wollen wir hier eingehen.
Waldhauer giebt zunächst eine Auszählung der Literatur
über die Liven, welche mit der Historia lettica des bekannten
Paulus Einhorn 1649 beginnt, in welcher wir jedoch die
sehr interessanten Berichte A. I. Sjögren's über seine im
Auftrage der russischen geographischen Gesellschaft im Jahre
1846 nach Livland und Kurland unternommene Reise zur
genauen Untersuchung der Reste der Liven und Krewingen
(Denkschriften der russ. geogr. Ges. Bd. II, S. 253 bis
266) vermissen, und gerade diese Arbeit hätte dem Verfasser
manches hochinteressante ergänzende Material liefern können,
Dann wird die geographische Verbreitung des kleinen
zum finnischen Stamme gehörigen Völkerrestes angegeben,
der die Urbewohner des größten Theiles von Liv- und Kur-
land seine Vorfahren nannte. Die Liven sitzen heute nur
noch an der Nordspitze Kurlands, am Riff von Domesnäs,
dein Rigischen Meerbusen und am Strande der Ostsee. Sie
wohnen in Dörfern, deren Waldhauer im Ganzen noch 12
zählt. Drei davon gehören zum Gute Popen, die übrigen
zu Dodangen. Die Anzahl aller noch als Liven angesehenen
Personen beträgt etwa 2400, welche auch jetzt noch fast gar
nicht mit den Letten sich vermischen, sondern sich ans Ratio-
nalstolz rein erhalten. Fischerei ist der Haupterwerb der
Liven, außerdem sind sie tüchtige Seeleute, die in ihren
Booten nach Finland, Schweden, Preußen und Riga hin
handeln.
Die Liven kennen in ihrer Sprache diese Bezeichnung
für ihr Volk nicht, sie nennen sich selbst randalist (Strand-
n Kurla n d.
bewohner) oder Kala mied (Fischer). Davon, daß sie mit
den Esten zusammen einen Volksstamm der finnischen Familie
ausmachen, wissen sie nichts. Bis zum achten oder nennten
Jahre spricht das Kind nur Livisch, dann erst lernt es die
Kirchen-oder Schulsprache, das Lettische.
Hauptaufgabe Waldhauer's waren die bisher vernach-
läfsigten Körpermessungen an Liven; er hat dieselben nach
dem Broca'schen Schema angestellt, das nicht weniger als
60 verschiedene Messungen verlangt, welche in den Tabellen
niedergelegt sind. Danach ergiebt sich folgendes anthropo-
logisches Bild des Liven: Er ist von hohem, schlankem,
kräftigem Wuchs, durchschnittlich 1736 mm hoch; die meisten
haben eine athletische Muskulatur. Verkümmerte Jndivi-
dum sind selten und korpulente Menschen sieht man niemals.
Das Kopfhaar ist gewöhnlich braun oder dunkelbraun, in
einzelnen Fällen schwarz, blonde Haare sind außer bei den
Kindern höchst selten zu beobachten. Gewöhnlich tragen die
Liven das Haar zu beiden Seiten schlicht herabgekämmt,
doch ist lockiger Haarwuchs uicht selten. Rothes Haar sah
Waldhauer nicht. Am übrigen Körper ist der Haarwuchs
stark, besonders an den Extremitäten. Die Farbe der Augen
ist fast nie blan, meist grau, graubraun oder braun. Der
Kopf ist mäßig lang und ziemlich breit; der Kopfindex 79,9.
Das Gesicht ist lang und schmal, ohne stark vorstehende
Backenknochen. Die Stirn hoch, der arcus supraorbitalis
stark vorspringend. Die Nase von mittlerer Länge und
nicht spitz, meist gerade mit ein wenig hervortretender Spitze.
Der Mund mittelgroß, die Lippen schmal. Die Richtung
der Zähne ist meist von geringer Neigung nach vorn. Ge-
messen hat Waldhauer 100 Männer, die fast durchweg
deutsche Namen führen, die ihnen von ihren deutschen Herren
gegeben wurden.
Seine Ergebnisse hinsichtlich der somatischen Verhältnisse
der Liven saßt der Autor in folgende Worte zusammen:
„Der Live steht seiner Körperbildung nach zwischen dem
Esten und dem Finnen, und zwar schließt er sich dem Care-
lier näher an, als dem Esten. Dieses Resultat scheint mir
deshalb von Bedeutung zu sein, weil es mit den Resultaten
der Sprachforschung stimmt. Nach Wiedemann nimmt die
livische Sprache ihre Stellung zwischen Estnisch und Care-
lisch ein, nach Koskinen aber steht die livische Sprache unter
allen finnischen Dialekten dem Carelischen am nächsten."
72
F. Birgham: Südsee-Sagen.
S ü d s e e -
Bon F, Z
3. Götter- und Heldensagen aus Hawaii.
Im Jahre 1875 erschien in Honolulu eine Wochenschrift
unter dem Namen „The Isländer", die jedoch schon nach
der 35. Nummer einging, so daß vollständige Exemplare der-
selben nicht allein am Publikationsorte selten sind, sondern das
mir vorliegende wohl auch das einzige in Europa sein dürste.
Auf den 244 Seiten dieser Zeitschrift findet sich nun eine
Fülle von bisher unveröffentlichten Mittheilungen über die
Hawaii-Gruppe uud ihre Bewohner, aus welchen in Folgen-
dem einige der auf Sage und Tradition der alten Hawaiier
bezüglichen zusammengestellt wurden.
Die hawaiischen Kahuuas (Priester, und zugleich Aerzte,
wie bei vielen Naturvölkern) sind, seit Einführung des
Christenthums vor nun 60 Jahren, verschwunden; sie allein
waren es, die durch mündliche Überlieferungen von einer
Generation zur andern die Tradition ihrer Götter und die
Geschichte und Genealogie der Könige vor der Vergessenheit
bewahrten. Vieles wird mit ihnen auf immer verloren sein,
die jetzigen Generationen kümmern sich wenig um die Tra-
ditionen ihrer heidnischen Vorfahren, und um so wichtiger
scheint es deshalb, so viel als möglich zn retten und zu erhal-
ten, ehe die ganze eingeborene Race dahin sein wird.
Die Mythologie der alten Hawaiier war keine einheit-
liche, abgeschlossene; gleich derjenigen ihrer Stammesbrüder
auf allen Südsee-Jnseln bestand sie aus zahlreichen einzelnen,
oft sich widersprechenden Sagen und Traditionen, deren ge-
regelte Zusammenstellung deshalb unmöglich ist.
Kane und Kaneloa, die fast immer zusammen er-
wähnt werden, waren die obersten Götter und Erschaffer;
die Zahl der Neben- und Untergötter ging ins Unendliche,
denn gleich dem Indianer Nordamerikas sah der Kanaka
überall eine Gottheit: in den Sternen, im Blitz uud Don-
ner, in den Winden, auch konnte er in jedem Thiere, Fische,
Vogel oder jeder Frucht sich selbst einen Gott wählen. Kane
nnd Kaneloa waren nach der Sage fremde Götter, d. h. sie
kamen aus Kahiki, einem fernen Fabellande (vielleicht die
räthselhafte Urheimath der Polynesier), von wo sie über die
Oberfläche des Meeres nach Hawaii wanderten; sie brachten
den Pisang, die Kokospalme und den Brotfruchtbaum zur
Ernährung der ersten Menschen mit. Die hawaiische Ver-
sion der Erschaffung des Menschen zeigt eine auffallende
Aehnlichkeit mit dem biblischen Berichte: Kane machte den
ersten Menschen, Hnlihonna, aus der Erde am Meeresuser;
fein Weib Keaka-Hulilani, die hawaiische Eva, wurde aus
dem Geiste (aka) des Mannes erschaffen, während dieser
schlief.
Mctui war ein Abkömmling Kane's, und ihm verdankt
nach einer andern Tradition die hawaiische Gruppe ihr
Dasein: er nahm seine Angel und warf den Haken an lan-
ger Schnur in das Meer, so daß er sich in den flachen
Meeresboden einbohrte. Als nun aber Maui den letztern
heraufziehen wollte, brach derselbe iu viele Stücke, so daß
der Gott nicht, wie er vorhatte, eine einzige große Insel,
x) Nro. 1 und 2 s. „Globus" Bd. XXXVII, S. 316.
Sagen').
sondern die verschiedenenen Eilande des heutigen Archipels
über den Meeresspiegel emporhob. Dieselbe Sage findet
sich unverändert bei den Maoris: auch hier zog Maui mit
dem Angelhaken die Insel aus dem Meere heraus, und noch
heute heißt die nördliche Hälfte der neuseeländischen Doppel--
insel bei den Eingeborenen „te ikaaMaui", d. h. der Fisch
des Maui. Die Frau des hawaiischen Maui hieß Hina,
und ihren vier Söhnen wurde der Ursprung des Feuers zu-
geschrieben *).
Außer Kane und Kaneloa wurden noch Kn und Lono
zu den Hauptgöttern Hawaiis gerechnet. Durch Kapitän
Cook's Tod ist die Sage von Lono allgemeiner bekannt ge-
worden, doch verdient die Übersetzung der alten Tradition
noch Interesse. — Lono-akua, wohl ursprünglich ein hoher,
nach seinem Verschwinden vergötterter Häuptling, wohnte
auf der Insel Hawaii; seine Frau war die schöne Kaiki-lani.
Ein sterblicher Mann wagte es, sich ihr zu nähern; Lono
belauschte seine Liebeserklärung und voller Wuth und Eifer-
sucht erschlug er sein Weib. Aber sogleich von Reue er-
griffen, verfiel er in völlige Raserei; nachdem er die Leiche
in seinen heiau (Tempel) gebracht, wanderte er kreuz und
quer durch die Insel, indem er Jeden, den er antraf, zum
Zweikampfe herausforderte und vermöge seiner übernatür-
lichen Kraft besiegte. So kam er auch nach der Kealakea-
kna-Bay, und nachdem er zum Andenken an sein ermordetes
Weib jährliche Kampfspiele (daher makahiki, d. h. das
Jahr, genannt) im Ringen, Laufen und Speerwerfen ein-
geführt, bestieg er sein dreieckiges Kanu und fuhr auf das
hohe Meer hinaus. Daher hat diese Bay auch ihren Namen,
denn ke-ala-o-ke-akna bedeutet „Der Weg des Gottes".
Vor seiner Abfahrt versprach er jedoch dem Volke, einst
wiederzukehren „auf schwimmenden Inseln mit Hainen von
Kokospalmen und voll fetter Schweine und Hunde". Als
nun „sechs Generationen später" Cook's Schiffe in die
Kealakeakua-Bay einliefen, wurden sie natürlich für Lono's
schwimmende Inseln gehalten; noch heute bedeutet das Hawaii-
sche moku sowohl Schiff als Insel. Cook's Tod auf der-
selben Stelle, wo nach der Sage der Gott sein Land ver-
ließ, könnte fast als gerechte Strafe für die geduldete Ver-
götterung des Seefahrers durch die Eingeborenen betrachtet
werden2).
Eine andere Sage nennt Lono den Gemahl der Vulkan-
göttin Pele, mit dem sie zusammen von Kahiki nach Ha-
waii kam 3); aber das Paar lebte im Streit mit einander, bis
Lono seine fürchterliche Gattin in ihren Kratern und Lava-
seen zurückließ uud seine Wanderung nach fremden Ländern
antrat. Ein anderer Gemahl der Pele war Kamapnaa,
der von der Insel Oahn herstammte; er war ein bösartiger
Gott, auch hatte er die Macht, nach Belieben die Gestalt
eines Menschen oder eines Ebers anzunehmen (daher die
zweite Hälfte seines Namens: puaa = Schwein), lieber-
ihn berichtet folgende Tradition: Olo p ana, der König von
1) Vergl. „Der Ursprung des Feuers; eine hawaiische
Sage", „Globus" Bd. XXXV, S. 287.
2) Vergl. „Der hundertjährige Todestag Kapitän Cook's",
„Globus" Bd. XXXV, S. 185.
3) Vergl. „Die Vulkanaöttin Pele und die Sintfluth",
„Globus" Bd. XXXVII, S. 316.
F. Birgham:
Oahu, hatte einen heiligen Hahn, den er sehr hoch schätzte.
Als nun Kamapuaa diesen Hahn wegnahm und verschlang,
sandte der König 400 seiner Krieger aus, um den Frevler
zu bestrafen. Aber der Gott erschlug sie alle bis auf einen,
der dem König die Nachricht brachte. Nun sandte Olopana
4000 Mann, denen es aber nicht besser ging, denn auch sie
fielen alle vor der übermenschlichen Kraft Kamapuaa's.
Hierauf sammelte der König ein ungeheueres Heer, um eud-
lich den Tod seines Hahnes und seiner Krieger zu rächen.
Diesmal gelang es auch, den Gott mit seinen Eltern znsam-
men in das Thal Keliiwaa bei Kannla auf Oahu einzu-
schließen; die zahllosen Krieger des Königs hielten den Ein-
gang zu dem Thale besetzt, während auf den anderen Seiten
senkrechte und hohe palis (Felsabhänge) den Ausweg ver-
sperrten. Umsonst bemühten sich Kamapuaa und seine El-
teru, an denselben emporzukletteru, aber alle Anstrengungen
waren vergebens. Da verwandelte der Gott sich in einen
Eber, und als solcher wühlte er rasch eine Rinne oder Furche
in den Abhang, in welcher alle hinaufkletterten und so der
Rache des Königs entgingen. Die Furche aber besteht noch
heute iu dem Pali von Keliiwaa und ist als Kawaa o Ka-
mapnaa bekannt.
Eine ähnliche Tradition spielt auf der Insel Molokai.
Um den Besitz derselben kämpften der Gott Kana und sein
Bruder N i h e u, der, obgleich er von sehr kleiner Gestalt war,
eine ungeheuere Kraft besaß. Als nun eines Tages beide
Brüder in einen Ringkampf geriethen, zertraten sie mit sol-
cher Wuth und Kraft einen Hügel am Meeresuser, daß
große Stücke desselben ins Meer flogen, wo sie noch heutigen
Tages die kleinen Inseln in der Nähe des Ufers bei Pele-
kuuu bilden, und an Stelle des Hügels die jetzige tiefe
Schlucht in jenem nördlichen Theile der Jnfel entstand.
Ein Nachkomme Niheu's war der König Kn-alii, ein
Hauptheros der alten Hawaiier; er soll um das Jahr 1500
bei Kalapawai auf Oahu geboren worden sein, wo sich noch
Spuren seines Heiaus finden. Er war als gewaltiger Lau-
ser berühmt, denn nach der Tradition konnte er in einem
Tage fünf Mal um die ganze Insel Oahu laufen, obgleich
ihr Umfang gegen 100 engl. Meilen beträgt. Er trug
immer das Idol seines Gottes Knhooneenuu um den
Hals; dies soll ein fremder Gott gewesen sein. Unter dem
Schutze desselben vollbrachte Kn-alii große Thaten, und in
blutigen Kämpfen besiegte er die anderen Häuptlinge der
Insel. Auf dem Wege nach Waianae wird noch die Stelle
gezeigt, wo er mit einem Satze über eine 20 Klafter breite
Schlucht sprang, und so seinen Feinden entkam. Er soll
175 Jahre alt geworden sein („vier Vierzig und fünfzehn",
nach hawaiischer Rechnung); da er nun lange vor seinem
Tode vor Schwäche nicht mehr gehen konnte, wurde er von
seinen Leuten in einem koko (Netze) getragen, um noch die
Krieger in der Schlacht befehligen zu können. Als sein Tod
herannahte, wurden von seinen Häuptlingen verschiedene
Pläne vorgeschlagen, auf welche Weise die Knochen des Kö-
nigs, dem Gebrauch gemäß, uach dem Tode zu verbergen
seien, damit kein böser Geist oder Zauberer mit denselben
Unfug treiben könne; aber keiner der Vorschläge gefiel dem
König. Da deutete seiu kahu (Leibdiener) auf seinen Mund,
und Ku-alii nickte mit dem Kopfe und starb. Darauf wur-
den seine Knochen zu Pulver zerrieben und heimlich in die
Speise der Häuptlinge gemischt; „und so blieben sie auf ewig
verborgen".
Eine seltsame Sage ist diejenige von dem Gotte Kauo-
kahi: gleich der Minerva der Alten sprang er ans dem
Haupte seine Vaters Haumea (hu ka lolo ke poo o Haumea).
Ka'ili war der große Kriegsgott der Hawaiier und als
solcher der besondere Schutzgötze des Königs Kamehameha I.,
Globus XXXVIII. Nr. 5.
Südsee-Sagen. 73
der alle Inseln des Archipels unter seinem Szepter vereinigte.
Im Jahre 1792 ließ er seinem Gotte ein Hauptheiau bei
Kawaihae auf Hawaii erbauen, in welchem der große Holz-
götze mit Kriegshelm und rothem Federmantel stand. Am
Tage der Vollendung des Tempels wurden 11 Menschen,
viele Hunde und Schweine dem Gotte geopfert. Auch im
Mittelpunkt der Insel stehen auf dem Hochplateau noch die
Ruinen des großen Heiaus, den der vor Jahrhunderten dort
herrschende, fabelhafte König Umi nach Eroberung der gan-
zen Insel dem Kriegsgotte weihte *).
4. Mythologie und Sagen aus den Banks-Jnfeln.
Vor der Anthropologischen Gesellschaft in London hielt
der Missionär R. H. Codrington am 8. Juni einen Vor-
trag über religiöse Gebräuche und Glauben in Melanesien,
mit besonderer Berücksichtigung der Bauks-Juselu, welche
den nördlichen Theil des Neuhebrideu-Archipels bilden, und
der nordwestlich derselben gelegenen Salomon-Gruppe
Unter allen Melanesien: waren die Eingeborenen der Banks-
Inseln die einzigen, welche keine Kleidung trugen uud nicht
der Anthropophagie anhingen. Doch giebt es keine Beweise,
daß sie je durch polyuesische Einwanderung oder Nachbar-
schaft beeinflußt wurden, obgleich noch heute Eingeborene
leben, welche sich eines Besuches von Doppelkanus aus
Tonga erinnern.
Die Mythologie der Banks-Insulaner unterscheidet ge-
nau zwei Arten von übernatürlichen Wesen, nämlich die nach
dem Tode fortlebenden Seelen der Verstorbenen und die
eigentlichen Götter, welche nie Menschen waren. Letztere
werden Wnis genannt und zerfallen in zwei Klassen: kör-
perliche und unkörperliche. Von ersteren, welche dennoch
vielleicht nur vergötterte Nationalhelden sein mögen, ist Qa t
der hervorragendste; die Legenden über denselben entsprechen
denjenigen über Maui oder Tangaroa bei den Maoris, Ha-
waiiern und anderen polynesischen Stämmen. Die Tradi-
tion von Qat's Verschwinden von den Inseln erinnert sehr
an diejenige des hawaiischen Lono, doch sollen seit Ankunft
der Missionäre manche Ausschmückungen aus der Bibel,
z. B. aus der Geschichte von Noah und der Fluth, hinzu-
gekommen sein. Die Brüder des Gottes Qat heißen alle
Tangaroa, welchen Namen auf den nördlichen Neuhebrideu
alle Wnis führen, während aus den Banks-Jnseln auch die
als Amulete oder Fetische benutzten Steine so genannt wer-
den. Zu derselben Klasse wie Qat und seine Brüder, aber
mit viel geringerem Rang, gehören auch gewisse Wuis, welche
mehr die Natur unserer Feen oder Elfen haben. Manche
derselben, die Nopitu heißen, können sich unsichtbar machen
und fahren dann in die Körper der Menschen. Solche
Besessene, die selbst Nopitu genannt werden, würden z.B. eine
Kokosnuß zum Trinken ansetzen, aber statt der Milch würde
das Muschelgeld der Eingeborenen herauslaufen und gegen
ihre Zähne rasseln; oder sie würden Muscheln erbrechen
oder sich auf einer Matte kratzen und schütteln, während das
Geld aus ihren Fingerspitzen herausfällt, alles Thaten der
Nopitu.
Die andere Klasse der Wuis, diejenige der körperlosen,
nimmt einen viel höhern Rang im Pantheon der Banks-
Insulaner als Qat und seine verkörperten Nebengötter ein.
Sie haben weder Form, Gestalt noch Namen, und es wer-
den keine Legenden über sie erzählt. Doch sind sie sehr zahl-
Vergl. „Eine Besteigung des Hualalai auf der Insel
Hawaii", „Globus" Bd. XXIX, S. 145.
10
74 Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung
reich und haben Macht denjenigen Menschen beizustehen, die
sich mit ihnen in Verbindung setzen können. Dies kann
gewöhnlich mit Benutzung von Steinen, Schlangen, Eulen
und Haifischen geschehen, doch hat nicht Jeder die Gewalt dazu,
sondern nur die Mitglieder einer besondern Priesterklasse.
Wenn einer derselben seinen Stein oder seine Schlange hat,
mit welchen er den Beistand seines Wui erlangen zu können
glaubt, so kann er seinen Sohn oder andere Verwandten
belehren und ihn an seine Stelle treten lassen. Das einzige
Opfer für die Götter scheint bei den Banks-Jnsnlanern das
gebräuchliche Muschelgeld zu sein.
Ueber den Ursprung des Todes berichtet eine selt-
same Tradition, welche sich ohne Veränderung auf den Banks-
Inseln sowie den Salomon-Jnseln findet. Vor langen Zei-
ten starben die Menschen nicht, sondern wenn sie ein hohes
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
Alter erreicht hatten, streiften sie ihre Haut ab, wie die
Schlangen oder Krabben, und kamen in erneuter Jugend
hervor. Einst ging auch ein altes Weib an das Bachufer,
um ihre Haut zu wechseln; darauf warf sie die alte Haut
in den Bach, wo sie an einem Baumzweige hängen blieb.
Nun kehrte das Weib, jetzt in Gestalt eines jungen Mäd-
chens, in ihre Hütte zurück, wo sie ihr Kind gelassen hatte.
Aber dieses erkannte natürlich seine Mutter nicht wieder und
fürchtete sich vor der Fremden. Um endlich das Kind zu
beruhigen, ging die Mutter wieder an den Bach, holte die
abgeworfene Haut und zog sie wieder an. „Und seit jener
Zeit müssen alle Menschen sterben!"
(Berichtigung: „Globus" Bd. XXXVII, S. 313
„Südsee-Sagen", Spalte rechts, Zeile 13 und 25 von
oben, lies „Fächer" statt „Tücher".)
Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
Mit einleitenden allgemeinen Bemerkungen. Von Dr. Konrad Ganzenmüller
II.
Die Dichtigkeit der Bevölkerung2) ist im nord-
westlichen Himalaya etwas größer als im östlichen, jedoch
immer noch gering, verglichen mit der in den Ebenen und
Mittelgebirgen. Sie ist beschränkt durch die nicht unbedeutende
Fläche der ihrer Höhen wegen unbewohnbaren Gebiete, wie
durch die Schwierigkeit des Verkehrs. In den bewohn-
baren Regionen des Centralzuges gehört die Be-
völkerung theils zur mongolischen (tibetischen),
theils zur kaukasischen (arischen) Race. Die zur er-
stern zählenden Stämme finden sich hauptsächlich auf der
Nordostseite des wasserscheidenden Kammes in den Ländern,
die vom Indus und seinen Nebenflüssen durchströmt werden.
Rein tibetisches VolP) bewohnt Gnari KHörsum.
In den hochgelegenen Gegenden weiter im Westen leben
die Tschampas^), welche sich ethnographisch weder von der
Bevölkerung im Südosten, noch von den Ladakhis im Nord-
westen unterscheiden. Sie bewohnen die beiden Seiten des
Jndns-Thales, einige Kilometer unterhalb Demtschok
bis Maya, ferner das Hanle-Thal, das obere Parang-
Thal an der Grenze gegen Spiti, die Gegend um den Tso
Moriri, nördlich davon das Pngha-Thal, westlich von
diesem die Umgebung der Salz-Seen, einen kleinen
Theil des obern Tscharapa- (Tsanskhar-) Thales, das
1) Abkürzungen in den Noten.
Cunningh. Lad. . . . — Cunningham Ladak.
Drew, J. a. K. . . . = Drew, the Jummoo and Kash-
mir Territories.
Tlv........— Ganzenmüller, Tibet.
R. - • • •.....— Ritter, Erdkunde.
Schl. Reis.......— Schlagintweit, Reise in Indien
und Hochasien
Schi. Res...... . — Schlagintweit, Results.
2) Ein Abschnitt aus einer eingehenden Behand-
lung des Himalaya-Systems.
3) Ausführlich besprochen in: Ganzenmüller, Tibet
nach den Resultaten geographischer Forschungen srü-
herer und neuester Zeit. (Stuttgart, 1678.) S. 79 bis 104.
,4) Tschang oder Tschang-Pas bezeichnet im Tibetischen
„Hirten" oder „Viehbesitzer". Yigne, Travels in Kash-
mir II, p. 343.
obere Kharnak-Thal (und im Norden des Indus die Ge-
biete am Tschangtschenmo nördlich vom Pangkong-See x)
Die Tschampas sind Hirten und leben in Zelten,
welche sie in Höhen von 4800 m (15 700 Fuß) bis herab
zu 4200 in (13 700 Fuß) aufschlagen; tiefer herab kom-
men sie nicht. Das Nomadenleben hat ihnen einige Eigen-
thümlichkeiten aufgeprägt. Sie haben ein mehr hervorra-
gendes Kinn, einen ausdrucksvollem Mund und eine mehr ab-
gehärtete Natur als die Ladakhis und find stets wohlgemnthen
und heitern Sinnes. Wenn sie um das kleine Feuer sitzen,
welches ihr frugales Mahl wärmt, erschallt fröhliches Ge-
lächter. Statt der Wollkleider der Ladakhis tragen manche
von ihnen lange Gewänder aus Lammfellen2). Ihre Zahl
beläuft sich auf etwa 500 Seelen. Sie sind in zwei Lager
getheilt, welche sich im Sommer trennen und verschiedene
Weiden beziehen, aber im Winter sich wieder vereinigen.
Die Zeltlager werden regelmäßig im Jahre viermal ge-
ändert, so daß sie ungefähr immer drei Monate auf einem
Platze bleiben3). Es findet sich bei ihnen, wie bei den
Tibetern und Ladakhis, Polyandrie. Ihre Sprache ist
die tibetische; sie lernen selten schreiben 4). Ihrer Religion
nach sind sie Buddhisten, doch wird niemals ein Tfchampa
ein Lama»). Die Bewohner von Rnptschn werden gern
gebraucht zum Befördern der Waaren von Central-Ladak nach
Gartok oder nach Lahol und den britischen Territorien; sie
werden dafür theils mit baarem Gelde, theils mit Getreide
gut bezahlt. Leicht ertragen sie die ungemein strenge Win-
terkälte in ihren Zelten und betrachten Le als eine Stadt,
der man nur im Winter nahen dürfe, und Kaschmir als
ein „heißes" und „ungesundes Land"6). —
Die Ladakhis, welche sich selber Bhots nennen, bei
ihren Nachbaren aber den erstern Namen führen, sind eben-
1) Drew, J. a. K. Race Map.
2) Ib. pp. 242, 473. 489.
3) Ib. p. 238.
4) Ib. p. 491.
5) Ib. p. 242.
6) Ib. p. 290.
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung
falls tibetischer Race. Sie haben sich unterhalb der Tscham-
Pas überall da angesiedelt, wo der Boden anbaufähig ist;
ihre höchsten Dörfer liegen 4300 in (14 000 Fuß) über
dem Meere und sie gehen herab bis 2700 m (9000 Fuß *).
Außer dem Indus-Thal von Maya bis Dargu um
Atschiuathang (und dem Thal des Mittlern Schayok) ist
von ihnen ganz Tsanskhar bevölkert; sie haben auch
kleine Ansiedelungen am obern Bhntna; an der Grenze
gegen die Baltis bewohnen sie einige Dörser gemeinschast-
lich mit diesen2). Die Körperform der Ladakhis tritt
als rein mongolisch hervor. Die Backenknochen sind her-
vorstehend; der untere Theil des Gesichtes ist schmal; das
Kinn ist klein und gewöhnlich zurückstehend; die Stellung
der Augenlider ist schief, die Farbe der Augen braun; die
Nase ist meist breit gedrückt; die Lippen sind hervorragend,
aber nicht sehr dick. Das schwarze Haar ist vorn und an
der Seite des Kopfes kurz geschnitten; hinten ist es lang und
in eine Art Zopf vereinigt, welcher auf den Rücken reicht.
Die Frauen haben die Haare in der Mitte getheilt und auf
jeder Seite in einen Zopf geflochten. Bei den Männern
findet sich fast durchgängig ein kleiner Schnurrbart. Der
Bartwuchs ist aber im Allgemeinen ein sehr spärlicher ^).
Die durchschnittliche Körpergröße beträgt sür die Män-
ner 1,57 m (5'2"), für die Frauen 1,447 m (4/91/4//)-
Schön von Aussehen sind die Ladakhis nicht; aber sie sind
sanft und von guter Gemüthsart, nichts weniger als kriege-
risch, auch nicht zänkisch, obwohl sie sehr viel geistige Ge-
tränke zu sich nehmen. Mord, Raub und Gewalttaten
sind bei ihnen so gut wie unbekannt; Unbefangenheit und
Unbehülslichkeit sind charakteristisch. Doch sind sie nicht
unfähig, Verschiedenes zu lernen, wenn sich ihnen die Gele-
genheit bietet. (Es giebt kaum mehr einander entgegen-
gesetzte Charaktere, als die Ladakhis und Kaschmiris) 4).
Die Kleidung ist sehr einfach; sie ist wollen, grob und
dick; die Wolle wird von Männern, Frauen uud Kindern
gesponnen. Die Männer tragen ein weites und langes vorn
über einander geschlagenes und um die Lenden mit einem
Gürtel zusammengehaltenes Gewand. Als Kopfbedeckung
haben sie entweder sehr große Kappen, welche über das
Hinterhaupt herabreichen, oder kleinere von Lammfellen mit
Ohrenlappen, die im Sommer aufwärts gestellt sind. An
den Füßen haben sie feste Stiefel. Die Sohle und der untere
Theil derselben besteht aus Leder, der obere aus Filz oder
Wollenzeug. Diese Art der Fußbekleidung ist gut gegen
die Kälte und eignet sich zum Erklimmen von Felsen, wo
der Grund sehr trocken und scharf ist. Die Frauen tragen
ebenfalls ein langes wollenes Gewand von blauer oder
rother Farbe5). Ueber die Schulter werfen sie eine Art
Schal, ein längliches mit Pelz gefüttertes Tuch, das vom
Hals bis an die Knie reicht und auf der Brust mit einer
Schnur und einer metallenen Schnalle zusammengehalten
wird; dasselbe hat gewöhnlich zwei grelle Farben, z. B. grün
mit breitem, rothem Rand 6). Als Schmuck des Hauptes
findet sich bei ihnen ein Band mit Muscheln oder rauhen
Türkisen und Perlen verziert, welches von der Stirn aus
nach dem Hinterhaupt gelegt wird. Die Stiefel gleichen
denjenigen der Männer. Zuweilen wird von den Frauen
ein sehr entstellendes Bemalen ihres Gesichtes ausgeführt,
das ihre Reize statt des Schleiers gegen die Augen der Män- •
!) Drew, J. a. K. pp. 231, 489.
2) Ib. Race Map.
3) R. III, S. 623. Schl. Reis. II, S. 42. Cunningh.
Lad., Plates X — XIV, Abbildungen von Ladakhis.
4) Drew, J. a. K. p. 239.
5) Ib. p. 240.
6) Cunningh. Lad. pp. 297, 298.
in dem Centralzng des nordwestlichen Himalaya. 75
uer schützen soll. Die Kleidung beider Geschlechter bleibt
Jahr aus Jahr ein dieselbe. Die Lamas von der Sekte
Geluk-pa oder Galdan-pa, die in Ladak zahlreich vertreten
sind, tragen gelbe Röcke, die anderen rothex).
Die allgemeine Nahrung bildet Gerstenmehlbrei, mit
Fleisch zubereitet. Es finden gewöhnlich drei Mahlzeiten
statt: Morgens, Mittags und Abends. Als Getränk dient
Tschang, ein leichtes Bier, ohne Hopfen gebraut, in der Re-
gel von saurem Geschmack. Es wird auch Branntwein
bereitet, doch ist der Genuß desselben durch das Gesetz ver-
pönt. Ein sehr beliebtes Getränk ist Thee; doch sind Viele
zu arm, um sich dieses gestatten zu können. Es herrscht bei
den Ladakhis überhaupt eine sehr große Frugalität2).
Au Bau- und Brennholz ist großer Mangel. Weiter
im Süden trifft man Häuser vorherrschend aus Holz ge-
baut mit fchiefen Dächern, im Norden sind sie meist aus
getrockneten Backsteinen, haben zwei oder auch mehrere
Stockwerke und flache Dächer, also tibetische Form 3).
Die Ladakhis sind fast alle Ackerbauer; die Zahl der
Handwerker und Handelsleute ist gering; die Kaufläden-
besitzer in Le sind zur Hälfte Fremde. Eine Familie bebaut
2 bis 4 Acres. Die Söhne theilen das Erbe nicht, sondern
bewirthschaften es gemeinschaftlich. Das Feld wird mit
Hülfe des Aak und der gewöhnlichen Kuh gepflügt, das
reife Getreide entweder mit der Sichel geschnitten oder mit
der Wurzel ausgerauft. Der Hak eignet sich auch vorzüg-
lich zum Ziehen von Lastwagen, wozu er von den Ladakhis
fleißig benutzt wird; denn einen Theil ihres Lebensunter-
Haltes erwerben sie sich als Fuhrleute von Handelsgütern4).
Männer wie Frauen sind sehr ausdauernd im Tra-
gen von schweren Lasten. Sie befördern unter lustigem Ge-
sang 60 Pfund an einem Tag bis 30 km weit. Gegen Kälte
sind sie nicht empfindlich; sie sind im Stande, durch nichts
als ihre Kleider geschützt, in einer kalten Nacht ohne
Schaden auf dem steinigen Boden im Freien zu schlafen.
Alle haben eine tiefgewnrzelte Abneigung gegen das Waschen;
doch sollen sie jährlich einmal ein Bad nehmen. Obwohl im
Mittel die Bewohner Ladaks zu den kräftigsten und arbeit-
samsten Menschen gehören, findet sich doch auch hier jene
für die Tibeter eigentümliche Unterleibskrankheit hartnäckiger
bis zu Lebensgefahr sich steigernder Constipation ^).
Polyandrie ist allgemein. Diese Sitte läßt sich wohl
am besten aus der Armuth des Landes an fruchtbarem Boden
erklären. Es leben mitunter vier Brüder mit einer Frau'');
die jüngeren bleiben in einer untergeordneten Stellung; dem
ältesten Bruder fällt die Sorge für die Kinder zu. Diese
sprechen von dem „ältern" und von dem „jüngern Vater" 7).
x) Cunningh. pp. 299, 303 — 305 und Plates XV —
XIX. Schl. Reis. II, S. 454. Drew, J. a. K. p. 240.
2) Ib. p. 247. R. III, S. 620.
3) Drew, J. a. K. p. 249.
4) Ib. p. 246.
5) Schi. Reis. III, S. 287. G. Tib. S. 85.
6) SSergl.Wei tsang thou ob^ (Chinesische Geographie) in
Nouveau Journal Asiatique I. serie, tome III (1829),
p.253: „Dans le Tubet les femmes sontplus robustes
que les hommes; ceux ci sontau contraire d'une Con-
stitution plus delicate. C'est aussi pour cette raison, que
quelquefois trois ou quatre freres de la meme fa-
mille ne prennent qn'une seule femme."
7) Bei der Ankunft der Spanier auf der Canarqchen ^nsel
Lancerota hatte daselbst „eine Frau mehrere Männer,
welche in der Ausübung der Rechte des Fannlienhauptes
wechselten. Der eine Ehemann ward als solcher nur während
eines Mondumlaufes anerkannt; sofort übernahm ein anderer
das Amt und jener trat in das Hausgesinde zurück." (Alex,
v. Humboldt, Reise in die Aequinoctml-Gegenden des neuen
Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff,
Stuttgart 1874, I, S. 35.) Etwas Aehnliches scheint bei den
10*
76 Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung
Auf die Frage, was aus der Ueberzahl der weiblichen Wesen
werde, konnte Drew keine genügende Antwort erhalten; er
fand auch nicht, daß es viele alte Jungfrauen gebe, und die
Zahl der Nonnen ist geringer, als die der Mönche. Nach
seiner Ansicht ist es nicht unwahrscheinlich, daß in Folge
der Polyandrie die Zahl der weiblichen Geburten vermindert
wird. Die Frauen Ladaks haben im Verhältuiß zu denen
Indiens große Freiheit; sie gehen stets uuverschleiert. Bei
dem Feldbau verrichten sie in Gemeinschaft mit den Man-
nern ihren Theil der Arbeit J).
Als Drew nach Ladak kam, um den Maharadscha zu
besuchen, wurde er überall mit Musik von Flageolet, Cim-
beln und Trommeln empfangen. Zur Zeit der großen
Messe in Gartok ließen sich drei Musiker von Ladak in
Moorcrost's Behausung aus Hautboi und Trommel mit Ge-
sang und Tanz hören. Die Hautboi glich ganz einer schot-
tischen Sackpfeife und auch der Gesang erinnerte an die
Lieder der Bergschotten2).
Die meisten Ladakhis verstehen ihre Sprache — das
Tibetische — mit tibetischen Charakteren schön und
ungezwungen zu schreiben. Die Schriftzeichen sind dem
Devanagari oder Schastri entlehnt, in welchem das Sans-
krit dargestellt wurde, und — nach den Forschungen von
Csoma de Körös — in der ersten Hälfte des 7. Jahrhun-
derts 11. Chr. aus Kaschmir nach Ladak gekommen 3).
Die Zeit wird ähnlich wie bei Tibetern und Mongolen
nach Cykleu von 12 oder 60 Jahren gerechnet. Jedes
Jahr trägt den Namen eines Thieres: 1. Mause-, 2. Ochsen-,
3. Tiger-, 4. Hasen-, 5. Drachen-, 6. Schlangen-, 7.Pferde-,
8. Schaf-, 9. Assen-, 10. Bogel-, 11. Hunde-, 12. Schweine-
Jahr. Der erste 60jährige Cyklns beginnt 1026 n. Chr.,
der 15. im Jahre 1876. Während die Inder für jedes
der 60 Jahre einen besondern Namen haben, nahmen die Ti-
beter und Ladakhis die Nomenklatur der Chinesen an, welche
die 12 Thiernamen mit den Benennungen der „fünf Ele-
mente": Holz, Feuer, Erde, Eisen, Wasser, verbinden, z. B.
1. Holz-Mause-Jahr, 2. Holz-Ochsen-Jahr, 3.Feuer-Tiger-
Jahr, 4. Feuer-Hasen-Jahr u. s. w., 11. Holz-Hunde-Jahr,
12. Holz-Schweine-Jahr, 13. Feuer-Mause-Jahr, 14. Feuer-
Ochsen-Jahr u. s. w. 4).
Die alte Ladakhi - Silber -Münze, die bisweilen noch
vorkommt, ist der Dschad oder Dschao; aber als die allge-
meinste Handelsmünze wird jetzt, selbst in Le, die indische
Rupie (1,90 M. bis 2 M.) betrachtet. In den Bazars von
Ladak und Balti findet man im gewöhnlichen Verkehr auch
häufig Silberklumpen, Jambus genannt, sowie europäische
und amerikanische Münzen mit Privatstempeln. Von Kupser-
geld wird mit Vorliebe das chinesische von quadratischer
Form gebraucht').
Einen Ständeunterschied kennen die Ladakhis nur
insoweit, als Grobschmiede und Musiker am tiefsten zu
stehen scheinen und sich die höher stehenden Frauen mit
alten BritanniernSitte gewesen zu sein. Es hatten immer zehn
oder zwölf Männer — meist Brüder — Frauen ge-
meinschaftlich und die Kinder wurden als demjenigen
angehörend betrachtet, welchem die Jungfrau zuerst zu-
geführt worden war. Vergl. Caesar, de bello Gallico V, 14
(Ed. Diibner I, p. 141): „Uxores habent deni duodenique
inter se communes, et maxime fratres cum fratribus,
parentesque cum liberis; sed si qui sunt ex his nati,
eorum habentur liberi, quo primum virgo quaeque de-
ducta est."
!) Drew, J. a. K. pp. 250, 251.
2) Ib. p. 254. R. III, S. 473.
3) Drew, j. a. Ii. p.473. Cunningh. Lad. p. 5, not. 1.
4) Ib. p. 394.
2) Ib. p. 306.
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
solchen nicht verheirathen. Die Priester bilden keine beson-
dere Kaste; ihre Stellen sind nicht erblich *).
Die herrschende Religion ist der Buddhismus2). Aus
jeder Familie verläßt einer der Söhne die weltlichen An-
gelegenheiten, d. h. er wird Lama. Fast in jedem Dorfe
ist ein Kloster, an den Eingängen in dasselbe sind Gebet-
cylinder; der Hof ist geschmückt mit Glocken, Lampen,
Sceptern, Flaggen. In dem Hauptschiff der Tempel steht
ein Altar, in den Seitenschiffen werden musikalische Jnstru-
meute, verschiedene in Ehren gehaltene Objekte und die heili-
gen Bücher ausbewahrt. Von der Decke hängen zahlreiche
Gebetflaggen herab3). Das Studium der Priester wird
in Lafa vollendet und dort die Weihe erlangt. In Ladak
ist die rothe Sekte (Duk-pa) vorherrschend. Zur Ernte-
zeit erhalten die Lamas einen Theil des Ertrags; sie sind
mit dem Erhaltenen stets freigebig gegen Reisende. Pferde-
und Kameelfleifch zu essen, ist ihnen verboten, doch genießen
sie Fleisch von Ziegen, Schafen, Rindern. Sie verheirathen
sich nicht und sind die „geistlichen Vorstände" der übrigen
Volksklassen. Am 25. December, „wann die Soune am
fernsten steht", haben sie ihr Hauptfest. An einigen Stel-
len im Lande sieht man kolossale in Felsen gehauene Fi-
guren, welche Götter darstellen4); überall finden sich (ähn-
lich wie in Tibet) Manis (Gebetmauern) und Tschortens
(Opfer- oder Reliquienbehälter), sowie Gebetflaggen, welchen
die heiligen Gebetsworte :„ Om mani padme, htim!" aufge-
prägt sind 5).
Die rein tibetische Race der Bewohner von Ladak be-
ginnt sich mit dem Auftreten des Islam zu ändern. Schon
70 bis 80 km (40 bis 50 Meilen) westlich von Le wer-
den die Muselmänner sehr häusig. Christliche Missionäre
sind bis Ladak noch nicht vorgedrungen. Die der Grenze
nächste Station ist jene zu Kardong in Lahol <0.
Die Ladakhis, welche Tsanskhar bewohnen, haben
unter allen die besten Eigenschaften. Dieselben bewahrten
die alte Einfachheit der Sitten und ihre Ehre ohne Flecken.
Ihre Sprache hat einige dialektische Abweichungen vou der
zu Le gesprochenen7). —
Die Baltis ^) sind von derselben Race wie die Ladakhis
und unterscheiden sich im Allgemeinen von diesen weniger, als
dieselben mitunter von einander selbst verschieden sind9). Sie
bevölkerndiesüdlichen Seitenthäler des Jndus,uament-
lich das untere Snru-Thal, dann das Jndus-Haupt-
thal selbst an der Mündung des Suru und von ober-
halb Kartakscho bis Tulu (unterhalb Rondu), und im
Norden die unteren Thäler des Schayok und des Schi-
gar bis herab zu 1300 m (6000 Fuß)^). Die Baltis
haben eine ausgeprägte turanische Physiognomie mit
hohen Backenknochen und kleinen schiefen Augen, aber meist
einer weniger eingedrückten Nafe als die Tibeter; auch zeigt
sich bei ihnen etwas stärkerer Bartwuchs. Der Statur nach
sind sie größer und stärker , als die Ladakhis, was von dem
mildern Klima herrühren mag; doch haben sie nicht die-
selbe Ausdauer im Tragen, sind aber dafür geschickt, Waa-
1) Drew, j. a. K. p. 241.
2) G. Tib. S. 93 bis 101.
3) Vergl. Sehl, Atlas to the Res. Yol. II, Panoramas
and Views Nro. 12: Interior of the Buddhistic temple
of the monastery Mangnang, in Gnari Khorsum.
4) Vergl. Abbildung: Drew, j. a. K. p. 257.
5) Ib. pp. 256 — 259. G. Tib. S. 98.
6) Schi. Reis. III, S. 256.
7) Drew, J. a. K. p. 284.
^ Vergl. Ptol. Geogr. VI, 13 (Ed. Wilberg, p. 424):
v(p: oi!f ticiqu To c'I/uccov ogog Bvltcu.
9) Drew j. a. K. p. 356.
10) Ib. p. 490 und Race Map.
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya. 77
ren und leichtere Lasten auf Bergpfaden weiter zu beför-
dern, die ein anderer belasteter Mann nicht zu gehen wagen
würde i). Im Vergleich zu den Kaschmirern find sie nn-
schön; so gewöhnlich Frauenschönheit in Kaschmir angetrof-
fen wird, ebenso selten ist sie in Balti2). Die Gesichts-
färbe der Baltis ist gewöhnlich gelb 2). Sie sind gut gear-
tet und von heiterer GemUthsstimmung 3).
Ihre Kleidung ist aus demselben Stosf wie die der
Ladakhis; aber sie tragen nur kurze bis an's Knie reichende
Röcke und auf dem Haupte kleine runde Kappen, (der Oberste
in einem Dorfe hat über dieser Kopfbedeckung noch eine
Art Turban). In der wärmern Jahreszeit geht das Volk
zu einem Theil barfuß; im Winter werden Stiefel angezo-
gen von weichem Leder oder von Ziegenfellen mit nach
innen gekehrtem Haar. Die Baltis scheeren nach moham-
medanischer Sitte die Haare kurz und lassen nur an den
Schläfen Seitenlocken stehen.
Als Mohammedaner haben sie die Polyandrie verlas-
sen uud Polygamie angenommen, obschon sie dieselben
ökonomischen Gründe für die erstere hätten, wie die Tibeter
und Ladakhis, denn der anbaufähige Boden ist sehr be-
schränkt. Das Land ist verhältnißmäßig arm und bietet
keine Mittel für eine dichte Bevölkerung. Die Bewohner
wandern daher gern aus und gründen Ansiedelungen
in besseren Gegenden. So finden sich viele Baltis in Uar-
kand und Kaschmir, ja sogar in Dschemn. Hunderte gehen
in den Militärdienst des Maharadscha und es ist ein eigenes
„Balti-Regiment" formirt. Am liebsten suchen sie in
neuester Zeit die britischen Territorien aus; an ein heißeres
Klima sind sie in ihren engen niedriger gelegenen Thälern
schon gewöhnt. Trotz der Auswanderung erzeugt iudeß
das Land mehr Leute, als es hinreichend ernähren kann, und
die Folge davon ist eine schwächliche Bevölkerung; die kör-
perlich kleineren Ladakhis sind viel robuster und ansdauern-
der als die Baltis^).
Ihre Sprache ist ein Dialekt der tibetischen; sie ist
ohne ein besonderes Alphabet — bei den Eigennamen wer-
den oft arabische Schristzeichen angewendet — und wenig
von der Ladaks verschieden h).
Während es früher hier nur Buddhisten gab, sind jetzt
alle Baltis Mohammedaner und gehören der Sekte der
Schiiten an, mehrere aber auch der zwischen Schiiten und
Sunniten stehenden, Namens Nur Baksch. Der Islam
war in jenen Gegenden lange immer im Fortschreiten be-
griffen; erst in neuester Zeit ist in der weitern Ausbreitung
desselben ein Stillstand eingetreten, da der Maharadscha
von Dschemn und Kaschmir dem Buddhismus als einer der
seinen verwandten Religion die größte Aufmerksamkeit zu-
wendet 6). —
Die Dards7) bewohnen einige Theile am Indus
ober- uud unterhalb Dah von Sandschak bis Marol
zwischen Ladakhis und Baltis, sowie das Jndns-Thal
unterhalb Tulu und an dessen Wendung nach Süden, fer-
Drew, J. a. K. p. 357.
2) Vigne, Travels in Kashmir II, pp. 235, 236, 271.
3) Drew, J. a. K. p. 358.
4) Ib. p. 359.
5) Ib. p. 473. Yigne, Travels in Kashmir II, p. 267.
6) Drew, J. a. K. p. 360. Schl. Reis. III, S. 265.
7) Wohl bit Jadixcu des Herodot (III, 91; VII, 66). Die
Dards sind die JsQdcti, des^ Strabo (XV, 1. — Ed. Kramer
III, p. 214 —: (pr\alv ozt tv [im Sanskrit: Dara-
bacaä] /ueydhüj i(bv tiqoosukov xcd oqeivcav'ivdmv),
die Ja()ä&Qcu des Pto 1 einäus (VII, 1. — Ed. Nobbe II,
p. 149 —: vTzo cik tag rov °lvdov JaQa&pcn), die Dardae
des Plinius (Nat. hist. XI, 31. — Ed. Silligll, p. 281—:
in regione septentrionalium Indorum, qui Dardae vocan-
tur).
uer das Dras-Thal, das Thal des Mittlern, und unter
Schingo, des Mittlern und untern Schigar (eines Zu-
flufses des Suru), das Gebiet des obern Kischenganga-
Thales uud jenseits des Indus das Gebiet des Gilgit-
Flusses. Sie sind nach Sprache und Physiognomie
arischer Race. Dr. Leitner ist der erste gewesen,
der sie näher erforscht hatJ). Die Dards sind breit-
schulterige wohlproportiouirte Menschen2); sie sind thätig
und ausdauernd, tüchtige Bergsteiger und vortreffliche
Lastträger; ihre Gesichtsbildung ist ziemlich schön; das
Haar ist gewöhnliche schwarz, manchmal auch braun; die
Gesichtsfarbe ist meist, wenn auch nicht immer, fo licht, um
die Röthe der Wangen durchscheinen zu lassen; die Augen
sind braun. Wenn sie auch geistig nicht so geweckt sind,
wie die Kaschmiris, so sind sie doch von klarem Verstand
und von lebhafter Auffassungsgabe. Sie kämpfen für
ihre Rechte und erwehren sich der Unterdrückung so lange
als möglich. Sie sind nicht gerade von besonders sans-
ter Gemüthsart, aber anch nicht unhöflich, wenn ihnen
nicht Unrecht geschieht. Dies sind Eigentümlichkeiten,
welche ihnen Sympathien erwerben. Völkerstämme, die
wie die Dards, ohne Schmeichelei uud Furcht auf der einen
und ohne impertinente Selbstüberschätzung auf der andern
Seite dem Fremden begegnen, sind im Oriente nur selten
anzutreffen. Die Frauen sind nicht schön; erst die Gegend
jenseits des Indus soll wieder schmuckere Gestalten aufzu-
weisen haben.
Die Kleider der Dards sind wollen; nur die Ange-
hörigen höherer Klassen tragen im Sommer baumwollene
Gewänder, soweit sie solche bekommen können. Das lange
lose Kleid wird von einem Gürtel zusammengehalten. Die
Kappe hat eine eigentümliche Form. Man rollt ein
Stück wollenen Tuches (etwa eine halbe Elle lang) so zu-
sammen, daß in der Mitte eine Vertiefung für den Kopf
entsteht und ringsherum eine Art Krämpe zum Schutze ge-
gen die Kälte oder gegen die Sonnenstrahlen. Diese Kopf-
bedecknng ist charakteristisch, da die Dards dieselbe überall
beibehalten, wo sie auch zerstreut leben mögen, mit alleiniger
Ausnahme derjenigen, welche sich zum Buddhismus bekennen.
An den Füßen tragen sie Lederstreifen, welche mit einem
laugen vielfach herumgewickelten Riemen zusammengehalten
werden, der den Fuß zugleich gegen die Kälte schützt3).
Die Dards zerfallen in bestimmte Klassen, welche als
Kasten bezeichnet werden können, und welche nicht unter
einander Heirathen. Man kann deren vier unterscheiden.
Am niedrigsten stehen die Dums, welche die Musik
pflegen (gleich den niedrigen Marasis im Pendschab, den"
Domes in verschiedenen Theilen Indiens, den Bems in
Ladak, den Batals in Kaschmir. Auch die niedrigste Kaste
in Dschemn heißt Dum, obwohl die Musiker und Tänzer
nicht aus derselben genommen sind). Ihre Zahl ist nicht
groß. Da sie sich in Gestalt und Gesichtszügen mehr oder
weniger von den Angehörigen höherer Klassen unterscheiden,
so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe, daß sie von den frühe-
ren durch die einwandernden Arier verdrängten Bewohnern
Indiens abstammen.
Die Kremins scheinen mit denKahars in Indien, den
Dschiwars im Pendschab identisch zu sein. Sie sind Hand-
werker und ebenfalls wenig zahlreich. Ihrer Abstammung
nach sind sie wohl Mischlinge von früheren Bewohnern und
den ersten Einwanderern.
a) The Languages and Races ot Dardistan by Dr.
G. W. Leitner.
2) Photographie von drei Dards aus der Gegend von Dras.
Drew, J. a. K. p. 424.
3) Drew, J. a. K. p. 425.
78 Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung
Die Haschknnssind am zahlreichsten; in Astor und Gil-
git bilden sie den Hanptbestandtheil der Bevölkerung, deren
Beschäftigung vorzüglich in Ackerbau besteht. Leitner
redet von ihnen als „Mischlingen von den höher stehenden
Schins und einer andern Klasse" J); Drew dagegen spricht
die wahrscheinlicher klingende Ansicht aus, daß die Aaschkuns
und Schins, welche sich in Körpergestalt und Physiognomie
fast ganz gleichen, den eigentlichen Volksstamm ansma-
chen, den man Dards nennt, und daß diese einst in das Land
einfielen und es den ursprünglichen Bewohnern nahmen, von
denen noch Ueberreste in den niederen Kasten zurückgeblieben
sind. Wie die Einteilung in Mschkuns und Schins entstanden
sein mag, läßt sich kaum erklären. Eigentümlich ist, daß
(nach Leitner) ein Schin eine Fran aus der Mschkuu-Kaste,
nicht aber umgekehrt ein Paschkun eine Frau aus der Schin-
Kaste nehmen kann 2).
Die Schins stehen am höchsten. An einigen isolirten
Plätzen bilden sie die Mehrheit der Bewohner; in Astor
und in Gilgit sind die Mschkuus überwiegend. Eine Eigen-
thümlichkeit von ihnen ist, daß sie einen eben so großen
Abscheu vor der Kuh haben, wie die Mohammedaner vor-
dem Schwein, daß sie weder Kuhmilch trinken, noch Butter
genießen, noch auch getrockneten Kuhmist brennen. Rinder
müssen zum Pflügen der Aecker gehalten werden; sie suchen
aber mit denselben, wenn irgend möglich, in keine nähere
Berührung zu konnnen. Ein größerer merkwürdiger Kon-
traft zwischen solchem Abscheu vor der Kuh und der hohen
Verehrung, welche die Hindus diesem Thiere zollen, wird
kaum irgendwo zum zweitenmal so nahe beisammen zu finden
sein. In Daschkim (21 km oder 15 Meilen unterhalb Astor)
vermeiden die Schins Geflügel zu essen oder zu berühren.
Wahrscheinlich haben sich dergleichen Absonderlichkeiten aus
früherer Zeit erhalten, als diese hohe Kaste streng abgetrennt
von den übrigen Bewohnern lebte. Die Schins sind mit
Uaschknns untermischt längs des Jndns-Thales und in den
Seitenthälern, welche sich unmittelbar in das Hauptthal
öffnen. Aaschkuns ohne Schins wohnen in den höher ge-
legenen Gegenden, namentlich in Nagar, Huusa, Jschkoman,
Häsin und Tschitral3).
Die Dards bekennen sich zum Islam. Bon
ihrer frühern Religion wissen wir nichts; ebensowenig ist
bekannt, wann sie bekehrt wurden. Als die Sikhs in jene
Länder eindrangen, waren sie noch „laue Bekenner der
Lehre des Propheten". Erst durch den Anführer der Sikhs,
Nathu Schah, wurden sie „gute Mohammedaner". Nun
sind sie theils Schiiten, theils Sunniten, theils Molai (eine
Modifikation der Sekte der Schiiten), welche in Bezug
aus Veten und Fasten den Sunniten, in Bezug auf Aner-
kennung der wahren Nachfolger Mohammed's den Schiiten
folgen. Molais und Schiiten trinken Wein, die Sunniten
enthalten sich desselben. Diese religiösen Unterschiede fallen
keineswegs mit den Kastenunterschieden zusammen. In
einigen Theilen des engen Jndnsthales, welche zu Central-
Ladak gehören, wohnen Dards, welche sich zum Buddhismus
bekennen, so in Grugurdo, Sanatscha, Urdus, Dartschik,
Gaskon, Dah, Phindur, Baldes, Hann4). Ihre Sprache,
wie auch ihre Sagen weisen darauf hin, daß sie von Gilgit
her eingewandert sind, doch muß dies schon seit lange gesche-
hen sein. Sie sprechen meist das Dardi, in dem Seiten«
thale von Hann dagegen haben sie das Ladakhi angenom-
men. In ihren Gesichtszügen haben sie gar nichts mit den
Bewohnern von Ladak gemein und diese beiden Racen haben
*) Leitner, Dardistan II, p. 25; III, p. 48.
2) Drew, J. a. K. pp. 427 - 429.
3) Ib. p. 429.
4) Ib. Race Map.
in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya.
sich gar nicht oder nur sehr wenig vermischt. Die Dards
sind größer und stärker als dieLadakhis, aber nicht so schön
wie ihre Stammesangehörigen in Astor und Gilgit. Ihre
Kleidung ist derjenigen der Ladakhis ähnlich. Sie sind sehr
schmutzig und die Frauen übertreffen in dieser Hinsicht
noch die Männer. Das Gesicht scheint niemals gewaschen
zu werden. Man findet bei ihnen Polyandrie. Die reli-
giösen Gebräuche beobachten sie nicht mit derselben Aufmerk-
famkeit wie ihre Nachbarn; auch werden keine jungen Man-
ner Lamas. Die Leichname verbrennen sie *).
Die Sprache der Dards, von der zuerst Leitner in sei-
nem Werke über Dardistan ein Wörterverzeichniß und eine kurze
Grammatik gegeben hat, und welche mit dem im südlichen
Himalaya zwischen Rawi und Tschinab herrschenden Dogri
verwandt ist2), zerfällt in mehrere Dialekte. Diejenigen, welche
auf der linken Seite des Indus gesprochen werden, sind
der von Astor und der von Dah; dieselben werden nicht
schriftlich dargestellt3).
Von Roth, von Bedrückung oder von anderen Ursachen
gezwungen, sind die Dards vielfach aus ihrem eige-
neu Heimathslaude zerstreut worden. In Rondn
leben sie nahe zusammen mit den Baltis. Die beiden ver-
schiedenen Stämme vermeiden hier aber streng, untereinander
zu Heirathen. Um Bascho leben sie gemischt und gehen auch
Ehen ein, so daß die Verschiedenheit mehr und mehr ver-
schwindet. In Dras sind die Dards Sunniten, und die
eben daselbst wohnenden Baltis Schiiten. Wo die Dards
in Verbindung mit den Batis kommen, werden sie von
diesen — gleichviel ob sie Mohammedaner oder Buddhisten
sein mögen — Brok-pa oder Blok-pa genannt. Brök
bezeichnet aber im Tibetischen einen hochgelegenen Weideplatz
undBrokpa fittb daher „Hochländer". Sie scheinen mit
den Baltis bekanntgeworden zu sein, indem sie über die Hoch-
Pässe vordrangen und die höchsten, vielleicht zuvor bewohnt
gewesenen Theile oder Thäler in Besitz nahmen4). —
Die majestätische Gebirgsmasse des Nanga-Parbat oder
der Diyamir bildet die Grenze von Balti und von dem Reich
des Maharadscha von Kaschmir und Dschemu. Die West-
lich davon liegenden Gebiete haben die Tschilasis inBe-
sitz. Dieselben gehören zu der Race der Dards. Bis 1830
pflegten sie oft plündernd und raubend in das Astor-Thal
einzufallen, das Vieh wegzutreiben und die Einwohner als
Sklaven mit sich fortzuschleppen. Eine auf Befehl des
Maharadscha 1851 gegen sie ausgesendete militärische Ex-
pedition hat sie so erschreckt, daß sie seit jener Zeit nicht
mehr über die Grenze gekommen sind. Es ist sogar ein
friedlicher Verkehr mit ihnen angebahnt. Auffallend ist,
daß während die Bewohner von Astor alle Reiter sind und
viele Ponies ziehen, die Tschilasis die Pferde und deren
Gebrauch wie deren Nützlichkeit für den Menfchen nicht
kennen b).
Weiter gegen den hier zuerst nach Westen, dann nach
Südwesten und Süden fließenden I n d us liegt terra incog-
nita oder „unexplored country" 6). Noch niemals ist es
einem Europäer gelungen, in dieses Gebiet vorzudringen.
Von allen Seiten schwer zugängig, ist dasselbe von e i n e r A n -
zahl unabhängiger, einander gegenseitig seind-
lich gesinnter Bergvölker bewohnt. Im Ganzen
Drew, J. a. K. pp. 430 — 432.
2) Die Zahlen von I bis 5 heißen im Dogri: ek, do, tre,
tschar, pandsch; im Dardi: ek, duh, tre, tschar, pusch;
in beiden Sprachen: Hand — hath; Auge = (int Dogri) akhi,
(im Dardi) atschi u. s. w. Drew, J. a. K. pp. 516 — 521.
3) Ib. pp. 468 — 473.
4) Ib. p. 433.
5) Ib. pp. 398 — 399.
6) Ib. General Map.
Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Centralzug des nordwestlichen Himalaya. 79
genommen wurde es noch niemals und von keiner der an-
grenzenden Mächte förmlich unterworfen. Jede Gemeinde
erwählt selber ihr Oberhaupt und verkehrt wenig mit den
Nachbarn. Mit der Außenwelt steht es nur durch einige
wenige Individuen in Verbindung, die das Vorrecht be-
sitzen, als Handelsleute die Gegend zu bereisen. Ein Mul-
lah, Mitglied der indischen Landesvermessung, in Besitz die-
ses Privilegiums, durchstreifte in der doppelten Eigenschaft
als Handelsmann und Forschungsreisender in neuester Zeit
das Indus-Thal mit mehreren seiner Nebenthäler x). —
Zwischen den Wohnsitzen der bis jetzt eingehender be-
trachteten Volksstämme und der Bevölkerung im Süden des
wasserscheidenden Centralzuges des Himalaya liegen weite
Strecken gänzlich unbewohnten Landes. Dasselbe
umfaßt von Südosten nach Nordwesten folgende Theile: In
Ruptschu: die Hochgebirgsrücken zwischen dem Koyul- und
Hanle-Thal, zwischen dem Hanle-Thal und dem Tso Moriri,
zwischen dem Sumkiel und dem Tscharapa; in Central-
Ladak: die Bergrücken zwischen Indus und Markha, zwi-
schen Gya, Markha und Sumkiel einerseits und dem Khar-
nak andererseits; in Tsanskhar: die ausgedehnten Regio-
nen des Hochgebirges zwischen dem Kharnak- und dem
Mittlern Tsanskhar - Thal, zwischen diesem und dem Penise-
sowie zwischen dem Mittlern Tsanskhar- und dem Wanla-
Thal; in Balti: die weiten Gebiete zwischen dem Penise
und Tsanskhar einer- und dem Suru andererseits, die Hoch-
gebirgsrücken zwischen dem obern Schingo-, dem Dras- und
dem obern Kischenganga-Thal, ferner das ganze Deofai-Pla-
teau; in Astor: die Gegend westwärts vom Astor- bis
zum Kischenganga-Thal; weiter im Süden in Spiti und
Lahol, sowie in dem zum Reich des Maharadscha von
Dschenin und Kaschmir gehörenden Gouvernement Udam-
pur: die zum größten Theil mit ewigem Schnee bedeckten
gewaltigen Hochgebirgsregionen zwischen dem Tsanskhar-,
Pentse- und Suru-Thal im Norden und dem Tschinab- und
Marn-Wardwan-Thale im Süden2). —
Die Provinz Spiti im Westen von Gnari-Khorsum
ist von „rein tibetischer Race" bevölkert.
Weiter westwärts in Lahol zeigt sich auch noch viel Ti-
betisches. Jenes Gebiet wird von einer Mischrace zwi-
schen Tibetern und Hindus, von den Kanets, bewohnt. Diese
sind in Körperform und Kultur weniger von der entspre-
chenden Stufe der Hindus, welcher sie sich zurechnen, ent-
fernt, als die Bhot Radschputs, die in Kamaon und Gerhwal
am zahlreichsten sind, und wenn sie keine höhere Stelle als
jene einnehmen, so ist dies als Folge davon zu betrachten,
daß es ihnen niemals gelang, gleiche politische Macht sich
zu verschaffen. Sie finden sich als die herrschende Bevölke-
rnng in (Kamaon, Tschamba, Knln und) Lahol. Auch in
Kischtwar kommen sie noch vor, dort aber mit Musel-
Männern vermischt, während in den anderen Provinzen, am
deutlichsten in Lahol, jene ihrer Mitbewohner, die nicht als
reine Kanets sich zeigen, in Race, Sprache und Lebensweise
den Tibetern mehr verwandt sind. Das Haar tragen die
Kanets zu beiden Seiten weit herabhängend und auf dem
obern Theil des Kopses kurz geschoren; an der Stirn ragt
meist etwas Haar unter dem kleinen leichten Turban hervor.
Man sieht bei ihnen wie bei den Bhot Radschputs, daß sie hohen
Werth auf Schmuckgegenstände legen; so tragen auch die
Männer gern Ohrringe, Armbänder und Gehänge aller Art.
Der einfachste Schmuck, den selbst die Kulis selten vergessen, ist
eine frische Blume über dem einen Ohr ins Haar gesteckt3).
Im Snryabhaga-Thal sprechen die Bewohner einen
1) Geographical Magazine 1878, p. 12.
2) Drew, J. a. K. Race Map.
3) Schl. Reis. II, S. 449, 450.
Mit Karte.
Hindu-Dialekt, welcher dortGari (inTschamba: Gadi)
genannt wird. Im übrigen Lahol bedient sich das Volk
zweier Sprachen: des Tibetischen und des Baten. Das
Letztere erstreckt sich dem Tschandrabhaga-Thal entlang ziem-
lich weit abwärts. In den mittleren Theilen Lahols finden
sich nach den sehr gründlichen und lange fortgesetzten Unter-
suchungen von Jäschke auch noch das Bn-nan und das
Ti-nan als älteste Sprachreste aus der Zeit vor der ari-
schen Einwanderung, die auch deutlich als vom Tibetischen
getrennt zu erkennen sind. Die Schrift der Bewohner von
Lahol (und Kulu) ist eine Mittelsorm zwischen Sanskrit
und Tibetisch. Es wird, wie im Bengali und in dem eben-
falls auf das Sanskrit (aber in sehr veränderter Form)
basirten Tibetischen von links nach rechts, nicht, wie im
Hindustani, von rechts nach links geschrieben *). —
Die Pahari, d. h. „Bergbewohner" — von ihren
Nachbarn im Süden, den Dogras, also genannt —, bevöl-
kern Padar, im Westen von Lahol, und Pangi, Kischt-
war (und Badarwa, sowie weit im Westen Budil, zu bei-
den Seiten des Ans-Flnsses). Sie sind ein sehr abgehörte-
ter Volksstamm, von kräftiger Körpergestalt und haben eine
gerade aufsteigende Stirn, dichte Augenbrauen und eine ge-
bogene Nase; ihr langes schwarzes Haar fällt bis auf die
Schultern herab; der Bart ist etwas dicht, wird aber uicht
sehr lang. Die Männer tragen lichtgraue wollene Röcke,
diese werden in jedem Hause selbst verfertigt und haben in
einigen Theilen etwas' längere, in anderen etwas kürzere
Gestalt; sie werden stets mit einem Gürtel oder einem Bande
um die Lenden zusammengehalten. Die Kappen sind von
verschiedener, manchmal von spitziger Gestalt, zuweilen sind
sie mit Seitenlappen versehen. Auf Reisen werden vielfach
wollene Decken, von demselben Stoff wie der Rock, mitge-
nommen, um sich mittels derselben gegen die Unbilden der
Witterung zu schützen. Die Frauen haben ein langes Ge-
wand ebenfalls meist von hellgrauer, manchmal auch von
schwarzer Farbe, das, gleich dem Rock der Männer, durch
einen Gürtel zusammengehalten wird; außerdem tragen sie
niedere runde Kappen. Die überwiegende Kaste unter den
Paharis sind die Thakars. Diese sind fast die alleinigen
Besitzer des Landes; sie sind die „Bauern der Berge". Die
niederen Kasten der Dum und Megh sind überall zer-
streut; die denselben Angehörenden sind wie die Thakars ge-
kleidet, aber gewöhnlich nicht so groß von Körpergestalt und
von weniger gutem Aussehen2). Das Pahari, welches
schriftlich nicht dargestellt wird 3), bildet den Uebergang von
dem mit den Hindu-Dialekten in der Ebene sehr verwandten
Dogri zum Kaschmirs). Ihrer Religion nach sind die Pa-
haris größtenteils Hindus5).
Weiter nach West hin wohnen die Kaschmiris und
Tsch ibhalis. —
In den näher betrachteten Gebieten bewohnt die turani-
sche Race: GnariKhorsnm und Spiti (Tibeter), Rupt-
schu (Tschampas), Ladak und Tsanskhar (Ladakhis),
Balti (Baltis).
Die arische Race: Astor — nebst Gilgit — und
Theile von Balti (Dards), Padar und Kischtwar
(Paharis), Kaschmir (Kaschmirer und Tschibhalis)6).
Die Misch race der Kanets: Lahol.
Turanische Sprachen und Dialekte werden gespro-
chen in: Gnari KHörsum und Spiti (das Tibetische),
x) Schl. Reis. S. 453.
2) Drew. J. a. K. pp. 106, 107 und Race Map.
3) Ib. p. 472.
4) Ib. p. 467.
5) Ib. p. 106.
6) Ib. Race Map.
80 Aus allen
in Ladakh und Tsanskhar (das Ladakhi), in Balti
(das Balti).
ArischeSprache in: Astor — nebst Gilgit— und
einigen Th eilen von Balti (das Dardi), inPadar und
Kischtwar (das Pahari), in Kaschmir (das Kaschmiri und
Tschibali) i).
Der Buddhismus ist verbreitet UberGnariKhor-
sum, Spiti, Ruptschu, Ladak und Tsanskhar.
Der Mo Hammedanismus über Balti, Astor
— nebst Gilgit — sowie über Kaschmir.
Der Hinduismus über Padarund Kischtwar 2).
*) Drew. J. a. K. Language Map.
2) Ib. Faith Map.
Erdth eilen.
Es ist schwierig, bei diesem Gemisch von Sprachen und
Dialekten die Befehle der Regierung zum allgemeinen Ber-
ständniß zu bringen. Die ossicielle Sprache in dem Reich
des Maharadscha von Dschemu und Kaschmir ist das Per-
sische; in demselben werden alle Erlasse abgefaßt. Der
Gebrauch dieser Sprache, deren Schrift auch in den britischen
Provinzen des Pendschab für das Hindustaui adoptirt ist,
und welches von den Reisenden und Handelsleuten von Ka-
bul und Aarkand in Dschemu und Kaschmir gesprochen und
verstanden wird —daher auch als das „Französische Asiens"
bezeichnet werden kann —, ist auf die Herrschaft der Groß-
mogulen in Delhi zurückzuführen 2).
x) Drew. J. a. K. p, 470.
Aus allen Erdtheilen.
Asien.
— Mr. Laurence Oliphant ist kürzlich von einer
Forschungsreise im O st jordanlande nach England zurück-
gekehrt und jetzt nach „Nature" mit der Ausarbeitung seiner
Resultate beschäftigt.
— Jedem Leser von F. Kanitz' Werke „Donau-Bulgarien
und der Balkan" wird erinnerlich sein, mit wie großer Än-
erkennnng derselbe überall von dem rastlosen und zielbewuß-
ten Wirken Midhat Pasch a's für sein damaliges Wilajet
spricht. Er ist so recht eigentlich ein weißer Rabe unter der
bodenlos versumpften türkischen Beamtenschaft und weiß,
was dem Lande frommt und wo der Krebsschaden sitzt, der
an dessen Marke zehrt — allein was vermag ein einzelner
Mann zu thun, wo es sich um ein so gewaltiges Reich und
so verschiedenartige Nationen und deren Bestrebungen han-
delt! Wir finden in der „Warte des Tempels" eine ans-
führliche Schilderung eines Besuches, den Midhat, jetzt Ge-
neralstatthalter (Wali) von Syrien, von Tiberias und Naza-
reth kommend der deutschen Templer-Kolonie bei
Haifa abgestattet hat. Er erkundigte sich sehr eingehend
nach den Bedürfnissen und den Verhältnissen der Kolonie,
bewunderte den Fleiß und die Leistungen der deutschen
Bauern und versprach ihnen seine ernstliche Unterstützung.
Die „Warte des Tempels" schreibt darüber: „Während der
Mahlzeit trank der Wali auf das Wohl.und Gedeihen un-
serer Kolonie, wobei er, der auch gewählt und geläufig Fran-
zösisch und Arabisch spricht, in einem längern, in türkischer
Sprache gehaltenen Trinkspruch auseinandersetzte, daß die
Türkei in ihrer Entwicklung stillgestanden sei und deshalb
sich habe an Europa wenden müssen. In Militäreinrichtnn-
gen und Marine, in Fabriken und Handel, überall seien
die Europäer ihre Lehrmeister; so seien ihnen aber auch
europäische Lehrmeister in der Bearbeitung des Bodens, in
der Agrikultur, ein Bedürsniß. Er freue sich nun sehr, hier
eine Kolonie zu finden, die diesem Bedürsniß entgegenkomme,
und er wünsche ihr nicht allein das beste Gedeihen, sondern
werde ihre Bestrebungen auch mit allen ihm zu Gebot stehen-
den Mitteln unterstützen. Hierzu forderte er auch die an-
wefeuden Beamten, den Pascha von Acca und Kaimakam
von Haifa, auf, indem er sie direkt darauf aufmerksam
machte, daß es ihre Pflicht sei, anstatt, wie bisher oft ge-
fchehen, erschwerend den Unternehmungen der Kolonisten ent-
gegenzutreten, denselben alle mögliche Erleichterung und
Unterstützung angedeihen zu lassen.
Midhat Pascha ist also der erste höhere türkische Beamte,
der unsere Mühe und Arbeit und ihre Erfolge anerkennt
und würdigt; wir sind gleichsam erst jetzt vom türkischen
Staat anerkannt, indem der Pascha und Kaimakam von
höhern Orts die Weisung bekommen haben, das Werk nach
Kräften zu unterstützen."
Wenn es nur nicht auch hier wieder so geht, wie in
Bulgarien, wo Midhat bald abberufen wurde und feine
Nachfolger sich beeilten, die von jenem angefangenen Ver-
befsernngen zu vernichten, oder sie verfallen ließen!
(Nachschrift: Ende Juni ist die Nachricht eingetroffen,
daß in Haifa ein blutiger Zusammenstoß zwischen Beduinen
und den deutschen Kolonisten stattgefunden hat. Man glaubt,
daß die von Midhat getadelten türkischen Beamten die An-
stifter der Beduinen gewesen sind.)
— Im russischen Kommunikationsministerium soll man
die Erbauung eines förmlichen Eisenbahnnetzes in Si-
birien beabsichtigen und zwar zuerst diejenige einer 350
Werst langen Bahn von Je katerinen bürg im Ural nach
Tjumen. Wenn es aber heißt, daß diese erst noch zu er-
bauende Bahn im Falle eines Krieges mit China zur schnel-
len Truppenbeförderung dienen soll, so genügt ein Blick auf
die Karte, um zu begreifen, wie geringe Vortheile diese ver-
hältnißmäßig kurze Strecke nur zu bieten vermag.
Afrika.
— Am 7. Juni d. I. hat sich die dritte belgische
Expedition nach Jnner-Afrika in Brindisi nach Aden
und Zanzibar eingeschifft. Dieselbe wird von dem Genie-
Hauptmann Ramaekers befehligt und besteht außerdem
aus den Lieutenants Belem und Becker und dem Photographen
Demenfe. _
Inhalt: Lncca und seine Umgebung. II. Mit fünf Abbildungen.) — Die Liven in Kurland. — F. B i r g h a m:
Südsee-Sagen. — Dr. Konrad Ganzenmüller: Die Bevölkerung in dem Eentralzug des nordwestlichen Himalaya. II.
(Schluß). — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — (Schluß der Redaction 3. Juli 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Verlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Drnck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
SUvrt«ttf&hiötrt Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i 00 a
OlUllli | CljlDClQ zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. i ÖÖU.
Lucca und seine Umgebung.
(Nach dem Französischen des M. Henri Belle, französischen Konsuls in Florenz.)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
III.
Die flüchtige Musterung der Luccheser Kirchen wäre
unvollständig, wenn wir nicht zum Schlüsse der kleinen Kirche
San Giusto Erwähnung thäten, welche schon in Urkunden
des elften Jahrhunderts als neben dem königlichen oder her-
zoglichen Hofe, d. h. dem Palaste der lombardischen Herzoge
und später der Grafen und Markgrafen von Toscaua, ge-
legen erwähnt wird. Ihre Faxade, welche gewiß aus dem
13. Jahrhundert datirt, entbehrt in den Einzelheiten nicht
der Zierlichkeit; namentlich fällt die reich verzierte Mittel-
thür auf. Seitenwände und Apfis sind leider durch an-
stoßende Gebäude verdeckt. An der Vorderwand sieht man
iu zwei Höhlungen des Steines zwei Lilien (italienisch gigli),
welche man stets für das Florentiner Wappen (rothe Lilie
auf silbernem Grunde) genommen hat. Wie aber wäre das-
selbe nach Lucca gekommen, wo jene Stadt dermaßen ver-
haßt war, daß schon der bloße Name „Florentiner" für eine
tödtliche Beleidigung galt? Nun steht auf demselben kleinen
Platze, wie die Kirche, ein alter Palazzo mit großartigem
Thor, welcher im Stile Matteo Civitalis gehalten ist. Der-
selbe gehört heutigen Tages dem Marchese Luechesini, war
aber einst Eigenthum der jetzt erloschenen adeligen Familie
der Gigli — offenbar stehen also jene Lilien an der Fa^ade
von S. Giusto mit dieser Familie, welche wohl Gründer
oder Beschützer der Kirche war, in Zusammenhang, sind ein
redendes Wappen und haben mit der Arnostadt nichts zu
schaffen. Die Gigli waren übrigens ein mächtiges Geschlecht,
von welchem verschiedene Mitglieder hohe Posten in der Ne-
Globus xxxviii. Nr. 6.
gierung und Verwaltung der Republik Lucca sowie im Kle-
rus bekleidet haben. So wurde im 16. Jahrhundert Sil-
vestro Gigli, Prior von S. Michele, welcher diese Kirche
1501 durch den Baumeister Marti restaurireu ließ und in
derselben später auch begraben wurde, Bischos vou Worcester.
Im Jahre 1518 übertrug Papst Leo X. das Patrouat von
S. Michele an die Familie Gigli, und noch 1590 kommt
ein Martino Gigli als Kanonikus an der Kathedrale vor.
Das Innere von S. Giusto hat, wie die meisten Kirchen
Toseanas, hn 17. Jahrhundert eine Umgestaltung erfahren,
natürlich nicht zu seinem Vortheile: prätentiöse Schnörkel,
schwere häßliche Gesimse, gewöhnliche Malereien, kurz der
ganze Kram, welcher den Verfall bezeichnet, wurden darinnen
angebracht.
S. Giusto diente übrigens dem Rathe der Luccheser
Kaufleute als Versammlungsort; dieselben waren als Curie
orgauisirt, übten einen starken politischen Einfluß aus und
redeten durch ihre erwählten Konsuln bei den Verträgen,
welche die Republik mit anderen Staatsgemeinden abschloß,
ein Wort darein. 1214 ergriff die Korporation sogar die
Waffen gegen die Adeligen, wurde aber später gezwungen,
in ihren Verhandlungen die Politik ganz bei Seite zu lassen
und sich nur mit rein kommerziellen Dingen zu befassen.
In letzteren aber entschied sie mit voller Freiheit und ohne
Appellation. Ihre meisten Mitglieder waren Seidenspinner
und -Weber, sowie Banquiers. Sie hatte ihr eigenes Ge-
setzbuch, ihre eigenen Beamten, Siegel und Fahnen; sie
11
Band XXXVIII.
Mit besonderer Berücksichtigung äer Antkroyologie unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
82
Lucca und seine Umgebung.
gründete das Spital S. Luca und errichtete die barmherzige
Brüderschaft, deren Mitglieder Kaufleute oder Handwerker
sein mußten und in der ersten Zeit ansehnliche Privilegien
genossen. Napoleon unterdrückte im Jahre 1807 die ganze
Organisation und errichtete an ihrer Stelle eine Kommission
zur Beförderung des Ackerbaues und der Gewerbe, welche
direkt vom Fürsten ernannt wurde und nie etwas Besonderes
geleistet hat.
Lucca zeichnet sich außer durch seine Kirchen auch durch
seine Paläste aus, welche
an Wichtigkeit und Größe
nur in einigen italienischen
Städten ihres Gleichen ha-
ben. Während in den übri-
gen kleineren Orten Tos-
canas die adligen Familien
nach den Bürgerkriegen des
13. und 14. Jahrhunderts
ihre nur noch nothdürstig
im Stande gehaltenen Pa-
laste alljährlich nur einige
Wochen hindurch bewohnten
und sonst in Florenz an
den Festen uud dem reichen
üppigen Leben sich vergnüg-
ten, setzten sie in Lucca
ihren Stolz darein, von
außen imponirende und
drinnen Prächtig ausgestat-
tete Wohnsitze sich zu er-
bauen und ihre enge Hei-
math nicht zu verlassen.
Die meisten dieser Paläste,
wie z. B. der Palazzo
Micheletti, datiren also
aus jener Zeit, wo die
Luccheser Aristokratie ihre
Macht im Staate wieder-
erlangt hatte. Nur zwei
stammen aus älterer Zeit
und beide gehören noch
heute, wie vor fünfhundert
Jahren, der Familie Gui-
nigui, welche in der Ge-
schichte der Stadt eine so
ansehnliche Rolle gespielt
hat. Dieselben, einander
gegenüber gelegen, sind aus
rothen Ziegeln erbaut und
mit großen Bogenstellungen
geschmückt, deren jede in
vier kleinere, von Mar-
morsäulen getragene Bogen
getheilt wird. Die gro-
ßen Thüren haben mauri-
sche Formen, Anklänge an
die Moscheen und Paläste,
welche die Luccheser während der Kreuzzüge im Oriente
kennen lernten. Der eine Palast wurde um 1334 er-
baut; später, gegen Ende des 16. Jahrhunderts, mauerte
man die offenen Loggien (Gallerien) zu, um sie bewohnbar
zu machen, und brachte die Fenster an, wie sie noch heute
zu sehen sind. Zwei Säle des einen Gebäudes enthalten
das Archiv der Familie, dessen ältestes Diplom vom Jahre
916 datiren soll; außerdem enthält es noch vier Urkunden
aus dem 10. und neun ans dem 11. Jahrhundert. Wohl-
ggf
IIP
Hauptthür der Kirche S. Giusto.
geordnete und nnmerirte Stöße enthalten eine enorme
Menge Briefe von Fürsten, Päpsten und berühmten Per-
sonen aller Stände und Jahrhunderte. Vielleicht ließe sich
dort noch mancher interessante historische Fund thun.
Nicht weit davon steht der Palast Michel uud der Pa-
lazzo Trenta, ein schöner Bau des 15. Jahrhunderts, nur
leider in der Neuzeit durch vier Läden, die man im Erd-
geschosse ausgebrochen hat, arg entstellt. Dieser Palast war
einer von jenen, in welchen, ehe es noch ständige Theater
gab, während des Karne-
vals Komödie gespielt wur-
de; und in ihm soll König
Karl VIII. von Frank-
reich gewohnt haben, als
er 1494 zur Eroberung
des Königreiches Neapel
durch Italien zog.
In der Via San Gior-
gio fällt die große, origi-
nelle, reich verzierte Fa^ade
des Palastes Bernardini
ins Auge, nicht wegen ihres
neuen Stiles, wohl aber
durch ihre Wucht uud
Pracht: die Fenster des
Erdgeschosses haben Sockel
mit Konsolen, die bis auf
die Erde herabreichen und
mit Früchten, Bändern und
Löwenklauen verziert sind,
über dem Thore im Rnstica-
Stile springt ein von zwei
Sphiuxen getragener Bal-
kon vor, über den Fenstern
des zweiten Stockwerkes
sind riesige Fratzengesichter
ausgehauen u. s. f. Den
Palast Buouvisi, ein gutes
Bauwerk aus dem Ende
des 16. Jahrhunderts, er-
wähnen wir weniger wegen
feiner Architektur, als wegen
seiner Besitzer, die durch
Handel und Bankgeschäste
in die Höhe kamen, selbst
in England Komptore be-
saßen, Königen und Kaisern
zu hohen Zinsen Geld vor-
schössen und ihre Tuche und
Seidenzeuge, die sie in
Lucca sabricirten, bis an
die Küsten des Atlantischen
Oceans und der Ostsee ver-
führten. Mit dem Gelde
kamen auch die Ehren; ein
Mitglied der Familie brachte
es bis zum Kardinal, und
dieser war es, welcher den Palast erbaute. Außerdem besaß
die Familie noch ein einfaches, aber zierliches und reich mit
Deckengemälden geschmücktes Gartenhaus; es steht unfern
des Thores San Gervafio. Bemerkenswerth durch seine
schönen Verhältnisse und die kräftige strenge Architektur ist
ferner der Palazzo Bernardini, ein Werk des Nicola Civi-
tali, 1512 vergrößert, bis zu den Fenstern des ersten Stockes
ganz aus Hausteinen aufgeführt. Die mit großem Luxus
ausgestatteten Zimmer enthalten Gemälde von großem Werthe,
Lucca und fi
darunter einen Fra Bartolomeo, Möbel, Waffen, Fayencen,
selten schöne Stoffe und andere Werthgegenstände aus dem
16. bis 18. Jahrhundert. Der kleine Platz vor diesem Pa-
laste wurde im vorigen Jahrhundert vergrößert, wobei man
unter den Grundmauern einer kleinen weggerissenen Kirche
antike Fresken, Tänzerinnen darstellend, auffand; dieselben
gehörten möglicher Weise zu irgend einem etrnskischen Mo-
numente, einem Grabmale oder Tempel, der in alten Zeiten
den Platz jener Kirche Santa Maria in Via eingenommen
hatte. Leider sind auch diese Fresken damals mit zerstört
worden.
Wir schließen unsern Rundgang durch die Paläste Luc-
cas mit dem Regierungspalaste ab, weil er der jüngste
e Umgebung. 83
von allen ist. Einst erhob sich an seiner Stelle eine in der
Geschichte der Stadt berühmte Feste, die „Augusta", deren
dicke Manern und hohe Thürme der Condottiere Castrnccio
Antelminelli 1322 zu seiner und seiner Söldner Sicherheit
bauen ließ. Er verwendete dazu die Steine von den Häu-
sern derjenigen Bürger, die er getödtet oder verbannt hatte,
und das Geld derer, welche er am Leben ließ. Giotto selbst
soll nach Vasari und anderen glaubwürdigeren Quellen den
Plan dazu entworfen haben. Nach Castruccio's Zeiten hat-
ten die Pisaner die Burg in Besitz und knechteten von da
aus die Stadt. Als dann der Kardinal Gnidone, Karl's IY.
Statthalter in Toscana, die Stadt frei gab, stürzte sich die
ganze Bevölkerung, ohne Unterschied des Alters, Standes
Palast Micheletti und
und Geschlechtes, auf die Zwingburg und zerstörte sie von
Grund aus. Im Jahre 1577 wollte die aristokratisch re-
gierte Republik einen ihrer würdigen Palast haben und berief
dazu den großen Baumeister Bartolomeo Ammanati von
Florenz, welcher ein Projekt entwarf und dasselbe in fünf
Jahren auszuführen versprach. Doch vollendete er nur
einen Theil des Ganzen, von dem schönen Südportal bis zu
dem Thore in der Mitte der heutigen Fa^ade, und einen
Theil des großen innern Hofes mit seiner ionischen Säulen-
halle. 1728 wurde dann der Bau wieder aufgenommen;
damals fügte der Luccheser Francesco Pini seine Nococo-
znthaten hinzu. Die Baciocchi änderten wenig; doch schufen
sie im Osten des Gebäudes durch Niederlegung einer Kirche
und mehrerer Häuser einen freien Platz und verlegten seine
Hauptfaxade dorthin. Sie ist regelmäßig, aber nüchtern und
Kirche San Giovanni.
kalt und gewährt kein Urtheil über das, was bei Ausführung
von Ammanati's schönem Plane zu Stande gekommen wäre.
Jener große Platz (Piazza Grande), der den Namen
Napolcon's behalten hat (?), ist mit Bäumen bepflanzt und
jetzt der bevorzugte Spaziergang der Offiziere und der bes-
fern Gesellschaft. Unter Baciocchi's Regierung sollte er mit
einem Denkmal Napolcon's geschmückt werden, welches schon
entworfen war, als das Jahr 1813 Marie Louise auf den
Thron von Lucca setzte, und der Bildhauer den Befehl er-
hielt, aus dem Napoleon einen Karl III. zu machen. Als
dann die Stadt im Jahre 1843 der Herzogin aus Dankbar-
fett für die Errichtung der Wasserleitung ein Denkmal er-
richten wollte, wurde dieser Karl III. nach einer der Außen-
bastionen versetzt und an seiner Stelle die noch vorhandene
Gruppe, ein Werk Bartolini's, errichtet.
11*
Die Brücke della Maddalena oder bei Diavolo.
L
Lucca und seine Umgebung. 85
Der reizendste Platz Lnccas, sich gegen Abend, bei Sonnen- hat nacheinander drei Ummauernngen gehabt. Die erste
Untergang, von den Strapazen einer Besichtigung von Kir- derselben umschloß nur ein Drittheil der heutigen Stadt;
chen und Palästen zu erholen, sind die großen mit Bäumen die von den Römern unter dem Konsulate des Q. Flami-
bepflanzten Wege auf den Wällen und Bastionen. Lucca nius und von dem Langobardenköuige Desiderius erbauten
♦
Lucchio bei den
die Notwendigkeit fühlbar, die beträchtlich angewachsenen
Vorstädte gegen feindliche Handstreiche zn schützen, und man
beschloß, eine zweite Mauer zu errichten. Diese bestand aus
kleinen, mit Mörtel verbundenen Steinen; an den Ecken
waren halbrunde Thürme errichtet, die Thore wurden durch
vorgeschobene Werke geschützt, und um das Ganze zog sich
ein breiter Graben. Zwei der alten Thore haben sich bis
Cocciglia bei den
Mauern bestanden aus großen Blöcken harten Kalksteines
und waren mit viereckigen Thürmen versehen. Noch heute
findet nian hier und da Spuren derselben in den Grund-
Bagui di Lucca.
mauern moderner Gebäude z. B. gegenüber dem Oratorium
Santa Maria della Rosa.
Gegen das Ende des 12. Jahrhunderts machte sich dann
Bagui di Lucca.
heute erhalten. Als dann die Erfindung der Feuerwaffen
die Kriegsführung völlig veränderte, galt es wiederum, neue
Befestigungen zu schaffen. Zu denselben entwarf den Plan
Matteo Civitali, der, wie viele Männer jener Zeit — man
denke an Michelangelo, Dürer, Celliui —, ein ebenso tüch-
tiger Ingenieur wie großer Künstler war. Sechszig Jahre
später brachte Paciotti die nöthig gewordenen Verbesserungen
86 Lucca und se
an, und die ganze Arbeit, so wie man sie noch heute sieht,
wurde dann im Jahre 1645 vollendet. 1'24 Bronzekanonen,
deren jede 4000 kg wog, wurden auf den Wällen anfge-
pflanzt; 1799 führten sie die Oesterreicher fort, zugleich mit
dem Schwerte Castruccio's und dem Sattel und der Mus-
kete Piccinino's, den kostbaren historischen Reliquien der Ar-
meria.
Von jener Zeit an war Lucca nur noch ein Fürsten-
thümchen, das die Nachbarmächte duldeten, so zu sagen ein
Frau aus der Campagua von Lucca.
strahlen geschützt winden. Meist sind es schöne Bauten aus
dem 16. und 17. Jahrhundert mit geräumigen Gallerien,
wie sie so recht für das leichte, beqneme Leben des Südens
passen. Manche sind anch altern Ursprungs und haben
noch Thürme und Zinnen, mitunter sogar einen Thurm an
jeder Ecke, wie jene, in welcher die Söhne Castrnccio's am
18. Mai 1355 Messer Francesco Castracani meuchlings
erschlugen.
e Umgebung.
Happen für die großen europäischen Heere — eine anmuthige
Residenz zwar, aber kein fester Platz mehr. Vaciocchi und
die Bonrbonen pflanzten statt der Kanonen Bäume auf die
Wälle und schufen prächtige terraffenartige Spaziergänge,
von denen aus man die Ebene und die mit Dörfern und
Villen befäeten Hügel der Umgebung überschaut. Bei San
Concordio, dessen Kirche schöne Fayencen der della Robbia
besitzt, schauen zwischen Oelbänmen und immergrünen Eichen
weiße Villen hervor, die durch die Berge vor den Sonnen-
Landmawl von den Luccheser Bergen.
Von der Ostbastion aus übersieht man die weite Ebene
von Altopascio und Fucecchio und die Kanäle, welche sie
durchschneiden und zum See von Bientina auslaufen.
Weiterhin zeigt sich der graue Thurm von Porcari und die
Hügel von Montecarlo mit ihren alten Befestigungen, dann
die von Montecatini mit seinem amphitheatralifch angeleg-
t'en Schlosse, das malerische Gelände von Valdinievole, reich
an Weinbergen und Oelbaumpflanznngen, an weißen, gel-
Die Ruinen vi
ben, rosafarbenen Häuschen, Pachthöfen mit Säulenhallen
und großartigen Villen, wie die Villa Collodi z. 33., welche
sowohl durch ihre schöne Lage, als auch durch ihren mit
Statuen uud seltenen Pflanzen geschmückten Garten aus-
gezeichnet ist, oder iu noch höherm Grade der Landsitz der
Torrigiani, der den Beinamen Königin der Lnccheser Villen
führt. Man findet kein Ende, wollte man alle diese Schlös-
ser mit ihren Parks, diese alten Thürme, Klöster und Kir-
chen aufzählen.
Die schönste Aussicht genießt man aber oberhalb des
Thores Santa Maria, wo man jene große malerische Spalte
in den Pizzorna-Bergen sich gegenüber hat, durch welche der
Serchio in die Ebene tritt. In schier endloser Folge baut
sich eine Landschastsconlisse hinter und über der andern auf,
von den leichten Hügeln im Vordergrunde bis zu den hoch-
steu Gipfeln der Apenninen, deren wilde phantastische Um-
risse sich von dem blauen Himmel abheben. Und auch hier
wieder dieselbe heitere Staffage von kleinen Häusern, ansehn-
lichen Villen, Glockentürmen und arkadenreichen Klöstern,
und in der Ebene mit Pappeln besäumte Bewässerungskanäle.
Kein Landschaftsmaler hat je einen reichern, edlern und
lachendern Hintergrund ersinnen können.
Am Serchio aufwärts führt die malerische Straße nach
den Bagni di Lucca vorbei bei Borgo a Mazzauo und
dem Ponte della Maddaleua, auch Teufelsbrücke ge-
nannt, einem ungeheuren Rundbogen, der die höchsten Hän-
ser in der Nähe überragt, und so steil und eng ansteigt, daß
er für Wagen fast uupassirbar ist. Dieses kühne, luftige
Bauwerk wurde vor länger als einem halben Jahrtausend
auf Castrnccio's Befehl erbaut.
Die Bäder von Lucca sind vielleicht weniger wegen ihrer
Heilkraft, als wegen ihrer anmuthigen, reizenden, mit Ka-
stanienwäldern bedeckten Umgebung berühmt. Im obern Thale
: Metapontum. 87
des Serchio liegt inmitten eines wunderbaren Panoramas auf
der Spitze eines Felsens die kleine Stadt Barga, die einen
Besuch verdient wegen ihrer alten Kathedrale und ihrer
zahlreichen bunten Basreliefs della Robbia's. Durch das
Thal der Lima wiederum steigt man hinauf zu den wildesten
Schluchten und steilsten Gipfeln des Apennin, zu dem Ge-
biete der Nadelhölzer uud Alpeuweideu. Dort herrscht nicht
mehr das leichte, fröhliche Leben, wie in der Ebene (daß
auch dort nicht alles Gold ist, was glänzt, fahen wir oben);
die Leute in den Dörfern Co cciglia uud Lucchio, deren
Abbildungen wir geben, haben die Tracht und das Wesen
von Gebirgsbewohnern, die mit der Rauhheit des Klimas
und der Unfruchtbarkeit des Bodens zu kämpfen haben. Sie
sind in dickes dunkles Tuch gekleidet, sind wenig mittheil-
sam, und selten gleitet ein Lächeln über ihr Gesicht, das ein
riesiger Bart oft zur Hälfte bedeckt. Ihre Nahrung besteht
fast nur aus Schwarzbrot und dem Mehle der echten Ka-
stanie. Wann die Hälfte des Vorrathes erschöpft und kaum
noch genug vorhanden ist, um Frau und Kinder den Winter
über zu erhalten, ziehen die Männer fort und suchen in Cor-
sica oder Algerien auf sechs Monate Arbeit. Darum sindet
man auch nicht selten in irgend einem abgelegenen Thal
einen armen Köhler z. B., der, so gut es eben geht, Fran-
zösisch spricht.
Manche ziehen auch noch weiter fort, nach Amerika an
die Ufer des Parana oder des Uruguay, und kommen dort
znm Theil im Elend um. Andere aber haben drüben Reich-
thum erworben, und dann ist ihre Heimathsliebe so mächtig
gewesen, daß sie sich in ihren schmutzigen Dörfern, iu ihren
wilden einsamen Thälern stattliche, fast luxuriöse' Häuser
haben erbauen lassen, um an der Stätte ihrer Kindheit auch
ihre letzten Lebensjahre zu verbringen.
Die Ruinen vo
In der Augsburger „Allgemeinen Zeitung" (Beilage
Nro. 188, Dienstag 6. Juli 1880) berichtet ein Anonymus
aus Rom über die Aufdeckung eines neuen Tempels der antiken
Stadt Metapontum, welche, wie unsere Kartenskizze zeigt,
am Meerbusen von Tarent zwischen den Mündungen der
Flüsse Bradanus und Casuentus (heute Bradano und Ba-
sento) gelegen war. Eine einstündige Fahrt von Tarent
aus bringt den Reisenden nach der Eisenbahnstation, welche
bis vor kurzer Zeit Torre Mare hieß, jetzt aber in Meta-
ponto umgetauft worden ist. Die Gegend beschreibt der
Korrespondent folgendermaßen: „Landschaftliche Reize besitzt
dieselbe gerade nicht; sie stellt sich dar als eine weite, hier
und da etwas gewellte Fläche, die, wie vor Alters, so noch
heute zum größten Theile mit Getreide bebaut ist. Man
begreift bei diesem Anblick, warum die Wetapontiner eine
Aehre als Wappen auf ihren Münzen führten, und erinnert
sich des „goldenen Sommers", den - sie dem delphischen
Apoll als Opfer sandten. Vereinzelte Meiereien, in ziem-
lich großen Distanzen von einander liegend, und einige kleine
Ortschaften gewähren der spärlichen Bevölkerung, welche die
Feldarbeit besorgt, ein meist recht armseliges Obdach. Die
niedrigen Bergketten der Basilicata, die im Norden und
Nordosten die Ebene begrenzen, uud noch mehr die hohen,
zum Theil schneebedeckten calabrischen Berge, die im Süd-
Westen dem Blick sich darbieten, liegen zu entfernt, um bei
n Metapontum.
dem landschaftlichen Gefammteindruck der Gegend mitwirken,
denselben steigern zu können."
Metapont wurde zu Beginn des siebenten vorchristlichen
Jahrhunderts von Achäern unter Lenkippos gegründet und
entwickelte sich rasch in Folge der Fruchtbarkeit seiner Um-
gebung, wenn auch die Stadt während der ersten Jahrhuu-
derte ihres Bestehens wenig genannt wird. Bekannt ist,
daß der von Kroton vertriebene Pythagoras in Metapont
Zuflucht fand und bis zu seinem späten Tode dort lebte.
Die Bürger ehrten sein Andenken so hoch, daß sie sein Hans
zu einem Tempel ihrer Hauptgöttin Ceres weihten und der
Straße, in welcher es lag, den Namen Museum gaben.
Noch zu Cicero's Zeiten wurde sein Grab dort gezeigt.
Die Stadt, deren Einwohner später von sprichwörtlicher
Verweichlichung waren, hielt zum König Alexander von
Epirus in dessen Kämpfen gegen die Lucanier und Brut-
tier, später zu Pyrrhos, endlich zu Hannibal, und als letz-
terer 207 v. Chr. durch die Schlacht amMetaurus gezwun-
gen wurde, Unteritalien zu räumen, zog er seine Truppen
aus der Stadt, führte aber gleichzeitig ihre sämmtlichen Ein-
wohner hinweg, um sie vor der Rache Roms sicherzustellen.
Damit verschwindet sie aus der Geschichte; ihr Name wird
zwar noch ab und zu genannt, aber mit der Blüthe einer
der reichsten und mächtigsten Städte Großgriechenlands war
es für immer vorbei.
\
1-ÄlterTempelM
Ta'vola de'Paladini
CasaleRicotta
Masseria Sansone,
Tor rc Marc
7Siaz. ('!
\Ietaponto
Dr. O. Lenz' Uebersteigung des Atlas.
Die Stätte, wo dieselbe gestanden, wurde vom Herzoge
von Luhnes näher untersucht, welcher 1833 ein Werk dar-
über in Paris erscheinen ließ. Die Mauern der Stadt und
das Theater, von welchem Pausauias als den einzigen Ueber-
resten des Ortes zu seiner Zeit (zweites nachchristliches Jahr-
hundert) spricht, sind jetzt völlig verschwunden. Die wichtigste
Ruine ist die eines dorischen Tempels, 5 km in der Luftlinie
von der Mündung des Bradano entfernt, vom Volke als Ta-
vola de' Paladini bezeichnet, von welchem noch 15 Säulen
stehen, 10 ander rechten, 5 an der linken Langseite. Dieselben
scheinen ihrer Form nach dem 6. Jahrhundert anzugehören.
Auf Anordnung der italie-
nischen Regierung sind die
Fundamente dieses Bau-
Werkes zum Theil sreige-
legt, und das Ganze durch
eiue hohe Mauer gegen
Zerstörungslust geschützt
worden. Außerdem hatte
man bisher nur noch
Gräber etwas südlich vom
Tempel und einige Reste
von antiken Gebäuden *),
etwa eine halbe Stunde
nordöstlich von der Station
nahe der Eisenbahn auf-
gefunden. An letzterer
Stelle, wo vor einiger Zeit
die Masseria Sansone
erbaut worden ist, war eine
offenbar künstliche, ansehn-
liche Bodenerhöhuug vor-
Händen, welche den Namen
Chiesa di Sansone2)
führte uud für den Ueber-
rest eines Tempels galt,
was gelegentlich dort an
den Tag gekommene Säu-
lentrommeln und andere
Werkstücke bestätigten.
Kürzlich sind hier nun
Ausgrabungen vorgeuom-
men wordeu, durch welche
ein zweiter alter
Tempel (bisher nur theil-
weise) aufgedeckt wurde. Er gleicht im Stile und Materials
ganz dem andern, datirt also wohl aus derselben Zeit. Seine
Deutsche Meile
i
-> Kilometer
Lage der alten Stadt Metapout nach der neuen italienischen
Geueralstabsaufuahlue in 1:50000 auf die Hälfte reducirt.
Säulen zeigen die gleichen kräftigen Verhältnisse, haben
dieselben stark über den Schaft ausladenden alterthümlichen
Kapitelle, welche unten mit einer kehlförmigen Einziehung
und zwei Ringen versehen sind, und bei beiden ruhen die
Säulen auf einem Stylobat von fünf Schichten. Nur ist
der neue Tempel viel größer als der alte, seine Säulen sol-
leu gerade die doppelten Dimensionen von jenen haben. Von
denselben befinden sich wenigstens die untersten, je eine oder
zwei Trommeln, die mit feinem weißen Stuck überzogen
waren, noch an Ort und Stelle. Im Juni dieses Jahres
mar ein Raum von etwa 41 in in der Länge und 31 in in
der Breite, auf welchem
etwa 45 Säuleutrommeln
und 22 Kapitelle gezählt
wurden, aufgedeckt; doch
dürfte uoch mehr als die
Hälfte des Tempelareals
von Erde bedeckt fein.
Bei der Ausgrabung hat
man auch eine Anzahl klei-
nerer Objekte gefunden,
namentlich viele Terracotta-
Stücken, welche einst zur
Sima (Rinnleiste, Dach-
traufe) des Tempels gehör-
ten, ferner Terracotta-Fi-
gnren, Bronzen, Münzen
und besonders eine dreizei-
lige, in der dritten Zeile
von rechts nach links lau-
sende alterthümliche In-
fchrift, nach welcher der
Tempel dem Apollon ge-
weiht gewesen zu sein
scheint. Alle diese Funde
beabsichtigt man jetzt in
einem kleinen, dicht bei
dem Stationsgebäude auf-
zusühreudeu Museum auf-
zustellen; auch macht be-
reits ein Photograph im
Auftrage der Regierung
Aufnahmen vom Tempel
und von den interessanteren
Fundstückeu.
_ !) Weil man diese Reste für die der Stadt selbst halten
muß, die Tavola de' Paladini aber Don hier volle 4 km ent-
fernt liegt, so hat man geschlossen, daß letztere vielleicht nie
innerhalb der Stadtmauern gelegen hat. Andererseits spricht
aber die Nähe von Hügeln (s. die Skizze, welche einen solchen
von 60 in angiebt) dafür, daß nahe diesem Tempel die keiner
griechischen Sta.dt fehlende Akropolis zu suchen ist und vielleicht
auch noch gefunden wird, daß das Heiligthum also recht wohl
innerhalb der Stadt gelegen haben kann. Nimmt man, wie
manche wollen, den brackischen See unmittelbar östlich von der
Station, den Lago di Santa Pelagina, für den Ueberrest des
einstigen Hafens von Metapont, so hat die Stadt einen Durch-
messer von etwa einer deutschen Meile gehabt.
2) Der Korrespondent der „A. Z." nennt die Stätte des
Tempels speciell „Pesca di San Vito".
Dr. O. Lenz' Uebersteigung des Atlas.
Das zweite Heft des zweiten Bandes der „Mittheiluu-
gen der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland" enthält
die zum Theil schou seit Monaten eingetroffenen Berichte des
Dr. O. Lenz über seine so erfolgreich begonnene marokka-
nische Reise. Während die ersten Briefe bekanntere Gebiete
behandeln, nämlich einen Ausflug von Tanger, wo der Rei-
sende am 13.November 1379 landete, nachTetuau, dann die
Route von Tanger nach Fes, weiter über Mekines nach
Sela-Rabat an der atlantischen Küste und weiter landein-
wärts nach Marrakesch, so beschreiben seine letzten drei
Dr. 0. Lenz' Ue)
Briefe vom 18. März, 3. und 13. April dieses Jahres
Gegenden, welche zwar schon von einigen Europäern be-
sucht, aber nicht ausführlich geschildert worden sind. Wir
entnehmen denselben das Nachstehende.
Tarudant im Wad Sns, 18. März 1880.
Es ist ein gewisses Gefühl der Befriedigung, womit ich
den nachstehenden kurzen Bericht beginne. Habe ich doch
einen Theil meines Vorhabens, und zwar nicht den leichte-
sten, die Ueberschreitnng des hohen Atlas, hinter
mir, und zwar durchquerte ich das Gebirge an einer Stelle,
die meines Wissens von anderen Reisenden nicht gewählt
worden ist1). Rohlfs' erste Reise ins Wad Sus ging von
Agader aus, und den Atlas überschritt er weiter östlich als
ich, auf der Straße von Fes nach Tafilet, und wenn ich auch
diesen gewaltigen Gebirgszug nicht in seinen höchsten Thei-
len durchkreuzen konnte (die Paßhöhen auf meiner Route
überschritten nicht 4000 Fuß, die umgebenden Gipfel nicht
7000 Fuß), so boten sich doch auch auf meinem Wege
recht bedenkliche Schwierigkeiten der verschiedensten Art.
Nach mehrwöchentlichem Aufenthalt in Marrakesch,
dessen Lage eine ganz wunderbare ist, konnte ich endlich am
6. März von dort aufbrechen. Ich hatte viel Gepäck, da
ich, in Hinblick aus die beabsichtigte Reise nach Tim bukt u
schon hier eine große Anzahl Gegenstände kaufen mußte, die
unterwegs gar nicht oder nur fehr theuer zu haben sind.
Zu unserer Karawane gehörten außer mir folgende Per-
sonen: mein Begleiter und Dolmetsch Sidi Hadsch Ali;
mein erster Diener und Dolmetfch CristoPhalBenitez
aus Tetuau, von spanischen Eltern, aber fertig arabisch
sprechend und ein recht gebildeter, brauchbarer Mensch; ich
habe denselben, der hier den Namen Abdullah führt und
allgemein für einen Araber gehalten wird, bereits seit meiner
ersten Tetnaner Reise engagirt. Ferner hat sich uns in
Marrakesch ein junger Scheris angeschlossen, ein Verwand-
ter des Sultans, und wie dieser ein aus Tasilet gebürtiger
Schürsa, Muley Achmid, der sich bisher im Gesolge
Muley Ali's, des Onkels des regierenden Sultans, aufhielt
und aus bloßer Reiselust ein Stück mit uns geht, vielleicht
die ganze Tour mitmacht. Wir vier Personen bilden die
Herren der Karawane und speisen gemeinsam. Als Koch
x) Wenn Dr. Lenz sich auch in der Annahme seiner Prio-
rität irrt, so bleibt seine Reise über den westlichen Atlas doch
von erheblichem Werthe, da, soviel ich sehe, keiner seiner Vor-
gänger in einigermaßen genügender Weise über seine Wahrneh-
mungen berichtete. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit machen
zu wollen, erwähne ich hier drei Ueberschreitungen des Atlas
westlich von Marokko: Der Däne Georg Höst, durch langjäh-
rigen Ausenthalt ein gründlicher und noch immer beachtens-
werther Kenner des Landes, ist u. a. auch von Agader nach
der Hauptstadt „über die Berge" gereist, und theilt sein Jti-
nerar mit Angabe der Entfernungen, leider aber nicht der
Richtungen zwischen den einzelnen Stationen mit, so daß eine
Konstruktion der Route unmöglich ist (Nachrichten von Ma-
rokko und Fes. Kopenhagen 1731, S. 95). Der englische
Arzt William Lempriöre reiste vom 30. November bis
4. December 1789 von Tarudant nach Marokko und über-
schritt das Gebirge auf einem Paß, „den die Mohren wegen
seiner jähen und winklichten Drehungen Kameelnacken nennen,"
erwähnt aber sonst nicht einen einzigen Ortsnamen auf seiner
Route (Reise von Gibraltar nach Marokko. Berlin 1798,
5. 97 ff.). Endlich hat James Grey Jackson während seines
16jährigen Aufenthaltes in Marokko auch einmal eine Armee
über diesen Theil des Atlas begleitet. Der Weg führte über
den Paß Bebawan, dessen Gefahren er in etwas grellen Farben
schildert. Der Pfad sei an manchen Stellen nur 15 Zoll
breit und führe zwifchen fast senkrechten Bergwänden einerseits
und tiefen Abgründen andererseits, welche letztere an Steilheit
Dover Cliff nichts nachgeben, aber zehnmal so tief seien (Ac-
count of Marokko, 2 ed. 1811, p. 11). (Anmerkung des
Dr. W. Erman.)
Globus XXXVIII. Nr. 6.
Peigung des Atlas. 89
fungirt Sidi Muh am med benDschilul, den ich in
Fes engagirt habe. Zwei junge Burschen, Muhammed
und Amhamid Faradschi, stehen ihm zur Seite und
haben den Dienst in den Zelten; für die Pferde und Ka-
meele endlich sorgen Muley Ali, Hadsch Muham-
med und Akkadur. Das Gepäck ist vertheilt auf zwei
Kameele, zwei Pferde, ein Maulthier und zwei Esel; ich
und Hadsch Ali sind beritten, die übrigen müssen zusehen,
wie sich auf den Tragthieren ein Sitz Herrichten läßt. Alle
Leute sind wohl bewaffnet, so daß wir in unsicheren Gegen-
den selbständig uns vertheidigen können; ich habe zu dem
Zweck eine Partie der hier üblichen Gewehre gekaust und
meine Revolver vertheilt; ebenso finden die Bajonette An-
klang, die ich von Berlin mitgenommen habe.
6. März. Am ersten Reisetage kamen wir nur bis zu
der vier Stunden südwestlich von Marrakesch gelegenen
Stadt Tamesloht, einer Sania, besonders für Frauen,
wie wir denn auch, da gerade Festtag war, zahlreichen Grup-
pen von Weibern und Kindern begegneten, die zu jenem
Ort gewallfahrtet waren.
Der Weg führte anfangs durch die mit zahllosen Geröl-
len bedeckte Ebene, weiterhin kamen kleine Platten von dem
schon oft beobachteten, horizontal liegenden und in Schalen
abgesonderten Kalkstein, die sich bis zu 10 in über die um-
liegende Ebene erheben. Einige kleine, wasserlose Wads,
dem System des Tensift angehörig, wurden passirt und
etwas nach 12 Uhr hielten wir in der von Palmen- und Oli-
vengärten umgebenen Sania und schlugen unsere Zelte auf
einer Wiese im Westen der Stadt auf. Der Tag war
heiß, das Thermometer stieg im Schatten auf 28° und der
Weg durch die schattenlose Gegend war recht ermüdend.
Da hier ein Beamter des Sultans nicht existirt, so erhiel-
ten wir nicht nur die üblichen osficiellen Gastgeschenke (muna)
nicht, sondern mußten auch selbst für unsere Sicherheit sorgen,
zu welchem Zweck die eine Hälfte meiner Leute beständig wachte.
Die Bevölkerung in einer Sauia ist immer fanatischer als
anderswo, und man hatte mich dort sofort als Kafir und
Rmni (jeder Reisende wird in Marokko als Rumi, Römer,
bezeichnet) erkannt. Meine Leute waren sehr mißtrauisch
gegen die Bewohner des Ortes und genossen selbst die vom
Scheris geschickte Milch nicht eher, als bis dieselbe von den
Ueberbringern gekostet war; auch meinem Hunde gaben sie
erst davon zu trinken, um die Wirkung abzuwarten. Man
hatte nicht lange vorher hier einen Araber vergiftet, und es
war deshalb das Mißtrauen meiner Leute, die in Gesell-
schast eines Ungläubigen den heiligen Ort besuchten, völlig
gerechtfertigt.
7. März. Ein langer Marsch von früh V28 bis
Abends 6 Uhr brachte uns nach Amsmis, am Fuße des
hohen Atlas, bereits in einer Seehöhe von 3400 Fuß ge-
legen (3382 Fuß nach Hooker und Ball), wo sich ein Amil
des Sultans befindet und wir im Allgemeinen gut aufge-
uommen wurden1).
Der Weg führte anfangs südwestlich, dann passirten wir
das breite Thal des Wad NfYs, in welchem wir ein altes
Fuudak (ärarisches Einkehrhaus) und eine kleine Ortschaft
berührten, und zogen dann direkt südlich dem Nsys parallel
aufwärts bis zur Quelle, wo sich eine Anzahl kleiner Orte,
dem Amil von Amsmis gehörig, befindet. Der ganze Weg
war sehr felsig und schwierig zu passirende Stellen gab es
genug. Im Flußthal fand ich anstehend einen blauen
Thonschiefer mit senkrecht stehenden Schichten, die ungefähr
S.-W. nach N.-O. streichen, also dem Atlassystem angehören.
Dann bestiegen wir eine ausgedehnte Hochebene, die stch bis
*) Vergl. „Globus" XXXVI, S. 328.
12
90 Dr. O. Lenz' Uebi
an den Fuß des eigentlichen Gebirges erstreckt und langsam
von Süden nach Norden ansteigend bei Amsmis eine Höhe
von 3400 Fuß erreicht. Sie besteht, wie zahlreiche Ein-
risse und Schluchten zeigen, bis tief hinab aus Gebirgsschutt,
der geschichtet und nach unten hin zu einem sehr groben
Konglomerat verkittet ist. Wo sich dem steinigen Boden
etwas Terrain für Feldbau abringen läßt, befinden sich
Gerstenfelder und Olivengärten; ebenso wird von der im
Allgemeinen nicht wohlhabenden Bevölkerung etwas Vieh-
zucht getrieben. Die kleinen Ortschaften selbst sind festnngs-
artig mit einer Lehmmauer umgeben und auch die Häuser
bestehen nur aus gestampftem, gelbem Lehm ohne Anputz.
Von Amsmis führt ein Weg durch den Atlas ins Wad
Sus, aber die Pässe sind für Tragthiere zu schwierig zu
Passiren.
8. März. Der heutige Weg führte vorherrschend in
westlicher Richtung, später mit einer Neigung nach Norden,
parallel dem Gebirge bis zu der kleinen, am rechten Ufer
des Nfys gelegenen und noch zur Kabyle Amsmis gehö-
rigen Ortschaft Darakimacht. Ein großer Theil des
durchzogenen Gebietes war angebaut, Olivengärten und
Gerstenfelder wechselten ab und zahlreiche künstliche Kanäle
durchzogen nach allen Richtungen die Ebene. Einige kleine
Ortschaften, darunter der Soko Chmis Tiskin, wurden
passirt, bis wir ein sehr steiniges Plateau erreichten, welches
das rechte steile Ufer des Flusses bildet, auf dem wir in
nördlicher Richtung bis zu der erwähnten Ortschaft zogen,
wo wir um drei Uhr Halt machten. Die ermüdeten und
stark beladeuen Lastthiere konnten nicht mehr weiter und wir
mußten in dem kleinen Dorfe in ziemlich dürftiger Weise
die Nacht verbringen. Die Bevölkerung besteht durchgän-
gig aus Schlu (Berbern), die bekanntlich in steter Feind-
schaft mit ihren Unterdrückern, den Arabern, stehen.
9. März. Gestern war es uns nicht gelungen, den
Sitz des Kaid der großen Kabyle Mzudi zu erreichen;
heute führte uns ein einstündiger, sehr anstrengender Marsch
an den genannten Ort, der westsüdwestlich von uuserm
gestrigen Nachtquartier liegt. Nach Überschreitung des
Nfys, dessen steile hohe Ufer für die beladenen Thiere fehr
schwer zu passiren waren, stiegen wir auf eine gegen 2000
Fuß über dem Meer gelegene Ebene hinab, auf der wir, in
S.-W.-Richtuug fortziehend, bereits Mittags unser Ziel erreich-
ten und die Zelte auf einem großen freien Platz vor der von
hohen Mauern umgebenen Ortschaft aufschlugen. Der Kaid
schickte die übliche Muua, so daß wir uns im Allgemeinen
wohl befanden. Ich selbst übrigens muß mich möglichst viel
im Zelte aufhalteu und darf mich wenig zeigen; den neugie-
rig Fragenden erzählt Sidi Hadfch Ali, ich fei ein türki-
scher Arzt, den er in Stambul kennen gelernt und engagirt
habe.
10. März. Heute führte uufer Weg in südwestlicher
Richtung durch eine unbebaute, steinige Ebene in die gast-
liche Burg des Kaid von Seksaua, wo wir eine ganz
treffliche Aufnahme fanden, obgleich der Pascha mich sofort
als Christen bezeichnete. Es fehlte uns hier an nichts; ich
und Hadsch Ali speisten mit dem Kaid, meinen Leuten
schickte er ein Schaf und reichlich Kuskus :c., so daß alle
befriedigt waren. Der Ort, nur eine Stunde von dem
etwas größern Duerani entfernt, liegt dicht am Gebirge
und führt auch hier ein Weg ins Wad Sus, der aber für
Tragthiere, besonders Kameele, unpassirbar ist. Tiefer im
Gebirge befinden sich übrigens zahreiche, kleine Ortschaften,
durchgängig von Schlu bewohnt, die fich, von den Arabern
verdrängt, in die unzugänglichen Gebirge zurückgezogen haben,
wo sie wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihre Selb-
ständigkeit bewahrt haben.
steigung des Atlas.
11. März. Heute endlich betraten wir das eigentliche
Atlasgebirge und zwar beim Orte Jmintjannt, nur eine
Stunde südwestlich von unserm gestrigen Nachtquartier.
Der Ort ist wichtig, da von hier aus die meisten Kara-
wanen, die zwischen Marrakesch und Wad Sus verkeh-
ren, den Uebergang über die Berge bewerkstelligen. Der
Weg führte zuerst eine gute Stunde südlich und durch-
kreuzten wir dabei eine Kette von lichten Kalken und Mer-
geln; dann bog sich der Weg westlich in ein schönes Thal, in
welchem sich zahlreiche Gärten von Mandelbäumen befan-
den, und dem wir zu feinem Ursprung aufwärts folgten.
Von da theilten sich die Wege: rechts führt ein schmaler
Fußweg zu einer kleinen Ortschaft, von wo ein Weg nach
Agader geht, während wir links in südlicher Richtung wei-
ter gingen, bis an den Nordabhang des Dschebel Tissi,
wo wir in der Nähe einiger von Schlu bewohnter Meier-
Höfe die Zelte aufschlugen.
12. März. Heute hatten wir einen fürchterlichen, von
früh 7 Uhr bis Abends 6 Uhr währenden Marsch. Die Pas-
sage des Dschebel Tissi, der aus rothem harten Sandstein
besteht und sehr steile Felsen bildet, war für meine fchwer
bepackten Thiere kaum durchzuführen und besonders die
beiden Kameele blieben häufig liegen. Die Hauptrichtung
war eine südliche, aber in Zickzacklinien, so daß die wirklich
zurückgelegte Wegstrecke nur eine kurze war. Einige Schlu-
Scheiks begleiteten uns; später erfuhren wir, daß man uns
an einer besonders schlimmen Stelle hatte angreifen wollen,
und nur der Vermittelung eines dieser Schlu-Chefs ist es
zu verdanken, daß wir ungefährdet paffirt sind.
An einer Quelle mit gutem Wasser trennten sich die
Schlu von uns und hier holte uns eine andere Karawane
aus Marrakesch ein, deren Führer wir kannten; es war uns
das sehr lieb, denn wir waren nun bedeutend stärker und
konnten einem Angriff ruhig entgegen sehen.
Wir passirten Dar Sultan, die Ruine eines alten
Kastells, das von einem frühern Sultan au einer schwer-
zugänglichen Stelle erbaut worden war; ein Berg mit eini-
gen rohen Lehmmauern wird als Kasr-er-Rumi (Rö-
merburg) bezeichnet, und es sollen dort enorme Schätze in
der Erde vergraben sein.
Die Leute im heutigen Nachtquartier waren gefälliger
als sonst und lieferten uns sogar, natürlich gegen gute Be-
zahlung, zwei Maulthiere, da meine Thiere nicht mit dem
ganzen Gepäck das Gebirge überschreiten können. Wir wa-
ren auf diese Weise wieder um zwei Mann stärker, da jedes
Thier einen Treiber erfordert; und da die Schlu selbst für
ihr Eigenthum sehr besorgt find, so konnten wir die wei-
teren Touren mit ziemlicher Beruhigung antreten.
13. März. Heute dauerte unser wieder sehr beschwer-
licher Marsch bis Abends 5 Uhr. Der Weg führte im
Allgemeinen in Süd-West-Richtung durch ein von zahlrei-
chen Felfen und steilen Hügeln durchsetztes Plateau bis
zur Landschaft Aglan, wo sich die Ruinen mehrerer großer
Ortschaften befinden. Die Bewohner sind fast alle ge-
tödtet worden auf einer Razzia, die der Kaid von Mtuga
unternahm, um dem Räuberunwesen zu steuern. Wir
haben heute im Distrikt Ait Mufa einen großen Freitags-
Soko passirt.
In unserm heutigen Nachtquartier fanden wir keine
Gerste für die ermüdeten Thiere, die sich deshalb mit Gras
begnügen mußten. Der Platz liegt ziemlich hoch, das Ane-
roid zeigte 675 mm bei 250 C. Die Gegend ist übrigens
eine wunderschöne, großartige Gebirgslandschaft, in der sich
besonders nach Osten hin die schneebedeckten Gipfel im
Glaui-Gebiet prächtig ausnehmen.
14. März. Heute hatten wir die schwierigste Tour zu-
55*^5
Die Port - Darwin - Ansiedelung
rückzulegen, den Abstieg von der Wasserscheide ins Wad Sns,
zunächst bis zum Städtchen Misla, das am Eingang in
das Gebirge von Süden her liegt, sowie Jmintjanut den
Eingang von Norden her bezeichnet. Der Abstieg, der nn-
gemein schwierig ist, so daß wir von großem Glück sagen
können, daß er ohne Unfall gelang, führt den Namen Bi-
baun. Von der 4000 Fuß hohen Wasserscheide führt ein
schmaler ungemein steiler Weg in zahllosen Serpentinen und
Zickzacklinien hinunter, an tiefen Abgründen vorüber, wo-
bei man nur die Sicherheit der Tragthiere bewundern muß.
Meine Kameele blieben unterwegs liegen, und ich mußte
einige Leute als Wache zurücklassen; in Misla angelangt,
schickte ich dann einige Maulthiere, um das zurückgelassene
Gepäck zu holen.
In Misla hatte ich den Atlas durchkreuzt und die Ebene
des Wad Sus erreicht. Das Gebirge besteht auf dem von
mir gewählten Durchschnitt aus vier Gliedern und zwar
folgen, von Norden angefangen, 1. eine niedrige, 3000 bis
4000 Fuß hohe Kette von flachen, aus lichten, weißen
Kalken und Mergeln bestehenden Bergen, die, wie überhaupt
das ganze Gebirge, von S.-W. nach N.-O. streichen; 2. ein
sehr breites und parallel dem Gebirgsstriche sich erstreckendes,
gegen 2000 bis 3000 Fuß über das Meer sich erheben-
des Plateau, das aber von zahllosen, kleinen isolirten Ber-
gen von rothem Sandstein nach allen Richtungen hin durch-
setzt wird, so daß die Passage sehr schwierig ist; 3. ein
Zug hoher steiler Berge von rothen, harten Sandsteinen,
an den sich dicht anschließt 4. ein gleichfalls 7000 bis 8000
Fuß hoher und sehr steile Berge bildender Zug von Thon-
schiefern und Qnarziten; letztere, die Lager von Brauneisen-
stein sowie silberhaltigen Bleiglanz führen, fällen dann sehr
steil nach Süden ab.
15. März. Eine fünfstündige Tour brachte uns von
Misla nach Tarudant. Der Weg führte beständig in der
Ebene durch einen ausgedehnten Wald von Arganbänmen *),
erst in südlicher, dann in südöstlicher Richtung. Die Reise
von Misla nach Tarudant, so kurz sie ist, gehört mit zu
den gefährlichsten Unternehmungen, denn das ganze Gebiet
wird von der Araber-Kabyle der Howara beherrscht, die
durchgängig Straßenräuber sind und jede Karawane, mag sie
l) Vergl. über diesen interessanten, Marokko eigentümlichen
Baum: „Globus" XXXVI, S. 296.
an der Nordküste von Australien. 91
aus Juden, Christen oder Mohammedanern bestehen, an-
greifen, sofern nicht eine große Anzahl gut bewaffneter
Leute mitgehen. Wir waren eine ziemlich starke Karawane,
da sich uns mehrere Maulthiertreiber, die Ladungen für
Tarudant hatten, anschlössen, und so erreichten wir ohne
Anstand unser Ziel; aber es war ein unheimliches Gefühl,
beständig in der Gefahr zu sein, aus dem Hinterhalt ange-
griffen zu werden, und ich war herzlich froh, als sich die
hohen Mauern von Tarudant hinter mir schloffen.
Die Freude währte aber nur kurze Zeit, denn es folg-
ten nun allerhand Schwierigkeiten in der Stadt selbst.
Zunächst verweigerte uns der Khalis der Kasbah, unsere
Zelte daselbst auszuschlagen, und wir mußten in einem Fun-
dak absteigen. Kaum hatten wir uns daselbst etwas ein-
gerichtet, als wir durch einen wüsten Lärm aufgeschreckt
wurden: eine tobende Volksmenge hatte sich vor dem Thore
gesammelt und wollte dasselbe sprengen, sie wollte keinen
Christen in der Stadt! Wir griffen alle zu den Waffen,
Hadsch Ali und meine Diener waren fest entschloffen, mich
aufs Aeußerste zu schützen, und es wäre zu einem sehr be-
denklichen Nencontre gekommen, wäre nicht zu rechter Zeit
der Scherif der Stadt erschienen, an den wir ein Empseh-
lungsschreiben hatten, der denn auch das Volk beruhigte.
Es wurde uns dann später gestattet, unsere Zelte in der
Kasbah aufzuschlagen, wo wir wenigstens vor Pöbelexces-
sen etwas gesichert sind; in die Stadt aber kann ich nicht
gehen.
Seitdem hat sich nun unser Verhältuiß wenigstens zum
gebildetem Theile der Stadt gebessert und wir erhal-
ten häufig Besuche. Es herrscht aber hier völlige Anarchie,
die Vertreter des Sultans genießen kein Ansehen, der Pascha,
unter dessen Botmäßigkeit die Sus-Landschaft gehört, ist
derjenige der großen Kabyle Mtuga, die am Nordabhange
des Atlas wohnt, und so ist im Lande selbst keine Obrigkeit.
Außerdem ist dieser Pascha ungemein verhaßt, da er mit
großer Strenge dem Räuberunwesen im Gebirge, wenigstens
bis zu einem gewissen Grade, ein Ende gemacht hat.
In einigen Tagen denke ich von hier auszubrechen, um
nach Süden zu in das Gebiet des Sidi H esch am zu reisen,
wo Ende März ein großer Jahrmarkt stattfindet. Dort
denke ich Kameele zu kauseu und hoffe Karawanen zu sin-
den, die nach Timbuktu gehen und denen ich mich anschließen
kann.
Die Port-Darwin-Ansiedelung an der Nordküste von Australien.
H. G. Ein uns ans Palmerston — wie die in 12° 27' 45"
südl. Br. und 130° 50'45" östl. L. Gr. gelegene Haupt-
und Hafenstadt der jetzt zehn Jahre alten Ansiedelung um
Port Darwin, an der Nordküste von Australien, heißt —
zugegangenes Schreiben schildert die dortigen Zustände in
sehr düsteren Farben. Anstatt Fortschritt wird Rückschritt
konstatirt. Die weiße Bevölkerung, welche sich nach dem
Census vom 26. März 1876 auf 743 belief, war am
Schlüsse des Jahres 1879 auf 431 gesunken. Ein großer
Theil davon bestand aus Telegraphisten und anderen Regie-
rnngsbeamten. Die eingewanderten Chinesen zählten 2770
und die von der Regierung vor etlichen Jahren importirten
Malaien 30 Seelen. Der Geschäftsverkehr war gleich Null.
Das Geld, welches cirkulirte, floß fast nur aus der Regie-
ruugskaffe. Was an Arbeit vorkam, fiel meist den Chinesen
zu. Bei ihren geringen Lebensbedürfnissen können sie um
den halben Preis arbeiten, und das um so mehr, als sie
alle sieben Tage der Woche und auch täglich mehr Stunden
bei der Arbeit sind, als Europäer in einem tropischen Klima
vermögen. Es nimmt daher nicht Wunder, daß die letzteren,
wenn sie nur die Reisekosten aufbringen können, Port Dar-
win den Rücken kehren. Wer bleiben muß, ohne Angestell-
ter zu sein, hat mit Noth und Sorgen zu kämpfen. Die
wenigen Kauf- und anderen Geschäftsleute, welche sich eta-
blirt hatten, wurden gezwungen, sich insolvent zu erklären.
Das Northern Territory gehört bekanntlich zu Süd-
Australien. Es begreift das große Gebiet dieser Kolonie,
welches zwifchen 26» südl. Br. und der Nordküste liegt,
und umfaßt ein Areal von 523 620 englischen oder 24 626
deutschen geographischen Quadratmeilen. Der jetzige Gou-
12*
92 Die Port - Darwin - Ansiedelung
verneur von Süd-Australien, Sir W. F. Jervois, prophe-
zeiete der Ansiedelung des Northern Territory, womit bis
jetzt erst bei Port Darwin der Anfang gemacht ist, aus
einer zahlreichen Einwanderung von Chinesen eine glän-
zende Zukunft. Aber was ist aus dieser Prophezeiung ge-
worden?! Die Kapitalisten, welche die Arbeitskraft der Ku-
lis ausnutzen sollten, sind ausgeblieben. Die Chinesen sind
auf die 135 bis 143 Miles von Port Darwin entfernten
Goldfelder angewiesen. Diese können jedoch bloß in der
Regenzeit von November bis gegen Ende April bearbeitet
werden, weil es später an dem nöthigen Wasser fehlt. Schon
im April dieses Jahres war auf den Pine-Creek-Diggings
das Elend unter den Chinesen so entsetzlich, daß allwöchent-
lich viele dem Hungertode und den übergroßen Anstrengun-
gen erlagen. Dazu kommt, daß das Alluvium überhaupt
nur sehr arm an Gold ist und daß die Arbeit darauf im
glücklichen Falle nicht viel mehr abwirft, als der sehr kost-
spielige Unterhalt erfordert. Um die goldhaltigen Quarz-
riffe zu bearbeiten, bedarf es größerer Kapitalien, an welchen
es, da ein lohnender Erfolg ebenfalls sehr unsicher ist, noch
immer fehlt. Bis Ende 1879 hatten die Goldfelder des
Northern Territory einen Gefammtertrag im Werthe von
ungefähr 68 000 Pf. St. geliefert. Die Lebensmittel und
sonstigen Bedürfnisse müssen von dem an einem südlichen
Arme des Port Darwin gelegenen Southport aus auf We-
gen, welche durch die heftigen tropischen Regen (in Palmer-
ston fielen in der letzten Saison 75 Zoll Regen!) fast grnnd-
los geworden sind, herbeigeschafft werden und verthenern sich
dadurch in enormer Weise x). Es ist nichts Ungewöhnliches,
20 bis 30 Chinesen, genannt packers, mit Lasten von 110
bis 120 Pfund beladen, nach den Goldfeldern traben zu
sehen. Aber schon nach einigen Monaten solcher schwerer
Arbeit schwellen ihnen die Füße an und es stellen sich die
heftigsten Schmerzen ein. Sie werden dann in herzloser
Weise von den Ihrigen verlassen, bleiben Hülflos in der Wild-
niß liegen und krepiren wie das Vieh.
Das Klima des Northern Territory ist ungefähr dasselbe
wie im nördlichen Queensland. Zur Regenzeit herrschen
Fieber, sind aber gerade nicht gefährlich, wenn man große
Vorsicht beobachtet. Der durchschnittliche jährliche Regenfall
in Palmerston von 1872 bis Ende 1879 war folgender:
im Januar 14,417; Februar 10,265; März 13,418;
April 5,738; Mai 0,470; Juni, Juli, August, Septem-
berO; Oktober2,336; November 2,350; December 10,700
Zoll. Der jährliche Durchschnitt betrug 60,65 Zoll und
davon fielen 48,80 von December bis Ende März. Der
Regen nimmt ab, wie man von der Nordküste nach Süden
vorrückt.
Wenn in der trockenen Jahreszeit, wegen des fehlenden
*) Man hat im südaustralischen Parlamente den Antrag ge-
stellt, von Palmerston oder wenigstens von Southport aus eine
Eisenbahn nach den 120 bis 150 Miles entfernten Goldfeldern
zu bauen. Allein die Kosten sind auf weit über eine Million
Pfund Sterling berechnet worden und darum ist an einen
derartigen Bau nicht zu denken.
an der Nordküste von Australien.
Wassers, das Goldsuchen eingestellt werden muß, ist ein an-
derer Dienst schwer zu finden. Um der Hnngersnoth und
den daraus resultireudeu Krankheiten vorzubeugen, mußte
die Regierung im letzten Jahre für eine große Anzahl von
Chinesen Rath schaffen. Es wurde an der Fannie Bay
eine Versuchsstation für tropische und semitropische Gewächse
angelegt, und die Regierung zahlte den dabei beschäftig-
ten Chinesen den sehr geringen Tageslohn von 1 Sch.,
welchen sie bei Accordarbeit auf 1 Sch. 9 P. bringen konn-
ten. Anstatt also die Ansiedelung zu fördern, sind die Chi-
nesen viel mehr zur Last geworden.
Für Schafzucht eignet sich, wie die Erfahrung gelehrt
hat, das Northern Territory nicht, das Gras ist dafür viel
zu grob und derb. Dagegen gedeihen Rindvieh und Pferde
recht gut, und man nimmt an, daß, wenn das Land mit
letzteren bejagt wird, das Gras sich allmälig verfeinern und
sich auch für Schafe qualificiren werde.
Das Northern Territory hat der Kolonie Süd-Anstra-
lien bis jetzt schon gegen 500 000 Pf. St. gekostet, ohne
daß ein Gegenertrag von Belang eingegangen wäre. Bei
möglichster Beschränkung bewilligte das südaustralische Par-
lammt für das Finanzjahr 1879/30, von Juli zu Juli ge-
rechnet, die Summe von 41 619 Pf. St. zur Bestreitung
der notwendigsten Ausgaben in der Port-Darwin-Ansiede-
lnng. Alle Lobpreisungen, welche über die außerordentliche
Produktionsfähigkeit desselben verbreitet wurden, haben Nie-
manden angezogen und am allerwenigsten die, von denen sie
ausgingen. Was sollte da nicht Alles gedeihen! Aber, um
nur einen Fall anzuführen, die Kulis, welche auf der Ver-
fuchsstation an der Fannie Bay die Zuckerrohrpflanzungen zu
pflegen haben, sind umsonst bemüht, dieselben am Leben zu
erhalten.
„Es ist traurig (so endet das Schreiben unseres Freun-
des), daß Horden von Chinesen auf Kosten unserer Kolonie
gefüttert werden müssen. Wir sind allen Ernstes der An-
sicht, es wäre das Beste, bei Port Darwin eine Verbrecher-
kolonie, wie einst an der Ost- und Westküste dieses Konti-
nents, anzulegen. Der moralische Ton der Gesellschaft
würde hier nicht weiter durch sie insicirt werden, und auch
ein Davonlaufen wäre kaum möglich. Die kräftigeren unter
den Deportirten könnten bei dem Bau von Straßen,
Brücken u. s. w. und die schwächeren auf den Verfuchsstatio-
nen für tropische und semitropische Erzeugnisse verwendet
werden."
Wir selber erlauben uns noch folgende Bemerkung hinzu-
zufügen. Es ist kein Fall nachzuweisen, daß Europäer im
Stande waren, in einem tropischen Klima andauernd zu
leben, zu arbeiten und sich fortzupflanzen. Nur kurze Zeit
vermögen sie dort zuzubringen. Als Kaufleute, Pflanzer,
Oberaufseher u. s. w. mögen sie sich Geld verdienen und
unter Beobachtung großer Vorsicht sich auch die Gesundheit
erhalten, aber schwere Arbeit können sie auf alle Fälle unter
den Tropen nicht verrichten. Dazu sind nur die Jndier,
Mongolen und Neger befähigt. Schon aus diesem Grunde
prophezeien wir der Ansiedelung um Port Darwin keine
große Zukunft.
Aus allen Erdtheilen.
93
Aus allen
Asien.
— Einer Bekanntmachung des russischen Postdeparte-
ments zufolge ist seit Mitte Mai 1880 nach Verstärkung des
Pferdebestandes der Stationen auf der Poststraße Orenburg-
Omsk eine regelmäßige tägliche Postverbindung zwi-
schen dem europäischen Rußland und Turkestau hergestellt
worden und zwar geht dieselbe über Wjeruyi, Semipalatiusk,
Omsk, Petropawlowsk, Werchue-Uralsk, Orsk und Orenburg.
— Die Kaufleute Gebr. Waujuschiu, welche in Uralsk
Handel treiben, waren um Erlaubuiß zur Einrichtung einer
Dampfschifffahrt auf dem Ural-Flusse eingekommen.
Am 3. (15.) Mai dieses Jahres ist der erste Dampfer mit
drei Barken, die mit Getreide beladen waren, nach Uralsk
abgegangen.
— Der Zeitung „Sibir" schreibt man aus Biisk: Die
Herren Koteluikow und Antropow haben eine äußerst vor-
theilhafte Haudelsexpeditiou ins Innere Chinas
bis Kalgan ausgeführt und den Nutzen des Handels auf
dem westlichen Wege aufs Neue gezeigt. Der Verkauf der
Waaren ergab 93 Proc. Gewinn und der Verkauf der ab-
gemagerten Kameele in Kuku-Choto deckte alle Reisekosten.
Nach Biisk meint man Seide und Thee mit Vortheil ein-
führen zu können, doch ist bis jetzt die Theeausfuhr ver-
tragsmäßig auf Ur g a beschränkt. Nach China ist mit Vor-
theil auszuführen Leder, Eisen- und Knpsergeräth, Plüsch
und Vieh. Die Kaufleute von Biisk beantragen die Errich-
tnng eines Konsulats in Kuku-Choto.
— Der wohlbekannte Reisende und jetzige politische
Grenzbeamte Ney Elias, welcher im vergangenen Jahr
in nicht osftcieller Eigenschaft in Jarkand war, befindet sich
wiederum in Ost-Turkestan, um im Auftrage der iudi-
schen Regierung die wahre Lage der Dinge dort kennen zu
lernen und größere Erleichterungen für den Handelsverkehr
durchzusetzen.
— Prschewalski's Expedition soll von den Chinesen
gefangen genommen worden sein.
— Wie rührig die Schweiz ist, ihrem Handel immer
weitere Ausbreitung zu geben, zeigt der Beschluß der „Ost-
schweizerischen Geographisch - Commerciellen Gesellschaft in
St. Gallen", die Küsten des Rothen Meeres dem direk-
ten Schweizer Handel zugänglich zu machen. Zu diesem
Zwecke will sie eine Explorations-Reise veranstalten, die das
Ziel verfolgt, durch eigene Anschauung den Handel an den
verschiedenen Küstenplätzen zu studireu, um eine genaue
Keuutuiß des wirklichen und des voraussichtlichen Imports
nach diesen Häfen zu erwerben. Zum Leiter dieser Expedi-
tiou, deren Kosten auf circa 20 000 Francs veranschlagt sind,
ist Herr Arnold Küfer aus St. Galleu ins Auge gefaßt,
welcher bei seinem langjährigen Aufenthalte in England und
Süd-Amerika reiche Erfahrung in dieser Beziehung gesam-
melt hat.
— Die Ernte aus sich ten in den europäischen wie
asiatischen Provinzen des Türkischen Reiches sind zufrieden-
stellend, so daß man auf ein Aufhören der überall herrschen-
den Theueruug und selbst Hnngersnoth hofft. Nur in Ar-
menien und Kurdistan ist nach Berichten der „Times"
und der „Allgemeinen Zeitung" die Lage noch verzweifelt.
In Mosul z. B. stieg der Weizen auf das Dreißigfache
des frühern Preises und war selbst dafür nicht zu haben.
Das arme Volk nährte sich mit Baumwollsamen und
dem Blute und Fleisch gefallener Thiere; Weiber boten
Erdtheilen.
ihre Kinder zum Verkaufe an, fanden aber keine Abneh-
mer. In den Dörfern der Umgegend starben täglich 50 bis
100 Personen, in der Stadt 5 bis 10. In el Kosch (nörd-
lich von Mosul) verkauften die Kurden Hunderte von Mäd-
chen zum Preise von 30 bis 40 Mark und erstanden für
den Erlös je einer Seele einige Maß Weizen. Aehnliche
Noch wird aus Mardiu berichtet, wo die englischen Mis-
sionäre helfend eingriffen. Um Wan in Armenien ist nur
der vierte Theil der Felder bestellt worden; im Bezirke von
Baschkala (f. o. von Wan) und an der persischen Grenze
sind mehrere tausend Personen verhungert nnd es herrscht
dort jetzt Flecktyphus und Dysenterie in schwerster Form.
In Suleimauieh (östlich von Kerknk) und Umgegend
verhungerten im Mai 613 Personen; die tägliche Sterblich-
keit beträgt immer noch 20 bis 30.
Afrika.
— Aus S. Paulo de Loauda wird gemeldet, daß Neger
aus dem Innern mit der Nachricht eingetroffen sind,
Dr. M. Buchner habe nicht allein die Residenz des
Mnata Jamvo erreicht, sondern das Luuda-Reich sogar
schon wieder verlassen. Sollte sich das Gerücht bestätigen,
so ginge seine Reise mit ungeahnter Schnelligkeit von statten.
— Am 15. Juni d. I. ist ein halbes Jahrhundert ver-
flössen, seitdem das französische Eroberungsheer in Algerien
landete. Damals war es ein zum größten Theil wüstes
Land, jetzt besitzt es allein über 3 Millionen Hektaren, die
mit Getreide bestellt sind; damals betrug Ein- und Aussuhr
zusammen jährlich etwa 2 Millionen Francs, jetzt deren
365 Millionen. In den ersten zwanzig Jahren nach der
Besitzergreifung galt es als ausgemacht, daß europäische Kiu-
der in Algerien nicht groß werden könnten; jetzt stellt sich
heraus, daß die Ehen in Algerien fruchtbarer sind als in
Frankreich, daß dort 3,67 Kinder, hier nur 3,07 auf jede
Ehe entfallen. 1830 lebten 600 Europäer in Algerien, 1840:
27 000,1850:125 000, 1860:200000, 1870:271 000. In
diesem Jahre wird ihre Zahl etwa 400000 betragen — die
genaue Ziffer ist noch nicht bekannt, doch betrug sie sür1876:
323 000.
— Die Zahl der Löwen in Algerien vermindert sich
so rasch, daß man ihr baldiges Verschwinden voraussieht.
Da sich aber andererseits die Nachfrage nach den Thieren
Seitens der Menagerien und zoologischen Gärten zusehends
steigert, so hat ein Privatmann in Bona eine Anstalt zur
Züchtung der gesuchten Bestien errichtet.
— Dr. Junker schreibt von der Meschera-el-Req
unter dem 14. März (f. Petermauu's Mitth. 1880, S. 261),
daß er den Bachr-el-Ghazal bis dorthin aufgenommen hat,
und mit Hülfe Gefsi-Pascha's westlich von der Schweinfurth'-
schen Route in das Land der Njamnjam einzudringen hoffe.
Im Jahre 1881 denkt er bei den Monbnttu sein Stand-
quartier aufzuschlagen. Auch er bestätigt, daß die ägyptische
Regierung die Stationen südlich von Dusils (unter 3y2°
nördl. Br.) aufgegeben hat, weil dieselben weniger einbrach-
ten als kosteten, und ihre Herrschaft jetzt über die ergiebige-
ren Länder im Westen und Süden, Makaraka, Monbnttu
und Njamnjam, ausdehnen will. (Nach einem Briefe
Gefsi's an „L'Esploratore" haben sich bereits die großen
Njamnjam - Häuptlinge Mdaramü, Mbio und Mosio der
ägyptischen Regierung unterworfen.) Ebendort findet sich ein
Brief desDr.Emin-Bey(Schnitzler) abgedruckt, worin
derselbe seine Rückkehr von einem Ausfluge nach der West-
94 Aus allen
lüfte des Albert-Sees (Mwutau Nzige) meldet. Er hat
den See aufgenommen (vor ihm geschah das theilweise durch
Sir Samuel Baker, ganz durch Gessi und Mason) und
mancherlei Sammlungen zurückgebracht, was um so schätz-
barer ist, als es nun nach dem Zurückweichen der ägyptischen
Herrschaft im Seengebiete mit der Leichtigkeit des Reifens
dort ein Ende haben wird.
— Die günstigen Nachrichten über die italienische
Expedition in Schoa, welche auf S. 336 des vorigen
Bandes des „Globus" mitgetheilt wurden, werden jetzt lei-
der widerrufen. Nach Berichten Antinori's (dessen jüngstes
Schreiben datirt vom 7. Mai) ist es Cecchi und Ehia-
r in i keineswegs gelungen, Kaffa zu erreichen und von dort
die Reise nach den Aeqnatorial- Seen fortzusetzen, sondern
Chiarini ist, kaum 30 Jahr alt, den Anstrengungen und
Entbehrungen der Reise erlegen, noch ehe sie Kaffa erreichten.
Er starb am 5. Oktober v. I. in Tschalla im Lande der
Ghera, einem dem Könige Menelik von Schoa tribntpflichti-
gen kleinen Staate. Die „Königin" desselben hatte die Rei-
senden schon seit August 1879 gefangen gehalten und beraubt
und ließ nach Chiarini's Tode den überlebenden Cecchi so
streng bewachen, daß alle Versuche desselben, den Marchese
Antinori von seiner Lage zu verständigen, scheiterten. Sein
nunmehr angelangtes, in Schoa am 10. April d. I. einge-
troffenes Schreiben datirt vom 22. December 1879. Cecchi
brachte die Absenduug desselben nur durch List in der Art
zuwege, daß das in die kleinste Form gefaltete Briefchen in
ein Säckchen von schwarzem Tuch eingenäht und einem Ne-
ger als Amulet um den Hals gehängt wurde. Antinori
meldet nun, daß er bei Menelik Schritte zur Befreiung
Cecchi's gethan habe und dieselbe zu erlangen hoffe. Die
geographische Gesellschaft in Rom hatte von drei verschiede-
nen Seiten aus Nachforschungen nach dem Schicksale ihrer
Reisenden anstellen lassen, durch Piaggia von Chartnm aus,
durch den Kapitän Martini von Osten her und schließlich
durch Greffnlhe in Zanzibar von Süden aus. Am 2. Juli
wurde von Rom aus Piaggia telegraphische Contreordre er-
theilt für den Fall, daß er seine Reise noch nicht angetre-
ten hat.
— Aus Zanzibar kommt die Nachricht, daß Mr. Thom-
son, der Befehlshaber der von der Royal Geographica!
Society ausgesandten Expedition (s. „Globus" XXXVII,
S. 93, 144, 213, 344 und sonst) seinen Plan, den Lnknga,
den Ausfluß des Taugaujika-Sees, näher zu erforschen, aus-
geführt hat. Er ist dem Strome viele Tagereisen abwärts
gefolgt, wurde aber durch das feindselige Verhalten der Ein-
geborenen daran gehindert, seine Mündung in den Kongo
zu erreichen. Dann kehrte er nach Mtowa, der neuen Sta-
tion der London Missionary Society an der Westküste des
Tanganjika (s. „Globus" XXXVII, S. 283), zurück und ent-
ließ daselbst eine ganze Anzahl seiner eingeborenen Begleiter,
welche nach Zanzibar zurückkehrten. Dann trat er mit klei-
nem Gefolge seine weite Rückreise an, welche ihn über das
südliche Ende des Tanganjika nach Kilo« an der Küste des
Indischen Oceans führen soll.
— Mitte August dieses Jahres gedenkt Dr. Emil Rie-
beck aus Halle a. S. eine dreijährige Reise um die Erde
anzutreten und speciell sich mit Anthropologie, Ethno-
graphie und PräHistorie zu befassen. Sein nächstes Ar-
beitsseld ist die Gegend am Todten Meere und Aegypten,
weiterhin Zanzibar, Madagaskar und das Kapland. Seine
Begleiter sind die bereits auf afrikanischem Boden bewan-
derten Dr. F. Mook und Karl Rosset, ein Bruder des vor
zwei Jahren in Fascher verstorbenen Gouverneurs von Darsnr.
— Ein Sendling der seit dem vorigen Jahre in Mai-
land bestehenden geographisch-kommerciellen afrikanischen
Gesellschaft, Siguor Fraccaroli, hat jüngst in Gesellschaft
von EmilianiBey Darfurbesucht und es in Folge des letzten
Krieges sehr verwüstet gefunden. Er versuchte, den Dsche-
bel Si, einen einzelnen Gipfel des Marra-Gebirges, zu be-
Erdth eilen.
steigen, fand es aber schwieriger, als bei vielen Schweizer-
Bergen. Auf halber Höhe findet sich ein Plateau, das
200 bis 250 Menschen aufnehmen kann und den Eingebo-
renen in Kriegszeiten zum Zufluchtsorte dient. Durch eine
enge Felsspalte steigt man hinauf; an deren oberm Rande
sind mächtige Steine aufgehäuft, um etwa andringende
Feinde damit zu zerschmettern. Fraccaroli suchte vergeblich
den letzten Theil des Gipfels zu ersteigen.
Er kehrte nach Chartnm zurück und begiebt sich von da
an den Bahr-el-Ghazal.
Matteucci (s. „Globus" XXXVII, S. 223) befindet
sich augenblicklich wohlauf in Darfur, in dessen Bergen
er vielleicht die heißeste Jahreszeit über verweilen wird.
Nach den Gebieten im Südwesten von Abessinien richtet
ein anderer Italiener, der Graf Louis Pennazzi, seine
Schritte; er will im Verfolg seiner Reise zu Gessi stoßen.
Nach Enarea und Kaffa ist Bianchi unterwegs, und die
Herren Saccardi und Caprotti überbringen dem Ne-
gus Johannes von Abessinien Geschenke des Königs von
Italien. Italiener genug im nordöstlichen Afrika, doch, wie
es scheint, reisen dieselben zum größten Teile mehr in prak-
tischen als in wissenschaftlichen Interessen.
Polargebiete.
— Unlängst erst (s. oben S. 48) zeigten wir das Er-
scheinen von Nordenskjold's „Nordpolarreisen" an, ein
Buch, welches besonders die früheren Expeditionen des fchwe-
dischen Forschers behandelte. Jetzt erfahren wir, daß der-
selbe sofort an die Ausarbeitung des Berichtes über seine
ruhmreiche Nordostpassage gegangen ist, der in acht Sprachen
erscheinen soll und zwar zuerst in deutscher. Das Werk
erscheint im Verlage von F. A. Brockhaus in Leipzig unter
dem Titel: „Die Umsegeluug Asiens und Euro-
pas aus der Bega 18 73 bis 1380. Von Adolf Erik
Freiherrn von Nordenskjöld ", und zwar in Liefe-
rnngen, womöglich vom August d. I. ab, und soll noch im
Laufe des kommenden Winters zum Abschluß gelangen.
Das Werk wird ungefähr 60 Bogen umfassen und mit zahl-
reichen Abbildungen und Karten ausgestattet sein. Nach
einer kurzen Einleitung über die Entstehung der Expedition
und ihre Ausrüstung enthält es in 29 Kapiteln eine fort-
laufende Schilderung der Reise, ist also für den großen Kreis
der Gebildeten bestimmt, keineswegs ausschließlich für Ge-
lehrte, obwohl es auch die wichtigen Ergebnisse der Reise
für die Wissenschaft darlegt.
Vermischtes.
— Wer nach einer bündigen und zuverlässigen Uebersicht
über die politische Lage der Welt, über das Verkehrswesen,
über den Stand der Erforschung der Erde und dergleichen
verlangt, nehme „Meyer's Deutsches Jahrbuch 1379
bis 1880" zur Hand, wo diese Dinge von Fachleuten, zu-
meist Mitarbeitern des „Globus", behandelt sind (E.Schlag-
intweit, R. Andres, F. Ratzel, C. E. Jung, Pechnel-Lösche
und Andere). Außer den Ländern der Balkanhalbinsel fin-
den besonders Afghanistan, Birma, Aegypten, Südafrika
und viele amerikanische Staaten Berücksichtigung; die neuere
Entdeckungsgeschichte Afrikas bespricht Andree, die von Asien
R. Kiepert, die von Amerika Ratzel, von Australien und
Neuguinea Jung; Andres behandelt außerdem die uordameri-
kanischen Indianer und die geographische Literatur, Pechuel-
Lösche die Nordpolarexpeditionen der Neuzeit, andere Fach-
männer die Samoa-Inseln, die neuen Niederlassungen in
der Südsee, den Stand der topographischen Landesaufnahmen
und die Alpenvereine. Die Politische Umschau und die
Erdkunde nimmt nahezu y3 des Buches ein, welches außer-
dem die neuesten Daten über Staatsfinanzen und Heerwesen,
Literatur, Künste, Alterthumskunde, Theater und Musik,
Unterrichtswesen, Rechtspflege, Volkswirthschast, Handel und
Aus allen
* Verkehr, Land- und Forstwirthschaft, Heilkunde und Natur-
Wissenschaften bringt.
— Das eben erschienene zweite und Schlußheft der
„Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft
in Hamburg" für 1873 bis 1879 enthält neun verschiedene
Beiträge, unter welchen wir „Der geographische Standpunkt
Afrikas Ende 1879 vonL.Friederichsen", „DieBewohner
der Mortlok-Juselu von I. Kubary", auf welchen wir S. 31
^ d. B. näher eingegangen sind, Flegel's „Städtebilder aus
West- und Centralafrika" und Westeudarp, „das Gebiet
der Elephauteu und der Elfenbeinreichthum Indiens und
Afrikas" hervorheben. Aus letzterm theileu wir in Folgen-
dem einige Daten mit, welche der Autor seit einer längern
Reihe von Jahren während seiner täglichen Beschäftigung
im Elfenbeinhandel und auf seineu größeren Reisen zum
Zwecke desselben gesammelt hat.
Was zunächst das fossile Elfenbein, die Mammuth-
zühne, anlangt, so scheint dasselbe zu reichlich zweiDritthei-
leu unbrauchbar zu sein, und nur Neulinge, die solches Ma-
terial nicht kennen, kaufen es zu den von den Russen gefor-
derten Preisen. Unter einer besonders großen Partie solcher
Zähne fand Westendarp circa 14 Proc. gute, 17 Proc. noch
brauchbare, 54 Proc. schlechte und 15 Proc. ganz schlechte. Die
jetzt lebenden Elephanten sind auf Asien und Afrika beschränkt.
Der indische Elephant bewohnt hauptsächlich den Nordwesten
Vorderindiens, Bengalen, Afsam, Birma, Siam, das füd-
liche Annam, die Halbinsel Malaka und Sumatra; er ist
ein zahmes Haus- und Luxusthier geworden und unter-
scheidet sich besonders hierdurch und seine gewundeneren
Zähne von dem afrikanischen. Indiens Elfenbein-
Produktion betrug in den Jahren 1875 bis 1877 nur
4000 bis 7000 kg jährlich, welche zumeist von Rangnn,
Ehittagong, Akyab und Maulmain, sehr wenig nur uoch
' von Madras und Ceylon nach Ealcntta und von da zum
größten Theile wieder nach Bombay und China verschifft
wurden. Auch hat sich Westendarp davon überzeugt, daß
der größte Theil der von Bombay nach England verschifften
Zähne von der Mozambique-Küste stammen. Dagegen ver-
braucht Indien sehr viel Elfenbein besonders zu Armringen,
welche als Hochzeitsgeschenke für Frauen dienen, und be-
zieht dasselbe durch indische Kaufleute aus Ostafrika. Westen-
darp schätzt den jährlichen Konsum auf durchschnittlich 90000
bis 110000 Kg, wozu aber in früheren Jahren wenigstens das
2- bis Zfache Quantum an Zähnen nöthig war, um eine ent-
sprechende Quantität passenden Ringmaterials zu erhalten.
Der sonstige Verbrauch an Elfenbein in Asien ist verhält-
nißmäßig sehr gering, da keiner der drei europäischen Haupt-
artikel,-Kämme, Messerhefte und Billardbälle, dort fabricirt oder
in nennenswerther Weise gebraucht wird. China importirte
in den Jahren 1874 bis 1877 durchschnittlich circa 27 000 kg, die
zum großen Theile wieder als geschnitzte Elfenbeinwaaren im
Werthe von 200000 bis 300000 M. Pro Jahr exportirt
wurden. In Afrika leben die Elephanten in dem ganzen
centralen Gebiete, soweit es wasserreich und fruchtbar ist, von
der südlichen Grenze der Sahara bis zum Kaplande, und zwar
in solcher Anzahl, daß man einstweilen noch keine Besorgniß
vor ihrem Verschwinden zu hegen braucht. Doch wird in
nicht allzu ferner Zeit die Ausbeute abnehmen, wie dies
mit Aegypten schon der Fall ist, welches in den zehn Iah-
ren 1857 bis 1866 durchschnittlich jährlich 148 000 kg Elfen-
bein auf den europäischen Markt lieferte, dagegen in den Iah-
ren 1867 bis 1376 nur noch 133 000 Kg. Ganz Afrika hat
in den 20 Jahren von 1857 bis 1876 durchschnittlich jähr-
lich etwa 614000 Kg Elfenbein nach Europa geliefert (ab-
gesehen von dem nach Indien gehenden und von circa 60000 Kg,
die direkt nach Amerika gehen), und zwar in dem erst»! De-
cenuium durchschnittlich 583000, im letzten 640000 Kg.
Der Gesammtexport beläuft sich somit durchschnittlich auf
circa 774000 Kg im Jahre im Werthe von 12000 000 bis
Erdtheilen. 95
15 000000 M., und um diese zu beschaffen, müssen jährlich
mehr als 51000 Elephanten ihr Leben verlieren.
— Die „Zeitschrift für Schnl-Geographie",
welche seit Oktober 1879 unter Redaction von A. E. Seibert
bei Hölder in Wien erscheint, hat eine Rubrik „Erbsünden"
eröffnet, unter welcher „falsche Angaben, die in zahlreichen
Lehrbüchern oder Atlanten zu finden und sich von Buch zu
Buch, von Auflage zu Auflage fortschleppen", richtig gestellt
und so zu deren Ausmerzung beigetragen werden soll.
Pros, von Klöden eröffnet diesen Kampf mit einigen Anga-
ben, die von jedem als richtig anerkannt werden müssen;
daß es z. B. falsch ist „Caraibisches" anstatt „Karibisches
Meer", „Porto-Rico" anstatt „Puerto Rico", der Mälaru-,
Wenern-See (anstatt der Mälar-, Wener-See) zu sagen.
Die Südspitze Südamerikas, welche von der holländischen
Stadt ihren Namen empfangen, heißt Kap Hoorn (nicht
Horn), die afrikanische Insel im spanischen Besitze Fernando
Poo (nicht, wie die Portugiesen schreiben, Fenrno do Po).
Dora Ripera, das von Klöden verwirft, ist wohl nur frau-
zösische Aussprache des schriftmäßigen Riparia, wofür ebenso
oft und ebenso gut Ripaira sich findet. Von besonderm
Interesse ist aber der Nachweis, daß der Name Haarstrang
oder Hardstrang m Westfalen gar nicht existirt, sondern daß
es „Die Haar" heißt, und daß der Name „Rothhaar-Ge-
birge" oder „Rothlager - Gebirge" in der damit auf Karten
bezeichneten Gegend im Quellgebiete der Ruhr und Lenne
völlig unbekannt ist. Beides wird durch Stelleu aus von De-
chen's Schriften belegt. Dazu sei hinzugefügt, daß nach-
weisbar erst im zweiten Jahrzehnt des laufenden Jahrhun-
derts der bei Ptolemäus erhaltene Name des Harzes
„Melibäcus" noch dazu mit falscher Betonung Meliböcns
ganz willkürlich auf den Malchenberg im Odenwald über-
tragen worden ist und den echten Namen nahezu verdrängt
hat (H. Kiepert, Lehrbuch der alten Geographie S. 536,
Note4) und daß die Bezeichnung „Vogesen" für den Wasgen-
wald eine abscheuliche Verdrehung ist. „Die Form Voge-
sus in schlechten Handschriften der Alten, aus welcher irgend
ein Pedant des 17. Jahrhunderts das jetzt sogar in den
Schulunterricht eingedrungene Wortungeheuer Vogösen (mit
Anhängung der deutscheu Pluralendung an die französische
des richtig gebildeten Vosges, als wenn man Alpesen statt
Alpen sagen wollte!) ausgeheckt hat, ist ohne alle Autorität,
Vosägus durch die besten Handschriften und durch Inschriften
beglaubigt." (H. Kiepert a. a. O. S. 501, Note 5.)
— Ein unterhaltendes Cnriosum ist unlängst von einem
Ungenannten unter dem Titel: Humoristisches. Aus
der guten alten Zeit. Bruchstücke aus geogra-
phischen Lehrbüchern 1733 bis 1760 (Hamburg
I. Kriebel. 1877) herausgegeben worden. Es ist schon an
und für sich interessant, zu sehen, was damals fiir Geogra-
phie angesehen wurde; außerdem ist die Ausdrucksweise, die
Fragestellung und das Antworten oft von der drolligsten
Wirkung. Man nehme nur gleich den Anfang der Endes-
felder'fchen Kinder-Geographie:
Die Geographie ist sehr alt.
„ Anaximander, ein Philosophus und Heyde in Griechen-
land, ist der erste gewesen, der die Geographie erfunden hat,
400 Jahr vor Christi Geburt.
Plinius meldet, daß sich Alexander Magnus der Geo-
graphie bey Eroberung der Länder bedient hätte. Einige
geben vor, daß Josua durch Hülfe der Geographie das ge-
lobte Land eingenommen hätte.
Wer die Geographie verstehet, der bringt in der Gesell-
schaft nichts ungereimtes vor. U. f. w."
Oder S. 10.
Frage: Wodurch wollte der Satan den HErrn Christum
zur Abgötterey verleiten?
Antwort: Durch eine Land-Charte.
Frage: Wer suchet diese Meynung zu verbreiten?
Antwort: Hugo Grotius, ein sehr gelehrter Mann.
96 Aus allen
Frage: Was zeigete er dem HErrn Christo auf derselben !
Antwort: Alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit.
Oder S. 17.
Frage: Welches sind die berühmtesten Berge in Europa?
Antwort: 1. Der Parnaffns in Griechenland.
„ 2. Der Fichtelberg in Franken an der böhmischen
Grenze.
„ 3. Der Blocksberg in Nieder-Sachfen-
„ 4. Der Hörselberg auf dem Thüringer Wald.
5. Der Koppelberg in Hannover.
„ 6. Der Zottenberg in Schlesien.
„ 7. Der Berg Krapack zwischen Polen und Ungarn.
Sehr lustig ist auch der Abschnitt „Von cnriöseu Sa-
chen in Spanien" (S. 23), obwohl keineswegs für eine Kin-
der-Geographie, für welche er doch bestimmt ist, geeignet: es
heißt dort unter anderen:
1. Wie weisen die Spanier einen Bettler ab, wenn sie von
ihm auf der Gasse um ein Almosen angesprochen werden?
Mein Herr, vergebet mir, ich habe keine Münze bei mir.
2. Wer trinket in Spanien keinen Wein?
Die Frauen und Jungfrauen.
3. Wo trifft man keine heimliche Gemächer an?
In Spanien.
4. Worin sammeln sie den Unflath?
In große Scherben und Nachttöpfe, die sie des
Nachts auf die Gasse schütten.
5. Welcher Wein hat seinen Namen von den ledernen Säcken
bekommen?
Der Sekt.
6. Warum denn?
Weil er in ledernen Säcken verführt wird.
Nahezu drei Seiten sind den deutschen Bieren gewidmet,
und wir heben aus ihrem Verzeichnisse folgende Namen her-
vor: Cacabulle (Ecklenförder Bier), Schweinepost (Straß-
bürg), Hosen-Milch (Dransfeld), Kuh-Schwanz (Delitz),
Dorf-Teufel (Jena), Rnmmeldeus (Ratzeburg).
Diese Proben mögen genügen und unsere Leser veran-
lassen, sich durch Lektüre des Ganzen eine heitere Stunde zu
verschaffen.
— Notiz über dasAuftreteueiuig er Rhabarber-
Arten in den Gebirgsregionen nördlich und westlich
von Indiens. Von Hermannv. Schlagintweit-Sakün-
lün s ki. In Hochasien, wo längs unser eigenen Wege das Ge-
nns Rhenm oder Rhabarber an zahlreichen Standorten sich
fand, zeigte es sich in feiner Verbreitung deutlich durch zuueh-
mende Wärme begrenzt; die untere Grenze kann gleich jener
unserer Weinrebe angenommen werden. Es ergab sich für
letztere für die cultivirte Species Vitis vinifera L.2), im
nordwestlichen Himalaya und auf dessen indischer Seite ein
Absteigen bis gegen 5000 Fuß (engl.).
Nördlich von der Himalaya-Kammlinie hat das Genus
Rheum innerhalb Hochasiens eine Begrenzung nach abwärts
nur in den untersten Stufen des Dihöng-Gebietes. Die
allgemeine Maffeuerhebuug der Thalgebiete Tibets zwischen
dem Himalaya und der Karakorüm-Hanptkette, ebenso die Er-
Hebung der Strecken zwischen dem Karakorüm und dem Kün-
lün senkt sich nirgend zu entsprechender Tiefe; nördlich von
Künlün, bei einer Höhe von 2000 Fuß in bedeutender Ent-
fernung erst, iu den Umgebungen des Sees Lop, ist auch
der Unterschied der geographischen Breite, welche von Lafa
bis zu jenem See 10» oder 150 geographische Meilen ge-
1) Nach Mittheilung an den allg. österr. Apotheker-Verein,
in dessen „Zeitschrist" 1880, Nro. 11.
2) Die Species Vitis indica L., für welche sogar die
Präcedenz in wilder Form wahrscheinlich ist, hat sich dagegen
bis Travankor im Süden Indiens gezeigt.
Erdtheilen.
gen Norden beträgt, so groß geworden, daß schon dieser
eine Beschränkung durch zu große Wärme ausschließt.
Als Begrenzung durch Abnahme der Wärme, als
obere Höhengrenze, ist für die mittleren Lagen in Tibet
und auf der indischen Seite des Himalaya 12000 Fuß an-
zunehmen. Dabei ist die Grenze von Bäumen als oberste
Bewaldung stets mehrere hundert Fuß tiefer; aber verein-
zelte cultivirte Bäume, wie jene in den Umgebungen tibe-
tischer Wohnstätten, steigen nicht selten noch mehr als 1000
Fuß höher an.
In Indien ist auch jeder Culturverfuch von Rheum bis
jetzt ohne Erfolg geblieben. Was als indisches Rhabarber
im Handel vorkommt, sind Wurzeln aus den angrenzenden
Gebieten Hochasiens, aber in ihrer Verbreitung als Waare
ziemlich beschränkt; wenig mehr verbreitet scheint das per-
fische Produkt zu sein. Was auf dem Kiachta-Markte türki-
sches Rhabarber genannt und von Chinesen geliefert wird,
schätzte man als das beste Material; als Verbreitungsgebiet
seines Auftretens gilt das südöstliche Jnnerasien in verhält-
nißmäßig niederen Lagen mit etwa 35" nördl. Br. und 95°
östl. L. (v. Gr.) als centraler Region. Die „chinesisches
Rhabarber" genannte Waare kommt aus ähnlicher Entfer-
nnng gegen Osten, aber in etwas höherer Breite.
Von welchen Species die besten Handelsartikel sind,
ist, wie ich glaube, mit Bestimmtheit noch nicht bekannt.
Für die indische Himalaya-Seite und für Tibet kann
ich folgende Species nach direkten Beobachtungen angeben.
Rheum Emodi Wallich. Eine große Pflanze mit
einem am untern Ende sehr starken Stamme. Diese Spe-
cies ist wohl die am meisten verbreitete; sie findet sich von
Bhutan und Sikkim bis nach Kaschmir auf der indischen
Seite des Himalaya, zeigt in günstigen Lagen über 6 Fuß
Höhe, und hat selbst nahe der Baumgrenze 3 Fuß Höhe stets
erreicht, mit kräftiger Blatteutwickeluug. Ebenso ist sie mir
bekannt aus dem westlichen Tibet, aber mit starker Beschrän-
kuug der Häufigkeit in Folge der Trockenheit. In den mei-
sten Lagen des Nordwestens und des centralen, trockenen
Hochasiens gilt ihre Wirkung als ganz günstig, aber in den
feuchtwarmen Gebieten von Sikkim und Bhutan ist ihre
Wurzel als wirkungslos zu betrachten. Die säuerlichen
Stengel und Sprossen werden gern gegessen, gekocht ^) und
roh. Die Blätter werden in Tibet getrocknet und geraucht,
auch im östlichen Himalaya, wo die turanische Race nach
Süden sich über die Kammlinie vorschiebt.
Rheum leucorrhizum Poll. (Rh. tataricum L.).
Wenn in Blüthe, meist 2 Zoll hoch, dann bis zu 1 Fuß
Verbreitung auf die trockenen Gebiete beschränkt; dort häu-
fig. Die Wurzel soll sehr wirksam sein; von dieser Species
werden die Blätter noch allgemeiner geraucht als von anderen.
Mehr vereinzelt zeigten sich:
Rheum Webbianum Royle. In den Umgebungen
von Simla, über 12 000 Fuß hohe Standorte; in nahezu
gleicher Höhe östlich davon in Kamaon, auf dem Paßwege
über den Niti Ghat nach Gnari Khürfnm, aber ebenfalls
noch südlich, auf der feuchten Himalaya - Kette (Paßhöhe
16 814 Fuß).
Rheum Moorcroftianum Royle. In Kcilttäott und
Garhval; in Lagen bis 12 000 Fuß, doch sehr klein-
stämmig.
Rheum spiriforme Royle. Wurzel Heller und Härter
als sonst, Blätter dick und zähe. Nordwestliches Tibet.
i) In Europa verwendet man als Gemüse meist das
Rheum uuckulatum L., welches nebst mehreren anderen Species
zunächst als Zierpflanze der Kultur bei uns aus China und
Sibirien gekomnien ist.
Inhalt: Lucca und seine Umgebung. III. (Schluß). (Mit sieben Abbildungen.) — Die Ruinen von Metapont. (Mit
einer Karte.)— Dr. O. Lenz' Uebersteignng des Atlas. — Die Port-Darwin-Ansiedelung an der Nordküste von Australien.
Ans allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Polargebiet. — Vermischtes. — (Schluß der Redactiou 10. Juli 1880.)
Redacteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
SftvrtitttTJährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i qo a
-ötUUu | Q)u)6ty zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. ±O0U*
Mit besonderer Berücksichtigung äer AntKroyologie untl Gtünologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vi-. Richard Kiepert.
Das h e u t i
(Nach dem Französis
Im Frühling des Jahres 1875 wurde M. Lortet,
Dekan der medicinischen Fakultät von Lyon, von der sranzö-
fischen Regierung zum Zwecke wissenschaftlicher Forschungen
nach dem Orient, vorzugsweise nach Syrien, gesandt. Ueber
diese Reise, die er bis zum Jahre 1878 ausdehnen durfte,
veröffentlicht Lortet jetzt einen für weitere Kreise bestimmten
Bericht, der viel Interessantes enthält, und, da er manchen
Einblick in die türkische Mißwirtschaft in Asien gestattet,
ganz besonders zeitgemäß erscheint. Wir geben im Nach-
stehenden einige Auszüge aus diesen Reiseschilderungen des
französischen Forschers.
Mit allem für feine wissenschaftlichen Untersuchungen
nothwendigen Material reich versehen, begab sich Lortet am
19. März 1875 in Marseille an Bord des Dampfers
„Scamandre", desselben, auf dem er zwei Jahre zuvor eine
Reise nach Konstantinopel und Griechenland angetreten hatte.
Gegen Sonnenuntergang lichtete der „Scamandre" den Anker,
und in der Frühe des nächsten Morgens hatte man die Küste
von Corfica in Sicht: die schneebedeckten Berge hoben sich
klar vom blauen Himmel ab, auf der Ebene am Meere lag
noch dichter Morgennebel. An der Mündung der Straße
von Bonifacio vorbei ging die Fahrt bald durch die schmale
Wasserstraße, welche die Insel Caprera von Sardinien
trennt. Die Wellen gingen hoch und brachen sich mit
wütheuder Gewalt an den zahlreichen Klippen, die hier aus
dem Meere emporragen und die, ebenso wie die vielen nur
bis zum Wasserspiegel reichenden, mit Warnungszeichen für
die Schiffer versehen sind. An der einen dieser unterseeischen
Globus XXXVIII. Nr. 7.
g e Syrien.
>en des M. Lortet.)
Klippen, dem berüchtigten Felsen von Lavezzi, scheiterte im
Jahre 1856 das große französische Kriegsschiff „La Ssmil-
lante", das Truppen nach Sewastopol bringen sollte; von
der großen Zahl der auf dem Schiffe Befindlichen wurde
auch nicht ein Mann gerettet, das Schiff selbst zerschellte
an den Felsen in tausend Trümmer. Die mäßig hohen
Berge der sardinischen Küste zeigten sich hier allenthalben
mit niedrigem Gestrüpp bewachsen; dazwischen standen hin
und wieder vereinzelt die elenden Hütten der Ziegenhirten.
Zur Linken steigt die Insel Caprera aus den Wellen auf,
im Hintergrunde einer kleinen Bucht erblickte man das viel-
beschriebene weiße Haus Garibaldis. Im Hafen von Pa-
lerm o ging der Dampfer zu mehrstündigem Aufenthalt vor
Anker; Lortet und seine beiden Begleiter begaben sich ans
Land, wo in allen Gärten schon der herrlichste Frühling
grünte und blühte. Von der beabsichtigten Besteigung des
2 km von der Stadt entfernten Monte Pellegrino mußten
die Reisenden leider auf den Wunsch der palermitanischen
Polizeibehörde abstehen, da gerade in letzter Zeit die Bri-
ganten dicht vor den Thoren der Stadt einige Fremde an-
gefallen und gebrandschatzt hatten. So wurde die Zeit bis
zur Abfahrt des Dampfers mit der Besichtigung Palermos
ausgefüllt. In der Frühe des folgenden Morgens befand
man sich schon in Messina, von wo nach kurzem Aufeut-
halte die Fahrt in südöstlicher Richtung fortgesetzt wurde.
In nebliger Ferne zur Linken zeigte sich Kap Spartivento,
und noch lange sah man hinter dem Schiffe am West-
liehen Horizont den Riesenkegel des Aetna emporragen.
13
---
98 Das heutige Syrien.
Den schärfsten Kontrast zu dem so oft geschilderten und doch I sina bewundert hatte, bildete die Küste der Pelopouues, die
unbeschreiblich schönen Landschaftsbilde, das man bei Mes- | man, nach einer durch hochgehende See verzögerten, vierzig-
Syra. (Nach einer Photographie.)
stündigen Fahrt endlich zu Gesicht bekam. Der Taygetos masse von röthlichem Aussehen, wie eben alle Berge in die-
erhebt sich am Horizont, eine traurig-kahle, öde Gebirgs- fem Theile der Peloponnes, die durch das verderbliche Ab-
Cerigo, (Nach einer Photographie.)
100 Das Heu
brennen des Waldes durch die Hirten vollständig verwüstet
und ausgedörrt sind. Bei Kap Matapan näherte sich das
Schiff dem Ufer, man konnte die Küstenlandschaft bis in
ihre Einzelheiten deutlich erkennen, die spärlichen Cistus-
sträucher, den Lavendel und Thymian, die zwischen den Fel-
sen wuchsen und einigen herumkletternden Ziegen zur Nah-
ruug dienten. Das Meer, das hier sehr tief ist, bricht sich
mit Gewalt gegen das Vorgebirge, auf dessen östlicher Seite
sich der weite Golf von Kolokythia oder Marathonisi, der
Sinus Laconicus, öffnet. Bor der Halbinsel Helos oder
Lakonien, die denselben im Osten begrenzt, liegt die Insel
Cerigo, das der Aphrodite geweihte Kythera der Alten,
heute ein steriler, öder Felsen. Die Sorglosigkeit der Ein-
wohner und das Feuer der Hirten haben alle diese ehedem
so reichen und fruchtbaren Inseln des Mittelmeeres in trau-
rige Felsenwüsten verwandelt. Die Vernichtung der Wälder
hat die gänzliche Regenlosigkeit des Sommers zur Folge,
und die heftigen Regengüsse des Winters spülen nun das
;e Syrien.
Erdreich weg und haben allenthalben schon den Felsen bloß-
gelegt.
Am Kap Mali vorbei, auf dessen unwirklicher Höhe
ein Einsiedler wohnt, der beim Vorüberfahren des Schiffes
aus seiner Hütte trat und mit hocherhobenen Händen dem
Dampfer seinen Segen ertheilte, ging die Fahrt in nordöst-
licher Richtung weiter bis Syra, der mittelsten der Kykla-
den, in deren Hafen man zu längerm Aufenthalte vor Anker
ging. Die Insel Syra, die in Gestalt eines Dreiecks aus
dem Meere emporragt, hat etwa 23 km im Umfange. Bei
Homer schon finden wir sie (Odyssee XV, 402 bis 413) als
Heimath des Eumäos, des „göttlichen Sauhirten", beschrie-
ben, fruchtbar und reich und nie von Krankheiten heimge-
sucht — und noch heute ist das kleine Syra eine der weui-
gen reichen Inseln des Archipels. Ihr Hasen ist einer der
besuchtesten des Mittelmeeres; er bildet für fast alle Dampfer-
linien des Orients und des Schwarzen Meeres einen
Stationsort und dient außerdem als Zwischenstapelplatz für
Mersina. (Nach
viele der nach Marseille, Trieft oder Brindisi bestimmten
Waaren. Der heutige Reichthum Syras stammt vornämlich
aus der Zeit des griechischen Unabhängigkeitskampfes; da-
mals stand die Insel unter dem Schutze Frankreichs, und
da sie durch denselben gegen die Vergewaltigungen der Tür-
ken gesichert war, wurde sie der Zufluchtsort vieler wohl-
habender Familien von dem griechischen Festlande und den
größeren Inseln. Die Hauptstadt Hermupolis baut sich
mit ihren zumeist aus weißem Marmor bestehenden Häusern
amphitheatralisch an zwei durch eine tiefe Schlucht getrenn-
ten Hügeln anf. Ungemein malerisch sind ihre im Bogen
laufenden Straßen, die steilen Absätze, die Terrassen und
Marmortreppen, die bis hinauf zur alten Stadt führen, in
der die berühmte alte Kirche des heiligen Georg, heute ein
römisch-katholisches Gotteshaus, sich erhebt. Die Aussicht
von ihrer Plateforme ist unvergleichlich schön, zunächst über
die Stadt und den von Schiffen aller Nationen bevölkerten
Hafen, dann weiter hinaus auf das herrlich blaue Meer, ans
dem die Inseln der Kykladengruppe deutlich erkennbar auf-
steigen: nach Norden erblickt man Giura, Audro und die
Südspitze von Euböa; nach Osten Kea, Thermia und Serpho;
ier Photographie.)
nach Süden Paro, Antiparo, Naxo, Siphani und bei klarem
Wetter auch Sautorin und Anaphi, im Westen aber Mi-
kono und die Insel des Apollon, Delo. Syra ist fast ganz
baumlos; nur an dem kleinen Hafen des Poseidon an der
Nordküste befinden sich einige Gärten, in denen Palmen und
Orangen stehen. Von der St. Georgskirche durch einen
enggebauten Stadttheil hinabsteigend kommt man an die ein-
zige bedeutende Qnelle der Insel, ihre eigentliche Lebens-
ader; denn die wenigen anderen anßer ihr noch vorhandenen
Wasserrinnen sind durchaus unzureichend für den Bedarf
der Bevölkerung. So ist denn auch die Quelle vom Mor-
gen bis zum Abend von wasserholenden Matrosen, Frauen
und Kindern umringt, die das Wasser in großen amphoren-
artig gestalteten Krügen zum Hasen hinab oder hinauf in
die Stadt tragen. Syra hat eigentlich nur eine Industrie,
die von Wichtigkeit ist: hier werden die bei allen Völkern
des Orients so beliebten halbfesten, halbflüssigen Consitüren
verfertigt und in bedeutender Menge und nicht weniger als
50 verschiedenen Sorten, von den allergewöhnlichsten, die
nur aus gesüßtem und mit Rosenwasser parfümirtem Fisch-
leim bestehen, bis zu dem feinsten Fabrikat, dessen sich kein
Das heutige Syrien.
101
französischer Confiseur zu schämen brauchte, alljährlich von
hier ausgeführt.
VonSyra setzte man in nordöstlicher Richtung die Fahrt
fort bis zu der Meerenge, die Chios von der Halbinsel Kara-
burun trennt; gegen acht Uhr Abends warf der Dampfer in
dem weiten, durch die vorspringende Halbinsel gebildeten
Golf von Smyrna, einem der sichersten und schönsten Häfen
des Mittelmeeres, den Anker aus. Derselbe, der eine Länge
von 54, eine Breite von zwischen 8 und 24 km hat, wird
in seiner Mitte durch die Insel Chustau^), das Makrouisi
der Griechen, in zwei Theile getheilt. In seiner östlichen
Ecke breitet sich die Stadt Smyrna ans, die in mancher
Beziehung im Laufe der letzten Jahrzehnte bedeutende Ver-
änderuugeu erfahren und heute, vom Hafen aus gesehen,
fast den Eindruck einer europäischen Stadt macht. Die
Eisenbahn, die nach Ephefns und weiter nach Aüdin gebaut
worden ist, hat einen gewaltigen Umschwung in der Stadt
hervorgebracht2). Selbst der Hasen ist kaum noch wieder-
zuerkennen; anstatt der zierlichen auf Pfahlwerk gebauten
Wohnhäuser, der weit über das
blaue Waffer hinausragenden Ca-
fts umschließen ihn heute die fest-
gefügten Mauern eines stattlichen
Quais, sehr viel zweckentsprechen-
der ohne Zweifel, aber dem Auge
weniger erfreulich. Das eigentliche
Innere der Stadt hat sich nicht
so merklich verändert: da sind noch
dieselben alten labyrinthartig in-
einandergebanten engen Gassen, die
Chane und die Bazare mit den
zum Verkauf ausgestellten Tep-
pichen, alten Waffen und allen
Produkten asiatischer Industrie
neben abendländischen Quiucaille-
rien, französischen Parfümerien,
den Confitüren von Syra neben
russischem Kaviar, u. s. w.
In langen Reihen aneinander-
gebunden ziehen die hoch bepackten
Kameele der aus dem Innern
Kleinasiens und weiterher kom-
menden Karawanen durch die
Straßen; gewöhnlich ist ein Esel
den langen Kameelzügen als Leiter-
vorgespannt. Dicht bei der Stadt erhebt sich der etwa
100 m hohe Berg Pagus, auf dessen Gipfel eine alte
Festung der Genuesen sich befindet, die von den Türken re-
staurirt worden ist. Die Grundmauern datiren augenschein-
lich aus dem frühesten Alterthum; einige Theile derselben
sind von kyklopischer Bauart, andere stammen vielleicht aus
der Zeit Alexander's des Großen. Der Berg selber be-
steht aus grauem und rothem trachytischem Gestein, in dem
große Feldspathkrystalle vorkommen. Die ganze Ebene um
Smyrna, die man von hier aus übersieht, ist gut angebaut
und mit üppiger Vegetation bedeckt. Leider war das Wet-
ter einer weiten Umschau nicht günstig, der immer heftiger
werdende Wind brachte einige Schneeflocken mit sich, und es
währte nicht lange, so sielen dieselben dichter und hüllten die
auf der gegenüberliegenden Seite des Golfs aufsteigenden
1) Dieses Wortungeheuer, welches sich aus der betreffenden
englischen Admiralitätskarte zuerst findet, ist ein Mißverstand-
m|j des türkischen „usun acta", d. i. lange Jnfel. (Red.)
2) Ob die beiden, doch verhaltnißmäßig nur kurzen Bahnen
nach Aidin und Alafchehr wirklich im Stande gewefen sind,
solche Veränderungen hervorzurufen, erscheint uns doch fraglich.
Gipfel des Jamanlar-Dagh in ein leuchtend weißes Gewand.
Zur Stadt hinabsteigend passirte man die weitläufigen von
hohen Cypressen beschatteten Kirchhöfe und begab sich dann
in die schönste Straße der Stadt, die „Straße der Rosen",
das vorzugsweise von den reichen Levantinern bewohnte
Quartier. Die sämmtlich nach einem Stil gebauten Häu-
ser desselben zeigen an der Straßenfront nur eine große, im
Winter mit Glasscheiben verschlossene Thüröffnung, durch
die man in den geräumigen innern Hof gelangt, der, mit
Fliesen gepflastert oder mit künstlichem Mofaik ausgelegt,
in seiner AMe den Springbrunnen mit weißmarmorner
Schale und um denselben Ruhebänke und Polster enthält.
Hier sieht man an Sonn- und Festtagen die schönen phleg-
matischen ionischen Griechinnen in ihrem reichen bunten
Schmuck dem süßen Nichtsthun sich hingeben. Der Export-
Handel von Smyrna an Baumwolle, Droguen, Teppichen,
Seide und Früchten ist sehr bedeutend; im Jahre 1875 lie-
fen 5002 Schiffe von 900 000 Tonnen ein und aus.
Das stürmische Wetter dauerte am folgenden Tage, als
der „Scamandre" Smyrna ver-
ließ, noch fort, die See ging hoch,
und als man gegen Abend Rho-
dos erreichte, zeigte es sich zur
größten Enttäuschung der Reisen-
den, daß von einem Landen nicht
die Rede sein konnte. So konnte
man nur aus der Ferne sehnsüch-
tige Blicke werfen nach der zinnen-
gekrönten Mauer, dem stolzen ho-
hen Thurme, der eine so wichtige
Rolle in den zahlreichen Belage-
ruugeu der alten Ritterfeste ge-
spielt hat. Das Land rings um
die Stadt ist gut angebaut; über-
all ziehen sich große Gärten mit
Oliven-, Orangen- und Citronen-
bäumen hin. Weithin sichtbar
ragt in der Mitte der Insel der
2620 Fuß hohe Eliasberg empor.
An der kleinasiatischen Küste
entlang ging die Fahrt des nach-
sten Tages; das Wetter besserte
sich allmälig; nach kurzem Ausent-
halt in der westlich vom Kap
Chelidonia befindlichen kleinen
wo ein dichter Wald von Abies
Cilicica sich bis zum Meere hinabzieht, wurde das Vor-
gebirge umschifft. Bei wieder ganz klarer Beleuchtung
konnte man vom Schiffe aus mit dein Fernrohr deutlich
alle Einzelheiten der nun folgenden interessanten Küsten-
strecke, des alten Kilikiens, erkennen, die für die archäologische
Forschung noch ein so reiches Feld der Thätigkeit darbietet.
Seleukia, Korykus, Eleusa, die herrlichen Ruinen von Pom-
peiopolis mit deren aus 50 korinthischen Säulen bestehendem
Portikus, der von der Stadt zum Meere hinabführte, wnr-
den pafsirt, ehe man um Mittag des zweiten Tages nach
dem Verlassen von Rhodos die kleine Stadt Mersina er-
reichte. Dieselbe besteht aus etwa 30 zum Theil elenden
Gebäuden, von denen die meisten als Magazine für die
Waaren dienen, die von den aus dem Innern kommenden
Karawanen zur Verschiffung hierher gebracht werden. Mer-
sina hat keinen eigentlichen Hafen, sondern nur eine Rhede,
in der aber zwei langhinausgebaute Dämme das Aus- und
Einladen der Schiffe erleichtern. Hinter den Häusern be-
finden sich Obstgärten, deren Früchte, besonders Birnen und
Aprikosen, in Rhodos und Beirut einen guten Absatz finden.
ME JIIII EH
'KfLoR.'
Der Direkli-Tasch bei Mersina.
Bucht von Phinekakoi,
102 Die Grenze zwischen 2
Neben den Karawanenwaaren wird hier auch Wolle und
Baumwolle, die in der Küstengegend 'von Tarsus gewonnen
wird, ausgeführt. Die Bevölkerung ist ein buntes Gemisch
von Türken, Syriern, Arabern, Negern, Ansariern u. s. w.
Die Umgebung der Stadt, eine niedrige, zum Theil sumpfige
Ebene, ist meist gut angebaut; bei zweckmäßiger Entwässe-
rung, an die freilich unter dem jetzigen Regiment nicht zu
denken ist, könnte sie das Zehnfache von dem hervorbringen,
was jetzt gewonnen wird. Weit landeinwärts erheben sich
die hohen schneebedeckten Gipfel des Dombelek, des Bulgar-
Dagh und des Allah-Dagh, davor stufenweise niedrigere
garien und Rumänien.
Hügelreihen. Bei einem botanischen und Jagd-Ausflug,
den Lortet von Mersina aus unternahm, und der seiner
Sammlung viele interessante Stücke einbrachte, kam er an
dem etwa 6 km von der Stadt entfernten Direkli-Tafch (d. i.
säulenartiger Stein) vorbei, einem merkwürdigen, megalithi-
schen Denkmal der Vorzeit, das mit den keltischen Menhir
die größte Ähnlichkeit hat. Der roh bearbeitete sieben Me-
ter hohe Stein hat die Gestalt eines dreiseitigen Prisma.
Ohne Zweifel würden Nachgrabungen an dieser Stelle man-
chen wichtigen Fund thnn lassen.
Die Grenze zwischen T
Der Artikel 2 des Vertrages von Berlin bestimmt über
die nördliche Grenze Bulgariens Folgendes: „Die Grenze
folgt im Norden dem rechten Donauufer von der alten ser-
bischen Grenze bis zu einem Punkte, welcher von einer euro-
päischen Kommission östlich von Silistria bestimmt werden
soll, und richtet sich von dort nach dem Schwarzen Meere
im Süden von Mangalia, welches in das rumänische Terri-
torium eingeschlossen wird." Und damit übereinstimmend
lautet der Artikel 46: „Die das Donaudelta bildenden In-
seln, ebenso wie die Schlangen-Insel, das Sandschak von
Tultscha, welches die Distrikte (Kazas) von Kilia, Suliua,
Mahmndieh, Jsaktscha, Tultscha, Matschin, Babadagh, Hir-
sova, Köstendsche und Medschidie begreift, werden mit Ru-
mäuien vereinigt. Das Fürstenthnm erhält außerdem das
im Süden der Dobrndscha gelegene Territorium bis zu einer
Linie, welche von einem Punkte im Osten von Silistria
ausgeht und am Schwarzen Meere im Süden von Man-
galia endet. Die Grenzlinie wird an Ort und Stelle durch
die für die Greuzberichtigung Bulgariens eingesetzte euro-
päische Kommission bestimmt."
Wie man sieht, ist der Verlauf der Grenze in den beiden
angeführten Artikeln nur in höchst allgemeiner Weise an-
gegeben und es sind nur der Anfangs- und Endpunkt der-
selben bestiulmt worden. Während die übrigen, im Berliner
Vertrage festgesetzten Grenzen Serbiens, Bulgariens und
Ostrnmeliens hinlänglich genau beschrieben waren, um sie
wenigstens provisorisch auf der Karte eintragen zu können *),
mußte sich der Kartograph in der Dobrudscha begnügen,
einen uicht näher zu bestimmenden Punkt östlich von Sili-
stria mit einem zweiten südlich von Mangalia durch eine
gerade Linie zu verbinden. Ans Heinrich Kiepert's Karte
der „Neuen Grenzen ausderBalkau-Halbiusel" (Berlin 1878,
D. Reimer) ist dieselbe denn anch vor zwei Jahren in alle
übrigen Karten der sogenannten Europäischen Türkei über-
gegangen, um erst jetzt der definitiven Grenzlinie, wie wir sie
nach der officiellen Aufnahme in 1: 30 000 auf den Maßstab
*) Eine genaue Vergleichung der in 66 Sektionen uns
vorliegenden Aufnahmen der verschiedenen Grenzkommissionen
mit den besten bisherigen Karten ergiebt, daß letztere an ver-
schiedenen Stellen sehr bedeutend berichtigt werden müssen, daß
z. B. einzelne als Grenzen vorgesehene Wasserscheiden eine ganz
andere Lage haben, als wie man früher annahm. Darum
reicht das Interesse, welches sich an diese Aufnahmen knüpft,
auch weit über deren augenblickliche, politische Bedeutung hin-
aus und darf ein rein wissenschaftliches genannt werden, weil
wir damit eine Anzahl fester Linien für die zusehends richtiger
und genauer werdende Karte der Balkanhalbinsel erhalten.
lgarien llnd Rumänien.
von 1:250 000 reducirt auf der folgenden Seite geben, Platz
zu machen. Es wird Jedem möglich sein, danach die neue
Grenze auf Karten kleineren Maßstabes einzutragen — auf
detaillirtereu werden sich zwar kleine Abweichungen in der Lage
einzelner Dörfer ergeben; doch sind dieselben nur sehr unbe-
deutend, wie wir uns bei Eintragung der Grenze auf H. Kie-
pert's „Neue Karte von Bulgarien" (Berlin 1877) über-
zeugten.
Durch diese Grenzbestimmung ist übrigens keineswegs
die ganze Dobrudscha an Rumänien gefallen, wie man
vielleicht aus dem Wortlaute des oben angeführten Artikels
46 schließen könnte („dasFürstenthum erhält außerdem das
im Süden der Dobrudscha gelegene Territorium bis zu
einer Linie, welche" n. s. w.). Vielmehr reicht Dobrudscha-
bodeu — der Bulgare nennt alles wasserlose Land dobrica;
auch bei Nisch giebt es eine solche (Kanitz, Donau -Bnlga-
rieu III, S. 222) — über die neue Grenze hinaus bis
zu einer Linie, welche die Orte Silistria, Hadschi-Oghln-
Bazardschik und Baltschyk am Schwarzen Meere mit ein-
ander verbindet, so daß das von dieser Linie, der Küste des
Schwarzen Meeres zwischen Baltschyk und Mangalia und
der neuen Grenze gebildete Dreieck, welches an Bulgarien
gefallen ist, aus Physikalischen Gründen noch hinznzurech-
nen ist. Erst jene Linie Silistria-Baltschyk scheidet den
bäum- und wasserreichen Deli Orman (d. i. Toller Wald)
von der trockenen Dobrudscha. Letztere ist nach Kanitz zu
einem Drittheile mit verwildertem Eichengestrüpp bedeckt
und besteht sonst zum größten Theil aus Weidebodeu; sie ist
keineswegs eben, sondern stark wellig, dabei eine Steppe ohne
Baum und Quelle (auf unserer Karte ist nicht ein Bach
oder Fluß verzeichnet). Die Wasserläufe liegen insgefammt
trocken und sind zum Theil angebaut und besiedelt; die Dörfer-
Verstecken sich in den Schluchten derselben und sind oft nur au deu
hoch gelegenen Windmühlen zu erkennen und aufzufinden. Aber
nur in ausnahmsweise feuchten Sommern ist der Boden in
deu Thalrissen zum Ackerbau tauglich; sonst muß künstliche
Bewässerung eintreten, und die ist nur durch tiefe Göpel-
bruuneu zu beschaffen, zu deren Anlegung sich immer ganze
Dörfer znsammenthuu. Im Hochsommer wird die Steppe
zur Wüste und zum Fieberherde, im Winter wüthet Sturm
und Kälte. Dafür ist aber die Dobrudscha ein Land der
Viehzucht: „Rinder, Büffel und Pferde von schönem Schlage,
namentlich aber riesige Schafherden bilden nebst zahllosen
Bienenstöcken den einzigen Reichthum seines in wahrhast
patriarchalischen Verhältnissen lebenden Völkergemenges."
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104
Dr. O. Lenz' Reise von Tarudant nach Jler und Fnm-el-Hossan.
Dr. O. Lenz' Reise von Tarudai
Jler, den 3. April 1880.
Zwölf Tage mußte ich in Tarudant warten, ehe alle
die Verhandlungen über die Art und Weise meiner Abreise
geregelt waren. Dieselbe verursachte deshalb Schwierig-
leiten, weil der Weg durch das Gebiet der Araber-Kabyle
How ar a führt, die durchgängig Straßenräuber sind, so daß
selbst die allernächste Umgebung der Stadt im höchsten
Grade unsicher ist. Freilich waren einige Howara-Chess
in die Stadt gekommen, um meinem Begleiter, dem Sche-
ris Hadsch Ali, ihre Huldigungen darzubringen; aber diesen
Leuten ist durchaus nicht zu trauen, und so wollte der Kadi
nicht die Verantwortung auf sich nehmen, uns ziehen zu
lassen, war aber auch nicht geneigt, uns eine Eskorte zu
geben. Schließlich hieß es, ich könne Samstag den 27. März
abreisen. An diesem Tage nämlich brach die Karawane
auf, die zu dem großen dreitägigen Markte nach Hamed
ben Musa im Gebiet des Sidi Hassein (Sohn von
Sid i H es ch am) zieht und die selbst von den Howara nicht
angegriffen wird, da dieser einflußreiche Scheich für die zu
seinem Markte kommenden Händler garantirt. Wird z. B.
die von Tarudant kommende Karawane beraubt, so ersetzt
er ohne Weiteres den Verlust, schickt aber gleich darauf einige
hundert Reiter in das Howara-Gebiet, welche dann die
Auslagen mit Zinsen heimbringen. Es ergab sich aber,
daß die Tarudanter Kaufleute nicht leiden wollten, daß ein
Christ mit ihnen zöge, und so wurde denn endlich ein an-
deres Arrangement getroffen. Einige Howara-Chefs über-
nahmen, gegen gute Bezahlung, die Garantie, mich auf einem
von der Hauptroute etwas abweichenden Wege durch ihr Gebiet
bis in das der Schlu-Kabyle Schtuga zu bringen. Den ein-
flußreichsten Scheich der letztern, Sidi Ibrahim, hatten
wir bereits in Emnislah kennen gelernt, und er hatte uns
die beruhigende Versicherung gegeben, daß wir durch sein
Gebiet ungefährdet ziehen könnten. Ich konnte demnach
doch noch am 27. März aufbrechen und war herzlich froh,
dem Gefängniß (denn anders kann ich Tarudant nicht be-
zeichnen) den Rücken kehren zu können.
Es hält sich gegenwärtig ein Sekretär des Sultans in
Tarudant auf, um die Verhältnisse zu untersuchen, da der
Sultan Willens scheint, endlich mit Gewalt sich in wirk-
lichen Besitz des Wad Sus zu setzen und demnächst TruP-
Pen von Agadir aus schicken wird. Die Unsicherheit in
diesem schönen, gesegneten Landstrich, in dem eine zahl-
reiche Bevölkerung reichlich leben könnte, ist ganz unglaub-
lich; jeder Mensch ist bis an die Zähne bewaffnet, Raub
und Mord sind an der Tagesordnung; dazu kommt noch der
religiöse Fanatismus, so daß der Aufenthalt für Christen
unmöglich, das Durchreisen im höchsten Grade gefähr-
lich ist.
27. März. Es wurde etwas nach 3 Uhr, ehe wir auf-
brachen. Der Khalif der Stadt, sowie der Scheris nebst
einer Eskorte von einigen zwanzig Menschen, alle wohl be-
wafsnet, gaben uns das Geleite bis zum nächsten Howara-
Scheich, etwa zwei Stunden Weges. Der Weg bis zu
diesem Platze, Soko Tleza (Dienstag-Markt) Ulad Sed,
Kabyle Howara, führte in westlicher Richtung durch wohl-
Aus Heft 2 des 2. Bandes der „Mittheilungen der
Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland".
Illach Jler und Fmn-el-Hoffan').
bebautes Land; die Gerstenfelder und Olivengärten waren
durch Hecken eingezäunt und zahlreiche künstliche Kanäle
bewässerten das Land.
Hier verließ uns die Eskorte von Tarudant, und wir
wurden einem Trupp Reiter übergebeu, die sämmtlich
Straßenräuber waren und infolge dessen die Verstecke sehr
gut kannten. Wir zogen langsam vorwärts, jeder Busch
wurde vorher von meiner Begleitung sorgfältig untersucht
und es war ein höchst unheimlicher Marsch. Der Weg
führte etwas mehr südlich und bald erreichten wir den
eigentlichen Wad Sus, der ein sehr breites, aber flaches
Bett hat. Er führte zur Zeit nur einen schmalen Wasser-
streifen, 10 Fuß breit und nicht viel über 1 Fuß tief.
Das Unangenehme des Weges wurde noch erhöht durch einen
starken Platzregen; dem folgte dann ein heftiger Westwind,
der uns dichte Wolken feinen Sandes aus dem Bett des
Flusses Sus ins Gesicht trieb.
Am andern Ufer angelangt, kam wieder ein großer
Wald von Arganbäumen, der mit größter Vorsicht passirt
werden mußte. Das Gebiet hier gehört den Ulad Hafeia.
Nachdem wir dasselbe passirt hatten, verließ uns die Eskorte
und zwei Leute der Ulad Said er Rumla (sämmtlich noch
Howara) stießen zu uns, die uns bis zu einem Komplex
von einzelnen Meierhöfen führten, wo wir die Nacht zu-
brachten. Der Khalif von Tarudant hat hier einen Ver-
wandten und dieser überließ uns ein Haus.
28. März. Heute wieder ein langer Marsch von
früh 7 Uhr bis Abends 5 Uhr durch unsicheres Gebiet,
bei kaltem, regnerischem Wetter. Erst ging es ein Stück
westlich bis Ida Mennun, durch bebaute-Felder und Argan-
gebüsch; dann stieß eine Eskorte zu uns, die uns in süd-
westlicher Richtung durch einen ausgedehnten Arganwald
brachte. Wir passirten hierauf in S.-W.-Richtung eine
Hügelkette, bestehend aus Kalkstein, darauf ein schönes, wei-
tes, rings von Bergen umgebenes Thal, mit zahlreichen klei-
nen Ortschaften und Meierhöfen; diese Gegend heißt Konga.
Darauf ging es in westlicher Richtung wieder durch gebir-
giges Gebiet; der Platz, wo wir in die Ebene eintraten,
heißt Ida Augaran; hier stießen wir anf die von Tarudant
zum Markte ziehende Karawane, wir schlugen aber einen an-
dern, mehr westlichen Weg ein. Es ging nun in südlicher Rich-
tnng weiter, parallel den westlichen Abhängen des Gebirges, zur
Rechten in weiter Ferne das Meer, bis zu einer Gruppe
von Ortschaften und Meierhöfen, die den Namen Ida Bus-
sian führen. Hier verbrachten wir die Nacht mit großer
Beruhigung, denn die schlimmste Partie lag hinter uns
und wir näherten uns dem Terrain von Sidi Hescham.
29. März. Langer Marsch von früh 7 Uhr bis Abends
8 Uhr; aber wir sind auch im Gebiet Sidi Hefcham's
angekommen und in relativer Sicherheit. Die Richtung
war im Allgemeinen eine südwestliche. Wir passirten eine
Reihe von gut bevölkerten Stellen, Ait Wadrim, Ait Midik
mit der Sania Sidi Said ben Meza, Ait Lugan mit einem
Marktflecken, überschritten hierauf den Wad Bogara, Passir-
ten in südlicher Richtung einen Arganwald und kamen
gegen Abend am Wad Raz an, der die nominelle Süd-
grenze des marokkanischen Reiches bildet. Im Thale dieses
Flusses war eine herrliche, üppige Vegetation, wie ich sie
nie vorher gesehen hatte. Es hatte kurz vorher in den um-
Dr. O. Lenz' Reise von Tarud
liegenden Bergen geregnet und der Fluß war sehr ange-
schwollen und reißend; er mußte aber heute noch passirt
werden, da er möglicherweise während der Nacht noch
mehr steigt und wir dann mehrere Tage warten müßten.
Die Passage mit den Kameelen uud Pferden war sehr
schwierig und gefährlich, und ich war recht sroh, als wir
schließlich, freilich bei völliger Dunkelheit, ohne Verluste
am andern Ufer angelangt waren. Wir zogen nach einer
halben Stunde weiter landeinwärts und schlugen dann auf
einer hübschen Ebene unsere Zelte auf; die ganze Gegend
ist unbewohnt.
30. März. Wieder eine lange Tour, aber auch An-
fünft in Sidi Haffein's Residenz Abends 6 Uhr, bei
strömendem Regen und völlig durchnäßt und durchfroren.
Der Weg führte zuerst ein Stück längs des Wad Raz,
an einer alten „römischen" Brücke vorüber, dann bog er
sich nach S.-W. und wir bestiegen eine schöne, wohlbebaute
Hochebene mit zahlreichen Meierhöfen, stiegen dann abwärts
in eine tiefere Ebene, dann kam wieder ein Plateau, dar-
auf senkte sich der Weg wiederum, bis wir an den Fuß
eines langen Gebirges kamen, das wir in Serpentinen durch-
kreuzten; Hauptrichtung Süd. Darans ging es in S.-W.-
Richtung durch wenig bebautes, hügeliges Gebiet; etwas
nach 4 Uhr verließen wir den großen, zum Soko führenden
Weg nnd gelangten auf einem Seitenweg nach Jler, dem
Wohnort des jetzigen Herrschers. Ich durfte als Christ
den Soko Hamid ben Musa nicht Passiren, da es eine
große Sania ist. Jler ist ein kleines Städtchen, inmitten
einer weiten, rings von Bergen umgebenen Hochebene ge-
legen.
Sidi Hassein, der jetzige Regent, ein schon alter Herr,
gestattete uns, die Zelte auf eiuem Platz vor der Moschee
aufzuschlagen; auch schickte er Gerste für die Thiere, im
Allgemeinen ein günstiges Zeichen. Jährlich dreimal sin-
det in der eine gute Stunde vou hier entfernten Sania
Hamid ben Muta, so benannt nach dem Großvater des
jetzigen Scheich, einem großen Heiligen, ein dreitägiger
Markt statt, zu welchem aus großer Ferne viele Menschen
herbeiziehen; selbst von Marrakesch kommen Kaufleute herbei.
Aber auch die Scheichs der Umgebung kommen mit stattli-
chem Gefolge an und mit uns zu gleicher Zeit zog Scheich
D ahm an von Wad Nun (Ogulmiu) in die Stadt ein.
Die Bewohner sind Schln (Schnluh oder Berber), doch
finden sich auch einzelne Araberfamilien; unter den Sklaven
aber trifft man alle möglichen Sudanneger; auch Fulani
(Fnlbe) giebt es darunter. Hier herrscht schon der blaue
Stoff als Kleidung vor, wie er im Sudan gebräuchlich ist,
und die bisher gewohnten weißen Farben treten zurück. Ich
wurde während meines Aufenthaltes viel geplagt mit ärzt-
lichen Konsultationen, besonders von den Frauen, die übri-
gens meistens nur die Neugierde in mein Zelt trieb; waren
doch nie vorher Christen hier gewesen.
Ich wurde auch hier als Türke ausgegeben; gegen Eng-
länder, Franzosen und Spanier ist man sehr mißtrauisch,
da man von dieser Seite immer etwas fürchtet. Der
Scheich schickte einen Juden zu mir, der etwas Englisch und
Spanisch sprach, um mich auszufragen, was ich wolle, wo-
her ich sei :c. Ich that, als verstände ich ihn nicht und
ließ ihm sagen, ich spräche nur Türkisch und Deutsch.
Ich hielt mich vier Tage in Jler auf, da ich auf dem
benachbarten Soko Kameele für die Wüstenreise kaufen
mußte. Ich erstand auch acht aus Tazerkant stammende
Thiere, für 32 bis 35 Duros (a 5 Francs) das Stück,
verkaufte die Pferde und Maulesel, erhielt aber für die ab-
getriebenen Thiere sehr wenig. So wollte z. B. Niemand
meine beiden Manlthiere nehmen, die freilich nichts mehr
Globus XXXVIII. Nr. 7.
it nach Jler und Fum-el-Hofsnn. 105
taugten; schließlich vertauschte ich dieselben gegen mehrere
Dutzend Paar Pantoffeln, die ich späterhin für 17 Duros
verkauft habe.
Währenddem verhandelte Hadsch Ali mit dem Bruder
und dem Sekretär des Scheich über meine Weiterreise, und
letzterer erklärte sich endlich bereit, mir bis zur Grenze
seiner Herrschaft einen Mann mitzugeben; dafür müsse ich
ihm schriftlich bestätigen, daß er innerhalb seiner Macht-
sphäre mich beschützt habe. Der Brief des Sultans, den
Sidi Hassein gelesen, wirkt selbst hier noch etwas.
Fum-el-Hofsnn, 13. April 1330.
Nachdem ich Sidi Hassein eine schriftliche Erklärung
gegeben, daß er für meine Weiterreise nach Süden keine
Verantwortung übernehmen könne, gab er endlich die Er-
laubniß zur Abreise; auch schickte er einige Empfehlnngs-
briefe an die Scheichs von Jfcht und Temenet, fowie den
Scheich Ali der Araber-Kabyle Maribda; ebenso einen
Mann als Begleiter. Ich war sehr sroh, daß ich auf diese
Weise los kam, denn ich hatte ernstlich Angst, daß ich hier
zurückgehalten werden möchte. Die großen Scheichs sind
ja schließlich anch nichts anderes als Räuber, nur treiben
sie das Geschäft mehr en gros. Der Scheich von Wad
Nun, Bruder des jetzigen Scheich Dahman, hatte vor einigen
Jahren einen dort Handel treibenden Spanier gefangen ge-
nommen uud verlangte 50 000 Francs Lösegeld; die spanische
Regierung hat auch diese Summe zahlen müssen.
Am 4. April brach ich auf. Es wurde 10 Uhr, ehe
wir fortkamen, da wir mit den Kameelen allerhand Sche-
rereien hatten. Das Reiten auf Maulthiereu ist nun zu
Ende und ich muß mich ans Kameel gewöhnen; das Auf-
und Absteigen machte mir anfangs große Schwierigkeiten.
Der Weg führte während zweier Stunden durch die
Hochebene von Jler, im Thal des Flusses gleichen Namens,
in südlicher Richtung bis an den Fuß einer hohen Bergkette,
die S.-W. bis N.-O. streicht, uud vorherrschend aus Gra-
uit und Schiefern besteht. Der Nordabhang ist ein steiler
Abbruch uud jüngere Eruptivgesteine treten daselbst auf.
Dieselben bilden eine Reihe ifolirt stehender, steiler, spitzer
Kegel; auf dem höchsten derselben hat Sidi Hescham ein
Kastell errichtet, Agadir, das einen höchst pittoresken An-
blick gewährt. Es mußte nun das Gebirge überschritten
werden, was mit den beladenen Kameelen nur sehr schwie-
rig und langsam von Statten ging. Um drei Uhr endlich
hatten wir die Wasserscheide erreicht; dieselbe ist gegen
4000 Fuß hoch, die umgebenden Spitzen nicht über 5000.
Nach Süden zu löst sich das Gebirge in eine Reihe flacher
Hügelketten aus, die vielfach mit Gersteufeldern bedeckt sind.
Wir wandten uns dann etwas östlich und hielten gegen
Abend bei den letzten Meierhöfen der Kabyle Tazerult.
Zwei meiner Diener haben mich in Jler verlassen, Jbn
Schelnl und Kaid Muhammed; sie haben Furcht und
kehren nach Marrakesch refp. Fas zurück. Ich habe übri-
gens für uns alle (außer Hadsch Ali) weite blaue Hemden
machen lassen, wie sie hier üblich sind, ebenso wird Kops
und Gesicht mit einem blauen Tuch bedeckt.
5. April. Früh 6 Uhr war bereits alles gepackt, was
bei 8 Kameelen und nur einigen wenigen Leuten viel sagen
will. Wir ritten zwei Stunden lang in S.-O.-Richtung
über die steinige Hochebene, bis wir einen Komplex von
Häusern erreichten. Hier verließ uns bereits der Führer
des Sidi Hescham, und nach vieler Mühe gewannen wir
einen andern, einen Berber-Scheich, der mit uns bis Fum-
el-Hossan gehen will. Gestern hat sich uns ein Mann an-
geschlossen, der eine Ladung Leder nach Tendus bringt, und
heute trafen wir mit einer kleinen Karawane zusammen,
14
106 Dr. O. Lenz' Reise Don Tarud
bestehend ans vier Mann, einigen Kameelen und einer
Herde Schafe, die der Araber-Kabyle Maribda angehören,
an deren Scheich Ali wir einen Brief haben. Es war uns
dies sehr angenehm, da die Gegend wieder sehr unsicher ist
und einige Mann Verstärkung, besonders solcher, die Land
und Leute genau kennen, stets willkommen sind.
Wir kamen heute an den Abstieg des gestern überschrit-
tenen Gebirgszuges; derselbe ist nicht so steil, aber desto
länger. Wir folgten einem breiten Flußthal, Wad Udeui
(weiter abwärts Wad Nun), ohne Wasser und hielten um
vier Uhr auf einem Plateau bei einer Schwefelquelle. Das
Aneroid zeigte 693 mm bei 18° C. Die ganze Gegend ist
unbewohnt, aber sehr unsicher, und in den zahlreichen
Schluchten stecken Straßenräuber und allerhand Gesindel.
Das Wasser der Quelle ist schwefelhaltig und giebt
einen starken Geruch; es dürfte dasselbe sein, wie es sich
in den altberühmten Bädern von Mnley Ali, im Gebirge
Sarhnn, zwischen Fas und Mekines findet. Im Allgemei-
nen ist übrigens das durchzogene Gebiet wasserarm und
steril; wir mußten uns für den Heutigeft Marsch Wasser in
Schläuchen mitnehmen.
6. April. In der Nacht um 1 Uhr wurde bereits auf-
gestanden, gegen 3 Uhr waren die Kameele bepackt und
weiter giug es bei völliger Finsterniß. Der Weg bis zu
unserm Ziel ist sehr lang, die Gegend sehr unsicher und so
war es uöthig, so zeitig aufzubrechen. Der Weg führte
beständig in Zickzacklinien durch ein sehr gebirgiges, nnbe-
wohntes, ödes Gebiet; gegen 11 Uhr betraten wir das
breite Thal des Wad Temenet, der einige Stunden unter-
halb Fum-el-Hassan in den Wad Draa einmündet, und
jetzt hatten wir wenigstens beständig glatten Weg. Um 12
Uhr passirten wir einen kleinen Schlu-Ort, der aber jetzt
unbewohnt ist, und gegen 3 Uhr erweiterte sich plötzlich das
Thal zu einer ausgedehnten Ebene, große Palmenwälder er-
schienen uud wir passirten das malerisch am Berge gelehnte
Städtchen Kasba Temenet, wo sich der Scheich aufhält;
die Bewohner sind vorherrschend Schln, mit einigen Araber-
familien.
Eine kleine Stunde südlich davon, mehr in der Ebene,
liegt ein zweites Städtchen, Gard; dort öffnet sich das Ge-
birge und man sieht bereits hinaus in die weite Steinwüste.
Eiue Stunde östlich davon, hinter einem Bergrücken, liegt
dann der Ort Jscht, von wo man in einer starken Tage-
reise in nordöstlicher Richtnng nach Alka kommt, der Hei-
math des bekannten Rabbi Mardochai.
Kurz vor Gard waudten wir uns etwas westlich in die
Berge, bald erblickten wir Palmenwälder, überschritten den
breiten, aber Wasserlossen Wad Temenet, kamen an eine
Quelle mit köstlichem frischen Wasser, die in Kanäle ge-
faßt und in die Palmengärten geführt ist, und erreichten
endlich um 5 Uhr, nach einem 14stündigen, sehr ermüdenden
Ritt, Fum-el-Hossau, den Wohnsitz des Scheich Ali, in
der Araber-Kabyle Maribda.
Es wurde uns ein Haus angewiesen, womit ich freilich
nicht zufrieden war; ich hätte vorgezogen, die Zelte in den
Gärten von Dattelpalmen auszuschlagen. Aber man hielt
das nicht für sicher, Räuber und Diebe aus den benachbar-
ten Gebirgen treiben sich auch hier herum; außerdem hatte
sich schou das Gerücht von der Ankunft eines Christen ver-
breitet und eine Menge Menschen sammelten sich vor dem
Hause au; aber sie verhielten sich ruhig.
Scheich Ali war abwesend, auf den Feldern in der
Umgebung, um den Schnitt der Gerste zu iufpiciren, der
jetzt bereits vorgenommen wird. Sein Bruder, Scheich
Muhammed, aber und sein Nesse nahmen uns sehr freund-
lich auf; man schickte am nächsten Tage einen Boten, und
:t nach Jler und Fum-el-Hosscm.
am dritten Tag nach unserer Ankunft erschien Scheich Ali,
ein Manu in den Fünfzigern, von überaus sympathischem
und Vertrauen erweckendem Benehmen.
Scheich Ali treibt seit langen Jahren einen bedeutenden
Handel mit Timbnktn und schickt jährlich Karawanen da-
hin. Er bezieht die Waareu von Mogador; ein Bruder
von ihm lebt beständig in Timbuktu. Scheich Ali ist nun
unseren Plänen nicht abgeneigt; er leitet selbst alle Vorbe-
reitungen, sorgt für einige erkrankte Kameele, kurz, hilft
überall. Es scheint sogar, daß er selbst eine Karawane
ausrüstet uud dieselbe unter Leitung seines Brnders abschickt;
er hält das aber sehr geheim, wie er überhaupt wortkarg ist.
Ich bin auch ihm gegenüber als Türke ausgegeben, aber es
scheint, ihm fehlt der Glaube; er weiß wohl, daß ich Christ
bin, ignorirt es aber vornehm. Wenn mich dieser Mann
nicht täuscht, so habe ich eine sehr günstige Gelegenheit znr
Reise nach dem vielerstrebten Timbuktu gefunden.
In kurzer Zeit verlasse ich den Ort, um mit Scheich
Ali einige Tage auf dem Lande zu kampiren; er will nicht,
daß alle Welt sieht, wann wir abreisen. Von hier wird
zunächst der Weg nach Tenduf eingeschlagen (Araber-
i) lieber Tenduf und seinen Handelsverkehr mit Timbuktu
entnehmeu wir den Geogr. Mittheilungen, 1830, S. 274, fol-
gende Angaben, die auf Veröffentlichungen von A. Colas in
Oran und Dr. Ollivc, Arzt des französischen Konsulats in
Mogador, int Bulletin de la soc. de geogr. de Marseille, 1880,
Nro. 1 — 3, beruhen: Tenduf, sagt Colas, ist eine wichtige Stadt
mitten im Lande der Tadjakant, ihr gegenwärtiges Oberhaupt
heißt El H artani Uld Mer ab et und führt den Titel Scheich.
Seine zugleich religiöse und politische Autorität beschränkt sich
nicht auf die Stadt, sondern erstreckt sich über alle Stämme
der Tadjakant, und obgleich seine Machtbefugnisse nur unbestimmt
festgestellt sind, übt er doch eine ansehnliche Macht aus. Die
Beschlüsse der Djemaa des Landes kommen erst zur Ausführung,
wenn er sie sanctionirt hat. Der Handel von Tenduf ist von
großer Bedeutung, die Stadt dient als Entrepöt und Transit-
platz für die aus der Sahara und dem Sudau kommenden
Waaren. Dieser Handel wird ausschließlich von den nomadischen
Tadjakant betrieben, thätigen und kühnen Händlern, die mit
ihren Karawanen in den marokkanischen Tell ziehen, um Ge-
treibe, Datteln, Theer, Pulver, Tabak, Baumwollenstoffe:c. zu
kaufe», dann nach Tenduf zurückgekehrt und hier den für den
eigenen Gebrauch uöthigen Theil dieser Waaren zurücklassend,
den direkten Weg durch die Sahara nach Timbuktu einschlagen.
Die Reise dahin wird durch einen mehr oder weniger langen
Aufenthalt in Taudenni (5V2° westl. von Paris, 22° nördl. Br.)
unterbrochen, einer großen" Sebcha, die einen bedeutenden
Theil Central-Afrikas mit Salz versorgt. Die Ausbeutung
dieses Salzlagers befindet sich in den Händen der Tuaregs,
welche die Preise nach ihrem Belieben stellen. Nachdem die
Tadjakant hier einen Theil ihrer Waaren gegen die genau
eine halbe Kameelladung ausmachenden Salzstücke vertauscht
haben, ziehen sie weiter nach Timbuktu, verkaufen dort mit be-
deutendem Vortheil den Nest ihrer Waaren gegen Gold, Skia-
* ven, Straußenfedern und Kleidungsstücke und kommen nach etwa
drei Monaten nach Tenduf zurück, von wo die mitgebrachten
Produkte des Sudan durch andere Karawanen ins Innere von
Marokko und bis in die atlantischen Häfen weiter geschafft
werden.
Diese Timbuktu-Karawane der Leute von Tenduf, Akbar,
die große, genannt, wird in der Regel nur einmal des Jahres
unternommen, aber selten zählt sie weniger als 300 bis 400
gut bewaffnete Leute und 1000 bis 1200 Kameele. Sie geht
nach Dr. Ollive's Angaben von Timbuktu uach Arauan in
20, von da nach Tenduf in 35, von Tenduf nach Mt Baha
in 3 und weiter nach Mogador in 5 Tagen, daher von Tim-
buktu bis Mogador in 68 Tagen. Die Transportkosten betragen
für eine Ladung von 3 Centnern oder 162 Kilo von Tim-
buktu bis Tenduf 375 Frcs., von Tenduf bis Mogador 40 Fres.
Der Werth der Waaren, die eine solche Karawane aus dem
Sudan bringt, beläuft sich im Ganzen auf etwa 775 000 Frcs.,
und zwar sind dabei vertreten die Straußensedern mit 400000,
Goldwaaren und Goldstaub mit 100000, Elephantenzähne mit
150000, Negersklaven (eirca 500) mit 125 000 Frcs. Die
Straußenfedern, welche den hauptsächlichsten Artikel ausmachen,
gehen zum größten Theil nach London, das Elfenbein darf
Die neuesten Berichte t
Kabyle Tazerkant), dem Sammelpunkt für die nach Tim-
buktu ziehenden Karawanen. Wenn alles glatt geht und
nicht aus Marokko ausgeführt werden; es verkauft sich im Sus,
so wie in den Städten Marokko und Fas, wo es hauptsächlich
zu Flintenkolben verwendet wird; auch die Sklaven bleiben
in Marokko. Der Hauptartikel, der nach Timbuktu gebracht
wird, ist Baumwollenzeug, und zwar ausschließlich englisches,
außerdem Zucker aus Marseille, Thee aus London. Seit sechs
Jahren hat die große Karawane ihre Reise ohne feindliche An-
griffe und andere üble Zufälle zurückgelegt, wogegen sie vor
dieser Zeit durchschnittlich einmal in zwei Jahren von den
Wüstenbewohnern beraubt wurde.
t der Uganda? Mission. 107
wenn ich nicht von Scheich Ali hintergangen werde, kann
ich Ende Mai in Timbuktu sein. Von da werde ich na-
türlich versuchen, nach St. Lonis am Senegal zu kommen,
obgleich mein Begleiter Hadsch Ali nicht ganz damit einver-
standen ist. Jedenfalls wäre es gut, wenn der Gouverneur
von Seuegambien verständigt würde, daß möglicherweise
ein deutscher Reifender dort ankommt. Sollte es mir glücken,
so würde ich jedenfalls völlig mittellos das Meer errei-
chen, denn die Ausgaben sind doch bedeutender, als ich
dachte.
Die neuesten Berichte >
Das Juliheft des „Church Missionary Intelligencer"
bringt unter der Rubrik: „Leiters from tke Nyanza Mis-
sion" ebenso überraschende wie wenig erfreuliche Nachrich-
ten aus Uganda, dem Lande des von Speke, Grant und
Baker schon so hoch gerühmten, von Stanley neuerlich noch
als „die Hoffnung Centralafrikas" bezeichneten Königs
Mtefa. Unfere Leser werden sich erinnern, daß die seit nun-
mehr 2V2 Jahren in Uganda am nördlichen Ufer des Vic-
toria Njanza thätige englische Mission, die auf des Königs
eigenen Wunsch und mit so großen Erwartungen in das Land
gekommen war, anfangs gar schwere Zeiten durchzumachen
hatte. Die Schwierigkeiten, die sich ihr in den Weg stellten
und gegen die sie sich kaum behaupten konnte, bestanden nicht
sowohl in feindseligem Verhalten der Eingeborenen, als viel-
mehr in der fanatischen Eifersucht der mohammedanischen
arabischen Händler, die'bisher eine große Rolle in Uganda
gespielt und den König ja anch zur Annahme des Islam
zu bewegen gewußt hatten, sowie in dem nicht minder eiser-
süchtig-feindlichen Entgegenarbeiten der Jesuitenmissionäre.
Es gehörte die ganze Geduld, der ganze Eifer der für die
„gute Sache" begeisterten englischen Missionäre dazu, um
gegen diese beiden Elemente Stand zu halten, die immer von
Neuem de« König gegen sie einzunehmen und dadurch jeden
ihrer Schritte zu Paralysiren wußten. Endlich schien es
jedoch, als sollte ihrem ausdauernden Bemühen der gewünschte
Erfolg werden. Die Briefe der Missionäre, sowie der münd-
liche Bericht zweier nach England zurückgekehrten Mitglieder
der Mission, die im Herbste vorigen Jahres Uganda ver-
lassen hatten, konnten von einem merkbaren günstigen Um-
schwnnge in dem Verhalten des mit seinem Hofe osficiell
zum Christenthum übergetretenen Königs, und von dem da-
durch veranlaßten weitern Fortschreiten ihres civilisatorifchen
Werkes erzählen. In der Begleitung der Heimgekehrten
befanden sich drei Wagandahänptlinge, Abgesandte Mtefa's,
die der Königin Victoria Geschenke und Frenndfchaftsver-
fichernugen überbringen sollten.
So schien Alles einen guten Ausgang zu versprechen;
da brachte die am 26. Mai dieses Jahres eintreffende Post
Nachrichten über abermalige Wechselfälle in dem Geschick
der Mission nach England; Nachrichten, die um so ernster
genommen werden müssen, als sie uns die Mission zum
ersteumale nicht gegen die Rivalität der katholischen Priester
oder den Fanatismus der Mohammedaner, sondern gegen
den altheidnischen Aberglauben der Waganda selber im
Kampfe zeigen. Es waren drei Briefsendungen von ver-
schiedenem Datum (2. November; 23. November 1879;
9. Januar 1880), die zu gleicher Zeit an die Ostküste ge-
n der Uganda-Mission.
langt und mit denselben Dampfer von Zanzibar befördert
worden waren. Die ersten Briefe des Mr. Mackey und
des Rev. Mr. G. Litchfield, aus Rubaga vom 2. Novem-
ber datirt, lauteten hoffnungsvoll genug: der König und
auf seinen Wunsch auch die Häuptlinge und viele aus den:
Volke bezeigten das lebhafteste Verlangen nach Unterweisung,
zunächst in der Kunst des Lesens. Die kleine Buchdrucker-
presse der Mission war in fortwährendem Gebrauch, und
die Alphabete und Leseübungen, die Bibelsprüche und Gebete
in Kiganda uudKisuaheli (Uganda- und Suahelisprache)
konnten kaum so rasch gedruckt werden, wie sie auch schon
ihren Absatz fanden.
Die Briefe der Herren Litchfield und Pearfon vom 23.
refp. 24. November bestätigten diese erfreulichen Mitthei-
lungen; danach hatte Mtefa versprochen, den Engländern
eine Schule erbauen zu lassen, da die Zahl der lernbegieri-
geu Waganda von Tag zu Tag zunahm; sein durch die
Araber genährtes Mißtrauen gegen die Missionäre, die er-
lange Zeit im Verdachte heimlichen Einverständnisses mit
Aegypten gehabt hatte, schien gewichen; sie wurden weniger
bewacht, durften sich freier bewegen und hatteu die bisher
verweigerte Erlaubuiß erhalten, die Häuptlinge in ihren Be-
hausungen auszusuchen. Mr. Pearson, der ans einer Reife
nach Kagehji am südlichen Ufer des Victoria Njanza 4^/z
Monat von Uganda entfernt gewesen war, sprach sein freu-
diges Erstaunen aus über diese während seiner Abwesenheit
eingetretene günstige Wandlung in den Verhältnissen der
Mission. Sein Brief enthält daneben noch den Bericht
über seine an Strapazen überreiche Reise nach Kagehji;
wir geben hier eine Stelle aus demselben wieder, die im
Hinblick aus die später eintretenden Ereignisse von Wichtig-
keit ist. „Bei meiner Ankuust in Buganga," erzählt
Mr. Pearson, „bat ich um die Erlaubniß, meinen Weg nach
Rubaga, der Hauptstadt, fortsetzen zu dürfen; die Eingebo-
renen aber erklärten alle, daß der Theil des Sees zwischen
Ntebi und Buganga augenblicklich in der Gewalt des „Lubari"
des Njanza, Mnkaffa, sei (eines Mannes, der vorgiebt,
übernatürliche Macht zu besitzen) und daß dieser uns, wenn
wir jenen Weg wählen würden, im See begraben werde.
Mtesa hatte augenscheinlich die Hand hierbei im Spiele oder
ließ es wenigstens geschehen, daß wir bis zum 30. Oktober
dort aufgehalten wurden, wo wir eudlich, und auch dann
nur noch zu Lande, uns anf den Weg nach Rubaga machen
durften."
Zum ersteumale in diesen Briefen finden wir hier eine
Erwähnung des „Mukassa", des geheimuißvollen „Lubari"
oder Seegeistes, dessen Wiederauftreten dem Missionswerke
14*
108 Die neuesten Berichte vi
verhäugnißvoll geworden ist. Mr. Pearson nennt das In-
dividnnm, in dem die Gottheit des Sees sich jetzt wieder
verkörpert haben soll, einen Mann; doch ist dasselbe wahr-
schcinlich ein Weib, das sich als Mann verkleidet, weil der
Tradition nach der Lnbari oder Seegeist männlichen Ge-
schlechtes sein soll. Auf jeden Fall zeigte es sich hier dent-
lich, wie groß die Macht des alten Volksglaubens noch war,
der dem Reisenden die Fahrt über den See unmöglich machte,
und ihn zwang, auf dem westlichen Ufer denselben mühe«
vollen Weg zu gehen, den Speke nndGrant im Jahre 1862
verfolgt hatten.
Ehe wir auf die Briese der Missionäre vom 7. und 9.
Januar 1880 eingehen, in denen wir die Erzählung von
dem neuen Auftreten des Lnbari und seinen Folgen sinden,
sei hier noch einer Stelle aus Speke's Bericht Uber seinen
Aufenthalt in Uganda im Jahre 1362 Envähnuug gethan,
in welcher von dem Geiste die Rede ist. Bei Stanley sin-
det sich nirgends eine Andeutung über diesen wahrscheinlich
schon sehr alten Glauben der Waganda; aber Speke be-
schreibt eine Insel, die von dem Mgussa, dem „Neptun" des
Njauza, bewohnt werde; d. h. nicht von dem Mgussa in
eigener Person (denn derselbe sei ein Geist), sondern von sei-
nem Vertrauten oder Gesandten, dem großen Medium, das
dem Könige von Uganda die Geheimnisse der Tiefe über-
mittelt. Seinen Besuch bei demselben in der Begleitung
Mtesa's schildert Speke folgendermaßen: „Unter den Bau-
men dieser schönen Insel entlanggehend, kamen wir an die
Hütte von Mgussa's Vertrauten, die an ihrer Rückwand
mit vielen mystischen Symbolen, unter anderen mit einem
Ruder, dem Zeichen seiner hohen Würde, verziert war; eine
Weile saßen wir plaudernd in der Hütte, bis Pombe (eine
Art Bier aus Bananen) gebracht wurde und das Medium
oder der Vertraute des Geistes erschien. Er war nach Art
der Wischwezi (einer Bande von Zauberinnen, deren An-
sührerin in dem „Palaste" der Königin-Mutter ihre Woh-
nung hat) mit einem kleinen Schurz von weißem Ziegenfell
bekleidet, mit vielen Amuleteu behängt, und trug ein Ruder
als Keule oder Spazierstock. Er war uoch kein alter Mann,
bemühte sich aber, so zu erscheinen, indem er langsam und
schwerfällig ging, asthmatisch hustete, mit den Augen blinzelte
und wie ein altes Weib murmelte. Mit angenommener
Schwerfälligkeit setzte er sich hinten in der Hütte neben den
erwähnten Symbolen nieder und fuhr wohl eine gute halbe
Stunde fort zu husten, bis seine Frau in derselben Weise,
ohne ein Wort zu sprechen, eintrat und dieselbe Komödie
aufführte. Der König sah lachend bald mich, bald wieder diese
sonderbaren Wesen an, als wollte er fragen: „Was hältst
Dn von ihnen?" Aber niemand von uns sprach ein Wort,
bis auf das alte Weib, die mit quäkender Stimme nach
Wasser verlangte, und als es ihr gebracht wurde, wieder
krächzte, weil es nicht klar genug war — der erste Becher
mußte fortgenommen werden, mit dem zweiten befeuchtete
sie sich nur eben die Lippen, und dann hinkte sie wieder fort,
wie sie gekommen war. Nun winkte des Mgussa's Ver-
trauter deu Kamraviona und mehrere Beamte zu sich, gab
ihnen mit sehr leiser Stimme alle Befehle der Tiefe und
zog sich dann zurück. Seine Offenbarungen mußten un-
günstiger Natur gewesen sein; denn wir begaben uns unver-
züglich uach unseren Booten und kehrten heim."
Auch der Name Lubari findet sich zweimal in Speke's
Bericht vor: einmal, als er den Frauen Mtefa's seine Uhr
zeigt, ruft eine derselben, durch das Geheu der Räder und
das Ticken erschreckt, aus: „O! furchtbar! verhüllt eure Ge-
sichter; das ist der Lubari!" Und als er den Nil unweit
seines Austritts aus bem See erforschte, kommt Speke an
ein Gebiet, welches er das „Kirchenland" nennt, „da es in
t der Uganda-Mission.
irgend einer geheimnißvollen Weise dem Lubari geweiht ist."
„Der König," sagt er, „schien zwar über einige von den
Einwohnern eine gewisse Autorität zu besitzen, andere dage-
gen hatten eine geheiligte Stellung, die sie von der welt-
lichen Macht eximirte; anch besaß er kein Recht, über das
Land selbst zu verfügen."
Mr. Wilson, der anderthalb Jahre lang in Uganda bei
der Mission thätig gewesen ist, bestätigt aus eigener An-
schauung diese Angaben Speke's; er erwähnt als die drei
Hauptgötter der Waganda Tschiwuki, Nendi und Mnkasa,
die beiden ersteren sind Waldgötter, der letztere ist der Nep-
tun des Njanza, dem von den Fischern und Schiffern Opfer
an Bananen und dergleichen dargebracht werden. Außer
diesen Dreien giebt es noch viele andere niedere Lubari, die
an verschiedenen Orten wohnen und das Land dnrch Krank-
heit, Hungersnoth und andere Plagen heimsuchen können.
So soll auf dem Gipfel des Berges Gambaragara ein Ln-
bari wohnen, der die Blattern in das Land schickt. Ueber
die von Zeit zu Zeit stattfinden sollende Verkörperung des
Lubari Mukasa sagt Mr. Wilson unter anderen: „Die
Person, in welcher der Gott dann wohnen soll, wird sehr ge-
fürchtet und geehrt und übt einen ungeheuren Einfluß auf
das Volk aus. In dem jetzt vorliegenden Falle hat das
alte Weib, in dem er erschienen sein soll, von der Furcht ge-
trieben, daß die Anwesenheit der Europäer im Lande wahr-
scheinlich ihren Einflnß allmälig untergraben und schließlich
ganz beseitigen würde, wahrscheinlich auch von den anderen
„Medicinmännern" angespornt, eine letzte große Anstrengung
gemacht, die die Vertreibung aller Europäer bewirken sollte."
Und wie gut dieser Versuch gelungen ist, davon geben die
jüngsten Ereignisse in Uganda Zengniß. „Seit mehreren
Monaten schon," schreibt Mr. Mackey, „habe ich das Wort
Lubari mehr oder minder häusig hier aus jedem Munde
vernommen. Viele sprachen den Namen mit Ehrfurcht aus,
während andere weder Gutes noch Böses von jenem Wesen
sagen wollten." Anfangs hielten die Missionäre die Sache
für nicht so bedenklich, da der König mehr als einmal ihnen
erklärt hatte, daß er alle diese Mandwa, Zauberer und Ver-
treter der Götter für Betrüger halte und nichts mit ihnen
zu thun haben wolle. Bald aber verbreitete sich die Nach-
richt, der Lubari sei auf dem Wege nach der Hauptstadt,
um den König von seiner Krankheit zu heilen, an der er
zwei Jahre schon litt, die unter der Behandlung des Mis-
sionsarztes sich bedeutend gebessert hatte und wohl längst
beseitigt gewesen wäre, wenn Mtesa sich den Anordnungen
des Arztes gefügt hätte. Es hieß, daß die Verwandten des
Königs sowie die meisten Häuptlinge, die nur widerwillig
sich dem Wunsche Mtesa's gefügt und erst den Islam, dann
das Christenthum angenommen hatten, diesen Schritt befür-
wortet und nach dem Lubari gesaudt hätten. Jetzt traten
die Missionäre entschieden gegen diese Rückkehr zum alten
heidnischen Aberglauben auf; immer wieder suchten sie die
Häuptlinge und den König zu überzeugen, immer wieder
schien auch der letztere ihre Ansicht zu theilen; er gab in
ihrer Gegenwart Befehle, das Eintreffen des Lubari zu ver-
hindern und ließ doch alle Vorbereitungen zu seinem Em-
psange treffen, neben seinem eigenen Palaste drei Häuser für
ihn errichten.
Am 23. December wurden die Missionäre plötzlich zu
Mtesa entboten; sie fanden ihn von seinen Häuptlingen um-
geben, die zahlreicher zur baraza oder Versammlung erschie-
nen waren, denn je. Neben dem König saß eine Frau, die
er seine „Verwandte" nannte. Das Aussehen der Versamm-
lnng war ein entschieden feindseliges. Mr. Mackey, von
Mtesa aufgefordert, sich zu der Königin-Mutter Namasole
und zu den Hütern der königlichen Gräber zu begeben, die
Reifnitz i
weit von der Hauptstadt entfernt wohnen, um ihnen selber
seine Grüude gegen die Aufnahme des Lubari am Hofe aus-
eiuanderzusetzeu, weigerte sich, dies zu thun. Es wäre nn-
ter den obwaltenden Verhältnissen ein mehr als gewagtes
Unternehmen gewesen, sich aus der Hauptstadt zu entfernen,
um sich in den Bereich jener den Missionären offenkundig
feindlich gesinnten Personen zu begeben. Mackey's Weige-
ruug rief nun aber eine heftig aufgeregte Erörterung hervor,
an der die fämmtlicheu Häuptlinge sich betheiligteu, und in
deren Verlans der König ausrief: „Wir brauchen Eure Be-
lehrung nicht; die Araber mögen ihre Religion haben, und
Ihr die Eurige, aber wir wollen die unserer Väter behal-
teu." Und weiter fügte er hinzu: „Ihr wollt mein Land
nur auskundschaften, um zu sehen, ob hinter dem Njanza
ein großes Meer ist; dann wird Eure Königin ihre Schiffe
schicken und es erobern." Die Versicherungen der Missio-
näre, daß sie nur gekommen seien, das Wort Gottes zu leh-
reu und das Volk in nützlichen Gewerben zu unterweisen,
waren von keinem Erfolg — die Versammlung wurde ge-
schlössen, ohne daß der König ihre Frage, ob sie im Lande
bleiben oder dasselbe verlassen sollten, beantwortet hätte;
aber mit großer Strenge wurde ihnen das Lehren und Pre-
digen sowie der Besuch an Mtesa's Hose untersagt. Es war
unverkennbar, daß Mtesa wieder unter der Einwirkung An-
derer handelte, und wie Mr. Pearson späterhin erfuhr, hatten
auch vier oder fünf der angesehensten alten Häuptlinge ihm
einige Tage zuvor gedroht, sie würden, wenn er den Lubari
nicht ausnehmen und den alten Glauben nicht wieder ein-
führen wolle, seinen Sohn zum Köuige machen.
in Krain. 109
Am nächsten Tage, dem 24. December, wurde der Lubari,
von einer ungeheuren lautschreienden Menge begleitet, unter
dem Getöse vou Hörnern, Trommeln und Rohrpfeifen zu
Mtesa geführt. Nur zwei oder drei von den Häuptlingen
durften bei der Zusammenkunft des alten Weibes mit dem
König zugegen fein, aber einen ganzen Tag lang saß sie mit
ihren Begleitern bei ihm, prophetische Gesänge singend und
Pombe trinkend. Es hieß, daß sie Krieg prophezeiet habe,
weil Mtesa die weißen Männer in sein Land aufgenommen
hätte. Die Heilung des Königs war nur durch Zauber-
fünfte und Beschwörungen versucht worden, nach denen das
Medium, reich mit Geschenken an Vieh, Sklaven und Frauen
belohnt, wieder von dannen gezogen war.
Noch ein anderer Lubari, Wamla, traf nach einigen Ta-
gen von Unyoro, wo er seinen Wohnsitz hat, bei dem König
ein, um seinerseits die Heilung durch Opfer und Zauberkraft
vorzunehmen. Er blieb nur kurze Zeit — natürlich hat sich
in Mtesa's Zustand nichts geändert, aber diese Thatsache er-
schlittert den Glanben an die göttliche Kraft der Lubari bei
dem Volke nicht im mindesten.
So ist fürs erste das während zwei und einem halben
Jahre uuäblässig uud mit den größten Opfern erstrebte Ziel,
kaum erreicht, wieder in weite Ferne hinausgerückt. Ob es
sich hier nur um einen vorübergehenden Rückschlag handelt,
wie die Missionäre vertrauensvoll hoffen, oder ob das ganze
Missionswerk in Uganda als unausführbar aufzugeben sein
wird, das muß die nächste Zukunft lehren.
R e i f n i tz
Die Reifnitzer gelten bei den übrigen Krämern für
dumm, und der schöne, reinliche, betriebsame Marktflecken,
zwei Meilen von Gotschee, acht Meilen von Laibach ent-
sernt, steht in dem Renomnwe wie etwa unser Schilda. Es
gehen von den Ribnwani (den Reisnitzern) in dieser Hinsicht
eine Unzahl Anekdoten um. Hier eine für alle.
Die Bewohner des Thales der Reifnitz (slovenisch Rib-
nica, von riba, Fisch) sabriciren Siebe und führen sie in
aller Herren Länder, bis Stuttgart und Belgrad, nach Jta-
lien und Ungarn. Einer von ihnen erblickte in Trieft bei
einem Specereigewölbe einen geräucherten Häring ansge-
hängt; solch eilt Thier hatte er uoch nie gesehen. Er trat
ein, um es zu kaufen, uud traf zu feiner Freude in dem
Commis einen Slovenen. Diesen fragte er nach dem Preise
des Häringes. „Je nn," antwortet ihm der Commis, „der
Häring kostet eigentlich einen Kreuzer, aber Euch gebe ich ihn
um zwei, weil Ihr mein Landsmann seid." Seelenvergnügt
über deu guten Kauf zahlte der Reifnitzer die zwei Kreuzer
uud sprach beim Hinausgehen zu sich selbst: „Schau, Krota,
es ist doch gut, wenn man in der Welt einen Landsmann
findet."
Mit Krota, Kröte, bezeichnen die Reifnitzer Anekdoten,
von denen Professor Lesar viele in einem Laibacher Real-
schnlprogramme veröffentlicht hat, spöttisch sowohl Personen
als anch Sachen.
Die Reifnitzer lächeln in ihrem Phlegma zu der abfpre-
cheudeu Meinung, welche ihre lebhafteren Landslente von
ihrem Verstände haben und lassen sie ruhig bei ihr. Einer
erzählte mir, es war auf einer Fahrt von Marburg nach
i u K r a i n.
Cilli, mit pfiffigem Gesichte, das mir sehr drollig vorkam,
für dumm gehalten zu werden nütze den Reifnitzern; denn
von diesen übervortheilt zn werden, sei nach der Meinung
der übrigen Slovenen geradezu unmöglich, ltitb doch habe
er soeben von einem Bauer für ein Sieb 25 Kreuzer mehr
eingenommen, als es werth fei, während der Käufer sich
etwas daraus eingebildet habe, der Reifnitzer Krota 5 Kren-
zer abgezogen zu haben.
Das wackere, gutmüthige, geschickte und fleißige Völklein
der Ribnivani mag wohl durch seinen eigenthümlichen Dia-
lekt in den Ruf des Krähwinklerthums gekommen sein. Mäh-
rend nämlich das Slovenische in der Gegend von Lack ain
schnellsten gesprochen wird, dehnen die bedächtigen Bewohner
des Reisnitzthales die Wörter ans eine Weise, daß s wie ;ij
oder ej, u wie uj klingt. Historisch merkwürdig ist, daß
zur Zeit der Reformation die Protestantischen Schriften des
Superintendenten Franz Trüber, eines Krämers, im Reif-
nitzer Dialekte abgefaßt wurden. Leider erlebte derselbe
nach der Unterdrückung des Protestantimnö keine Weiter-
bildung, und erst in uuserm Jahrhunderte begann ans dem
Gebiete der sloveuischeu Literatur sich ein neues Leben zn
entfalten.
Charakterzüge der Reifnitzer sind ferner Gastfreundlich-
keit und Nüchternheit. Jene theilt er mit den Südslaven.
Valvafor, der Topograph und Historiograph des Landes
Krain (f 1693), sagt in seinem umfangreichen Werke „Die
Ehre Krams", die Bewohner von Reifnitz kleideten sich halb
kroatisch. Heutzutage treten die Nationaltrachten anch in
Krain hinter die fränkische Mode. Während die Klagen
110 Aus allen
über zunehmende Trunksucht, besonders das Branntweintritt-
ken, allgemein und leider berechtigt sind, wirst Du Dich iu
Reisnitz vergebens nach einem Betrunkenen umsehen. Ans
riesig hoch beladenen Wagen führt der Reisnitzer seine Siebe
und sonstigen Holzwaaren, wie sie in der Küche nnentbehr-
lich sind, in die Welt, und den Verdienst bringt er zurück in
sein liebes Thal, in welchem deshalb der Wohlstand und mit
ihm die Bildung immer höher steigt. Um in der Fremde
Geschäfte zu machen, lernt er von der Sprache jener Länder,
in die er zieht, jene 200 bis 300 Wörter, die ihm für das
Verkaufen unentbehrlich sind; in die Heimath zurück bringt
er einen größern Wörtervorrath. Im Städtchen spricht man
krainerisch und deutsch.
Im Reisnitzthale erzeugt man nicht nur Siebe und höl-
zerne Küchengeräthe, sondern auch Kinderspielzeug, in dessen
Schnitzerei selbst die Jugend sehr geschickt ist. Während
in der untern Hälfte des Thales diese Holzindustrie blüht,
erzengt die obere Hälfte desselben, welche sich gegen das
Gotscheerländchen hinauszieht, Töpferwaaren. Und wieder
zeigt sich auch hier neben der Befriedigung des praktischen
Bedürfnisses eine Betätigung des Kunstsinnes: schon die
Kinder verstehen es, sehr nette Pferdchen, Schäfchen und
dergleichen aus Thon zu verfertigen. Wenn Du irgendwo
einen Slovenen mit Sieben handeln siehst, so weißt Du, daß
er eiu Reifnitzer ist; denn nur die Reifnitzer machen in
Krain Siebe und verführen sie selbst in die Ferne.
Die Reifnitzer müssen wohl auch fleißig und vernünftig
sein, denn ihr Ländchen ist wie das benachbarte Gotscheer
unfruchtbar und für die zahlreiche Bevölkerung zu klein.
Auf ein Individuum kommen nur 2,7 Joch; das Thal zählt
nämlich etwas über 27 133 Joch und, nach der Zählung
von 1869, 10165 Bewohner, welche in 50 Dörfern und
den Flecken Reifnitz und Soderfchitz wohnen. Reifnitz hat
1900, Soderfchitz 1200 Einwohner, auf je ein Dorf kom-
men demnach im Durchschnitte 141 Seelen. Reifnitz zählt
jetzt 160 Häuser, aus welchen eine vor 12 Jahren erbaute,
schöne Kirche mit zwei Thürmen emporragt. Ein schönes
Schloß mit einem Parke erinnert an die Feudalherrschaft
der „Herren von Reifnitz", deren letzter nach Valvaforl529
noch gelebt hat. Uebrigens gehörte Reifnitz bald den Auers-
bergen, den Ortenbnrgern, den Grafen von Cilli und wech-
selte seine Besitzer sehr oft.
Am fruchtbarsten ist das Reifnitzthal noch in der Nähe
des Berges Vslika gora (Großer Berg). Dort wachsen alle
Getreidearten, außer dem Heiden. Und gerade der Heiden
oder Buchweizen ist für den Krainer neben Bohnen, Kraut
und Erdäpfeln von der größten Bedeutung. Die genann-
ten Gewächse bilden nämlich vorzugsweise die Nahrung der
Erdth eilen.
Landbevölkerung. Nun wird aber der Heiden als zweite
Frucht gebaut, und das Reifnitzthal ist zu rauh, um eine
zweite Ansaat zu gestatten, und als erste wählt man, dem
verhältnißmäßig geringen Preise des Heidens gegenüber, doch
lieber eine werthvollere Getreidegattung.
Der Ackerbau steht im Reisnitzthale auf keiner geringen
Stufe. Fifcherei und Jagd liefern ziemliches Erträgniß.
Denn die Gegend ist rings von Gebirgen eingeschlossen, von
welchen auf der einen Seite Flüsse herunter kommen, um
auf der andern sich wieder in der Erde zu verlieren. Wald
bedeckt die Höhen, von welchen im Winter Wölfe und Bären
oft bis zu den menschlichen Wohnungen niedersteigen. Eine
große Freude bereitet der Fang des Bilches (Siebenschläfers,
der Rellmans), welcher in unzähliger Menge die Wälder
bevölkert. Man fängt die Bilche des Nachts in Fallen;
dabei macht man Feuer an und vergnügt sich auf mancherlei
Art. Den alten Römern war der Bilch (oder auch Billich
genannt) eine Leckerspeife; die Kroaten essen ihn nicht, er sei
eine Maus; die Reifnitzer halten es aber wie die Römer.
Und in der That, mit Reis zubereitet schmeckt der fette
Nager sehr gut. Aus seinem Felle näht man warme und
wohlfeile Mützen, zu deren einer 6 bis 8 Felle nöthig sind.
Im Südwesten des Marktfleckens ragt die oben genannte
Vslika gora 3500 Fuß in die Höhe; ihr Rücken dehnt sich
tafelartig aus. Mit ihrem Wald- und Quellenreichthum
blickt sie verächtlich aus die niedrigere, steinige, dürre, höhlen-
reiche Mala gora (Kleinberg), an welche sich die noch trocke-
nere Krajina anschließt. Und hinter dieser dehnt sich der
trostlose Karst ans. Trittst Du in das Reifnitzthal, so fällt
Dir der Unterschied der beiden Höhenzüge sofort ins Auge.
Rechts die grüne, reich bewaldete, wasserreiche, von wilden
Thieren bevölkerte Vslika gora, links die öde, graue nur hier
und da mit niedrigem Gebüsch bedeckte Mala gora.
Vier Flüsse durchziehen das Thal, alle von der Vslika
gora kommend: die Tr^isica (sprich Trschischiza, das erste
seil linde); sie zieht gegen Laibach hin und eine Straße ist
an ihr erbaut, die oft in die felsigen Ufer eingesprengt ist;
die Bistrica oder Feistritz der größte von ihnen, mit 17 Zu-
flüfsen; sie treibt gegen 30 Mahl- und Sägemühlen; die
fischreiche Ribuica oder Reifnitz und die Rakituisica. Alle
verschwinden nach kurzem Lauf iu der öden Mala gora;
nur die Feistritz, an welcher der Marktflecken Reifnitz liegt,
verweilt drei Stunden Weges auf der Oberfläche. Ob die
verschwundenen Flüsse unterirdisch sich zur Kulpa oder zur
Gurk (Krka) vereinigen, hat man noch nicht ergründen kön-
nen. Reich an Fischen sind alle die genannten Flusse, die
schmackhaftesten und — wohlfeilsten Forellen werden in
Reifnitz gegefsen.
Aus allen
Europa.
— In der Schweiz sind im Jahre 1879 1172Bücher
veröffentlicht worden, darunter mehr als zwei Drittel
(789) in deutscher Sprache, 345 in französischer, nur 13 in
italienischer, 2 in romanischer, 5 in lateinischer, 6 in eng-
lischer, 10 in russischer, je 1 in holländischer und polnischer.
Da die Deutschen etwa 69 Proc. der Schweizer Bevölkerung
ausmachen, so haben sie den aus sie entfallenden Antheil au
der literarischen Produktion auch geliefert; die Franzosen
(24 Proc.) haben mehr als das gethan, die Italiener (5,4 Proc.)
5 r d t h e i l e n.
und Rätoromanen (1,5 Proc.) sind weit dahinter zurückge-
blieben. Im Auslaude sind 110 Werke erschienen-,' welche
ganz oder zum Theil von der Schweiz handeln, nämlich 70
deutsche, 27 französische, 8 englische, 4 italienische und 1 spa-
nisches.
— Im italienischen Senate ist am 11. Juni durch To-
relli ein Gesetzentwurf betreffend die Bekämpfung der
Malaria in den Gegenden längs der Haupteisen-
bahnlinien eingebracht worden. Schon früher Mitglied
der Senatskommission, welche die Unterhandlung mit den
Mönchen von Tre Fontane bei Rom geführt und den Ver-
Aus allen
trag entworfen hat, nach welchem jene die Eukalyptus-
Kultur in größerm Maß aufnahmen, hat Torelli bei Ge-
legenheit der Eisenbahn-EngnZte sich überzeugt, daß nicht
bloß die Campagna di Roma Maßregeln gegen die Malaria
erheischt. Er hat gefunden, daß in Oberitalien 1900, ans
den römischen Linien 903, in Unteritalien 1614, in Sardi-
nien 220 Kilometer Eisenbahn inficirten Gegenden angehören,
im Ganzen also 4637 Kilometer. Die dadurch erforderten
Mehransgaben der Eisenbahnverwaltung berechnet er auf
jährlich anderthalb Millionen Lire. Der Gesetzentwurf ver-
langt die Summe von zehn Millionen behufs Bouificiruugs-
maßregeln. Als solche werden hydraulische Anlagen und
Pflanzungen, namentlich von Eucalyptus Globulus, empfoh-
len, welche in dem Etablissement von Tre Fontane binnen
wenigen Jahren Wunder gewirkt haben, indem dort das
Malariafieber gänzlich verschwunden ist. Behufs der prak-
tischen Durchführung beantragt er eine Kommission mit un-
beschränkter Vollmacht zu ernennen, welche jährlich über ihre
Leistungen Bericht zu erstatten habe. Das Projekt wurde
mit Einstimmigkeit den Bnreaux überwiesen.
(Allg. Zeitung.)
— Nach der jüngsten Volkszählung hat Budapest
(Pest-Ofen) eine Bevölkerung von 333 651 Seelen in
10 416 Häusern. Im Jahre 1876 zählte die Stadt Budapest
nur 295 254 Einwohner. Vor hundert Jahren (1780) zählte
Pest nur 13 550, Ofen 23 643 Seelen. Pest zählte 1302:
20 560; 1820: 47 932; 1830:65494; 1840: 66984; 1851:
83 828; 1853: 109 000; 1857: 132 651; 1862:136560; 1870:
200476; 1876: 230 021 Seelen.
— Nach der auf Anordnung des Unterrichts-Direktorinms
vorgenommenen a p p r o x i m a t i v e n V o l k s z ä h l u u g zählt
Ost-Rumelieu780000 Seelen, und zwar 540000griechisch-
orthodoxe Bulgaren, 180 000 Mohammedauer, 35 000 Grie-
chen, 18 000 katholische Bulgaren, 5500 Juden, 1300 Arme-
nier, 200 Protestanten. (Presse.)
— Im Jahre 1879 betrug in Rumänien
die Einfuhr 254 482 629 Francs 95 Centimes,
die Ausfuhr 238 650 006 „ 86
also die Mehreinfnhr 15 832 623 Francs 9 Centimes. Vom
Exporte gingen 28,85 Proc. nach Oesterreich, 15,89 Proc.
nach England, 7,44 Proc. nach Frankreich, 2,53 Proc. nach
Rußland, 20,53 Proc. nach der Türkei uud Bulgarien,
24,76 Proc. nach Deutschland, Griechenland, Belgien, Italien,
Serbien und anderen Staaten. Die größte Menge der aus-
geführten Maaren bildete Getreide mit 76,80 Proc. uud
lebende Thiere mit 8,34 Proc. Von den eingeführten
Waaren kamen 19,86 Proc. aus England, 6,07 Proc. aus
Frankreich, 7,26 Proc. aus Deutschland, 4,13 Proc. ans Ruß-
land, 8,22 Proc. aus der Türkei uud Bulgarien, 5,44 Proc.
aus Italien, Belgien und anderen Staaten, 49,02 Proc. aus
Oesterreich. (Nach der „Neuen freien Presse".)
— Berichten aus Bukarest zufolge wird die rumä-
nische Regierung im August d. I. mit den Vorarbeiten
zum Bau einer Eisenbahnbrücke über die Donau bei
Tschernawoda beginnen lassen, und soll dann im nächsten
Mai der eigentliche Bau in Angriff genommen werden.
Gleichzeitig sollen auch die Vorarbeiten zum Bau einer Eisen-
bahnbrücke bei Rustschuk ihren Anfang nehmen. Da auch
die Staatsbahn die Donau überbrücken will, und zwar bei
Rahowa oder Nikopolis, so wird der untere Lauf dieses
Stromes binnen wenigen Jahren an vier Punkten überbrückt
sein, und zwar bei Belgrad, Rahowa (oder Nikopolis), Ruft-
schnk und Tschernawoda.
— Fürst Nikita von Montenegro hat einen jungen
Waadtländer beauftragt, in seinem Lande, vornehmlich in
den fruchtbareren Thälern des Südens, Molkereien nach
Schweizer Art einzurichten. Frühere Versuche, großes Schwei-
zer Vieh in Montenegro einzuführen, sind wiederholt miß-
glückt; stets artete der Schlag ans, und bis jetzt besitzt das
Land nur eine kleine Rindviehrace.
Erdtheilen. III
Afrika.
— In Folge der Eroberung Darfurs durch Aegypten
hat der Handel Wadais und Boruus seine alten Bezie-
Hungen zu Ehartum abgebrochen und einen Ausweg nach
der Nordküste Afrikas gesucht: in Tripoli ist eine große
Karawane angelangt, welche zum großen Theile aus Leuten
von Wadai besteht und Straußenfedern, Elfenbein und an-
dere Waaren mit sich führte. Jetzt bemüht sich der franzö-
fische Konsul in Tripoli, diese Stadt wieder etwas zu schä-
digen; er sucht den Handel ans dem Innern von ihr weg
und nach Algerien hin zu lenken und zunächst die Bewoh-
ner von Ghadames durch Zusicherung von allerhand Vor-
theilen zu veranlassen, die Märkte des südlichen Algerien
aufzusuchen.
— Der Handelsverkehr zwischen Natal und den Ver-
einigten Staaten hat solchen Aufschwung genommen, daß
zwischen ihnen eine regelmäßige Linie schnellsegelnder Schiffe
ins Leben gerufen worden ist. Das erste derselben wird am
1. August d. I. von Newyork abgehen.
— Ende Januar 1879 verließen elf Jesuiten-Missionäre
unter Führung des Pater Depelchin Sonthampton, um
eine Mission in Südafrika zu gründen. Neber Kap-
stadt erreichten sie Grahamstown, von wo sie am 16. April
mit 4 Wagen und Lebensmitteln für ein halbes Jahr ver-
sehen , in das Innere aufbrachen. Am 11. Mai erreichten
sie Kimberley, am 24. Juli Schoschoug, die Hauptstadt des
Bamaugwato-Landes. Dort wollten sie ihre erste Station
errichten, was ihnen jedoch von dem Häuptlinge rundweg
abgeschlagen wurde. Sie richteten also ihre Schritte nord-
wärts nach dem Reiche der Matabele, und langten am
17. August in Tati an. Von dort ging Depelchin mit zwei
Begleitern nach der Hauptstadt Gubuluwajo voraus,
um des Königs Lobengnle Erlanbniß zur Gründung einer
Mission zu erwirken. Hier hatten sie mehr Glück, als bei
den Bamangwato: sie durften sich unweit der Residenz auf
dem Plateau niederlassen und haben außerdem von einem
dort angesessenen Mr. Grant ein wasserreiches, fruchtbares
Thal 2 engl. Meilen nördlich der Stadt erworben. Nach
den letzten Nachrichten ist eine ganze Anzahl weiterer
Missionäre von Kimberley am 19. März d. I. nach dem
obern Zambesi und dem von Dr. Holnb besuchten König-
reiche der Marutse - Mabunda aufgebrochen, während ein
Theil der in Gubuluwajo stationirten Jesuiten sich zu Kö-
nig Umzila an der Sosala-Küste begeben hat. Man darf
die Patres um so freudiger im ferueu Südafrika begrüßen,
als sie neben Ausübung von Ackerbau uud Handwerk die
Studien dort nicht vernachlässigen; Pater A. H. Law hat
z. B. auf jener Reise eine Reihe von Längen- und Breiten-
beobachtnngen gemacht und die Lage von Gubuluwajo genau
bestimmt. Auch in Bezug auf die Kultur könnten sie den
Matabele viel nutzen; denn die Männer sind faul, rauchen
und trinken den ganzen Tag, wenn sie nicht auf Kriegs-
zügen abwesend sind, während alle Arbeit auf den Frauen
ruht. Wie die Zulu, ergänzen auch die ihnen nahe ver-
wandten Matabele ihr Heer dadurch, daß sie den von ihnen
besiegten Völkern die jüngsten Knaben fortnehmen und zu
Kriegern aufziehen. Bis zu ihrem 12. Jahre nähren sich
dieselben nur von Milch; unter Aufsicht eines Häuptlings
werden sie täglich zweimal in den Viehkraal geführt und
dürfen sich dort vollsaugen. Allen Leuten über 12 Jahr,
Männern wie Fraueu, ist der Genuß von Milch und Käse
untersagt; derselbe ist ausschließlich den Knaben vorbehalten.
Australien.
--Nachdem der Versuch, Fleisch in gefrorenem
Zustande nach England zu exportiren, in glänzender Weise
auf dem Dampfer Strathleven gelungen ist, haben sich in
Melbourne, Sydney nnd Brisbane Aktiengesell-
schästen gebildet, welche den Export von Fleisch nach
112
Aus allen Erdtheilen.
England in großen:Umfange betreiben wollen. Aber nicht
bloß Fleisch, anch Butter, Eier, Fruchte u. s. w. will man
in dieser Weise nach Europa exportireu. Da die Schnell-
dampfer die Reise von England nach Australien jetzt ziem-
lich regelmäßig in 38 bis 40 Tagen zurücklegen (die bisher
erreichte kürzeste Fahrt von Plymonth um das Kap der
Guten Hoffnung nach Adelaide in 35 Tagen 5% Stunden
vollführte im Mai dieses Jahres der Dampfer Orient), so
hofft man schon in nächster Zeit einen sehr bedeutenden Ge-
schäftsbetrieb in jenen Artikeln mit Europa begründen zu
können.
— Dem schon vor 41 Jahren verstorbenen Gründer
von Melbourne, John Batman, welcher von Tasma-
nien aus als der erste Europäer am 29. Mai 1835 an der
Westseite von Port Phillip (Indented Head) landete, soll
jetzt in Melbourne ein ehrendes Nationaldenkmal errichtet
werden.
— Die am 17. September 1879 in Sydney eröffnete
Industrieausstellung ward am 20. April 1880 geschlossen.
Sie war während dieser ganzen Zeit, mit Ausnahme des
crsteu Weihnachtstages, dem Publikum zugänglich und wurde
von 1045 898 oder durchschnittlich täglich von 5653 Per-
sonen besichtigt. Der zahlreichste Besuch fiel aus den 10. No-
vember mit 20 972, der geringste ans den 25. März mit
1792. Die Gesammteinnahme belief sich auf reichlich 45 000
Pf. St., aber diese Summe reichte nur gerade hin, um die
Ausgaben während der Eröffnnngszeit zu decken, so daß die
sehr erheblichen Baukosten der Gebäude von der Regierung
übernommen werden müssen. Folgende komparative Stati-
stik der bisherigen internationalen Industrieausstellungen
dürfte von Interesse sein.
Ort Jahr Zahl des Besuches Procentsatz der Be- sucher zur Bevölkerung
London. . . 1851 6 170 000 22V2
Newyork . . 1353 600 000 2V4
Paris . . . 1855 4 533 464 12%
London. . . 1862 6 211 103 2IV2
Paris - . . 1867 9 300.000 24i/2
Wien . . . 1873 7 254 867 19%
Philadelphia 1876 10 164 489 22V4
Paris . . . 1878 16 032 725 43
Sydney . . 1879/80 1 045 898 150
Nordamerika.
— In Band XXXIII des „Globns" (S. 32, 144, 256)
ist über die Wiederanffindnng von Columbus' Leiche in
St. Domingo und die sich daranknüpfende Kontroverse wie-
derholt berichtet worden. Es scheint jetzt ganz fest zu stehen,
daß man es mit einem Schwindel zu thuu hatte. Vor der
Pariser Geographischen Gesellschaft wurde am 4. Juni d. I.
eine Abhandlung von Germond de Lavigne gelesen, welche
die ganze Geschichte des Leichnams vom Todestage im Jahre
1505 an behandelt. Ohne auf ihre anfänglichen Irrfahrten
hier weiter einzugehen, sei nur erwähnt, daß, als die
Inhalt: Das heutige Syrien. I. Mit fünf Abbildungen.) — Die Grenze zwischen Rumänien nnd Bulgarien.
(Mit einer Karte.) — Dr. O. Lenz' Reise von Tarndant nach Jler und Fnm-el-Hossan. — Die neuesten Berichte von
der Uganda-Mission. — Reifnitz in Kram. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Afrika. — Australien. — Nordamerika.
(Schluß der Redactiou 20. Juli 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck nnd Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Franzosen sich St. Domingos bemächtigten, der damals ge-
öffnete Sarg des Entdeckers nur noch sehr wenig Asche ent-
hielt, kaum einen Teller voll. Trotzdem wurde dieselbe nach
Havaua in das große Hospital übergeführt und später
auf den Kirchhof gebracht, wo sie verschwunden ist. Der
in St. Domingo neuerlich ausgegrabene Sarg enthielt nur
Reste irgend eines unbekannten Verwandten des Admirals.
Anstifter des Schwindels ist nachweisbar der Bischof Coccia
von St. Domingo gewesen, ein Prälat italienischen Ursprungs,
welcher dabei den doppelten Zweck verfolgte, den Ruhm sei-
nes Landsmannes aufzufrischen— was wohl kaum von Nö-
then war — nnd seiner Diöcese Vortheile zuzuwenden.
— Der Gold - und Silberreichthum derVer-
einigten Staaten. Trotzdem daß die Quantität derbe-
reits in den Bereinigten Staaten gefundenen kostbaren Me-
talle eine ungeheuer große ist, so sprechen sich doch viele
Personen, welche sich auf diesem Gebiet eingehender befchäf-
tigt haben und die als Experten gelten, dahin aus, daß die
Ausbeutung des Metallreichthums dieses Landes erst begon-
nen habe. Vom Jahr 1867 bis 1877 stieg die Ausbeute von
17 320000 Doll. Silber und 33 750 000 Doll. Gold anf
45 846 100 Doll. Silber und 44 880 223 Doll. Gold, und
wird verschiedentlich behauptet, daß sich in der nächsten De-
kade dieser Betrag vervierfachen werde. Vom Jahr 1870 bis
1877 überstieg die Goldausbeutung in den Vereinigten Staa-
ten die Silberausbeutnug, seit dieser Zeit hat aber die
Silberausbeutung die Goldansbentnng um nahezu 5 600 000
Doll. überstiegen, theilweise in Folge der Entdeckung der
großen Silberminen in Leadville, Col., und theilweise in
Folge der Abnahme der Förderung von Gold in der Com-
stock-Mine in Nevada, welche 41,2 Proc. zur Totalproduktion
zn stellen pflegte. Die Abnahme in der Comstock-Mine im
Jahr 1878 bis 1879 betrug 12 464 481 Doll. in Silber und
Gold, während die Zunahme an Silber in Colorado 8 Mill.
Doll. betrug. Die Gewinnung von Gold nnd Silber in
den letzten zehn Jahren soll sich annähernd richtig folgender-
maßen stellen:
Jahr Gold Silber
Dollars Dollars
1870 ...... 33 750 000 17 320 000
1871 ...... 34 398 000 19 286 000
1872 ...... 38177 395 19 924429
1873 ...... 39 206 558 27 483 302
1874 ...... 38 466 488 29 699 122
1875 ...... 39 968 194 31 635 239
1876 ...... 42 826 935 39 292 924
1877 ...... 44 880 223 45 846 100
1878 ...... 37 576 030 37 248 137
1879 ...... 31 470 262 37 032 857
In den Vereinigten Staaten werden jährlich 4 Mill.
Doll. Gold zn Schmuckgegenständen nnd Kunstsachen ver-
arbeitet. Während des verflossenen Jahres wurden 74400000
Doll. Gold nach den Vereinigten Staaten importirt.
(A. Z.)
— Die Legislatnr von Newsonndland hat den Ban
einer Eisenbahn beschlossen, welche die Hauptstadt der
Insel, St. John, Über die Landenge von Avalon mit der
Spitze der Bai Notre Dame in Verbindung setzen soll.
Ihre Kosten sind auf ungefähr 20 Millionen Mark veran-
schlagt. Später soll sie bis an den French Shore (St. Lo-
renz-Bnsen) fortgeführt werden und so die ganze Jusel durch-
schneiden.
Hierzu eine Beilage.
A«-
MM sür LiMöer- Unb
Band XXXVIII.
%
^56
%
J?8.
it besonderer Berücksichtigung äer AntKroNologie unä Giknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
SArmt« Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i ftöfl
-OlUlIu|Cyu ttg ,um Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. 1 ö O U*
Das heutige Syrien.
(Nach dem Französischen des M. Lortet.)
(Die Abbildungen, soweit nichts anderes bemerkt ist, nach Skizzen Lortet's.)
II.
In der zum großen Theil gut angebauten Ebene von
Mersina und dem Berglande, das sie nach Osten hin be-
grenzt, findet sich ein reiches Thierleben vor. Ungeheure
Schwärine von Wasservögeln, Störche und mehrere Arten
von Schildkröten (Emys Caspica und Testudo Maurita-
nica) bevölkern die sumpfigen Strecken. Weiter nach den
Bergen hin ist der kleine syrische Hase (Lepus Syriens),
der Hirsch mit gelbem weißgefleckten Felle (Cervus Meso-
potamiens) sowie die Gazelle in zwei Arten vertreten.
Am Ufer des Pyramus (Dschihan) kommen Biber und schwarze
Fischottern vor; in den eigentlichen Bergwäldern aber Wild-
schweine, Schakale, gestreifte Hyänen und Leoparden; auch
der Bär (Ursus Syriacus) zeigt sich häufig, und von kleine-
rat Säugethieren der Dachs und das schwarze Eichhörnchen.
Auf den höchsten Gipfeln findet sich eine seltene Mufflon«
Art (Ovis Gmelini) und eine Ziege mit großen Hörnern
(Capra aegagra) vor. Von Vögeln zeigen sich außer den
oben erwähnten verschiedenartige Geier, Birk- und Hasel-
Hühner, sowie eine eigenthümliche Rebhuhnart, das söge-
nannte Schukkarhuhn.
Der Hasen von Mersina hat ohne Frage eine große
Zukunft vor sich, aber er kann seine Bedeutung erst erlan-
gen, wenn das verrottete türkische Regiment durch eiu besse-
res ersetzt sein wird, welches sich die hier so leicht auszufüh-
reude Anlage von Kommnnikationswegen mit dem Innern
des Landes zur Aufgabe macht. Eine treffende Illustration
der Leistungen der heutigen Regierung auf diesem Gebiete
giebt die berühmte Straße von Tarsus uach Mersina, auf
Globus XXXVIII. Nr. 8.
der Lortet und seine Begleiter nach dem Hasen zurückkehrten.
Diese Straße ist vor etwa zehn Jahren in Angriff genom-
men; mehr als einmal ist ihr Bau schon der Gegenstand
diplomatischer Verhandlungen gewesen, ungeheure Summen
sind daran verschwendet, d. h. unterschlagen oder verschlen-
dert worden, und heute uoch ist sie auf ihrer größten Strecke
eine fortlaufeude Reihe von kleinen Sümpfen, Kies- und
Steinhaufen, die von den Karawanen ebenso wie von den
des Weges kommenden Wagen stets umgangen wird.
Von Mersina aus ging die Fahrt in östlicher Richtung
an der Mündung des Saros (Seihan) und dem flachen
sumpfigen Strande von Aleion vprbei; das weit vorfprin-
gende Kap Karatasch-Bnrnn, das alte Megarsos, wurde um-
schifft, und nun befand man sich in der weiten, tiefen Bai
von Alexandrette oder Jssns, dem schönsten Golf des Mittel-
meeres. Wie eine Riesenmauer ziehen sich hohe Berge im
Halbkreise um den Meerbusen, den sie gegen die Nord-, Ost-
und Südwinde schützen; es sind im Nordwesten der Tanros
(Bulghar-Dagh), im Norden der Kozan-Dagh, und auf sei-
ner östlichen Seite der Gjanr-Dagh, der alte Amanos.
Durch ihre Annexion Cyperns haben die Engländer sich, so
zu sagen, zu Herren der Bai von Alexandrette gemacht, und
auch in Bezug auf diesen Umstand haben sie sich bei der
neuen Erwerbung nicht verrechnet; denn während ihnen hier
auf der einen Seite durch Mersina das östliche Kleinasien
offen steht, halten sie auf der andern mit Alexandrette,
Aleppo und dein obern Euphratthale den Schlüssel zu der
mesopotamischen Eisenbahn in Händen, die voraussichtlich
15
Das heutige Syrien.
115
in nicht gar ferner Zeit die Hauptverbindung zwischen Vorder-
asien und Europa sein wird.
Gegen sechs Uhr Abends ging der Dampfer in dem klei-
neu Hafen von Alexandrette vor Anker. Die Stadt
(bei den Arabern „Jskanderun", in dem Jtinerarinm An-
tonini Alexandra scabiosa, bei den Römern Alexandra ad
Issum) steht neben einer kleinen Lagune ain Rande des
schmalen Küstenstriches, der sich zwischen dem Meere und
Alexaudrette. (Nach
dem dichtbewaldeten Amanosgebirge hinzieht. Es ist heut-
zutage ein traurig - elender Ort, rings von Sümpfen und
Teichen mit grünlichem, übelriechendem Wasser umgeben.
einer Photographie.)
Viele Häuser stehen unmittelbar an diesen Teichen; von den
Straßen sind mehrere während der regnerischen Jahreszeit
sür Fußgänger ganz unpassirbar, im Sommer aber läßt die
Das Dorf Beilan.
Sonnenglnth dem sumpfigen Boden pestilentialifche Mias-
men entsteigen, in deren Gefolge Typhus, Wechselfieber und
Dysenterie auftreten und die Einwohner alljährlich deci-
miren. So hat denn die ganze Bevölkerung von Alexan-
breite, und die Kinder vornehmlich, ein krankhaft-bleiches
Aussehen, das den Fremden immer von Neuem die türkische
Indolenz verwünschen läßt. Wäre doch mit verhältnißmäßig
geringen Mitteln durch die Anlage einiger Entwässernngs-
kanäle allen diesen Unglücklichen zu helfen, und der verpestete
sumpfige Küstenstrich in brauchbares Land umzuwandeln?
Die Häuser der Konsuln und der europäischen Kanflente
befinden sich dicht am Meere in gesünderer Lage; doch ist
15*
116
Das heutige Syrien.
auch hier zur Sommerszeit der Aufenthalt unerträglich, und
so begeben sich alle Fremden in den heißen Monaten nach
dem südöstlich von der Stadt in den Bergen gelegenen Dorfe
Beil an. Die Besichtigung von Alexaudrette kostete Lortet
nicht eben sehr viel Zeit, wenn auch der Bazar eine bei
Weitem größere Mannigfaltigkeit und Schönheit der aus-
gestellten Waaren auswies, als man in dem elenden Orte
vermnthet hätte; einen besonders hervorragenden Handels-
artikel schienen die Abaja auszumachen, die landesüblichen
großen Mäntel von schwarzer oder weißer Farbe, die mei-
stens mit reicher Stickerei in Roth und Gelb verziert sind.
Ein mäßig guter, ziemlich belebter Weg führt nach dem etwa
500 m über dem Meere gelegenen Dorfe Beilan, das
mit seinen terrassenartig angelegten Gärten und den Hän-
sern von meist europäischer Bauart mit flachen Dächern
malerisch genug au einem Abhänge zwischen dem Kara-Dagh
und dem Dschebel Mnsa sich hinaufzieht. Es hat ungefähr
2000 Einwohuer, Türken, Griechen, Armenier und Euro-
Päer, und ist, nach den zahlreichen Ueberresten großer aus
verschiedenen Zeiten stammender Bauten zu schließen, die sich
in seiner Umgebung vorfinden, immer ein nicht unbedenten-
der Ort gewesen. In dein Dorfe selbst besindet sich eine
halbverfallene große Moschee, die von Sultan Selim, und
ein stattliches Chan, das von Soliman dem Großen erbaut
sein soll. Dicht hinter dem Dorfe aber öffnet sich in einer
Höhe von 686 m über dem Meere der berühmte Paß von
Beilan, die Pylae Syriae oder Syrischen Pforten der Alten,
die in das obere Thal des Enphrat und nach Antiochia füh-
ren. Auf dem Wege von dem Dorfe her kommt man an
gewaltigen unförmigen Trümmern vorbei, sowie an den
Ruinen eines großen Aquädukts; eilte an vielen Strecken
wohlerhaltene römische Straße führt an den Bergen ent-
lang; theilweife ist dieselbe tief in die Kalkstein- oder Trachyt-
selsen eingehauen, und an dem Punkte, wo dieser künstliche
Einschnitt aufhört, befinden sich mächtige Pfeiler und Grund-
mauern eines Bauwerkes, das ohne Zweifel die große Sy-
Paß von Beilan.
rische Pforte gewesen ist. Vom frühesten Alterthume au
hat dieser Paß in den Eroberungszügen der Völker eine
wichtige Rolle gespielt. Die Assyrer, die Kleinasien bis
nach Smyrna hin eroberten; die Perser des Dareios; die
Griechen Alexander's des Großen; die zahllosen römischen
Heere; der Kaiser Hadrian, der unermüdliche Reisende; die
Tnrkomanen, die Horden der arabischen Sultane und die
zusammengewürfelten nndisciplinirten Massen der ersten
Kreuzfahrer, die zur Belagerung von Antiochia zogen: sie
alle haben diesen schmalen Bergweg passirt, durch den heute
nur noch die großen Karawanen mit ihren Kameelen und
Maulthiereu ziehen, welche europäische Waaren nach Syrien
und Mesopotamien oder die Produkte aus den Thälern des
Orontes und des Euphrat nach Alexandrette führen. Von
den Syrischen Pforten aus geht ein in südöstlicher Richtung
laufender Gebirgspfad über Dschindaris, das alte Gadarns,
nach Aleppo; ein zweiter, südlicherer, über die kleine Stadt
Bagros nach Antiochia. Von einem Hügel etwas unter-
halb des Dorfes genossen die Reisenden eine unvergleichlich
schöne Aussicht über die tiesblaue Bai von Alexandrette, in
welche sich der kleine Fluß, der dicht bei Beilan von einem
ziemlich steilen Felsen stürzt, nach einem raschen Laufe von
acht Kilometern ergießt; die schneebedeckten Gipfel der klein-
asiatischen Küstengebirge begrenzen den Horizont, während
die dunkelen Waldungen des Gjanr-Dagh, des Amanos
der Alten, die Ostseite des Meerbusens umziehen. Der
höchste Gipfel dieses bis jetzt vou Europäern noch kaum er-
forschten Waldgebirges hat nach Lortet's Meinung eine
beträchtlich größere Höhe, als die von 1770 m, die ihm auf
den neueren Karten zugeschrieben wird. Im Norden trennt
das tiefe wenig bekannte Thal des Tamans-Tschai den Ama-
nos von den letzten Ausläufern des Tauros, im Südeu endet
er in dem weit ins Meer ragenden Kap Ras-el-Ehansir.
Bon der reichen zoologischen Ausbeute, die Lortet's Aus-
slug von Mersina landeinwärts belohnt hatte, war hier nicht
die Rede: einige Amseln und Drosseln war Alles, was sich
in dem Gehölz an der Straße nach Beilan vorfand. Dafür
wurde mau beim Hinabsteigen durch das Auffinden mehrerer
interessanter Pflanzen entschädigt, darunter die in voller
Blüthe stehende Daphne sericea, die wohl verdiente, in un-
seren Gärten knltivirt zu werden, und das seltene Arum
Dioscoridis, dessen tiefrothe sammetartige Blütheuscheiden
allenthalben als schönster Schuinck des Bodens emporragten.
Leider wird die eigenartige Schönheit dieser Blüthe durch
Das heutige Syrien.
117
ihren widerlichen Geruch beeinträchtigt, der dem Geruch von
verfaulendem Fleische so ähnlich ist, daß zu manchen Tages-
zeiten, wenn er besonders stark ist, die Blumen von Schmeiß-
fliegen und Aasküfern, die dadurch herbeigelockt werden,
fortwährend umschwärmt sind.
Von den zahlreichen Ruinen, die auf dieser KUstenstrecke
an die Zeit der Tempelherren erinnern, befindet sich auch
eine, die sogenannte Beste Gastim oder das Schloß Gode-
froy's, unweit von Alexandrette; die gewaltigen, tief in den
Hügel, auf dem sie stand, hineingebauten Keller, und die
Stärke der wenigen erhaltenen Mauerüberreste lassen aus
die ehemalige Bedeutung dieser Burg schließen, die unter
Leo II. etxte Zeitlang zum Königreiche Armenien gehörte,
später vou den Templern aber zurückerobert wurde. Im
Jahre 1265 nahm dann Malek-el-Mausur, Fürst von
Hamah, die Burg nach langer Belagerung ein, und ließ die
ganze Besatzung niedermachen.
Wenige Kilometer nördlich von Alexandrette verbreitert
sich der schmale Küstenstreifen zwischen dem Gebirge und dem
Meere; die Berge treten weiter zurück, und in der von dem
Pinaros (dem heutigen Deli-tschai) durchströmten Ebene
erblickt man die Ruinen der kleinen Stadt Jssos ^), bei
welcher im Jahre 333 Alexander das persische Heer des
Dareios vernichtete. Die Erzählung des Arrian stimmt mit
der Lage der Oertlichkeit vollständig überein. Alexander,
von Mallos am Kap Megarsos kommend, war an der
Küste des Golfs entlang und bis nach Myriandros, unweit
des heutigen Alexandrette, gezogen. Dareios kam mit seinem
Das Schlachtfeld von Jfsos. (Nach Bartlett.)
Heere aus dem Orontesthale durch die Amanidischen Psorten
in die Ebene von Jssos, wo am User des Pinaros der ent-
scheidende Zusammenstoß stattfand. Bei dem heutigen
Dorfe Merkes sieht man noch die Ruinen der „Pfeiler des
Jonas", ungeheure Bogen, welche einen schmalen Engpaß
zwischen dem Meere uud der Küste überwölbten, das Kiliki-
sche Thor, durch welches Alexander sein Heer in rascher
Schwenkung von Myriandros auf die Ebene von Jssos
führte. Die, außer von dem Pinaros, noch von zahlreichen
kleineren Bächen bewässerte Ebene zeigt heute eine reiche
Vegetation.
Die Fahrt von Alexandrette längs der Küste hin bis
zum Kap Ras -el- Chansir ließ vom Schiffe aus deutlich
die Ruinen von Arsos, des Strabonischen Rhosos, erkennen,
die an der Mündung eines von den Pierischen Bergen
kommenden Flusses liegen. Nachdem das Kap passirt ist,
ändert sich die bisher eingehaltene südöstliche Richtung, der
Küste folgend, in eine entschieden südliche. Das Pieria-
Gebirge beherrscht den Strand, auf dem einst an der Mün-
dung des Orontes die Stadt Seleukia gestanden hat, und
wo heute die blühende Ansiedelung eines Engländers, Mr.
Baker, mit wohlbestellten Feldern und großen Wirtschafts-
gebäuden sich ausdehnt. Derselbe hat sich vor etwa dreißig
Jahren hier niedergelassen und ist durch eine rationelle Aus-
Nutzung der günstigen Verhältnisse allmälig zu großer Wohl-
habenheit gelangt.
Etwas weiter nach Süden hin passirt man den Berg
*) S. dagegen „Globus" XXXIV, S. 234, wo dieselbe
viel nördlicher angesetzt wird.
118 Dr. Carl Emil Jung: A
Kasios (heute Dschebel Akra), einen 1900 m hohen, steilen,
zackigen Felsenkegel. Der Gipsel desielben ist ganz kahl, die
Seiten und der Fuß jedoch sind mit dichtem Walde bedeckt.
Die Lage und die ausfallende Form des Kasios haben dem
Berge von den frühesten Zeiten an eine große Bedeutung
in den Augen der Einwohner des Landes gegeben. Die
alten Phöniker begingen auf ihm zu bestimmten Zeiten im
Jahre einige ihrer religiösen Mysterien; später wurde an
seinem Fuße, etwa 120 m über dem Meeresspiegel, ein dem
Jupiter geweihter Tempel erbaut, nach dem unter Anderm
Talische Typen und Skizzen.
auch Kaiser Hadrian während seines Aufenthaltes in Syrien
eine Wallfahrt unternahm. Planus erzählt von dem Kasios,
daß man von seinem Gipfel aus, indem man abwechselnd
den Blick nach Osten und nach Westen richtet, zur gleichen
Stunde den Tag und die Nacht sehen könne.
Nachdem das Kap Ras-el-Bazit, auf dem die kleine
Stadt Vazit, das alte Posidium, steht, und bald darauf
auch das Kap Ras-ibn-Hani passirt ist, nimmt der Kurs
des Schiffes eine östliche Richtung an, und bald fährt es
in den Hafen von Latakieh ein, der sehr tief, an seinem Ein-
Der Kasios.
gange aber mit gefährlichen Klippen besetzt, ist, welche die
größte Vorsicht der Schiffer erfordern. Die Stadt Latakieh,
die in geringer Entfernung landeinwärts vom Hafen liegt,
ist das alte Laodicea, vou Seleukos I. zu Ehren seiner
Mutter so benannt. Ihr alter phönikischer Name war
Ramitha oder Ramantha, nach dem Phönikischen Saturn
Baal-Ram, gewesen. Die heutige Stadt ist auf einer An-
höhe erbaut; die zumeist aus gut behaueuen Steinen auf-
geführten Häuser zeigen eine zierliche und reiche Architektur:
Bogenfenster und Thürwölbungen, Arkaden, welche die
Straßen theilweise überwölben uud malerische Lichtesfekte
hervorbringen.
Australische Typen und Skizzen.
Von Dr. Carl Emil Jung, früherem Jnspector der Schulen Südaustraliens.
VII.
Die D i g g i n g s.
Der Ausdruck kam wohl von Kalifornien, aber er bür-
gerte sich sehr schnell ein. Wenn man von dem Digger,
dem Gräber, spricht, so meint man nur den, der nach Gold
sucht. Wer heute australische Diggings besucht, wird wenig
finden, was ihn an die Schilderungen erinnern könnte, denen
er in Romanen begegnete. Natürlich will ein jeder Be-
sncher Australiens die Stätten sehen, wo das Gold gefunden
wurde, und ein jeder wird enttäuscht. Die Plätze sind ab-
schreckend häßlich, überall ist der Boden durchlöchert und
neben jeder kleinen Grube mit der Winde darüber lagert
ein Haufen ausgegrabener Erde. Hier und dort ragt ein
Baumstumpf zwischen den kleinen aufgeworfenen Hügeln
empor; die Zelte der Goldgräber sind über den ganzen Platz
verstreut, zwischen den Löchern, rings im Kranz um die-
selben.
Dicht dabei ziehen sich ein paar Reihen niedriger Ge-
bände hin, die aussehen, als wären sie in aller Eile und
nur für den Augenblick errichtet. Und das sind sie auch.
Sie haben sich eingestellt, schnell nach dem ersten glücklichen
Funde, und sie werden wieder verschwinden, wenn die Erde
Dr. Carl Emil Jung: A
sich arm erweist. Vielleicht läßt man sie zurück, vielleicht
lohnt es sich nicht der Mühe, sie fortzuschaffen.
Auf den ersten Blick möchte man meinen, man sähe
hier eine Messe, einen Jahrmarkt, wie man sie in so vielen
Städten Deutschlands findet, so bunt sind diese Buden von
Waaren, von marktschreierischen Plakaten, so klein und ver-
gänglich sehen sie aus. Aber diese bretternen Buden mit
Dächern von Segeltuch stellen Hotels, Läden, Banken, Ne-
gieruugsgebäude vor. Kein Haus sieht aus, als sollte es
zehn Jahre dauern, und wahrscheinlich hat anch keiner der
Besitzer an einen so großen Zeitraum gedacht. Selbst die
größten Diggerplätze, wie Gympie mit seinen 6000 Ein-
wohnern, machen diesen Eindruck, trotz ihrer Kirchen und
Schulen, öffentlichen Bibliotheken und der Zeitung, die
selten fehlt. Sie haben etwas unaussprechlich Wüstes,
Melancholisches, nirgends wäre Horaz's aurum irrepertum
et sie melius situm besser am Platze als an den Gold-
gruben von Australien.
Hier uud dort wehen vor den Grubenlöchern kleine rothe
Fahnen, das sind Zeichen, der glückliche Inhaber hat Gold
gesuudeu, aber die Zahl derer, die keine rothen Wimpel int
Winde flattern lassen, ist enorm. Auch in dieser Lotterie
werden wenig Treffer und viele Nieten gezogen.
Die Goldentdeckungen brachten die bisher ruhig lausende
Entwickelung der Kolonien völlig aus dem Gleise; die Werk-
statten, Läden, die Bureaux der Regierung wurden verlassen.
Es war vergeblich, daß man den Beamten die Gehälter
verdoppelte und aufs Bestimmteste versicherte, daß niemand,
der den Dienst verlasse, um zu den Diggiugs zu gehen,
je auf Wiedcraustellung rechnen dürfe. Die Beamten er-
griffen Picke uud Schaufel und zogen, lustige Lieder singend,
die Straße, auf der sich Wagen, Reiter und Fußgänger,
Männer, Frauen und Kinder, Leute jeden Standes und
der verschiedensten Nationalitäten drängten. Engländer,
Schotten undJrländer, Amerikaner aus Kalifornien, Deutsche,
Franzoseu nnd Italiener, schwarze Jndier und gelbe Chinesen,
alle eilten ans den zerwühlten Wegen dem großen Eldorado zu.
Ein Kapitän, der in den Hasen von Melbourne einlief,
mußte sich fragen, ob er wohl je wieder Gelegenheit haben
würde, auszulaufen, denn die Matrosen, angezogen von dem
mächtigen Magnet Gold, entschlüpften ihm wie Aale. Oder
sie lehnten sich in offener Rebellion gegen ihn auf, fesselten
ihn und ruderten ans Ufer. Es gab Kapitäne, welche dem
Beispiele ihrer Leute folgten, und das Fahrzeug lag uu-
bemannt uud unthätig im Hafen.
Der Zulauf an Menschen war enorm; in einem
Monat wanderten in Melbourne allein 15 855 Menschen
ein; ganze Armeen von Ochsenwagen zogen die Straße zu
den Diggiugs entlang. Soweit das Auge reichen konnte,
erblickte man Menschen auf der Wanderung, eine unabseh-
bare Linie, bald verschwindend auf dem wellenförmigen
Boden, bald wieder auftauchend. „Wo früher tiefe Stille
herrschte, die nur von der Stimme des Glockenvogels unter-
krochen wurde, da knarren die Wagen, brüllen die Ochsen,
fluchen die Fuhrleute uud trüben das Wasser des einst klaren
Stromes. Im Bivouak essen, trinken und rauchen neben
einander Architekten, Juweliere, Chemiker, Buchhändler,
Kesselflicker, Schneider und Seeleute. Am Ufer des Creek
stehen die Cradles in einer Reihe und die Wäscher sind in
voller Arbeit. Das ist ein Klirren, Klappern und Plätschern,
worunter alle Töne verhallen.
Die Cradle ist ihrer Länge nach mit dem Wasser pa-
rallel gestellt. Der Cradleman hält den Griff in seiner
Linken und dreht fortwährend, mit einem Stab oder Kratzer
zerstößt er die Erdklumpen oder rührt das Aneinanderklebende
durch. Der Waterman steht am obern Ende der Cradle
stralische Typen und Skizzen. 119
und füllt mit einem Löffel fortwährend Wasser hinein. Ein
dritter Mann sammelt in einem großen zinnernen Becken
sorgsam den Brei, der durch die Siebe der Cradle auf die
Bretter darunter gefallen ist, trägt die Schüssel in den Fluß,
geht bis ans Knie ins Wasser, und indem er sein Gefäß
untertaucht, es mit dem Inhalt hin - und herschüttelt, fällt
das edle Metall auf den Grund uud die Erde und der Sand
sondern sich davon ab.
Der glänzende Staub wird nun sorgfältig in einer
kleinen Pfanne ausgewaschen, am Feuer getrocknet und in
Flaschen gethan. Die Quarzsteine im ersten Sieb werden
untersucht, die goldhaltigen bei Seite gelegt, das taube Ge-
stein weggeworfen. An der Spitze des Hügels sind Gold-
gräber in emsiger Thätigkeit; die Träger klimmen die steile
Wand hinab und ziehen einen mit goldgeschwängerter Erde
gefüllten Schlitten hinunter, einige tragen zinnerne Ge-
säße auf den Köpfen, andere Säcke auf dem Rücken. Wie
bei einem Eisenbahnbau, wo die Spitze eines Hügels ab-
getragen wird, um ein Thal auszufüllen, so schwärmt dieser
Ameisenhausen umher.
Die Sonne wirft lange Schatten, ein Flintenschuß
fällt aus dem Zelte des Kommissärs, — das Signal
zum Aufhören des Grabens. Die Feuer flackern auf,
die Lente sammeln sich um dieselben zur Abendmahlzeit.
Der Rauch ruht über den Bäumen, wie über einer Stadt.
Das Knarren und Klappern der Cradles ist verklungen,
statt dessen hört man laute Stimmen und schallendes Ge-
lächter, untermischt mit den Glocken der weidenden Ochsen
und dem Gebell der Hunde, das um so lauter wird, je mehr
die Dunkelheit zunimmt. Die Wache der Schwarzen, die
geschmeidig und graziös wie Känguruhs in ihren Bewegungen
sind, führt ein Scheingefecht auf; ein Schwarzer greift mit
einer Bratpfanne an, der andere thut, als wolle er ihn mit
seinem Messer stechen.- ein Maler könnte Studien machen
an diesen Attitüden. Horch! vom Black Hill herüber tönt
Hörnerklang zu uns durch das Thal; dicht zur Seite erklingt
die süße Melodie eines deutschen Männergesangs, und dort
vom Flusse her läßt sich der Chorus rauher Männerstimmen
hören. Die Entfernung mischt alle Töne in ein Hanno-
nisches Ganze und dem. Ohre des Müden klingt diese Musik
wie das Summen auf einer englischen Wiese im Herbst.
Ein Hieb! Ein Schlag! noch einer! nun Pelotonfeuer!
Kampfgefchrei erhebt sich, mischt sich mit der Musik und
übertönt dieselbe gar!"
Unten in der Stadt, d.h. in Melbourne oder Sydney,
war der Digger ein willkommener Gast. Der Wirth em-
psing den Mann mit offenen Armen, dem es nicht darauf
ankam, seine schwarze Thonpfeife mit einer Pfundnote an-
zubrennen, oder eine Zehnpfuudnote in der „Bar" anznna-
geln, mit der Unterschrift: Zum Vertrinken. Der Kaufmann
liebte einen Kunden, der kleines Geld als Herausgabe mit Un-
willen zurückwies. Die Hauptstädte waren zn jener Zeit wenig
lieblich anzuschauen; bei größtem Mangel an Arbeitern war
an eine Reinigung der Straßen nicht zu denken. Verwesende
Thierleiber irnd Unrath verpesteten die Luft. Die Vorstadt bildete
eine Zeltstadt, Cauvastown, denn wo sollte man Häuser für die
schnell zuströmende Bevölkerung finden, und Maurer und Zim-
merleute waren selten an den Diggings. Aber die Hauptstadt
zog den glücklichen Goldgräber stets wie ein Magnet an. Hier
verlor er auch wohl sein Herz an irgend eine liebenswürdige
Bewohnerin seines Wirthshauses. Jack folgte Cäsar's be-
rühmtem Beispiel. Kommen, Sehen und Siegen war für den
Inhaber von Goldstanb und Nuggets wie Haselnüsse eins;
die Hochzeit folgte auf dem Fuße. Der nächste Händler
lieferte ein halbes Dutzend schwerseidener Kleider, der Ju-
melier Uhr und Schmucksachen, und der nächste Sonntag sah
120 Dr. Carl Emil Jung: L
das glückliche Paar zur Kirche rollen in einer Equipage,
deren Kutscher und Pferde unter der Fülle weißer seidener
Hochzeitsbänder nahezu verschwanden. So lange das Geld
reichte — und der Wirth half Jack, daß es nicht allzu lange
dauerte —, ging alles in dulci jubilo, aber nach kurzen
Flitterwochen marschirte der ernüchterte, ärmere, aber nicht
weisere Manu wieder seiner alten Arbeitsstätte zu. Das
junge Weib blieb zurück; ihren so schnell gewonnenen, so
schnell verlorenen Mann sah sie selten wieder. Vielleicht
schloß sie bald eine neue Verbindung mit dem nächsten
Glücklichen und vielleicht nicht mit bessern? Ende.
Jack und Bill waren leichtsinnige Menschen, aber in der
Regel gntmüthige Kerle, von warmem Mitgefühl für
ihren Nächsten, besonders wenn dieser Nächste eine Hülflose
Frau oder ein Hülfloses Kind war. Ihre Hand war dann
immer bereit zu geben. Wenn ein Unglücksfall einen Ka-
meraden betroffen hatte, so that gewiß jeder seine Prise
Goldstaub in den herumgetragenen Hut. Für den Hülfs-
bedürftigen, Schwachen und Kranken zeigte der Digger
immer ein warmes Herz, wenn auch sein Aenßeres abstoßend
und rauh war. Goldgraben und Goldwaschen sind Be-
schästigungen, die weder die Reinlichkeit befördern, noch die
Manieren verfeinern. In den Erinnerungen derer, die an
den Goldfeldern lebten, ist mancher schöne Zug aufbewahrt
vou uneigennütziger und zartfühlender Mildthätigkeit, welche
diese rauhen Männer übten.
Treues Zusammenhalten mit dem Mate, dem Kameraden,
war die erste Pflicht des Diggers. Ein Betrug, ein Verrath
das schwärzeste Verbrechen. Der Kamerad, dem das Gold
zur Aufbewahrung anvertraut war, genoß das volle Ver-
trauen seiner Mitarbeiter; ein Zweifel an seiner Rechtlichkeit
wäre ein nur mit Blut zu sühnendes Verbrechen gewesen,
aber wehe ihm, wenn er dies Vertrauen verscherzte, sein
Urtheil war schnell gefällt, denn Richter Lynch saß über ihn
zu Gericht. Eine Stelle im einsamen Busch, ein Schuß
oder zwei, ein Baum und ein Strick, das war der sichere
Schluß der Tragödie.
Aber bis zum Tode und noch über das Grab hinaus
blieb der Mate treu seinem Mate, der an ihm ehrlich ge-
handelt. Im Leben wie im Tode durfte er nichts auf ihm
haften lassen, mit seinem Arm und seinem Revolver mußte
er für ihn eintreten. Die Blutrache war ihm eine heilige
Pflicht. „Du bist mein Gast heut Nacht," sagte ein Schäfer
zu einem Wanderer, den er in der einsamen Hütte empfing,
„und Du bleibst es bis morgen, wenn der Tag anbricht; aber
dann mußt Du sterben. Ich sehe in Deiner Hand die Wasser-
kanne, die meinem Kameraden gehörte — da steht sein Name
hingekratzt und der meinige —, den Du im Wald ermordet hast.
Du mußt sterben, ich habe es meinem tobten Mate geschworen."
Und er hätte den Mann am nächsten Morgen nieder-
geschossen, in voller Gewißheit, eine Pflicht zu erfüllen, wäre
nicht die Unschuld des Reisenden durch das Herzukommen
eines Dritten klargestellt worden.
Solche Leute waren gefährliche Richter. Leicht vom
Schein der Wahrheit betrogen, schien ihnen Gesetz und
Recht eine Krankheit der modernen unnatürlichen Gesell-
schaftsverhältniffe. Sie urtheilten nach dem, was recht und
billig schien, ohne zu erwägen, wie oft der Schein trügt.
Daher kamen sie nicht selten in Collision mit der bestehenden
Gesetzgebung uud ihren Vertretern.
In der Nähe des Eureka-Hotel bei Ballarat fand man
die Leiche eines Mannes. Aeußere Anzeichen gaben Grund
zu der Vermuthuug, daß hier ein Mord begangen sei, und
der Verdacht heftete sich aus den Wirth des Gasthauses.
Der Mann war unbeliebt, ja verhaßt uud er verdiente diesen
Haß, denn er hatte manchen glücklichen Digger erst mit
stralische Typen und Skizzen.
seinem Fusel betäubt und dann beraubt. Aber Beweise für
dieses schwere Verbrechen lagen nicht vor; das Gericht
sprach ihn frei. Die Digger, schon vorher durch Maßregeln
der Regierung erbittert, die sie drückend nannten, hielten ihr
eigenes Gericht, und das Eureka-Hotel wurde mit Allem, was
darin war, niedergebrannt. Der Wirth rettete nur das Leben.
Einige Verhaftungen wurden vorgenommen; die Digger ver-
langten die Freilassung ihrer Kameraden, der Gouverneur
schlug das Gesuch rundweg ab und sandte militärische Ver-
stärkung. Sofort orgauifirten die Digger ihre Streitkräfte,
ein starkes Verhau von Baumstämmen wurde errichtet, ihre
Reiterei machte eine Excursiou, schnitt einen Transport von
Ammuuitiou ab, und zerstörte dieselbe. Nun kam es zum
offenen Kampfe. Die Barrikaden wurden mit bedeutenden
Verlusten auf beiden Seiten erstürmt uud die Aufrührer ge-
schlagen. Sorgfältig uahmen sie ihre Verwundeten uud
Todten mit sich, man erfuhr nie, wer und wieviele ge-
fallen waren. Und die Regierung machte der Bewegung in
der besten Weise ein Ende, indem sie die Forderung der
Aufständischen noch einmal einer unparteiischen Prüfung
unterzog und gewährte, was schon längst hätte gewährt
werden sollen. Das eigentümliche wilde Leben, darf man
fagen die Romantik der Diggings, eine solche, wie sie Bret
Harte uns schildern konnte, ist längst vorüber. Australien
hat seinen Bret Harte nicht gefunden, und die Gelegenheit
ist verloren gegangen. Auch aus den Goldfeldern des nörd-
lichen Queensland spielen sich die Scenen nicht ab, die Vic-
toria auf seinen Alluvialgoldfeldern sah. Heute ist man
ruhiger geworden. Der Betrieb hat andere Gestalten an-
genommen. Nicht mehr in Klumpen und Körnern kann
der arme Manu mit Schaufel und „EraMe" das Gold aus
dem Sande scharren, der Goldgräber hat in tiefe, kunstvoll
getriebene Schachte zu steigen, bedeutende Kapitalien, Ma-
fchinen zum Heben, Stampfen und Ausscheiden des Goldes
sind nöthig. Goldgräberstädte wie Sandhurst und Bendigo
mit ihren prächtigen Banken, Hotels, Theatern, reichen
Läden und wohlgekleideten Bewohnern sind jenen Plätzen
sehr unähnlich, wie sie vor zwanzig Jahren erstanden und
wie sie noch heute überall wie Pilze über Nacht aus dem
Boden zu wachsen scheinen, wo sich nur immer das edle
Metall findet.
Nur in Queensland werden noch immer Felder entdeckt,
wo Gold mit leichter Mühe zu haben ist. Deswegen ziehen
Chinesen in Tausenden dorthin und sie verlassen Victoria,
das früher das Hauptziel ihrer Wanderungen war. Aber
der Digger ist verständiger geworden. Viele, welche an den
neuen Feldern arbeiten, sind alte „Hände", Männer, die
Bendigo und Golden Gully in ihrer Blüthezeit kannten. Sie
haben feit jenen Tagen gelernt, daß unter den vielen Nieten
nur wenig Treffer sind.
Der Digger, so lange er bei der Arbeit ist, ist mäßig
und trinkt nicht; das spart er sich für die Zeit auf, wenn
die Grube ihren Ertrag nicht mehr giebt, und auch dann
denken die meisten an die Zukunft. Der Aufenthalt in
engen, feuchten Gruben, das Auswaschen des schnrntzigeu
Stoffes, das Leben in rohen Hütten und Zelten, vor denen
das Kochfeuer brennt, an dem in verkohlter Pfanne große
Klumpen Fleisch gebraten werden, während die Asche als
Backofen dient, der Mangel an Wasser zur Pflege des Kör-
pers, das Alles ist nicht dazu angelegt, des Diggers äußere
Erscheinung zur amnnthenden zu machen. Mit zottigem
Haar und bärtigem, wettergebräuntem Gesicht, das ein breit-
krämpiger Filzhut überschattet, im schweren wollenen Hemd
und hohen Kniestiefeln, um den Leib den Gurt oder die
Schärpe, in der der nie fehlende Revolver uud das lange,
zu allen Diensten bereite Schlachtmesser stecken, sieht unser
Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
Goldgräber mehr einem Banditen ähnlich, besonders wenn
er den dichten Schleier gegen die lästigen Fliegen über sein
Gesicht zieht. Aber er ist mit seinen Waffen nicht mehr so
schnell da als früher. Wehe dem, der sich dem Zelte eines
Diggers nahte, ohne die Erlaubniß seiner Insassen einzuho-
len. Wenn nicht Dogge oder Bluthund ihn an der Gurgel
packten, so streckte ihn sicherlich eine Kugel nieder. Das war
die australische Interpretation jenes britischen Grundsatzes,
daß das Haus des Engländers seine Burg ist. Damals
hatte man Ursache, aus der Hut zu sein; heute wird's denen
schwerer gemacht, welche von den Diggings Gold holen
wollen, ohne zu arbeiten. Ordnung und Sicherheit sind
hergestellt. Wäre es nicht wegen der überall dem Auge
begegnenden Erdhaufen, der Winden und anderen charakte-
ristischen Merkmale einer Goldstadt, man möchte meinen,
in irgend einer ländlichen Ansiedelung des Innern zu seiu.
So weit das Auge blickt, nichts wie ungeheure Haufen
brauner Lehmerde neben den engen Gruben, über denen sich
eine klapperige Winde erhebt, dazwischen überall die Baum-
stumpfe, Ueberbleibsel des Waldes, der die Hügelseiten be-
deckte, elende Hütten und Zelte, Hänser und Buden mit
schreienden Plakaten und Flaggen, nirgends wird man so
versucht, das anrum irrepertum et sie melius situm
auszurufen, als in einer australischen Diggerstadt.
Aber Ordnung und Gesetz sind auch in diesen epheme-
ren Niederlassungen eingezogen. Man lebt hier ebenso wie
den Auca-Vuschuegern in Holländisch-Guyana. 121
anderer Orten. Die Leute gehen zur Kirche, schicken ihre
Kinder zur Schule, halten Meetings und geben sich gegen-
seitige Zweckessen mit Redeübungen gerade wie sonst in klei-
nm australischen Städten. Sie haben ihre Liebhaber-
concerte, Joung Mens Jmprovement Societies mit Lieb-
habertheater und imitirten Negerconcerten wie anderswo,
sie geben ihre Bälle und Plagen einander mit denselben
Rangstreitigkeiten, wie in Krähwinkel. Trollope erzählt,
wie ein kleines Golddorf in bedenkliche Aufregung versetzt
wurde, weil sich die Frau des Posthalters und die Belle des
Ortes weigerte, einen Ball zu besuchen, zu dem auch Laden-
mädcheu Zutritt haben sollten. Aber bei dem Ueberfluß an
Tänzern und Mangel an Tänzerinnen wäre eine Exklusivi-
tät unzulässig gewesen. Das Meeting lehnte die Forderung
der Frau Postmeisterin ab und der Ball wurde seiner
schönsten Zierde beraubt. Aber das Fest war ein success
trotz alledem. „Nachdem die frohen Theilnehmer auf der
leichten fantastischen Zehe den Reigen geführt hatten, bis
die ermüdete Natur ihre Rechte geltend machte, folgte ein
Souper. Als die Tischdecke aufgehoben wurde, trat die
rosige Gottheit wiederum ein und jagte mit Apollo's eifri-
ger Hülfe die blasse Cynthia nieder in die westliche Welt;
die bleiche Morgenrothe verkündete das Nahen des Tages,
und der Gott mit dem Wagen kam zögernd herauf: Bacchus
neigte sein Haupt, Momus' Einfluß war zu Ende." So
feierte das lokale Blatt das wichtige Ereigniß.
Eine Reise zu den Anca-Bns
Nach den Aufzeichnungen von August Kappl
Die Auca-Buschneger sind theilweise die Nachkommen
von jenen Buschnegern, welche im Jahre 1663 in den Ur-
wald von Holländisch-Guyana entwichen, sich dort festsetzten
und lange Zeit eine wahre Plage für die Kolonisten nnd
ein Hemmniß für den Aufschwung der Kolonie bildeten.
Sie stammen von den zahlreichen Negersklaven ab, welche
die im Jahre 1663 aus Brasilien vertriebenen portugiesischen
Inden mit sich nach Holländisch-Guyana brachten, als sie
hier ein Asyl suchten und, um der gesetzlichen, für jeden
Negersklaven zu entrichtenden Kopfsteuer sich zu entziehen,
sich ins Innere begaben, in das Mittelland am Surinam,
welches noch von damals her den Namen der „Juden-
Savanne" führt, und ihre Neger veranlaßten, in die Wäl-
der zu fliehen, bis die Einschätzung vorüber sein würde, in
der Hoffnung, daß die Schwarzen mit der Zeit von selbst
wieder von dort zurückkehren würden. Dies geschah jedoch
nicht, denn die Neger vereinigten sich mit den aus Surinam
entflohenen Negersklaven, gründeten Dörfer und wurden bald
so zahlreich und gefürchtet, daß die Kolonie blutige Kämpfe mit
ihnen führen, sie mehr als einmal durch Bestechungen, Kopf-
gelber und Geschenke kirre machen und 1760 Vertrags-
mäßig ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit als Volk und
ihr Eigenthumsrecht auf die von ihnen bewohnten Land-
striche anerkennen mußte. Die Verhältnisse sind nun aber
andere geworden, theils in Folge der Aufhebung der Neger-
sklaverei in Holländisch-Guyana vom Jahr 1863, theils in
Folge der starken Decimiruug der verschiedenen Stämme
der Bosch-Neger durch Lepra (Aussatz), Pocken, Syphilis:c.
Die Gruppe der Auca-Buschueger, etwa 1200 bis 1300
Globus XXXVIII. Nr. 8.
inegerii in Holländisch-Guyana.
r, mitgetheilt von Dr. Karl Müller-Mylius.
Köpfe stark, am obern Maroni und seinen westlichen Zu-
flüssen, namentlich am Tapanahoni, wohnend, geberdete
sich in den fünfziger Jahren mehrfach feindselig gegen die
holländische Kolonialregierung und diese beauftragte einen
der den Aucas zunächst wohnenden Beamten, den Posthalter
August Kappler (einen geborenen Württemberger), zu den
Aucas zu reisen und sich mit ihren Anführern ins Ein-
vernehmen zu setzen. Herr Kappler, der Verfasser der
Schrift: „Sechs Jahre in Surinam" (Stuttgart 1854),
ist nach einem Aufenthalt von 44 Jahren in Holländisch-
Guyana im vorigen Jahre von dort in sein Geburtsland
zurückgekehrt und damit beschäftigt, seine Erlebnisse, Ersah-
rungen und Anschauungen in einem lehr- und gehaltreichen
Werke über das noch so wenig bekannte niederländische Gu-
yana niederzulegen, welches demnächst erscheinen soll. Aus
den Aufzeichnungen, denen das projektive Werk seinen Ur-
sprung verdankt, entnehmen wir die nachstehende interessante
Reiseschilderung und lassen den Verfasser selbst erzählen:
Seit der Vertheilung von Geschenken an die Auca- oder
Aucaner-Buschneger waren wieder acht Jahre verflossen, und
obwohl ihnen seit 1856 die Erlaubniß zugestanden worden
war, ohne jegliche Kontrole nach der Stadt und den Pflan-
znngen zu kommeu, so hatten sie doch die Regierung aber-
mals um die Austheiluug der Geschenke angegangen. Statt
aller Antwort hatte man sie darauf hingewiesen, wie leicht es
ihnen jetzt sein würde, durch Arbeit auf den Pflanzungen, durch
Schlagen und Verkaufen von Bauholz u. s. w. Geld zu
verdienen, was ihnen früher schwerer war, da sie nur in
beschränkter Zahl nach den Ansiedelungen in der Kolonie
16
122 Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
kommen durften. Die Regierung 'hegte zwar schon längst
den Wunsch, diese unabhängigen, im scheußlichsten Fetisch-
dienst lebenden Neger zu civilisiren und zum Christenthum
zu bekehren; allein mit Ausnahme einiger Paramaca- und
Bekou-Musiuga-Buschneger hatten sich nur wenige bekehren
lassen, die mährischen Brüder hatten erfolglos unter ihnen
gewirkt, und am Maroni war bisher noch nicht einmal ein
Versuch zu solchen Bekehrungen gemacht worden. So er-
hielt ich denn im Oktober 1857 vom Gouverneur den
Befehl, zu den Buschnegern zu gehen und im Namen des-
selben bei ihnen anzufragen, ob sie einen Missionär unter
sich aufnehmen würden, welcher sie im Christenthum unter-
richte, und ihrem Gran-man oder Oberhaupt den ansmun-
ternden Wiuk zu geben, er solle bei der Regierung um Ge-
Währung eines Jahresgehalts einkommen, durch welchen man
der lästigeu Geschenke enthoben zu werden hoffte. Ich
nahm daher mein kleines Boot, welches ich mit einem
Schutzdach von grüner Leinwand überspannte, packte meine
Siebenfachen, als Kleider, Proviant, Pflanzentrocknenma-
schine, Schmetterlingskästen:c., zusammen, miethete mir
drei Indianer: Asaicumanali, Kobajali und Bamn, und
fuhr am 2. November 1857 von Albina am untern Ma-
roni ab. Ein guter Wind brachte uns bald an den Si-
parawini-Creek x), wo ein brasilischer Indianer Namens
Ninaldo sich angesiedelt hatte und wo wir denn auch die
Nacht zubrachten. Da die Ufer des Flusses um vieles
höher sind, als diejenigen der anderen Ströme, so ist die
Vegetation auch um vieles kräftiger und meist schon die des
Hochlandes, ganz verschieden von den Mangrove-Ufern oder
den Pina- und Maeireen-Waldungen, welche die Cottica
und die sonstigen Ströme des Landes oft viele Meilen land-
einwärts umgürten. Schon bei Albina, alfo nur fünf
Wegstunden vom Meere, wird das Land hügelig, während
am Surinam die erste und uoch vereinzelte Erhebung des
Bodens bei der verlassenen Pflanzung Rac-a-Rac, also
elf Stunden vom Meere, sichtbar wird. Da der Fluß eine
Menge Inseln von verschiedener Form und Größe hat, so
bietet er — abgesehen von einer kräftigern und mannig-
faltigern Vegetation, als in den niedrigeren und tieferen
Gegenden der Kolonie — mehr Abwechselung, wenn man
anch das Malerische und Wildromantische, was man in
Brasilien oder anderen Tropenländern bewundert, hier nicht
fiudet, wo Kultur die wuchernd reiche Natur theilweife ver-
drängt hat, oder wo kahle Felsen und unfruchtbare Gebirge
mit dem reichen Pflauzeuwuchfe der Niederuugeu ab-
wechseln. Hier hat man immer dieselben waldigen Ufer mit
den von Schlingpflanzen aller Art durchrankten Bäumen,
Palmen und Büschen, welche unmittelbar im Wasser
wurzeln oder ihre Aeste und Zweige von der Strömung
bespülen lassen, immer dieselbe Vegetation, deren verschie-
dene Blattformen, Nüancen von Grün, verschiedene Größe,
Forin und Farbenpracht der Blüthen das Auge zwar ent-
zücken, aber auf wochen- und monatelangen Reisen durch
die Eintönigkeit des Gesammteindrucks endlich doch ermüden.
Man findet am Maroni nicht den von der Meeresfluth
Überschwemmten Boden der übrigen Flüsse Surinams,
welchen die Holländer bei Anlegung ihrer Pflanzungen so
trefflich auszunutzen verstanden. Der Fluß kommt aus Süd-
sudwest uud strömt bei dem Indianerdorfe Magrli, etwa
acht Wegstunden vom Meere entfernt, zwischen mehreren
großen und kleinen Inseln hindurch, welche sämmtlich dicht
bewaldet und unbewohnt sind. Nur auf der größten der-
selben haben die Gebrüder B., fleißige und intelligente
Spnronmi auf bcv Karte von Guayana, „Globus"
XXXVII. S. 2.
m Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana.
Franzosen, eine Kaffeepflanzung angelegt und bauen auch
Mauioc, zur Bereitung von Cassava, welche uach Cayenue
ausgeführt wird. Gegenüber von dieser Insel, welche bei
den Franzosen Jle Portal heißt, steht auf der Seite des
holländischen Ufers und ganz nahe beim Lande ein runder
Felsen, welcher etwa 20 m im Umkreis halten mag und
bei starker Meeresfluth beinahe ganz überschwemmt wird.
Als wir an diesem Felsen vorübersuhren und ich ihn in mei-
ner Karte verzeichnete, fragte ich die Indianer nach dem Na-
meu desselben, und hörte, er heiße Dimere. Nun bezeich-
nen die Kariben ein Tuch mit gedruckter Zeichnung ebenso,
und anch der mit eiugehaueueu Figuren bedeckte Felsen,
welchen Schomburgk am Correntin-Flusse fand, hieß Timöre,
woraus ich schloß, daß dieses Wort Alles bedeute, was ge-
druckt, gezeichnet und gemalt, überhaupt sigurenreich ist.
Auf meine Erkundigung nun, warum denn der Felsen diesen
seltsamen Namen führe, erklärten mir die Indianer zu meinem
Erstaunen, es seien auf jenen Felsen allerlei Figuren einge-
graben. Ich fuhr natürlich sogleich zurück, und da die
Flnth erst eintrat, so fand ich denn auch sogleich die Figu-
ren, nämlich mehrere etwa 1 Meter hohe tanzende mensch-
liche Gestalten, deren Kontouren ungefähr 2 bis 3 mm tief
in den Granit eingeritzt waren. Außerdem bemerkte ich
noch mehrere runde schalen- oder napfartige Vertiefungen
von nngesähr 30 cm Durchmesser und 4 cm Tiefe, welche
früher vielleicht zum Zerreiben irgend einer Substanz ge-
dient haben mochten. Mehrere derartige Vertiefungen finden
sich auch an den Felsen auf dem rechten Ufer des Maroni,
etwas oberhalb der Strafkolonie St. Laurent, welche bei
den Franzosen La Roche bleue heißen. Ich hatte sie im-
mer nur für Wirkungen des Wassers gehalten, aber siekön-
nen ebensogut von Menschenhand herrühren und sollen, wie
Schomburgk aus der Versicherung der Indianer entnahm,
durch anhaltendes Reiben von Quarz hergestellt werden.
Mir sind zwar keine ähnliche Bildwerke in anderen Theilen
von Surinam bekannt, allein die Franzosen versicherten mich,
daß auch beim Moni d'argent am Apronak derartige Felsen
mit eingehauenen oder eher eingeritzten Figuren seien. Ohne
Zweifel giebt es deren noch manche andere in Guyana,
welche nur noch nicht entdeckt sind, denn man muß sehr
genau hinsehen, um die Zeichnungen zu erkennen.
Etwas oberhalb der vorerwähnten Jle Portal, welche etwa
eine Wegstunde lang ist, liegt auf der holländischen Uferseite
eine nahezu ebenso große, an deren südlichem Ende das Jndia-
nerdorf Blaherebo steht. Der Fluß ist hier ungefähr ein
Kilometer breit, hat in der Mitte eine ganze Reihe klei-
ner niederer Eilande und ist in der trockenen Jahreszeit so
voller Sandbänke, daß man nur am rechten, französischen,
Ufer fahren kann. Unterhalb des Siparawini liegt eine
hohe Insel, Gnidola, auf welcher sich ungefähr zwanzig aus
Pars, in Brasilien ausgewiesene Farbige und Neger ange-
siedelt haben, zu dereu Vorstand die französische Regieruug
einen brasilischen Neger Namens Bastian ernannt hat.
Die Leute leben in etwas besseren Hütten, pflanzen Mauioc
und nähren sich von dem Erlös des entbehrlichen Ertrages
und vom Fischfang. Sie sind Katholiken und haben eine
eigene Hütte zu einer Kapelle eingerichtet, worin bisweilen
ein französischer Priester, wenn ihn sein Weg hier vorüber-
führt, en passant die Messe liest. In diesem Gottes-
dienst besteht vorwiegend ihr Christenthum, das ihnen nur
einen sehr oberflächlichen Firniß giebt; daneben aber sind sie
noch ebenso nncivilisirt und wo möglich noch abergläubischer
als die einheimischen Indianer, halten aber doch viel auf
Putz und Kleidung.
Am Morgen des 3. verließen wir Rinaldo, passirten
schon um zehn Uhr die Stromschnelle von Armina und
Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
kamen zu dem nun verlassenen Posten. Bis hierher war mir
der Fluß wohl bekannt; jetzt aber kam ich in ein mir ganz
unbekanntes Land. Eine gute Wegstunde oberhalb Armina
mündet aus holländischer Seite eine große Creek, die Me-
rian-Creek, in den Maroni, in welchem sich mehrere
Inseln und zwei kleine Stromschnellen vom holländischen
zum französischen Ufer hinüberziehen. Da meine Indianer
in der Nähe dieser Creek in einem Sumpfe, welcher zur da-
maligen Jahreszeit beinahe ausgetrocknet sein mußte, Fische
zum Abendbrot holen wollten, so befestigten wir die Corjal
und wanderten westwärts durch den Wald, wo wir nach
einem Marsch von zehn Minuten an einen Tümpel kamen,
welcher von einer unglaublichen Menge kleiner aalartiger
Fische, Lockolocko, und noch viel seltenerer, Marrappa, Wim-
melte. Von diesen nahmen wir, soviel wir nur tragen konn-
ten, brachten sie nach dem Boote zurück und setzten unsere
Reise fort, passirteu die Insel Paru, schlugen am Südende
der Insel Tichinaibao unser Nachtlager ans und bereiteten
uns von den gefangenen Fischen ein Abendbrot, welches
uns köstlich mundete.
Am andern Morgen mit Tagesanbruch setzten wir
unsere Reise fort uud hatten zur Linken die sehr lange
Insel Seriatango, an welcher der Fluß beinahe zwei
Stunden lang frei von Inseln und in einer Richtung aus
Südost vorüberströmt, um dann eine große Bucht zu bilden,
welche voller Stromschnellen, Inseln und Sandbänke nnd
unter dem Namen Bonidoro bekannt ist. Das Wasser ist
so seicht, daß ich in demselben neben dem Kahne herwanderte,
während die Indianer die Corjal zogen; in dem Fahrwasser,
das keine sechs Zoll ties war, schwammen mehrere große
Süßwasserrochen, Fische, welche bei einer Breite von 2^
Fuß ebenso lang und oben dunkelolivensarbig mit runden
schwarzen Flecken gefärbt sind; der acht bis neun Zoll lange
Schwanz ist mit einem vier Zoll langen und zwei kleineren,
mit Widerhaken versehenen Stacheln bewehrt, womit dieser
behende Fisch den Verfolger sehr gefährlich verwunden kann;
denn jede Verwundung durch diese Stacheln zieht Jahre-
lange Leiden, ja selbst den Tod nach sich, weshalb manche
wilde Stämme sich dieser Stacheln als Speer- nnd Pfeil-
spitzen bedienen. Bamn fchoß zwei ungeheuer große Exem-
plare, welche mit dem Pfeil im Leibe davon schwammen, und
deren sich die Indianer nur mit der größten Vorsicht zu be-
mächtigen vermochten.
Schon unterhalb Armina und jetzt am obern Strom
auf allen Felsen erscheint die wohlriechende Guiave (Psidium
aromaticum), welche auch an allen anderen oberen Flüssen
Guyana's vorkommt und eine kleine, kaum eßbare Frucht
trägt. Auch ein weißblühendes stacheliges Solanum be-
säumt die Ufer. Mau sollte nicht glauben, daß auf diesen
kahlen Granitfelsen noch ein Gewächs fortkommen könnte,
ohne von den sengenden Strahlen der glühenden Sonne aus-
gedorrt zu werden; allein kaum legt das Wasser sie bloß
und läßt nur eine schwache Spur von Schlamin darauf
zurück, so entwickelt sich in diesem ein rasenbildendes Pflänz-
chen mit weißen Blüthen, die einen ganzen Teppich bilden
und in deren Kelchen Schwärme von wilden Bienen Nah-
rnng finden. In den Felsenlöchern oder in Becken, welche
von Felsen eingeschlossen sind, findet man die sonderbaren
Knochen- oder Panzer-Welse, welche hier in anderen Spe-
cien als am Meere, jedoch in ebenso großer Menge vorkom-
men. Dieser Fisch, der Harnischwels oder Loricaria ca-
taphracta oder dura der Naturforscher, ist schwärzlich von
Farbe, mit Panzerschildern und Stacheln bedeckt, selten über
einen Fuß laug (nur 20 bis 25 cm), uud sehr scheu und
vorsichtig, so daß er sich blitzschnell in Felsenlöchern versteckt,
wenn er Gefahr wittert.
dm Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana. 123
Auf den Inseln im und den Klippen am Strom nistet
und brütet überall eine Ziegenmelker-Art, welche unter den
Felsenblöcken sich versteckt und ihre beiden rothgefleckten Eier
ausbrütet. Die Jungen sind dann im November ausgewachsen,
zu welcher Zeit in der Regel die ersten Regen fallen und die
Flüsse wieder anschwellen, so daß alsdann die Vögel ihre Stand-
quartiere aus den Felsen verlassen und sich wieder in die Wälder
flüchten müssen. Die Felsenspalten beherbergen außerdem
noch eine Menge Fledermäuse, welche trotz der Backofenhitze
der von der Sonne durchwärmten Felsplatteu klumpenweise
nnd dicht gedrängt neben einander sitzen und von den an-
schwellenden Gewässern ebenfalls verjagt werden, worauf sie
ihre alten Schlupfwinkel in hohlen Bäumen oder ihre lus-
tigen Sitze unter den breiten Blättern der Helikonien wieder
aufsuchen. In den Wasserfällen und Stromschnellen wächst
die Lacis (eine Podostemacee) mit ihren rothen Blüthen-
ähren und stacheligen lederartigen Blättern, welche sich an
die Steine anklammern und diese ganz bedecken, was den
Transport der Corjalen über die Felsen sehr erleichtert
und die Reibung abschwächt. Wo diese Pflanze in Menge
wächst, da findet sich auch der wohlschmeckende Pacn, ein
großer breiter Sägesalm, Serrosalmo nigricans oder Pi-
raia, von schwärzlicher Farbe und einem Gewicht bis zu
fünfzehn Pfund, den man mit Pfeilen erlegt, wenn er ge-
gen den Strom schwimmt.
Von Bonidoro zieht sich der Fluß wieder in südlicher
Richtung wohl zwei Wegstunden weit ohne Fülle und
Stromschnellen hin und weist nur einige Inseln in der
Mitte auf. Oberhalb einer derselben mündet am hollän-
dischen Ufer die bedeutende Paramacca-Creek, an deren
Binnenlauf schon seit Jahren sich Neger angesiedelt haben,
welche von den Plantagen weggelaufen waren und die nun
an der Tempati-Creek den dort arbeitenden Buschnegern
Holz für die Pflanzungen fällen helfen. Gegen Westen
und Süden gewahrt man hier in einer Entfernung von
ungefähr zwei Wegstunden vom Ufer hohe Bergzüge, welche
bei den Indianern die Anofo-Berge heißen. Eine Weg-
stunde oberhalb der Paramacca-Creek treten zwei Höhenzüge
dicht an den Fluß heran und verengen ihn so, daß er hier
höchstens 500 bis 600 Fuß breit sein kann; er erweitert
sich dann aber bald wieder zu einer breiten Wasserfläche,
aus welcher sich vier schöne Inseln erheben. Ans der
zweiten derselben schlugen wir unser drittes Nachtquartier
auf. Von hier aus beschreibt der Fluß eine große Kurve
aus Südosten, und wir erreichten am Mittag die Jnfel
Weremeremu ganz in der Nähe der unteren Pedrofungo-
Fälle (Peter - Soungou der erwähnten Karte). Der
Strom bildet hier eine beckenartige Strecke von ungefähr
zwei Wegstunden Breite, worin sein Bett von zahllosen
Felsenriffen nnd Bänken wimmelt. Am holländischen Ufer
sind zahlreiche fortlaufende Fälle; am französischen aber,
dem wir entlang fuhren, eine etwa zwei Wegstunden lange
anhaltende Stromschnelle, über welche hinaus zu pagaien
den Indianern nur mit Mühe gelang. Zahllose Inseln,
zwischen denen die Gewässer der Stromschnelle tosend hin-
durchrauschten, ließen wir rechts liegen, links war eine Art
natürlichen Wehres von sechs bis acht Fuß Höhe, über
welches das Wasser eines teichartigen Bassins sich in die
Stromschnelle ergoß, welche aus Nordost kommend sich in
einem Halbkreis nach Süd, Südwest und zuletzt gauz West-
lich wandte uud am Ende aus vieleu Kaskaden von zwei
bis drei Fuß Höhe bestand, über welche unsere Corjal ohne
große Schwierigkeit eniporgezogen wurde, worauf wir uns
plötzlich wieder in ruhigem Wasser befanden. Die ganze
Höhe sämmtlicher Pedrosnngo -Fälle mag nach meiner
Schätzung etwa fünfzig Fuß betragen. Eine halbe Stunde
16*
124 Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
weiter schlugen wir unser Nachtlager auf und ich glaubte
mich in die obere Cottica versetzt, da wo bei der Pflanzung
Groot Marseille die verschiedenen Arme der Cottica die
Eilande bilden, hinter welchen die Pflanzungen Peru und
Montresor liegen. Hier war jetzt keine Spur mehr von
Berg, Felsen oder Bänken — Alles lag tief unter uns,
und kaum hörte man noch das Brausen der Pedrosungo-
Fälle, welche am holländischen Ufer die Fahrt so gefährlich
machen. Am 6. November gelangten wir nach einstündiger
Fahrt wieder in ein Labyrinth von Felsblöcken und Rissen
von sechs bis acht Fuß Höhe, welche sämmtlich schief unter
einem Winkel von 450 im Flußbett standen und einen höchst
sonderbaren Anblick gewährten. Abermals folgte eine
Stromschnelle auf die andere, und wir sahen nur das
holländische Ufer, während das französische hinter zahllosen
Eilanden versteckt lag. Erst nachdem wir die Fälle von
Gunschutu passirt hatten, sahen wir wieder beide User des
Stromes, welcher hier wohl eine Wegstunde breit sein
mochte und ein großes seichtes Becken mit wenigen Inseln,
aber desto mehr Bänken bildete, aus dem französischen Ufer-
eingefaßt von einem etwa 2000 Fuß hohen dichtbewaldeten
Höhenzuge, während auf der holländischen Seite etwas siid-
licher sich ein minder hoher aber sehr steiler Berg erhob.
Wir passirten auf der linken Seite die bedeutende Jaka-
Creek, und schliefen auf einer Strominsel in der Nähe der
wohl zehn Fuß hohen Manb ari-Fälle. Wir lebten Herr-
lich und in Freuden, denn außer einem großen Hokko
(Crax alector), welcher sehr fett war, hatten die Indianer
einen schönen Haimnra (Macrodon Trahira) und drei
Zitteraale geschossen, so daß wir noch Proviant genug für den
nächsten Tag übrig hatten. Das ganze Eiland, kaum hun-
dert Schritte im Umkreis haltend und dicht bewaldet, und
mit einem ganz neu mit Palmwedeln bedeckten Kamp, war
umgeben von einem förmlichen Gürtel einer ungemein reich
blühenden Passtflore, welche schon bei Armina vorkommt,
aber hier besonders üppig gedieh; die schneeweiße Blüthe
hat einen Durchmesser von etwa fünf Zoll und goldgelbe
Pistille, wird in den Morgenstunden umschwärmt von einer
Unzahl von Kolibris, Bienen und Schmetterlingen und ver-
breitet einen lieblichen Duft, welcher aber in der Nähe so
stark ist, daß er beinahe Uebelkeit erregt. Jetzt näherten wir uns,
am 7. November, unter anhaltenden Stromschnellen, wobei
wir den zehn Fuß hohen Manbari- und den sechs Fuß
hohen Singadede- (Singa-Tetey) Fall zu Passiren
hatten, dem größten aller dieser Wasserfälle, dem Poli-
gudu. Bei den beiden erstgenannten war ich über die
Felsen emporgeklettert, während die Indianer beim ersten
kleine Kaskaden benutzten, um den Kahn über die schlüpf-
rigen Blätter der Lacis zu zieheu, beim zweiten aber die
Stricke ihrer Hängematten zusammenbanden und so die
Corjal hinüberbrachten. Beim Poligudu-Fall aber stürzt
das Wasser aus einer Höhe von mindestens achtzehn Fuß
herab, und da die Indianer keinen Weg durch die Menge
kleiner Eilande kannten, so wurde die Corjal ausgeladen
und alles nach und nach auf die Felsen oberhalb des
Falles geschafft. Unterhalb des Falles bemerkte ich mit
Erstaunen, wie durch die Wucht des Wassersturzes ganze
kesselsörmige fußtiefe und fußbreite Löcher in den harten
Felsen entstanden waren, worin eine Menge kleiner Steine
fortwährend umhergetrieben und zuletzt ganz rund abge-
schliffen wurden, im verjüngten Maßstabe gerade so wie die
bekannten aus der Eiszeit herrührenden Löcher im Gletscher-
garten zu Luzern. Alle Felsen waren in der Höhe, wo sie
zur Regenzeit unter Wasser gesetzt wurden, mit einer
schwarzen Kruste von Braunstein-Oxyd bedeckt, wie Schom-
burgk diese Erscheinung auch am Essequibo wahrnahm.
!N Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana.
Noch vor zwölf Uhr Mittags waren wir im Tapana-
honi, einem schönen, ungefähr 300 Fuß breiten Flnffe,
auf dessen linkem Ufer etwa eine Viertelstuude auswärts das
Dorf Poli gudu liegt. Etwa hundert Schritte vom Fluß
entfernt, besteht es aus ungefähr vierzig elenden Hütten, in
denen die Nachkommen jener schwarzen Soldaten hausten,
welche im Jahre 1805 ihre Ossiziere und die weiße Be-
fatzung der Forts Oranjebo und Armina ermordet und sich
hierher geflüchtet hatten. Von jenen Meuterern selbst war
nur noch ein Einziger übrig, welcher aber zur Zeit jener
Katastrophe noch ein Knabe gewesen sein mußte. Die
ganze Einwohnerschaft von Poligudu besteht nur aus un-
gefähr vierzig Personen, worunter höchstens sechs bis acht
arbeitsfähige Männer. Vielleicht der fünfte Theil der
ganzen Bevölkerung ist mit Aussatz, der entsetzlichsten aller
Krankheiten, behaftet, gegen welche es gar kein Heilmittel
giebt. Die Hütten bestehen aus vierkantig behaueuen
Pfosten und einem Dach aus den Blätternder Comopalme;
die Mehrzahl dieser Hütten hat ein mit Palmlatten
verschaltes Kämmerchen, worin die Familie schläft, während
der vordere, von allen Seiten offene Raum der Hütte jener
den ganzen Tag über zum Aufenthalt und auch zur Küche
dient. Der Estrichboden dieser Vorhalle, ohne alle Bretter,
ist immer reinlich gefegt, Töpfe, Kalebassen und Teller sind
immer gut gewaschen und auch der Umkreis der Hütte
stets reinlich gehalten. In einer Menge kleinerer derartiger
Häuser sind die Fetische dieser Neger untergebracht, hölzerne
mit einer weißen Thonerde (der sogenannten Pimba) ge-
tünchte Puppen, Garnituren von dürren Grashalmen u. s. w.,
zwischen welchen Töpfe mit Wasser stehen, worin Algen oder
andere geheimnißvolle Kräuter aufbewahrt werden, denn
die Religion dieser Neger ist ein furchtbarer Aberglaube
und Götzendienst. Stets sieht man Wäsche zum Trocknen
aufgehängt, und ist ein Kleidungsstück verschossen und un-
schembar, so wird es sogleich in einem Absud von Indigo
wieder aufgefärbt, welcher um die Hütten herum wild wächst.
Im Dorfe selbst sah ich vier kleine Bronze-Kanonen, welche
die entfliehenden Negersoldaten einst vom Posten Armina
mitgenommen hatten und die ihnen nun ganz nutzlos
waren. Vergebens bot ich für jede derselben ein Doppel-
gewehr, allein sie wollten sich nicht von den Trophäen
ihrer Voreltern trennen. Ich wurde natürlich von allen
Seiten angebettelt, und beeilte mich daher, nach dem zunächst
liegenden Dorfe des Buschneger-Kapitäns Makosso zu kom-
men. Dieses Dorf, Guidappu, liegt ebenfalls auf dem
linken User in der Nähe einer uubedenteuden Stromschnelle,
die sich über den ganzen Fluß erstreckt, und mag eine Be-
völkeruug von ungefähr 120 Personen enthalten. Die
Hütten sind ganz so gebaut, wie diejenigen von Poligudu,
und umgeben von einem förmlichen Wald von Apfelsinen-
bäumen, deren köstliche Früchte in Menge auf dem Boden
lagen und unbenutzt verfaulten. Auch hier waren sehr viele
Fetischhäuser und in denselben aus Holz geschnitzte Säbel,
Urnen, Götzenbilder u. s. w. zu sehen, alle mit jenem weißen
Pfeifenthon beschmiert, welcher sich ganz in der Nähe des
Dorfes Poligudu findet. Selbst die Hunde, welche hier
klapperdürr sind wie alle Buschnegerhunde, waren hier je
mit einem Talisman oder Obia behangen, der ihnen Glück
auf der Jagd verleihen sollte; diese Obias, meist in Käferhör-
nern, Knöchelchen, Vogelfedern, Landschnecken und dergleichen
bestehend, waren den Hunden um den Hals gebunden. Auch
au den Aesten und Zweigen der Bäume hingen Schild-
krötenschalen, getrocknete Eidechsen, Stücke von Termiten,
Austern u. s. w., um vermeintlich den Bäumen Fruchtbar-
keit zu verleihen. Makosso, welchen ich schon seit lange
kannte, hieß mich mit großer Freude willkommen, gab mir
zwei junge Bursche mit, um mich nach dem Dorfe des
„Grau-man" zu geleiten, uud versprach mir, ani andern
Tage nachzukommen, um ebenfalls an dem Gruttu oder
der Zusammenkunft und Besprechung mit den Buschneger-
Häuptlingen theilzunehmen. Oberhalb Gnidappn kam der
Fluß beinahe immer aus Südwesten, wir Passirten eine
Menge Eilaude und erreichten bei einbrechender Dämme-
rnng das ebenfalls auf einer Insel gelegene Dorf Man-
>ge. 125
lobi, wo mir der Kapitän Jaki eine Hütte zum Ueber-
nachten anwies und mich mit vielem unnützen Geschwätz be-
lästigte. Ueberall erhielt ich Apfelsinen zum Geschenk,
welche zu Hunderten auf dem Boden verfaulten; aber die
Buschneger erwarteten dafür ein Gegengeschenk, bestehend
in Tabak, Pulver, Schrot uud allem andern, was sie gerade
gebrauchen konnten.
N e k r
— Am 23.Nov. 1879 starb Kapitän C. I. F. Smith-
Forbes, Deputy-Comnüssioner von Tharawadi in Britisch-
Birma, Verfasser des Werkes „British. Burmali ancl its
People" und zweier wichtiger philologischer uud ethnologischer
Abhandlungen, welche im „Journal" der Royal Asiatic So-
ciety (April 1878) erschienen: über „Thibeto - birmanische
Sprachen" und „Der Zusammenhang zwischen den Möns in
Pegn mit den Kols in Central-Jndien."
— William Conperus Macleod, geboren 16. Sep-
tember 1805 in Pondicherry, trat 1822 in die indische Armee
und nahm am ersten englischen Kriege gegen Birma (1824
bis 1826) Theil. 1829 wnrde er dem „Kommissariat Depart-
ment" attachirt, und einige Jahre später einer Kommission
beigegeben, welche die Grenze zwischen Birma und dem
unter englischem Schutze stehenden Staate Manipur feststel-
len sollte. Er benahm sich dabei mit großer Umsicht und
Geschicklichkeit; sein Bericht über die durchreisten Gegenden
wurde aber nie veröffentlicht. Für eine Karte des Landes
zwischen dem Jrawadi und dessen großem westlichen Zu-
flnsse Kyendwen erhielt er die Anerkennung der Regierung
ausgesprochen. Im November 1834 wurde er zum „junior
assistant" des Kommissionars der Tenasserim-Provinzen
(die Küste südlich von Molmain begreifend) ernannt und
in Mergui, dem südlichsten Bezirke, stationirt. Ende 1836
erhielt er von dem Kommissionär den Auftrag, in das Innere
von Hinterindien und zwar bis an die Grenze Chinas vorzn-
dringen, um Handelsverkehr mit der Provinz Jünnan anznbah-
nen. Am 13. December brach er auf, ging nach Zimme oderNeng-
mai am obern Me-nam, zog dort von chinesischen Kaufleuten
Erkundigungen über seine weitere Route ein und erreichte
am 26. Februar Kiang-tnng, den Hauptort des größten,
unter birmanischer Oberhoheit stehenden Schan-Staates,
welcher seitdem nur noch zweimal von Europäern, 1866 von
der französischen Mekong-Expedition, und 1870 von dem
Missionär Cnshing, besucht worden ist. Am 9. März traf
er in Kiang-Hnng am Mekong, gleichfalls der Residenz eines
Schan-Staates, ein, wo ihm die Weiterreise nach dem nahen
Jünnan verwehrt wurde und er umkehren mußte. Die
chinesischen Behörden in Jünnan gaben ihm den merkwür-
digen Bescheid, daß sie alle ihre Geschichtsbücher nachgeschla-
gen, aber keinen Präcedenzfall dafür gefunden hätten, daß
ein Offizier auf diesem Wege China betreten hätte; er möge
sich nach Canton wenden. Am 27. Mai 1837 traf er wie-
der in Molmain ein, nachdem er recht eigentlich in das
Herz einer terra incognita eingedrungen war; sein Bericht,
von welchem zuerst nur ein Auszug in Bd. 4 des „Jour-
nal of the Asiatic Society of Bengal" erschien und der
erst 1869 ganz gedruckt wurde, bildete bis 1870, wo Gar-
nier's Reisewerk über die Mekong-Expedition erschien, die
einzige Quelle über jene Länder; seine Route findet sich auf
H. Kiepert's Karte zu Bastiau's hinterindischer Reise ver-
zeichnet.
löge.
Macleod diente dann weiter im Heere, abwechselnd in
Vorder- und Hinterindien, bis zum Jahre 1868 und starb
am 4. April 1880, 74 Jahre alt, in Gloncester Gardens.
— Im April 1880 starb Mr. Robert Fortune, ein
wohlbekannter Reisender und Botaniker. Er war 1813 ge-
boren und zuerst in den botanischen Gärten in Edinbnrg
und Ehiswick angestellt. 1843 bis 1845 ging er zum Zwecke
des Pflanzensammelns nach China und schrieb nach seiner
Rückkehr „Three Years Wanderings in China", das bald
eine zweite Auflage erlebte. 1848 sandte ihn die Ostindische
Kompagnie wieder nach China, um die Theepflanze zu stu-
diren; seine Beschreibung dieser Reise (Two Visits to the
Tea Countries of China) brachte es auf drei Auflage».
Eine dritte Reise beschrieb er in „Residence among the
Chinese 1853 — 1856". v. NichtHofen (China I, S. 705)
spricht von Fortnne's Reisen und Büchern mit hoher Au-
erkennnng: „Die verschiedenen Reisen, welche derselbe in den
Provinzen Tschekiang, Fokien und Kiangsu ausgeführt hat,
sind durch seine ebenso belehrend als anziehend geschriebenen
und viel gelesenen Werke sehr bekannt geworden, und die
letzteren lassen sich, was den Einfluß auf die Bildung der
populären Vorstellungen von China und den Chinesen, ins-
besondere iu England, betrifft, nur mit denjenigen von
Staunton, Oliphaut und Davis vergleichen. Selbst die in
ihnen enthaltenen Zeichnungen der Landesbewohner bei ihren
verschiedenen Beschäftigungen gaben die stereotypen Figuren,
die man sich als Staffage chinesischer Landschaften dachte.
Fortune mußte stets vorsichtig und in Verkleidung reisen,
und es ist seiner Klugheit uud Discretiou hohe Auerken-
nung zu zollen, da diese Eigenschaften allein es ihm ermög-
lichten, so viel zu erreichen. Noch jetzt sind seine Bücher
die besten über die leicht erreichbaren Gegenden, welche sie
betreffen." Vor etwa 14 Jahren ließ sich Fortune, weicher-
es, unähnlich den meisten Pflanzensammlern, zu Wohlstand
gebracht hatte, in Schottland nieder und trieb Landwirth-
schast.
— Der Missionär Pater Horner (geb. 20. Juni 1827
in Schönenburg im Elsaß) starb am 8. Mai d. I. iu Cannes,
wo er seine durch siebzehnjährigen Aufenthalt an der Zanzibar-
küste erschütterte Gesundheit wiederherzustellen gedachte.
Im Jahre 1863 war er dorthin gegangen und hat daselbst
mehrere religiöse und philanthropische Institute errichtet.
Während jener ganzen Zeit hat er stets zu allen Missio-
nären, auch solchen anderer Konfession, welche durch Zanzi-
bar kamen oder an der Ostküste beschäftigt waren, die besten
Beziehungen unterhalten; sein Tod ist für jenes Gebiet
und dessen Civilisiruug ein empfindlicher Verlust.
— Karl Petersen, Nordpolfahrer, starb am 24. Juni
dieses Jahres in der Nähe von Kopenhagen. Geboren 1813,
verließ er früh sein Vaterland Dänemark und lebte iu
Westgrönland als Böttcher. 1850 lud ihn Kapitän Penny,
der mit den Schiffen „Lady Franklin" und „Sophia" zur
126 Aus allen
Aufsuchung Franklins ausgeschickt war, ein, ihn zu begleiten,
und er leistete den Engländern ebenso ausgezeichnete Dienste,
wie später dem Dr. Kane, Sir Leopold MClintock im „Fox"
und 1861 den Professoren Dorret und Nordenskjöld auf
Spitzbergen. Dann erhielt er von der dänischen Regierung
einen Posten als Leuchtthurm - Aufseher auf Seeland. Er
war kein gelehrter Mann, verfaßte aber doch 1860 eine Be-
schreibnng der M'Elintock'schen Reise unter dem Titel „Den
Sidste Franklin-Expedition". Sein Beispiel fand unter den
Dänen in Grönland und den Eskimos manche Nachahmung,
aber keiner leistete so viel wie er, und erlangte solchen Ruf
als praktischer Nordpolfahrer.
— Am 29. Juni starb in Breslau der ordentliche Pro-
fessor der Geschichte, zugleich Professor der Geographie,
Dr. Karl Neumann. Geboren am 27. December 1323
zu Königsberg, wurde er ursprünglich zum Elementarlehrer
bestimmt und besuchte erst von 1838 an das Gymnasium.
1842 bezog er die Universität und promovirte 1352. Ohne
jede Mittel, mußte er als Hauslehrer und durch literarische
Arbeiten seinen Unterhalt gewinnen. 1856 erschien sein leider
unvollendet gebliebenes Hauptwerk: „Die Hellenen im Skythen-
lande". Besondere Verdienste erwarb er sich dann um die
Berliner „Zeitschrift für allgemeine Erdkunde", deren Redak-
tion er mit besonderer Sorgfalt und Hingabe von 1356 bis
1360 (Nene Folge Bd. 1 bis 9) führte. 1859 zum außer-
ordentlichen Professor der Geschichte in Breslau ernannt,
blieb er einstweilen noch in Berlin als Hülssarbeiter im
Staatsministerium und im Ministerium der Auswärtigen
Angelegenheiten und begann erst im Winter 1363 bis 1364
seine Vorlesungen über alte Geschichte und Geographie, denen
er bis an seinen Tod alle seine Kräfte gewidmet hat.
— Unter den während der vorigen Session der Royal Geo-
graphical Society verstorbenen Mitgliedern derselben wird
Mr. Andrew Swanzy mit Auszeichnung genannt. Er
war ein unternehmender Kaufmann, welcher mehrere wissen-
schaftliche Expeditionen ausrüstete, hauptsächlich um die Um-
gebung seiner Faktoreien an der Goldküste in naturwissen-
schaftlicher Hinsicht zu erforschen. Die wichtigste derselben
war diejenige den Assiuie-Fluß aufwärts unter Mr. Win-
wood Reade, welche die unmittelbare Veranlassung zu
dessen Reise im Jahre 1869 nach dem obern Niger wurde.
Reade wurde dabei theils von Mr. Swanzy, theils von
Erdtheilen.
der Gesetzgebenden Versammlung von Sierra Leone unter-
stützt.
— Mit dem in diesem Frühjahre verschollenen englischen
Schulschiffe „Atalauta" ist auch der Marinearzt Dr. Ed-
ward L. Moß zu Grunde gegangen, der sich durch manche
naturwissenschaftliche Arbeiten, zu denen er den Stoff auf
seinen vielfachen Seefahrten sammelte, einen Namen gemacht
hat. Bei der Polarexpedition 1375 bis 1876 diente er an
Bord des „Alert" und brachte eine Reihe vorzüglich aus-
geführter Aquarellen, vielleicht die einzigen in ihrer Art,
heim, bei deren Herstellung er mit den größten Schwierig-
keiten zu kämpfen hatte. Eine Auswahl derselben veröffent-
lichte er in Facsimile 1378 in seinem Werke „Shores of the
Polar Sea" (4. London, M. Ward).
Paul Broea, der berühmte französische Anthropo-
löge, starb am 8. Juli 1330 in Paris. Geboren 1824 in
Ste. Foy la Grande in der Gironde, stndirte er Median,
wurde 1846 Aide d'anatomie und war bei seinem Tode
Mitglied des Senats, Vicepräsident der medicinischen Aka-
demie, Professor der Median u. s. w. Es ist hier uicht der
Platz, auf seine zahlreichen mediciuischeu Schriften und Ab-
handlungen, namentlich über das Gehirn, einzugehen; wir
wollen nur auf diejenigen hinweisen, welche in dem Bulletin
der Pariser Anthropologischen Gesellschaft, sowie in den
Mümoires und der Revue d'Authropologie enthalten sind.
Die praktischen Resultate seiner anthropologischen Unter-
suchungen sind meist in seinen „Instructions" enthalten,
deren erster Band die anthropologischen Studien am leben-
den Menschen enthält und seit 1864 wiederholt aufgelegt
worden ist. Der zweite über Schädellehre uud Schädel-
Messungen erschien 1375. Broea war die Seele der Pariser
Anthropologischen Gesellschaft, die er mit Ueberwindung
zahlloser Hindernisse im Jahre 1859 ins Leben gerufen hatte;
er war der Begründer einer neuen glänzenden anthropolo-
gischen Schule; seine anthropometrische Methode wird jetzt
von den meisten Anthropologen befolgt. Seit 1372 gab er
die Revue d'Authropologie heraus uud 1876 gründete er
die jetzt berühmte Ecole d'Authropologie iu Paris mit ihrem
ausgezeichneten Museum, Laboratorien, Bibliothek uud ihrem
vollständigen Kursus anthropologischer Lektionen, die vou
mehr als einem halben Dutzend Professoren, darunter
de Mortillet, Bertillon uud Topiuard gehalten werden.
Aus allen Erdtheilen.
Europa.
— Seitens der Petersburger naturforschenden Gesell-
schaft sind im laufenden Sommer zwei Expeditionen
entsandt worden, die eine nach Lappland und derMur-
manischen Küste, die andere nach demWeißen Meere,
beide zum Studium der Fauna der dortigen Gewässer uud
der Bedingungen des Fischfangs und der damit zusammen-
hängenden Gewerbe. Die letztere Expedition hat am 29.
Mai (10. Juni) 1880 Petersburg verlassen.
— Das russische „Journal für Pferdezucht" giebt uach
ofsicielleu Quelle« die Ausfuhr von Pferden aus Ruß-
land für 1879 auf 33 123 Stück an, davon 32 970 über die
europäische, 153 über die asiatische Grenze, und vou der
Gesammtzahl zur See 687, zu Lande 32 436 Stück. Die
Ausfuhr übertrifft diejenige des Jahres 1878 um 16 879
Stück, betrug also mehr wie das Doppelte.
— Nach Mittheilungen des russischen Medieinaldeparte-
ments zählte man 1373 in Rußland 13 475 Aerzte; der
Zugaug im Laufe des Jahres betrug 690, der Abgang durch
Tod 371 Köpfe. Feldfcheere (Heilgehilfen) gab es 5100,
zur Ausbildung vou solchen dienten 53 Feldscheer-Schulen.
Hebammen-Anstalten gab es 2666. Apotheken waren
1652 vorhanden.
— Das eentral-statistische Konnte des russischen Mini-
steriums des Innern giebt eine Statistik des Grund-
besitzes und der bewohnten Orte des Europäischen
Rußland (St. Petersburg, 1830) heraus. Die erste Lie-
ferung umfaßt die acht Gouvernements Rjäzan, Tula, Ka-
luga, Orel, Kursk, Woronefh, Tambow und Peuza. Den
Tabellen geht eine Abhandlung des Chefs des centralen
statistischen Komites voraus: Einige allgemeine Folgerungen
aus den statistischen Angaben für dies centrale Gebiet; fer-
ner sind dem Bande zehn Kartogramme beigegeben.
— Zahl der Pferde im Don-Kazaken-Lande.
Die erste wirkliche Zählung fand 1373 statt und ergab
451 016 Stück. Im Jahre 1374 zählte man 452 153 Häupter;
am 1. Januar 1876 waren es 453 504, am 1. Januar 1877
(Mobilmachung 1376) nur 420 931 Stück, am 1. Januar
1873 war die Zahl auf 412 443 gesunken, am 1. Januar
Aus allen
1879 hatte sie sich wieder auf 413 325 Stück gehoben. Die
Kopfzahl der Pferde hat danach in den letzten fünf
Jahren (1374 gegen 1879) um 33 828 oder 7,5 Proe. der
Gesammtzahl der Pferde im Lande abgenommen; die Be-
völkernng ist in dem gleichen Zeitraum um 10 Proe. (?) ge-
stiegen. (Donsk. Oblastn. Wjed.).
Asien.
— Nach der am (16.) 23. März 1380 in Tomsk abge-
haltenen Volkszählung hatte die Stadt, der „Tomsk. Gub.
Wjed." zufolge, 18 015 männliche und 15 730 weibliche, zn-
fammen 33 795 Einwohner.
— Ueber die Flora von Turkeftau sagte E. L. Regel
in der russischen Gesellschaft für Gartenbau am (5.) 17. April
1380: Das turkestauische Gebiet zerfällt seiner Flora nach
in zwei Theile, einen westlichen mit mildem und einen
östlichen mit rauhem Klima, nicht unähnlich demjenigen
von Petersburg. Diesen klimatischen Bedingungen ent-
sprechend ist die Flora des westlicheuTheiles besonders
eigenartig; hier trifft man vorzugsweise Pslanzenarten, die
Mittelasien ausschließlich eigeu sind, europäische Arten nur
selten. Der östliche Theil, von hohen Gebirgen durch-
schnitten, ist dagegen reicher an alpinen und überhaupt euro-
päischen Gewächsen, doch findet mau auch hier Arten, die
nirgends außer in Mittelasien anzutreffen sind. Die Sumpf-
und Wasserpflanzen in Turkeftau sind ausschließlich euro-
pttischer Art. Rhododendron, Lilien und Tulpen finden sich
gar nicht, Orchideen, Nadelholz und Haidekraut sehr wenig.
Einige der dortigen Pflanzenarten kommen freilich auch in
ganz Europa, Asien und Amerika vor und ziehen sich, so
zu sagen, um den ganzen Erdkreis herum. (Golos.)
— Zu Korea gehört die an der Ostküste der Halbinsel
unter 37° 25' nördl. Br. und 132" 16' östl. L. gelegene Insel
Ollon-to (Matu-sima der engl. Seekarten, Dagelet und
und Dagette der Franzosen und Russen). Ueber dieselbe be-
richtet Ernst Oppert in seinem Bnche „Ein verschlossenes
Land" (vergl. „Globus" XXXVIII, S.25) Folgendes: Sie
ist beinahe rund in Form, ungefähr 25 engl. Meilen im
Umfange, ihre Ufer aber sind durch bis ans Meer sich er-
streckende Felswände so steil und unzugänglich, daß ihr
Inneres den Europäern fast gänzlich unbekannt geblieben ist.
Auf dem koreischen Festlande ist sie hoch berühmt ihrer
Fruchtbarkeit wegen, und ihre Produkte sollen von so vor-
züglicher Güte, aber zugleich von einer so ungewöhnlich
riesenhaften Größe sein, daß man in Korea zu dem Schlüsse
gekommen ist, ein Land mit solchen Eigenschaften könne
nicht von gewöhnlichen Menschen bewohnt sein, sondern
müsse notwendigerweise einen verhältnismäßig riesigen
Menschenschlag hervorbringen; und da die Nachbarschaft
einer derartigen Riesenrace selbstverständlich nur dem Mutter-
lande Gefahr bringen könne, so hat die Regierung, um der-
selben von vornherein vorzubeugen, ein Verbot gegen das
Bewohnen der Insel erlassen! Wirklich wird von Zeit zu
Zeit ein Beamter mit einigen Soldaten dahin abgesandt,
um sich von der Befolgung dieses Verbotes zu überzeugen
und um die Erzeugnisse der Insel zu sammeln und zurück-
zubringen. Allerdings geht das nur zu wahrscheinlich klin-
gende Gerücht in Korea, daß trotz alledem Ollon-to bewohnt
sei und daß die Einwohner bei Annäherung der Jnspektions-
trnppen sich in die Wälder und Berge flüchten, wohin man
sie, eben wohl aus den oben genannten Gründen, nicht zu
verfolgen wagt.
— Japanesische Zeitungen melden, daß das englische
Anfnahmeschiff „Sylvia" am24. April d. I. vonHiogo
nach dem Kap Tschitschakow abgegangen ist, um eine Reihe
von Tiesseelothungeu vorzunehmen und damit seine Auf-
nahmearbeiten an den japanischen Küsten abzuschließen. Die
„Sylvia" ist seit etwa 12 Jahren mit denselben beschäftigt
gewesen und hat dadurch den Schifffahrt Treibenden aus-
gezeichnete Dienste geleistet.
Erdtheilen. 127
— Ein besonderes Verdienst um die Erforschung
Chinas erwerben sich die Angehörigen der „China In-
land Mission": im vergangenen Jahre sind nicht wem-
ger als drei interessante Reisen von ihnen ausgeführt wor-
den- Im Juli 1879 besuchte der Missionär I. H. Riley
mit Mr. Mollmann den Ngo-mi-schan, einen der höchsten
Berge im westlichen Sze-tschwan und berühmt wegen seiner
buddhistischen Tempel. Die Reisenden brachten einige Tage
ans ihm zu, fanden es aber fo kalt, daß sie Mitte August
einheizten. Dann gingen sie westwärts nach dem Lande der
Lolo, welches zu betreten ihnen jedoch die chinesischen Be-
Hörden verwehrten. Doch kehrten einige Lolo, die sonst mit
den Chinesen in steter Feindschaft leben, mit den Missionären
nach Tschnng-king-fn (am Mittlern Jang-tse-kiang) zurück, so
daß man bald nähere Kunde über dieses Volk erwarten darf.
Nach dem Norden Sze-tschwans ging der Missionär
George King auf Wegen, die zum großen Theile gepfla-
stert und, wo sie über Gebirge führen, mit Stufen versehen
sind. Ueber Pao-uiug-fu gelangte er in den Süden der Pro-
vinzen Schansi uud Kansn, Gebiete, welche zum Theil noch
nie von Europäern betreten worden sind. Die Schluchten,
welche der Kia-ling, (d. h. der kleine Fluß, ein Name, den
er mit Unrecht führt, da er auf eine Strecke von mehr als
600 engl. Meilen schiffbar ist), ein Zufluß des Jang-tse-kiang,
dort durchströmt, sind in kunstreicher Weise zugänglich ge-
macht. Da der Fluß von Schneebergen herabkommt, so ist
er zu Anfang des Sommers hoch und reißend, im Spät-
sommer und Herbst aber niedrig und alsdann führt der
Weg in seinem Bette hin, was zur Zeit des Hochwassers
unmöglich ist. Mau hat deshalb hoch oben an den Felsen
eine doppelte Reihe von Löchern ausgemeißelt, in den oberen
horizontal hervorragende Steine oder Balken, in den unteren
schräg gestellte, welche jene tragen, angebracht und dann ans
den oberen den Pfad hergerichtet. Jetzt aber ist derselbe zum
größten Theile verfallen. Die dritte Reise, eigentlich eine
doppelte, hat G. F. Easton in dem noch unerforschten süd-
westlichsten Theile der Provinz Kansn ausgeführt. Von sei-
nem Standquartier Tsin-tfchou am obern Wei-ho (Zufluß
des Hwang-ho) ging er westlich nach der Neustadt Tao-tsch6u,
in deren Nähe alles ein ganz anderes Aussehen annahm,
als man es in China gewohnt ist. Die Häuser haben flache
Dächer und zum Theil ein zweites Stockwerk. Die Weiber,
denen die ganze Arbeit obliegt, sind plump, aber gesund,
kräftig, mit rothen Gesichtern und großen Füßen und tragen
ein grobes Kleid, das etwas bis unter die Knie herabreicht.
Das Haar wird in Gestalt eines Y gescheitelt und fällt lose
über die Ohren herab, bei jungen Mädchen auch über die
Stirn, wie es jetzt bei den europäischen Damen Mode ist.
Die ganze Stadt Tao-tschün, erst vor 20 Jahren gebaut,
liegt in Trümmern und hat nicht eine einzige ordentliche
Straße. Sie hatte eine große Einwohnerzahl vom Stamme
der „Fan-tse", wie die Grenzvölker hier genannt werden,
wurde aber vor etwa 16 Jahren von den Mohammedanern
zerstört. Auch die 60 Li entfernte Altstadt Tao-tsch6u ist
nur ein kleiner elender Ort. Diese Fan-tse verursachen den
chinesischen Behörden viel Mühe und stehen unter eigenen
Häuptlingen. Als Easton später mit ihnen in nähere Be-
rührnng kam, fand er sie außerordentlich gastfreundlich; sie
erinnerten ihn an die Waliser; sie können nichts ohne Milch
genießen. Eine zweite Reise führte Mr. Easton nach Si-
ning-fn, der wohlbekannten großen Stadt östlich des Kuku-
nor, und zurück über Meu-peh, Lau-tschau-su, Ti-tao-tschou
und Koug-tschang-su; einige von diesen Namen finden sich
auf keiner europäischen Karte. In der Nähe des Gelben
Flusses (Hwang-ho) traf Easton die Sah-la, die sich in ihrem
Aeußern und ihren Sitten wenig von den Chinesen unter-
scheiden, aber Mohammedaner sind und eine vom Chinesi-
schen ganz verschiedene Sprache reden. Auch die Tu-ren
oder Tu-li, die er dort fand, sind Mohammedaner und haben
eine eigene Sprache, die aber Ähnlichkeiten bald mit dem
128 Aus allen
Sah-la, bald mit dem Chinesischen anfweist. In Si-ning-fu
(8600 Fuß hoch, 36^ 33' 32" nördl. Br., 102« 24' 35" östl. L.)
traf Easton mit dem ungarischen Reisenden Graf Szechenyi
zusammen. Die von Deutschen geleitete Regierungs - Woll-
fabrik in Lau-tschau-fu, von der wir früher gesprochen, soll
nach Easton sich als ein verfehltes Unternehmen herausge-
stellt haben.
— Im Anschluß an das obige möchten wir auf ein
kürzlich erschienenes Reisewerk über China aufmerksam
machen : „ Gastou deBezanre, Auf dem „Blauen" Flusse.
Reise in das westliche China". (Deutsch von Th. Schwarz.
Leipzig, P. Frohberg 1380. 3,60 M.) Dasselbe schildert
eine Fahrt auf dem Jang-tse-kiang bis Sü-tschon-fu und
von da den Min-Fluß hinauf bis Tscheug-tu-su, der Haupt-
stadt vou Sze-tschwau, also verhältnismäßig bekannte Gegen-
den. Während aber den meisten China-Reisenden, mit Aus-
nahme der Missionäre, die Kenntniß der chinesischen Sprache
abgeht und ihnen deshalb vieles ein völliges Räthsel bleibt,
anch eine Menge von Mißverständnissen daraus entstehen,
war Bezaure des Chinesischen mächtig; er verkehrte viel
mit allerlei Beamten und vermag uns deshalb höchst inter-
essante Ausschlüsse über die Religion, das tägliche Leben, die
Verwaltung und Justiz, das Proceßverfahren, die Gesetz-
gebung, das Heer uud so fort zu geben. Namentlich im
Hinblick auf die Möglichkeit eines russisch - chinesischen Krie-
ges will uns die Lektüre dieses nicht umfangreichen Werkes
sehr empfehleuswerth erscheinen.
Afrika.
— Ein Telegramm aus Zauzibar vom 17. Juli meldet
der Royal Geographical Society die glücklich erfolgte
Rückkehr ihrer ostafrikanischen Expedition unter J.THom-
so u. Bon dem Tode ihres ursprünglichen Anführers Keith
Johnston abgesehen, ist sie durchweg vom Glück begünstigt
gewesen und hat, wie bekannt, eine Reihe von Lücken in
unserer Keuutniß des afrikanischen Seengebiets ausgefüllt.
Von der Rückreise vom Taugaujika-See zur Küste ist einst-
weilen noch nichts bekannt, als daß Thomson den mysteriösen
Hikwa-See besucht hat und daß er nicht, wie er beabsich-
tigte, von dort den Weg nach Kiloa eingeschlagen hat, son-
dern, wahrscheinlich durch Stammesfehden zwischen den Ein-
geborenen veranlaßt, die wohlbekannte Karawanenstraße nach
Bagamojo oder Saadaui.
Australien.
— Die Heuschrecken, schreibt man uns aus Süd-
Australien, sind wieder einmal in ungeheuren Schwär-
men erschienen und vertilgen Alles, was ihnen an grüner
Vegetation in den Weg kommt. Sie werden von zahlreichen
wilden Truthähnen verfolgt, welche sehr große Mengen die-
ser Insekten verschlingen. — Anch von Nen-Kaledonien
laufen große Klagen über die Verwüstungen ein, welche die
Heuschrecken dort angerichtet haben.
Nordamerika.
— Nach langen Unterhandlungen ist Fred ericton
endlich zur Hauptstadt der englischen Kolonie Nen-Brauu-
Erdtheilen.
schweig erwählt worden, welcher Rang ihr von dem weit
blühendem St. John letzthin streitig gemacht worden war.
Südamerika.
— Am 27. Mai d. I. haben die beiden Dampfer
„Vangnardia" uud „Oran" unter Befehl des Kapitäns
Natalio Roldan, Buenos Ayres mit dem Auftrage ver-
lassen, die Flüsse Vermejo bis Orau aufwärts und den
San Francisco zu erforschen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Bei einer vor Kurzem stattgefuudenen Volkszäh-
luug auf Neuseeland hat es sich herausgestellt, daß die
Maoris reißend schnell abnehmen und möglicherweise
schon in der nächsten Generation oder wenig später ver-
schwnnden sein werden. Die Ursachen ihrer Abnahme sind
Trunksucht, schlechte Kleider und Nahrung, ungesunde Woh-
nnugen, Unreinlichkeit und allgemeine Unsittlichkeit. Im Jahre
1861 schätzte man die Maoris auf 55366; jetzt sind sie anf
43 595 zusammengeschmolzen, d.h. in 17 Jahren nm20Proc.
Die Regierung vou Neuseeland hegt wenig Hoffnung, sie
auf dieser abschüssigen Bahn aufhalten zu können. Noch
schneller nehmen die Eingeborenen von Hawaii ab: 1866
zählten sie 57125 Seelen, 1878 noch 44 088, d. h. sie vermin-
derten sich in 12 Jahren um 23 Proc. oder in 17 Jahren
um 32,4 Proc.
— Wie die in Lyttelton, Provinz Canterbnry, Neu-
Seeland, erscheinenden „Times" berichten, wurde dort kürz-
lich in dem Orte Whitestone ein Deutscher, Namens David
Meisenthaler, als er früh Morgens seine Kühe in den Stall
treiben wollte, durch einen Äerolithen getroffen und
auf der Stelle getödtet. Derselbe fuhr dem Manne in
die linke Schulter, quetschte den durchschlagenen Rnmpf
seines Körpers in die Erde hinein und lagerte dann zwei
Fuß tief in dem weichen schwarzen Boden. Er hatte die
ungefähre Größe eines gewöhnlichen Eimers (common pa-
tent bücket), war von rauher runder Form und bestand
aus Eisenkies (iron pyrites).
— Die Fiuauzuoth in Nen-Seeland steigert sich
von Jahr zu Jahr. Die Kolonie zählte Ende Juni 1880,
ohne die Eingeborenen, rund 450 000 Seelen und hatte dabei
eine Schuldenlast von 29 214 000 Pf. St. — oder 65 Pf. St.
pro Kopf!! —, zu deren jährlicher Verzinsung 1 535 000
Pf. St. erforderlich waren. Nen-Seeland (wie überhaupt
die australischen Kolonien, wenn auch in weniger akuter
Weise) leidet an permanenten Desicits, und die Stenerkraft
ist bereits anss höchste in Anspruch genommen. Um das dies-
jährige Deficit zu beseitigen, soll unter Anderen die Biersteuer
dahin erhöht werden, daß jede Gallone (sechs Flaschen), gleich-
viel ob in der Kolonie gebraut oder importirt, mit 6 P.
oder 52 Pf. zu belasten ist. Es würde also damit auf jeder
Flasche Bier, welche getrunken wird, eine Abgabe von 8%
Pfennigen an den Staat ruhen!
Inhalt: Das heutige Syrien. II. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Carl Emil Jung: Australische Typen und
Skizzcu. VII. Die Diggings. — Dr. Karl Müller-Mylins: Eine Reise zu den Auca-Buschuegeru in Holländisch-
Guyana. I. — Nekrologe. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien. — Nordamerika. — Süd-
amerika. — Inseln des Stillen Oceans. — (Schluß der Redactiou 31. Juli 1880.)
Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung für die Zurncksendung von unverlangt zur Recension
eingesendeten Büchern.
Redacteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Svhn in Vrannschweig.
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Mit besonderer Herüclisiclüigung äer AntKroyologie unü Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vr. Richard Kiepert.
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■O l Ct Uli | IX) iDCttj zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen.
Das heutige Syrien.
(Nach dem Französischen des M. L ort et.)
III.
Die Stadt Tripoli liegt auf und an einem reizenden
Hügel, dort wo der Nahr Kadischa aus deu Bergen tritt,
wenig mehr als 2 km vom Meere entfernt. Das massige
Schloß des Grafen Raymnnd von St. Giles überragt sie,
uud die dreieckige Ebene zwischen der Stadt uud dem Meere
ist von schönen Gärten bedeckt, deren Obstbäume Dank dem
tiefen, fruchtbaren Erdboden ein ungewöhnliches Wachsthum
zeigen. Nach Nordwesten läuft diese Ebene in eine Land-
zunge aus, welche den Hasen el-Mina trägt, der von merk-
würdigen alten Resten umgeben ist. Aus dem Meere stei-
gen unweit der Küste im Halbkreise einzelne Felsenriffe auf,
welche uoch Neste eines antiken Molo tragen, der die vom
hohen Meere hereinrollenden Wogen zu brechen bestimmt
war. Die Umgebung Tripolis ist überaus anmuthig, alles
grünt und blüht, und in der Ferne ragen über den Bor-
Hügeln die majestätischen Gipfel des Libanon empor.
Tripoli ist etwa sieben hundert Jahre vor Christi Ge-
burt gegründet worden, und zwar als gemeinsame Kolonie
vou Sidou, Tyros und Arados — daher sein Name. Wie
die Stadt bei den Phöuikiern hieß, ist unbekannt. Mächtige
Mauern, auf deren Reste man noch heutzutage mitunter
trifft, schieden die einzelnen Quartiere, welche die Sidonier,
Tyrier uud Aradier bewohnten. In der Geschichte kommt
sie wenig vor; nur weiß man, daß sie mehrfach vou schreck-
licheu Erdbeben zu leiden hatte. Demetrios I., Sohn des
Seleukos IV., erwählte deu Ort 162 v. Chr. zu seiner Re-
sidenz uud schmückte ihn mit mancherlei Bauten; aber sie
wurde unter der Regierung des Kaisers Marcianus um
Globus xxxvill. Nr. 9.
die Mitte des fünften nachchristlichen Jahrhunderts in einer
Septembernacht nochmals völlig zerstört. Vielleicht ruhen
die einst vielbewuuderten bronzenen Statuen des Ikaros,
des Daedalos und eines Pegasos uoch heute unter den
Trümmern der Thermen und Paläste. Wiederum erstand
eine neue Stadt, die aber etwa zwei Jahrhunderte später
wieder einem Erdbeben unterlag. Später ergab sie sich den
Arabern, und zur Zeit des ersten Krenzznges stand sie uu-
ter einem eigenen Emir. Graf Raymund von St. Giles
unternahm im Jahre 1104 ihre Belagerung; als es ihm
aber nicht glückte, sie durch einen Handstreich zu nehmen,
und er einsah, daß hier große lange andauernde Schwierig-
keiten zu überwinden waren, erbaute er auf dem letzten Hü-
gel, der sich zwifcheu dem Nahr Kadischa und dem Meere
vorschiebt, das stolze Schloß, welches noch heute die Bewun-
derung der Reisenden erweckt. Handwerker aus Cypern
waren daran thätig; es empfing von den Franken den Na-
men Möns pellegrinus, die Moslim nannten es nach sei-
nein Urheber Hosn-Sandfchil (Schloß vou St. Giles).
Allein letztererstarb, ehe er sein heißbegehrtes Ziel erreichte;
erst nach fünfjähriger Belagerung nahmen die Kreuzfahrer
am 10. Juni 1109 die Stadt ein und überlieferten sie der
Flamme und dem Schwerte. Der Kaplan des Grasen
Bertram, des Sohnes Raymnnd's, war der erste, welcher
Feuer anlegte; leider soll dabei eine kostbare Bibliothek vou
mehr als 100 000 Bänden mit zu Grunde gegangen sein.
180 Jahre lang hielten sich die Christen im Besitze der
Stadt; dann pflanzte am 27. April 1289 Sultau Malek-
17
Band XXXVIII.
L_.._----- —
Das heul
el-Mansur von Neuem nach einmonatlicher Belagerung
Mohammed's Fahne auf ihren Mauern auf.
Tripoli, von den Landesbewohnern Tarü.bulus genannt,
ist auf und an einem der ersten Vorhügel des Libanon er-
baut und wird durch den Nahr Kadischa, den heiligen Fluß,
welcher bei der Stadt den Namen Nahr Abu Ali (Vater des
Ali-Fluß) führt, in zwei Theile getrennt. Bei weitem der
wichtigere ist derjenige auf dem westlichen Flußufer, welchen
Eine Straße von Tripoli.
gung eingerichtet sind, Spitzbogensenster, mit Zinnen um-
gebene Terrassen und über den Thurm in Stein gehauene
Wappenschilder. Dort könnte ein Reisender, der es nicht
eilig hat, eine reiche Ernte wichtiger nnedirter Dokumente
zur Geschichte des Mittelalters machen. Tripoli ist eine
Stadt der Kreuzfahrer im wahrsten Sinne des Wortes;
sie steht noch so da, wie sie die Ritter im Jahre 1289 ver-
lassen haben. Nichts ist da zerstört worden; wenn man
durch die malerischen Winkel und Gäßchen wandert, in denen
e Syrien. 131
das große Schloß Raymund's beherrscht, das in letzter Zeit
von Berber Aga in ungeschickter Weise ausgebessert worden
ist. Am jenseitigen Ufer erhebt sich auf einem Hügel
das Grabmal des Scheich Abu-Nazer. Das Innere der
Stadt bietet die malerischsten Ansichten, die man sehen kann,
lauter dunkele, von Arkaden überdeckte Gassen, überall Bäche
klaren murmelnden Wassers, Häuser aus Hausteinen aus
der Kreuzfahrerzeit, Ballone mit Erkern, die zur Vertheidi-
(Nach eiuer Photographie.)
eine bunte Menge in hellen Gewändern verkehrt, meint man,
die Thore brauchten sich nur zu öffnen, daß stolze Ritter in
Rüstung uud Helm, Lanze und Dolch in den Händen, her-
ausreiteu könnten. Die Ritter sind verschwunden; die Ära-
ber aber in den Straßen Tripolis, in der sich nichts seit
Jahrhunderten geändert hat, tragen noch dieselben Gewän-
der, dieselben Kesfijen (bunte Kopftücher) wie zu den Zeiten
der Krenzzüge.
Die Stadt ist regelmäßig und gut gebaut. Zahlreiche
17*
j'
Das heutige Syrien.
133
Gärten, welche die dreieckige Ebene bis nach der Hafenstadt
el-Mina hin bedecken, geben ihr ein freundliches Aussehen.
Die Landschaft ist entzückend, vielleicht schöner, als an irgend
einem andern Punkte in Syrien. Alles vereint sich zu einem
herrlichen Gesammtbilde: das weite Meer, der üppige Pflan-
zenwuchs, im Hintergründe die noch mit Winterschnee be-
deckten Spitzen des Libanon und das reizende Thal des Nahr
Kadischa, dessen Wasser etwa eine halbe Stunde oberhalb
der Stadt durch ein Wehr aufgefangen und ans dem linken
Flußufer durch einen Kanal in die Stadt geleitet wird.
Tripoli selbst zählt etwa 17 000, ihr Hafen 7000 Ein-
wohner. Davon sind etwa 18 000 Mohammedaner, 4800
orthodoxe Griechen, 1200 Maroniten, 25 griechische Katho-
liken und 60 Juden. (Diese Zahlen entnimmt Lortet der sran-
zösischen Generalstabskarte von Nordsyrien, deren Angaben
sich auf eine wohl zwei Jahrzehnte zurückliegende Zeit be-
ziehen.) Man zählt ferner 18 christliche Kirchen, nämlich
5 griechische, 7 katholische in ebenso viel Klöstern, 3 maro-
nitische, 2 griechisch-katholische und 1 protestantische; 1 Sy-
nagoge und 20 Moscheen. Die Moslim sollen auch noch
im Besitze schöner Bibliotheken sein. Von geringer Beden-
tnng sind die modernen Bauten; zu nennen wäre der Chan
der Seifensieder, dessen großer Saal ein schönes Marmor-
decken enthält. Auch kann man außerhalb (südlich) der
Stadt im Grunde der tiefen Thalschlucht das Kloster der
tanzenden Derwische besuchen. Eine breite, aber schlecht im
Stande gehaltene Straße führt durch die Ebene zwischen den
Garten hin nach el-Mina. Zu jeder Stunde des Tages ist
el-Mina, der Hafen von Tripoli. (Nach einer Photographie.)
sie von Eselreitern, die kommen und gehen, belebt. Obwohl
die Entfernung nur 3 km beträgt, so hielte es doch selbst
der ärmste Mann für eine Schande, diesen kurzen Weg zu
Fuße zurückzulegen. Die Ebene ist sumpfig und bei aller
Fruchtbarkeit doch ungesund; will man das Fieber vermei-
den, so muß man es unterlassen, vor Sonnenaufgang und
nach Sonnenuntergang dort spazieren zu gehen. Sehr oft
lagern Nachts und Morgens dicke Nebel über den sonst so
reizenden Gärten.
Neste einer mächtigen Mauer sind auf dieser Ebene, auf
deren Westhülfte die antike Stadt stand, noch deutlich zu er-
kennen, und in den Feldern und Gärten stößt man zuweilen
auf Fundamente von Häusern und alte Monumente, deren
Steine in Menge zum Bau von Häusern in der Hafenstadt
und sonst verwendet worden sind.
Von dem Hasen bis zur Mündung des Nahr Abu Ali
zieht sich eine Reihe großer mittelalterlicher Thürme hin,
welche zum Schutze der Ebene bestimnlt waren. Einer ist
vom andern etwa 1 km entfernt. In ihrer Nachbarschaft
finden sich zahlreiche Trümmer von Säulen aus grünem
ägyptischen Granite, die etwa 40 cm im Durchmesser hiel-
ten. Manche werden von den Wogen des Meeres bespült,
andere sind halb im Sande begraben und viele in die Thürme
vermauert worden. An der Mündung des Flusses steht der
erste derselben, Burdsch Rü.s en-Nahr, weiterhin der Burdsch
el-Dekie (Takije?) und der Burdsch es-Sbe'a oder Löwen-
thurm, so genannt, weil er noch zu Ansang dieses Jahr-
Hunderts über der Thür das von zwei Löwen gehaltene Wap-
pen Naymund's trug; dann der Burdsch el-Kanatter, Burdsch
el-Dejun und Burdsch el-Magharibe oder Marokkaner-
134
Das heutige Syrien.
thnrm. (Bädeker's Palästina nennt nur vier ThUrme in
dieser Reihenfolge von Osten nach Westen: B. Ras en-
Nahr, B. es-Sbe'a, B. el-Takije und B. el-Magharibe.)
Der kleine Hafen el-Mina wird im Norden durch eine
Reihe von Felsen beschützt, welche von den Eingeborenen
Feilun genannt werden und sich in einer Entfernung von
300 bis 400 in etwa 1 km weit hinziehen. Die Nord-
winde sind an dieser offenen Küste oft gefährlich; überall
sieht man gestrandete Schiffe oder große Barken, die mehr
oder weniger tief im Küstensande begraben oder selbst ganze
Strecken weit landeinwärts getrieben worden sind. Auf einer
jener Inseln, auf denen einige Palmen wachsen und zahl-
reiche wilde Kaninchen hausen, sind interessante Reste antiker
Wohnstätten und Cisternen von kolossalen Dimensionen er-
halten.
Die Bewohner von el-Mina sind größtentheils Schiffer
und Zimmerleute, deren eine ganze Anzahl beim Bau von
Barken Beschäftigung findet. Es existiren hier ein Chan,
einige schöne Wohnhäuser, Magazine und Dampfschiffs-
Agenturen; von manchen Punkten ans hat man eine präch-
tige Ausficht auf die phönikische Küste und die Libanonkette.
Das Meer ist reich an Fischen, wie überall an der syrischen
Küste; doch finden sich hier keine anderen Arten, als im
ganzen Becken des Mittelmeeres.
Nördlich von Tripoli, unweit der am Ufer sich hinzie-
henden Straße, liegen die Trümmer eines berühmten Klosters
und das Grab des Scheich el-Bedaui, ganz dicht bei einer
Quelle, die von einem viereckigen Bassin eingefaßt ist. In
diesem klaren Wasser tummeln sich zahlreiche silberne Fische,
die von Arabern und Türken als heilig angesehen werden.
Sie zu fangen ist streng untersagt; wohl aber werden sie von
frommen Leuten sorgfältig gefüttert. Die dortigen Europäer
halten sie für Forellen; allein Lortet, welcher durch die Güte
des französischen Konsuls in Tripoli in Besitz einiger Exem-
Plare gelangte, sand, daß es die Capoeta fratercula ist,
welche auch in Masse in dem klaren, kalten Wasser des
Nahr Kadischa vorkommt und gefangen wird. Das Heilig-
halten von Fischen ist in Syrien etwas Gewöhnliches; es ist
das schon im Alterthume, wie bekannt, Sitte gewesen, so-
wohl in anderen Städten als auch in Tripoli selbst, wie
Capoeta fratercula, der heilige Fisch in Tripoli.
es zahlreiche dort gefundene assyrische Cylinder mit dem
Bilde des Fifchgottes beweisen.
Sonst werden im Nahr Kadischa noch der Blennius
vulgaris und bei" Nemanchilus panthera geselligen; letztem
nennen die Fischer gewöhnlich el-Jahud, den Juden. In
den Wäldern der Umgegend leben zahlreiche Hyänen, die
Chaus-Katze (Felis chaus), ein großes unb im Znstanbe
der Verwundung gefährliches Thier; der Fuchs (Vulpes
nilotica) und die merkwürdige Maulwurfsratte (Spalax
typhlus), deren Sehnerv bei den meisten Exemplaren ganz
verschwunden ist, weil sie fast stets unter der Erde leben,
und die schon Aristoteles studirt hat.
Das Hauptprodukt von Tripoli ist Seide, welche zumeist
von Lyoner Kaufleuten exportirt wird; leider ist sie grob,
schlecht gearbeitet und steht tief unter bei" chinesischen unb
japanischen Waare. Die bort gefischten Schwämme finb
von guter Qualität unb werben stark ausgeführt, meist nach
Marseille, ein Theil anch nach Trieft. Im Hanbel werben
sie als „seine syrische Schwämme" bezeichnet, finb kegel- ober
halbkugelförmig, mit kleinen Poren, innen hohl unb ziemlich
elastisch. Das Tausenb kostet in Tripoli nur 25 bis 40 Pia-
ster (ä 20 Pfennig), während sie in Europa sehr hoch be-
zahlt werben; inbessen ist ihr Preis in letzter Zeit wegen
Erschöpfung bei" schonungslos ausgebeuteten Bänke anch in
Syrien stark in bie Höhe gegangen. In Tripoli wirb ser-
ner viel Seife (jährlich etwa 40 000 Centner) fabricirt,
welche stark nach Tarsus in Cilieien, nach Karamanien unb
ben griechischen Inseln exportirt wirb unb bei ben Arabern
sehr geschätzt ist. Ferner werben Galläpfel ans ben Gebir-
Der syrische Fischgott. (Nach einem
in Tripoli gefundenen assyrischen Cylinder.)
gen des Innern ausgeführt, während der auf den Ebenen
von Haina und Homs gedeihende Krapp nur wenig und
auch nur an Ort und Stelle verwendet wird; obendrein ver-
wenden die Eingeborenen jetzt schon viel die brillanten, aber
wenig dauerhaften europäischen Farbstoffe zum Färben des
Rohmaterials für ihre jetzt so sehr geschätzten prächtigen
Teppiche. Der in der Ebene gebaute Tabak wird nach Aegyp-
ten, das Skammoninm (getrockneter Saft der Purgir-Winde,
Convolvulus Scammonia, ein Abführmittel) nach Europa
exportirt.
In der Ebene rücken die unaufhörlich von Südwestwin-
den vorwärts getriebenen hohen Dünen stetig vor und über-
decken langsam, aber sicher, Felder und Gärten; nur eine
dichte Vegetation ist im Stande, erfolgreich gegen dieses Un-
heil anzukämpfen.
Die Rhede ist, trotz beu heftigen Witiben, besser als in
Beirut. Mit Recht steigen beshalb viele Reisenbe hier aus,
um über beu Kamm bes Libanon hinüber bas Thal ber
B'kaa, bes Orontes oder selbst des Enphrat zu erreichen.
Im lateinischen Kloster in Tripoli finden sie uneigennützige
Gastfreundschaft. In den Weingärten, welche dasselbe um-
geben, gedeiht ein viel gerühmter Wein; vorzüglich in Größe
und Geschmack sind die Apfelsinen von Tripoli, und das
Zuckerrohr, welches nur von den arabischen Leckermäulern
ansgekant wird, gedeiht hier prächtig.
Gewundene, steile Gassen führen zum Schlosse empor,
welches in seiner Gesammtheit lebhast an das päpstliche
Schloß in Avignon erinnert. Heute wohnen nur einige
Soldatenfamilien darin. Mit großem Interesse wird jeber
Des Dr. Potagos' Reisen im Gebiete des Nil und Helle. 135
die Bögen, Säulenstellungen, Terrassen, Höfe und in den Kanonen Schießscharten hindurch gebrochen. Unter Schutt
Fels gegrabenen Kasematten betrachten. Die dicken Mauern uud allerlei Unrath halb verborgen liegen da noch ein paar
sind durchweg mit Erkern zur Verteidigung und mit Zin- alte Kanonen und venetianische Feldschlangen herum. Nach
neu versehen; türkische Paschas haben dann später für ihre Osten hin steigen die Mauern senkrecht aus dem tiefen Thale
läSs
sWW
Schloß Raymond's de
des Nahr Kadischa auf; die höchsten Terrassen bieten eine
herrliche Aussicht auf das Meer, die Ebene und das Gebirge.
Im Innern haben noch einige Säle, trotz ihrem scheußlichen
Anstrich, den Charakter des zwölften Jahrhunderts bewahrt.
Saint-Giles in Tripoli.
Eine kurze nur dreistündige Fahrt über ruhiges Meer
brachte Lortet uoch am selben Abend nach Beirut, wo seine
Reise durch Syrien ihren eigentlichen Anfang nehmen sollte.
Des Dr. Potagos' Reisen i
E. E. In der Sitzung der Pariser Geographischen Ge-
fellschaft vom 7. Mai stellte sich der Versammlung in der
Person des griechischen Arztes Dr. Panagiotes Potagos
ein Reisender vor, der in den neun Jahren von 1366 bis
1875 Centralasien, in den beiden darauf folgenden Jahren
1876 und 1877 aber Afrika, uud zwar speciell das Land
westlich vom obern Nil, durchforscht hat. Die Ergebnisse
dieser seiner letzten Reise, die uns in einem Separatabdrncke
aus dem Bulletin de la Societe de Geographie vorliegen,
sind sehr überraschender Natur: bestätigen sich die Angaben
des Reisenden, so stehen unseren Karten von Afrika in
Bezug auf die Hydrographie der von ihm durchforschten
Gegenden (des Gebietes zwischen 9° 30' und 3° nördlicher
Breite einerseits, und 44° 30' und etwa 50° östlicher Länge
(Ferro) andererseits) sehr wesentliche Veränderungen be-
vor. Namentlich würde danach das Gebiet des Helle
Gebiete des Nil und Nette.
sich bedeutend anders darstellen, als wir es heute nach
Schweinsurth's uud Miaui's Angaben zu kennen glauben.
Aber wenn wir auch einerseits nicht vergessen dürfen, daß
die Berichte dieser verdienten Männer, die für die Aus-
führung unserer heute gültigen Karten maßgebend gewesen
sind, durchaus nicht immer auf eigener Anschauung beruhen
konnten, sondern in gar vielen Fällen sich lediglich auf die
Aussagen von Eingeborenen und von wenig zuverlässigen
Arabern stützen mußten, daß sie also leicht uoch manche Uuge-
nauigkeit, manchen Jrrthum enthalten mögen: so können
wir andererseits doch nicht umhin, die umwälzenden Hydro-
graphischen Berichtigungen des Dr. Potagos bis auf Weite-
res, d. h. bis zu ihrer Bestätigung durch andere Reisende,
nur mit einem gewissen Vorbehalt aufzunehmen. Wir sind
weit davon entfernt, nur dem Gelehrten mit seinem ja oft
genug hinderlichen Ballast von wissenschaftlichen Justrumeu-
136
Des Dr. Potagos' Reisen im Gebiete des Nil und Uelle.
ten die Fähigkeit zu Forschuugsreisen vindiciren zu wollen:
die Erfahrungen der letzten Jahre haben es zur Genüge
dargethan, und noch jüngst hat wieder einer unserer Lands-
lente, Dr. Pogge, einen neuen praktischen Beweis dafür ge-
liefert, daß auch Männer, die ohne gelehrte Vorbildung
und ohne großartigen wissenschaftlichen Apparat reisen, die
Afrikakunde in der glücklichsten Weise fördern können. So
ist es denn auch weniger das Fehlen zuverlässiger Orts-
bestimmungen und anderer unentbehrlicher Anhaltspunkte, was
uns die Berichtigungen des Dr. Potagos in manchen Punkten
noch beanstanden läßt, als vielmehr ein gewisser Ton per-
sönlicher Gereiztheit, in den derselbe bei den Nachweisen
der Jrrthümer seiner berühmten Vorgänger nur zu oft ver-
fällt und der einen, unser leises Mißtrauen wachrufenden,
Maugel au Objektivität anzeigt. Mehr als einmal em-
pfäugt mau bei den Ausführungen des Dr. Potagos den
Eindruck, als habe man in ihm eine Erscheinung vor sich, die
bisher unter den Afrika-Reifenden selten, wenn auch in allen
anderen Gebieten menschlichen Strebens häufig genug ist: wir
meinen die eines sogenannten „verkannten Genies", das sich
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ja, wie man weiß, selten durch Vorurtheilslosigkeit aus-
zeichnet. Doch dem sei, wie es wolle; auf jeden Fall wird
durch diese Anregung die endgültige Erforschung des Ucjlle-
Gebietes wieder in den Vordergrund der zu lösenden afrika-
nischen Fragen gerückt, und es wird voraussichtlich nicht gar
zu lange Zeit vergehen, bis wir im Klaren darüber sein
werden, in wie weit die Angaben des Dr. Potagos stich-
haltig sind.
Bei beut im Nachstehenden zu gebenden Auszuge aus
dem vorläufigen Berichte des Dr. Potagos werden wir
die hydrographischen Fragen, die derselbe begreiflicherweise
sehr eingehend behandelt, nur iu soweit berühren, als dies
für den Zusammenhang nöthig erscheint, und uns mehr mit
^ v'.
der eigentlichen Schilderung seiner Reise durch das interes-
saute Gebiet beschäftigen. Unsere Leser werden aus der
schlichten Beschreibung, die meistens nichts anderes sein will,
als ein möglichst genaues Jtinerarium, und die nur vor-
übergehend und wie von etwas Selbstverständlichem von den
zahllosen Beschwerden und Mühsalen spricht, mit denen der
europäische Reisende in jenen Gegenden zu kämpfen hat,
leicht erkennen, daß sie es hier mit einem Manne von uu-
gewöhnlicher Energie und großem persönlichen Muthe zu
thuu haben, dem es wohl vorbehalten sein mag, unter gün-
ftigen Verhältnissen der Sache, der er sich einmal gewidmet
hat, noch wichtige Dienste zu leisten.
Am 17. Januar 1876 verließ Potagos Kairo, mit der
Des Dr. Potagos' Reisen i
Absicht, in möglichst kurzer Zeit El Obeid, die Hauptstadt
von Kordofan, zu erreichen, wo er sich einer nach dem
Süden gehenden Karawane anschließen wollte. Aber diese
Absicht erwies sich nur zu bald als unausführbar; schon
in Siut, wohin er aus der Eisenbahn gelangte, sah er sich
zu einem Ausenthalt von vierzehn, in Assuau gar zu einem
von zwanzig Tagen gezwungen, und so kam die Mitte des
Mai heran, ehe er sein Ziel erreicht hatte. In den ersten
Tagen des Monats durchwanderte er mit einer Karawane die
Wüste zwischen Kadschmar und Bara. Der Eintritt der
Regenzeit für diese Gegend stand bevor, und überall waren
die Araber am Wege mit der Aussaat des Getreides beschäf-
tigt; nur an den Stellen, wo die Sandschicht besonders
dünn ist, streuen sie hier den Samen nach europäischer Weise
aus und bedecken ihn nachher, indem sie mit Baumzweigen
über das besäete Feld hinfegen; meistens aber graben sie
tiefere, weite Löcher in den Boden, in die der Samen ge-
worfen wird und die danach wieder zugeschüttet werden.
Ist die Aussaat besorgt, so warten sie in aller Ruhe aus
den Regen, dessen unveränderlich feststehender Eintritt die
öde Sandwüste bald in eine grünende Ebene verwandelt.
Am 13. Mai, als man von El Obeid noch eine Tagereise
entfernt war, fiel hier der erste Regen. Nach einem für
die Ungeduld des Reisenden wenig erfreulichen Aufenthalt
von 18 Tagen in El Obeid hatte die neue Karawane endlich
alle ihre Vorbereitungen beendigt, und so wurde am 1. Juni
die Reise in südwestlicher Richtung angetreten. Bei Abu-
Haraza, etwa 50 km südwestlich von El Obeid, erblickte
Potagos zum ersteumale die tropische Vegetation der afrika-
nischen Wälder. Interessant ist seine Schilderung eines
Uugewitters, von dem die Karawane hier betroffen wurde.-
„Plötzlich zeigte sich uns gegen Norden in weiter Ferne eine
ungeheure dunkle Masse, die bis zum Himmel emporragte
und uns den Horizont verdeckte. War es ein Gebirge?
Ich konnte nicht anders denken, und meine Leute waren
derselben Ansicht. Und doch hatten diejenigen von unseren
Gefährten,' die eine Kenntniß des Landes zu haben behaup-
teteu, noch nie etwas von einem nach jener Gegend hin lie-
genden Gebirge gehört. Indessen vergrößert sich die dunkle
Masse zusehends-, sie erhebt sich und kommt auf uns zu.
Ein anfangs unbedeutender Wind verstärkt sich plötzlich zu
so heftigem Sturme, daß unsere Kameele nur mit größter
Anstrengung sich auf den Beinen erhalten. Bald befinden wir
uns in einer dichten Staubwolke und in vollständiger Fin-
sterniß. Der Wind schlendert uns große Steine an
den Kopf, vor denen wir uns hinter unser Gepäck flüch-
ten. Nach fünf Minuten war die Luft nur noch in der
Ferne verdunkelt; der Sturm ließ nach; von Zeit zu Zeit
nur kam ein heftiger Windstoß, der schwere Regentropfen
brachte. Wir benutzten die eingetretene Ruhe, unser Ge-
Päck, so gut es gehen wollte, zu ordnen und unsere Kameele
abzuladen. Allmälig wurde aus dem vereinzelten Fallen
der schweren Tropfen ein fluthartiger Regen, der den Boden
bald in ein wahres Meer verwandelte, dessen strömende
Wasserwogen ungeheure Baumstämme mit sich fortrissen.
Der Platzregen dauerte 20 Minuten, ein leichter kalter
Staubregen folgte auf ihn, hielt aber nicht lange an. Es
war der erste Regen dieses Jahres in Kordofan, wo die
jährliche Regenzeit durchschnittlich drei Monate dauert. Bei
Hofrat-el-Nahas hat sie eine Dauer von sieben, im
Lande der Njam-Njam eine von neun Monaten, und in der
Aequatorialregion giebt es während des ganzen Jahres keine
vollständig regentose Zeit. So ' haben wir zwischen El
Obeid und dem Aegnator, auf einem Gebiet von dreizehn
Graden, nur zwei durch das gelegentliche Vorkommen von
Regengüssen oder den gänzlichen Regenmangel von einander
Globus xxxviii. Nr. 9.
i Gebiete des Nil und Uelle. 137
unterschiedene Jahreszeiten, deren relative Dauer sich verändert,
je mehr man dem Äquator näher kommt, oder von ihm sich
entfernt."
Am 5. Juli kam man in Sata im Hamkra- Lande
an, das sich durch seinen gänzlichen Mangel an Brunnen
auszeichnet. Im Anfange der trockenen Jahreszeit liefern
die Fnl, kleine Teiche oder Sümpfe, in denen sich noch
einige Zeit nach der Regenperiode Wasser erhält, das für
den Bedarf der Einwohner notwendige. Sind die Fnl auch
ausgetrocknet, fo nimmt man zu den Wasservorräthen seine
Zuflucht, die man während der Regenzeit in ungeheuren,
aus ausgehöhlten Baumstämmen hergestellten Fässern ge-
sammelt hat, und die mehrere Monate hindurch für Meu-
schen und Vieh ausreichen müssen. Diese Fässer, von denen
jede das Land durchziehende Karawane eines mit sich führt,
sind auf der ganzen brunnenlosen Strecke zwischen Abu-Harasa
und Timbun im Gebranch. Sie heißen Debeldieh oder
Ham^ra nach dem hier hauptsächlich gedeihenden Baume
el Ham^ra, aus dessen kolossalem Stamm sie verfertigt
werden. Der Baum, der auch dem Lande seinen Namen
gegeben hat, trägt Früchte, die, beträchtlich größer als
Kokosnüsse, ein säuerliches, breiartiges Fleisch enthalten,
das als erfrischendes Nahrungsmittel hier von großem
Werthe ist.
Von Sata aus führen drei Wege nach Südwesten, die sich
bei Faki-Zarijah in der Provinz der Bagarra-Araber vereini-
gen, wo es zahlreiche Brunnen giebt. Am 9. Juli verließ mau
Sata und zwei Tage darauf befand man sich an der Nord-
feite der Nvmba-Hügel, die niedrig, aber dicht zusammen-
geschoben, wie eine Mauer zur Linkendes Weges emporragten.
Die Araber sprechen von 99 Hügeln, aus denen die Kette
sich zusammensetzen soll; doch darf dieser Angabe keine
Bedeutung beigemessen werden, da gerade 99 die Zahl ist,
die sie mit Vorliebe zur annähernden Bezeichnung jeder
größern Menge von Gegenständen zu gebrauchen pflegen.
Ani 12. Juli erreichte man bei Timbun die Grenze
der Rizegat und Tags darauf befand man sich in Abu
Na'am, der Hauptstadt des Na'am- oder Straußeulandes.
Am 14. in Faki-Zarijah angelangt, hatte man im Osten
die Nomba-Hügelkette, im Westen die Wüste, die sich bis
nach Dar Für ausdehnt, und die während der Regenzeit
von den Rizegat bewohnt wird. Von Faki-Zarijah gehen
zwei Wege nach der Gegend von Schekka; der kürzere, der
um die Nombahügel und durch das Land der Ndschange
direkt nach Süden führt, war damals, wie mit kurzen Unter-
brechungen eigentlich immer, durch die Feindseligkeiten zwischen
den Eingeborenen und den arabischen Sklavenhändlern ver-
sperrt; man mußte sich entschließen, den in der Richtung nach
Südwesten führenden, weiteren, einzuschlagen. Auf dem-
selben kam man am 19. an dem wasserreichen Brunnen von
Mundschilat vorbei, an dem die Führer der Karawane
jedoch keinen Aufenthalt gestatteten, da nach der Meinung
einiger während der Regenzeit an diesem gesürchteten Orte
eine Art kleiner Fliegen sich erzeugt, deren Stiche dem
Vieh unbedingt tödtlich werden. Eine andere Version über
das hier wohl wirklich häufige Fallen der Kameele läßt in
der nassen Jahreszeit gewisse Pflanzen an diesem Brunnen
wachsen, die allen Thieren, mit alleiniger Ausnahme der
Ochsen, schädlich sind. Aus diesem Grunde, heißt es, hielten
die Einwohner desLandes, die „Bagarra", d.h. „Ochsen-
zUchter", kein anderes Vieh als eben nur Rinder.
Nach mehrtägigem von häufigen Regengüssen nnterbro-
chenem Marsche langte man am 23. Juni in Schekka an.
Alle Ful am Wege waren bis zum Rande mit Wasser ge-
füllt; immer wieder begegnete man großen Trupps von
Arabern, die, aus dem Innern kommend, vor der Hitze und
18
138 Des Dr. Potngos' Reisen i
den Stichen der Insekten weiter- nach Norden flüchteten.
Das Land war auch jetzt hier unvergleichlich schön, der Bo-
den mit einer üppigen Vegetation bedeckt, alle Bäume im
Schmucke dichtesten, frischgrünen Laubes. Zahllose Vögel
zeigten sich überall, mannigfache Insekten belebten den Bo-
den. In den Lichtungen des Waldes sah man ganze Her-
den von Wild weiden, auch Ranbthieren begegnete man nicht
selten: es schien eben, als hätte mit dem Eintritt der Regen-
zeit ein allgemeines Zusammenströmen nach dieser begünstig-
ten Region stattgefunden, die sich mit der Rückkehr der
Trockenheit wieder in eine öde, todte Wüste verwandelt.
Am 25. Juni trennte sich Potagos von der Karawane,
die südwärts nach dem Bahr-el-Arab weiter zog, und setzte
mit einigen landeskundigen Arabern, die er als Führer und
Träger gemiethet hatte, seinen Weg nach Kaleka, dem Ge-
biete der Kambanieh-Araber, fort. Immer in südwestlicher
Richtung vorschreitend, ließ man bald die Region des Re-
gcns hinter sich im Norden liegen. Nach zweitägigem an-
gestrengten Marsche an dem See Subito, den Brunnen
el Matari und el Hamid vorbei, und nach einer im dichten
Walde verbrachten Nacht erreichte man am 27. Abends
Poplil, eine Ortschaft der Kambanieh, wo man die Nacht
Uber blieb. Am folgenden Tage ging es weiter durch be-
wohnte Landstriche, deren letzten die Führer Meleggeh nann-
ten. Von hier bis Kaleka führte der anderthalbstündige
Marsch durch ein sumpfiges, von zahlreichen Antilopen be-
völkertes Terrain. Weite, üppige Reisfelder dehnten sich
hier am Wege aus; das Gras der Wiesen war bedeutend
höher, als man es weiter im Norden gesehen hatte; die
Durra, die in der Gegend von Schekka nur eben den Boden
bedeckt hatte, stand hier schon in voller Blüthe.
Der ganze Landstrich zwischen Abu Harasa und Kaleka,
den man nun durchwandert hatte, ist durch große Skorpio-
nen und lästige Insekten aller Art heimgesucht, die dem
Reisenden, der kein Bett mit sich führt, leicht gefährlich
werden können. Eine andere nicht geringere Gefahr bietet
sich ihm in dem Wasser der Fnl, durch dessen Genuß man
sich die entsetzliche Plage des Guineawurmes zuziehen kann.
Südlich von Kaleka sammeln die Eingeborenen als be-
liebtestes Nahrungsmittel die ardha oder Termiten. „In
dieser Gegend," sagt Potagos, „kommen die geflügelten
Termiten nur zu einer bestimmten Zeit im Jahre, im Juni
oder Juli, überhaupt aus dem Erdboden hervor, weiter nach
Süden hin, im Lande der Njam-Njam, aber während des
ganzen Jahres um die Stunde des Sonnenunterganges.
Die Eingeborenen graben vor dem Termitenloche eine kleine
Grnbe, in der sie ein Feuer anzünden; von dem Lichte an-
gezogen, fliegen die Termiten darauf zu, verbrennen sich die
Flügel nnd fallen nieder. Ist das Feuer erloschen, so wer-
den die zahllosen Schlachtopfer gesammelt, mit denen man
häufig große Kisten anfüllt, und die hier wie bei uns die
Korinthen gegessen werden."
Der Scheich von Kaleka erwies sich gegen den Reisenden
ungemein gastfrei; er duldete nicht, daß Potagos auf dem
Kameele, das er von El Obeid bis hierher benutzt hatte, die
Reise fortsetzte, sondern gab ihm statt desselben eine starke
Kameelstute und einen großen Reitstier mit gewaltigem
Höcker auf dem Rücken. Am Morgen des 4. Juli verließ
man Kaleka und nach zweistündigem Marsche kam man an
dem ersten fließenden Wasser an, das man während der gan-
zen fnnfwöchentlichen Wanderung erblickte: es war der Flnß
Ridschilo, der von Norden, aus den Bergen von Maßlat
kommend, sich in den Bahr-el-Arab ergießt. Dem Laufe
dieses Flusses folgend, und nach dem Ueberschreiten des Bahr-
el-Arab dieselbe südsüdöstliche Richtung weiter verfolgend,
gelangt man, nachdem man noch einen größern, von Westen
n Gebiete des Nil und Uslle.
kommenden Strom, den Boro, passirt hat, nach dem Dembo-
Lande Schweinsurth's, von welchem westlich das Land der
Golo und der von Potagos zuerst besuchten Feruge sich hin-
ziehen.
Am 5. Juli kam man nach siebenstündigem Marsch an
einem zweiten ungemein wasserreichen Strome an, dem eben-
falls aus den Bergen von Maßlat kommenden Santjajia.
In dem Berglande von Maßlat zwischen Kaleka und Dara
wohnt ein zu Dar Für gehöriger Stamm, der eine eigene
Sprache besitzt. Nach weiterm Marsche von sieben Stun-
den erreichte man den Bahr-el-Arab, der hier den Namen
Ridschilo el Ma'alem führt. Von dem Marragebirge in
Dar Für kommend, besteht der Bahr-el-Arab zur trocknen
Jahreszeit hier nur aus einer Reihe einzelner kleiner Wasser-
becken, während der Regenzeit aber, die um die Mitte des
Juli beginnt, ist er drei Monate lang schiffbar. Sein Lauf
hat zuerst eine südöstliche, dann eine entschieden östliche Rich-
tuug. Die Araber berichteten Potagos, daß der Fluß nörd-
lich vom Ndschange-Lande einen großen See bilde.
Nachdem man am 7. Ras-el-Fil passirt hatte, kam man
noch am nämlichen Tage in ein bergiges, von den Ndoggo,
einem Dar-Für-Stamme mit eigener Sprache, bewohntes
Gebiet, wo man gegen Abend am Ufer des Ndschogan-Sees
Halt machte. Von Timbnn, wo Potagos zum letztenmal
die Rieseustämme der Hamara- oder Debeltiehbäume gesehen
hatte, bis zu den Ndoggo-Bergen war der Baumwnchs ein im
Wesentlichen gleichartiger geblieben, und hatte, bis auf eine,
von den Eingeborenen äelkb genannte Art, wenig Bemer-
kenswerthes geboten. Der Stamm dieses Baumes ist glatt
wie der der Kokospalme, aber bedeutend stärker und höher.
Seiue Blätter haben mit denen der Dnmpalme (Hyphaene
thebaica Mart.) die größte Ähnlichkeit, doch zeigt sein
Stamm nicht die gabelförniigen Aeste, die für jenen charak-
teristisch sind. Auch die Früchte des Deleb gleichen denen
der Dumpalme, sind aber mindestens drei- bis viermal größer
als jene. Aus dem ausgepreßten Safte derselben wird ein
bierartiges Getränk, ans dem Fleische aber Mehl bereitet.
Am 10. Juli kam man an dem Königsberge an, so ge-
nannt, weil auf ihm der König der Ndoggo seinen Wohnsitz
hat. Er gehört zu einem Gebirgszuge, der von Nordosten
nach Südwesten zu gehen scheint, und vor dem sich eine nie-
drige aber längere Hügelkette in derselben Richtung hinzieht,
an deren Fuß die Flüsse Bulbul und Ada entlang fließen.
Südöstlich von dem Gebiete der Ndoggo befindet sich das
Bergland der Feruge, das durch eine weite Ebene von dem
Abusa-Gebirge getrennt ist. Längs des Bnlbulflnsses führt
ein Weg von dem Ndoggo-Gebiete nach Hofrat-el-Nahas,
dem nächsten Ziele von Potagos' Wanderung; der Reisende
wählte einen kürzern, eben nur zur Regenzeit, wo man kei-
nen Wassermangel zu befürchten hat, zu passirenden Weg,
der dein Laufe des Flusses nicht folgte und durch dichten Wald
führte. Von dem Gipfel eines hohen kegelförmigen Berges,
an dessen Fuß der Weg vorbei lief, hatte Potagos eiuen
weiten Ueberblick über die nach Westen hin liegende Land-
schast. Eine ungeheure Grasebene, die von den Ta'achi-
Arabern bewohnt und die im Norden von dem Marra-
Gebirge begrenzt wird, dehnte sich vor ihm aus. Am sol-
genden Tage kam man an dem linken Ufer des Bnlbnl an,
den Schweinfurth Bahr-el Homr nennt, und als man den
Fluß passirt hatte, befand man sich bald in dem Lande der
Kreki, au den Kupferminen von Hofrat-el-Nahas. Hofra
bedeutet in der Landessprache so viel wie Ausgrabung; Na-
has aber heißt Kupser. Die von hier ausgeführten Kupfer-
erze gehen bis weit in das Innere von Sudan und geben
diesem Orte eine Berühmtheit, deren schon Barth und
Schweinfnrth Erwähnung thnn.
Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
Nach einem viertägigen Aufenthalt in Hofrat-el-Nahas
setzte Potagos seinen Weg, zuerst in südsüdöstlicher Richtung,
fort, um Mofio im Laude der Njamani-Bangwe zu errei-
chen. Er befand sich jetzt iu dem von Schweinfurth Manga
genannten Gebiete, das nach der Annahme jenes Reifenden
auch von einem besondern Stamme bewohnt wird. Potagos
giebt als den richtigen Namen des Landes aberMinga an
uud rechnet seine Einwohner als zu dem großen Stamme
der Kreki gehörig.
Es war ein ansehnlicher Zug, in dem der Reisende
Hofrat-el-Nahäs verließ; die Führer, deren einer das bela-
dene Kameel leitete, gingen voran, Potagos auf dem großen,
den Auca- Buschnegern in Holländisch-Guyana. 139
von dem Scheich von Kaleka ihm geschenkten Stiere folgte.
Aber nicht lange währte es, so stellten sich der Kavalkade
Hindernisse in den Weg; man kam in "ein tiefgelegenes
sumpfiges Terrain, wo der Regen unzählige Pfützen und
Wasserlachen gebildet hatte. Mehrmals sauk das Kameel
bis zum Bauche iu den Schlamm und konnte nur mit groß-
ter Mühe und vereinten Anstrengungen wieder befreit wer-
den. Mau mußte wohl oder übel sich entschließen, diesen
Weg zu verlassen und, dem Rathe eines der intelligenteren
Führer folgend, die Richtung nach Südwesten und den
Schala-Bergen einschlagen.
Eine Reise zu den Auw-Bus«
Nach den Aufzeichnungen von August Kappl
Am andern Morgen machte ich mich in aller Frühe
auf den Weg, und wir kamen an verschiedenen Dörfern
vorüber, welche beinahe insgefammt auf Jnfeln im Tapana-
hont lagen und wovon das Dorf Sali oder Clement!
das bedeutendste war und gegen 150 Einwohner haben
mochte, während die meisten anderen nur klein, aus wem-
gen Hütteu besteheud oder theilweife sogar ganz verfallen
waren. Wir hatten hier keine Wasserfälle und nur sehr
wenige Stromschnellen zu passireu. Gegeu 10 Uhr Vor-
mittags gelangten wir durch eine ganze Jnselflur kleiner
uud größerer Inseln in eine Art natürlichen Kanals, wo
ein Theil des Flusses, dessen rechtes User man nicht sehen
konnte, mit rasender Schnelligkeit in einem sehr tiefen Bett
eingezwängt dahinströmte. Oberhalb dieses Kanals lag
auf dem linken Ufer das Dorf S an snmanglana und einen
Büchsenschuß höher hinauf am rechten Ufer und unmittel-
bar unter den Granhollo-Fällen das Dorf Piket, der
Wohnsitz der ehemaligen Posthouders. Obgleich man mich
hier zu verweilen bat, bis man nach dem üblichen Ceremo-
niell den Gran-man von meiner Ankunft benachrichtigt habe,
so setzte ich es doch durch, daß zwei ältere Neger und ein
Kapitän mich sogleich über den Fall brachten. Das Wasser
stürzt sich hier in einem Halbkreis in drei Fällen, welche
durch zwei große dicht bewaldete Inseln geschieden werden,
kaskadenartig und in einer Längenansdehnnng von ungefähr
einer Viertelwegstunde herab, allem die Wassermenge war
unbedeutend, da wir im Ende der trockenen Jahreszeit
standen. Während der großen Regenzeit muß der Fall einen
herrlichen Anblick darbieten und jede Verbindung mit dem
obern Laude abschneiden.
Der ans der Seite des Dorfes Piket und etwas
oberhalb desselben gelegene Fall stürzt aus einer Höhe
von 15 bis 20 Fnß herab. Wir benutzten jedoch den
Mittlern Fall, und während ich über die Felsen empor-
kletterte, zogen die Indianer und Neger meine und ihre
Corjal nach oben, wobei sie jeden der größeren, manch-
mal zwei bis zehn Fuß hohen Fälle zu umgehen wußten,
was vielleicht drei Viertelstunden Zeit in Anspruch nahm.
Oben angekommen sah ich auf ungemein hohen Felsblöcken
einen großen, etwa zwei Meter hohen Stein mit abgernn-
deten Kanten liegen, als ob er von Riesenhänden dort hin-
auf gesetzt worden wäre, — es war der Gado oder Altar des
Gottes Wiulihede, an welchem wir nun opfern mußten.
negern in Holländisch-Guyana.
, mitgetheilt von Dr. Karl Müller-Mylius»
Ich überließ dieses Geschäft dem Kapitän, welcher etwas von
meinem Dram (Branntwein) nahm und die Felsen be-
sprengte, um dem Gotte zu danken, daß er diesen Blanken,
welcher in keiner bösen Absicht komme, so glücklich über den
Granhollo-Fall heraufgeholfen habe, und um ihn demüthig
zu bitten, daß er ihn auch ebenso wieder hinunter helfe.
Von diesem Standpunkte auf der Höhe des Falles aus
konnte man deutlich wahrnehmen, daß wir uns jetzt min-
destens achtzig Fuß höher befanden als bei Piket, denn ich
schaute über einen Seidenwollbaum hinweg, welcher dort
unten stand und mindestens die genannte Höhe haben
mochte. Bei einiger Vorsicht und unter Benutzung der
eigentümlichen kleinen Kanäle sind derartige Fälle in der
trockenen Jahreszeit weit weniger schwierig zu Passiren, als
man denken sollte; dagegen glaube ich fest, daß es in den
Regenzeiten, wo ich diesen Fall allerdings niemals gesehen
habe, durchaus unmöglich ist, ihn hinauf oder hinab zu be-
fahren. — Uebrigens ist die dortige Gegend ausnehmend
öde und traurig: entwurzelte Bäume, welche während der
Regenzeiten zwischen Felsen stecken geblieben sind, versperren
oft den Weg; selbst der Waldanflug ist klein und spärlich
und der großen Bäume bar, denn das fruchtbare Erdreich
ist durch die Gewalt des Wassers hinweggespült worden.
Wir waren zwar jetzt oberhalb des Falles, kamen aber nun
erst in ein Chaos von Inseln, welche eine stundenlange von
Südwest kommende Bucht ausfüllen, von deren beiden Ufern
nichts zn sehen war, bis man oberhalb der Bucht in die
freie, ruhige Strecke des Flusses kam, welcher hier ohne In-
seln eine Breite von ungefähr tausend Fuß haben mochte.
In der Bucht selbst nun war ein solches Labyrinth von
bewaldeten Inseln und Eilanden, von Riffen, Klippen,
Stromschnellen und Sandbänken, daß ich mich ohne Führer
niemals zurecht gefunden haben würde. Im Zickzack und
nach allen Himmelsrichtungen fahrend, welche ich kaum
mit dem Kompaß nachzuzeichnen vermöchte, gelangten wir
endlich in ein kleines Bassin von nur etwa 150 Fuß Länge
und Breite und befanden uns nun bei dem Dorfe des
Großoberhaupts der Buschneger. Dieses unbedeutende
Dors von kaum 50 Einwohnern hieß- „Drie Tabbetjes"
(drei Inseln), und der Gran-man hatte hier ein hübsches
neuerbautes Haus mit einem hohen Flaggenstocke davor, von
welchem die niederländische Flagge schlaff herunter hing, denn
die arme konnte auf diesem verlorenen Posten in der fernen
18*
140 Dr. Karl Müller-Mylins: Eine Reise zu
Kolonie Semer Niederländischen' Majestät nicht lustig
wehen wie ihre Schwestern auf dem freien Oceane, weil
niemals sich ein kräftiger Windhauch in dieses Felsennest
zu verirren vermöchte, selbst wenn ein Orkan durch die
Waldungen geheult hätte. Ich landete und fand den alten
„Beiman" in seiner Haustracht, nämlich nackt, und im Be-
griff, sich sein Essen zu kochen. Als er nun Miene machte,
in einen Schlafrock zu schlüpfen, bat ich ihn, dies zu unter-
lassen, da ich ebenfalls nicht gesonnen sei, mich in anderer
als meiner gewöhnlichen Toilette zu zeigen, nämlich in
leinenen Beinkleidern und farbigem Hemd, und sich iu seiner
Beschäftigung nicht stören zu lassen. Beiman war ein
Bursche von nahezu achtzig Jahren, ein ganz urechter
Neger, mit allen Untugenden und Fehlern seiner Race:
Grobheit und Beugelhaftigkeit, wo er sich in derUebermacht
sah, feiger Kriecherei und Speichelleckerei, wo er irgend
einer überlegenen Gewalt gegenüber stand, Faulheit und
Unzuverlässigkeit, Lügenhaftigkeit und Betrügerei im Ver-
kehr n. s. w. Ich hatte mit dem Manne schon früher viel-
fach theils geschäftlich bei meinem Holzhandel, theils amtlich
wegen der Verkeilung der Geschenke zu thun gehabt, welche
die niederländische Kolonialregierung nach dem Bertrag von
1760 mit den Buschnegern denselben alle vier Jahre zu
schicken verpflichtet war und die früher auf dem Militär-
Posten Armina und nach defsen Einziehung auf meiner
Station Albina gereicht worden waren. Ich hatte den
Gran-man früher fchon mehrmals aus meinem Hanfe ge-
worfen, wenn er sich dort unangemessen oder grob benom-
inen hatte, und er kannte mich daher sehr gut und wußte,
daß ich mit seinem geringen Einfluß bei feinen untergebenen
Kapitänen bekannt war, denn seine Würde war nur eine
tituläre und scheinbare, nur auf Tradition und Aberglauben
gestützte. Der jeweilige Gran-man wird nämlich nicht ge-
wühlt, sondern die Würde ist nur insofern erblich, als nur
immer der älteste männliche Abkomme von einem gewissen
Mutterstamme diesen erledigten Posten erhält. Bei den
Buschnegern gilt nämlich nicht die Vaterschaft als Grund-
läge der Vererbung, sondern die Mutter bedingt die Erb-
fähigkeit: nur die Söhne, Enkel, Urenkel oder in deren
Ermangelung die Abkömmlinge der Neffen, Großneffen :c.
der sogenannten Gran-mama gelangen zur Grau-mans-
Würde. Die Kapitäne der Bnschneger dagegen gehen aus
einer Ortswahl hervor und werden von der Regierung be-
stätigt uud mit dem Zeichen ihrer Würde, dem Ringkragen
und Kommandostab, belehnt, bei schlechtem Verhalten aber
auch abgesetzt, worein sich die Buschneger dann trotz ihres
Dünkels und trotzigen Gebahrens ergeben.
Während der Gran-man sein Abendbrod kochte-und
mir seine Noth klagte, daß er nicht einmal Fleisch
oder Fisch zu seinem Brei habe, worauf ich ihm ein
Stück Speck aus meinem eigenen Vorrath in den Topf
warf, hatte ich die beste Gelegenheit, mit ihm über
den einen Punkt meiner Sendung zu sprechen, von
dem ich zum Boraus wußte, daß ich auch ohne die
Künste eines Diplomaten vom Fach bei ihm reussireu würde,
— nämlich über den ihm zu gebenden Wink, daß er bei
der Regierung um eine Besoldung für sich nachsuche. Ich
drückte zunächst mein Bedauern uud meine Verwunderung
darüber aus, daß ein Mann von seinem Alter und Rang
nicht einmal Fleisch zu seiner Mahlzeit habe, und meinte,
unsere Regierung könnte ihm wohl etwas zulegen, weil
jeder Bnschneger-Kapitän, wenn er nach der Stadt komme,
immer Salz, Fisch, Mehl, Bier und dergleichen zum Geschenk
erhalte. Da nun der Gouverneur überdies dem Gran-
man persönlich so wohl wolle, würde ich an seiner Stelle
jenem meine Noth klagen, wodurch derselbe sich vielleicht
m Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana.
bestimmen ließe, ihm ein jährliches Gehalt auszusetzen. Es
käme ja — meinte ich — nur auf den Versuch an, und
ich wolle gern das Meinige thun, um bei dem Gouverneur
die Sache in das rechte Licht zu setzen; ob dieser sich be-
wegen lasse, wisse ich begreiflicherweise nicht. Diese Winke
fanden alsbald williges Gehör, und noch am felben Abend
setzte ich im Namen des Gran-man eine Bittschrift der
schwarzen an die weiße Excellenz in neger-englischer
Sprache aus, welche der schwarze Würdenträger unter meiner
Handsührnng mit einem Kreuz unterzeichnete. Hiermit
war der erste Theil meiner Sendnng erledigt, und daß die
zweite zu keinem Resultate führen würde, wußte ich schon
im Voraus.
Während der Gran-man seine untergebenen Häuptlinge
entbieten ließ, auf den 10. November bei ihm zusammen
zu kommen, wo ich dann der Versauunlung den Wuusch der
Regierung wegen der Aufnahme eines Missionärs unter
ihnen vortragen wollte, besuchte ich mit meinen Jndianen
einige der benachbarten Dörfer, in denen überall dieselbe
Armnth herrschte. Selten sah man hier einen tadellos
gesunden Menschen, dagegen Kinder mit Geschwüren bedeckt,
und Erwachsene, denen man die Lepra schon auf zehn
Schritte weit ansehen konnte u. s. w. Kranken, welche am
Fieber oder irgend einem andern Uebel litten uud um
„Drexei" (Mediän) bettelten, begegnete man in jedem
Dorfe; nur die Kranken und Schwachen schienen zu Haus
geblieben, die Gesunden aber in Cottica oder auf den Pflan-
znngen zu sein. Ich fand hier, daß außer den Fetifchhäus-
cheu auch noch gewissen Pflanzen eine Verehrung gezollt
wurde, wenn sie in irgend welcher Beziehung zu den
Fetischen standen. So fiel mir besonders eine große, etwa
drei Fuß hohe Tillandsia aus, welche, über und über mit
Stacheln von drei Zoll Länge bedeckt, neben einem Götzen-
bilde wuchs, dessen Augen aus rothen Bohnen bestanden,
und über welches ein Bogen von rothblühenden Bauhinien
hergezogen war.
Am 10. November wurde dann ohne besondere Vor-
bereitnngen das Palaver abgehalten. Der Gran-man
im Schlafrock, mit silbernem Halsschild oder Ringkragen
und dem Generalshut mit Federn, ich im leichten Nun-
king-Röckchen, die fechs oder acht Kapitäue in ganz
beliebiger Toilette, nur mit den Zeichen ihrer Würde, dem
silbernen Ringkragen und dem Stock, waren in der Hütte
und außerhalb derselben gelagert, wie sie eben Platz fanden.
Ich benachrichtigte jetzt die Versammlung, daß der Gouver-
nenr den Wunsch hege, sie aus dem Zustande von Heiden-
thum zu ziehen, sie zu civilisirten Menschen zu machen,
wodurch sie auch für sich ein angenehmeres Leben gewinnen
und ihre Sitten denen der Weißen ähnlich werden würden;
ich sagte ihnen, daß wenn sie einen Missionär unter sich auf-
zunehmen geneigt seien, dieser in Auca eiue Schule errichten
und ihre Kinder unterrichten werde. — Allein wie schon
häusig vorher, so hatten sie auch diesmal gar keine Lust da--
zu. Sie meinten, der Christengott sei ganz recht für die
Weißen, allein sie halten sich an das, was ihre Mütter
geglaubt haben, und müßten unfehlbar der Rache ihrer
Götter verfallen, wenn sie das Christenthum annähmen.
Ueberdies habe ihre „Gran-mama" (nämlich die Negerin,
aus deren Stamm der Gran-man gewählt wird) das ganze
Land mit einem Fluche belegt, wenn je ihre Nachkommen
sich zum Christenthum bekehren würden. Allein einen
Beamten möchten sie wieder unter sich haben, und der
Gouverneur thue Unrecht, mir zu erlauben, daß ich am
untern Maroni wohne nnd nicht unter ihnen, da ich doch
von ihm bezahlt werde (you njam zoi monin); es gebe
bei ihnen ebenso schöne Schmetterlinge, als am untern
Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
Maroni. Besonders jetzt, seitdem die Franzosen sich auf
dem rechten Ufer des Maroni angesiedelt hätten, wollten sie
einen Beamten haben, da sie den Franzosen nicht trauten.
Sie wollten aber ein- für allemal keinen Missionär, weder
einen protestantischen noch einen katholischen, und hätten zwar
nichts dagegen, wenn ein solcher sie besuche, nur dürfe er
sich nicht schmeicheln, daß man auf seine Lehren hören
werde.
Ich erklärte ihnen jetzt auch lachend, daß es mir für
meinen Theil ganz gleichgültig fei, ob sie Heiden bleiben
oder Christen werden würden, denn mein persönliches In-
teresse bestehe nur darin, von ihnen gutes Holz zu kaufen,
wobei ich den Vorwurf hören mußte, daß ich stets zu wenig
bezahle. Ich sagte ihnen, ich würde den Blanken bewun-
dern, der in einer solchen sacca sacca contre (elenden
Wohnplatz) sein Leben hinbringen würde, sei es als Lehrer
oder Beamter, und daß wenn mir der Gouverneur einen
Hausen Gold so groß wie die Hütte des Grau-mau anbieten
würde, damit ich zehn Jahre bei ihnen wohne, ich dieses
Gold ablehnen würde, denn ein Platz, wie das Dorf des
Gran-mans, so versteckt hinter Felsen, Wasserfällen, Inseln
uud Wald, das ohne Wegweiser gar nicht zu finden sei,
wäre kein Aufenthalt für Europäer.
Das ganze „Gruttu", welches vielleicht eine Stunde
dauerte, war eigentlich nur eine Unterhaltung und lief auf
die ruhigste Weise ab. Nach meiner Ueberzeugung wäre
es der nutzloseste und unsinnigste Schritt, eine Mission
in Anca zu errichten, und eine wahre Geldvergeudung.
Da die gesammte Bevölkerung vielleicht in 30 bis 40
Dörfern zerstreut, wovon manches nur zwei oder drei vou
je Einer Familie bewohnte Hütten enthält, und meist auf
Strominseln wohnt, so wäre der Missionär, wenn er auch
seinen Wohnsitz im größten Dorfe der Aucas nähme, doch
von allen anderen abgefchloffen und könnte seine Tochter-
gemeinden nur im Kahne besuchen, was für einen Europäer eine
schwierige und ermüdende Reiseart ist, abgesehen davon, daß
er nicht jederzeit die erforderlichen Ruderer bekommen kann
oder, wenn ihm dies auch möglich ist, er sie jedenfalls be-
zahlen muß. Die Gärten und Getreidefelder der Busch-
Neger sind auf dem festen Lande zuweilen stundenweit vom
Wohnort entfernt, und die Familien verweilen, namentlich
zur Zeit der Saat und Ernte, oft Monate lang dort,
während ihre heimathlichen Hütten im Dorfe leer stehen
und von Unkraut überwuchert werden. Ein Theil der
männlichen Bevölkerung ist beständig abwesend auf den
Pflanzungen oder am untern Maroni, wo sie sich Jahre
lang aushalten und Holz schlagen, oder macht Reisen zu den
Indianern des Innern, um von ihnen Hunde einzutauschen,
welche sie wieder auf deu Pflanzungen verkaufen, oder geht
zu den Boni-Negern und lebt unter ihnen; — kurzum,
diese Buschneger ziehen ein nnstätes Nomaden- oder vagiren-
des Zigeunerleben einer festen ruhigen Existenz weit vor.
Der Missionär müßte daher so zu sagen ein Reiseprediger und
beständig unterwegs sein und seine Pfarrkinder in ihren
zeitweiligen Wohnsitzen aufsuchen, denn diese kämen gewiß
nicht zu ihm. Vielleicht fände er einige Zöglinge, welche
er im Lesen und Schreiben unterrichten und durch welche
er für die Zukunft wirken könnte, allein selbst dies ist uu-
sicher. Mehr Vertrauen und einen paratern Wirkungskreis
unter den Buschnegern würde ein Arzt finden, welcher den-
selben bei ihren mannigfaltigen Krankheiten und Gebrechen
helfen könnte; allein wo würde sich jemand hierzu finden
lassen? Würden die Buschneger einwilligen, ihre so nnzu-
gängliche Heimath am Tapanahoni mit Wohnplätzen auf
dem so fruchtbaren Lande unterhalb Armina zu vertauschen,
dm Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana. 141
dann wäre es angezeigt, durch Missionäre für ihre geist-
liche und leibliche Wohlfahrt zu sorgen und sie auf diese
Weise allmälig einer Civilisation entgegen zu führen, deren
erste Grundlage in nützlicher und dauernder Befchäftiguug zu-
nächst mit Landbau bestehen muß. Haben sie auf ihren
Hang zum Nomadenleben verzichtet, können sie durch An-
Pflanzung und vortheilhafte Verwerthung irgend eines Pro-
duktes an eiue behagliche, seßhafte Lebensweise gewöhnt
werden, dann kann auch das Christenthum unter ihnen
Wurzel schlagen; aber auf eine andere Weise schwerlich.
Was die mährischen Brüder unter zwei anderen, der Stadt
viel näher gelegenen Stämmen seither auszurichten ver-
mocht haben, ist von geringer Bedeutung, obwohl die Sara-
macca- und Bekon-Mnsinga-Neger bei weitem nicht solche
Vagabunden sind, wie die Aucas.
Am 11. November verließ ich den Gran-man, übernachtete
auf Manbobli und laugte am andern Mittag im Dorfe der
Poligudn an, von wo ich noch am nämlichen Tage einen klei-
nen Abstecher nach der Lawa machte. Dieser aus Osten kom-
mende Fluß scheint kleiner zu sein, als der Tapanahoni; eine
große Insel, welche man für festes Land halten könnte, liegt
anl Falle, und mehrere kleine am linken Ufer. In der Nähe
des Falles sind noch einige Stromschnellen, aber außerdem
ist der Fluß ohne Felsen und strömt ruhig dahin, so
daß wir nach einer kleinen Stunde das südliche Ende der
Insel erreicht hatten und uns nun in einem schönen breiten
Fahrwasser befanden, wo der Fluß genau aus Süden kam
uud die doppelte Breite des Tapanahoni hatte. Trotz der
paar Inseln, welche in demselben lagen, hatte man doch
eine Fernsicht von etwa zwei Wegstunden. Der östliche
Arm, welcher um dieJusel floß, war noch viel breiter, als
der westliche, und floß ruhig gen Nordwest. Da meine
Indianer denselben noch nicht kannten, so trieb mich die
Neugier, auch diesen Arm zu untersuchen, und wir trieben
eine halbe Stunde ruhig in glattem Fahrwasser dahin, ge-
riethen dann aber plötzlich unter eine Anzahl Eilande und
Felsen hinein, zwischen denen Fälle von drei bis sechs Fuß
Höhe tosten, welche den weit beträchtlichem Fall der Lawa
bilden, deren Gewässer unterhalb Poligudu in den Maroni
münden, aber nicht so deutlich bemerkbar sind, weil sie durch
Felseninseln verdeckt werden. Es war beinahe sechs Uhr-
Abends, als wir dieses Felsenlabyrinth erreichten, und hätten
wir auch über diese Fälle herunter zu kommen vermocht, so
hätten wir doch den Singadede und Poligudu bei Nacht
nicht passtreu können. Wir kehrten daher um und wählten
unser Nachtlager auf dem Südende der Inseln. Am 13.
November verließen wir Poligudu. Der Gran-man hatte
drei erfahrene Neger geschickt, um mich über die Singadede-
uud Manbari-Fälle hinunter zu bringen. Ich trug Beden-
ken, bei dem ersten, welcher über eine Höhe von ungefähr
acht oder ueuu Fuß in einem Winkel von 30° herunter-
braust , im Boot zu bleiben, und wollte lieber über
die Felsen bis zum Fuß des Wasserfalls hinabklettern;
allein die Neger versicherten mich, daß gar keine Gefahr
dabei sei, und so blieb ich sitzen, kann aber uicht behaupten,
daß mir sehr behaglich zu Muthe war, als wir aus dem
Scheitel des Falles trieben und ich neben und unter mir nur
tosendes Wasser und Stromschnellen sah und im brausenden
Schwall pfeilschnell hinunter fuhr. Einer der Buschneger
uud Aisacumauali waren am Steuer, eiu anderer und
Bamn saßen im Bug, der eine den rechten, der andere den
linken Fuß in Bereitschaft, um, falls wir gegen den Felsen
gedrängt wurden, sogleich durch einen Stoß mit dem Fuß
die Corjal ins richtige Fahrwasser bringen zu können.
Wir glitten aber ohne allen Unfall hinab und gelangten
schnell in ruhiges Wasser. Nun hatten wir noch den
142 Dr. Karl Müller-Mylius: Eine Reise zu
Manbari^) zu Yassiren, wo das Wasser beinahe senkrecht
herunter steigt. Bei diesem aber vertraute ich mich nicht
dem Kahne an, sondern kletterte an den Felsen herunter
und setzte mich erst unten wieder in die Corjal. Hier ver-
ließen mich die Buschneger: Bokko der Aeltere, und ein
Bursche von etwa zwanzig Jahren, welchen ich Biggi
Mosso, Großmaul, getauft hatte. Biggi Mosso lachte
nämlich immer und hatte einen Mund wie ein Haifisch-
rächen voll wunderschöner Zähne. Ich beschenkte sie mit
Speck und gesalzenen Fischen. Jetzt war ich wieder mit
meinen Indianern allein und schlief auf der mit weißen
Passifloren bekränzten Insel. Am andern Morgen aber
fühlte ich mich matt und unwohl, und heftiger Kopfschmerz
peinigte mich um so mehr, als das kleine Zeltdach meines
Kahns mir nur dürftigen Schutz gegen die Sonnenstrahlen
gewährte; todtmüde und krank traf ich am Abend auf dem
Eilande Auofo ein. Alles was ich aß, mußte ich äugen-
blicklich wieder erbrechen, und als wir am Morgen weiter-
fuhren, konnte ich nicht mehr sitzen, sondern mußte mich an
den Boden des Kahns legen, gegen die Sonne geschützt
durch das Zeltdach, welches ich abgenommen und über
meinen Kops gelegt hatte, um nur nicht direkt den glühen-
den Sonnenstrahlen ausgesetzt zu sein. So erreichten wir
denn schon bei Dunkel den Switti Cassabe Tobbetje unterhalb
des Falles von Armina, wo wir einige Stunden schliefen, und
trafen am 16. November um Mittag wieder auf Albina ein.
Kaum war ich daher wieder im Kreise der Meinigen,
so befiel mich ein Gallensieber, bei welchem ich fechsund-
dreißig Stunden lang bewußtlos lag. Als der erste An-
fall etwas nachgelassen hatte und ich wieder zum Bewußt-
sein kam, sah ich den Pöre Jardinier und den Arzt aus
Saint-Laurent2) bei mir im Zimmer. Ich war so schwach,
daß ich kaum zu reden vermochte. Der Doktor, ein ganz
junger Mann, reichte mir ein Glas, worin mindestens zehn
Gran Chinin sich befanden, welche ich einnehmen sollte.
Da ich noch niemals eine so große Dosis hatte einem
Kranken reichen sehen, so weigerte ich mich, dieselbe auf cht*
mal zu schlucken; aber der junge Arzt versicherte mich, daß
nur dies mir helfen könne, weil ich, falls ein zweiter Fieber-
anfall sich einstellte, wahrscheinlich verloren sein würde.
So schluckte ich denn die ganze Portion, mit Wasser und
einigen Tropfen Citronenfaft vermengt, hinunter, und die
einzige Folge war ein furchtbares Ohrensausen; aber das
Fieber kam nicht wieder, und schon am dritten Tage dar-
nach zeichnete ich meine Karte, welche ich dem Rapport an
den Gouverneur beilegte. Diese Karte hatte ich, von Armina
aus, auf dieser vierzehutä'gigeu Reise bloß nach Kompaß
und Taschenuhr entworfen, und sie blieb bis zum Jahre
1362, wo die Topographen im Auftrage der Regierung
den Strom regelrecht ausnahmen, ohne Zweifel die beste,
welche vom Maroni existirte, und in ihren Kontouren ebenso
genau und ausführlich, wie jene der Kommission, welche
mit ihren größeren Booten die verschiedenen Passagen nicht
]) Manbari bedeutet wörtlich: „die Männer haben geschrieen."
Als nämlich die desertirenden Negersoldaten, verfolgt von den
Blanken-Soldaten, sich am Maroni einen sichern Zufluchtsort
suchten, gelangten sie auf ihren Zügen auch an diesen Fall,
welcher durch seine Höhe und Größe ihnen so imponirte, daß
sie „schrieen". Singadede bedeutet Seile aus Singra (Brome-
lia Pinguin), deren man bedarf, um die Boote über den Fall
zu schleppen. Pedrosungo bedeutet einen Wasserfall, in welchem
ein Neger Pedro Kahn und Leben verlor; Bonidoro die
Stromschnellen, wo der berüchtigte Häuptling Boni einen zeit-
weiligen Zufluchsort fand.
2) Saint-Laurent ist die Strafkolonie, welche die Franzosen
auf dem östlichen, rechten, Ufer des Maroni (des Grenzflusses
zwischen Holländisch- und Französisch-Guyana) gegenüber von
dem Posten Albina angelegt haben.
den Auca-Buschnegern in Holländisch-Guyana.
so befahren konnten, wie ich in meiner Corjal gethan hatte,
während die geographischen Längen- und Breitengrade auf
der Karte der Topographen mittels astronomischer Beobach-
tnngen genau bestimmt siud, was natürlich bei meiner
Kartenskizze nicht der Fall sein konnte. — Nach wenigen
Tagen hatte ich wieder meine volle Gesundheit erlangt.
Kurze Zeit nach der Heimkehr von dieser Reise erhielt
ich einen Besuch von dem katholischen Priester New aus
Maua, einem Elsässer, welcher auch in echt elsässischein
Dialekte Deutsch sprach. Dieser trug sich unter Erlanbniß
des Bischofs in Cayenne mit der Absicht, das Christenthmn
unter den Buschnegern zu verkünden. Ein kleines Boot,
worin sich außer Herrn New's Kleidern nichts befand als
ein großer Pagal (Korb) mit Conac (Tapioea) und gesalzenen
Fischen, trug ein kleines Zeltdach, unter welchem der eifrige
Missionär nicht viel bequemer saß, als ich in meiner Corjal.
Obwohl er kein Wort Neger-Englisch verstand, in welcher
Sprache er doch mit den Buschnegern verkehren mußte,
war er doch voll Begeisteruug für sein Vorhaben, schien die
Unbekanntschast mit bem Neger - Englisch nur als eine
Nebensache zu betrachten, und rechnete unverkennbar bei
seinem schwierigen Unternehmen auf einen übernatürlichen
Beistand. Ich suchte ihm, da er mich um Rath und Be-
lehrung anging, sein Vorhaben anfangs auszureden, aber er-
ließ sich nicht entmuthigen, und um ihn nicht ganz auf die
allfällige höhere Eingebung anzuweisen, erbot ich mich, ihm
ein Neues Testament in Neger-Englisch und ein Wörter-
buch dieser Sprache zu leihen, was er auch annahm. Nach-
dem ich ihm dann noch alle erforderlichen Anweisungen und
Rathschläge für seine projektive Reise gegeben hatte, rieth
ich schließlich nochmals ganz offen ab, da er ebenso wenig
ausrichten würde als ich; allein New nahm keinen Rath
an, sondern vertraute auf Gott und feine gute Sache.
Bei den Buschnegern angekommen, schickte er sogleich seine
eigenen Neger zurück und blieb ganz allein in dem ersten
Dorfe Gnidappn, wo er damit begann, daß er Französisch
predigte und die betreffenden Bibeltexte aus dem ueger-eng-
tischen Evaugelium vorlas. Inzwischen lebte er von feinen
Stockfischen und seinem übrigen mitgebrachten Proviant,
bis der Gran-man, welchen dieser wunderliche Heilige in
Unruhe versetzte, ihn wohl oder übel nach Saint-Laurent
zurückbringen ließ. In seinem Rapport an den Bischos
Monseignenr Dossat (welcher mir später durch den sranzö-
sischen Arzt .in Mana mitgetheilt wurde) hat Herr New
dann später den Mißerfolg seiner Reise mir, dem „prote-
stant enrage", zur Last gelegt, wogegen ich mich wieder
beim Bischof schriftlich verwahrte.
Diese mißlungene kirchliche Expedition lieferte reich-
lichen Stoff zur Erheiterung der spottlustigen Offiziere
von Saint-Laurent, welchen an diesem so abgelegenen
Orte jeder noch so unbedeutende Gegenstand oder Bor-
fall zur Unterhaltung und Belustigung diente. Er beweist
aber auch, was für aufopfernde und eifrige Streiter die
römische Kirche unter ihren Dienern zählt. Ich fah viele
Jahre später eben denselben New, obwohl er gerade vom
heftigsten Fieber befallen war, bei anhaltenden Regenschauern
im offenen Boot von Saint-Laurent abfahren, um nur
ja am Sonntagmorgen das Hochamt in Mana halten zu
können; er ward später behufs der Genesung nach Europa
geschickt, starb aber schon in Martinique. Ebenso sah ich
später in der Kirche zu Saint-Laurent eine Messe celebrirt
durch den Priester L. Arat (S. I.), welcher die Schwind-
sncht im höchsten Grade hatte, so daß man seine Stimme
kaum mehr vernehmen konnte und er nach Beendigung der
Messe am Altar kraftlos zusammenbrach und ins Hospital
gebracht werden mußte. Auch er starb wenige Wochen
Aus allen
später in Cayenne. — Ein anderer Priester, Peter Krämer
(S. I.). ebenfalls ein geborener Elsäfser, verbrachte, nach-
dem er die Busch- und Boni-Neger besucht hatte, zwei
Monate bei den Paramacca-Negern; allein auch er schien
wenig ausgerichtet zu haben und kehrte abgezehrt und sieber-
krank nach seiner Diöcese Mana zurück. Alle diese Reisen
waren jedoch ebenso vergeblich wie die meinige, bei welcher
auch ich pflichtschuldigst die übernommenen Aufträge voll-
zog, wenn anch nicht mit dem Eifer und der Energie jener
Priester, und ohne mich in ascetischer Strenge nur aus den
Genuß von Couac und Stockfisch beschränkt zu haben.
Vielmehr wählte ich mir im Gegentheil von dem Wild und
den Fischen, welche die Indianer schössen, stets die besten
Erdtheilen. 143
Stücke für mich aus, bereitete sie mit Butter und Zwiebeln
schmackhaft zu und verrichtete meistens das Tischgebet, wel-
ches bei den Katholiken mit dem Zeichen des Kreuzes, bei
den mährischen Brüdern mit Gesängen und Bibellescn
angefangen und beendigt wird. Die holländische Kolonial-
regiernng verzichtete nun darauf, die Bufchneger zur Auf-
nähme eines Missionärs zu bewegen und kümmerte sich
nicht weiter darum, auf welche Weife dieselben zu ihrer
Seligkeit gelangen wollten. Unter den Becon-Negern hatten
sich zwar einige durch die mährischen Brüder zum Christen-
thum bekehren und dann nach Anca schicken lassen, um auch
ihre Stammesgenossen zu bekehren; allem selbst diese mußten
unverrichteter Sache zurückkehren.
Aus allen
Europa.
— Den „Mosk. Wjed." zufolge war die Expedition
zur Untersuchung der nordischen Meere am 5. (17.)
Juni in Snmski po fad. Von hier ging die Murmanische
Sektion theils über Archangelsk an die Murmanische
Küste, theils über den Golf von Kandalakfcha nach Kola.
Die Sektion für das Weiße Meer arbeitet ebenfalls an
zwei Punkten: beim Solowetzki-Kloster und am west-
lichen Ufer des Weißen Meeres. Einer weitern Mittheilung
des „Krönst. Wjestn." nach hat die Expedition bis jetzt die
meiste Ausbeute für die Flora und Fauna des Weißen
Meeres in Sumy und Kem gefunden. Am 25. Juni
(7. Juli) kam die Expedition im Solowetzki-Kloster an,
dessen Archimandrit, Miletij, ihr alle mögliche Unterstützung
zusagte. Das Kloster übt anch in wirtschaftlicher Bezie-
hung großen Einfluß auf die Strandbewohner ans; jede
nützliche Neuerung faßt in der Bevölkerung schnell Wurzel,
wenn die Leute sie in der Wirtschaft des Klosters beobach-
ten können. So hat Dank der Mitwirkung desselben sich
auch die jetzige Art der Zubereitung der Fische für den Win-
tervorrath verbreitet.
Nachdem im Jahre 1879 die Poststraße Powjenez-Snms-
koi (vergl. „Globus" Band XXXVI, S. 367) und die tele-
graphische Verbindung auf derselben vollendet worden, hat
der Handelsverkehr vom Weißen Meere nach dem Onega-
See sich derart entwickelt und sind auch die Wallfahrten aus
den Gouvernements Petersburg, Nowgorod und Olonetz
nach dem vorgenannten Kloster so zahlreich geworden, daß
nach den Olon. Gnb. Wjed. vom Jahre 1881 ab ein Dampf-
schiffverkehr zwischen Snmskoi und der Insel Solowetzki ein-
gerichtet werden soll.
— Die letzte Volkszählung in Griechenland
im Jahre 1379 (vergl.- „Globus" XXXVI, S. 256) weist
eine außerordentliche Vermehrung der Bevölkerung einzelner
Städte auf. So ist die Zahl der Einwohner von Athen
von 48107 im Jahre 1870 auf 68 677 im Jahre 1879 ge-
wachsen, die des Piräus von 11047 auf 21618, die von
Patras von 26190 auf 34 227. Eine mäßigere Zunahme
zeigt sich in Korinth von 6047 auf 7575, in Sparta von
10686 auf 12 007 und in Theben von 5273 auf 6022. Er-
gasten« (Laurion), welches noch 1876 nur 3800 Einwohner
zählte, hat heute 6500; vor 14 Jahren stand hier nur eine
elende Hütte. Dieses Anwachsen ist durch die französische
Lanrion-Minen-Kompagnie bewirkt, welche die antiken
Schlackenhalden ausbeutet. Der englische Konsul im Piräus
giebt dem Bedauern Ausdruck, daß die alten englischen
Handelshäuser der Levante fast verschwunden sind,
E r d t h e i l e n.
und daß ihre Stellen jetzt Griechen, Italiener, Franzosen
und Deutsche einnehmen, welche durch Sparsamkeit Vermö-
gen erwerben, wo Engländer nicht komfortabel leben können.
(A. Z.)
— Wie der „Allgemeinen Zeitung" aus Athen ge-
schrieben wird, hat die griechische Regierung die Trocken-
legung des Kopais-Sees einem Konsortium von fran-
zösischen und griechischen Banquiers, an deren Spitze der
Athener Büros steht, unter sehr günstigen Bedingungen
übertragen. Die Unternehmer sind verpflichtet, nicht nur
ein Drittel des trocken zu legenden Landes in sogenannte hohe
Kultur zu uehmen, sondern anch Mustersarmen und Gestüte
daselbst zu errichten. Griechenland gewinnt durch diese Ent-
Wässerung nicht allein viel fruchtbares Land, sondern, was
die Hauptsache ist, Böotien wird dadurch von der Fieber-
plage befreit, welche die Bewohner zu Hunderten, ja Tau-
senden fortraffte. (Vergl. über den Kopais-See und die Frage
seiner Trockenlegung „Globus" XXXII, S. 35 ff. und XXXIII,
S. 336.)
— In einer Besprechung des von Sathas heransgege-
benen ersten Bandes der „Documenta inedits relatifs k l'hi-
stoire de la Grece au moyen äge" (Paris 1880) giebt @11--
stav Meyer (Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Mittwoch
23. Juni 1880) nach jenem griechischen Autor einige Erklä-
rungen geographischer Namen Griechenlands, die
von allgemeinem Interesse sind, und die wir hier reprodu-
ciren. „An der Stelle des alten Pylos steht heute das durch
den Seesieg über die Türken berühmt gewordene Navarin,
beim Volke immer im Plural ol Naßaqlvov. In der Chronik
von Morea heißt die Stadt Avarmos, und darauf hin hatte sie
Fallmerayer („Geschichte der Halbinsel Morea" I, 307) flugs
zu einer Avaren-Gründung gemacht. Aber die heutige Form
mit ii ist doch die ursprüngliche und richtige; der Ort ist
von den Navarresern benannt, die bis ins 15. Jahrhundert
von dort bis nach Kalamata Besitzungen hatten; ein zweiter
Name, den er in venetianischen Urkunden trägt, läßt darüber
keinen Zweifel: Spanochori, d. i. Ort der Spanier (Sathas
S. XXIX)."
Ferner zeigt Sathas (S. XXIX), daß der alte Name des
Hauptflusses vou Elis, Alpheios, und der heutige, Rufias,
identisch sind; aus Urkunden und Hafenbüchern ergeben sich
die Zwischenstufen Alfeas, Arfeas, Orfeas, Orsias und dar-
aus endlich Rosias, Rnsias. In der Umstellung der r und
o erkennt G. Meyer slavifchen Einfluß, da eine solche im
alten wie im modernen Griechisch ganz unbekannt ist. Im
Slavifchen ist sie dagegen etwas ganz Gewöhnliches, ja Gesetz-
mäßiges: der Flußname Albis, Elbe, ist im Slavifchen zu
Labe, Labi geworden, der Almus in Bulgarien zum Lom,
144 Aus allen
die istrische Arsia zur Rasch a; unserm. deutschen Wort „Ar-
beit" entspricht das altslo venische i-adots. als urverwandtes,
das lateinische aroa ist als raka(Grab, Bahre) ins Slavische
übergegangen.
Endlich giebt der griechische Gelehrte eine neue Erklä-
rung des Namens Morea, welchen die Poloponnes bekannt-
lich seit dem Mittelalter tragt. Man hat denselben abgeleitet
vom Maulbeerbaum (griechisch , lateinisch morus),
weil der Baum auf der Halbinsel häufig ist, oder weil letz-
tere die Gestalt eines Maulbeerblattes habe. Fallmerayer
leitete ihn vom slavischen morje = Meer her, seine Gegner
von cP(D[xed(i (Romaer Bezeichnung für die byzantinischen
Griechen). Nun lautet der Name in der metrischen Chronik
o MoQcdug im heutigen Volksmunde Morjäs oder Mnrjas.
Im Alterthume wie im Mittelalter aber wurde der Name
der Hauptstadt eines Staates oder einer Landschaft leicht
für diese selbst gebraucht, z. B. Arta für das Despotat von
Akarnanien und Aetolien, Patra für das Despotat von
Thessalien, Livadia für Mittelgriechenland u. s. f., und uoch
heute nennt das Volk die Departements nach ihren wichtig-
sten Ortschaften. Nun bezeichnete man unter der französi-
schen Herrschaft mit Morea speciell Elis, und erst im 15.
Jahrhunderte, als die Fürsten dieses engern Morea in Wahr-
heit die Herren der ganzen Peloponnes waren, wurde der
Name auf diese letztere selbst übertragen. Von Elis also ist
die Bezeichnung ausgegangen, und dort hat auch Sathas
die namengebende Stadt Morjas gefunden, heute nur eine
Fischerei, Mnria mit Namen, zwischen Katakolon und
Olena, welche in jener Chronik und auch sonst erwähnt wird.
Diese mittelalterliche Stadt Morea will Sathas wieder er-
kennen in der von Xenophon und Diodor „Margana",
von Strabon „Margala", von Stephanns Byzantinns „Mar-
gäa" genannten elischen Ortschaft des Alterthums, deren
genaue Lage freilich nicht zn bestimmen ist.
Asien.
— Wie die „Semipalat. Oblast. Wjed." mittheilen, ist
Ende Juni a. St. Herr E.P.Michaelis auf einem Segel-
boote den Jrtysch aufwärts von Semipalatinsk abgereist,
um die Untersuchung desJrtysch-Laufes fortzusetzen,
die er der ungünstigen Witterung wegen im Jahre 1379
nnr bis Ust-Kamenogorsk hatte ausführen können.
— Nach den „Jenis. Gub. Wjed." waren 1879 in den
Goldminen des Gouvernements Jeniseisk beschäftigt
16 454 Manu, 657 mehr als 1879; gewonnen wurden in
361 Gruben 400 Pud 34 Pfd. 92 Zol. 46 Dol. — 6566,7 kg,
um 42 Pud 9 Pfd. 31 Zol. 46 Dol. weniger als im Jahre
1873. Von den Gruben liegen 256 im Kreise Jeniseisk,
32 in dem von Atschinsk, 33 in dem von Minnsinsk, 29 im
Birjnsa - Gebiet in den Kreisen Kamsk und Nishueudinsk,
und 6 im Kreise Krasnojarsk.
— Am 2. Juli hat M. de Ujsalvy seine zweite Expe-
dition nach Türk est an von Paris aus angetreten. Er
gedenkt Taschkend gegen Ende September zu erreichen und
in Samarkaud den Winter über zu bleiben, dann im Früh-
jähr 1881 das obere Thal des Zerafschan, Karategin, Schig-
nan, Wachau, Badachschan und Afghanistan zn bereifen, in
Balch, dem antiken Baktra, Ausgrabungen zu veranstalten
und dauu, wenn es die Umstände gestatten, über Persien
und den Kaukasus zurückzukehren. Ihn begleitet als natur-
wissenschaftlicher Sammler M. Bonvallot und als Botaniker
und Geologe Dr. Capns, dessen Reisekosten der wohlbekannte
Maecen der Wissenschaften, M. Bischoffsheim auf sich genom-
men hat.
Erdtheilen.
— Dr. Knipping berichtet brieflich an die Redaktion
von Petermann's Mittheilungen (s. den Monatsbericht des
Heft VIII) über den Waarenverkehr in Gensanshin,
dem neulich den Japanern eröffneten Hasen in Korea, wie
folgt i Hauptartikel sind Baumwolle, baumwollene Stoffe,
Hanf und Hanfkleider, Tabak, Tabakpfeifen und andere
Rauchapparate, Birnen, Kastanien, Persimonpflanmen, Dat-
teltt, Salz, Seegras, Laternen, getrockneter Fisch :c. Diese
Waaren kommen hauptsächlich aus Tokugeu-fu, Buusen-ken
und Auheu-fn in Korea; Brennholz findet man in Menge,
dagegen ist Reis selten. Die Eingeborenen leben Vorzugs-
weise von Hirse, Weizen, Bohnen :c., aber sie essen auch Rind-
fleisch, Schweinefleisch, Wild, Hunde zc. sowie Sardinen.
Gemüse sieht man wenig. Baumwolle und daraus gefertigte
Gewebe kommen von Zenra-do und Keisho-do; Salz, Boh-
nen, Seegras und getrockneter Fisch von Kankiyo-do. Gold-
staub wird von Znisen, Sansni und Kozan gebracht, auch
producirt Zuisen Silber. Die Tiger- und Leopardenfelle
stammen aus Sausui und Kozan. Die hauptsächlichsten Hand-
werker sind Schmiede, Zimmerleute. Schuhmacher. Die Stra-
ßeu befinden sich in schlechtem Zustand, zahlreiche Schweine,
Ochsen und Kühe treiben sich in der Stadt umher und die
Häuser sind-schmutzig. Gensanshin ist der Haupthafen von
Kankiyo-do. Zwischen Gensanshin und Uokohama ist am
10. April 1330 eine zweimonatliche Postdampferlinie eröffnet
worden.
Afrika.
— Graf de Semells, welcher im Jahre 1878 in Ge-
sellschast von A. Bnrdo eine Reise ans dem Niger und un-
tern Benus ausführte, aber wegen finanzieller Schwierig-
keiten unterbrach, hat, wie Dr. Behm in seinem letzten
Monatsbericht Mittheilungen 1880, Heft VIII) mittheilt, sei-
nen alten Plan wieder aufgenommen, seitdem er durch Ver-
heirathuug in günstige Verhältnisse gekommen ist. Er be-
findet sich seit April dieses Jahres nach dem Benuö unter-
wegs in einem eigens zu diesem Zwecke erbauten Dampfer,
den er „Adamana" getauft hat. Gegen Ende Mai hielt er
sich einige Tage in Freetown in Sierra Leone auf.
— Andrea Fraccaroli, dessen Reise in Darfnr auf
S. 94 erwähnt wurde, ist, wie der Mailänder „Esploratore"
meldet, in Chartnm, gerade als er nach dem Bahr-el-Gha-
zal aufbrechen wollte, einem bösartigen Fieber erlegen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Der bekannte russische Reisende Miklucho Mac-
lay ist Ende Mai dieses Jahres von Neu-Guinea, wo
er 3y2 Jahre zugebracht hat, in Cooktown, an der Mün-
dnng des Endeavour - Flusses an der Küste des nördlichen
Queensland, eingetroffen. Er wird, sobald er nach Ruß-
laud zurückgekehrt ist, ein ausführliches Werk über Neu-
Guinea veröffentlichen. Maclay lebte Monate lang unter
dortigen Eingeborenen, welche der Kulturstufe nach noch dem
Steinzeitalter angehörten und nie zuvor Europäer gesehen
hatten. Anfänglich mißtrauisch und auch lästig, faßten sie doch
bald Zutrauen zu dem Fremden und wurden freundlich und
gütig. An Lebensmitteln fehlte es dem Reisenden öfters.
Zu gewissen Zeiten war animalische Nahrung sehr schwer zu
haben, und zu anderen hatte bte Sonne den Boden so aus-
gedörrt, daß alle uud jede Vegetation abgestorben war.
Maclay fand nur sehr geringe Spuren Gold und er ist der
Ansicht, daß sich auf Neu-Guiuea kein lohnendes Goldfeld
wird entdecken lassen. Der Reisende beabsichtigt, sich nach
einem knrzen Aufenthalte in Sydney zunächst nach Japan
zu begeben und von da dann nach Rußland zurückzukehren.
Inhalt: Das heutige Syrien. III. (Mit sieben Abbildungen.) — Des Dr. Potagos' Reisen im Gebiete des Nil
nnd Helte. I. (Mit einer Karte.) — Dr. Karl Müller-Mylins: Eine Reise zu den Anca-Buschnegern in Holländisch-
Gnyana. II. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. — (Schluß
der Redaction 3. August 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Svhn in Braunschweig.
■A&fö ffac^er- Ulr(l)
Band XXXVIII.
m
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*a
Jß 10.
Mit besonderer HerücKsicKtiZung der AntKroyologie unä Etknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
co Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i qqa
Braunschweig ,um P-°ij- 12 W°-I xr- Band >u b-iichm. I8»u.
Das heuti
(Nach dem Französis
Beirut, das Berytus der Alten, hat wie die meisten
syrischen Städte eine wechselvolle Geschichte. Seine Grün-
dung soll es den Giblitern, einem neben den Phöniciern
wohnhaft gewesenen Bergvolke, verdanken; doch scheint es
weder zur Blüthezeit Phöniciens noch auch zur Zeit der Er-
oberung Syriens durch Alexander hervorragende Bedeutung
gehabt zu haben. Erst im zweiten Jahrhundert v. Chr.
sehen wir Berytus in selbständigem Austreten.- die Stadt
empört sich im Jahre 140 gegen Antiochus VII. und wird
von demselben zerstört. Später von den Römern wieder
ausgebaut und dem Augustus zu Ehren Angusta Felix be-
nannt, wurde sie von dem römerfreundlichen Herodes Agrippa
durch großartige Bauten verschönert und gelangte bald zu
hoher Blüthe. Es ist bekannt, daß Titus nach der Zer-
störung von Jerusalem in den großen Theatern von Bery-
tus die Schlachtspiele veranstaltete, in denen die gefangenen
Inden gegen einander kämpfen mußten. Unter der Regie-
rnug des Alexander Severus (222 bis 232 n. Chr.) be-
fand sich in Berytus eine Rechtsschule, die zu den berühm-
testen des Alterthums gehörte, zugleich übertraf der Handel
der Stadt den von Tyrus und Sidon. Schon damals be-
saßen die Seidenstoffe von Berytus einen großen Ruf. Das
gewaltige Erdbeben, das unter Jnstinian's Regierung am
20. Mai 529 alle Städte der syrischen Küste heimsuchte
uud mehr als 250 000 Menschen das Leben kostete, ver-
Heerte auch Berytus in der furchtbarsten Weise. Es dauerte
fast hundert Jahre, bis die Stadt sich wieder aus den Trüm-
mern erhoben hatte, und ihre alte Pracht erlangte sie auch
da nicht wieder. Im Jahre 635 von den Moslim erobert,
Globus xxxviii. Nr. 10.
g e Syrien.
jen des M. L ort et.)
T.
behielt Beirut unter ihrer Herrschaft seine einmal erlangte
Bedeutung als größter Hafen der syrischen Küste bei, und
so sehen wir denn auch fast 500 Jahre später das Streben
der Kreuzfahrer auf die Gewinnung der wichtigen Stadt
gerichtet. Es gelang ihnen dieselbe im Jahre 1110 einzn-
nehmen, und nun blieb sie mit kurzen Unterbrechungen bis
zum Jahre 1292 in den Händen der Franken, die erst nach
der Erstürmung von Ptolemais die Städte Tyrus, Sidon
und Berytus freiwillig räumten und dadurch ihre Herrschaft
in Syrien für immer aufgaben. Noch einmal, im Anfange
des 17. Jahrhunderts, trat für Beirut eine Zeit höchsten
Glanzes ein. Der Drusensürst Fachr ed-d!n, ein energischer,
hochgebildeter Mann, der mit den Venetianern verbündet
von ihnen in seinen Kämpfen gegen die Beduinen unterstützt
wurde, erwählte Beirut zu seinem Lieblingssitze. Bon seinen
Verschönerungen der Stadt ist heute noch vieles erhalten;
vor allem verdankt sie ihm schöne Baumpflanzungen in ihrer
nächsten Umgebung. Seine Vorliebe für europäische Kul-
tur erregte jedoch den Unwillen des Beiruter Volkes. Eine
Empörung brach los, infolge deren er den Türken ausge-
liefert und in Konstantinopel in der Gefangenschaft erdrof-
selt wurde. Im Jahre 1837 wurde Beirut wieder von
einem Erdbeben stark beschädigt; die letzte Heimsuchung aber
mußte es im Jahre 1840 bestehen, als die Engländer, die
den Türken das syrische Land von Ibrahim Pascha zurück-
erobern wollten, die Stadt bombardirten. Noch heute sieht
man die Spuren jener Beschießung in der fast vollständigen
Zerstörung der Wälle; im Uebrigen aber hat die Stadt seit-
dem von Jahr zu Jahr an Größe und Bedeutung zngenom-
19
V.|V- • .. . ; ' ,
Ansicht von Beirut und dem Libanon. (Nach einer Photographie.)
Das heutige Syrien.
147
men; in den letzten 25 Jahren hat sich die Zahl der Ein-
wohner vervierfacht, und von den 80 000 Seelen, welche
Beirut heute enthält, gehört kaum die Hälfte dem Islam
an. Die Verfolgungen des Jahres 1860 bewogen viele
christliche Bewohner Syriens, ihren dauernden Wohnsitz in
Beirut zu nehmen, wo sie sich unter dem Schutz der euro-
päischeu Konsuln gegen die Vergewaltigungen der Türken
sicher fühlen.
Das gesunde Klima und die malerisch schöne Lage der
Stadt, das in jeder Beziehung rege Leben, das in ihr herrscht,
machen den Aufenthalt in Beirut auch nach europäischen
Begriffen zu einem ungemein angenehmen. An der Süd-
seite der weiten Bucht gelegen, hat die Stadt nach Norden
hin das tiefblaue Meer vor sich; nach Osten und Südosten
steigt das Gebirge an, das besonders bei Sonnenuntergang
den schönsten Anblick darbietet. In der milden, röthlichen
Beleuchtung treten auch die entferntesten Punkte klar hervor;
Alles überragend erhebt sich am Horizont der schneebedeckte
breite Gipfel des Dfchebel Sann!n über den an einigen
Stellen zerklüfteten und mit dunklem Pinien- oder Eichen-
walde bedeckten, meist aber bis hoch hinauf gut angebauten
Bergen des Libanon. Zahlreiche Dörfer, deren weiße Hän-
ser sich von dem Grün der Berge leuchtend abheben, zeigen
sich überall an den Abhängen. Die vorderen Hügelterrassen
und die Ebene dicht bei der Stadt sind mit reichster Vege-
tation bedeckt: Palmen, Orangen-, Limouen- und Pistazien-
bäume stehen in dichten Gruppen beisammen; ungeheure
Nußbäume verbreiten wohlthuenden Schatten, an den san-
digen Stellen erheben sich malerische Pinien. Dazwischen
dehnen sich große Oliven- und Maulbeerplantagen, Baum-
wollselder und Weingärten aus. Ein von Cactnshecken ein-
gefaßter Weg führt zuerst zwischen herrlichen Gärten, dann
durch ein Gehölz von Mimosen (Mimosa farnesiana),
Oleander- und Johannisbrotbäumen zur Mündung des
Nahr-Beirut östlich von der Stadt. Den Lieblingsspazier-
gang der Beiruter aber bildet die nach Süden führende fast
Juden von Beirut. (Nach Photographien.)
auf ihrer ganzen Länge mit prächtigen Landhäusern der
reichen Kaufleute besetzte Straße nach der Pineta, einem
hohen Piuieuwalde. Die stattlichen Bäume desselben sollen
schon von Fachr ed-dln gepflanzt worden sein, um die
Stadt gegen die immer weiter vorrückenden Sanddünen zu
schützen. Und wie wohlthätig der Schutz gewesen ist, das
zeigt sich am deutlichsten bei einem Vergleich dieser südlichen
mit der ungeschützten südwestlichen und westlichen Umgebung
der Stadt. Von den Bergen aus sieht man Beirut an die-
ser Seite bis nahe zum Meere hin wie von einem breiten
rothen Gürtel umschlossen: es ist der Sand der großen Dü-
nen, der von Jahr zn Jahr sichtlich näher kommt und in
nicht gar lauger Zeit den schmalen Streifen kultivirten
Landes, der ihn heute noch von den Häusern der Stadt
trennt, auch überschüttet haben wird. Den Vorschlag einer
englischen Gesellschaft, die durch entsprechende Mittel der
Versandung Einhalt thun wollte, hat die türkische Regierung
abgewiesen.
Der eigentliche Hasen von Beirut, dessen Eingang durch
zwei viereckige, heute stark im Verfall befindliche Thürme
gebildet wird, ist zu klein und zu flach, um große Dampfer
aufnehmen zu können; während des Sonnners ankern diefel-
beu deshalb auf der Rhede gerade vor der Stadt, im Win-
ter müssen sie oft in der östlich davon gelegenen kleinen Bai
jenseit des Ras el-Kndr oder anch an der Mündung des
Nahr-Beirut Schutz suchen.
Die Stadt selber hat sich im Lanse des letzten Jahr-
zehnts bedeutend verändert. Große Vorstädte mit stattlichen
Häusern und den herrlichsten Gärten sind entstanden; auf
den umgebenden Hügeln erheben sich die großartigen Bauten
der französischen, englischen, deutschen und amerikanischen
Religionsgesellschaften, die nicht zum weuigsteu zu dem
Fortschritte Beiruts beigetragen haben. Die neuen Häuser
sind mit geringen Abweichungen alle nach einem durchgehen-
den Plane gebaut, mit vielen Ballonen und einem die ganze
Breite des Hauses einnehmenden säulengetragenen Saale
im obern Stockwerk, dessen große Bogenfenster nach Norden
auf das Meer, nach Süden auf den Libanon blicken. Die
breite Treppe fowie die Fußböden der Wohnräume sind ge-
wohnlich aus weißem italienischen Marmor und mit grell-
bunten Teppichen belegt. Die innere Einrichtung dieser,
durch ihre luftige Bauart auch in den heißen Sommer- und
Herbstmonaten gut bewohnbaren, Häuser ist nicht nur bei
den europäischen, sondern auch bei den reichen arabischen
19'
Das heutige Syrien.
Mach einer Photographie.)
Das Heu
Kaufleuten von größter Eleganz. Zwischen dem kostbarsten
modernen europäischen Mobiliar finden sich bei den letzteren
besonders oft ganze Sammlungen von alten und neueren
Erzeugnissen des orientalischen Kunstgewerbes mit Geschmack
und feinem Verständniß aufgestellt. Von dem Wasserman-
gel, unter dem Beirut vor wenigen Jahren noch zu leiden
hatte, ist seit der Fertigstellung der von einer englischen Ge-
sellschast ausgeführten Wasserleitung nichts mehr zu merken;
ihr verdanken die herrlichen Gärten der neuen Stadttheile
das üppige Gedeihen. Das Wasser, das aus dem auf dem
Sannln entspringenden Nahr-el-Kelb (Hundsfluß) hergeführt
wird, zeichnet sich durch große Reinheit und Klarheit aus.
Die innere, alte Stadt unterscheidet sich in nichts
Wesentlichem von anderen orientalischen Städten: dieselben
engen, winkligen und unsauberen Gassen, dieselben finsteren
Häuser mit platten Dächern, mit hölzernen Läden oder Git-
tern vor den Fensteröffnungen, die inneren Räume bis auf
einige Polster, Matten und Teppiche ganz leer, finden sich
hier wie eben überall im Orient. Auch der Bazar besteht
aus einem Gewirr schmutziger Gäuge und Gassen, in denen
man jedoch, wenn man sich die Mühe des Nachsnchens nicht
verdrießen läßt, neben den landläufigen Artikeln, den bunt-
seidenen, am Orte selbst sabricirten Keffijen oder Kopf-
tüchern, den Schuhen, Pfeifen u. f. w., manch seltenes Stück
von feinster Arbeit an Silbergeräth, Waffen und Teppichen
auffinden kann. Unweit des Bazars liegt die Hauptmoschee,
zu welcher der Fremde nur schwer Zugang erhält. Nr-
sprünglich eine dem heiligen Johannes geweihte, christliche
Kirche aus der Kreuzfahrerzeit, zeigt sie in ihrem dreifachen
Schiff mit den fchönen Spitz- und Gewölbebogen leider keine
Spur mehr von der alten Ornamentirung; ein dicker mit
bunten Arabesken geschmacklos bemalter Kalkbewurf verdeckt
dieselbe gänzlich. Die anderen Moscheen haben wenig Be-
merkenswerthes an sich; auffallend ist nur die Form der
Minarets, die nicht wie die ägyptischen nnd kleinasiatischen
rund, sondern viereckig sind.
Die Bevölkerung der Stadt ist eine bnutgemischte; Man
braucht eben keinen im Erkennen von Racentypen besonders
geübten Blick zu haben, um bei einem Gange durch die
Straßen von Beirut leicht die einzelnen Elemente heraus-
zufinden, aus deueu sich das einheimische Volk zusammen-
setzt. Da sind zuerst die Abkömmlinge der alten Phönicier,
große Gestalten mit lebhaften schwarzen Angen, gebogener
Nase, schmalen Lippen; es ist, als ob der Geist ihrer Vor-
fahren ans Tyrus und Sidon auf sie übergegangen wäre:
sie leben nur für den Handel und find, sobald es ihren Vor-
theil gilt, wenig zuverlässig im Verkehr. Die Araber, durch
breite Stirn, starke Lippen, weniger gebogene Nase und
dunklere Hantfarbe leicht von ihnen zu unterscheiden, sind
hier in der Stadt auch hauptsächlich Kaufleute; daueben
aber, den Traditionen ihrer Heimath und dem eigenen Tem-
peramente entsprechend, die besten Reiter und Ringer und
leicht zu Kämpfen und Krieg zu begeistern. Zahlreich auch
sind die Aegypter mit dem hagern Gliederban, den mandel-
förmigen Augen hier vertreten; daneben trifft man häufig
auf Judividueu, deren gedrungene, breitschulterige, muskulöse
Gestalt sowie der in schraubenförmige Locken gedrehte Bart
sie unschwer als Nachkommen der alten Assyrer erkennen
läßt. An die Persische Zeit Syriens erinnern die häufig
vorkommenden kleinen und zierlich gebauten Individuen, mit
ovalem Gesicht, nahe beieinanderstehenden Augen, gerader und
ziemlich kurzer Nase, mit schwarzem gelockten Haar nnd dich-
tem Bartwuchs. Sie sind in Bezug auf Ehrlichkeit meist
der unzuverlässigste Theil der Beiruter Bevölkerung. Rech-
net man hierzu noch die Türken, fett und phlegmatisch, wenn
sie den höheren Klassen, mager und nervig, wenn sie dem
;e Syrien. 149
Landvolke der Umgegend angehören, und die Juden, die anch
hier sich ziemlich rein erhalten haben, so hat man die eiuzel-
uen Bestandtheile des „einheimischen" Volkes von Beirut.
Die Juden, die sich durch eigenartige Tracht auszeichnen,
sind hier der Mehrzahl nach groß und hager, von schwäch-
lichem Körperbau. Blonde, blauäugige Individuen kommen
vielfach unter ihnen vor; die nach unten stark gebogene Nase
charakterisirt sie alle.
Wie schon oben erwähnt, bekennt sich etwa die Hälfte
der 80 000 Einwohner von Beirut zum Islam, die anderen
gehören den verschiedenen christlichen Bekenntnissen an, und
da das christliche Missionswesen in Syrien, und zwar vor-
zugsweise in Beirut, die regste Thätigkeit entfaltet, vermehrt
sich die Zahl der Beiruter Christen von Jahr zu Jahr.
Man möge über derartige Bestrebungen sonst denken, wie
man wolle: das segensreiche Wirken der blühenden Institute
der amerikanischen und europäischen Missionsgesellschaften
wird in Bezug auf Beirut wenigstens von Niemanden ge-
leugnet werden können. Da ist zunächst die seit 1337 hier
thätige amerikanische (presbyteriale) Missionsgesellschaft, die
ihre mit Volksschulen verbundenen Tochteranstalten durch
ganz Syrien verbreitet hat. Durch ein theologisches Semi-
nar, eine Realschule und eine medicinische Fakultät, in wel-
cher in vierjährigem Kursus tüchtige Aerzte ausgebildet
werden, sowie durch eine eigene Druckerei, welche die nöthi-
gen Lehrbücher in arabischer Uebersetzuug sowie die gleich-
falls arabische Wochenschrift der Gesellschaft liefert, wird
für die Aufklärung des Volkes aus das Beste gesorgt. Von
deutscher Seite ist eine protestantische Kirche nebst einem
Waisenhause für 130 einheimische Kinder und eine Töchter-
schule gegründet worden. Ein protestantisches Knabeninsti-
tut aber wird von dem gelehrten Araber Bntrus Bist-Un
geleitet. Das für 600 Kinder bestimmte Waisenhaus der
Soeurs de eharite de St. Vincent de Paul, die Schulen
desselben Ordens und das große Töchterpensionat der Dames
de Nazareth leisten in ihrer Art Vortreffliches. Zu all
diesen Anstalten kommen noch verschiedene Lehrinstitute der
Jesuiten sowie eine einheimische griechisch-katholische und eine
von der italienischen Regierung unterstützte italienische Real-
schule.
In Beirut selber ist trotz dieser nach verschiedenen Rich-
tuugen zielenden Bestrebungen von religiösen Zwistigkeiten
nichts zu merken; selbst die Mohammedaner tragen ihre
Verachtung gegen die Ungläubigen weniger offen zur Schau.
Dafür sind die Berge des Libanon seit Jahrhunderten schon
der Schauplatz unaufhörlicher Fehden und Reibereien zwi-
schen den der römisch-katholischen Kirche angehörigen Maro-
niten und den fanatischen Drusen, die sich zu einer eigenen,
aus Islam und Christenthum gemischten Religion bekennen.
Die türkische Regierung thut nichts, um diese ewigen Strei-
tigkeiten beizulegen: ihr ist mit einer allmäligen Aufreibung
der Parteien gedient, nnd so trägt sie im Stillen das Ihrige
dazu bei, das Feuer zu schüren. Bei der Christenverfolgung
des Jahres 1861, welche die Einmischung der europäischen
Mächte, die bewaffnete Dazwifchenknnft Frankreichs herbei-
führte, waren anfangs die Drusen nicht betheiligt. Die
regulären und irregulären türkischen Truppen von Damas-
kus machten, von einigen fanatischen Priestern aufgehetzt,
den Ansaug mit den Metzeleien; und als die Aufregung im
Volke wuchs, ließ die Regierung unter dem Vorwande, die-
selbe zu dämpfen, die Maroniten des Libanon entwaffnen.
So blieben die Unglücklichen wehrlos der Vernichtung durch
die Drusen überlassen, die an manchen Stellen des Gebirges
ungeheure Dimensionen annahm. In der Bergstadt Der-
el-Kamr, die einen ganz besonders fanatischen Scheich hatte,
kamen allein 1200 Christen ums Leben.
150
F. A. v. Rupp recht: Missigits in Niederländisch-Ostindien.
Missigits in Niede
Von F. A. v. Rupprecht
Unter Moschee (im Arabischen mesdjid) versteht man ein
Bethaus, eine Stätte, an der man sich vor dem Allerhöchsten
mit Ehrfurcht niederbeugt. Jeder Gebildete, der von Moscheen
sprechen hört, weiß, daß man mit denselben mohammedanische
Tempel bezeichnet. Die Malayen nnd Iavanen nennen eine
Moschee missigit oder messigit. In Atjeh (auch Atchin
genannt), im Norden von Sumatra, giebt es deren eine
sehr große Anzahl und sind dieselben alle mehr oder wem-
ger mit Befestigungen versehen. Vielleicht erinnert sich
der eine oder andere Leser, wie verzweifelt während der
ersten Expedition gegen die Atchinesen um den Besitz der
großen, eine kurze Distanz vom Kraton gelegenen Missigit
rländisch-Ostindien.
in Kepahiang auf Sumatra.
gekämpft wurde. Doch erst im Jahre 1874 gelang es der
Trnppenmacht des General van Swieten, dieselbe zu stür-
meu und nach empfindlichen Verlusten an Menschenleben
zu erobern. Nach dem Fall der Missigit ging auch derKra-
ton sehr bald in die Hände der Niederländer über. Ein
gleiches Ereigniß trng sich auch in den Jahren 1878 und
1879 zu. Während die Kämpfe mit den Atchinesen in der
Sagi der XXII Moeläms (Gemeinden) wütheten, wurde
die Missigit von Jndrapoerie stets als ein Punkt des
Anstoßes betrachtet und als solcher gefürchtet. Auch sie
mußte, doch erst nach einem langen, hartnäckigen Kampfe
auf beiden Seiten, durch die Atchinesen geräumt werden,
Missigit von Jndrapoerie nach der Einuci
um von ostindischen Soldaten besetzt zu werden. Ein-
mal im Besitz der Niederländer, war die Unterwerfung der
sämmtlichen XXII und auch der XXVI Mockims voraus-
znsehen, somit auch der Sieg erzielt.
Hierzulande, besonders aber in Atchin, sind diese Mis-
sigits alh? mit künstlichen oder natürlichen Hecken, zuweilen
auch mit Steinmauern umgeben. Die große Missigit vor dem
Kraton war von einer 7 Fuß hohen, sehr dicken Mauer ein-
geschlossen. Der äußere wie auch innere Baustil der in
Atjeh befindlichen Missigits ist höchst einfach, in den mei-
sten Fällen sind sie von Holz gezimmert und die Dächer
mit atappen oder alang-alang (Schilf) bedeckt. Ihre
Dächer sind spitz; hier und da sieht man auch drei, vier und
fünf thurmartig über einander. Der Thurm (Minaret,
menaret, auch menara), von welchem herab durch die
Katiebs (Priester) die Stunde des Gebets verkündet wird,
wird hierzulande höchst selten angetroffen; eine Art Trom-
le durch die Niederländer im März 1879.
mel, wie solche auch bei den inländischen Spielen, wie ga-
melang und wayong, gebraucht wird, dient dazu, um die
Gläubigen an den großen Propheten zu mahnen, daß die Zeit
nahe ist, um sich entweder in oder anßer dem Tempel vor dem-
selben im Staube niederzuwerfen. Ueberall findet man beim
Eingang zur Missigit große Wassertöpfe oder Eimer, um
den Gläubigen, die im Tempel beten oder an Freitagen die
Predigt hören wollen, Gelegenheit zu geben, die gebränch-
lichen Waschungen oder Reinigungen verrichten zu können.
Im Innern dieser Missigits ist nicht viel Sehenswürdiges
vorhanden; nur eine in der westlichen Ecke des Betsaales an-
gebrachte viereckige Nische fällt dem Besucher ins Auge. Sie
deutet die Richtung an, in welcher Mekka liegt; während des
Gebets sind alle Gesichter dahin gewandt. Weiter bemerkt
man eine Kanzel oder Predigtstuhl, die in vielen Stücken
einem Beichtstühle gleicht, und auf der stets ein Koran
liegt.
Des Dr. Potagos' Reisen i
Frauen trifft man sehr selten in den Missigits an, da
sie nicht verpflichtet sind, den Gottesdienstübungen beizu-
wohnen.
In Atchin findet man außer deu eigentlichen Missigits
auch noch die Meudersa, in welcher allein die fünftägigen
Des Dr. Potagos' Reisen i
Am 18. Juli erreichte Potagos einen ansehnlichen Hü-
gelzug, den die Araber Amkus nannten, und von dessen
Kamm aus man in weiter Ferne nach Westen hin eine
zweite höhere Bergkette erblickte, die in der Richtung von
Norden nach Süden sich hinzieht; diese, die von seinen Be-
gleitern Schala genannt wurde, glaubt Potagos mit dem
Mondgebirge identisiciren zu dürfen. Bis hierher hatte man
die Reise ohne nennenswerthen Unfall zurückgelegt; jetzt
schien es plötzlich, als sollte eine Widerwärtigkeit auf die
andere folgen. Am Fuße der Amkus-Berge büßte Potagos
seinen Reitstier ein, und als er am folgenden Tage seinen
Weg nach den Schalabergen fortsetzte, wurde er selber von
dem ersten Fieberanfalle ergriffen. Man befand sich
jetzt im Dar-Fertit, das hier von den Schala, einem
von den Kreki sehr verschiedenen Stamme, bewohnt wird.
Am 20. Juli kam man in der Stadt des Königs der Schala
an, wo Potagos vom hitzigen Fieber befallen wurde. Einer
seiner Diener benutzte die Gelegenheit, um sich mit dem
Kameel aus dem Staube zu machen, und als es den vom
Könige ausgesandten Leuten gelungen war, den Dieb ein-
zuholen und sammt dem Thiere wiederzubringen, hatte der
Reisende die größte Mühe, den König von der entsetzlichsten
Bestrafung des Unglücklichen abzuhalten. Endlich befand
sich Potagos wieder auf dem Wege, um in kurzen Tage-
Märschen das südöstlich gelegene Kutuaka zu erreichen;
da sah er sich plötzlich von vier bewaffneten Leuten mit lau-
tem Geschrei verfolgt und am weitern Borschreiten verhin-
dert. Es waren Boten des Nur Aga (Nur soviel wie
furchtlos), der ihn auf diese peremptorische Weise zu einem
Besuche in seiner westsüdwestlich von Hofrat el Nahas be-
lcgenen Seriba auffordern ließ. Mit schwerem Herzen
mußte man der Gewalt nachgeben, beinahe auf demselben
Wege, den man gekommen war, zurück- und dann dnrch das
Gebirge weiter nach Nordwesten gehen. Das an und für
sich ungünstige Terrain wurde durch einen heftigen Regen-
guß, den ersten hier zu Lande seit dem Sommersolstitinm,
vollständig ausgeweicht; zum Unglück fiel auch das Kameel
unterwegs, so daß das ganze Gepäck auf den Köpfen der
Leute befördert werden mußte. Langsam und beschwerlich
ging die Wanderung zuerst über Berge, dann durch das schöne
breite Thal des Flusses Mindscha, der in seinem untern
schiffbaren Laufe den Namen Mamün annimmt. Eine un-
geheure Menge von Flußpferden bevölkerten ihn; was aber
diesen Wasserlauf in den Augen des Reifenden besonders
interessant erscheinen ließ, war der Umstand, daß derselbe,
als ein Nebenfluß des Schari, dem Flußnetze Central-
afrikas angehört, und daß die das Thal nach Osten be-
grenzenden Binga- und Snla-Berge, die man überschritten
hatte, an dieser Stelle die Wasserscheide bilden zwischen
jenen Stromgebieten und dem Becken des Nil. Das Land
der Binga, in dem man sich jetzt befand, ist gut bewässert
l Gebiete des Nil und Uslle. 151
Gebete und ausnahmsweise auch das Freitagsgebet verrich-
tet werden. Eine große Missigit, das Geschenk einer fürst-
lichen oder sonstigen Person von hohem Ansehen, bezeichnen
die Atchinesen mit Daja.
Gebiete des Nil und UÄle.
und zum Theil vou waldreichem Gebirge durchzogen. Einen
hervorragenden Bestcmdtheil dieser Waldungen bildete der
Butterbaum sowie jener andere von den Eingeborenen moto
genannte Baum, der das gelbliche Mehl liefert, welches
Schweinfurth als ein Nahrungsmittel der Bongo erwähnt.
Potagos' Leute sammelten unterwegs mehrfach die Früchte
des Baumes, und, entgegen der Angabe Schweinfnrth's,
der den Geschmack des Motü-Mehles der Bongo als äußerst
widerwärtig schildert, spricht Potagos von dem Motö der
Binga als von einer wohlschmeckenden, leicht verdaulichen
Speise. Am 25. Juli kam man in der Seriba Nur an;
natürlich war der Wunsch des Aga, den Reisenden bei sich
zu empfangen, nicht unintereffirt gewesen. Nach zweitägi-
gem Ausenthalte, bei dem er sich wohl überzeugt hatte, daß
sein Gast nur über geringe Mittel verfügte, gab er dem-
selben die Erlaubuiß zur Weiterreise. Vou dem Gipfel
eines in geringer Entfernung südwestlich von Nur anstei-
genden Berges, des Niamba, der eine weite Aussicht nach
Norden, Westen und Süden bietet, überblickte Potagos eine
ausgedehnte von Höhenzügen und zum Theil großen Flüssen
durchschnittene Landschaft, die von den Kara, den Banda
und Kreko-Banda, den Bongo und den Rinda bewohnt wer-
den soll. Während nach seiner Angabe die hier erwähnten
Bongo nicht mit dem weiter nach Osten wohnenden gleich-
namigen Stamme verwechselt werden dürfen, glaubt Pota-
gos die Rinda mit den von früheren Reisenden in Ba-
girmi erwähnten Runda identisiciren zu können.
Die unaufhörlichen Kämpfe zwischen den Sklavenhänd-
lern und den Eingeborenen, von denen das Bingaland ge-
rade heimgesucht war, erlaubten Potagos nicht, in direkt
südlicher Richtung zu gehen. In Begleitung eiues zu der
Gesellschaft des Zuber Pascha gehörigen Arabers, Namens
Mnssa, und eines Königs der Kreki, Agata, schlug er den
Weg nach Südosten ein. Seine beiden Begleiter kamen
aus dem Gebiete der Banda, von wo sie ungeheure Lasten
Elfenbein und einen langen Zug Sklaven mitbrachten.
Ueber Kutuaka ging der Weg nun zunächst nach Mingi
(auf der Karte Migi geschrieben), das am Fuße der zu den
Telgo nabergen sich ziehenden Abnssaberge liegt. Die
in diesen Gegenden jetzt herrschende Regenzeit erschwerte die
Reise. Bei dem Suchen nach einem seiner Diener vom Wege
abgekommen, mußte Potagos eine Nacht unter strömendem
Regen in den Bergen unweit Mingi zubringen; hier hörte
er zum erstenmale das hundeartige Gebell des dag.in,
einer in diesen Bergwäldern lebenden Gorilla-Art. Der
Weg nach Mosio, einer Stadt der Njam-Njam, die das
nächste Ziel der Reise bildete, führte über verschiedene große
Flußläufe, von denen nach Potagos der (Schweinfurth un-
bekannt gebliebene) Boro und fein Zufluß, der Sosso, zum
Nilgebiete gehören, während der Prnngo, der Ueschi und
der Beti, die man weiter nach Süden hin zu Passiren
152 Des Dr. Potagos' Reisen i
hatte, dem gewaltigen Bomo zufließen, der, wie der Uölle
auch, dem System des Kongo angehören soll.
In dem am Wege liegenden Orte Boko, unweit Döm
Daud, dem Wohnsitz des Arabers Mnssa, verließ derselbe
die Reisenden, und wenige Tage später erreichte man auch
Agata, die Stadt der Kreki, wo Potagos' zweiter Gefährte
zurückblieb. Man befand sich hier etwa vier Tagereisen von
der Seriba des Zuber Pascha, in der Schweinfurth sich
einige Zeit aufgehalten hatte. Tagelang war der Weg durch
mit hohem Grase bedeckte Steppen gegangen; als man den
Sosso passirt hatte, kam man an einen Höhenzug, der hier
die Wasserscheide bildet, und dem Potagos den Namen:
„Makedonisches Gebirge" beilegte.
Wenige Stunden nachdem man den Beti überschritten,
gelangte man in ein großes Dorf der Kreki, wo Potagos
zum zweiteumale vom heftigsten Fieber befallen wurde. In
ganz bewußtlosem Zustande wird er von seinen Leuten auf
einer Tragbahre nach dem 6 bis 7 Stunden entfernten
Mofio im Lande der Njam-Njam gebracht. Das Haupt der
Seriba Mofio, Utferah, ein Mann, der früher im Dienste
des Zuber Pascha gestanden hatte, betrachtete den kranken
Europäer als gute Beute. Kaum zum Bewußtsein gelangt,
sah sich Potagos in stürmischer, drohender Weise um ein
Geschenk von 100 türkischen Pfunden ersucht; er konnte der
gefährlichen Habgier des Arabers nichts anderes entgegen-
setzen, als daß er ihm die Schlüssel zu feinen Kisten gab
und ihm die Auswahl unter seinem Besitze überließ, mit
der Bedingung, daß er ihm das zur Reise nach der Ost-
küste Notwendige lassen werde. Die Enttäuschung des
Arabers über den geringen Inhalt war groß; er behauptete,
von Potagos getäuscht zu werden, der in der Seriba Nur
kostbare Geschenke gemacht habe. Seine Haltung wurde
eine immer drohendere, das Leben des Reisenden war im
höchsten Grade gefährdet; da traf gerade zur rechten Zeit
ein anderer Händler in der Seriba ein, der, ein hierher
verschlagener Albanese, arabisch, türkisch und, da er früher
in Griechenland gereist war, auch etwas griechisch sprach.
An ihm fand Potagos einen bereitwilligen Schutz, und in feiner
Begleitung setzte er auch die Reise fort, die sich durch vielen
Regen bedeutend verzögerte. Man sah sich gezwungen,
14 Tage auf den Eintritt günstigen Wetters zu warten.
Die Ernte der Durra war in dieser Gegend schon vorüber,
die des Mais stand nahe bevor; bei den Kreki hatte man
beide Pflanzen noch vollkommen unreif gesehen. Am zweiten
Reisetage kam man an einer riesenhaften Baumwollen-
staude mit stark verästelten: Stamme vorbei, der von den
Njam-Njam heilig gehalten und als Wohnort der Gottheit
betrachtet wird. Alle umstehenden Bäume waren mit sri-
schen Durrabüscheln geschmückt. In Scherls, wo ein Nacht-
taget geheilte» wurde, lernte Potagos in einer Art großer
Bohnen, die, an Größe und Gestalt den Kartoffeln gleich,
von den Eingeborenen pampa genannt werden, ein treff-
liches Bodenerzengniß des Landes kennen. Als am Mor-
gen des 13. August der Fluß Jangua passirt war uud man
sich der Seriba des albanesischen Händlers näherte, fand sich
Potagos plötzlich außer Stande, weiter zu gehen. Vom
Fieber erschöpft, mit von Wunden bedeckten Füßeu, bemühte
er sich vergeblich , durch Aufbietung seiner ganzen Willens-
kraft sich an zwei Stöcken vorwärts zu schleppen. Während
der Krankheit in Mofio war ihm fein Esel gestohlen wor-
den: so blieb nun nichts übrig, als sich von seinen Leuten
abwechselnd tragen zu lassen. Aufs Neue vom Fieber er-
griffen, lernte er bei dieser Gelegenheit die seiner Aussage
nach ans Wunderbare grenzende Heilkraft des wohlschmecken-
den Saftes von einem einheimischen Baume, dem niam-
tandi, schätzen. Kaum hatte er zweimal mit diesem
i Gebiete des Nil und Uelle.
Safte seinen Durst gelöscht, so ließen Fieber und Schmer-
zen nach, und die Wunden an seinen Füßen heilten mit
überraschender Schnelligkeit. Der niamtandi, der mit dem
Elais Schweinfurth's einige Aehnlichkeit hat, soll sich nur
in der Gegend zwischen dem Uölle und dem Bomo vor-
finden, auf deren unfruchtbarem Kreideboden weder Mais
noch Durra gedeiht.- Seine Früchte geben eine röthliche
Butter, feine Blätter sollen den Eingeborenen das hier
gänzlich fehlende Salz liefern.
Nach vierzehntägigem Aufenthalt in der Seriba des Al-
banefen verließ Potagos, vollständig geheilt, dieselbe. Für
60 Talaris hatte er von seinem Wirthe einen Esel gekauft,
deu derselbe für zehn schöne Sklavinnen aus dem Stamme
der Zande oder Zante erhandelt haben wollte. Der Weg
führte fortdauernd durch gebirgiges Waldland, das von ver-
schiedenen Stämmen bewohnt war, deren Dörfer oft male-
risch genug auf Waldlichtungen in üppigen Bananeupflau-
zungen standen. Von Sassa, dem den europäischen Reisen-
den in diesen Gegenden wohlbekannten König der Bangwe,
freundlich aufgenommen und mit einer Eskorte versehen,
setzte Potagos seinen Marsch durch das Land der Bagnru
über ausgedehntes bergiges Terrain fort; in den von zahl-
reichen Bächen durchströmten Bergwäldern finden sich Par-
tien von selten malerischer Schönheit, dann aber auch wie-
der meilenweite Strecken, wo die Bäume so dicht bei einander
stehen, daß man nur mit Mühe zwischen ihnen sich hindurch-
drängen kann. Am 8. November kam man nach mehrstüu-
digem, austreugeudem Marsch durch eine solche Waldgegend
in der Seriba Rascü an, wo eine mehrtägige Rast gehalten
wurde. Die Entfernung von hier bis Rua ist nicht gar weit,
doch mußte Potagos eiue uuverhältnißmäßig lange Zeit auf
dem Wege zubringen, und zwar in Folge eines Hindernisses,
das er jetzt zum ersten Male kennen lernte. Die Oberhänp-
ter der Stämme, deren Gebiet er zu Passiren hatte, erschwer-
ten ihm das weitere Vordringen nach Süden nicht durch
offenen, nur durch versteckten Widerstand. Von einem Kö-
nige wnrde er zum andern gesandt, nirgends konnte er Füh-
rer erhalten, nirgends den richtigen Weg erfahren. Es blieb
ihm zuletzt nichts übrig, als nach der Seriba zurückzukehren
und den Beistand Rafai's in Anspruch zu nehmen. Und
derselbe erwies sich auch als ungemein wirksam: von dem
vorher am meisten abgeneigt gewesenen König Mnkia mit
einer zahlreichen bewaffneten und von Hornbläsern ange-
führten Eskorte versehen, konnte Potagos endlich sich wieder
auf die Wanderung begeben, die abermals durch weite Wald-
strecken und zu einem Dorfe führte, das in einer engen
Schlucht zwischen zwei hohen mit mächtigen Bäumen bestan-
denen Felswänden lag. Der Wald ringsum war vou zahl-
reichen ausgehauenen Pfaden durchkreuzt, der Eingang zu
der Schlucht aber durch ein undurchdringliches Dickicht von
Bäumen und Schlingpflanzen verwahrt. Bei dem Heran-
nahen des Reifenden kam der ganze Hof des Königs, Frauen,
Sklaven und Kinder, um ihn zu sehen; als aber in diesem
Augenblicke der Esel, den Potagos ritt, zu schreie» begann,
floh die ganze neugierige Schar erschreckt von dannen. Ein
von seinen Einwohnern verlassenes Dorf, das von den Leu-
teu der Eskorte bis aufs letzte geplündert wurde, zeigte an,
daß auch in dieser Gegend der Krieg noch nicht lange vor-
bei war. In Rua angelangt, versuchte Potagos Näheres
über das südlich gelegene Land zu erfahren, in das er vor-
zudriugeu gedachte. Was er vernahm, bezog sich größten-
theils auf einen Fluß Ufchal oder Uschial, der aus der Ge-
geud voil Kifa kommen und dem Bomo zufließen sollte.
Man zeigte dem Reisenden einige Sklavinnen, die aus dem
Lande an jenem Flusse stammten, und die, obgleich zu den
Njam-Njam Bangwe gehörig, sich durch eine eigene Art das
Colvile's Ritt durch i
Haar über den halben Kopf abznscheeren, sowie durch den
fast vollständigen Mangel an jeder Bekleidung auszeichneten.
Aengstlich hütete sich Potagos während seines Aufenthaltes
in Rua vor dem Genuß von Speisen, die nicht unter seinen
Augen zubereitet waren: bekanntlich befinden sich unter den
Stämmen dieser Gegend noch viele Anthropophagen, und
die Leute vou Rua gehören zu denselben.
Der König von Rua versah den Reisenden mit Trägern
für sein Gepäck, sowie mit einer Anzahl von Sklaven, die
aus dem Wege durch die ungeheuren Waldungen vorangehen
und einen Pfad durch das Dickicht bahnen mußten. Die
Ueppigkeit der Vegetation in dieser heißen, regenreichen Ge-
gend spottet jeder Beschreibung; sie verhindert hier den Ver-
kehr zwischen den einzelnen Völkern. Nach mehrtägigem
Marsche, während dessen ihm viele seiner Leute davonliefen,
und nachdem man am 13. die Stadt des Ingimma Pas-
sirt hatte, entdeckte Potagos am 14. eine von Osten nach
Westen ziehende Gebirgskette; diese, die er nach dem Könige
von Griechenland „ Georg iosberge" benennt, hält er für
eine Fortsetzung der von Schweinfurth erwähnten Berge
weiter im Süden; nach Osten hin setzt sie sich, wie er glaubt,
bis zu den Blauen Bergen am Westufer des Albert Njanza
fort.
Seine Absicht, weiter nach Süden zu dem König der
Njamani Bangwe, Forema, und dann nach Westen zum
Oceau zu gehen, mußte Potagos hier aufgeben; den Weg
nach Süden versperrten die Kriege der Eingeborenen, den
nach Westen das hohe Gebirge. So entschloß er sich, die
Richtung nach Norden einzuschlagen, und kam am 27. in
der Seriba des Pirintzi, eines zu Zuber Pascha's Gesell-
schast gehörenden Händlers, an. Dieser, der eben im Kriege
mit den Abudinga begriffen war, wollte danach gegen den
König der Njamani Bangwe vorgehen und war deshalb
nicht geneigt, den Reisenden in das Land desselben zu schicken.
Er ließ ihn absichtlich auf einen falschen Weg, der zu den nörd-
lichen Seriben führte, bringen, und in diesen fand er überall
denselben Widerstand, der sich seinem Vordringen entgegen-
setzte, und der manchmal offen feindselig, manchmal in hinter-
listigem Irreführen sich zeigte. Aus dem Wege nach der
Seriba Kaschiol, die er am 6. Januar 1377 erreichte,
und wo er sich entschließen mußte, seinen Rückweg nach
Norden anzutreten, hatte Potagos außer dem Prungo noch
mehrere große nach Süden zum Bomo fließende Ströme
passirt und von den Eingeborenen viele, der Bestätigung
bedürfende Angaben über die hydrographischen Verhältnisse
des nach Westen und Südwesten gelegenen Landes gesam-
melt. Nach diesen sollte der Bomo aus seinem untern (west-
lichen) Laufe sich in zwei nach Norden nnd Süden aus ein-
andergehende Arme theilen; der südliche, schiffbare Arm
würde nach Potagos' Ansicht mit dem U s ch ä l vereinigt den
Bomo bilden. Aus diesem nach Süden fließenden Arme
sollte vor 13 Jahren ein mit Eisen und Zucker beladeues
Dampfschiff bis in das Land der Njamani hinausgekommen
Colvile's Ritt durch
Man kann sich schwerlich einen schlechtem, unpassendere
Titel ersinnen, als den, welchen das unten angeführte und
im Nachstehenden besprochene Buch führt *). Bezeichnen
1) A Ride in petticoats and slippers. By Captain
H. E. Colvile, Grenadier Guards. London 1880. Mit
zwei Abbildungen und einer Karte.
Globus XXXVIII. Nr. 10.
> nordwestliche Marokko. 153
sein, wo die Mannschaft von den Eingeborenen getödtet und
gegessen worden sei, wo das Schiff aber heute noch vor An-
ker liege (!). Und nicht genug an dieser einen überraschenden
Verbindung mit dem Ocean! Potagos erfuhr noch von einem
zweiten Flusse dieser Gegend, dem Mpokto, der einen
Arm seines untern Laufes dem Ocean zusenden sollte; der-
selbe würde, wie er glaubt, in dem sumpfigen Küstendistrikt
des Ogowe oder des Kwora (Niger) fehte Mündung haben.
Von Kaschiol aus führte Potagos' Weg in nördlicher
Richtung über ein ziemlich steriles, bergiges Terrain; nach
dreitägigem Marsche, ans dem man den Prungo und vorher
einige seiner Nebenflüsse passiren mußte, kam er an die Se-
riba Sahini, von der aus er die Richtung nach Nordosten
einschlug, und bald darauf an die Seriba Jdris, wo er bis
zum 14. Januar blieb. Hier hörte das gebirgige Terrain
auf, und der Weg führte durch eine große, nach Norden hin
vom Beti begrenzte Grasfläche. Schon vor mehreren Ta-
gen war Potagos von den Leuten seines Gefolges bis auf
einen Diener verlassen worden; sie hatten sich unterwegs
dem Kriegerzuge angeschlossen, den der Händler Pirintzi ge-
gen die Abudinga führte. In zwei Dörfern der Kreki be-
mühte sich Potagos vergeblich, neue Leute anzuwerben; man
war hier mit der Ernte beschäftigt und so schlug der König
das Gesuch des Reisenden rund ab. Trotz der Warnungen
der Eingeborenen entschloß sich Potagos allein mit seinem
Diener die wegen ihrer Raubthiere gefürchtete und sonst nur
von großen Karawanen dnrchschrittene Wüste bis Dkm
Gutscho zu passiren. Auf dem ganzen Wege traf er nur
eine Art größerer Thiere an, die er als große, mit löwen-
artiger Mähne versehene Schweine schildert. Von Dom
Gutscho aus verfolgte er nun den Weg, den auch Schwein-
fnrth gemacht hatte, über die Seriben Mosmar, Jdris Def-
ter, Golferat (Schweiusurth's Ngufala), Ahmedabad, wo
das Denkmal der „Signora" (Fräulein Tinne) steht, und
im Lande der Ndfchur die Seriba Ahmed Ali, wo Schwein-
fnrth's Sammlungen verbrannten, und zuletzt Ghattas auf
der Grenze der Njandgwe-Bongo und der Ndfchur.
Potagos' Angaben über die Flüsse, welche dieses und
das weiter nach Osten bis zum Bahr-el-Dschebel sich
hinziehende, zum größten Theil aus Grasflächen bestehende
Terrain durchsließeu, weichen wieder in mancher Bezie-
hung von denen Schweinfurth's ab. Von den zahlreichen
größeren und kleineren Seen, die inmitten dieser Steppen-
landschast liegen sollen, würde einer den Tanis, ein anderer
den Röhl aufnehmen: beides Flüsse, die nach Schweinfurth
dem Bahr-el-Dschebel zugehen. Zur Jnnndationszeit soll
der letztgenannte Flnß mit allen diesen Seen eine ungeheure
Wasserfläche bilden, vor der die Bewohner sich nach Norden
zurückziehen.
In Schabi, am Ufer des Bahr-el-Dschebel angelangt,
erwartete Potagos daselbst einen Dampfer, der ihn den Fluß
hinab bis Chartum beförderte, von wo er nach kurzem
Aufenthalte nach Kairo zurückkehrte.
nordwestliche Marokko.
die Worte „Ein Ritt in Unterrock und Pantoffeln" wirklich
das Wesentliche in Hauptmann Colvile's glänzender Reise?
Vermnthet man dahinter eine fast einzig dastehende Lei-
stnng, eine Hochzeitsreise zwar, aber eine zu topographischen
Zwecken, eine Routenaufnahme von Fez quer durch das von
räuberischen und rebellischen Stämmen bewohnte Gebirge
20
154 Colvile's Ritt durch i
land nach Udschda an der algerischen Grenze? Dieses Ge-
biet ist vor ihm nur zweimal bereist worden, 1805 von dem
Spanier Badia (Ali Bei el-"Abassi) und zu Anfang der
vierziger Jahre von Scott, dessen Beschreibung sehr dürf-
tig ist — Rohlfs drang 1861 in dieser Richtung nur eine
Strecke weit, noch nicht ein Drittel des Weges, nämlich bis
Tsarsa (Thesa), vor —, und so sehr sich der französische Ge-
neralstab bemüht, sichere Kunde darüber zu erlangen, scheint
ihm das doch nicht zu glücken, wenigstens nach Colvile's Dar-
stellung nicht. Giebt er doch an, daß ein französischer Offizier,
mit welchem er im selben Coups vonTlemsenbisOran fuhr,
nur deshalb im Auftrage des in letzterer Stadt kommandiren-
den Generals diese langweilige Fahrt gemacht habe, um ihn
über die Resultate seines Rittes auszuhorchen (was ihm freilich
nicht gelang). Und warum liegt den Franzosen so viel daran,
besagtes Gebiet kennen zu lernen? Weil sie — und daran
mag ja etwas Wahres sein— ihre algerische Westgrenze bis
an den großen Flnß Mnluja iu Marokko vorschieben, und
wenn ihnen dieses geglückt ist, auch auf den Rest des Sul-
tanats die Hände legen wollen. Das aber kann England
nicht dulden; denn von Marokko, auf welches Frankreich so-
wohl wie Spanien ihre Blicke geworfen haben, wird Gibral-
tar verproviantirt; Marokko kann ferner zu einer Kornkam-
mer für England umgewandelt werden und sich zu einem
kansbereiten Markt für englische Waaren entwickeln. (Wie
das, werden wir gleich sehen.) Da nun Colvile bei seinem
ersten Aufenthalte in Marokko im Jahre 1877 die Ueber-
zeugung gewonnen hatte, daß England als natürlicher^?)
Beschützer Marokkos berufen sein werde, in jenem noch nn-
erforschten Westen des Reiches dem Vordringen der Fran-
zosen Halt zu gebieten, so beschloß er, sein Scherflein zur
Aufhellung jenes Gebietes beizutragen, und unternahm im
Winter von 1879 auf 1880 mit ferner jungen Frau jeue nicht
ungefährliche Reife. Es sind das, wie man sieht, theilweise
dieselben Motive, wie diejenigen, welche Mac Gregor zu sei-
uer Reisenach Chorassan (s. „Globus" XXXVI, S. 151 ss.)
veranlaßten.
Hauptmann Colvile ist originell, sowohl was die Aus-
führung als was die Beschreibung seiner Reise anlangt.
Er macht dieselbe ausdrücklich zu dem Zwecke, sich zu insor-
miren; in dem Buche aber hat er sich nur, wie er in der
Vorrede sagt, auf eine allgemeine Beschreibung und solche
Erlebnisse beschränkt, wie sie beständig in fremden Ländern
sich ereignen, und die für den nach Belehrung suchenden Le-
ser absolut werthlos sind — denn nach seiner Ansichl ist es
unmöglich, Unterhaltung mit Belehrung zu vereinigen. An-
dererseits hat er in 26 Seiten Anhang solche belehrende
Dinge zusammengepackt, die den gewöhnlichen Leser im Haupt-
theile des Buches nur ärgern würden, nämlich eine AbHand-
lung über die Wichtigkeit Marokkos für England, sein
Jtinerar, ein Glossar marokkanischer Worte und Bemerkun-
gen zur Karte. Wir gedenken hier auf beide Abschnitte ein-
zugehen; denn der letzte ist ebenso interessant, als der erste
vergnüglich zu lesen und wenigstens zum Theile Neues bietend.
Zunächst also den letztern Abschnitt, der von der jetzigen
und zukünftigen Wichtigkeit Marokkos handelt, und von dem
wir bei Seite lassen, was sich nur auf Englands Interessen,
auf die Verproviautirung Gibraltars, bezieht. Marokko,
sagt Colvile, kann eine Kornkammer für Europa (er meint:
England) werden, wenn auch die einen es eine Wüste, die
anderen ein rauhes Gebirgsland schelten, und die dritten ge-
gen obige Behauptung die schrecklichen Hungersnöthe an-
führen. Dr. Leared dagegen nennt Marokko „eine frucht-
bare Wüste, welche nur auf die Hand des Menschen wartet,
die sie produktiv machen soll." Der Boden besteht in der
ganzen Länge und Breite des Reiches aus einem reichen
s nordwestliche Marokko.
Alluvium, ist von vielen großen, im schneereichen Atlas
entspringenden und zahllosen kleinen Flüssen bewässert, hat
weite Ebenen, welche durch ein einfaches Bewässerungssystem
vor jeder Trockenheit geschützt werden könnten. Nutzloses
Schilf bedeckt jetzt Tausende von Morgen; aber wo nur der
Boden davon gereinigt, und mit dem schlechten Holzpfluge
etwa zwei Zoll tief ausgekratzt ist, bringt er die prächtigsten
Ernten. Nicht der hundertste Theil des verfügbaren Landes
ist überhaupt bestellt, und von diesem Hundertstel wird jähr-
lich wieder nur ein Drittel bestellt, während zwei Drittel
brach liegen. Bei Einführung einer vernünftigen Frucht-
folge könnte mithin fchon die jetzige Getreideproduktion ver-
dreifacht werden, ohne daß man einen einzigen Morgen
Landes mehr umzubrechen brauchte.
Was den gebirgigen Charakter des Landes anlangt, so
ist eine solche Vorstellung zum Theil eine Schuld unserer
Karten(?), auf denen Marokko allerdings als eine Masse
von steilen Piks und tiefen Abgründen erscheint, während es
aus gerundeten Alluvialhügeln und Thälern besteht; selbst
die Hauptkette des Atlas ist nicht steil (?) und ihre Thäler
gehören zu den fruchtbarsten des Landes. Was endlich die
Hungersnöthe anlangt, so kann man denselben erstlich, wie
gesagt, durch ein einfaches Berieselungssystem entgegentreten,
und zweitens ist das Volk selbst daran mit schuld. Es wird
nämlich so wenig Getreide gebaut und so wenig für ein
Mißjahr zurückgelegt, daß der geringste Ernteausfall Man-
gel erzeugt. Mangel in dem einen Jahre bedeutet aber oft
Roth im folgenden. Um nur sofort baar Geld in die Hände
zu bekommen, verkaufen die Leute oft ihr Getreide als Grün-
futter, während rings herum das schönste Gras wächst, nur
wissen sie kein Heu daraus zu macheu.
Colvile meint, daß die Marokkaner mehr Korn prodn-
ciren werden, wenn sie nur erst einen Absatzmarkt gefunden
haben und die Verkehrswege und Häfen des Landes in bef-
fern Zustand gesetzt sein werden. In der Unzugäuglichkeit
seines Landes sieht aber der Sultan jetzt seinen einzigen
Schutz, mithin wird sich — nach Colvile — die jetzige Lage
der Dinge nicht eher ändern, als bis England sich offen zum
Beschützer Marokkos gegen jeden Angreifer, wer es auch sei,
erklärt. Dann könnten von dort z. B. die englischen Bier-
kalter ihre Gerste beziehen, die sie jetzt mit großen Kosten
aus dem südlichen Frankreich kommen lassen, weil die eng-
lische Gerste wegen der letzten nassen Sommer nnd die ame-
rikanische wegen der langen Seereise zu Brauereizwecken
ungeeignet ist resp. gewesen ist. Immerhin merkwürdig zu
erfahren, wie die Interessen des bierbrauenden und -trinken-
den Publikums mit der englischen Politik zusammenhängen.
Nun müßte aber ein Land, welches marokkanisches Ge-
treibe bezieht, dafür dort sich einen Absatzmarkt seiner eige-
nen Güter eröffnen — und ein solcher ist Marokko ohne
Zweifel. Es besitzt keine irgendwie wichtigen Manufakturen,
während zum mindesten die oberen Klassen seiner Einwoh-
ner zum Luxus ueigen. In der That ist der Bedarf an
europäischen Manufakturen weit größer als das Angebot;
aber bis jetzt hat Frankreich das Monopol in Händen, die-
sen Bedarf zu befriedigen. Englische Waaren trifft man
fast nie, wohl aber schlechten französischen Thee, Zucker,
Lichter, Zündhölzer und Zeuge, und zwar überall nnd zu
hohen Preisen. Namentlich für Thee, Zucker und Zeuge ist
Marokko ein vorzügliches Absatzgebiet, und Frankreich macht
sich seinen Wollhandel zwischen Marseille und Casa Bianca,
sowie den Vortheil seiner algerisch-marokkanischen Grenze in
dieser Hinsicht sehr zu Nutze. Frankreich braucht aber Ma-
rokko, weil seine algerischen Besitzungen arm(?) sind und
ihm viel kosten, Marokko aber reich, nicht nur an Korn,
sondern auch au Metallen. Zudem ist die Westgrenze von
Ueber den Farbensinn der Naturvölker.
155
Algerien ungenügend und schwer zu schützen; Flüchtliugeu
und Unzufriedenen wird es stets leicht, sich hinter derselben
in Sicherheit zu bringen, und die räuberischen Einfälle der
Marokkaner auf algerisches Gebiet geben auch stets zu Be-
schwenden Anlaß. Was Spanien anlangt, so möchte es sich
wohl gern in Marokko festsetzen; allein ihm fehlt die Macht
dazu. Augenblicklich verlangt es weiter nichts als eine
Fischereistation in Agadir, sicherlich in der Absicht, dieselbe
zu seiner Operationsbasis gegen den Süden des Landes zu
machen. Wer daran zweifelt, daß sowohl Spanien als
Frankreich heimliches Verlangen nach dem Sultanate tragen,
den fordert Colvile auf, nur einen Monat lang spanische
Zeitungen zu lesen und ebenso lange sich in einer algerischen
Garnison auszuhalten, um sich eines Bessern belehren zu
lassen. Marokko, so schließt er, ist nöthig sür die Sicher-
heit für Gibraltar, nöthig für den englischen Handel, aber
auch nöthig für die Pläne Frankreichs. Die Frage ist nur:
„Wer soll dort herrschen?" So lange England Indien
besitzt und deshalb Gibraltar halten muß, so lange es Manu-
sakturwaaren zu verkaufen und eine Bevölkerung zu ernäh-
ren hat, kann ein Engländer auf jene Frage nur eine einzige
Antwort geben — fagt Colvile.
Indem wir nun zu der eigentlichen Reisebeschreibung
übergehen, lassen wir alles bei Seite, was der Verfasser
über den schon so oft beschriebenen Weg von Tanger nach
Fez und über letztere Stadt selbst sagt. Dort erst begann
der schwierigere Theil der Reise, dort erst beginnt seine
Routenkarte, auf deren Herstellung er augenscheinlich viele
Mühe und Sorgfalt verwendet hat. Wiederholt hat er
Längen- und Breitenbeobachtnngen gemacht, und im Notiren
der Zeit und der Richtung des Weges war er so geuau, daß
er, als einmal ein Trupp Reiter wie zum Augriffe anfpreugt
und jeder nach seinen Waffen greift, rasch nach der Uhr sieht
und die Zeit sich aufschreibt für den Fall, daß es einen
Aufenthalt geben sollte. Zum Glücke stellten sich die Rei-
ter als Freunde heraus. Wider sein Erwarten leisteten ihm
übrigens die Eingeborenen bei Herstellung seiner Karte durch-
weg alle möglichen Dienste. Europäer hatten ihn verschie-
dentlich davor gewarnt, Notizen zu machen; man kam ihm
jedoch überall bereitwilligst entgegen: die Distriktshäupter
(Kaid) sowohl wie einzelne Leute, denen er begegnete, waren
stets bereit, stehen zu bleiben und von jedem Dinge, das ihn
interessiren konnte, Lage und Namen anzugeben; und falls
er es unterließ, so forderten sie ihn stets aus: „Schreibe es
in Dein Buch!" Ebenso überrascht war er über die Freund-
lichkeit und Zuvorkommenheit der Marokkaner gegen seine
Frau — er wie sie hatten Landestracht angelegt, schon um
nicht Aufsehen zu erregen —, zumal dieselben ihre eigenen
Weiber so gering achten. Und das war nicht nur bei seiner
Begleitmannschaft der Fall, sondern unter allen Klassen,
mit denen er zusammentraf, fand er eine offene anständige
Höflichkeit, wie sie schon im civilisirten Europa selten ist,
wie er sie aber sicherlich nicht im mohammedanischen Afrika
erwartet hätte.
Sprechen diese Züge für den Charakter der Marokka-
ner, fo muß jeder über die scheußliche Grausamkeit, welche
dieselben sich gegen Menschen und Thiere zu Schulden kom-
men lassen, empört sein. Colvile führt einige erstaunliche
Thatsachen in dieser Hinsicht an, behauptet aber dabei, daß
der Grausamkeit stets ein Zweck zu Grunde liege, sie nie
um ihrer selbst willen geübt werde. Der Sultan, erzählt
er S. 108, setzt selten über einen Strom, wenn derselbe
nicht furthbar ist. Dann stellt er ober- und unterhalb der
Furth Kavallerie vier Mann tief auf, der Sicherheit halber.
Einmal kam er mit einem Trupp Gefangener an einen an-
geschwollenen Strom und ließ nun jenen gefährlichen Dienst
von einer Abtheilung derselben übernehmen. Die Strö-
mnng riß sie hinweg. „Gott sei ihren Seelen gnädig,"
rief Seine Scherififche Majestät aus, uud befehligte eine
zweite Abtheilung ins Wafser. Dieselbe theilte das Schick-
sal ihrer Vorgänger, und ebenso vier andere, bis der Vor-
rath an Gefangenen erschöpft war. Da hielt es dann der
Sultan für gerathener zu warten, bis sich das Wasser etwas
verlausen. Ein anderes Mal (S. 177) fuhr er mit einer
Anzahl seiner Frauen aus einem Teiche in seinem Parke in
Marrakesch, wobei das Boot umschlug und alle ertrunken
wären, wenn nicht zwei Gartenarbeiter herbeigeeilt wären
und die Gesellschaft mit eigener Lebensgefahr gerettet hätten.
Nun wird jedermann meinen, sie hätten ein werthvolles
Geschenk oder gar eine lebenslängliche Pension erhalten.
Nein! Seine Majestät in so unwürdiger Lage gesehen zu
haben, und obendrein in Gesellschaft seiner Frauen, das
war ein nur mit dem Tode zu sühnendes Verbrechen: die bei-
den Arbeiter wurden also in einem kleinen Räume einge-
mauert und mußten dort den gräßlichen Tod durch Hunger
oder Erstickung sterben!
Wie unendlich blutig die häufigen Rebellionen erstickt
werden, wie sehr sich aber die Aufständischen ihrer Hant
wehren und List mit Gegenlist, Grausamkeit mit Grau-
samkeit vergelten, davon erzählt Colvile einige Beispiele ans
S. 39 ff. In Fez traf er einen frühern englischen Ossi-
zier, Maclean, der dort als Instrukteur des Heeres augestellt
ist — von ihm hat er Mancherlei erfahren. Aber anf die
Aufforderung, feine Erlebnisse zu veröffentlichen, entgegnete
derselbe abwehrend: „Wollte ich nur die Hälfte von den
Dingen, die ich mit eigenen Augen in diesem außerordent-
lichen Lande gesehen habe, pnbliciren, ich würde für meine
ganze übrige Lebenszeit als Lügner gebrandmarkt werden!"
Ueber den Farbensinn der Naturvölker.
Es ist erfreulich zu sehen, wie in verhältnißmäßig sehr
kurzer Zeit durch das vereinte Wirken verschiedener Kräfte
eine wissenschaftliche Frage dem Abschluß nahe gebracht wird,
die noch vor einigen Jahren ein schwieriges Problem schien
und auf eigentümliche Abwege zu führen drohte. Die
Kulturvölker der frühern Zeit sollten nur einen nnvollkom-
menen Farbensinn besessen haben, viele Farben, so wurde
behauptet, seien von ihnen nicht erkannt worden, und den Be-
weis dafür glaubte man erbracht, wenn man zeigte, daß
in der Sprache die betreffenden Wörter für jene Farben
fehlten.
Auf ethnologischer Basis ist solchen von Gladstone,
L. Geiger und anderen vertretenen Ansichten gegenüber nun
eine ganz andere Meinung gewonnen worden. Die Natur-
Völker hier als Lehrmeister heranzuziehen und bei ihnen
Anfrage zu halten nach der Vollkommenheit oder Un-
Vollkommenheit ihres Farbensinnes lag für denjenigen, der
mit ethnologischen Vergleichen sich beschäftigte, nahe und der
20*
156 lieber den Farbens
Referent hat diesen Weg zuerst eingeschlagen^), der sich
auch als fruchtbringend erwies. Ein sehr wünschenswerthes
weiteres Material brachten dann die verschiedenen Vor-
stellnngen der Nubier, Lappen, Patagonier in Deutsch-
land, und Forscher wie Virchow, Nachtigal, Kirchhofs und
andere untersuchten dieselben sehr gründlich auf die Voll-
kommenheit ihres Farbensinnes, sowie auf ihre Farben-
bezeichnungen. So leicht dieses auf den ersten Blick
auch erscheinen mag, nach vorgelegten Farbenmustern oder
einer Farbenskala die Benennungen eines Volkes für die-
selbe zu erforschen, so schwierig ist dieses oft, wie einzelne
Differenzen zwischen Virchow und Kirchhoff in Bezug
auf dieselben unabhängig von einander untersuchten Nubier
beweisen 2).
Während wir aber in Europa entweder nur von der
Stndirstnbe aus oder mit den wenigen von Hagenbeck-
Rice uns zugeführten Söhnen fremder Länder zu operiren
vermochten, schlugen die Doktoren Hugo Magnus und
Pechnöl-Lösche einen andern praktischen Weg ein, denjeni-
gen der Fragebogen 3). Diese Fragebogen zeigten die Farben:
Schwarz, Grau, Weiß, Roth, Orange, Gelb, Grün, Violett,
Braun und wurden massenhaft über die ganze Erde, nament-
lich an Missionäre, verschickt, in der Absicht, „durch direkte
Prüfung den Umfang und die Leistungsfähigkeit des Farben-
sinnes uncivilifirter Völkerschaften festzustellen, sowie die
sprachlichen Bezeichnungen, in denen sich die verschiedenen
Betätigungen des Farbensinnes äußern, zu sammeln. Ge-
lang es uns diese beiden Punkte in befriedigender Weise
zu erledigen, so mußten wir mit der Erfüllung dieses uuse-
res Zweckes zugleich auch einen sichern Einblick in das Ver-
hältniß gewinnen, indem das physiologische Moment der Em-
psinduug zu dem philologischen Moment der Sprachbildung
resp. des Sprachreichthums steht. Denn wir vermochten
ja mit Hülse unserer Untersuchungen sicher zu erkennen,
ob und iu welchem Umfange das Vorhandensein oder der
Mangel einer Farbenempfinduug auch das Vorhandensein
oder den Maugel eines analogen sprachlichen Ausdruckes
im Gefolge haben müsse. Und mit dieser Erkenntniß war
zugleich auch in direktester Weise eine Probe auf die Glaub-
Würdigkeit des Geiger'schen sprachvergleichenden Beweises
der allmäligen Farbensinn-Entwickelung gemacht."
Von den versandten Bogen sind 61 an die Fragesteller
zurückgelangt, welche über den Farbensinn und die Farben-
bezeichnuug von 48 verschiedenen Völkern und Stämmen
Auskunft ertheilen. Ist diese Zahl auch nicht groß, so ge-
nügt sie doch, um eiue Verarbeitung möglich zu machen,
welche allgemein gültige Schlüsse zuläßt, wiewohl ganz
große Nacen und Familien fehlen, so sämmtliche Indianer
Südamerikas, sämmtliche Arktiker Asiens; aus der Südsee
liegen nur zwei Beantwortungen vor.
Das Resultat der kritischen Verarbeitung dieses Origi-
nalmaterials durch Dr. Hugo Magnus liegt nun vor und
führt den Titel: „Untersuchungen über den Farben-
sinn der Naturvölker. Mit einem chromo-litho-
graphischen Fragebogen" (Jena, G. Fischer, 1830).
Im Nachstehenden wollen wir versuchen, den wesentlichen
Inhalt nützutheilen.
Der Umfang des Farbensinnes der Naturvölker scheint
sich in denselben Grenzen zu halten, wie der unserige; ein
physiologischer Mangel bezüglich der Empfindung der Haupt-
färben war nicht nachweisbar, und alle untersuchten Völker
besaßen eine Kenntniß der Farben Roth, Gelb, Grün, Blau.
1) Ztschr. für Ethnol. 1878, 323.
2) Ztschr. für Ethnol. 1879, 400.
3) Vergl. „Globus" XXXIV, S. 160.
n der Naturvölker.
„Allerdings darf man diefes Verhältniß immer nur als ein
relatives ansehen und durchaus nicht die Kenntniß der
Farben Roth, Gelb, Grün und Blau für alle Naturvölker
als eine völlig gleichmäßige und gleichwertig ausgebildete
ansehen. Vielmehr scheinen die einzelnen Naturvölker in
der Leistungsfähigkeit ihres Farbenempfindungsvermögens
mehr oder weniger erhebliche Differenzen aufzuweisen."
Bei manchen wurden die Uebergangstöne schwer unterschie-
den, „und noch andere beweisen sogar gewissen scharf aus-
geprägten Hauptfarben gegenüber eine ganz deutlich zu er-
kennende Empfindungsträgheit, die sich allerdings niemals
bis zu einer wirklichen Empfindungslosigkeit steigerte."
Es ist sehr interessant zu erfahren, daß die dravidifchen
Völker der Nilagiris (Frula, Badaga, Toda und Koda wur-
den geprüft) ihren Farbensinn wesentlich auf Roth be-
schränken, während Gelb, Grün uud Blau wenig ausgebil-
det oder rudimentär sind. Schwarz, Roth und Weiß sind
ihre Farben, und so ähnlich auf der Insel Nies bei Suma-
tra. Hieraus und nach anderen Beobachtungen entwickelt
Magnus die Ansicht, „daß bei verschiedenen Naturvölkern
der Schwerpunkt der Farbenempfindung in der Kenntniß
der Farben größerer Wellenlänge, also Roth und Gelb, liege,
während die Empfindung der Farben kürzerer Wellenlänge,
also Grün und Blau, eine weniger lebhafte sei."
Die vom Referenten zuerst nachgewiesene Erscheinung,
daß Blau und Grün bei einer überraschend großen Anzahl
von Völkern sprachlich zusammengefallen, erhält auch durch
Beispiele, die Magnus mittheilt, Bestätigung und wird
neuerdings durch eine Mittheilung von Finsch von den
Marshall-Jnseln für diese nachgewiesen^). Weit schärfer
ausgeprägt als die Bezeichnung für die kurzwelligen Farben
(Grün, Blau, Violett), welche oft durch Schwarz oder
Grau gegeben werden, sind jene für die langwelligen (Roth,
Orange, Gelb), die weit intensiver empfunden werden.
Alle nach dem Verfahren von Magnus geprüften Völker
kannten das Roth und bezeichneten es als solches; es steht
schars geschieden da. Doch machte Magnus, gleich dem
Referenten, die Bemerkung, daß einzelne Stämme Gelb
und Roth mit dem nämlichen Worte belegten.
Ein Ergebniß der Magnns'schen Forschung lautet fer-
uer: „Eine Verwechselung der sprachlichen Ausdrücke unter-
und miteinander erfolgt meist in der Weise, daß die im Spektrum
benachbarten Farben sprachlich vereinigt werden; also Roth
mit Orange resp. Gelb; Gelb mit Grün; Grün mit Blau;
Blau mit Violett. Eine regellose Verwechselung, so daß
z. B. Roth mit Blau sprachlich gleichgestellt wurde, konnte
bei unseren Untersuchungen nur sehr selten nachgewiesen
werden. Das allgemeine Verhalten ist jedenfalls die sprach-
liche Vereinigung spectral benachbarter Farben."
Die Eigentümlichkeit in der Farbennomenclatur der
Naturvölker nun, welche die verschiedensten Untersuchungen
ergeben, zwingen zu der Annahme, daß es sich hierbei um
ein typisches Gesetz von allgemeiner Gültigkeit handele, und
die ferner aus den verschiedeneu Untersuchungen sich erge-
bende Anschauung von der Armuth oder ungenügenden
Entwickelung der Sprache gegenüber den Farben wird von
Magnus im Allgemeinen anerkannt. Eine wirkliche Er-
klärung, so schließt er dann weiter, sei für diese Erscheinung
aber durch Ausdrücke wie „Spracharmuth, ungenügende
Entwickelung der Sprache" nicht gewonnen.
Eine solche sncht nun Dr. Magnus zu erreichen, indem
i) Verhandl. Verl. Anthrop. Ges. 1879, 414. Ich finde
die Bestätigung bei Hörnsheim, Beitrag zur Sprache der Mar-
shall-Jnseln (Leipzig 1880) S. 15, wo es heißt: mai'oro, blau
und grün. Es ist dasselbe Wort, wie ich es schon für Ebon
für Blau und Grün nachwies. Ztschr. für Ethnol. 1878, 328.
Die Völkerverl
er das Nachstehende zur Charakterisirung der kausalen Ber-
Hältnisse ausführt. Erstens, auf den Gesetzen der Sprach-
bildung fußend, kann man annehmen: sobald die Qualitäten
der Elnpfindung sprachlich nicht zum Ausdruck gelangen,
wird dieses lediglich nur durch eine zu geringe schöpferische
Kraft der Sprache veranlaßt. Klingt dieses auch sehr
annehmbar, so wird damit doch noch keine Erklärung ge-
Wonnen für die Gesetzmäßigkeit, welche gerade die Mangel-
hafte Farbentermiuologie in so übereinstimmender Weise
bei den Naturvölkern zeigt; die Annahme einer ungenügen-
den Produktionskraft der Sprache vermag aber diese that-
sächlich vorhandene Gesetzmäßigkeit nicht genügend zu beaut-
Worten.
Magnus sucht daher nach einer andern Erklärung und
neigt sich der Annahme zu, daß bei der Entwickelung
der sprachlichen Ausdrücke für die verschiedenen Empfin-
düngen auch die Qualität dieser Empfindungen eine Rolle
zu spielen habe; er zeigt alsdann wie auch gewisse physiolo-
gische Faktoren dabei thätig sind und die schöpferische Kraft
der Sprache leiten. „Diejenige Farbe, welche in Folge
eines hohen Gehaltes an lebendiger Kraft mit einer be-
sondern Energie der Empfindung verknüpft ist," wird diese
Thatsache anch in sprachlicher Verkörperung zur Schau tra-
ltnisse Afrikas. 157
gen, sprachlich schärfer entwickelt sein, als die Farben mit
einem geringen Gehalt an lebendiger Kraft. Darum fehlt
Roth nirgends und von ihm aus nimmt nach dem blauen
Ende des Spektrums hin die Farbenterminologie der Natur-
Völker allmälig ab und wird verschwommener. Diese theo-
retische Aufstellung wird durch die praktische» Ergebnisse
der Untersuchungen überraschend gedeckt.
Schließlich wirft der Verfasser einen Blick aus den
Stand der Theorie von der allmäligen Entwickelung des
Farbensinnes, wie Lazarus Geiger dieselbe zu begründen suchte;
er giebt zu, daß er früher sich über die Tragweite der ans
fprachvergleichenden Untersuchungen gewonnenen Ansichten
getäuscht habe, und bekennt sich zu der Anschauung, daß der
ausschließlich sprachvergleichende Beweis allein hier nicht
maßgebend fein könne, sondern daß zunächst die Physiologie
die Führung übernommen habe. Ganz läßt Magnus jedoch
die Theorie der Farbensinn-Entwickelung nicht fallen; nur
die Sprachvergleichung vermag den Beweis für die allmä-
lige Entwickelung nicht zu erbringen. Naturwissenschaft-
lichen Methoden muß es vorbehalten bleiben, das allmälige
Wachsen und die Verbesserung dieses Sinnes nachzuweisen.
R. Audree.
D i e Völkerve r hl
Die ethnologischen Verhältnisse des afrikanischen Konti-
nents schienen nach den bisherigen Untersuchungen sehr
verworrene zu sein. Sieht man von den erst im Mittel-
alter eingewanderten Arabern ab und ebenso von den Se-
miten Abessyniens, deren Eindringen ebenfalls in verhält-
nißmäßig junge Zeit fällt, so bleiben doch noch immer zum
mindesten fünf oder sechs Stämme — nach manchen Eth-
nologen sogar noch viel mehr —, die anscheinend gar nicht
mit einander verwandt sind.
Den ganzen Norden nnd Nordosten Afrikas besitzen
hamitische Völker von hellerer Farbe, deren Körperbau nichts
Negerhaftes hat und deren Sprachen entschieden asiatischen
Ursprungs sind — nahe Verwandte des semitischen Stam-
mes. Das wichtigste dieser Völker, das der Aegypter, dem
das fruchtbare uutere Nilthal zugefallen war und das dort
frühzeitig eine hohe Kultur erreichte, hat freilich heute eine
fremde Sprache angenommen; aber diejenigen Stämme,
welche die großen Wüsten des Nordens und die Länder der
Ostküste besitzen, haben ihre Sprachen zum großen Theile
treu bewahrt. Es ist höchst merkwürdig, wie alterthümlich
sich die Sprache bei dem abgeschlossensten dieser Völker, den
Herren der Sahara, die wir nach arabischem Vorgang Tua-
reks nennen, erhalten hat. Scheint es doch fast, als seien
trotz der sechs Jahrtausende, die mindestens seit der Ein-
Wanderung der Hamiteu verflossen sein müssen, manche
Formen der ägyptosemitischen Ursprache in ihr noch treu
überliefert, die das Altägyptische schon im dritten Jahrtau-
send v. Chr. verloren hatte. Eingehendere Untersuchungen
dieser hamitischen sprachen fehlen noch; gewöhnlich nimmt
man drei Gruppen derselben an:
1. Das Aegyptische in seinen verschiedenenEntwicke-
lungszuständen.
2. Die libyschen Sprachen (Tnarek, Kabylisch u. s. w.)>
3. Die kuschitischen Sprachen (wie Bedja, Galla,
Somali).
ltnisse Afrikas.
Südlich vom Gebiet der Hamiten finden sich zunächst
vereinzelte Völker, deren körperlicher Typus mehr oder we-
niger mit dem hamitischen übereinstimmt, deren Sprachen
jedoch eigenartig sind. Dahin gehören z. B. im Westen die
Pul (gewöhnlich nach arabischer Sitte Fellata genannt), im
Osten die Nuba. Neben und zwischen diesen, numerisch aller-
dings starken, Stämmen beginnt schon am Südrand der großen
Wüste ein Gewirr von Völkern, deren Körperbau und deren
Farbe rein negerhast ist; von ihren Sprachen lassen sich
nur wenige zu einer Gruppe vereinigen, die meisten stehen
sich anscheinend fremd gegenüber. Als Südgrenze derselben
kann etwa der fünfte Grad nördlicher Breite angesehen wer-
den. Die ungeheure Strecke aber, von diesem Grade an bis
fast zum Kaplande hin, gehört, soweit sie bis jetzt erforscht ist,
einer großen Gruppe von Ncgervölkern an, deren Sprachen
man als die Bantnsprachen zu bezeichnen pflegt. Zu ihnen
gehören im Westen das Herero, das Pongne und das Fer-
nando Po, im Osten das Kafir, das Tschwana und das
Swahili.
Den äußersten Süden bewohnen die Hottentoten und
die noch wenig bekannten Buschmänner; bei beiden hat der
Körperbau manches Negerhafte, die Sprachen stehen isolirt.
Wie man sieht, ist es ein buntes Bild, das die Ethno-
graphie Afrikas bietet, ein Bild, das mit der einfachen
Gliederung dieses Kontinents in einem gewissen Widerspruch
steht. Desto interessanter ist eine neuerdings ausgestellte
Theorie, die diese anscheinend so hoffnungslos verworrenen
Völkerverhältnisse in der einfachsten Weise erklärt, um so
mehr als diese Theorie von einer Seite ausgeht, die, wenn
eine, als competent gelten muß.
Richard Lepsius hat in der Einleitung seiner nn-
längst erschienenen Nnbischen Grammatik die Stellung des
Nuba unter den afrikanischen Sprachen zu bestimmen ge-
sucht und hat zu diesem Zwecke die afrikanischen Sprachen
einer Musterung unterzogen. Die Ansichten, die er hier
158 Die Völkerverl
ausspricht, sind das Resultat fast vierzigjähriger Beschästi-
gung mit den Sprachen Afrikas; schon die durchsichtige
Klarheit der Darstellung zeigt, aus wie gründlichen Studien
diese anscheinend so einfachen Sätze hervorgegangen sind.
Ursprünglich war, um Lepsius' Resultat gleich hier aus-
zusprechen, die Bevölkerung Afrikas eine einheitliche, die in
Körperbau nnd Sprache etwa jenen Völkern entsprach, die
noch heute in einer großen Gruppe zusammensitzen, den
Bantustämmen. Da brachen über die Landenge von Suez
die ägyptischen und libyschen, über die Meerenge von
Babelmandeb die knschitischen Hamiten in das Land; sie
unterjochten oder vertrieben die einheimische Bevölkerung und
nahmen im Lauf der Jahrhunderte einerseits den ganzen
Norden Afrikas bis zum Niger und bis zum atlantischen
Ocean und andererseits das obere Nilthal und die Ostküste
in Besitz. Die aus diesen Ländern vertriebenen Negervöl-
ker drängten nach Süden und nach Westen weiter; sie zwan-
gen andere Stämme aus ihren alten Sitzen zu weichen und
es entstand, ähnlich wie in unserer Völkerwanderung, eine
durchgreifende Verschiebung aller bisherigen ethnologischen
Verhältnisse. Tritt diese aber unter Naturvölkern ein, sind
die Nachbarstämme, deren Sprachen bisher nur leicht dialek-
tisch geschieden waren, einmal aus ihrem gegenseitigen Kon-
takte herausgerissen und unter Völker mit ihnen ferner stehen-
den Idiomen eingeschaltet, so beginnt jede dieser Sprachen
sich in eigenartiger Weise zu entwickeln, und sie thut dies um
so rascher, um so abweichender, je fremder ihr die Idiome
gegenüberstehen, die sie nun umgeben. Wenige Jahrhun-
derte können genügen, zwei dieser literaturlosen Sprachen
einander völlig unähnlich zu machen, wenn nur einmal die
Verhältnisse, unter denen sie sich vordem ruhig entwickelt
hatten, eine gewaltsame Störung erfahren haben und die
Traditionen der Völker unterbrochen worden sind.
Nimmt man nun an, daß die nicht hamitifchen Stämme,
die südlich von der großen Wüste wohnen, sich aus den von
der hamitischen Invasion zertrümmerten oder von der Wan-
derung mit fortgerissenen Völkern herausgebildet haben, so
liegt es vor Augen, wie das Gewirr der nördlichen Neger-
Völker entstanden ist.
Es kommt noch hinzu, daß da, wo Hamiten uud Neger
aneinander grenzten, wo die einen vielleicht die herrschende
Klasse bildeten, die anderen die Masse des Volks, Misch-
Völker und Mischsprachen entstanden. Solcher hamitischen
Beeinflussung verdanken nach Lepsius die Stämme mit nicht
reinem Negertypus *) ihre Entstehung; sie erklärt es auch,
wie die Sprache eines durchaus negerhaften Volkes, der
Hansa, rein hamitischen Bau besitzen kann.
Die südlichsten Stämme, die heutigen Bantuvölker, wa-
ren von den Folgen der hamitischen Invasion unberührt
geblieben; bei ihnen wird die Sprache das ursprüngliche
Gepräge am trenesten erhalten haben. Es wäre nun ein
Beweis der Lepsins'schen Hypothese, wenn sich in diesen
Sprachen und in solchen nördlicher Völker Verwandtes nach-
weisen ließe. Lepsius versucht diesen Nachweis zu führen
und, wenn nicht alles täuscht, ist er gelungen. Freilich
müssen wir uns dabei des oben Bemerkten erinnern; mehr
als Analogien im Bau können wir nicht zu finden erwarten,
aber diese fiuden sich in der That und finden sich bei so
eigenthümlichen Erscheinungen der Sprache, daß ein zusäl-
i) Die Farbe kommt dabei nur wenig in Betracht, denn,
wie Lepsius mit Recht bemerkt, ist sie nur ein Produkt des Kli-
mas; mit der höchsten Isotherme fällt auch durchgängig die
Zone der schwärzesten Bevölkerung zusammen.
ltnisse Afrikas.
liges Zusammentreffen unwahrscheinlich ist. So ist es
z. B. das Hauptkennzeichen der Bantusprachen, daß sie die
verschiedenen Klassen der Nomina (Menschen, Thiere,
Bäume u. s. w.) durch besondere Präfixe scheiden, und diese
anderen Sprachen durchaus fremde Scheidung findet sich ganz
ähnlich in manchen Nordsprachen, nur daß die Klassen in
diesen meist durch Suffixe bezeichnet werden. Nun herrscht
aber in einigen Nordsprachen (Pul, Wolof, Uniale) ein
höchst ausfallender Gebrauch: das Adjektiv nimmt den kon-
sonantischen Anlaut seines Snbstantivums an:
adg utru, ein großer Kopf,
dgetdgutru, ein großer Mann,
burt butru, eine große Mauer,
und es kann wohl kein Zweifel fein, daß hier ein letzter
Rest des Gebrauchs der alten Klassenbezeichnung durch Bor-
fatzsilben erhalten ist. Wie man in den Bantusprachen das
Klassenpräsix des Nomens vor den zu ihm gehörigen Wor-
ten wiederholt (z. B. b in abantu betu abahle, unsere
schönen Leute), so geschah es ursprünglich auch in den Nord-
sprachen; als diese dann die Klassenpräfixe verloren, behiel-
ten sie doch die alte Gewohnheit bei, daß Substantiv und
Adjektiv mit dem gleichen Konsonanten anlauten mußten
und so entstand jenes wunderbare Gesetz. Eine andere
äußerst seltene Spracherscheinung, deren gemeinsames Vor-
kommen bei den Bantn und iu mehreren der Nordsprachen
sehr bemerkenswerth ist, ist die sogenannte Intonation,
d. h. die Scheidung gleichlautender Worte durch Anwendung
einer verschiedenen Höhe der Stimmlage.
In strengerer Form läßt sich, wie gesagt, der Beweis
nicht führen; die Uebereinstimmuug in so auffälligen Punk-
ten, wie es die angeführten sind, kann jedoch kaum noch eine
zufällige sein, und somit werden wir uns der Lepsins'schen
Theorie der Einheit sämmtlicher Negervölker mit gutem Ge-
wissen anschließen können.
Es bleibt noch die Stellung der beiden südlichsten Völker
Afrikas, der Hottentoten und der Buschmänner, zu bestim-
men. Von der Sprache der letzteren ist zu wenig bekannt,
um ein Urtheil zu erlauben; die der ersteren macht in laut-
licher Hinsicht den Eindruck stärkster Verkommenheit, aber
dafür hat sie einen syntaktischen Besitz, den sie nur mit den
vornehmsten Sprachstämmen, dem indogermanischen und
dem ägyptosemitischen, theilt; sie unterscheidet durchgehend das
männliche und weibliche Geschlecht. Ist dies schon an und
für sich höchst ausfallend, so wird es noch merkwürdiger da-
durch, daß diese Scheidung zum Theil durch dieselben En-
düngen geschieht, wie in dem knschitischen Stamme der
hamitischen Sprache. Es liegt daher sehr nahe, mit Lepsius
anzunehmen, daß der südlichste Ausläufer der Kuschiteu, ein
Volk, das etwa im Gebiet der heutigen Swahili gesessen
haben müßte, von den wieder gegen die Ostküste vordringen-
den Bantuvölkeru abgeschnitten sei, uud daß seine Reste im
Laufe der Jahrtausende bis in jenen letzten Winkel des Erd-
theiles verschlagen worden seien. Danach wären die Hotten-
toten als ein heruntergekommenes Glied des ägyptosemiti-
schen Stammes anzusehen.
So weit die Lepsius'sche Theorie. Ein strenger Beweis
wird sich wohl nie für sie führen lassen, aber ihre große
Einfachheit, die naturgemäße Erklärung, die sie für die
ethnographischen Verhältnisse Afrikas giebt, sichern ihr für
immer einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit.
Adolf Erman.
Aus allen Erdtheilen.
159
Aus allen
Asien.
— Die Bevölkerung des russischen Turkestan.
Der russische Oberst Kostenko macht in dem kürzlich erschie-
nenen Buche: „Das Tnrkestanische Gebiet. Versuch
einer militärstatistischen Beschreibung des Militärbezirks
Turkestan" folgende Angaben:
Die Zahl der Bewohner mit Ausnahme der regulären
Truppen beträgt 3 269 013 Seelen. Davon sind:
Russen .... . 59 283 Dnnganen . . 20 000
Tataren . . . 7 300 Tarantschen . 36 262
Sarten.... . 690 305 Kirghizen . . . 1462 693
Tadschiks . . . . 137 285 Knramiutzeu . 77 301
Uzbeken.... . . 182 120 Kalmyken . . 24 787
Karakalpaken . . 58 770 Mongolen . . 22 117
Kiptschaken . . . 70107 Perser.... 2 926
Turkmenen . . 5 860 Inder.... 857
Von den 59 283 Russen kommen auf denOblast Semir-
jetschensk 44 089, vorzugsweise die Landwirtschaft treibende
Bauern und Kazaken. Im Syr-Darja-Oblast giebt es 8447
Russen, davon an 5000 allein in der Stadt Taschkent; im
Oblast Ferghana leben 1229, im Kreise Zerawschan 3838
und im Amn-Darja-Gebiet 1184 Russen. Aus der ge-
nanern Beschreibung der wichtigsten bewohnten Punkte
des Generalgouvernements: Taschkent, Wjernui, Kuldsha,
Samarkaud, Chodschent und Ura-Tjnbe geht hervor, daß
Taschkent ohne die Truppen 81 951 Einwohner zählt, davon
entfallen 76 092 auf den asiatischen und 4859 auf den enro-
päischen Stadttheil.
Die Beschäftigung der Bewohner wechselt nach der
Bodenbeschaffenheit des Landes. Den Gesammtfläch en-
in halt des Gebiets berechnet Kostenko auf etwa 100 Mill.
Deßjätinen, von denen nur an 2 000 000, also y50 des
Ganzen, zum Ackerbau sich eignen, 41 000 000 sind als Vieh-
weide brauchbar und über 54 000 000 Deßjätinen, über die
Hälfte des Gebiets, sind entweder ganz ertraglos oder bieten
nur für kurze Zeit im Frühjahr eine Weide für die Herden
durchziehender Nomaden. So beschäftigen sich namentlich
die 1V2 Millionen Kirghizen lediglich mit Viehzucht oder
mit dem Transporte von Waaren.
— Nach der „Molwa" ist Professor Müschketow
wiederum auf Reisen in Asien. Zweck seiner diesjährigen
Arbeiten ist die Erforschung des Zerawfchan-Glet-
schers, der sich im Quellgebiet des Flusses Zerawschan
befindet und die endgültige Lösung der Frage über den
Zusammenhang desselben mit dem Schurowski-Gletscher.
Herr Muschketow beabsichtigt beide Gletscher zu Fuß zu be-
suchen. Außerdem hat er in Aussicht genommen den äußerst
verwickelten Bau des Karamuk genannten Gebirgsstockes
aufzuklären, von dem nach Westen die Gebirgsketten von
Turkestan und Hissar, nach Osten die des Alai und des
Transalai ausgehen.
— Die Zeitung „Sibir" bespricht den großen Unter-
schied im Preise der Lebensmittel zwischen Tomsk und
Jrkntsk (es kostet z. B. ein Pud Roggenmehl in Tomsk
45 bis 48 Kopeken, in Jrkntsk 3 R. 40 K. bis 3 R. 70 K.)
und fährt dann fort: Dies bezeugt vor allem den trau-
rigeu Zustand der Wegeverbindungen in Sibirien. Noch
im vorigen Jahrhundert bestaud eiue direkte Wasserver-
bindnug von Werchotnrje (im Gouv. Perm) bis
Jrkutsk und weiterhin. Dieser Wasserweg galt bis zur
Einrichtung der sibirischen Landstraße als der officielle
Erdtheilen.
Weg, auf dem die Post und alle Kronsgüter befördert wnr-
den. Wenn Sibirien, setzt das Blatt hinzu, so bald noch
nicht an eine Eisenbahn in seinem bewohnten Landstrich den-
ken kann, so darf es doch wohl mit Recht erwarten, daß
ihm die Wasserverbindungen gegeben werden, deren gehörige
Einrichtung keine großen Ausgaben noch auch besondere
Mühe verursacht, da diese Wege von der Natur selbst vor-
gezeichnet und nur an wenigen Punkten auf kurze Strecken
Verbindungskanäle anzulegen sind.
— Ueber die Bewegung des auswärtigen Handels
im Hafen von Nikolajewsk an der Amur-Mündung
während des Jahres 1879 berichtet der „Nikol. Wjestn.":
Die Schifffahrt wurde am 16. Februar a. St. eröffnet und
am 28. November geschlossen, dauerte also 9% Monat. Aus
fremden Häfen liefen ein 516 Schiffe (382 Dampfer, 182
Segler) mit 288 001 Last, es gingen nach fremden Häfen ab
329 Dampfer und 101 Segler, zusammen 430 Schiffe mit
215 293 Last. Von den ankommenden Schiffen brachten nur
52 eine Ladung, hauptsächlich Steinkohlen (1 158 211 Pud),
Eisen (85 583 Pud) und Maschinen (6871 Pud). Ausgeführt
wurde« 1879 hauptsächlich Produkte der Laudwirthschaft im
Werths von 34028483 Rubel. An Zöllen wurden erhoben
154 513 Rubel 18 Kopeken für den Staat, außerdem zum
Nutzen der Stadt 74 742 Rubel 14 Kopeken.
— Aus einer Bekanntmachung der russischen Postver-
waltung von Ende Juli geht hervor, daß die Oblast-Ver-
waltung und der Stab der Truppen in der Küsten-
Provinz von Nikolajewsk (an der Mündung des Amur)
nach Chabarowka (ay der Einmündung des Ussuri in
den Amur) verlegt worden sind.
— Ein Telegramm des Oberst Prschewalski an den
russischen Generalstab aus Troitzko-Sansk vom 18. (30.) Juli,
eingegangen mit der Post aus Peking, lautet: „Stadt Gui-de
den 1. (13.) Juni. Im Laufe des April und Mai habe ich
das linke Ufer des Gelben Flnffes auf 250 Werst aufwärts
von Gui-de untersucht; weiter zu gehen hinderten nnzugäug-
liche Gebirge. Den Juni werde ich in dem Gebirge auf
dem rechten Ufer des Gelben Flusses südlich Gui-de zubrin-
gen, den Juli in den Bergen nordwärts von Sining; im
August gehe ich über Alaschan und Urga nach Kiachta."
— Der „Molwa" zufolge haben drei in China ansässige
russische Handelshäuser für den Transport von Thee, ande-
ren Waaren und auch Passagieren zwischen den Häfen Chi-
nas und der Nachbarländer eiue „Gesellschaft der
rufsischen Da mpfschifffahrt in China" auf Aktien
gegründet. ___
Afrika.
— In A'in-Marmora, 32 km von Alger, am Meere
und dem linken Ufer des Mazafran gelegen, hat die „Fran-
zöfische Gesellschaft zur Aufzucht von Straußen
in Algerien" ein Etablisfement gegründet, in welchem
sich schon 51 dieser Thiere befinden und weitere 79 erwartet
werden. 29 davon sind schon in Tripoli, der Rest ist vom
Sudan aus dorthin unterwegs. Das Grundstück wird
durch hohe Dünen gegen die Seewinde geschützt, umfaßt die
für die Strauße erforderlichen sandigen Striche und besitzt
am Ufer des Mazafran bewässerbares Land für den Anbau
von Luzerne, welche die Vögel besonders lieben.
— Mr. R. Arthiutou in Leeds hat kürzlich der „Baptist
Missionary Society" 1000 Pf. St. zum Ankaufe eiues
Dampfers, welcher auf dem Eougo und zwar im Stan-
160 Aus allen
ley Pool stationirt werden soll, angeboten sowie ferner 3000
Pf. St., deren Zinsen nur zur Unterhaltung des Dampfers
und zur Bestreitung seiner Fahrten auf dem mittlem Congo
und dessen Nebenflüssen bestimmt sind. Sobald als möglich
sollen ferner Stationen an der Mündung des Nkutu (Quaugo)
und Jkelemba (Kassai) angelegt und längs des Mbura-Flus-
ses etwa unter 1° uördl. Br. ein Versuch gemacht werden, eine
direkte Verbindung vom Nordufer des Congo zum Albert
Njauza herzustellen, an welchem See die London Missionary
Soeiety eine Mission errichten will. Mr. Arthington wünscht
auch Aufzeichnungen und Klassifikation der dort gesprochenen
Dialekte, um unter denselben die für Übersetzungen geeig-
netsten auswählen zu können.
Südamerika.
— Eberhard F. Im Thnrn beschreibt in den Pro-
ceedings of the Royal Geographica! Society (Angilft 1880)
eine seiner Reisen im Innern von Britisch-Guyana,
welche er im Jahre 1878 unternahm, um für das Museum
in Georgetown zu sammeln. In dem Kariben-Dorfe Apn-
teri an der Mündung des Rupuuuni in den Esseqnibo ver-
weilte er zwei Tage, während welcher Zeit ihm die hier
wie in jedem dortigen Jndianerdorse häufigen zahmen
Thiers viel Vergnügen bereiteten. Dieselben bestanden
ans mehr als zwei Dutzend Papageien verschiedener Arten,
zwei Makaos, zwei Trompetenvögeln (Psophia crepitans),
zwei Trupinten (Icterus Jamacii), drei Affen, einem Tukan,
einigen Hokkohühnern (Crax alector) und einem Sonnen-
vogel (Eurypyga vulgaris). Man hat, sagt Im Thurn, aus
dem häusigen Vorkommen zahmer Thiere in den Niederlas-
sungen südamerikanischer Indianer geschlossen, daß dieselben
eine gewisse Liebe zu Thiereu haben. In Wirklichkeit aber
betrachtet ein solcher Indianer seine gezähmten Thiere als
ebenso viele Münzen, für die er seine Bedürfnisse von ande-
ren Indianern eintauschen kann. Unter diesen Stämmen
besteht nämlich ein rohes System Her Arbeitstheiluug; der
eine spinnt Baumwolle, der zweite verarbeitet dieselbe zu
Hängematten, der dritte macht Töpferwaaren, der vierte
stellt die Reibeisen her, auf denen die Cafsava-Wurzeln zu
Brei gerieben werden, kurz jeder Stamm hat seine eigene
Manufaktur, deren Erzeugnisse er gegen diejenigen der an-
deren Stämme austauscht. In diesem Verkehr nun bezahlt
der Indianer anstatt mit seinen Fabrikaten oft mit zahmen
Thieren, die wie Münze betrachtet werden. Vögel oder
Vierfüßer, die ein anderer Indianer einmal in Zahlung
genommen, wird der frühere Besitzer, wenn es sich so macht,
einfach vernachlässigen oder selbst mit Grausamkeit behandeln.
Es ist ganz irrig, die Indianer, wenigstens diejenigen in
Guyana, einer natürlichen Liebe zu Thieren für fähig zu
halten.
— Ein eigenthümliches Signalsystem besitzen die
Jivaros an der Pastassa in Südamerika. Wie viele
afrikanische Völker sich durch Trommeln Nachrichten auf
weite Ferne vermittelten, so anch die Jivaros durch ihre
„Tnndnli" oder großen Trommeln, die von Haus zu Haus,
von Berg zu Berg gehört werden. A. Simson berichtet
darüber im Journal des britischen anthropologischen Jnsti-
tnts: „Ihre Hütten sind zu diesem Zwecke in passenden
Entfernungen über ihr Land zerstreut, und durch bestimm-
ten Trommelschlag werden sehr verschiedenartige Mitthei-
lungen in kürzester Frist an alle Familien und Horden, die
über ein weites Gebiet hin wohnen, gemacht. Dies war
die größte Gefahr, mit welcher die spanischen Eroberer zu
rechnen hatten, und dieses Telegraphensystem dient heute
Erdtheilen.
noch den Jivaros als Schutz, da sie mittels desselben au-
genblicklich große Schaaren zur Vertheidigung zusammenbe-
rufen können.
Derselbe Berichterstatter sagt von den Gnalaqniza-Ji-
varos, daß eine der größten Festlichkeiten bei ihnen die Ein-
sühruug eines drei- bis vierjährigen Kindes in die Kunst
des Rauchens ist. Die ganze Familie versammelt sich, das
Haupt derselben hält eine Rede und preist die Tugenden
und Thaten der Vorfahren des Kindes, indem er der Hoff-
nnug Ausdruck giebt, das letztere möge jenen nacheifern.
Darauf wird die brennende Pfeife dem Kindchen gereicht,
welches nun die ersten Züge thnt und fortan ein Raucher
wird. Alle Anwesenden lassen die Pfeife im Kreise umher-
gehen und halten alsdann ein Chichagelage ab.
Eigentümlich ist auch die Sitte der am Pintne woh-
nenden Jivaros, fast jeden Morgen sich künstlich zu erbre-
cheu. Sie gebrauchen dazu eine Feder, mit welcher sie sich
den Gaumen so lange kitzeln, bis die gewünschte Wirkung
eintritt, wobei sie von der Ansicht ausgehen, daß Speisen,
die über Nacht im Magen zurückblieben und nicht ver-
daut wurden, für den Körper ungesund seien und eut-
sernt werden müßten.
Auch die „Cuvade", jener seltsame, in der alten wie
neuen Welt bekannte Brauch, wobei der Vater nach der
Geburt des Kindes das Wochenbett abhält, während die
Mutter sogleich wieder alle häuslichen Arbeiten betreibt,
herrscht unter den Jivaros. Der Jivaro stärkt sich durch dieses
Cuvade-Halteu für die vermehrten Pflichten, welche ihm die
Geburt eines neueu Kindes auferlegt. Simson erzählt, daß
der Brauch sogar in einigen „civilisirteu" Ortschaften am
Amazonenstrom vorkomme und dort auch von Weißen an-
genommen sei. Das Kind, so glauben diese, würde nicht
gedeihen, wenn der Vater nicht mehrere Tage nach der Ge-
burt desselben nnthätig in der Hängematte verharre. (Die
auf die Cuvade bezüglichen Gebräuche hat Dr. H. H. Ploß
in seinem vortrefflichen Buche „Das Kind", Stuttgart 1878,
zusammengestellt.)
Vermischtes.
— Geruchssinn. In der Sitzung des Britischen
anthropologischen Instituts vom 13. Januar 1830 machte
Dr. Hack Tuke eiuige Mittheilungen über die Schärfe des
Geruchssinns. Unsere Vorväter, so meinte er, besaßen in der
Urzeit einen weit entwickelten Geruchssinn als wir heutzu-
tage. Während derselbe bei Naturvölkern häufig noch in sei-
ner vollen Schärfe vorhanden, tritt derselbe bei Kulturmen-
scheu nur hier und da noch als eine Art von Rückschlag
auf. Dr. Tuke kannte einen Herrn, der in seiner Jugend
die Tasten des Pianos stets beroch, ehe er spielte, und dann
wußte, wer zuletzt dasselbe benutzt hatte. Der Geruchssinn
war in allen Dingen sein erster Führer und sagte ihm das,
was andere mit Auge oder Ohr erreichten. Er kannte ein
kleines Mädchen, bei dem derselbe in gleich scharfer Weise
entwickelt war, uud am Tage vor seiner Mittheilnng hatte
er einen Herrn kennen gelernt, welcher die Handschuhe ver-
schiedener Personen seiner Bekanntschaft durch den Geruch
unterschied; die Nase war für ihn fast so wichtig wie das
Auge.
Solche Beobachtungen dienen zur Bekräftigung vieler
von Prof. Jäger in seinem wunderlichen Buche „Die Eut-
deckuug der Seele" ausgesprochenen Ansichten. Es liegt,
neben starken Übertreibungen, sicher ein gutes Stück Wahr-
heit in demselben.
Inhalt: Das heutige Syrien. IV. (Mit drei Abbildungen.) — v. Rupprecht: Missigits in Niederländisch-Ost-
indien. (Mit einer Abbildung.) — Des Dr. Potagos' Reisen im Gebiete des Nil nnd Uölle. II. (Schluß.) — Col-
vile's Reise durch das nordwestliche Marokko. I. — R. Andree: Ueber den Farbensinn der Naturvölker. — Erman:
Die Völkerverhältnisse Afrikas. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Südamerika. — Vermischtes. - (Schluß
der Redaetion 11. August 1880.)
Redacteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
MäM für Jättdet.
Band XXXVIII.
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e>f,
V
Jo 11.
M!t besonderer Berücllsicktigung der Anthropologie unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vi-. Richard Kiepert.
itrtfrkwi0tn Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten -| o i \
-^raun^raeig ,um Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. ^
Das h e n t i
(Nach dem Französist
Die Sekte der Drusen oder, wie sie selber sich nennen,
der Unitarier, besteht schon seit beinahe 900 Jahre«, und
seit ebenso langer Zeit bildet die Mehrzahl der kräftigen
Bewohner des südlichen Libanon und Antilibanos, trotzdem
sie ihrer Abstammung nach eins sind mit der sie umgeben-
den syrisch-arabischen Bevölkerung, ein streng gesondertes
Volk im Volke, das, von fanatischem Haß gegen alle An-
dersgläubigen erfüllt, ebenso ehrgeizig wie kriegerisch, mehr
als einmal der türkischen Macht in Syrien verhängnißvoll
geworden ist. Noch vor 230 Jahren herrschte der Drusen-
fürst Fachr-ed-din über einen großen Theil des Landes und
nur durch Verrath der Seinigen verlor er Leben und Reich
im Kampfe gegen die Türken. Seitdem freilich haben diese
es verstanden, durch Unterstützung der eifersüchtigen Reibe-
reien zwischen den einzelnen drusischen Fürsten- und Adels-
geschlechtern, und neuerlich durch Anfachung der religiösen
Streitigkeiten zwischen den Drusen und Maroniten, die Ge-
fahr drusischer Herrschaftsbestrebnngen von sich abzulenken.
Als Stifter ihrer Religion betrachten die Drusen den Fati-
midischen Chalisen HZ.kim biamrillah (996 bis 1020), der,
nachdem er schroffer noch als seine Vorgänger sich gegen den
Islam erklärt, zuletzt sich für eine Verkörperung Ali's aus-
gegeben hatte. Auf diese Aussage des halbwahnsinnigen
Fanatikers begründeten einige Sektirer die neue Religion,
ein Gemisch aus mohammedanischen, jüdischen und christlichen
Dogmen. Den Hauptinhalt derselben macht die Lehre von
einem unerkennbaren, undesiuirbaren Gott aus, der von
Zeit zu Zeit sich in menschlicher Gestalt offenbart; Hand
Globus XXXVIII. Nr. 11.
g e Syrien.
jen des M. Lortet.)
in Hand hiermit geht die Lehre von der Seelenwandernng.
Als letzte Verkörperung des göttlichen Wesens wird eben
Hkkim biamrillah angesehen, in den der Geist Ali's über-
gegangen war, und der seinerzeit wiedererscheinen wird, um
seine Anhänger zu prüfen. Zahlreiche Schriften altern uud
neuern Datums enthalten die Grnndzüge der verworrenen
Lehre. Der Gottesdienst, der vielleicht wie bei anderen
schiitischen Sekten nicht frei von mystischem Zubehör ist,
wird in einsam gelegenen kleinen Kapellen abgehalten. In
halbpatriarchalischer, halbfeudalistischer Verfassung unter
ihren Scheichs oder Dorfältesten stehend, leben die Drusen,
hente etwa noch 80 000 Seelen, in einer gewissen Unab-
hängigkeit von den Türken. Neben dem wildesten Fanatis-
mus, der rohesteu Grausamkeit zeigt der Druse im Großen
und Ganzen viele von jenen guten Eigenschaften, die sonst
mit Vorliebe dem Araber allein unter der Bevölkerung West-
asiens vindicirt werden: körperliche und geistige Kraft, Liebe
zur Freiheit, Muth und Stolz, Offenheit und Gastfreiheit.
Bis auf die durch die Religion bedingten Sitten und Ge-
brauche unterscheiden sich die Drusen in ihrer Lebensweise
nur wenig von ihren Feinden, den Maroniten, oder von
dem übrigen syrischen Gebirgs- und Laudvolke. Auch ihre
Tracht ist in der Hauptsache dieselbe, die in den Städten
der syrischen und kleinasiatischen Küste üblich ist, und bei
der leider von Jahr zu Jahr der Alles assimilirende Ein-
slnß der europäischen Mode sich bemerkbar macht. Anstatt
der weiten, bauschigen und ziemlich kurzen Beinkleider, die
vor wenigen Jahren noch von allen Syrerinnen getragen
21
162
Das heutige Syrien.
Drusenfürstin; Dame mit dem Tantur; Beiruterin im Putze. (Nach Photographien.)
Das heutige Syrien.
163
wurden, sehen wir heute in den Städten selbst bei den Frauen anch kennen. Freilich
der Niedern Volksklasse ein langes faltenreiches Kleiduugs- Tantur abzunehmen,
stück, das von einem europäischeu
Weiberrocke kaum zu unterscheiden
ist. Die großgeblümten bäum-
wollenen Stoffe und die groben
gewebten Spitzen, die zum An-
zuge der Frauen verwendet wer-
den, sind fast ausschließlich ame-
rikanisches und englisches Fabrikat.
Die Frauen der reichen, vorneh-
men Klasse, die im Innern des
Hauses, in Beirut wenigstens, fast
alle auch die alte Nationaltracht
tragen, haben dieselbe ans schwe-
ren Seidenstoffen und häufig mit
Gold und Juwelen verziert.
Angesichts dieser geringen
Unterschiede in der äußern Er-
scheinung der Syrerinnen muß
der eigenthümliche Hauptschmuck
der Drusensraueu doppelt auffal-
lend erscheinen. Es ist dieses der
sogenannte tantur, eine hohe
silberne, nach oben dünner wer-
dende Röhre, die, oft zwei bis
drei Fuß hoch, mit reicher Gra-
virung oder getriebenen Zierra-
then, und an der Vorderseite mit
in Gold gefaßten Edelsteinen ge-
schmückt ist. Dieser sonderbare
thurmartige Schmuck ruht auf
einem ebenfalls silbernen deckel-
artigen Käppchen; er wird mit
vier Schnallen und einer unter
dem Kiuu durchgehenden Kette
festgehalten. Je höher der Rang
der Frau, die ihn trägt, desto hö-
her ist auch der Tantur. Ge-
wöhnlich ist an seiner oberen
Spitze ein weißer Schleier be-
festigt, der über Schultern und
Nacken hinabsällt. Ob Lortet's
Hypothese, der in dem hornähn-
lichen Tantur das in der Bibel
so vielfach erwähnte (I. Samuel,
2, 1 bis 10; Psalmen 75, 89,
132; II. Chron. 18, 10; Sa-
charja 1, 20, 21) „Horn des
Heils" erblickt, und ihm deshalb
einen sehr frühen Ursprung zu-
schreibt, viel Wahrscheinlichkeit
für sich hat, wollen wir dahinge-
stellt sein lassen; in jedem Falle
ist der Tantur, den die Drusen-
srau an ihrem Hochzeitstage auf-
fetzt und bis zu ihrem Tode trägt,
ein unbequemer Schmuck. Selbst
bei Nacht muß sie ihn auf dem
Kopfe behalten und deshalb auf
einem „Kopfkissen" von Holz
schlafen, das den Nacken stützt,
wie wir es bei den Chinesinnen
und bei einigen afrikanischen
Stämmen, die auf ihren Kopf-
fchmnck besondern Werth legen,
Tantur, Kopfschmuck der Drusenfrauen.
(Nach einer Photographie.)
ist es von Zeit zu Zeit nöthig, den
um ihn von außen blank zu putzen,
innen aber von den Parasiten zu
säubern, die sich unausbleiblich in
seiner Höhlung festsetzen.
Was nun die römisch-katho-
lischen Maroniten anbetrifft, so
stammen dieselben von einer mo-
notheletischen Sekte ab, die, auf
einem der letzten ökumenischen
Koncilien verworfen, sich vor der
Verfolgung durch die Kirche in
die Berge des Libanon znrückge-
zogen hatte. Erst um das Jahr
1600 haben sie sich an Rom an-
geschlossen, von wo aus ihre durch
die eigenen Bischöfe gewählten
Patriarchen bestätigt werden Müs-
sen. Wie sie mehrere specisisch
maronitische Heilige verehren dür-
sen, so sind ihnen auch gewisse
Privilegien bewilligt worden: nn-
ter anderen wird die Messe bei
ihnen in syrischer Sprache gehal-
ten uud ist den niederen Priestern
die Ehe erlaubt. Sie besitzen
zahlreiche Klöster, uuter deren
Insassen wohl heute aber nur we-
nig noch von jener Gelehrsamkeit
vorhanden ist, die das Colleginm
Maronitarum des 17. Jahrhun-
derts in Rom geziert hat. Das
maronitische Volk, ein kräftiger
gesunder Menschenschlag, zeigt bei
weitem uicht die geistige Bega-
buug der Drusen; es gilt im
Lande nicht nur für wenig intelli-
gent, sondern auch für lügnerisch,
bestechlich und feige. Daß dieser
letztere Vorwurf nicht immer zu-
treffend ist, haben die Maroniten
jedoch bei den Metzeleien des
Jahres 1860 bewiesen, wo einer
ihrer Dorfältesten, Ausus Karam,
mit einer Schar von 300Bewaff-
neten gegen die Drusen zog; in
heldenmütigem langen Kampfe
gegen die Uebermacht des Fein-
des fiel die kleine Schar bis auf
den letzten Mann. Neben dem
Ackerbau und der Viehzucht be-
treiben die Maroniten hauptsäch-
lich den Seidenbau mit gutem
Ersolge. Die rohe Seide wird
meist nach Frankreich ausgeführt.
Auch sie stehen wie die Drusen
zu der türkischen Regierung in
einem gewissen unabhängigen Ver-
hältniß, unter einem christlichen
Pascha und ihrem eingeborenen
Adel. Wie wenig diese Freiheit
ihnen dem bösen Willen der Tür-
ken gegenüber von Nutzen ist, zeigt
sich in den immer erneuten, von
der Regierung geduldeten Venn-
ruhigungen des Volkes durch die
21 *
164
Das heutige Syrien.
Drusen. Wenn es auch wahr sein mag, daß die ewigen
kleinen Reibereien zwischen den Bergbewohnern für gewöhn-
lich nicht viel auf sich haben und daß sie nur von der tür-
tischen Regierung zur Verfolgung ihrer Zwecke den enro-
Peuschen Mächten in gewaltiger Uebertreibung dargestellt
werden, so beweisen doch die unbestrittenen Zahlenangaben
über die mörderischen Resultate der Christenversolgnng von
1860, wie verhäugnißvoll große Dimensionen unter Um-
ständen die von den Priestern und Mönchen genährten
Zwistigkeiteu annehmen können.
Von besonderen Volkssitten findet sich unter den heutigen
Maroniten nur wenig Interessantes vor, eigentümlich nur
und bemerkenswert^ ist die bei ihnen gebräuchliche Art der
Kindespflege im ersten Lebensjahre, die an viele Versuche
erinnert, die bei uns in Waisen- und Findelhäusern mit nur
sehr zweifelhaftem Erfolge gemacht worden find. Von dem
Tage der Geburt an liegt der maronitische Säugling in der
eigenartig konstruirten Wiege aus Maulbeerholz festgebun-
den; von einer Wartung auf dem Arme der Mutter ist nicht
die Rede. Neben der Wiege kauernd, den Arm über ein zu
diesem Zwecke angebrachtes Querholz gelegt, tränkt dieselbe
das liegende Kind. Nur einmal in 24 Stunden wird es
zum Wechseln der Windeln von seinem Lager aufgenommen.
In der Zwischenzeit sorgen hölzerne Röhren, die durch den
Boden der Wiege gehen, für verhältuißmäßige Trockenheit
des Bettes.
Eine Wiege der Maroniten. (Nach einer Photographie.
Trotzdem man sich schon im Anfang des April befand,
konnte Lortet die wissenschaftlichen Arbeiten, die er an der
syrischen Küste vornehmen wollte, noch nicht beginnen. Das
Meer war zn unruhig, das Wasser zu kalt, als daß man
die zarten Organismen der hier besonders reich vertretenen
Faserschwämme, die Lortet eingehend zu untersuchen gedachte,
in lebendem Zustande hätte heraufbefördern können. Ein
mehrtägiger Aufenthalt in Beirut genügt, um den Fremden
mit allen Merkwürdigkeiten der Stadt bekannt zu machen,
nud durch die Zuvorkommenheit mehrerer am Orte anfäfsi-
ger Franzosen, besonders des Arztes Dr. Snqnet, konnte
Lortet dieselben in ausgedehntestem Maße in Augenschein
nehmen. Unter den vielen vorhandenen Privatsammlungen
älterer und neuerer orientalischer Kunstwerke und historischer
Funde ist die des ehemaligen Kanzlers des französischen
Konsulats, Mr. Peretio, die großartigste. Seit 40 Iah-
ren mit ihrer Zusammenstellung beschäftigt, hat der Samm-
ler ein Kabiuet an Skulpturen, Medaillen, Kameen, In-
schriftcylindern, Erzeugnissen der Keramik u. s. w. in seinem
prächtigen Hanse in Ras Beirut zusammengebracht, um
dessen Besitz ihn die größten europäischen Museen beneiden
könnten. Der Anregung dieses energischen Mannes und
des französischen Ingenieurs Perthuis verdankt Beirut die
vortreffliche Chaussee von 112 km Länge, welche die Stadt
mit Damaskus verbindet. Von einer Gesellschaft europäischer
und ottomanischer Kapitalisten gebaut, bildet diese über den
Libanon führende Straße mit ihren Chausseehäusern und
Wegwärtern, mit der zweimal wöchentlich sie Passirenden
Diligence ein Unicnm im ganzen türkischen Reiche.
Um die Zeit des Wartens auf günstigere Wasserverhält-
nisse am Strande von Beirut etwas abzukürzen, beschloß
Lortet, mit seinen Begleitern eine mehrtägige Gebirgstonr
Das heut
zu unternehmen; die Vorbereitungen zu einer solchen, d.h. das
Engagement des Begleitpersonals und das Miethen der er-
forderlichen Reit- und Lastthiere, können hier zu Lande nicht
vorsichtig genug und am besten durch Vermittelung des Kon-
snlates getroffen werden. Nach mancherlei Mühe und
Schwierigkeiten hatte Lortet endlich sein Personal zusammen,
das für drei Reisende aus sieben Mann bestand: einem
maronitischen, des Landes und aller seiner Dialekte sowie
? Syrien. 165
der französischen und englischen Sprache kundigen Dolmet-
scher, einem ebenfalls christlichen Koch; dem Besitzer und
Vermiether der zehn Pferde, Maulthiere und Esel, deren
man benöthigt war, und der ihm unterstellten vier Mukari
oder Pferdeknechte, der nützlichsten und zugleich heitersten
Mitglieder der ganzen Eskorte. Immer dienstwillig und
hülfsbereit übernehmen diese meist kräftigen, scheinbar uner-
müdlichen Leute alle auf der Reife vorkommende Arbeit.
Der Marouite Hassan, ein Mukari oder Pferdekuecht. (Nach einer Photographie.)
Sie laden das Gepäck auf und ab, besorgen die Thiere,
schlagen die Zelte auf, holen Wasser, Holz und wo Milch und
Brot zu haben ist, auch diese oft aus weiter Entfernung her-
bei; anspruchslos und mäßig, sind sie für die ihnen gelegent-
lich zukommenden Ueberreste der Mahlzeiten dankbar, am
meisten zu erfreuen aber durch ein ab und zu verabfolgtes
kleines Geschenk von Tabak oder Cigarren. Die halbe
Nacht über sitzen sie dann, trotz des vorhergegangenen an-
strengenden Tagemarsches, rauchend und schwatzend um ihr
Feuer, um sich, wenn die letzte Cigarre verraucht ist, in
ihre Mäntel gewickelt, ans dem bloßen Boden, unter freiem
Himmel zum Schlafe auszustrecken.
166 Das Waldgebirge von
Das Waldgebirge von
Dr. Paul Schröder, Dragoman der deutschen Bot-
schaft in Konstantinopel, machte zu Ansang Juni dieses
Jahres mit dem deutschen Generalkonsul Feigel und dem
Betriebsdirektor der Orientalischen (d. i. Rumelischen) Eisen-
von Bellova, die sich an landschaftlicher Schönheit mit den
pittoresken Theilen des Harzes oder Schwarzwaldes messen
kann, ist mit dem prächtigsten Hochwalde bedeckt; in den
unteren Regionen sind Eichen und Buchen vorherrschend,
in den oberen uralter Fichten-, Tannen- und Föhrenwald.
Ich hätte nie geglaubt, daß es in der Türkei noch so schöne
Wälder gäbe. Das Thal der Jadonitza *), welche eine
x) Selbst auf der Specialkarte des Oesterreichischen Militär-
geographischen Instituts ist dieses Gebiet falsch dargestellt. Das
Bellova in Ostrumelien.
Bellova in Ostrnmelien.
bahnen eine Excursion über Aduanopel und Philippopel
nach der Gegend von Bellova, dem Endpunkte der Rnme-
lifchcn Bahn. Einem seiner Briefe an Prof. H. Kiepert
entnehmen wir das Folgende: Die ganze Gegend südlich
Stunde unterhalb des großen bulgarischen Dorfes Bellova
und etwas westlich von Kütschük Bellova in die Maritza
Mündet, ist ein hochromantisches Gebirgsthal, das mich leb-
Haft an das Bodethal im Harz erinnerte: es ist dicht bewal-
det, und zu beiden Seiten des wasserreichen Gebirgsbaches
die ganze Gegend zwischen der Maritza und dem Gebirge Bala-
bandjcha Jailasi durchschneidende Jadonitzathal z. B. fehlt ganz-
lich; ein der Maritza paralleles Querthal, das in das Thal
Ellidere münden soll, existirt nicht, ebenso ein großer Ort Sim-
cina, der dicht bei dem Endpunkte der Eisenbahn eingetragen ist.
Colvile's Ritt durch -
steigen die Felswände fast senkrecht auf. Früher war es
ganz unwegsam, denn der Fluß läßt nicht einmal Raum
für einen Weg übrig; erst seitdem Baron Hirsch den ihm
ans 99 Jahre concedirten Wald (am Oberlause der Flüsse
Bistritza Reka, Velika Reka, Ribnitza, Kriva Reka, Jado-
nitza und Ellidere) in Betrieb genommen hat, ist das ent-
zückend schöne Gebirgsthal erschlossen worden, und zwar durch
eine Rollbahn, welche von dem Forstetablissement (y4 Stunde
auswärts vom Dorfe Bellova) 15 km aufwärts ins Wald-
gebirge führt. Auf derselben wird das gefällte Holz zum
Etablissement geschafft, wo es in verschiedenen Sägemühlen
zu Brettern und Traversen geschnitten wird, um dann theils
zu Wagen, theils zu Wasser nach der Eisenbahnstation ge-
bracht zu werden. Die Jadonitza hat auch im Hochsommer
stets so reichliches Wasser, daß das Holz das ganze Jahr
hindurch herabgeschwemmt werden kann. Vom Forsthause
führt eine gute Fahrstraße durch das Dorf Bellova nach
der Station, oder vielmehr nach der Haltestelle, denn das
Stationsgebäude wurde während des bulgarischen Aufstandes
von den Bulgaren in Brand gesteckt, und die Türken, die sich
hineingeflüchtet hatten, wurden von ihnen theils massakrirt,
theils verbrannt. Am untern Laufe der Jadonitza sind
einige 20 Sägemühlen in Betrieb, die theils der Eisenbahn,
theils, und zwar zum größern Theile, den Bauern von Bel-
lova gehören, welche mit der Eisenbahngesellschaft in Proceß
liegen, indem sie behaupten, daß der Wald von Bellova
ihnen gehöre, und daß die Pforte kein Recht gehabt habe,
ihn der Gesellschaft abzutreten. Der Streit ist noch nicht
ausgetragen, weil die Bauern bei der ostrumelifchen Regie-
rung Unterstützung ihrer (übrigens unbegründeten) Ansprüche
finden.
Am 4. Juni erstiegen wir von Bellova aus die S ult a-
nitza, einen 6000 Fuß hohen Gipfel, der bis unter die
Spitze mit mächtigen Fichten bestanden ist. Er liegt nnge-
fähr da, wo auf der österreichischen Karte Köstendsche Bai'r
angegeben ist. Die Balabandscha Jailasi oder, wie die
Bulgaren sagen: Balabanitza (die türkischen Namen
werden jetzt, wo die Türken diese Gegend ganz verlassen
haben, gar nicht mehr gebraucht) liegt westlich von der Sul-
tauitza, über welch letztere der Weg von Bellova nach der
Balabanitza führt. Von ihr aus hat man eine prächtige
Rundschan über den nördlichen Theil des Rhodope-Gebirges
und die obere Maritza-Ebene. Südöstlich sieht man den Kar-
lyk und davor die kleine grüne Hochebene von Rakitovo,
während dieses Dorf felbst nicht sichtbar ist. Auch das
Rilo-Gebirge wird durch die nahe Balabanitza verdeckt; die-
selbe ist etwa drei Stunden Weges entfernt, und der Weg
dorthin führt über das ganz hoch oben im Gebirge gelegene
Dorf Tschelebitza. Auf der Balabanitza lag noch Schnee.
Unfern ursprünglichen Plan, ihren höchsten Gipfel zu er-
steigen, der nach der barometrischen Messung des Forst-
s nordwestliche Marokko. 167
meisters Herrn Bernges bis 7500 Fuß ansteigt, konnten
wir nicht ausführen, da wir oben hätten übernachten müssen,
und die Vorbereitungen hierzu nicht getroffen waren.
Wahrhaft großartig präsentirten sich, von der Sultanitza
aus gesehen, die noch ganz mit Schnee bedeckten macedoni-
schen Gebirgsketten in S.-S.-W. und S., der Perim Dagh
und Boz Dagh. Dieselben sind, nach den auf ihnen liegen-
den Schneemassen zu schließen, noch höher als das nördliche
Rhodope-Gebirge (Köstendsche Balkan) und die eigentliche
Balkankette (Kodscha Balkan). Eine recht gute Beschrei-
bung dieses Theiles des Rhodope-Gebirges hat Dr. Dingler,
jetzt Privatdocent der Botanik in München, früher Eisen-
bahnarzt in Adrianopel, in der Zeitschrift des Deutschen und
Oesterreichischen Alpenvereins (Juli 1377) gegeben. Der-
selbe erstieg die Balabanitza 1877 in Begleitung des Forst-
meisters Bernges, Direktors des Forstetablissements Bellova,
der auch unser Begleiter war; er kann nicht genug die üppige
Vegetation dieses Gebirges rühmen; Fichtenstämme von
60 i*i Höhe sind keine Seltenheit. Auch ethnographisch ist
diese Gegend interessant; denn in diesem Gebirge wohnen
neben den Bulgaren auch viele Ziuzaren oder Rumuuen
(„Kntzovlachen"); letztere sind die eigentlichen Waldläufer;
sie begegneten uns massenhaft im Hochgebirge, von wo sie
gefällte Stämme und Bretter auf ihren Pferden hinab nach
Bellova transportirten.
Gern hätte ich meinen Ausflug bis Samakov ausgedehnt,
um von da aus dem mächtigen Rilo einen Besuch abzustat-
ten und die Quellen des Jsker aufzusuchen. Ich fand aber
keinen Reisegefährten; auch rieth man mir von der Tour
ab, weil das Gebirge des Schnees wegen noch unzugänglich
sei, weshalb ich die Excursion auf nächsten Sommer verschob.
Meines Wissens ist der Rilo noch nicht erstiegen worden.
In der Nomenklatur des Rhodope (südlich von den Qnel-
len der Maritza) scheint noch ziemliche Konsusiou zu Herr-
schen. Fast alle Gipfel haben einen türkischen und einen
bulgarischen Namen; aus unseren Karten figuriren meist die
türkischen Namen, während die Bulgaren, wenn man sie
fragt, oft andere nennen.
Was ich sonst in Ostrumelien gesehen und gehört habe,
war nicht sehr erbaulich. Die Bulgaren sind ein hochmüthi-
ges und finsteres Volk; peinlich ist es zu sehen, wie die im
Lande verbliebenen Türken, meist arme Bauern, auf alle
Weise von ihnen bedrückt und chikanirt werden, um sie zur
Auswanderung und zum Verkaufe ihrer Aecker um jeden
Preis zu zwingen. Philippopel macht den Eindruck einer
russischen Stadt; den Fez sieht man gar nicht mehr, sondern
überall den bulgarischen Kalpak; auch'die Muselmänner,
die in der Miliz dienen, müssen ihn tragen. Das Land
aber ist herrlich schön, namentlich die sich an den Rilo an-
schließenden Theile des Rhodope, der hier die Grenze zwi-
schen Ostrumelien und Bulgarien bildet.
Colliile's Ritt durch das nordwestliche Marokko.
11.
Am 27. December 1879 verließ das Colvile'sche Ehe-
paar mit 13 Begleitern, darunter dem Kaid Mohammed
ben Abd Salam, welcher lange in Udschda Statthalter ge-
Wesen war und deshalb den Weg genau kannte, und 13
Thieren Fez durch das Thor Bab el-Ftur. Eine halbe
Stunde lang führte die Straße zwischen hübschen, mit Oel-
bäumen bestandenen Hügeln hin, überschritt auf einer mas-
siven achtbogigen Brücke den Wed Sbu, folgte dem Flusse
eine Stunde lang abwärts und erklomm dann, schärfer nach
Osten einlenkend, den Berg Dschebel Onk de Dschemel (Ka-
168 Colvile's Ritt durch dl
meelhals-Berg). Die Gegend sah wild und traurig aus
und die Berge, aus demselben alluvialen Thon wie westlich
von Fez bestehend, waren von tiefen Schluchten durchfurcht.
Als sie den Berg erstiegen hatten, befanden sie sich auf einer
gut angebauten Hochebene, die mit Dnars (Zeltdörfern) der
Ulad-el-Hadsch bedeckt war. Es gilt als Regel in Ma-
rokko, daß die Berbern stets in Dörfern, die aus steinernen
Hänsern bestehen (tschura), wohnen, die Araber aber in
cluar (Zeltdörfern). Am östlichen Ende der Hochebene
wurde in dem Kasbar des Kaid Dschellali ben Moham-
med eingekehrt, wo das Geleitschreiben des Sultans ihnen
freundliche Aufnahme verschaffte. Der Kasbar liegt schon
im Bezirke Hianna, der nach Rohlfs für jedermann uupas-
sirbar ist. Vom Lagerplatze aus hatte man eine prächtige
Aussicht: nach Südosten auf die hohen Bergketten von
Ghaiatfa und Beni Warain, die hier und da mit Schnee
bedeckt waren, davor eine endlose Reihe runder Alluvialberge
und unten zweihundert Fuß tiefer das viel gewundene Thal
des Wed Jeuuiu, eines Zuflusses des Sbu, in welchem nun
der Weg auswärts führte. Der eben genannte Kaid (Be-
zirkshänptling) gab ihnen durch seinen ganzen Bezirk das
Geleit, und ans jedem Dorfe, dem sie sich näherten, kamen
eine Anzahl Rettet, ihre langen Flinten schwingend, auf sie
zugestürzt, schwenkten dicht vor ihnen kurz ab und schlössen
sich ihnen an, bis ihre Eskorte wohl an 50 Reiter zählte. Als
sie dann vom Wed Jeuuin nach Norden in die Berge ab-
bogen, betraten sie einen andern Bezirk, den des Kaid Mo-
hammed bel Kadur. Hier sahen sie zum ersten Male seit
Fez Felsen von Kalk, die aus dem Alles bedeckenden brau-
neu Thon hervorragten; die Höhe, welche sie hier erreicht
hatten, betrug schon 3000 Fuß, und die Nächte und Mor-
gen waren bitter kalt. Von dort aus geleitete sie am
folgenden Tage des Kaid's Sohn mit einer Eskorte bis
an den kleinen Fluß Sidi Marhofs, einen rechten Zufluß
des Jennin, welcher die beiden Bezirke Hianna und Dsul
trennt. Weiter wagte er nicht zu gehen, weil — charak-
teristisch genug — die Bevölkerungen beider Provinzen stän-
dig mit einander im Streite leben. Bald darauf gelangte
die Reisegesellschaft an eine tiefe Schlucht, welche ebenfalls
dem Wed Jenuin tributär ist. Es war das der bevölkertste
und fruchtbarste Strich Landes, den Colvile seit Fez gesehen: die
steilen Thalgehänge waren wie ein blühendes Thal der Schweiz
angebaut und mit Hütten bedeckt. Der Boden aber ist
hier genau derselbe wie auf der ganzen Strecke von Fez
an; soweit sich der Reisende überzeugen konnte, giebt es
überhaupt zwischen-Fez und dem Muluja-Flusse nicht einen
Zoll breit Lanks, das nicht in denselben blühenden Zustand
gebracht werden könnte, wie jenes Thal. Bald darauf er-
reichten sie den Kasbar (Fort, Residenz) des Kaid Haddi
Dsuli, ein Gebäude aus gelbem Kalkstein in wilder Umge-
buug, am Rande einer nahezu senkrecht etwa 1500 Fuß
tief abstürzenden Schlucht gelegen und ringsum von stei-
len, gelblichen Bergen umgeben, welche kaum etwas Vege-
tatiou aufzuweisen hatten und von tiefen Schluchten und
Wasserrissen durchsetzt waren. Ein Anblick voll wilder Größe
und voll Eigentümlichkeit, aber wenig ansprechend für Auge
und Gemüth. Sowohl der Weg dorthin als auch von dort
weiter nach Osten ist steil und schwierig, bei nassem Wetter
aber gänzlich ungangbar. Nach einigen Stunden aber ge-
langt man in das bequemere Thal des Wed H ad dar, der
ebenfalls noch in den Wed Jenuin sich ergießt. Dort er-
wartete ihn Kaid Mohammed bel Fildil mit fünfzig Reitern
und ebensoviel Männern zu Fuß; allein trotz dieser Macht
hielt er es für nöthig, die Geringfügigkeit der Eskorte zu
entschuldigen; die meisten seiner Leute, sagte er, wären in
den Kampf gezogen; er hätte aber bereits Befehl gegeben, ihrer
i nordwestliche Marokko.
dreihundert zu versammeln und mit ihnen die Berge längs
des von Colvile einzuschlagenden Weges zu besetzen, um
sosort jeden Angriff des Ghaiatsa-Stammes gewahr zu wer-
den, der in der letzten Zeit sich sehr unruhig gezeigt hatte.
In solcher Weise wurde durchweg für die Reisenden gesorgt,
außerdem aber erhielten sie während ihrer zehntägigen Reise
von den verschiedenen Bezirkshäuptlingen als Gastgeschenk im
Ganzen nicht weniger als 190 Pfund Zucker, 26 Schafe,
150 Hühner und 1000 Eier, ungerechnet Lichter, Thee und
andere Dinge! Die Hauptursache, daß er seinen Zweck er-
reichte, schreibt Colvile der Anwesenheit seiner Gattin zu,
weil seine Reise in Folge dessen keinen zu geschäftsmäßigen
Anstrich erhielt und er mehr allein gelassen wurde und da-
durch Muße zum Zeichnen und Schreiben erhielt. Die
Mauren, welche gewohnt sind, vor Aller Augen zn essen, zn
trinken, zu schlafen, zu beten, sich zu waschen n. s. w., wer-
den einen Junggesellen alle Augenblick belästigen, einen Ehe-
mann dagegen nicht. Zudem sollen die räuberischen Stämme
im Gebirge im Allgemeinen eine Reisegesellschaft, bei wel-
cher sich eine Frau befindet, respektiren.
Meknessa am Wed Haddar, welches sie nun erreichten,
wird auf den Karten meist als ansehnliche Stadt verzeichnet,
ist aber in Wirklichkeit nur ein Dorf von noch nicht 1000
Einwohnern. Dort war Colvile Zeuge eines belustigenden
Kampfes zwischen zwei Jungen, die mit ihren Schädeln ge-
gen einander rannten, wie zwei Böcke, daß es krachte, aber
sich damit keinen sonderlichen Schaden thaten. Die glatt
geschorenen Schädel dieser Landleute müssen eine erstaunliche
Dicke besitzen, daß sie die glühenden Strahlen der afrika-
nischen Sonne aushalten können; die höheren Klassen und
die Städter tragen freilich enorme Turbane, die Bauern
aber nur eine zusammengedrehte Schnur, ein Abzeichen
dafür, daß sie echte Moslim sind, wie Colvile glaubt. Diese
Dicke des Schädels macht den Mauren, gleichwie den Ne-
ger, zu einem gefährlichen Gegner im Handgemenge, da
beide eine fast unbeschränkte Zahl Hiebe auf den Kopf ver-
tragen können. Selbst wenn er keine Flinte hat, ist er ein
böser Kunde iu geringer Entfernung; denn mit Knüppeln
und Steinen trifft er sicher sein Ziel. Colvile war ver-
schiedene Male Zeuge, wie ein Maureukuabe einen Vogel aus
der Lust mit einem Steine herabholte, was nicht vielen von
ihnen mit einer Flinte glücken würde. Als er Abends das
Zimmer seiner Diener betrat, um für den folgenden Tag
einige Befehle zu geben, fand er den Kaid Mohammed bel
Fildil, der über 5000 Seelen unbeschränkte Gewalt ausübt,
wie einen armen Maulthiertreiber zwischen ihnen sitzen und
plaudern. Diese Gemüthlichkeit ist ein merkwürdiger Cha-
rakterzng der Marokkaner. Ein Kaid oder Pascha kann
seine Untergebenen foltern und tödten, in jeder Weise tyran-
nisiren und bedrücken, wenn er aber gerade nicht damit be-
schästigt ist, ihnen die Hälse abzuschneiden oder die Taschen
auszuleeren, so wird er mit ihnen auf vollkommen gleichem
Fuße verkehren und plandern. Ein Arbeiter bei uns fühlt sich
in Gegenwart seines Brodherrn mehr genirt, als ein Maure
niedrigen Standes gegenüber einem Manne, der unum-
schränkte Gewalt hat über ihn selbst und seine Familie. Der
Grund davon ist der, daß die ganze Aristokratie des Landes
in der einzigen Person des Sultans concentrirt ist. Niemand
ist von besserer Geburt als der andere: heute Sklave, kann
er morgeu Vezir, heute Sultaussohu, morgen Bettler sein.
Der Snltan, dem jeden Freitag eine neue Frau zugeführt
wird, erlebt jährlich nach der niedrigsten Schätzung kaum
weniger als ein hundert Mal Vaterfreuden, hat also schon
bei einem Mittlern Alter eine Schaar von Prinzen, die er
unmöglich standesgemäß aufziehen kann. Colvile felbst kannte
einen Enkel eines Sultans, der gemeiner Soldat war, und
Colvile's Reise durch 1
sah die Kinder eines der reichsten Männer im Lande in
Lumpen auf der Straße herumspielen. So ist Marokko,
die absoluteste Monarchie auf der Welt, dem Gedanken voll-
kommener Gleichheit und Brüderlichkeit näher gekommen,
als irgend eine Republik.
Nachdem am folgenden Morgen (31. December) die
ansgefandten Kundschafter berichtet hatten, daß die Gegend
sicher fei — zur größten Enttäuschung des nach einem
kleinen Scharmützel begierigen englischen Ehepaares —,
ging es in nordöstlicher Richtung Uber einen hohen Paß
hinüber in das Thal des Wed Errbar, eines Neben-
slusses des Wed Haddar, an welchem ein zweites Dorf
Meknessa, gelegen ist. Im Thale unterhalb desselben
wurde ein Arbar (Mittwochsmarkt) gehalten, der aus
einiger Entfernung wie ein Heerlager aussah, so viele Ge-
wehre glitzerten in der Sonne. Hunderte von Leute kauf-
ten und verkauften dort, von Venen jeder eine lange Flinte
und einen Dolch trug. Nicht ein einziger war unbewaff-
net; der Bauer hinter dem Pfluge hatte Flinte und Schwert
umgehangen, der Hirt auf dem Berge hielt das Gewehr
auf deu Knien, und selbst seine Peitsche, mit der er sein
Vieh vor sich hertreibt, läuft in einen spitzen Dolch aus.
Kinder und selbst Frauen sieht man mit Feuerwaffen herum-
gehen.
Nun führte der Weg hinüber in das Gebiet des Wed
Muluja und damit iu den Bereich des Mittelländischen
Meeres. Man begegnete hier algerischen Flüchtlingen vom
Stamme der Uled Sidi Scheich, die sich gerade gegen die
verhaßten Franzosen empört hatten. Große Mengen der-
selben sollen nach Marokko auswandern, wo sie mit offenen
Armen empfangen werden und jeder ein Stück Land, einige
Kühe und ein Weib erhalten. Noch vor der Paßhöhe fah
Colvile an einer Am Baida genannten Stelle Steinsalz
zu Tage treten. Diesen Abend machten sie bei der Kubba
(Heiligengrab) des Sidi Mndscharhed in einem kleinen Dorse
Halt, welches nach Norden wie Süden eine prachtvolle Aus-
sicht gewährte. Nach letzterer Richtung lag die Ebene el Far-
harma und an ihrem Rande, etwa 10 engl. Meilen entfernt,
die kleine Stadt Tsarsa (Thesa), im Jahre 1861 Rohlf's
fernster Punkt. Von hier sing ganz unbekanntes Terrain
an, obwohl auch Colvile's bisherige Route von der des dent-
schen Reisenden abweicht; hier begann aber auch ein be--
sonders von Wegelagerern heimgesuchtes Gebiet. Schon am
selben Abend gerieth das Dörfchen durch die Gefangennahme
eines Ghaiatsa in Aufregung; derselbe war kühn genug ge-
Wesen, als Spion sich einzuschleichen, wurde aber erkannt
und verließ den Ort erst als Leiche wieder. Weiterhin
macht ein gewisser Gimbib das Land unsicher; verkleidet
schleicht er auf den Märkten, felbst in Tsarsa, umher, um zu
spioniren, und dem Sultan, der ihm Pardon verhieß, wenn
er sich unterwerfen wollte, ließ er antworten: „Wer ist der
Mann, der mir solche Botschaft sendet? Ich kenne nur
einen Sultan, und der heißt Gimbib."
Am nächsten Morgen verließen sie das Bergland, stie-
gen zunächst zu der niedrigen Wasserscheide zwischen Sbu
und Muluja und dann in das Thal des M'znn hinab,
erreichten um Mittag den ansehnlichen und festen Kasbar
M'zuu, den Hauptort des Araberstammes Hnara, und
betraten dann eine weite öde und steinige Ebene. Die-
selbe wies nur hier uud da einige niedrige Sträucher und
Grasbüschel auf, und an denselben scheinen zahllose Schaf-
Herden sowie Gazellen ihren Unterhalt zu finden.
Diese Huara-Araber sind vollständige Nomaden und
verweilen selten länger als einige Tage an derselben Stelle.
Ihre Dnars oder Zeltdörser schlagen sie, abweichend von
Globus XXXVIII. Nr. 11.
s nordwestliche Marokko. 169
den Stämmen el Gharb's, in einem Kreise auf ohne Zaun
oder sonstige Schutzwehr. Sie säen zwar etwas Korn,
leben aber in der Hauptsache von ihren Schafen und befon-
ders Kameelen. Letztere befriedigen in Zeiten der Noth
alle ihre Bedürfnisse; sie dienen als Reit- und Lastthiere,
liefern Milch und Fleisch; aus ihrem Haare werden Ge-
wänder gefertigt und mit ihren Fellen die gegen Kälte und
Hitze schützenden Zelte bedeckt.
Gegen Mittag des 2. Januar wurde etwas oberhalb
der Mündung des M'zun der Muluja, die „zukünftige
Grenze Algeriens nach französischer Auffassung", überschrit-
ten. Derselbe war an jener Stelle nicht tief und über 200
Uards breit; an beiden Ufern faßt ihn ein dichtes Röhricht
ein, das von wilden Schweinen wimmeln soll. Der bisher
beobachtete Kalkstein wurde hier im Bette des Stromes
durch Konglomerat ersetzt; aus der vorhin erwähnten Ebene
hatte Colvile etwas Lava liegen sehen. Eine engl. Meile jen-
seit der Mnluja-Fuhrt wurde in dem Dorse des Scheris
Sidi Mohammed bel Hussein übernachtet. Dem Vater
desselben, Abdullah bel Hussein, ließ der jetzige Sultan
neben dem Dorfe ein Kubba (domförmiges Heiligengrab)
errichten. Auch sein Sohn, der jetzige Scherif, wird von
den gesetzlosen Stämmen der Nachbarschaft hoch geehrt und
spielt iu ihren Streitigkeiten den Schiedsrichter. Obwohl
er unter lauter als Viehdiebe berüchtigten Leuten lebt, hat
er doch durch sie noch nie auch nur ein Schaf eingebüßt.
Gegen den englischen Reisenden benahm er sich überaus
gastlich, und seine Mona (Gastgeschenke) war eines Fürsten
würdig; obwohl er schon sehr alt war, ließ er es sich nicht
nehmen, seine Gäste selbst während der ganzen folgenden
Tagereise zu begleiten, und seinem mächtigen Schutze ver-
dankten es dieselben, daß ihnen Seitens der unbändigen
Hallass- und Beuibuzguzu- Araber nichts zu Leide gethan
wurde.
Es folgte nun ein wasserloser Strich Landes von merk-
würdigem Aussehen; es schien, als wären die Spitzen der
kegelförmigen Berge, welche der Thon so gern bildet, wie
mit einem riesenhaften Messer abgeschnitten worden. Col-
vile sucht den Grund von dieser Erscheinung in einer dün-
nen Gesteinsschicht, welche nahe der Spitze der Berge hori-
zontal gelagert war und die unteren Partien schützte, wäh-
rend der weiche Thon oben vom Regen fortgespült wurde.
Nach einem langen Ritt durch diefe Einöde wurde das
Auge merklich durch das grüne Thal des Zaar erfrischt,
an dessen User die malerischen Ruinen des gleichnamigen
Kasbar sich erhoben. Komischer Weise stand dasselbe auf
der officiellen Liste von Halteplätzen, die Colvile in Fez er-
halten hatte, uud selbst sein Kaid war genannt, während
es nach seinem Aussehen zu schließen wenigstens die letzten
20 Jahre unbewohnt gewesen sein muß. Unweit davon
liegt eine zweite Ruine, wo früher eine Judenkolonie ge-
haust hat; bei einem der dort häufigen Kämpfe wurde ihr
Obdach zerstört, die meisten Insassen getödtet, und der Rest
floh in die Berge. JmDuarKrarmar wurde übernachtet;
der Begleitung des von den Dorfbewohnern fast angebeteten
Scherif bel Huffein hatte es der Reisende zu danken, daß
er mit der größten Gastfreundschaft dort aufgenommen
wurde. Der Scherif befaß in diefem Dorfe eine Anzahl
metarnors oder unterirdischer Speicher, aus welchen er
dem Reisenden Gerste für dessen Pferde verabfolgte. Diese
Metamors sind charakteristisch für Maureudörfer; es sind
Höhlen von der Form eines umgekehrten Trichters, etwa
15 Fuß tief und oben am Erdboden mit einer Oeffnung
von etwa 2 Fuß im Durchmesser. In besser angebauter
Gegend besitzen manche Dörfer oft 50 und mehr solcher
Speicher; in der Jahreszeit, wo dieselben offen stehen, ist
22
170
Dr. Carl Emil Jung: Australische Typen und Skizzen.
es dann gefährlich, nach Dunkelwerden durch solch ein Dorf
zu gehen oder gar zu reiten.
Nun folgte das Gebiet des Araberstammes Benibuzguzu
(auf der Karte Beni boo Goozgoo geschrieben), welches in
der Regenzeit ein wahres Eden sein muß, so viel Flüsse
oder wenigstens Flußthäler — damals lagen dieselben
trocken — enthält dasselbe. Wirkliches Wasser führte erst
der Wed M'ksaab, jenseits dessen im Kasbar Inn Sidi
Melluk Ubernachtet wurde. Hier stieß man auf die ersten
Anzeichen von (Zivilisation, der man sich näherte: zwei In-
den, die Cigarretten und Teppiche zu verkaufen hatten.
Am nächsten Morgen war es bitter kalt; die in den Fluß-
betten stehen gebliebenen Wassertümpel waren mit Eis von
lji Zoll Stärke bedeckt. Ein siebenstündiger Ritt brachte
sie über steiniges ödes Land an den Wed Jsly, wo die Ma-
rokkaner im Jahre 1844 von den Franzosen aufs Haupt
geschlagen wurden. Im Zelte des marokkanischen Generals
Mohammed ben Abderrahman fand man einen Brief dessel-
ben, worin er bei seinem Vater, dem Sultan, anfragte, ob
er das gefammte Heer der Ungläubigen tobten oder einige
als Gefangene mit heimbringen sollte. Dieser Brief befindet
sich noch heute im Besitze der französischen Regierung. In
weiteren 1^/4 Stunden war Udfchda, die Grenzstadt gegen
Algerien, erreicht und am 7. Januar wurde die Grenze
selbst überschritten.
Australische Typen und Skizzen.
Von Dr. Carl Emil Jung, früherem Jnspector der Schulen Südaustraliens.
VIII.
Im Busch.
Wo der Ackerbau aufhört, fängt der Busch an. Es ist
nicht nöthig, daß die Gegend bewaldet ist oder auch nur
Gebüsch trägt. Das Land mag ganz kahl sein, nur mit
Gras und niedrigen Strauchpflanzen bewachsen. In der
Sprache der Australier ist alles unkultivirte Land „Busch".
Man hat auch Buschstädte oder Buschdörfer, bush-town-
ships, Ortschaften, aus einigen Wirthshänsern, Kaufläden
(sogenannten Stores), einer Schmiede, vielleicht einem Gar-
ten unter der Obhut eines Chinesen und dergleichen beste-
hend, die mitten in der unkultivirten Gegend liegen, über die
kein Pflug hinweggeht. Zuweilen sind solche Buschstädte
ziemlich bevölkert; Deniliqnin, Hay, Wendworth, Bourke,
Mereiudi, Bolraueld, Echuca sind schon recht ansehnliche
Plätze. Aber sie liegen inmitten der Wildniß. In einigen
derselben sind Gärten angelegt, die auch gedeihen, aber die
meisten entbehren jedes pflanzlichen Schmuckes. Die Bäume,
welche die ersten Ansiedler vorfanden, fielen, um die rohen Hüt-
ten zu bauen, als Feuerholz, oder man rottete sie aus, weil
sie die lästigen Ameisen anzogen. Der Platz um eine solche
Stadt ist entsetzlich kahl. Im Sommer erkennt man ihre
Stelle schon von fern an der dichten rothen Staubwolke,
durch welche die glänzenden eisernen Dächer dann und
wann hindurchblitzen. Denn Eifen und Steine, zuweilen
auch Eisen und Holz sind die Materialien, ans denen die
Häuser aufgebaut siud. In den mehr bergigen Distrikten
bricht man die Bausteine leicht ans dem nahen Gebirgs-
rücken, in den flachen, westlichen Ebenen von Neu-Süd-
Wales und am Murray, wo sich, wie die Schäfer fageu,
nicht einmal ein Stein findet, den man nach einem Hunde
werfen könnte, werden Ziegel gebrannt. Damit versucht
man anch die Straßen zu bessern. Vom Regen aufgeweicht
siud sie bodenlos, auch die morschen, gebrannten Steine lei-
sten da nicht lauge Widerstand. Länger halten schon die
Segmente und Klötze von hartem Holze aus. Ueber Stock
und Stein ist für eine Reise im australischen Busch noch
der richtige Ausdruck.
Eiue Buschstadt ist in der Regel nicht gerade der an-
ziehendste Platz der Welt. Das Leben ist ziemlich einsör-
mig; der Verkehr nicht der größte. Der Reisende der bes-
sern Klasse findet im Wirthshanse wenig Gesellschaft. Ein
Squatter oder Aufseher, der von der Stadt nach vollende-
tem Verkaufe einer Herde zurückkehrt, ein paar Nachbaren,
die in den Stores Einkäufe zu machen beabsichtigen, hau-
sirende Kaufleute, die mit ihren beladenen Karren von
Station zu Station, von Hütte zu Hütte ziehen, vielleicht
ein Künstler, dem das Glück in den angesiedelten Distrikten
nicht recht hold ist, das ist so das Publikum, das sich Abends
um das Kaminsener sammelt oder auch am Billardtisch sich
mit den „Eingeborenen" der Buschstadt mißt. Aber zuweilen
wacht die Buschstadt aus ihrer Lethargie auf und wird unter
dem Einfluß des begeisternden Fusels lebhaft, wenn auch
nicht lieblich. Ein Korrespondent aus Normanton am Golf
von Carpentaria schildert uns die Freuden des dortigen
Weihnachtsfestes.
In die allgemein gehobene Stimmung scheint zu seinem
Unglück ein mißliebiger Squatter hiueingerathen zu sein,
den nian stracks einfing, mit Hand- und Fußfesseln und einer
Kuhglocke um den Hals versah und so umherwandern ließ,
zur großen Freude der Bewohner und der anscheinenden
Befriedigung des Korrespoudeuteu. Aerztlicher Beistand
wird, fo möchte man hoffen, nicht oft verlangt. In der-
selben Korrespondenz erfahren wir, daß bei den Wettkämpfen
einer der Ringer einen Arm brach. Flugs schickte man
zum Doktor; der war aber, heißt es, wie gewöhnlich betrun-
ken. Um ihn möglichst sicher in einen nüchternen Zustand
zu versetzen, sperrte man ihn auf ein Paar Stunden ohne
Weiteres ein, worauf er die Einrichtung des gebrochenen Glie-
des mit gewohnter Geschicklichkeit vollzog. Nach dem Tone
der Mittheilungen möchte man glauben, daß die kurze Ge-
fängnißhaft ein notwendiges Vorspiel für alle vorkommen-
den Konsultationen ist, wogegen auch der „Doctor" nichts
zu haben scheint.
In der Regel ist eine Buschstadt ziemlich öde und die
Wirthshäuser sind wenig besucht. Das Leben und der
Verkehr mit den wüsten Gelagen finden nur zu gewissen
Zeiten statt. Vor den Lüden stehen unter den Verandahs
die müssigen Storekeeper und schauen nach Kunden aus.
Die einzige Abwechselung bringt die Post, die vielleicht jede
Woche einmal vou der Hauptstadt anlangt und die kleine
Dr. Carl Emil Jung: A
Bevölkerung von Handelsleuten und Handwerkern aus ihrer
eintönigen Langweiligkeit für kurze Zeit befreit.
Aber fönst wird die Ruhe wenig gestört. Die wan-
dernden Arbeiter, welche täglich durch den Ort ziehen,
gehen ins Wirthshaus, aber sie drängen sich der Aufmerk-
famkeit der Bewohner nicht auf. Der Händler, der sie vor-
überziehen sah, sieht schon an ihrem Gange, daß hier kein
Geld ist und er sich nicht um die Leute zu kümmern braucht.
Aber der Mann, der dort ohne einen Penny in der Tasche unter
der Last seiner wollenen Decken dahinfchleicht, in dem seine
ganze irdische Habe geborgen ist, weiß, daß er im Wirthshause
einkehren darf ohne befürchten zu müssen, daß man ihn ab-
weist. Der erfahrene Wirth kennt den geldlosen Mann
sofort heraus, aber er heißt ihn dennoch willkommen. In
Bourke, ja schon lange vor Bourke, sah ich überall an den
Bäumen Plakate angeheftet, welche dem Leser erklärten, daß bei
einem gewissen Carstairs, Wirth des Commercial Hotel zu
Bourke, jedermann freien Tisch finde, auch wenn er kein Geld
habe. Wovon lebt also dieser edelmüthige freigebige Wirth?
Ist diese mächtige Batterie von Flaschen mit den prangend-
sten Etiketten von diesem Wohlthäter seiner ärmeren Mit-
menschen nur deswegen in der „Bar" aufgestellt, um dem
ermatteten, von dem langen Marsche bestaubten Wanderer
einen stärkenden Labetrunk zu reichen?
Leider geht das philanthropische Gefühl hier nicht so weit.
Jener stämmige Mann mit dem bärtigen Gesicht und den
pfiffigen Augen hat nichts weniger im Sinn als ein Be-
glücker der Menschheit zu werden. Dieses Gratisvertheilen
von Speisen und Getränken hat keinen andern Zweck, als
das Herunterholen der größern Speckseite vermittelst der klei-
nern Wurst. Die Wurst ist in der Regel sehr klein und
die Speckseite oft von riesigen Proportionen und sie kommt
ganz sicher.
Der wandernde Arbeiter hat auf den Stationen seine
Portion Mehl, Thee und Fleisch erhalten, wenn er sich bei
dem Besitzer oder Verwalter meldete, aber er fühlte wohl,
wie widerwillig man ihm dies Almosen reichte. Je eher
er ging, desto besser. Er mußte sich sein Brot selber backen
und sein Fleisch kochen, so gut es ging, und da er hungrig
war, nahm er es mit dem Kochen und Backen nicht allzu
genau. Asche und Kohlen vertreten Backofen und Topf.
Aber hier empfing ihn ein Mann, der wohl wußte, daß
fein Gast keinen Heller besaß, mit offenen Armen., nahm
ihn an feinen wohlbesetzten Tisch und stärkte ihn mit dem
brennendsten, also besten, Feuerwasser, das sein Haus bot.
Und doch war dieser barmherzige Samaritaner arm im Ver-
gleich mit dem reichen Herrn, der vielleicht ein hundert-
tausend Schafe sein eigen nannte. He is a Christian, sagt
der dankbare Vagabonde. Und wie ein Christ beweist er
seine Dankbarkeit, indem er, sobald harte Arbeit in der
Schurzeit ihm eine runde Summe in die Hand gedrückt
hat, zu seinem Wohlthäter zurückkehrt und das Geld bis
auf den letzten Heller vertrinkt. Eine andere Handlnngs-
weise wäre erbärmlich. Was würde ein Wirth im Busche
Australiens von einem Mann denken, der die kleine Schuld
bezahlte und seines Wegs ginge? Nicht er allein, auch
die Kameraden des Mannes würden ein solches Beneh-
men für den schwärzesten Undank erklären.
So arbeitet der bushman für den Schenkwirth. Was
er verdient, geht fast ohne Abzug in seine Hand. Ein Schäfer
braucht Kleider und Tabak, denn ohne die kurze Pfeife
köunte er nicht leben, aber die Ausgabe ist verhältnißmäßig
klein; die Hauptsache wird vertrunken. Es ist gut für die
Leute selber, daß sie betrogen werden. Von den Getränken,
die ihnen der Wirth in Rechnung setzt, haben sie vielleicht
nicht ein Viertel getruukeu. Je weniger sie freilich von
'tralische Typen und Skizzen. 171
diesem Gift bekommen — und wohl selbst die Höllen und
Ginpaläste Londons kennen kein scheußlicheres —, desto besser
für ihre Gesundheit. Mehr als einer der Insassen der Irren-
Häuser Australiens büßte seinen Verstand in diesen Knei-
pen ein. Aber den Leuten selber ist dieser periodische Gang
von dem Wollschuppen und der Schäserhütte zum public
house oder bush-shanty fo zur zweiten Natur geworden,
daß selbst ihre eigene Ueberzeuguug von der Thorheit eines
solchen Beginnens sie nicht zurückzuhalten vermag.
Einer meiner Leute, der mit Ausnahme eines jährlichen
Trinkgelages beständig bei mir in Arbeit stand, und als
Scheerer und Brunnengräber bedeutende Summen verdiente,
wurde auf eine eigene Weise bekehrt. Ich hatte ihm seinen
Check an die Bank in Bourke gegeben und ihm noch ein-
mal das Thörichte seines Benehmens vorgestellt. Für wen
arbeitete er als für den Wirth allein? Und nenne er
das Stehen und Trinken von dem fchändlichsten Fusel der
Welt einen spree, ein Vergnügen? Jack hatte sich in der
Welt umgesehen und sollte ein Urtheil haben. Mein
Reden half nichts, mit seinem Swag, seiner zusammen-
gerollten Decke, die seine wenigen Habseligkeiten enthielt, ge-
folgt von seinem Huude machte er sich auf. Die shanty
war eine gute Tagereise, ein Mann mit seinem Check in
der Tasche säumt auf dem Wege zum Wirthshause nicht.
Ich hatte Jack ein paar Wochen zum Todtschlageu seines
Geldes gegeben, denn die Summe war nahe an 180 Pf.
St.; wer beschreibt mein Erstaunen, als er schon den Tag
darauf wieder bei mir eintraf? Gewiß hatte er den Check
verloren und wollte einen andern haben. Aber die Sache
stand anders. Meine Worte waren nicht auf unfruchtbaren
Boden gefallen. Jack hatte sich, während er in der heißen
Sonne auf der Straße wacker fortmarschirte, überlegt, ich
möchte doch nicht ganz Unrecht haben. Vielleicht war sein
Freund, der Wirth, doch uicht das Muster uueigeuuütziger
Selbstlosigkeit, als das er ihn geschildert hatte. Er wollte
ihn auf die Probe stellen. Der Check erhielt ein sicheres Ver-
steck unter einem Stein an der Straße und mit dem wenigen
Silbergelde, das er fönst besaß, trat Jack in die Bar, schon
voll von lärmenden und trinkenden Genossen. In Austra-
lien, wenigstens im Busch Australiens, trinkt ein Mann nicht
allein, es versteht sich, daß, wer ein Glas fordert, auch für
alle bezahlt, die gegenwärtig find. Die anderen machen es
ebenso; man trinkt nach dem Prineip der Gegenseitigkeit.
Jack bestellte und bezahlte mit Silber. Das machte den
Wirth schon stutzig. Ein rechter echter Buschmann giebt
dem Wirth sein Geld, wenn er ins Haus tritt, und bittet ihn,
ihm zu sagen, wenn der letzte Schilling vertrunken ist. Der
Wirth Paßte auf und als er Jack betrunken auf sein hartes Lager
führte, untersuchte er sorgfältig jede Tasche, Stiefel, Hut,
jeden Schlupfwinkel, in dem das verheimlichte Geld stecken
köunte. Jack war betrunken, aber er merkte die Procednr.
Der Wirth hatte nichts gefunden, also war nichts da, nichts
zu verdienen. Am nächsten Morgen befand sich Jack im
Freien; sein betrogener alter Freund wollte von einem
Manne ohne Geld nichts wissen. Mein Mann war geheilt
und das war der erste Anfang der Ersparnisse, mit denen
er sich später eine hübsche Farm kaufte. Er blieb mir im-
mer fehr dankbar.
Auf des Squatters Tische fehlt neben dem Decanter
mit Wasser die Cognac- oder Whiskeyflasche selten. ^ Auf
den ersten Willkommengruß folgt ein gemüthliches Trinken.
Neben der unvermeidlichen Theekanne steht ganz sicherlich
der „harte Stoff". Sguatter sind keine Teatotallers. Aber
den Arbeitern ist der Genuß von Spirituosen aufs Strengste
verboten. Sofortige Entlassung steht ohne Gnade auf dem
Verbrechen, geistige Getränke auf der Station genossen zu
22*
172 Dr. Carl Emil Jung: Au
haben. Bei den Scherern ist diese Klausel in schärfster
Weise in dem Kontrakt ausgesprochen. Es macht einen
eigentümlichen Eindruck auf den Gast, seinen liebenswür-
digen Wirth Glas um Glas füllen zu sehen, während der
arme Kerl draußen in der „Küche" wegen derselben Neigung
als ein unverbesserlicher Taugenichts gescholten wird. Man
mißt ihm nicht mit demselben Maße. Freilich geht's auch
nicht. Squatter trinken und werden auch betrunken, aber
sie wissen, wann sie aufzuhören haben. Ein australischer
Arbeiter im Busch aber muß trinken, bis der letzte Tropfen
heraus ist, oder der letzte Schilling aus der Tasche geflogen ist.
An ein Beherrschen seiner selbst ist nicht zu denken. Er ist
wie ein Wesen ohne Vernunft, und solche Gesetze sind nöthig,
um ihn zur Arbeit zu halten. Ein sehr trauriges Zeuguiß
für seine sittliche Befähigung.
Dann und wann stößt der Zeitungsleser auf eine
Notiz, daß ein Mann im Bufch tobt gefunden fei, und
wie man seine letzten Wünsche auf dem leeren, blechernen
Wasserbehälter gelesen habe, in das er sie einritzte, ehe er
seinen Geist aufgab. Selten erfährt man seinen Namen,
noch seltener kommt es darauf an ihn zu kennen, denn der
Mann ist heimathslos, freundlos; niemand betrauert ihn.
Die zu Hause haben ihn längst vergessen, sind vielleicht froh,
daß nichts mehr an ihn erinnert, und in der Kolonie hat
er bei seinem Wanderleben keine Bande geknüpft. Er nennt
sich vielleicht bei einem andern Namen; vielleicht kennt man
ihn nur unter familiären Bezeichnungen wie schottischer
Harry, deutscher Charley, wie Dutzende von anderen.
Das Bild hat aber auch eine Kehrseite. Man kann
nicht erwarten und es wäre auch nicht zu wünschen, daß
ein Mann ein solches Einsiedlerleben, wie er es im Busche
führen muß, lange fortsetzt. Man vergegenwärtige sich nur
die monotone trostlose Existenz eines australischen Schäfers,
der Wochen, ja zuweilen Monate lang niemand sieht, als
seinen Aufseher, der kommt, um die Schafe am Ende des
Monats zu zählen oder ihm sein Mehl, Zucker, Thee und
seinen Tabak zu bringen. Bielleicht werden ihm ein paar
Bücher geliehen, vielleicht sind auch die nicht zu haben oder
sie werden ihm absichtlich vorenthalten aus Furcht, er möchte
seine Schafe vernachlässigen. Was für ein Leben! Er muß
es nach einiger Zeit aufgeben; er sehnt sich nach Gesellschaft
und der einzige Platz, der nicht zu fern ist, an dem er Ge-
sellschast finden kann, ist das Bufchwirthshaus. Vielleicht
ist er kein Trunkenbold, aber das kommt mit der Zeit.
Und wer am höchsten gestanden hat, sinkt nur zu oft am
tiefsten.
Und Arbeit ist nach der Schurzeit in jenen Gegenden
nicht zu haben. Man braucht nur wenig Leute; seit die
großen Weidegründe eingezäunt sind, sehr wenige. So bleibt
er hängen, bis das letzte Geld in die Tasche des Wirths
gewandert ist, oder vielmehr, bis dieser erklärt, daß das ver-
trunkene Quantum Spirituosen den Werth des Checks reprä-
sentirt, und dann nimmt er seine Decken und seine Wasser-
kanne, pfeift seinem Hunde, dem einzigen Wesen, das für
ihn noch ein Gefühl von Zuneigung zeigt, und tritt feinen
traurigen Gang an von Hütte zu Hütte, von Station zu
Station, bis sich Arbeit findet. Ein solches Wandern und
Betteln dauert oft viele Wochen und Monate, oft von Schur-
zeit zu Schurzeit. Oft können die Leute nicht Beschäftigung
finden, oft mögen sie keine, und der Sommer sieht Scharen
solcher Leute in Gesellschaften von zweien und dreien auf
den Straßen, die regelmäßig am Abend bei den Stationen
vorsprechen und gefüttert werden.
Natürlich ist das eine schwere Abgabe. Es giebt Sta-
tionen, die jährlich 1000 Pf. St. für den Unterhalt dieser
Landstreicher ausgeben. Manche kommen zu Fuß, andere
Mische Typen und Skizzen.
kommen zu Pferde, wenige wollen wirklich Arbeit und dann
für Löhne, die der Squatter nicht zahlen kann.
Aber, so fragt der Leser, warum müssen diese Leute um-
sonst gespeist werden? Warum läßt man sie nicht ihre Mahl-
zeit auf irgend eine Weise verdienen; irgend eine kleine Be-
schästignng wird sich wohl immer finden. Und warum
schickt man solche, die nicht ihr Brot verdienen wollen, nicht
hungrig weiter? Gewiß würde der Squatter nicht zögern,
diesem kostspieligen Unwesen ein Ende zu machen, wenn er
es wagte. Aber wehe dem, der es wagte! Ein brennendes
Schwefelholz, in das trockene Gras geworfen, würde das
Gras für seine Schafe zerstören, seine kostspieligen Einzäu-
uungen vernichten; ein paar solcher Leute könnten ihn rui-
uiren.
In den Kalendern der Kolonisten sind die Tage, an denen
verheerende Wald- und Steppenbrände unsägliches Unheil
anrichteten, schwarz angemerkt. Der Black Thursday Vic-
torias hat Spuren hinterlassen, die noch heute wahrzunehmen
sind, und manche Familie beklagt nicht nur das damals ver-
lorene Eigeuthum, sondern auch das Leben manches gelieb-
ten Angehörigen. Wer sich nicht durch schleuniges Abbren-
nen des Grases rings um sein Haus sicherte und so dem
rasend näherfliegenden Brande eine Grenze zog, kam unter
den Trümmern seines Hauses um. Die Gluth und der
Rauch waren erstickend; erschöpft von den Anstrengungen,
die Flammen aufzuhalten, fiel mancher dem Element zum
Opfer. Wenn auch nicht in so furchtbarer Weise, so kehren
diese Brände doch immer wieder. Man kann sich die rasende
und nicht aufzuhaltende Schnelligkeit vorstellen, mit der das
Feuer vom Winde getragen über die ungehenern Ebenen
fliegt, welche das dürrste Gras bedeckt. Der Unterhalt der
Schafe, der Werth von Tausenden von Pfunden Sterling ist
in kurzer Zeit verloren, wenn auch die Schafe selber gerettet
werden. Aber sie sind nun gezwungen zu wandern und mit
geringerer Kost vorlieb zu nehmen. Und dann die kostspie-
ligen, zum großen Theil verbrannten Einzäunungen! Wahr-
lich, der Schade ist ein unberechenbarer.
Daher darf sich der Squatter die Leute nicht zu Fein-
den machen, denen es so leicht wird, ihm empfindlich zu
schaden. Er muß den Zoll zahlen und die Leute wissen sehr
wohl, daß er es muß. Sie fordern das Almosen als ihr
Recht.
Und so wandern diese Leute umher, von Platz zu Platz,
von Hütte zu Hütte, ihr einziger Gedanke die Mahlzeit,
welche sie in der Küche des Sqnatters oder im Zelte des
Schäfers zu erlangen hoffen. So ziehen sie durch die Ein-
öden arbeitslos und arbeitsscheu, einsam und elend in der
trostlosen Wildniß. Aber dieses müssige Leben hat seinen
Reiz für den Mann, der die Arbeit haßt, und doch welchen
moralischen Versall hat dieser Müssiggang in seinem Gefolge!
Und zu welchem Ende führt es!
Es ist eine bunte Gefellschaft, die man im Busche findet.
Der Busch bringt die Vertreter aller Stande zusammen.
Wer nicht arbeiten kann oder will, wird sich dorthin auf-
machen. Die Schäfer und Hüttenwächter einer großen Schaf-
station setzen sich aus Matrosen und Droschkenkutschern wie
aus Schreibern und Studenten zusammen. In einem der
Gasthöfe Victorias war vor nicht langer Zeit der Kochgehülfe
der leibliche Bruder der Jenny Lind, der schwedischen Nach-
tigall, und der Stiefelputzer in demselben Gasthofe war vor
Jahren ein gemachter Mann der Goldstadt Ballarat, der
seine 50 000 Pf. St. besaß. Diejenigen, welche Arthur
Ortou für den echten Tichborne halten, werden erzählen, daß
der Erbe einer der größten Besitzungen Englands am Mur-
rum bidgee Koch eines Schäfers war. Der Besitzer, wel-
cher über Hunderttausende von Schafen gebietet, steht viel-
Die Chunchusen im
leicht seinem niedrigsten Arbeiter an Bildung weit nach, und
die Unterhaltung einer Gesellschaft rauher, bärtiger Gestal-
ten würzt ihr einfaches Mahl am flackernden Lagerfeuer nicht
selten durch klassische Citate und Erinnerungen an die ver-
lassene Alma Mater. Aber der Gebildete geht bald in deu
Ungebildeten auf. Ihm behagt zuerst dieses halb zigeuner-
hafte Leben mit seinem Anflug von Romantik. Die Aeußer-
lichkeiten werden abgestreift, und bald unterscheidet er sich
auch iu seiner Sprache und in seinem Denken nicht mehr
von seinen ungebildeten Genossen. Facilis descensus! Aber
der Verlust ist oft unwiederbringlich und der Mann, der
nach jahrelangem Aufenthalt unter rohen Rinderhirten und
Schäfern in die Gesellschaft zurückkehrt, der er nach Geburt
uud Erziehung zugehört, fühlt zu oft heraus, welche Ver-
Wandlung mit ihm und in ihm vorgegangen ist.
Roh wie der Buschmann ist, besitzt er doch einige vor-
treffliche Züge. Er hat etwas von dem kameradschaftlichen
Corpsgeist, der unter den Matrofen der alten Schule herrscht.
Die Gesetze, welche jener im Umgange mit seines Gleichen
anerkennt, gelten auch meist für ihn. Widerlich wie die
Faustkämpfe find, mit denen sie ihre Differenzen entscheiden,
zeigen sich die Leute sehr oft da von ihrer besten Seite. Ab-
gesehen von den Formalitäten, welche Sekundanten und Un-
parteiische vorschreiben, beobachtet man nicht selten eine er-
staunenswerthe Generosität. Es ist nichts Ungewöhnliches,
einen starken, kampfgewandten Mann mit Ruhe die
Schmähungen eines schwächern, ihm nicht Ebenbürtigen an-
zuhören. Das erinnert an die Ruhe, mit der ein Neufuud-
läuder oder eine schwedische Dogge das Gekläff eines kleinen
Spitzel hinnimmt. Aber es gilt auch für unehrenwerth, den
Uebergriffen anderer zuzusehen und nicht einzutreten. „Sie
verstehen das Boxen nicht, Sie sind ein Deutscher, ich werde
Ihre Stelle einnehmen," sagte einer meiner Scherer sehr
ruhig, als mich ein Mann, den ich wegen ungehörigen Be-
tragens ablohnte, zum blutigen Zweikamps herausforderte.
Aber von da ab nahm ich fleißigen Uuterricht in der „edlen
Kunst der Selbstverteidigung".
Süd-Ussuri-Gebiet. 173
Sehr alte Leute duldet das Buschleben nicht; die Stra-
pazen und Entbehrungen erfordern kräftige Naturen. Und
mit dem Schäferlebeu ist es beinahe vorbei, seitdem die Her-
den in umzäunten Räumen weiden. Was wird aus den
alten Männern? Sie finden keinen Platz bei den Acker-
bauern, die einen lernten die Arbeit nie, andere haben sie
verlernt, auch sind sie zu alt geworden. Wenn sie nicht der
Wüstensand begräbt, oder die Mauern des Irrenhauses sie
einschließen, dann nimmt sie endlich das Armenhaus aus.
Aber nur weuige enden so ihr Leben, ein jäher Tod im
Säuferwahnsinn, in der wasserloseu Wüste, im blutigen
Faustkampf, das ist nur zu oft der Schluß des elenden Lebens
des Buschmanns in Australien. In den letzten Jahren ha-
ben sich wohlgesinnte Leute seiner angenommen. Vielleicht
schlug einem oder dem andern, der seinen Reichthnm auf
Kosten dieser geistig und sittlich Unmündigen erworben hatte,
das Gewissem Wie in den Seestädten Englands, so be-
steht schon seit geraumer Zeit iu jeder großen Hafenstadt
Australiens ein Daheim für die Seeleute. Das Leben des
Buschmanns ist dem Matrosen in manchem ähnlich, nicht
am wenigsten in seinen Ausschweifungen. Wie man die
Lage des Matrosen besserte, so versuchte man es mit dem
Buschmann, man baute Bushmen's Ilomes. Uud der Er-
folg ist im Allgemeinen ein günstiger gewesen. Die Leute
gewöhnten sich an Ordnung und Sauberkeit. Statt ihr
Geld in wüstem Gelage zu vergeuden, von ihrem selbstge-
nommenen Urlaub geistig und körperlich geschwächt znrückzn-
kehren genießen sie ein wirkliches und rationelles Vergnügen.
Auch ist ihnen der Genuß vou Spirituosen nicht versagt,
obschon weder im Hause selber geistige Getränke verabreicht
werden uoch auch das Hineinbringen von solchen gestattet
ist. Und sie lernen einsehen, wie viel glücklicher der Mensch
in Gesellschaft lebt, wie das wohnliche Zimmer der rohen
Rindenhütte, das saubere Bett dem schmutzigen Schaffell
vorzuziehen ist. Sie sehnen sich, ihren Beruf aufzugeben,
sparen, nm es thuu zu können, und werden mit der Zeit
nützliche, gesittete Mitglieder der Gesellschaft.
Die Chunchusen im
L—. Chunchus bedeutet eigentlich „Nother Bart".
Im Ussuri-Gebiet bezeichnet man aber mit dem Worte
Chunchus einen berussmäßigen Räuber und wendet jetzt die
Benennung auf jeden Chinesen an, welcher gelegentlich oder
zeitweilig sich mit Rauben beschäftigt. Es haben diese
chinesischen Chunchusen in der allerletzten Zeit im Ussuri-
Gebiet sich sehr bemerkbar gemacht; sie sind zu einer schwe-
ren Geißel für die Kolonisten daselbst geworden, und bei
einem etwaigen Kriege zwischen Rußland und China könn-
ten sie den russischen Ansiedelungen sehr verhängnißvoll
werden. Es dürfte im Hinblick hierauf der citirte Artikel
des „Golos", welchen ein tüchtiger Kenner jener Gegenden,
Th. Busse, versaßt hat, aus Interesse zu rechnen haben.
Vor Abschluß des Vertrags von Aigun (28. Mai 1858)
hatten die Bewohner des damals chinesischen südlichen Ussuri-
Gebiets ihr sehr bequemes Auskommen; sowohl die in Chuu-
tschuu, Ninguta uud Sjänssin stationirteu Maudschu-Solda-
ten als auch Tauseude von Chinesen, welche — um der Strafe
für mannigfache Verbrechen zu entgehen — aus dem nörd-
i) Nach dem Russischen. „Golos" 1880, Nro. 35.
5üd-Ussuri-Gebiet).
lichen China entflohen waren, fanden im Ussuri-Gebiet hinrei-
cheude Erwerbsquellen. Sie legten entweder Pslanzuugeu an,
in welchen sie die bekannte Wurzel Ginseng (Russisch shen-
schen genannt) zogen, oder sie sammelten die Wurzeln der
wild wachsenden Pflanzen; sie trieben Fischerei, fingen Fische
und „Trepang" (Holothurie) und verkauften sie nach China;
sie machten Jagd auf Hirsche, um der Geweihe willen (Pan-
ten geuauut). Bekanntlich sind die Wurzel Ginseng, der
Trepang und die Panten im eigentlichen China außerordent-
lich verlangte und geschätzte Handelsartikel. Bei der großen
Menge der mit diesen Erwerbszweigen beschäftigten Chine-
fen fand sich selbstverständlich das Bedürfniß nach den Pro-
dukten des Ackerbaues ein: es entstanden deshalb an vielen
Orten Farmen, bei welchen Gemüse, Korn, Mais, Tabak
gebaut wurde; aus dem Mais wurde eine Art Branntwein
bereitet. Was die Bevölkerung an Manusakturwaareu uö-
thig hatte, beschafften die Kausleute aus Giriu, Sjänssin,
Ninguta und Chuu-tschuu. Dazu kam, daß ungeachtet des
strengsten Verbots die Chinesen an vielen Orten Gold-
Wäschereien etablirt hatten, meist mit Vorwissen der be-
stochenen chinesischen Beamten.
174 Die Chunchusen im
Am Hauptplatz der Wäschereien, inWanlag on, in der
Nähe der Flüsse Suifun, waren nach officiellen chinesischen
Berichten 30 000 bis 40 000 Arbeiter beschäftigt; es war
dieser Platz zu einer vollständigen chinesischen Kolonie ge-
worden, welche mit der Stadt Ninguta durch eiue gebahnte
Straße regelrecht verbunden war. Sowohl die für die
Wäscherei bestimmte Waare als auch die für China bestimm-
ten Landesprodukte (Pauten, Ginseng, Trepang) benutzten
diesen Weg; ihn benutzten aber auch die mandschurischen
Beamten und kehrten reich beladen mit Geschenken ans der
Kolonie heim. Die betreffenden örtlichen Polizeichess wur-
den in kurzer Zeit reich, sobald sie es nicht vergaßen, mit
den höchsten Würdenträgern in Girin und Peking zu theilen.
Alle diese Umstände hatten zur Folge, daß der Wohlstand
sowie der Friede im Süd-Ussuri-Gebiet nicht gestört wurde,
vou verübten Räubereien hörte man etwa nur aus den Gold-
Wäschereien. Es waren ganz vereinzelte Fälle: organisirte
Banden von Chunchusen gab es nicht.
Im Jahre 1858 wnrde der Vertrag von Aignn ge-
schlössen; hierdurch fiel das Ussuri-Gebiet an Rußland.
Die Grenze wurde leider für Rußland nicht günstig gezogen.
Eiu Theil des Chauka-Sees blieb im Besitz der Chinesen,
nud das ist für die Kommunikation auf dem Lande höchst
unbequem. Ferner läuft die Grenze längs dem Fluß Tur
und dem Gebirge bis zum Fluß Suifun und weiter längs
dem Gebirge bis zum Fluß Tumeujula. Das Gebirge,
welches hier die Grenze bildet, ist sehr reich an Schluchten,
welche den Räubern als vortreffliche Zufluchtsörter dienen.
Weder der Vertrag von Aignn noch der spätere Er-
gänzungsvertrag von Peking haben die Beziehungen der
auf den neu erworbenen Territorien ansässigen Chinesen zu
Rußland geklärt. Die chinesische Regierung befahl ihren
Gouverneuren von Ni n g nt a und Sj änff in streng darauf
zu achten, daß chinesische Weiber sich der russischen Grenze
nicht näher als 50 Werst aufhielten; sie verbot den chinesi-
schen Arbeitern, welche gewohnt waren alljährlich zum Zweck
ihres Erwerbs in das Ussuri-Gebiet zu wandern, Pässe zu
ertheilen. In Folge dieser Maßregeln kehrten alle verhei-
ratheten Chinesen nach China zurück und die Zahl der neu
einwandernden Arbeiter verringerte sich sehr bedeutend, weil
nur ein kleiner Theil derselben sich entschloß, ohne Erlaub-
niß der Regierung die Grenze zu überschreiten. Der größte
Theil blieb in der Mandschurei, welche sehr dicht bevölkert
ist. Dies war die Ursache der Verarmung einer großen
Menge von Personen, welche entweder direkt zu Landstrei-
chern wurden oder sich den nahe der russischen Grenze gele-
genen Goldwäschen zuwandten. Die Mandarinen ergriffen
freilich ihre Maßregeln gegen das unerlaubte Goldwäschen,
rüsteten sogar militärische Expeditionen gegen die Unter-
nehmer der Goldwäscherei aus; allein oft ohne Erfolg: die
bewaffneten Arbeiter gewannen nicht selten über die Regie-
rungstrnppen die Oberhand. Von Seiten der mandschnri-
schen Beamten wurde dann zu grausamen Repressalien ge-
schritten: die ergriffenen Arbeiter wurden als Aufrührer und
Räuber grausam gefoltert und getödtet; begnadigt wurde
keiner. Hierdurch wurden die „Chunchusen" nur zu viel
energischerer Gegenwehr gereizt; sie vergalten Gleiches Mit
Gleichem. Sie kämpften stets bis auss Aeußerste und im
Falle eines Sieges quälten sie die gefangenen Soldaten.
Es waren diese feindseligen Beziehungen zwischen der Re-
gierung und den Goldwäschern ferner die Ursache, daß die
Zufuhr aus der Mandschurei ausblieb; was man den Gold-
Wäschern nicht gutwillig verkaufte, nmßte anf andere Weife
herbeigeschafft werden: die Gvldwäscher wurden zu Ränb ern.
Andererseits war nach der russischen Okkupation den
chinesischen Ansiedlern im Ussuri-Gebiet die Möglichkeit ge-
Süd-Ussuri-Gebiet.
boten, ihre Landesprodukte über Wladiwostok auf europäischen
Schiffen nach China zu transportiren. Dies und die immer-
fort anhaltenden Feindseligkeiten an der Grenze machten,
daß die guten Verkehrswege allmcilig verfielen. So ist
z. B. der frühere Hauptweg aus Ninguta über Waulagou
an den Suifun jetzt für 'Wagen absolut nicht mehr befahr-
bar; überdies sind alle chinesischen Häuser („Fcrnsen") auf
dieser Strecke längst von den Chunchusen niedergebrannt.
Vor nicht sehr langer Zeit bewegten sich aus dieser Straße
täglich große Züge von schwerbeladenen Wagen; jetzt sieht
man selten nur mit Mühe fortkommende Lastthiere unter
militärischer Bedeckung.
Die im Ussuri-Gebiet lebenden Chinesen — man nennt
sie Mansy — sind mit den geschilderten Veränderungen
höchst unzufrieden; weil sie die Russen dafür verantwortlich
machen, so zeigen sie sich denselben sehr feindselig gesinnt.
Im Jahre 1868 kam es sogar zu Unruhen, weil Banden
von Chunchusen durch die Mausen unterstützt wurden.
Die örtliche russische Administration hat leider auch keiue
rechte Fühlung mit den Mausen gehabt; sie hat gar nicht
verstanden, mit ihnen in entsprechender Weise zu verkehren.
Erst in allerjüngster Zeit hat der bisherige Generalgouver-
nenr Baron Frederick eine Lösung der „Mausenfrage" ver-
sucht, doch sind die eingeleiteten Vorstudien noch lange nicht
beendigt.
Bis zur Stunde weiß die russische Administration des
Ussuri-Gebiets nicht, wie groß die chinesische Bevölkerung
daselbst ist, sie weiß nicht, wie nnd wo sie lebt und wie
sie orgauisirt ist. Man hat Grund zu vermutheu, daß die
Mausen sogar noch jetzt der chinesischen Regierung Abga-
ben zahlen, welche von incognito reisenden chinesischen Beam-
ten eingesammelt werden. Von Zeit zu Zeit erhält die
russische Administration Private Nachrichten über die Strafen,
welche die Aeltesten der Mausen verhängt haben; allein sie
mischt sich nie in die Angelegenheiten der Mausen. Nach
den Traktaten sind alle chinesischen Unterthanen, welche im
Ussnri-Gebiet leben, den chinesischen Gerichten unterworfen;
Rußland ist verpflichtet auf Verlangen der „Jamune" (Po-
lizeichef) von Chnn-tfchun und Ninguta die Verbrecher
auszuliefern. Nicht selten kommt es vor, daß die chinesischen
Beamten auf ein bestimmtes Individuum in einem bestimm-
ten Ort hinweisen, aber die russische Verwaltung kennt den
Ort nicht, wie soll sie die Person finden?
Aus Unbekanntfchaft mit der chinesischen Sprache ist die
russische Verwaltung völlig abhängig von der Zuverlässigkeit
der Dolmetscher, welche das ihnen geschenkte Vertrauen
gründlich mißbrauchen. Ein solcher Dolmetscher z.B. zeigte
einen seiner ihm lästigen Gläubiger als Chunchusen an,
damit derselbe den Chinesen ausgeliefert werden sollte. Ein-
zelne Mausen geben sich für chinesische Unterthanen ans
und bringen ihre Klagen in Chuu-tschuu und Ninguta vor,
was die russische Verwaltung nicht im günstigsten Licht er-
scheinen läßt. Kurz die Mausen sind ein den Russen durch-
aus feindliches Element, das im Fall eines Krieges, ob mit
China oder einer andern Macht, den Russen ungemein scha-
den würde.
Kehren wir nach dieser Abschweisuug zu den eigentlichen
Chunchusen zurück. Der Hauptherd für die Entstehung
der Räuberbanden ist das Gebiet von Sjänssin; reich an
Schluchten und Bergen bietet es den Banden bequeme Zu-
sluchtsorte, währeud die fruchtbaren Thäler der Flüsse Sun-
gan und Muren Pferde, Waffen, Kleider, Nahrung :c.
liefern. Ueberdies handeln die Gouverneure der chinesischen
Provinzen nie in Übereinstimmung mit einander, sondern
womögüch wirken sie einander entgegen, was die Chnnchn-
sen natürlich zu ihrem Vortheil ausnutzen.
Die Chunchusen im
Als das verbotene Goldwaschen in der Mandschurei sei-
nen Anfang nahm, so bildeten sich auch hier nach dem Bei-
spiel Chinas Genossenschaften. An der Spitze einer sol-
chen Genossenschaft stand ein energischer Mann Sui-biu-
wai, ein Verwandter des Fndatnn vouNiuguta, Schnwan.
Er sammelte eine Schar von 200 Menschen um sich und
erbaute am Ufer des Muren eine hölzerne Festung Ku-
nigui etwa 35 bis 40 Werst von der russischen Ortschaft
Turij Rog (am westlichen User des Chauka-Sees). Die
Mauern der Festung waren 2 Sashen (circa 4 Meter) hoch,
zwei starke Thore wurden durch zwei doppeletagige Thürme
geschützt. Hier wurden alle Vorräthe und insbesondere der
Schießbedarf aufbewahrt. Die eine Hälfte der Bande — mit
der andern täglich abwechselnd — arbeitete 80 bis 100 Werst
(Kilometer) weit auf der Goldwäsche in der Ortschaft Tai-
ping im Gebiet Sjänssin. Die andere Hälfte der Bande
blieb unter dem Anführer in der Festung zurück, beraubte
gelegentlich die vorüberziehenden Karawanen oder begleitete sie
gegen hohen Entgelt, um sie gegen andere kleinere Banden
zu beschützen. Ja, mitunter verfolgte und vernichtete Sui-
b iu-w ai die kleinen Banden und lieferte sie den chinesischen
Behörden aus, um die ^Konkurrenz zu unterdrücken. Im
Winter verweilte die ganze Gesellschaft in der Festung, von
den gesammelten Vorräthen zehrend. Sui-bin-wai hielt
die ganze umwohnende Bevölkerung in Furcht und Schrecken;
ja er zwang sie sogar alljährlich Berichte über den guten
Zustand der Provinz, über die Abwesenheit von Chunchusen-
banden dem Gouverneur von Ningnta abzuliefern. Sui-
bin-wai fiel schließlich durch Verrath. Der Oberbeamte
von Ninguta lud ihn als seinen Verwandten zu sich; jener
kam, wurde arretirt und gehängt. Die Bande zerstreute
sich nur theilweise,, 140 Mann bliebeu unter einem ueuge-
wählten Anführer zusammen; doch wurde im Frühjahr 1L79
endlich die Festung Kuuigui durch eine russische Militär-
abtheiluug eingenommen und niedergebrannt.
Die organisir'ten Chunchusen-Banden sind in letzter
Zeit gut bewaffnet; sie haben Piston- und sogen. Magazin-
gewehre (System Winchester); dadurch sind sie den sehr
schlecht bewaffneten chinesischen Regiernngstruppen weit über-
legen. Die letzteren fürchten sich vor den Chunchusen,
so daß von der Seite Chinas eine eigentliche Grenzbewa-
chuug gar nicht existirt.
Die Chunchusen befinden sich demzufolge in sehr günsti-
gen Verhältnissen: das Land bietet ihnen bequeme Verstecke
dar; aus den ihnen unterwürfigen Mausen können sich ihre
Banden mit neuer Mannschaft rekrntiren, zu ihnen wenden
sich alle heimath- und arbeitlosen Leute, zu ihnen kommt
eine Anzahl solcher, welche in den über ganz China ver-
breiteten Spielhäusern alles bis auf das letzte Hemd ver-
spielt haben. Die Mausen sind in völliger Abhängigkeit
von den Chunchusen: die Mausen erwarten auf besondern
Befehl die angesagten Banden, um sie mit Nahrung u. s. w.
zu versorgen; die Mausen machen aber aus Furcht Vör-
den Chunchusen oder aus Haß gegen die Russen den Chun-
chnsen Anzeige von etwa ihnen drohenden Angriffen der
Chinesen oder Russen. Oder die Mausen schützen direkt den
einen oder andern Chunchusen, indem sie denselben für einen
der Ihrigen ausgeben und ihn mit den nöthigen Legitima-
tioueu versehen.
Die Chunchusen betrachten als ihre nächsten Feinde
die Russen und übertragen dann weiter diesen Haß auf alle
Europäer. Wo sie einen solchen tobten können, da geschieht
es ohne Barmherzigkeit, ganz einerlei, wer es ist. Einen
Beweis dafür liefert die Küste vom Fluß Zemu-che (oder
Zymu-chc) bis zur Nachodka-Bucht; die hier von
Finnländern gegründeten Ansiedelungen existiren nicht mehr.
Süd-Ussuri-Gebiet. 175
Die von den Chunchusen zu stark bedrängten Ansiedler sind
in die nächste Umgebung von Wladi wo stock gezogen. Die
Gegend ist ganz von den Russen verlassen und deshalb be-
sonders bevorzugt von den Chunchusen, so daß die chinesische
Bevölkerung entschieden hier zugenommen hat. Im Ver-
gleich zu dem, was Prschewalski im Jahre 1869 hier fand,
hat die Zahl der chinesischen Häfen namentlich feit dem
Jahre 1874 bedeutend sich vermehrt. Insbesondere schnell
haben die Chinesen sich in den Thälern der Flüsse M ai-ch e,
Zemu-che, Kongousa, Schituche, Sutschen ange-
siedelt. Am Flusse Mai-che z. B. existirte im Jahre 1874
nur eine Fanse an der Mündung und eine zweite acht Werst
höher am Flusse und in der Nähe davon eine koreanische
Ansiedelung, und nach Verlauf von zwei Jahren ist die ganze
Strecke von der Mündung bis zur koreanischen Ansiedelung
mit einer großen Menge von Fansen besetzt, an welche sich
ausgedehnte Aecker anlehnen. An einigen Stellen beschäf-
tigen sich die Mausen sehr eifrig mit der Jagd.
In den Jahren 1867 und 1868 kam es zu blutigen
Zusammenstößen zwischen den Russen und den Chunchusen;
die letzteren wurden arg bedrängt, in ihre bergigen Schlupf-
Winkel verfolgt, die mit den Waffen in der Hand ergriffenen
Chunchusen streng nach Kriegsgesetz bestraft. In der Nähe
des Postens Dubiuiosk gelang es der Abtheilung des Ober-
stcn Marken eine Bande von einigen hundert Mann zu ver-
nichten. Das wirkte wohl um das Gebiet von Chunchusen
zu reinigen und die Einwohner zu beruhigen, leider aber
war die Wirkung nicht lange anhaltend, und während der letz-
ten drei Jahre sind wieder eine ganze Anzahl von Ueber-
fällen uud Morden, welche die Chunchusen verübt haben,
bekannt geworden.
Auch die räuberischen Goldwäschereien dauern weiter an.
Noch im verflosseneu Jahr überfiel eine Truppe Chuu-
chuseu ein koreanisches Dorf, nahe dem Kirchdorf Ni kols-
koje, raubte 105 Pferde und tödtete fünf Menschen. An
einem andern Ort fielen einige Chunchusen über einen
Chinesen her und nahmen ihm die erbeuteten Panten (Hirsch-
geweihe) sowie 200 Rubel ab.
Leider bleiben alle Vergehen und Verbrechen der Chuu-
chuseu völlig ohne Strafe, weil es vollständig unmöglich ist,
die Schuldigen zu fassen. Dieser Umstand aber ist es, der
sowohl den chinesischen Einwohnern als den russischen Ansied-
lern so große Furcht eiuslößt. Der Betrieb der Jagd, wel-
cher der Bevölkerung nicht allein Fleisch, sondern auch an-
dere Sachen schaffte, ist fast gänzlich von den Ansiedlern
aufgegeben, einesteils wegen der damit verbundeueu per-
fönlicheu Gefahr, anderntheils weil die Chnnchufen alle
Pfade, welche die Hirsche und Rehe zu betreten pflegen,
entweder mit Zäunen gesperrt oder dnrch Gruben zum Fang
der Thiere unwegsam gemacht haben. Diese Hindernisse zu
beseitigen, die fremden Eindringlinge hinaus zu treiben, dazu
verspüren die Ansiedler wohl Lust, aber sie wagen es nicht
aus Furcht vor der ihnen drohenden grausamen Rache.
Nach den geschilderten Bedingungen wird das ganze
Ussuri-Gebiet allmälig zum „gelobten Lande" für alle hnn-
gernden Ueberläufer aus der Mandschurei und aus dem
nördlichen China.
Es ist unumgänglich nothwendig, daß die russische Re-
gierung sehr energische Maßregeln ergreife, um dem Ueber-
handnehmen der Chunchusen zu steuern und um die ansässige
chinesische Bevölkerung, die M ausen, zu einem richtigen Ver-
ständniß ihrer eigentlichen Unterthanenverhältnisse zu briu-
gen. Wenn das nicht zeitig geschieht, so drohen durch die
bekannte Energie und Zähigkeit der Chinesen der russischen
Kolonisation im Ussuri-Gebiet bedenkliche Gefahren.
176
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen Erdtheilen.
Europa.
— Die Daten über die Volkszählung in Bosnien und
der Herzegowina, welche nun als Ortschafts- und Bevölkerungs-
Statistik von Bosnien und Herzegowina (Sarajewo, Staats-
drnckerei) erschienen sind, weichen von den im „Globus" mit-
getheilten etwas ab, da damals die Redaktion noch nicht ge-
schlössen war. Demnach zählt das von den Oesterreichern besetzte
Gebiet 1158 440 Einwohner, 607 789 männlichen nnd 550 651
weiblichen Geschlechts; davon sind 496761 Griechisch-Orieuta-
len, 448 613 Mohammedaner, 209391 Katholiken, 3426Jsrae-
liten und 249 Andersgläubige. Diese leben in 5117 bewohn-
ten Ortschaften (43 Städten mit einer Vorstadt [bei SNostar],
31 Marktflecken, 5042 Dörfern) mit 189 662 Häusern, die
200747 Wohnungen enthalten. Die Einwohnerzahlen der
einzelnen Städte sind schon in der ersten Angabe richtig.
— Im nächsten Jahre wird in Oesterreich eine neue
Volkszählung vorgenommen. Statt der Nationalität soll
die Umgangssprache der Gezählten aufgenommen werden.
Man fürchtete nämlich, daß bei der Bestimmung der Natio-
ualität arge Verhetzungen der einzelnen Volksstämme statt-
finden dürften. Freilich scheint man mit dem angegebenen
Auskunftsmittel arg fehlgegriffen zu haben, da z. B. ein
unter Deutschen lebender Italiener, im Falle er Deutsch als
seine Umgangssprache angiebt, seine Nationalität verleugnen
muß, was von ihm doch nicht verlangt werden kann, oder
im Falle, daß er das Italienische angiebt, wegen Falschmel-
dnng belangt werden könnte. Wozu dies aber bei dem ent-
wickelten Nationalitätsbewußtsein der österreichischen Stämme
führen kann, ist nicht abzusehen. Was soll aber die Wissen-
schast zu solchen Daten sagen?
— Unter den zahlreichen größeren und kleineren Arbei-
ten, welche seit Jahr und Tag über die Völker der Balkan-
Halbinsel erschienen sind, zeichnet sich sowohl durch seine um-
fassende Anlage als durch Wissenschaftlichkeit und große Be-
lesenheit vor allen des berühmten Sprachforschers Lorenz
Diefenbach „Völkerkunde Osteuropas, insbesondere
der Haemoshalbinsel und der unteren Donaugebiete" (Darm-
stadt, L. Brill) aus, deren erster Band zu Anfang dieses
Jahres erschien, während die erste Abtheilung des zweiten
demnächst versendet wird. Dieses Werk bietet nicht eine
leichte Lektüre, es erfordert einen aufmerksamen, Wissenschaft-
lich gebildeten Leser. Einem solchen aber bringt sie reiche
Früchte. Er findet eine erstaunliche Menge von Literatur,
welche gerade auf diesem Gebiete unendlich zerstreut ist,
verarbeitet oder citirt und deren Daten in Kategorien ge-
bracht. Zuerst werden in jedem Abschnitte (Bd. I behandelt
Albanesen mit Jllyriern und Thrakern, Griechen und Ru-
mäueu) die Namen der einzelnen Stämme und ihrer Unter-
abtheilnngen behandelt, dann die Sprache, welche Diefenbach
für das erste ethnische Hauptmerkmal hält. „Ein praktischer
Grund für die ethnologische Bevorzugung der Sprache ist ihre
einheitlichere, deutlichere und greifbare Natur gegenüber der
weit größern Mannigfaltigkeit der körperlichen Jndividnali-
täten bei den lebenden Menschen auch der kleinsten Völker und
dein ungewisseu Stammbaume des fleischlosen und stummen
Skeletes in meist namenlosen Gräbern." Dann werden erst
die körperlichen Eigenschaften der Völker, dann die Psyche,
der Volksgeist in seinen mannigfachen höheren und niederen
Aeußeruugeu, dann Geschichte mit ihren Hilfswissenschaften
abgehandelt oder auf sie kurz durch Qnelleucitate verwiesen.
Es ist, wie gesagt, kein Buch, das angenehme Unterhaltung
bietet; aber jedem, der sich mit der antiken oder modernen
Völkerkunde der Halbinsel ernstlicher beschäftigt, ist es nnent-
behrlich; er darf der reichsten Belehrung, namentlich in sprach-
liehen Dingen, sicher fein, und manche Andeutung, die hier
gegeben ist, wird sicher, wenn weiter verfolgt, zu ungeahnten
Resultaten führen.
— Dem „Warschaw. Dnewnik" zufolge soll die im lau-
senden Jahre begonnene Regnlirung der Weichsel wäh-
rend der nächsten fünf Jahre von der Grenze bis Sando-
mir (175 Werst) fertig gestellt werden. Die Kosten für diese
Strecke sind auf 900 000 Rubel veranschlagt.
— Im Kreise Petersburg giebt es den Mittheiluugeu
der Polizeiverwaltung zufolge jetzt 80 Fabriken und Manu-
faktureu, welche Privatpersonen gehören, und acht der-
gleichen Staatsanstalten. Der Werth des Grund und
Bodens und der Gebäude beträgt bei ersteren rund 7 500 000
Rubel, bei letzteren 1 601 314 R.; die normale Einnahme
beläuft sich bei jenen auf etwa 650 000 R., bei diesen auf
141870 R.
— In Kronstadt hat das Fort Nro. 3 (Thnrmbatte-
rie) durch kaiserliche Verfügung vom 23. Juni (5. Juli)
1880 den Namen „Fort Miljutiu" erhalten.
Asien.
— Der Bergingenieur Stein bereist im Sommer 1880
das Gebiet von Daghestan, um alte Grabhügel in der
Umgegend von Tschirkei zu untersuchen und die Spuren der
Eiszeit im Kaukasus zu erforschen.
— Uebereiue neuerschienene „Karte der Unterrichts-
anstalten im kaukasischen Lehrbezirk aus das Jahr
1880" von R. K. Schenger sagt der „Kawkaz": Die Arbeit
zeichnet sich durch Sauberkeit, Genauigkeit und Vollständig-
keit aus und verdient besondere Beachtung wegen der Menge
von Angaben, welche sie in sich schließt. Außer der eigent-
lichen Karte, auf der für jede Stadt und Ortschaft alle
Arten Unterrichtsanstalten durch besondere Zeichen angege-
b'en sind, findet man noch ziffermäßige Angaben über die
Zahl der Schulen und der Schüler am 1. Januar 1880
nebst einer Miniaturkarte mit denselben Angaben für 1855.
Beigegeben sind ferner noch 8 graphische Tabellen,
welche den Gang des Uuterrichtswesens in der kaukasischen
Statthalterschaft während der Regierung Alexander's II. von
1855 bis 1880 veranschaulichen, namentlich die Zunahme
an Zahl der Schulen und der Schüler, die Vertheilnng der
Schüler uach Nationalitäten, das Verhältniß der Schüler-
zahl zur Bevölkerung nach Gouvernements und Nationali-
täten, die Budgets der Schulen, die Vertheilnng der Aus-
gaben nach den Quellen, aus denen sie fließen, speciell der
Ausgaben der Gemeinden für das Schulwesen. -
Inhalt: Das heutige Syrien. V. (Mit vier Abbildungen.) (Fortsetzung in einer spätem Nummer.) — Das Wald-
gebirge von Bellova. (Mit einer Karte.) — Colvile's Ritt durch das nordwestliche Marokko. II. (Schluß.) — -Dr. Carl
Emil Jung: Australische Typen und Skizzen. VIII. — Die Chuuchnsen im Süd-Ussnri-Gebiet. — Aus allen Erdtheilen:
Europa. — Asien. — (Schluß der Redaetiou 17. August 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrannschweig.
Band XXXVIII.
lit besonderer Derücksickiigung der Antkroyologie unä GtknologLe.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert. *
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1880.
Im Innern vor
(Nach dem Französische
(Sämmtliche Abbildungen nach den 1
y
Wir hatten den Reisenden Dr. Harmand in Bassac ver-
lassen, wie er, vom Fieber genesen, im Begriffe stand seine
unterbrochene Reise wieder aufzunehmen. Er war sehr ge-
schwächt; die grobe Nahrung sagte ihm nicht zu, und die
Zukunft erschien ihm keineswegs in rosigem Lichte; dennoch
war er entschlossen, nur im äußersten Nothsalle umzukehren.
Mit Mühe brachte er es fertig, seine gesammelten Schätze
zu etikettiren und zu verpacken; aber die Vollendung der
nach Frankreich bestimmten Briefe, Karten und Berichte
gelang ihm nicht. Für den 15. April 1877 hatte ihm der
Fürst von Bassac Pirogen versprochen, aber nach unver-
brüchlicher Landessitte erschienen weder Ruderer noch Fahr-
zeuge.
Um die Zeit hinzubringen, stattete er dem Fürsten einen
letzten Besuch ab, wobei dieser ihm alles mögliche Glück
wünschte. Um sich erkenntlich zu beweisen, schenkte ihm
Harmand sein Pferd und versprach ihm nach einigen Iah-
ren ein Geschenk aus Frankreich mitzubringen. Alsbald
erhob sich unter den Höflingen, die mit ihren Ellbogen fort-
während den Fußboden polirten, eine lebhafte Diskussion;
sie machten schließlich einen Vorschlag, der dem Fürsten ge-
fiel, und nicht ohne Aeugstlichkeit verkündete derselbe schließ-
lich sein Verlangen nach — schönen bunten Hemden. Lei-
der hat Harmand bis setzt noch keine Gelegenheit gefunden,
sein Wort einzulösen.
*) Siehe den Anfang dieser Reisebeschreibung „Globus"
XXXVI, Nro. 17 bis 20, S. 257, 273, 289 und 305.
Globus XXXVIII. Nr. 12.
Hinterindien.
l des Dr. Harmand.)
Skizzen und Angaben des Reisenden.)
Am selben Tage herrschte in den Straßen des Ortes
großes Durcheinander; denn man feierte das Wasserfest.
In großem Aufzuge begaben sich die beiden Chiaos (Khiaos),
gefolgt von Mandarinen und der ganzen männlichen Bevöl-
kerung, nach der Pagode, um Eidwasser zu trinken und dem
Könige von Siam Treue zu schwören. Sie zogen auf ihren
Palankinen bei der „sala" des Reifenden vorbei, so daß er
sie genau mustern konnte. Sie waren in Jacken von Gold-
brokat gekleidet und trugen auf dem Kopfe eine Art kleinen
Helmes von schwarzem Sammet oder Seide mit vergoldeten
Zierrathen. Die ganze Ortschaft befand sich auf den Bei-
nen, und in den Straßen leuchtete es von den lebhaften
Farben der Feiertagsgewänder, zwischen denen die Lanzen-
spitzen und Flinten der Soldaten hervorblitzten. Bei der
Rückkehr bespritzte jeder den andern mit Wasser und helles
Frendengeschrei ertönte: es war, wie beim Neptunfeste auf
einem Schiffe, das die Linie passirt.
Am 16. August begann die lange Pirogensahrt, welche
nach Angabe der Eingeborenen einen vollen Monat in An-
spruch nehmen sollte. Harmand beabsichtigte den großen Strom
bis La-chün (La-khün) hinaufzufahren und einige Zeit in den
Bergen sich aufzuhalten, welche sich nach Angabe der Me-
chäng-Kommission (Doudart de Lagrse und F. Garnier)
dort auf dem linken Ufer erheben, und deren Erforschung
ihm der Fürst von Ubün zu ermöglichen versprochen hatte,
unter dessen Botmäßigkeit die dortigen Mandarinen stehen.
Darauf wollte er nach Westen vordringen und den Süden
von Tong-king zu erreichen versuchen, quer durch die große,
23
178 Im Innern v
noch nie von einem Europäer betretene "Bergkette, die von
unbekannten wilden Völkerschaften bewohnt werden sollte.
Drei große Pirogen nahmen das Gepäck und die Be-
gleiter des Reisenden aus; unter letzteren fehlte der chinesische
Präparator A-Hoi, den er wegen Widersetzlichkeit fortgejagt
hatte. Sein Gefolge bestand also jetzt nur noch aus zwei
Annamiten, dem sehr intelligenten, aber faulen und der
steten Aufsicht bedürftigen Tay, der als Präparator und
Faktotum diente, und dem braven, aber vor Heimweh ver-
dummten Koche B ay, und einem Knaben, dem Sohne einer
Siamesin und eines Minh-hnöng (Mischling eines Chinesen
und einer Annamitin), welchen der Reisende in Phnom-
penh gekauft hatte, und der die Laster aller drei Völker,
deren Blut in seinen Adern floß, in sich vereinigte.
Die Pirogen waren mit Kisten und Gepäckstücken gefüllt;
die für den Reisenden bestimmte bot nur einen kleinen freien
Raum unter dem aus Blättern hergestellten Dache, und in
dieses, von den Sonnenstrahlen auf fast 40° erhitzte sarg-
artige Behältuiß mußte er, den Kopf vornweg, hineinkrie-
Hinterindien.
chen und sich auf den Kistendeckeln ausstrecken. Wollte er
ein Buch oder sein Notizheft in der Hand halten, so mußte
er auf einer Seite liegen; links fanden die Flinten, rechts
Jnsektenschachteln und -flaschen Platz und verengten den
Raum nur noch mehr. Auf diesem Marterbette, das ihm
nicht einmal die Zerstreuung bot, die Flußufer und die
Landschaft betrachten zu können, sollte er nun Kraft und
Gesundheit wiedergewinnen. Den Rest des Monats April
mußte er von vornherein als verloren ansehen, weil er nicht
daran denken durfte, während der Aufenthalte die hohen
Ufer zu erklimmen, um zu jagen und zu botauifiren. Aller-
dings führte dieser Theil der Reise nicht durch unbekanntes
Land; der Strom war hier bereits 1867 von Delaporte
und 1869 von d'Arseuille und Rheinart befahren worden.
Leider waren die Pirogen in elendem Zustande; in jeder
war beständig ein Mann beschäftigt, mittels eines Stückes
Bamburohr das durch tausend Ritzen eindringende Wasser
auszuschöpfen. Außerdem wehte die ersten beiden Tage ein
heftiger Südsüdost, welcher die Boote häufig zwang, im
Zug des Fürsten von Bassac zum Wasserfeste.
Schutze des Uferdickichts anzuhalten; die übrige Zeit ging
es vorwärts, freilich mit entmuthigender Langsamkeit.
Der Fluß war seit Ende Januar, wo ihn Harmand bei
der Mündung des Se-mun gesehen hatte, um etwa 2 Meter
gefallen, so daß zahlreiche Inselchen und Felsbänke zum
Vorschein gekommen waren. Indessen hatte sich der Him-
mel bezogen, und feit einigen Tagen hatte es im Westen ge-
donnert. Mit Sehnsucht sah der Reisende dem Regen ent-
gegen; denn er mußte eine niedrigere Temperatur bringen
und ihm den Aufenthalt in seinem schwimmenden Käfige
angenehmer machen. Auch kam dann die Zeit reicher zoo-
logischer Ausbeute.
Endlich am Abend des 18. April fielen die ersten Trop-
fen. Gleich der erste Guß klärte die Luft, welche die letzte
Zeit lang wie mit Rauch oder Staub erfüllt gewesen war
und die ganze Landschaft ohne Tiefe und wie Grau in Grau
hatte erscheinen lassen. Trotzdem gleicht ein Tag dem an-
dern in ertödtender Langweiligkeit. Nur aus Gewissenhastig-
keit führt der Reisende sein Tagebuch weiter und um nicht
mit dem Kalender in Verwirrung zu gerathen. Jetzt wird
es ihm klar, warum alle wilden Völker dieses Landes und
drei Viertheile der Laos nicht wissen, wie alt sie sind.
19. April. In Pak-muu, einem kleinen hübschen
Dorfe, welches auf hohem Lehmnfer an der Einmündung des
Se-mun liegt, ging der Reisende auf kurze Zeit an das
Land und nahm sich andere Ruderer. Alsbald erhalten auch
die Ufer ein anderes Aussehen; das Bett des Stromes ver-
engt sich; die saust gewellten Ufer von Lehm und Sand
machen mächtigen Felsen von wildem, traurigem Aussehen
Platz, die zuweilen wie abgeschnitten senkrecht emporragen.
Der Fluß mit seinem todten, finstern Wasser sieht wie ein
Kanal zwischen Kyklopenmauern aus und ist von bedeuten-
der Tiefe. Seine Strömung ist stark, aber gleichmäßig und
ohne Schnellen. Erst morgen sollen nach Angabe früherer
Reifender die Wirbel und gefährlichen Fälle ihren Anfang
nehmen.
2 0. April. Den ganzen Tag behält die Gegend das-
selbe Aussehen. Welche Reihe von Jahrhunderten haben
dazu gehört, um zuerst das breite Thal des Me-chüug durch
das Sandsteinplateau zu graben, dessen Ränder in der Ferne
Im Innern t
zur Rechten und Linken wie Berge erscheinen, und dann erst
den schmalen Kanal durch diese kompakten Felsmassen zu
sägen! Die Stärke der Strömung zwingt die Ruderer
stellenweise, auf die Felsen zu klettern, und eine Piroge nach
der andern an langen Stricken aus spanischem Rohre ström-
aufwärts zu ziehen; dann steigen sie wieder, triefend von
Wasser und Schweiß, in die Boote und arbeiten mit den
Nudern und Stangen, bis eine Biegung des Flusses und
die dadurch verstärkte Strömung von Neuem sie zum Zie-
hen zwingt. Zur Zeit des höchsten Wasserstandes muß der
Strom an dieser Stelle einen majestätischen Anblick gewäh-
ren! Jetzt freilich ist es zwischen diesen dunkelen Felsen,
von denen die Sonnenstrahlen zurückprallen, vor Hitze kaum
l Hinterindien. . 179
zum Aushalten: Harmand, den die malerischen Punkte zuerst
entzückt hatten, sehnte sich bald nach dem Ende dieser See-
nerie. Die Felshöhlen dort, wo die Strömung am heftigsten
ist, sind zum Theil von Laos bewohnt, die während der letz-
ten Wochen der trockenen Jahreszeit mit Weib und Kind
dorthin ziehen, Fischfang treiben und ihre prächtig anzu-
schauende, aber entsetzlich stinkende Beute in der Sonne dör-
ren. In den Ausbuchtungen des Users, die mit einem sehr
fruchtbaren Schlamme bedeckt sind, ziehen sie etwas Tabak
und Baumwolle.
21. April. Heute wurde der Cheug (Stromschnelle)
Gna-p'heut (bei Delaporte Aa-peut, bei d'Arfeuille und
Rheinart Ua-Phut) passirt. In dieser Jahreszeit ist sie ver-
Der Me-chüng zwischen
hältnißmäßig leicht zu überschreiten; es ging wenigstens ohne
Gefahr dabei ab, während jene früheren Reisenden mit ihren
Pirogen und Flößen beinahe von den Strudeln verschlungen
worden wären. Die gesammte Wassermasse wird in einen
schmalen, etwa 40 m breiten Kanal zusammengedrängt,
durch den sie unter wüthenden Wirbeln hindurchschießt; nur
dicht am rechten Ufer gleitet das Wasser mit einer ungestör-
ten, fast spiegelglatten Oberfläche hin. Die Pirogen wur-
den entladen und eine nach der andern hinaufgezogen, ohne
daß auch nur eine einzige einen Tropfen Wasser geschöpft
hätte. Dabei zeigte es sich, daß Harmand's Kräfte wieder-
kehrten; denn er trug die schwersten Kisten über die Fälle
hinüber, an welche sich nur vier Laos widerwillig wagten
und nicht, ohne alle zwanzig Schritte weit auszuruhen und
drei schöne Stunden Zeit dabei zu verbringen. Wäre es
Pak-mun und KemmeM.
nach ihnen gegangen, hätte die Passage mindestens den gan-
zen Tag in Anspruch geuommeu; denn sie betrachteten eine
Pfeife oder ein Packet Tabak, ein Schmetterlingsnetz oder
höchstens eine Flinte als ausreichende Last, und fanden es
grausam, wenn Harmand nicht litt, daß sie sich niederkauer-
ten, um eine Prise Betel zu kauen oder langsam Feuer zu
schlagen für ihre großen kegelförmigen Cigarren, die sie im
Ohrläppchen tragen.
Jenfeit der Stromschnellen wird der Strom etwas brei-
ter, ist aber noch immer von 20 m hohen Klippen einge-
schlossen, auf denen gelbe blattlose Bambus und elende Oel-
bäume stehen. Die Ufer sind, von einigen Vögeln abgesehen,
völlig öde; wer möchte anch in solcher Wüstenei leben? Am
folgenden Tage steigen die Uferränder noch höher, bis 50 m, an.
2 3. April. Der Fluß besteht abwechselnd aus Engen
23* '
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Dr. Harmand's
KEMME RAT
Routen zwischen Kem-
merat, La-chon und Hue
(Februar bis August 1877).
]03°30' ä. 1'Est du Meri&ien de Paris 10 V
182 Im Innern t
und Becken, die so regelmäßig auf einander folgen, wie die
Perlen eines Rosenkranzes; und auch den folgenden Tag
herrscht dieselbe Einförmigkeit. Schwierigkeiten bereitete die
Schnelle Pala-kay, in welcher sich eine der schmalen und
stets aus hartem Holze (Shorea, Dipterocarpus, Aniso-
ptera, Hopea) gefertigten Pirogen so rasch mit Wasser füllte,
daß es der größten Anstrengungen bedurfte, sie zu retten.
Dieselben Uber schwierige Strecken zu tragen, wie in Ame-
t Hmterindien.
rika, ist vollkommen unmöglich; höchstens kann man sie da,
wo ein ebener, wenig geneigter Felsboden zu Hülfe kommt,
auf untergelegten Rollen hinüberziehen, aber auch das nur,
wenn einem viel Menfchenkräfte zu Gebote stehen. So
machte es Harmand bei der letzten Schnelle des Se-mnn.
Jenfeit der Stromschnelle Pala-kay macht der Fluß einen
großen Bogen gegen Westen; seine Ufer werden niedriger,
er selbst breiter und ruhiger, und es zeigen sich mehr oder
Besuch des Statthl
weniger kahle. Sandbänke. Auf einer derselben gegenüber
dem Dorfe Bau-ua-veug wurde bei Sonnenuntergang Halt
gemacht; gerade als Harmand ein Bad nahm, kamen vier
oder fünf bis zum Sinken mit Menschen beladene Boote
herbei, deren Insassen eine große Menge Körbe voll Reis,
Fische, Palmzucker, Hühner, Bananen und Mangofrüchten
brachten und sich köstlich über den nackten Franzosen amü-
sirten. Mit allerlei Kurzwaaren reich beschenkt kehrten sie
zufrieden heim und konnten ihren neugierigen Frauen berich-
ers von Kemmerat.
ten, daß die „Fa-lang" nicht anders aussehen, als die Laos.
Harmand meint, er könne nicht einmal auf Lateinisch die
sonderbaren Fragen betreffs seiner körperlichen Bildung und
die darüber umlaufenden Fabeln wiedergeben, welche seinen
Annamiten gegenüber bei jedem Haltepunkte gethan resp. er-
zählt worden seien.
2 5. April. Wenn man sich Kemmerat nähert,
nimmt der Fluß dasselbe eintönige Aussehen an, wie in
Kambodscha; dieselben gelben Lehmufer, die bei jedem Hoch-
Schapira's R
wasser einstürzen und hier und da mit Mais, Tabak, Baum-
wolle und Gemüsen bestellt sind. Aus dem rechten Ufer
liegen zahlreiche Dörfer, die man schon von weitem an ihren
Palmengruppen und an den horizontalen Aesten des Erioden-
dron erkennt. Das linke Ufer dagegen ist wie immer wem-
ger bevölkert und wilder, gleich als wenn das Laos-Volk die
dortigen Ureinwohner, die Chas, noch nicht ganz unterwor-
fen hätte und sich dort noch nicht ganz heimisch fühlte.
Bei der weiten Mündung des Se-bang-hieng, dessen
Erforschung im Plane des Reisenden lag, vorbei erreichte er
am zehnten Tage nach der Absahrt von Bassac um 11 Uhr
Kemmerat. Der Reisende schickte alsbald seinen Paß ohne
weitere Geschenke an den Chio-möong (Khio-menong) des
Ortes, und bald erschienen einige Mandarinen, und melde-
ten, daß die „sala" für seinen Empfang bereit stehe und
Leute kämen, um die Kisten an Land zu schassen, damit
man die Pirogen bald an den Fürsten von Bassac zurück-
senden könne. Harmand aber sah in dieser Eilfertigkeit ein
gutes Mittel, sein Fortkommen zu beschleunigen, erklärte,
daß, ehe nicht neue Pirogen zur Stelle wären, Niemand
sein Gepäck berühren dürfte, und vertheilte dann einige Ge-
schenke. Gegen Abend kam dann der alte Gouverneur selbst
an den Strom herabgewandelt; in seinem einfältigen Ge-
ise in Jemen. 183
sichte paarten sich Gutmüthigkeit und Furcht. Offenbar
hatte man ihm ein wenig ermuthigeudes Bild von dem Rei-
senden entworfen, so zögernd und unentschlossen kam er da-
her. Harmand kam ihm aufs Beste entgegen und erhielt
frische Boote für den nächsten Mittag zugesagt, ließ es auch
nicht an Geschenken fehlen, und wirklich konnte er zur fest-
gefetzten Stunde seine Weiterreise antreten. Viel Mühe gab
er sich, einige Nächrichten über den Se-bang-hieng einzuzie-
hen, den der Kommandant de Lagree auf eine kleine Strecke
erforscht hatte. Aber er erhielt so verwirrte Antworten, daß
er daraus schloß, daß die dortigen Laos sich niemals in die-
ser Richtung weit vorwagen. Nur soviel brachte er heraus,
daß er Hochwasser abwarten müsse, um weiter als zwei Tage-
reisen vorzudringen, und daß er bis auf annamesisches Ge-
biet fünfzehn Tage — oder, wie die Laos sagen, Nächte —
gebrauche. Aber Niemand vermochte Auskunst zu geben
über Wege, Dörfer, Bevölkerung der zu durchziehenden Ge-
gend oder darüber, ob schon jemals ein Mensch diese Rich-
tung eingeschlagen habe. Wenn demnach jemals Berkehr
zwischen Annam und diesem Theil des Me-chong-Thales
bestanden hat, so muß seitdem schon lange Zeit verflossen,
und er kann niemals sehr lebhaft gewesen sein.
Schapira^s Re
(Mitgetheilt von Prof.
Der bekannte Buch- und Antiquitätenhändler Scha-
pira aus Jerusalem kam im vergangenen Winter auf einer
Geschäftsreise nach England über Berlin und theilte mir
bei dieser Gelegenheit einige Details mit über eine Reise,
die er im vorigen Jahre behufs Aufsuchung seltener Manu-
skripte und anderer Alterthümer in Süd-Arabien gemacht
hatte. Er meinte nicht mit Unrecht, daß selbst die wem-
gen Thatsachen, die er in seinem (hebräisch geführten und
daher mündlich durch ihn selbst gedolmetschten) Tagebuche
verzeichnet hatte, wenigstens einen relativen geographischen
Gewinn ergeben würden^), und wenn dies seit Herrn
Renzo Manzoni's Berichterstattung über seine im Herbst
1877 gemachte Reise von Aden nach Sans.2), die mir da-
mals noch unbekannt war, auch nur in eingeschränktem
Maße der Fall ist, so gehört doch fast das ganze Arabien
immer noch zu den so wenig erforschten Ländern, daß selbst
die kleinste Bereicherung unseres Wissens willkommen sein
muß. Zwar genauere zu kartographischen Zwecken brauch-
bare Messungen der wechselnden Direktionen seiner Ronte
hat Herr Schapira nicht gemacht, und seine Beschreibungen
der Oberslächensorm lassen die zu jenem Zwecke erforder-
liehe Bestimmtheit vermissen; dagegen erweisen sich seine
nach der Uhr abgemessenen Distanzangaben, soweit sie durch
gleichlaufende Routen anderer Reisenden controlirt werden
können, als zuverlässig, und öftere Beobachtung eines Ane-
roids hat ihn in Stand gesetzt, für eine größere Anzahl von
Punkten, als sie bisher aus diesem Landstriche bekannt wa-
ren, approximative Höhen zu berechnen, die immerhin keinen
1) Die Mittheilung, welche Herr Schapira bei seinem
Aufenthalte in London dem Athenäum gemacht hat (Nro. 2733
vom 13. März) enthält nur eine Schilderung des allgemeinen
physischen Charakters der Landschaft ohne topographische Details.
2) Esploratore, Giornale di Milano 1878, p. 225, 241
seq.; 1879, p. 208.
?ise in Jemen.
. Heinrich Kiepert.)
absoluten Werth beanspruchen, aber doch zur Veranschan-
lichuug der relativen Höhenverhältnisse dienen können.
Herr Schapira verließ Aden am 11. Juni, d. h. zu
Beginn der Sommerregenzeit, mit einem arabischen Beglei-
ter und zwei Kameelen. Nach 3^ stündigem Marsch
über die wüste Sandebene der Küste zeigten sich beim Dorfe
Scheck) 'Othman die ersten Wälder von Dompalmen (Sejal).
7 Stunden weiter, immer in der sandigen Ebene, wurde Halt
gemacht in der Residenz des noch die britische Oberhoheit an-
erkennenden Sultans vonLahadsch. Der Wadi, an welchem
sie liegt, führt hier noch reichliches und gutes Wasser,
von dem täglich 500 Kameelladnngen nach der volkreichen
aber wasserlosen Handelsstadt Aden geführt werden. Das
Thermometer zeigte in der heißesten Tageszeit (Nachmittags
2 Uhr) 102» F. (— 39° C.).
Am 12. Juni ging es noch 2 Stunden in der mit
mannshohem Grase bedeckten Ebene fort; dasselbe wird als
Pferdefutter nach Aden verkauft. Die folgenden 8 bis 9
Stunden führten sehr allmälig bergan zu einem großen,
eine Bergspitze krönenden Kastell, dessen Herr, der sogenannte
Sultan Ali el-Mahari, zu den berüchtigtsten Räubern Süd-
Arabiens gehört. Die Verhandlungen, durch die seiue Er-
laubniß zur Fortsetzung seiner Reise erkauft werden mußte,
nahmen volle zwei Tage in Anspruch, so daß der Fortschritt
bis zum Dörfchen Der Schaban, an einem Bächlein in
etwa 1000 Fuß (300 m) Meereshöhe gelegen, sich aus
zwei Stunden beschränktes.
15. Juni. Nach noch einer Stunde im flachen Hügel-
land ändert sich der Charakter der Landschaft vollständig:
der Weg selbst geht ans dem Kiesbette eines meist trockenen
x) Hier oder wenig weiter nördlich endet die Wegrecog-
noscirung des Kapitän Stevens vom Jahre 1872 (Journ. R.
Geogr. Soc. of London 1873); der fernere Weg ist vor Man-
zoni von keinem Europäer detreten worden.
184 Schapira's N
Wasserlaufes (Wadi) im Zickzack stark aufwärts, aber die
steilen Höhen, welche ihn beiderseits einschließen, zeichnen
sich durch die phantastischesten Felsformen aus, von denen,
durch zahlreiche in den Felsspalten rieselnde Quellen ge-
nährt, ein zauberhafter Reichthum der prächtigsten Schling-
pflanzen herabhängt. Nach sechsstündigem Steigen in
1800 Fuß (circa 550 in) Höhe Nachtquartier bei einem
Brunnen; Temperatur Abends 98° F. (circa 36° C.).
16. Juni. Immer noch in demselben Wadi 4 Stun-
den langsam steigend; Halt bei dem sehr kühlen Brunnen
se in Jemen.
Bir el-Maschrür, Höhe 2600 Fuß (790 m), Mittags-
temperatur -f 95° F. (35° C.); nach 2 Stunden steile-
res Steigen zum Gipfel des Djebel Mafchrür, 4200 Fuß
(1280 in) hoch. Von hier senkt sich die mit zahlreichen
Dörfern bedeckte Hochebene 4 Stunden weit bis zu 3600 Fuß,
wo wieder bei einem Brunnen übernachtet wird; Abends
4- 92» F. (circa 33° C.).
17. Jnni. Die Ebene zieht sich zu einer breiten mit
Saatfeldern angefüllten Thalsenkung zusammen, in welcher
5 Stunden weiter in 4000 Fuß (1220 m) Höhe das
Städtchen Qolaile^) liegt, das erste dem osmanischen
Reiche steuerpflichtige (dessen Grenze mithin auf dieser
Straße der Djebel Mafchrür zu bilden scheint), jedoch noch
ohne türkische Besatzung. Erst 2l/2 Stunden weiter in
MenKda befindet sich das türkische Zollhaus. Das Nacht-
quartier zeichnete sich hier durch seinen Comfort vor den
bisherigen ans; am wenigsten in diesen Gegenden, am
x) GheUle in Manzoni's stellenweise seitwärts abweichendem
Jtinerar.
äußersten südlichen Ende des in europäischer Nähe vielfach
von abendländischer Kultur beleckten Türkenreiches hätte der
Reisende ein förmliches Hotel zu finden erwartet; nur sind
es hier nicht europäische Unternehmer, sondern eine einhei-
mische Kaufmannsgesellschaft, die unter dem Namen Bfeisi
nicht allein den an sie empfohlenen Reifenden Wohnung,
Essen, Kaffee u. f. w. liefert, fondern auch für Anlage und
Instandhaltung von Cisternen, Brücken und Straßen und
für völlige Sicherheit derselben Sorge trägt. Die von ihr
LOHÄlAi
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Qaldi Ali el'Mtyarr
■LdJidAsch
Schapira's Route tV
in Jemen. \Vi
A1)
Juni bis September 1879. \ u
Höhen in Meter. oA
Maassstab 1: 2,500,000. ) {
tich&th: jtfll
H. Kiepert: Scha!
erbauten Herbergen (türkisch Chan) führen hier die Benen-
nnng Simserije (von siingal, Wechsler, Sensal?).
1 8. Juni. 4 Stunden weit ist die Gegend so reich
angebaut, daß man jede halbe Stunde an der Straße ein
Dorf mit großen Cisternen findet; dann wird in Z^/z Stun-
den der noch etwa 800 Fuß höher sich erhebende Dschebel
Asab (Azar bei Manzoni S. 244 wohl Druckfehler, 1570 m
— 5150 engl. Fuß), überstiegen und das gleichnamige
Städtchen, 4500 Fuß (1370 m) hoch gelegen, erreicht.
Von hier an trat mit ausfallender Regelmäßigkeit uach
schönem Morgen und schwülem Mittag der tägliche Gewit-
terregen in den Stunden von 2 bis 4 ein; am Abend dar-
auf bei klarer Luft noch 85° F. (29V20 C.).
19. Juni. 2 Stunden steil hinab in ein tiefes Thal,
dann in2VzStunden noch steiler zum 6700 Fuß (2040m)
hohen Gipfel des Dschebel Chada^), aber auf vortreff-
licher, von der Bseise-Kompagnie angelegter Straße. Nörd-
lich senkt sich die mit zahlreichen Dörfern bedeckte Höhe flach
hinab zum Thal der Binna, eines Flusses, der hier oben
jetzt noch 40 Fuß breit und bis 1 x/2 Fuß tief ist, während
in der Periode der Winterregen das Wasser 4 Fuß Tiefe
und über 100 Fuß Breite erreicht. 1V2 Stunden weiter
der offene aber 400 steinerne Häuser zählende und durch ein
Kastell geschützte Ort Nadra, 5900 Fuß (1800 in) hoch.
Temperatur Abends 82° F. (28° C.), Morgens 72° F.
(221/2° C.). Hier sah man auf dem Markte von Süden
kommend zum ersteumale Rüben und Rettige.
2 0. Juni. Dem Thale aufwärts folgend, wurde der
Fluß in 21/2 Stunden sechsmal passirt bis zum großen
Marktorte Sstha, der neben 200 mohammedanischen auch
120 bis 150 jüdische Häuser zählt. Der große Bazar
(arabisch suq) enthält fünf oder sechs lange Reihen unten
massiv gebauter, von einem aus Rohr geflochtenen Ober-
stockwerk bedeckter Kaufgewölbe. Die reichsten Kanflente
gehören der jüdischen Gemeinde an. SZtha gilt für den
Verkehr als Mittelpunkt der großen von der jemenischen
Hauptstadt Sana nach Aden führenden Handelsstraße; zwar
liegt es jenem näher, aber die Bergwege find theilweise
schwierig und gleichen den Zeitaufwand ans; daher werden
die Produkte der nördlich von Sstha gelegenen Gegend,
namentlich Kaffee, nicht nach Aden, sondern vorteilhafter
nach dem nähern westlichen Hafenplatze Hodeide ausgeführt.
Auch die Qualität der bis hierher benutzten, aus dem Kü-
steulande stammenden Kameele eignet sich nicht mehr füc
das innere Bergland; so gingen dann dem Reisenden hier
mit Beschaffung neuer Lastthiere drei Tage verloren.
2 3. Juni. Der Weg kreuzt zuerst das Thal der
Binna 6000 Fuß (1830 m) hoch 2), ersteigt dann in einer
Stunde die Höhe von 6500 Fuß (1980 m) und bleibt
in diesem Niveau fast 5 Stunden bis zu den zahlreichen
Quellen des Flusses. 4 Stunden weiter Nachguartier in
der befestigten Stadt Jarlm3)' von 200 Häusern, mit
einer türkischen Besatzung von 400 Mann, Höhe 7000
Fuß (2133 in), Temperatur Abends 78° F. (25^° C.).
2 4. Juni. Die dörferreiche Gegend zeigt den treff-
lichsten Anbau, den üppigsten Wuchs verschiedener Getreide-
arten, darunter nur ausnahmsweise Weizen (Mais nur bis
zu einer Höhe von 5000 Fuß — 1520 m), dagegen viel
weiße Dhnrra, die jetzt 5 Fuß hoch steht, rothe Dhurra
(arabisch chumr), 10 bis 12 Fuß hoch, und Hirse (dochn),
deren Stauden eine Höhe von 15 bis 18 Fuß erreichen.
Hadda 2225 m (7300 engl. Fuß) nach Manzoni.
2) Sedda nach Manzoni 2075 m — 6800 engl. Fuß.
3) Von hier an fällt der Weg unseres Reisenden mit dem
von Carsten Niebuhr vor 120 Jahren verfolgten zusammen.
Mrime nach Manzoni 2420 m = 7940 engl. Fuß.
Globus XXXVIII. Nr. 12.
ira's Reise in Jemen. 185
Das Getreide steht in dichten Büscheln, unterbrochen von
Tausenden von Berieselungsrinnen; bei diesem reichen Wasser-
zufluß und dem mildwarmen Klima wird das ganze Jahr
ohne Unterbrechung geschnitten und stets von Neuem gesäet.
Die Beobachtung in der als Mittagsstation dienenden
Kasseehütte (Mukahwe), 4 Stunden von Jarim, ergab 7000
Fuß (2130 in) Höhe, -f 86° F. (30° C.). Dann wurde
der Marsch noch 4 Stunden durch felsige Thäler bis
Dhamar fortgesetzt, einer ansehnlichen, von einer Lehm-
mauer umgebeneu Stadt, welche dieselbe Größe wie Gaza
in Palästina zu haben schien; auch wurde die Zahl der
männlichen Einwohner zu 7000 Muslims und 3000 Ju-
deu angegeben. Dieser Blüthe wurde aber an demselben
Tage, da Schapira die Stadt verließ, durch die rebellische
Soldateska (vermuthlich in Folge der beliebten türkischen
Soldverweigerung) ein jähes Ende bereitet; die ganze Stadt
soll in den folgenden fünf Tagen ausgeplündert und zerstört
worden sein.
2 6. Juni. Der Weg führt durch ein von sandigen
Wadis durchschnittenes, aber überaus reich angebautes Land,
mit zahlreichen Cisternen, aus welchen jedes einzelne Feld
durch ein von Kameelen in Bewegung gesetztes Pumpwerk
bewässert wird. Nach ungefähr 8 bis 9 Stunden (durch
Verirren zwischen den Feldern war viel Zeit verloren ge-
gangen) wurde die 600 bis 700 Steinhäuser zählende, nur
von Muslims bewohnte Stadt Dscheradsch erreicht, wel-
cher das daselbst stationirte Dutzend türkischer Kawassen nur
sehr ungenügenden Schutz gegen die Räubereien der Bedui-
nen gewährt^ deren Weidegebiete hier dicht an das Acker-
land anstoßen. Höhe 7100 Fuß (2160 m), Abends
79° F. (26° C.).
2 7. Juni. Nach einstündigem ebenen Marsch ist ein
700 Fuß (213 in) hoher Bergrücken zu übersteigen; dann
wird der Weg wieder eben und erreicht mit 6 Stunden eine
neue in Bau begriffene große Herberge (simserije) und
2 Stunden weiter die an einem großen Bache 6800 Fuß
(2070 in) hoch gelegene, 300 bis 400 Häuser zählende Stadt
Sijan; Nachts 75° F. (24° C.).
2 8. Juni. Nach 6 bis 7 Stunden ebenen Weges,
mehrere Flüsse kreuzend, zur Hauptstadt Sana. Höhe
6700 Fuß (2040 in) 1).
Um die äußere Stadtmauer mit seinem Eselein, also
nicht im schnellsten Schritt, zu umreiten, brauchte Herr
Schapira 5y2 Stunden; danach schätzt er sie in der Größe
etwa Damaskus gleich und ebenso — doch wohl stark über-
trieben — die aesammte Volkszahl auf 100000, vielleicht
bis 150 000 2)!
Der von den Mohammedanern bewohnte, von einer be-
sondern Mauer umgebene Stadttheil ist eng, mit sehr hohen,
mitunter sechs- bis siebenstöckigen Häusern angebaut, deren
unregelmäßige Erker und Thürmchen den Straßen ein über-
aus pittoreskes Aussehen geben. Zu den Fenstern (arabisch
racham) der bessereu Zimmer wird statt des durch den
Transport allzntheuren Glases ein sehr stark durchscheinen-
der dünn gespaltener Alabaster benutzt, den man nur eine
halbe Stunde vor der Stadt bricht.
Der türkische Pascha, als Besitzer des einzigen Wagens
in Südarabien, hat um denselben zu benutzen aus der Mitte
des muslimischen Viertels eine Chaussee bauen lassen, die
aber nur bis zur Judenstadt reicht, indessen einen für dieses
7000 Fuß (2130 IN) nach Manzoni.
2) Manzoni bezeichnet des Franzosen Desverger's Angabe
von 40 000 Seelen als „wenigstens doppelt gesehen", und will
höchstens 15 000 zulassen; sein allem Anschein nach genau ent-
worfener Stadtplan ergiebt kaum IV2 deutsche Meilen für den
ganzen Umfang.
24
186 H. Kiepert: Scha^
Land ungewöhnlichen Schmuck aufzuweisen hat in drei oder
vier von Griechen gehaltenen Kaffeehäusern, in welchen sogar
französische Billards für die Unterhaltung der türkischen
Beamten und Offiziere gehalten werden. Die auf der
Ebene Qaa'-b!r-el-'asab gelegene Judenstadt enthält 1400
Häuser, 4 große und 17 kleine Synagogen und 24 Kinder-
schulen; die Juden leben hier in sehr gedrückten Verhält-
nissen; das Reiten ist ihnen völlig untersagt.
Die türkische Besatzung beträgt 4000 Mann; ihr sehr
gut eingerichtetes Hospital enthält 318 Betten.
Das ganze Hochland um Sans, ist berühmt durch seinen
Obstbau; Mandeln, Pfirsiche, Wallnüsse gedeihen in Fülle
und ausgezeichneter Qualität; ebenso reichlich, aber von ge-
ringer Sorte, sind die Weintrauben. Diese Baumzucht be-
schränkt sich jedoch aufdie Hochthäler und flachen Mulden, wäh-
rend die Rücken von einer Meereshöhe von etwa 6000 Fuß
(18301») an kahl und nur zum Getreidebau und Weideland be-
nutzt find; zwischen 4000 und 6000 Fuß (1220 bis 1830 m)
liegt, wie der Aufstieg von Aden her gelehrt hatte, die Re-
gion der dichten, stellenweise undurchdringlichen stachelreichen
Wälder.
Von Sana machte Herr Schapira eine Excursion nach
der von Europäern unseres Wissens bisher noch nicht be-
suchten, nur nach Erkundigungen seit Niebuhr's Zeit aus
den Karten approximativ niedergelegten Stadt Am ran.
Der Weg dahin führt starke 12 Stunden weit N.-W.
immer auf flachen Höhenrücken, von denen man rechts und
links in tiefe, ganz mit Kaffeepflanzungen erfüllte Thäler
hinabsieht. Amran selbst ist von einer sehr alten Mauer
mit fast einem Hundert von Thürmen umgeben; viele der
Steine tragen alte Inschriften, an deren Copiren jedoch,
um keinen Verdacht zu erregen, der Reisende nicht denken
konnte. An den wohlgebauten steinernen Häusern fiel dem
Reisenden am meisten auf die außerordentliche Vorliebe der
Bewohner für Blumen, mit denen fast jedes Fenster ge-
schmückt war. Die Zahl der männlichen Bewohner wird
auf 8000 bis 10 000, darunter etwa 1500 Juden, ange-
geben. Meereshöhe 7700 Fuß (2345 m), Thermometer
Abends 62« F. (16i/z° C.), Morgens 58» F. (141/2° C.).
lieber einen 9200 Fuß (2800 m) hohen Paß des Ge-
birges Kaukeban, dessen Gipfel sich zu 10 000 Fuß (3050 in)
zu erheben scheint, und welches von zahlreichen Affenherden
belebt und an seinen Abhängen mit Kaffeepflanzungen be-
deckt ist, wurde nun in 7 Stunden die Stadt Tuwile
erreicht, und der Rückweg nach Sans auf der schon bekann-
ten direkten Straße genommen i).
Der Rückweg zur Küste wurde auf dem nächsten, West-
lichen Wege zurückgelegt und am 14. September angetreten.
Er führte zuerst 3/4 Stunden auf der Hochebene, dann in
1^/4 Stunden zum 8200 Fuß (2500 m) hohen Dschebel
Naqüm hinauf, der durch die hier in großer Menge gefam-
melten Halbedelsteine von prachtvoller rother und blauer
Farbe, die sogenannten jemenischen Hyacinthen (jaqüt jemeni)
bekannt ist2). Durch einen mit schwarzem Humusboden er-
füllten, theilweife sumpfigen Thalgrund (2 Stunden vom
Berge) ging es wieder aufwärts in 5 Stunden zum Dörf-
Sie ist neuerdings von Dr. Millingen beschrieben wor-
den: London Geogr. Soc. Journal 1874.
2) Achate im Sandsteingebirge eingesprengt nennt sie Mil-
lingen, der den Bergnamen nach vulgärer Aussprache Najum
(b. i. Nadschum) schreibt und ihn irrig ganz auf die östliche
Seite von Sans verlegt. Er sowohl als Halevy {Bull, de la
Soc. Geogr. de Paris 1873) und srüher Niebuhr und 1336
Hulton und Cruttenden haben den hier beschriebenen Weg
theilweise mit mehrfachen Abweichungen zurückgelegt.
ira's Reise in Jemen.
chen Maina, 8200 Fuß (2500 m) hoch (spät Abends
72« F. — 221/2° C., auch Mittags stieg innerhalb des Ge-
birges das Thermometer nicht mehr über 78° F. — 251/2° C.).
15. September. Mit beständig auf- und absteigenden
Bergwegen in 7 Stunden bis ©üq el-Chamls, 6400 Fuß
(1950 m) hoch.
16. September. Höchst beschwerlicher Marsch, 8 Stnn-
den lang fast immer in dem steinerfüllten Bette eines Gieß-
baches, häufig im Wasser abwärts zu dem nur noch 3600
Fuß (1095 in) hoch gelegenen Marktorte Snq el-Dschewsn.
17. September. Hier wurden die Kameele zurück-
gelassen und ein für sie unpraktikabler Seitenweg von
8 Stunden zu Esel unternommen nach der auf hohem Berg-
gipfel (5500 Fuß — 1675 m) gelegenen Stadt Menacha,
dem Hauptorte des ganz mit Kaffeewäldern erfüllten Gebirgs-
distriktes Dschebel Harras; das vorzügliche Produkt dieser
Pflanzungen geht über Hodeide, jetzt, seit Eröffnung des
Suezkanals, ausschließlich nach Marseille. Zum Schutze der
Kasfeegärten sind alle Höhen, soweit der Gesichtskreis reicht,
mit Wachthürmen besetzt. In Menacha sind wenig Mo-
hammedaner, dagegen 300 jüdische Häuser; dasselbe Ver-
hältniß herrscht im ganzen Distrikte. Am 18. September
Rückkehr nach Snq el-Dschewan an der Hauptstraße.
1 9. September. 4 Stunden durch stellenweise sumpfige
Ebene zu einem 20 Fuß breiten und reißenden Flusse, des-
sen Bett selbst, wo es beiderseits durch Felsen eingeengt wird,
die Straße bildet; innerhalb 1V2 Stunden mußte der Fluß
40 bis 50 Mal passirt werden. 2x/2 Stunden weiter
wurde das große, aber nur aus Rohrhütten bestehende Dorf
Bet el-Qeble erreicht, bewohnt von sehr dunkelfarbigen,
fast schwarzen Beduinen, die unter ihrem eigeneu Stammes-
sürsten (Schech) stehen. Höhe 3100 Fuß (945 in), Abends
97° F. (36° C.).
20. September. Nach einer Stunde wurde der hier
bereits 200 Fuß breite und 21/2 Fuß tiefe Fluß (hier Seil-
er-roba'a mit Namen) in fandigem Bette wieder erreicht und
in 5 Stunden wenigstens 25 Mal Passirt; seine zunehmende
Tiefe nöthigt den Esel des Reisenden oft zum Schwimmen.
Am Ende der siebenstündigen Tagereise der Marktort Snq-
er-roba'a, 2200 Fuß (670 in) hoch.
2 1. September. 6 Stunden zum großen Rohrhütten-
dorfe Wadi el-Men!ch, 5 Stunden weiter Der Bichöch,
1600 Fuß — 490 m.
2 2. September. 3i/2 Stunden zu einem sehr großen,
angeblich aus 5000 Rohrhütten bestehenden Dorfe el Baghl,
durch welches man 20 Minuten lang bis zum Absteigequar-
tier in der kaufmännischen Simserije zu reiten hatte. Die
Bevölkerung treibt hier allgemein Fabrikation von Palm-
strohhüten, die in dem sonnigen Tieflande auch von den
Türken über dem Fes getragen werden. Es steht hier eine
türkische Garnison von 2000 Mann. Meereshöhe 750 Fuß
— 228m. Die Mittagstemperatur von 108° F. (421/2° C.)
läßt die Nacht zum Schlüsse der Reise vorziehen; mit einem
Marsche von 15 bis 16 Stunden wird endlich die Hasen-
stadt Hodeide erreicht.
Die ungeahnte Fülle fließender Gewässer in diesem ge-
wöhnlich in die allgemeine Vorstellung von arabischer Ste-
rilität mit eingeschlossenen Lande wurde dem Reisenden hier
noch von verschiedenen glaubwürdigen Personen durch die
Angabe bestätigt, daß zwischen Hodeide und Mocha mehrere
starke Flüsse mit allerdings getrübtem, aber süßem und nach
einiger Ablagerung trinkbarem Wasser den größten Theil
des Jahres über das Meer erreichen.
Die kaukasischen Juden.
187
Die kaukasischen Inden').
I.
L. St. Ueber die Kaukasusländer weit zerstreut leben
seit undenklichen Zeiten Juden. Von ihren europäischen
Stammesgenossen unterscheiden sich dieselben sehr auffallend
durch solche Sitten und Gebräuche, welche sie den Bergvöl-
kern entlehnten. In der Literatur ist äußerst wenig über
sie zu finden; deshalb werden die hier wiedergegebenen Mit-
theilungen wohl auf Interesse rechnen können. Der Ver-
fasser H. Inda Tscherny bereiste zwei Jahre lang die
an das Kaspische Meer grenzenden Theile Kankasiens so-
wie das Terek-Gebiet. Er stndirte bei dieser Gelegenheit
soviel als möglich die Juden, ihre eigenthümliche Lebens-
weise, ihre Gewohnheiten, ihre Sitten und Trachten, ihren
Aberglauben und ihre Vornrtheile; er sammelte ferner ihre
Legenden, Sagen und Volkslieder.
In der citirten Abhandlung hat Herr Tscherny nur
einen kleinen Theil des gesammelten Materials verösfent-
licht, indem er einige ethnographische Skizzen zeichnet. Wir
sind hier nicht im Stande, den ganzen sehr interessanten
Aufsatz wiederzugeben, sondern begnügen uns mit einigen
Abschnitten, wobei wir aber eine andere Gruppirung der
einzelnen Kapitel gewählt haben, als der Verfasser.
Anzahl der kaukasischen Juden.
Ueber die Zahl der kaukasischen Juden macht der Ver-
fasser keine Angaben, wohl aber über die Zahl der Feuer-
stellen, d. h. der Häuser. Darnach leben im Gebiet von
Daghestan nur im nördlichen und südlichenTheilJn-
den, dagegen im westlichen und Mittlern Daghestan keine.
In Daghestan giebt es (1869) 1080 Feuerstellen — in
Derbent allein 200 —, 22 Synagogen, 30 Schnlen und
21 Rabbiner. Im Terek-Gebiet 453 Feuerstellen, 8 Sy-
nagogen, 9 Schulen, 9 Rabbiner. Im Gouvernement Baku
in der Stadt Kuba 952 Feuerstellen, 10 Synagogen, 20
Schulen, 10 Rabbiner, im Dorf Mjndfchi (Kreis Schemacha)
145 Fenerstellen, 1 Synagoge, 2 Schulen, 3 Rabbiner.
Im Gouvernement Jelisawetpol, Kreis Nncha, Dorf
Wartaschin, 190 Feuerstellen, 2 Synagogen, 5 Schulen,
5 Rabbiner. In Summa sind vorhanden.- 2780 Feuer-
stellen, 43 Synagogen, 66 Schulen und 43 Rabbiner 2).
1) Nach dem Russischen von Juda Tscherny in dem
3. Band der „Sammlung von Nachrichten über die kaukasischen
Bergvölker" Herausaegeben von der kaukasischen Bergvölker-Ver-
waltung. Tiflis 1879, 8.
2) Von Hrn. N. v. Seidlitz in Tiflis erhalten wir folgende
Zahlenangaben über die Juden im Kaukasus. Nach den offi-
ciellen Erhebungen im Jahre 1873 beträgt die Gesammtmenge
der Juden in den Kaukasusländern 28 666 (Männer, Weiber,
Kinder). Davon kommen aus Ciskaukasien 5403, auf Trans-
kankasten 23 263. Nach einzelnen Gebieten vertheilen sich diese
Zahlen wie folgt:
Gouvernement Stawropol. . .
Terek-Landstrich.......
Kuba-Landstrich.......
Bezirk am Schwarzen Meer . .
Gouvernement Kutais ....
Tiflis ....
„ EUsabetpol . .
„ Baku.....
Daghestan.........
Beschäftigung.
Die kaukasischen Juden beschäftigen sich wie ihre enro-
päifchenVolksgenossen vorwiegend mit dem Handel. Doch
giebt es einige andere Gewerbe, welche betrieben werden, so
z. B. die Saffianproduktion, ferner die Darstellung von
Krapp. Einzelne Juden sind Besitzer von großen Frucht-
und Weingärten; andere ziehen eine ordinäre Tabaksorte, an-
dere prodnciren Wein. Ihre Nahrungsmittel kaufen sie
gegen baares Geld bei den Russen oder Eingeborenen, oder
tauschen sie gegen allerlei kleine Waaren ein.
Wohnungen.
Die von den Juden bewohnten Gebäude (inSüd-Da-
ghestan, dem Terek-Gebiet, in den Kreisen von Nncha
und Schemaka) sind aus Steinen erbaut. Sie führen
den Namen „Sakljä", wie die von den Bergvölkern be-
wohnten. Die flachen Dächer werden aus Lehm mit
Stroh angefertigt, mit der Zeit erhärtet diese Masse. Die
Decke der im Hanse befindlichen Räume wird aus kurzen
Brettern oder aus Schilf hergestellt. In jedem Hause sin-
den sich nur ein oder zwei kleine Fenster ohne Nahmen und
Glas, welche durch hölzerne Schieber von innen verschlossen
werden können. Jedes Haus hat eine oder zwei Thüren.
Im Innern befindet sich zwischen den Fenstern und dem
Eingang ein Kamin, welcher weder Thüren noch Klappen
hat, sondern nur einen aus Lehm angefertigten Schornstein
(Rauchfang). Während des Winters wird der Kamin nn-
anfhörlich geheizt, so daß Tag und Nacht hindurch glühende
Kohlen vorhanden sind. An die Thür des Hauses schließt
sich eine Art Korridor, an dessen beiden Enden abermals
Kamine stehen, während der aus Lehm angefertigte Fußboden
reichlich mit Teppichen belegt ist. Während des Sommers
sitzen in diesem Räume die Frauen; hier arbeiten sie, hier
bereiten sie das Essen, hier plaudern sie mit den Gästen.
Jedes Hänschen (Sakljä) besitzt nur zwei oder drei Zimmer.
In den die einzelnen Zimmer von einander trennenden
Wänden befindet sich dicht am Fnßboden eine kleine Oeff-
uung, eigentlich nur ein Loch zum Durchkriechen — statt einer
Thür. Es siud diese kleinen Oesfnnngen mit Decken verhängt,
so daß man sie gar nicht sehen kann. Wände und Fuß-
bodeu werden allwöchentlich vor dem Sabbath gereinigt und
so oft als möglich mit Kalk getüncht.
Dicht unter der Decke des Zimmers befinden sich rings
an den Wänden Regale, auf welchen allerlei Hausrath, na-
mentlich Geschirre, steht: Theekannen, Schalen, Flaschen,
irdene Weinkrüge und kupferne Wassergefäße von alter asia-
Unter diese Zahlen sind freilich in einzelnen Städten auch
europäische Juden mit hineingerechnet. Offenbar waren die Ju-
den im Kaukasus in früherer Zeit viel zahlreicher als jetzt; es
scheint, daß ein Theil derselben in die Grnsiner, noch mehr
aber in die Armenier allmälig aufgegangen ist. Vergl. N. v. Seid-
litz, Historisch-ethnographische Skizze des Gouvernement Baku in
der Russischen Revue 1879 und eine demnächst in Petermann's
Mittheilungen erscheinende ethnographische Karte des Kaukasus
nebst Erklärung.
24*
623 Juden beid. Geschl.
3837 „ .,
W7 „ „
87 „ ,, „
3516 ., .,
5266 „ „
!704 ., „
6415 „ „
6251 ......
188 Die faufctfi1
tischer Form und anderes mehr. Eine Wand ist mit Spie-
geln verziert, zwischen welchen seidene oder wollene Shawls
hängen, oder Säbel, Dolche, Pistolen und Flinten regel-
mäßig gruppirt sind. Die zweite Wand ist behängt mit
großen runden aus rothem Kupfer angefertigten Untersetzern
(oder Präsentirtellern) und mit vielen durch Figuren und
Blumen verzierten Tellern. Darunter stehen eine Anzahl
Kasten einer auf dem andern; der größte zu uuterst, der
kleinste zu oberst, in welchen Kleider und sonstiges Hab und
Gut aufbewahrt werden. An der dritten Wand sind
unten viereckige Behälter, welche als Schränke dienen und
mit Vorhängen verschlossen sind, angebracht; in ihnen werden
allerlei Sachen gehalten, bei den Rabbinern liegen hier die
Bücher. Oben auf den Behältern liegen Kissen und Decken
bis zur Lage hinauf. In armen Hütten, in welchen wenig
Betten vorhanden sind, wird die ganze Wand mit Vorhän-
gen bedeckt. Die vierte Wand wird — wie bereits be-
merkt — vom Kamin, der Eingangsthür und dem Fenster
eingenommen. An der Thür und in den Winkeln des Zim-
mers stehen große anderthalb Arschin (circa 1 in) hohe
irdene Gefäße, in welchen Mehl und Grütze aufbewahrt
wird. In der Mitte des Zimmers steht eine, bei großen
Häusern auch zwei Säulen, welche die Lager stützen: an die-
sen Säulen hängen Kleider und Waffen. In einigen Hau-
fern ist ein langer Stab mit seinen beiden Enden durch
Schnüre an die Zimmerdecke befestigt; auch an diesen
Stab hängt man allerlei Kleider, oder auch geräuchertes
Fleisch. Der Fußboden wird mit guten Polstern oder mit
zierlich aus Schilf geflochtenen Matten bedeckt; doch müssen
diese oft ausgeklopft oder mit Wasser benetzt werden. Das
in der beschriebenen Weise ausgeschmückte Zimmer dient als
Gast- oder als Empfangszimmer uud heißt deshalb das
Kunak-Zimmer (Kunak — Gastfreund). In den anderen
Zimmern jeder Sakljä befindet sich die Küche und der Aufent-
Haltsort der Familie. Im Sommer, wenn die Frauen das
Essen im Freien zubereiten und in den Vorgemächern sich
aufhalten, ist das Zimmer ordentlich und reinlich; im Win-
ter dagegen sehr schmutzig. Das Wassergefäß, der Wein-
schlauch, die Mehlbehälter stehen da; allerlei Fleisch und
Speck hängt an Haken, alte Lappen und dergleichen liegen
herum.- hier wohnt Winters die ganze Familie.
Licht dringt in die Zimmer durch die kleinen Fenster
und die stets geöffnete Thür sowie auch von oben durch
den gerade aufsteigenden offenen Rauchfang des Kamins.
Im Winter bleiben Fenster und Thüren ebenfalls offen
— man wärmt sich unmittelbar am Kaminfeuer.
In vielen Dörfern sind die Häuser so erbaut, daß unter
den Wohnzimmern zu ebener Erde Räume für das Vieh
und die Pferde sich befinden; an anderen Orten giebt es
Hürden von geflochtenen Zäunen für das Vieh, welche vom
Hause entfernt auf dem Hofe errichtet sind. Die Reichen
haben zweistöckige Häuser; zu ebener Erde wohnt die Fami-
lie, der erste Stock enthält die Gastzimmer.
Hat jemand sich ein neues Haus erbaut, so versammeln
sich die Weiber und die Jugend beiderlei Geschlechts, um
hülsreiche Hand zu bieten, damit das Dach noch einmal mit
Lehm verschmiert werde. Dafür bewirthet der Erbauer die
Jugend mit Wein oder Branntwein, und veranstaltet an dem-
selben Abend für die übrigen jüdischen Hausbesitzer ein Gast-
mahl. An einigen Orten, z. B. in Derbent, Kuba, Temir-
Chan-Schura, Chasaw-Jurta, Grosnoe, haben die reichen
Juden gut eingerichtete, europäische Häuser. In diesen ist
jedoch eine Abtheilung ganz asiatisch, hier wohnt die Familie;
eine besondere Abtheilung aber ist zur Aufnahme von kauka-
fischen Gästen, eine dritte, vollkommen europäisch aufge-
räumte, für europäische Gäste bestimmt.
)M Juden.
Die edle Sitte der Gastfreundschaft ist wie bei allen
asiatischen Völkern, fo auch bei Juden überall verbreitet.
Wenn irgend ein Chacham (Gelehrter) aus Rußland oder
Palästina in ein jüdisches Dorf kommt, fo beeilt sich jeder
Einwohner dringend den Reifenden zu bitten, zu ihm zu kom-
men; gewöhnlich kehrt der Chacham bei einem reichen Haus-
besitzer oder beim Rabbiner ein. Der Wirth, welcher seinen
Gastfreund empfängt, nimmt ihm das Gepäck ab und trägt
dasselbe in das Gastzimmer, weist dem Gast daselbst den
besten Platz zum Lager an und wäscht ihm die Füße. An
einigen Orten ist dies alles die Pflicht der Hausfrau. Ist
diese Ceremonie beendet, so treten die älteren und angefehe-
nen Leute des Dorfes in das Haus, reichen dem Gast die
Hand mit den Worten: „schalem aleichem" (Friede
sei mit Euch) oder „baruch-gabo " (gesegnet sei Deine
Ankunft). Der Gast antwortet „Aleichem schelom!"
Dann beginnt eine allgemeine Unterhaltung und der Wirth
läßt Erfrischungen verabreichen. Damit der Gast sich nicht
langweile, wird er ohne Unterlaß besucht und über seine Reise
ausgeforscht, woher und wohin. Wenn der Gast abreisen
will, so bittet ihn sein Wirth noch zu bleiben. Ist der Gast
arm, so unterstützt die Gemeinde ihn nach Möglichkeit mit
Geld; der Wirth giebt ihm allerlei Nahrungsmittel mit und
einige der Einwohner geleiten den Gast bis zum nächsten
Dorf. Jüdische Kaufleute oder Leute, welche in anderer
Veranlassung reisen, haben jeder ihren bestimmten Gastfreund
(Kunak), bei dem sie einkehren. Auch die Muselmänner
haben in den jüdischen Dörfern ihre bestimmten Bekannten
und Freunde (Knnaks), welche sie aufnehmen und beherber-
gen; in gleicher Weise hat jeder Jude auch in den musel-
mäunischen Dörfern feinen eigenen Gastsreund, welchen er
regelmäßig besucht. Kommt ein Gast in das Haus seines
Gastfreundes und gefällt ihm die Wohnung nicht, sv darf
er nicht ein anderes Quartier wählen, sondern muß bleiben;
ein Verlassen der Wohnung würde sowohl dem Wirth wie
dem Gaste schaden.
N a h r u n g.
Die Juden sind keine großen Freuude der Reinlichkeit:
ihre Speisen bereiten sie in sehr unsauberer Weise. Das
Essen wird in einem Gefäß aufgetragen, welches offenbar
in Wochen nicht gewaschen wurde und an welchem die Spu-
ren der früher darin enhaltenen Speisen noch bemerkbar
sind. Ihre Trinkgefäße sind mit Schniutz und Staub be-
deckt, von Fliegen verunreinigt. Obgleich namentlich bei
den Wohlhabenden Löffel und Gabeln in Gebrauch sind, so
benutzen sie mit Vorliebe die Finger beim Essen und greifen
ohne Weiteres mit den Fingern in jede Speise hinein.
Merkwürdig ist, daß die meisten Speisen einen sehr specisi-
schen Schweißgeruch haben.
Die Sitte erfordert es, daß jeder Gast mit dem Wirthe
oder dessen Familie gemeinschaftlich speist; ebenso ist es Ge-
brauch, daß jeder, wer er auch fei, der gerade die Familie
beim Mahl antrifft, zum Essen eingeladen wird. Deshalb
werden die Speisen stets in solcher Quantität zugerichtet,
daß sie, wenn nöthig, für zehn unvorhergesehene Gäste aus-
reichen. Für gewöhnlich essen Männer und Weiber einer
Hausgenossenschaft zusammen, sobald aber ein Fremder hin-
zukommt, so entfernen sich die Weiber und essen gesondert
in ihrem Zimmer.
An gewöhnlichen Tagen werden Mittags und Abends
die Speisen auf großen runden hölzernen Untersetzern auf-
getragen; an Feiertagen dagegen oder in Gegenwart von
Gästen werden Untersetzer aus Kupfer benutzt. Das Prä-
fentirbrett (Untersetzer) wird an den Boden auf einen mit
Die kaukasis
einem baumwollenen Zeug (Zitz) bedeckten Teppich gestellt;
an Feiertagen und in Gegenwart eines Gastes nimmt man
statt des zitzenen ein seidenes Tuch. Unter dem Tuch liegt
(ungesäuertes) Brot (Tschnrek genannt), welches nur ein-
mal wöchentlich am Freitag gebacken wird, nnd daneben
Salz, Zwiebel und Knoblauch; bei besonderen Veranlassun-
gen, wie an Festen und bei Anwesenheit von Gästen, auch
Früchte. Ist ein ganz besonders angesehener Gast zugegen,
so wird für ihn frisches Brot gebacken. Um das Brett mit
den Speisen herum sitzen mit untergeschlagenen Beinen die
Männer; an der Thür stehen einige Diener oder für ge-
wohnlich ein Glied der Familie. Zuerst reicht der Diener-
Wasser zum Waschen der Hände, dann liest der Wirth ein
Gebet,.nimmt ein Brot, zerbricht dasselbe in so viel Stücke,
als Anwesende sind, und reicht jedem ein Stück zu. Jeder
sagt ein kurzes Dankgebet her, taucht das Stück Brot drei
Mal in das Salz und fängt unter den wunderlichsten Gri-
massen zu essen an. Darauf nimmt der Hausvater ein
zweites Brot, bricht dasselbe in Stücke, taucht die Stücke in
Salz und sendet die Stücke den Weibern in ihr Gemach.
Dann werden die Früchte nnd später Zwiebel und Knob-
lauch mit Brot verspeist — das ist der erste Gang. Nun
erscheint die Hausfrau mit verhülltem Gesicht und trägt das
Essen auf, und hinter ihr sofort die Dienerschaft mit den
übrigen Gerichten, fo daß alles mit einem Mal aufgetischt
wird: Suppe mit Hammelfleisch oder Hammelspeck (Fett-
schwänze) oder Rindfleisch, mit vier- oder dreieckigen Klößen
(Klümpchen) aus Weizenmehl. Diese Klößchen, zu denen auch
Essig und Knoblauch zugesetzt wird, heißen Chinkal. Oder
Suppe aus Bohuen mit Rindfleisch, Hammelfleisch und
Hammelspeck, versetzt mit Knoblauch und sauren Beeren;
dickgekochter Pilaw mit Hammelfett und Rosinen; Eierkuchen;
gekochtes Rind- und Hammelfleisch; verschiedenes gebratenes
Fleisch; ferner eingemachter Knoblauch und eingemachte Gur-
ken oder Salat; schließlich allerlei Süßigkeiten, gebratene
oder gebacken? Birnen, Aepfel oder Pflaumen mit Honig
oder Zucker eingekocht, mit Hammelfett nnd mit Rosinen
als Compot.
Zu allen Speisen wird Knoblauch in großer Menge zu-
gethan. Die Anwesenden nehmen von jedem Gericht etwas,
mischen alles durcheinander und essen mit den Fingern. Zur
Suppe werden Löffel benutzt; zum Fleisch zugespitzte hölzerne
Stäbchen oder einfach die Finger, allenfalls ein Messer.
Zum Trinken wird Branntwein uud Wein verabfolgt; es
wird verhältnißmäßig viel getrunken; doch selten bis zur
Betrunkenheit.
Zum Abend reicht man Chinkal (Klöße) oder gebra-
tene, geräucherte oder gesalzene Fische (Kntnm genannt)
oder Bohnen in Oel oder Speck mit Knoblauch, Salz und
Zwiebel. Diese verschiedenartigen Gerichte giebt man aber
nur an Feiertagen oder wenn Gäste anwesend sind, für ge-
wöhnlich ißt man Brot mit Käse oder Fischen (Kutum),
mit Zwiebeln und Knoblauch.
Besonders lieben die Juden allerlei Grünkraut, sie
essen dasselbe ohne besondere Zubereitung einfach mit Brot.
Der Verfasser war einst in Kuba zu einigen reichen Juden
geladen, woselbst man ihn mit Wein und Branntwein auf-
nahm, ihm aber mehr als fünferlei verschiedene Sorten
von Grünkraut vorsetzte.
Im Allgemeinen nehmen die Juden große Quantitäten
von Nahrung zu sich, dafür kommen sie aber, auf der Reise
z. B., mit wenig aus; etwas ungesäuertes Brot, Zwiebeln,
Knoblauch und Käse reichen aus lauge Zeit bei ihnen aus.
Die kaukasischen Juden haben keine besondere Tracht;
sie kleiden sich so wie die Volksstämme, unter welchen sie
wohnen.
en Juden. 189
Die jüdischen Frauen gehen sehr einfach und ärmlich
gekleidet, einzelne nur in Lumpen gehüllt; die guten Kleider
verschließen sie und gebrauchen sie nur in seltenen Fällen,
an Feiertagen oder zu Hochzeiten.
Die jüdischen Frauen sind alle sehr gutherzig, neh-
men gern Gäste auf, sind dienstfertig uud arbeitsam; sie lei-
ten das ganze Hauswesen, bereiten die Speisen, tragen Was-
ser, hacken Holz u. s.w. — reiche wie arme; auch die Kleider
für die ganze Familie werden von den Frauen angefertigt.
In weiblichen Handarbeiten sind sie sehr geschickt, sticken
hübsche Tabaks- und Geldbeutel und allerlei weibliche Schmuck-
gegenstände. Die Frauen beschäftigen sich auch mit der
Brotbereitung: Oefen giebt es nur einige in jedem Dorfe;
es sind große Gruben in der Erde mit Lehm und Kalk aus-
geschmiert. Meist wird nur ein Mal wöchentlich vor dem
Sabbath gebacken, sonst bei gewissen besonderen Anlässen,
z. B. bei Besuch eiues Gastfreundes. Beim Ofen versam-
meln sich die Frauen gern um zu Plaudern; eine jede bringt
Holz zum Heizen und den fertigen Teig, aus welchem die
Brote geformt werden, mit. Der Reihe nach lassen die
Frauen ihr Brot backen — nnterdeß vertreiben sie sich die
Zeit mit Schwatzen, Lachen und Erzählen.
Unter den jungen Weibern giebt es einige, welche sich die
Haare und die Augenbrauen färben; andere bemalen sich das
Gesicht mit verschiedenfarbigen Figuren und Kreisen, so daß
sie fast wie Wilde aussehen. Die Haare flechten sie zu einem
langen Zopf, welcher in einem langen seidenen Beutel steckt,
und hinten am Nacken herunterhängt.
Eine sehr unangenehme Eigenschaft der kaukasischen
Jüdinnen ist ihre große Zanksucht; wegen der geringsten
Kleinigkeit können sie mit einander in Streit gerathen, und
machen dabei einen schrecklichen Lärm; oft kommt es zu
Tätlichkeiten.
Verlobung und Hochzeit.
Die Verlobung findet sehr früh statt, während die Ver-
lobten noch Kinder sind. Gewöhnlich sind die Verlobten
mit einander verwandt und wohnen in demselben Dorfe
(Aul), selten finden Verlobungen zwischen den Einwohnern
verschiedener Aule statt. Die Verlobung wird von den El-
tern durch ein Mahl gefeiert. Während die Verlobten noch
Kinder sind, sendet allwöchentlich die Braut dem Bräutigam
allerlei Geschenke, Früchte, Speisen, allerlei Handarbeiten;
dagegen schenkt der Bräutigam der Braut einige Silber-
und Goldsachen. Der Bräutigam heißt „arass", die
Braut „arussa". Wenn während dieser Zeit die Braut
den Bräutigam oder einen seiner Verwandten sieht, so muß
sie sich auf den Boden setzen und ihr Gesicht verhüllen; der
Bräutigam, fobald er die Braut oder deren Verwandten er-
blickt, so scheut er sich zu sprechen. Findet in dieser Zeit
eine fremde Hochzeit statt, zu der das junge Paar auch ge-
laden ist, fo opfert der Bräutigam den Musikanten Geld,
damit sie gut spielen. Sie nennen das einen „ Sch a 6 a s ch ".
Die Braut tanzt dabei in der Mitte, die andere Jugend im
Kreise um die Braut. Einen Monat vor der Kopulation
kommt der Vater des Bräutigams mit zwei Zeugen in das
Haus der Braut, um dort die Kaufsumme für die Braut
zu erlegen, dafür kauft der Vater seiner Tochter die Kleider
und allerlei andere Gegenstände. Ob er weiter seiner Toch-
ter eine Mitgift schenkt, hängt von seinem guten Willen ab.
Den eigentlichen Ehekontrakt mit einzelnen genau stipulirten
Bedingungen schließt der Rabbiner ab; der Kontrakt enthält
allerlei Bestimmungen über etwaige Scheidung u. s. w.
Eine Woche vor der Hochzeit läßt der Bräutigam ver-
schiedene Speisen an diejenigen Personen austheilen, welche
190 Die kaukasi
noch in Trauer um einen im Lause des Jahres Verstorbe-
nen sich befinden. Das geschieht, damit jene Trauernden
ihm die Erlaubniß zur Hochzeit geben sollen.
Am Anfang dieser Woche wählt die Braut aus dem
Kreise ihrer Freundinnen zwei Mädchen, welche ihr bchüls-
lich sein sollen, die Hochzeitsgewänder zu nähen. Diese
Mädchen, welche bis zur Hochzeit bei der Braut bleiben,
heißen „Sogdnfchen", d. h. Dienerinnen. Am Sonn-
abend Abend gehen sie zu allen Jungfrauen des ganzen
Dorfes und bitten sie zur Braut zu kommen. Gewöhnlich
findet die Kopulation am Mittwoch Abend, sehr selten am
Donnerstag und Freitag statt. Vom Sonntag bis zum
Mittwoch bleiben nun die Jungfrauen bei der Braut, sie
nehmen dort ihre Mahlzeiten ein, singen und tanzen. Mor-
gens und Abends steigt die Braut mit ihren Jungfrauen
auf das Dach ihres Hanfes und hier werden tatarische Lie-
der gesungen. Dann macht die Braut mit ihren Jung-
sranen unter Musikbegleitung Besuche bei ihren Verwandten,
und ladet diese zur Hochzeit ein. In allen Häusern werden
die Mädchen bewirthet und die Braut wird beschenkt. So
gehen die drei Tage hin.
Beim Bräutigam versammeln sich unterdeß im Laufe
der Woche die Weiber seiner Familie und helfen ihm seine
Hochzeitskleider nähen, wofür er sie bewirthet und mit Klei-
nigkeiten beschenkt. Am Donnerstag Abend finden sich
zwei Brautführer („Schaffer", „Marschälle") beim Bräu-
tigam ein, um von nun an bei ihm zu bleiben. Sie wer-
den Biror genannt,, oder weun zufällig der Bruder des
Bräutigams darunter ist, so heißt erDnmor. Am Frei-
tag wird im Hause des Bräutigams ein Mahl herge-
richtet und die „Schaffer" ziehen von Haus zu Haus,
um die jungen Männer einzuladen. Dieselben erscheinen
und essen und trinken bis in die tiefe Nacht hinein. Am
Sonnabend nach dem Morgengebet werden alle Haus-
besitzer abermals zum Bräutigam geladen; sie erscheinen,
werden bewirthet und schmausen bis Mittag; dann gehen sie
und nun kommen die Weiber und singen und tanzen bis zum
Abend.
Am Sonntag ziehen alle jungen Leute in den Wald
um Holz zu holen, dessen sie bei den Hochzeitsfeierlichkeiten be-
dürfen. Am Montag versammeln sich alle beim Bräuti-
gam und feiern wieder. Unterdeß sind auch Musikanten zum
Fest eingetroffen, welche mit Freuden bewillkommnet werden:
jede Frau trägt ihnen ein Gefäß mit Brot entgegen. Am
Dienstag findet bei der Braut im Hause ein Mittagessen
statt, an welchem alle Einwohner des Dorfes theilnehmen;
die Brüder und der Vater des Bräutigams sind auch dabei;
nur der Bräutigam selbst nicht. Nach dem Essen wandert die
ganze Gesellschaft zum Bräutigam und holt von ihm alle die
Geschenke und Sachen, welche der Braut bestimmt sind.
Alles wird feierlich zur Braut getragen. Die vorangehenden
Männer tragen Fackeln, eine Frau.trägt auf ihrem Kopfe
einen großen kupfernen Untersetzer, welcher ein Quantum
Mehl, zwei Hühner und die Geschenke für die Braut enthält;
die anderen Frauen tragen ebenfalls Untersetzer auf dem
Kopfe, aber nur mit Brot; dann folgen die Musikanten, dann
das übrige Volk mit Fackeln. Alles schreit Hurrah! Alt und
Jung tanzt, die Mädchen singen. Aus dem Hause der Braut
kommt man ihnen entgegen: das Mehl und die Hühner
werden sofort zu einem Imbiß angerichtet. Man spielt,
!en Juden.
man singt und tanzt den ganzen Tag hindurch. Die Braut
wirft sich in die besten Kleider, und hüllt sich in ein seidenes
Tuch; die jungen Mädchen singen und tanzen bis zur Mitter-
nacht. An diesem Abend werden der Braut die Hände und
Finger mit rother Farbe angestrichen.
Am Mittwoch Morgen begeben sich die „Schaffer" in
Begleitung der Musikanten in die einzelnen Häuser, um
kleine Geschenke an Tabak, Wein, Tüchern u. s.w. znempfan-
gen. Dann holen sie aus ihren Wohnungen alle diejenigen
jungen Frauen ab, welche sich im Laufe des Jahres verhei-
rathet haben und die bisher noch gar nicht — fo fordert es
die Sitte — ihre Wohnungen verlassen haben, und führen
sie zum Bräutigam. Hier wird eine mimische Aufführung
arrangirt, bei welcher eine Frau die Nolle eines Mannes
spielt. An diesem Mittwoch müssen Braut und Bräuti-
gam saften. Dann wird dem Bräutigam das Haupthaar
geschoren, worauf er eiu Roß besteigt und mit seinen gleich-
falls berittenen Freunden herumfprengt — wo er vorüber-
reitet, wird er mit Mehl beworfen. Die ganze Gesellschaft,
der Bräutigam voran, reitet znm Fluß; der Bräutigam
badet sich und nun legen ihm die Genossen hochzeitliche Ge-
wänder an, streuen ihm zur Erinnerung an die Trauer um
den Fall Jerusalems Asche auf das Haupt und singen mit
wehmüthiger Stimme den Psalm David's 137. Auch die
Braut nimmt gleichzeitig ein Bad, entweder auch im Flusse
oder in einer zu eigens solchem Zwecke hergerichteten Badstube,
„Mikwa". Am Flusse nehmen die Genossen einen Imbiß,
doch betheiligt der Bräutigam sich nicht dabei. Nun macht
sich alles bereit zur Heimkehr. Da fragt der Bräutigam:
Wer will zuerst der Braut die Kunde bringen, daß ich fer-
tig bin? Zwei oder drei sprengen in Windeseile wie Pfeile
voraus zur Braut. Der erste, der die Braut erreicht, erhält
als Lohn ein feidenes Tuch, welches er seinem Rosse um den
Hals bindet, zugleich wird ein Ei an der Stirn des Pferdes
zerschlagen, um dasselbe vor dem bösen Blick zn bewahren.
Der zweite und dritte, welche die Braut erreichen, empfangen
je ein Huhn und einen Krug Wein. Sobald der Bräuti-
gam mit seinen Genossen das Dors betreten hat, so kommen
ihm alle Einwohner entgegen; sie bringen Wein und Ham-
melfleisch, bewirthen die Genossen und trinken mit ihnen
auf das Wohl des Bräutigams; Frauen, welche der Familie
des Bräutigams angehören, kommen besonders mit Unter-
setzern, gefüllt mit ungesäuertem Brote, auf dem Kopfe, da-
zwischen sind Lichte dem Brote angeklebt; einige Frauen
halten Lichte in den Händen. Unter diesen Frauen ist auch
die sogenannte „Enga", d.i. die Schwester, oder eine nahe
Anverwandte des Bräutigams; sie hat die Aufgabe, dem
Bräutigam zur Seite zu stehen mit einem Lichte in der Hand
und dabei zu singen: „oi atlan, atlan giow, Temir-Chan
atlan giow". Die Frauen beginnen nun vor dem Bräuti-
gam zu tanzen. Dann tritt der Rabbiner mit seinem
Schülercorps ein und läßt eiu Hochzeitslied singen: Israeliten,
singt ein Lied zu Ehren des Bräutigams! Der Bräutigam
erfreut sich seiner Braut, und die Braut des Bräutigams,
Hallelujah! Hallelujah! Der Bräutigam leuchtet wie der
Morgenstern und die Braut ist schön wie eine Königin!
Mögen sie beide Morgens und Abends leuchten immerfort
unter dem Volk der Israeliten! u. f. w. u. f. w. x).
x) Wir lassen das Weitere fort.
Ein neues Projekt zur Verbindung des Aralsee mit dem Kaspischen Meere.
191
Ein neues Projekt zur Verbindung t
Em Protokoll der Sektion Orenburg der Kais. Russ.
Geogr. Gesellschaft, abgedruckt im „Oreub. Listok", sagt
über diesen Gegenstand etwa Folgendes:
Die gelehrte Welt beschäftigt sich jetzt mit der Möglich-
fett, eine Wasserverbindung zwischen dem Aralsee und dem
Kaspischen Meere in dem alten Bette des Amn Darja, dem
Uzboi, herzustellen. Aus diesem Grunde erforscht und nivel-
lirt man den 1000 Werst langen Lauf des Uzboi und unter-
sucht auch das Delta des Amu. Beides macht bedeutende
Aufwendungen nöthig. Es giebt jedoch auf der schmalen
Landzunge zwischen den beiden Meeren noch eine andere
Strecke, die bei Lösung der beregten Frage nicht wenige
Beachtung verdient, und das ist das Bett des Flusses
Tscheg an auf der Nordseite des Ust-jurt. Dieser Fluß
oder, richtiger gesagt, dies trockene Flußbett nähert sich in
dem bekannten Theile seines Oberlaufes dem Aralsee auf
einen Abstand von wenig über 100 Werst. Dieser Punkt
kann auch nicht besonders hoch liegen, da selbst der Kamm
des Ust-jurt sich nur 700 Fuß über den Spiegel des Aral-
see erhebt. Außerdem zieht sich vom Aralsee in der Rich-
tuug auf jenen Punkt am Tschegan und zwar von der
Tuschtsche-Bas-Bai ausgehend ein breites und tiefes
Thal hin, bekannt unter dem Namen Arys.
Da der Spiegel des Aralsee 243 Fuß über demjenigen
des Kaspischen Meeres liegt, so müßten im Falle einer
Durchstechung der Landenge die Wasser des Aralsee in be-
trächtlichem Maße ins Kaspische Meer abfließen. Die
Frage stellt sich also so, ob man dem Aralsee einen Ausfluß
in den Tschegan schaffen kann.
Der Aralsee wird durch zwei große Flüsse gespeist, deren
Wasserzufluß jetzt die Verdunstung ausgleicht; wird aber ein
künstlicher Abfluß nach dem Meere geschaffen, so muß noth-
wendigerweise fein Wasserspiegel fallen und das ganze nörd-
liche, östliche und zum Theil auch das südliche Ufer des Sees
wird, wie die hydrographische Karte von Bntakow zeigt, auf
große Strecken trockengelegt. Die Folgen einer gelungenen
Ausführung einer solchen Arbeit werden sein: 1. Der Aral-
see bekommt ganz süßes Wasser; 2. seine Oberfläche wird
kleiner, auch seine Tiefe nimmt etwas ab; 3. an den Ufern
s Aralsee mit dem Kaspischen Meere.
des Sees können wieder menschliche Niederlassungen ent-
stehen. Ueber die Schiffbarkeit des Abflusses läßt sich in
Ermangelung genauer Daten vorläufig nichts sagen. Aber
angenommen selbst die Untersuchung und das Nivellement
der Strecke zwischen dem Aralsee und dem Tschegan ergäbe
die größte Schwierigkeit, oder selbst die Unmöglichkeit der
Herstellung eines Kanals, so ist die Arbeit darum doch nicht
verloren aus folgender Erwägung:
Mit jedem Jahre zeigt sich deutlicher, daß die Umleitung
der Wasser des Amu in den Uzboi durchaus keine leichte
Sache ist; der Zweifel am Erfolge wächst bei dem Fort-
schritte der Untersuchung und die Chancen des Erfolges
nehmen ab. Angesichts dieses Umstandes wird eine Unter-
suchung in anderer Richtung, namentlich da sie räumlich
näher gelegen und mit geringen Unkosten verknüpft ist (etwa
100 Werst Nivellement und eine gewöhnliche Aufnahme),
durchaus keine vergebliche Arbeit sein; sie kann ein vollkom-
men neues Licht aus die ganze Frage werfen und unerwar-
tete Aufschlüsse über die Entstehung des berühmten Uzboi
geben. Es ist ja sehr möglich, daß die Niederung des Tsche-
gan und diejenige des Uzboi in vielen Beziehungen ähnlich
sind, und ihr Vergleich bietet die Möglichkeit das Räthsel
zu lösen, welches schon viele Jahre hindurch die forschenden
Geister beschäftigt hat: nämlich die Frage, ob der Amu-Darja
in historischer Zeit sich in das Kaspische Meer ergoß.
Endlich wird man erst nach Untersuchung des Terrains in
beiden Richtungen bestimmt sagen können, ob es möglich ist,
diesen Lauf des Flusses in jetziger Zeit wieder herzustellen,
und in welcher Richtung man am vortheilhastesten zur Aus-
führung schreitet.
Außerhalb der Grenzen des Gebietes, dessen Erforschung
der Orenburger Gesellschaft obliegt, sind zur Lösung der
Frage alle Maßregeln ergriffen und Mittel dafür angewie-
sen: auf der uns nächstliegenden Strecke ist noch nichts ge-
schehen. Angesichts der vergleichsweisen Billigkeit dieses
letztern Theiles der Arbeit wird die Orenburger Sektion der
Geographischen Gesellschaft sich der Inangriffnahme dieser
Aufgabe nicht entziehen und sie mit ihren Mitteln unter-
stützen. (Turkest. Ztg. 1880, Nro. 22.)
Aus allen
Europa.
— Nach amtlicher Zusammenstellung betrug die Zink-
Produktion der Provinz Schlesien im Jahre 1873:
1192 000 Centner. Hiervon verwalzte die Schlesische Aktien-
gesellschaft für Zinkhüttenbetrieb ihre eigene Produktion von
circa 325 000 Centner. Der Rest von etwa 867 000 Centner
kam in Breslau zum Verkauf, da die Produktionsstätten
selten direkt nach dem Auslande verkaufen.
(Registr. d. Gr. Gen.-Stabes.)
— Nach dem „Kuryer Poznanski" hat auch im Jahre
1879 der polnische Großgrundbesitz in der Provinz
Posen abgenommen, aber nicht in dem Maße, wie 1878.
x r d t h e i l e n.
Es gingen nämlich im Jahre 1879 15 340 Morgen aus
deutschen in polnische, dagegen 22 576 Morgen aus polnischen
in deutsche Hände über. 32 484 Morgen wurden von Polen
an Polen verkauft. Der polnische Großgrundbesitz hat dem-
nach 1879 um 7236 Morgen abgenommen, im Jahre vorher
aber um 37 756 Morgen, zusammen um 44 992 Morgen,
welche 35 Besitzern gehörten.
(Registr. d. Gr. Gen.-Stabes.)
— In Belgien hat man, ähnlich wie es von der
Deutschen Anthropologischen Gesellschaft geschehen ist, im
Jahre 1879 statistische Untersuchungen über die Farbe der
Augen und der Haare der Bevölkerung angestellt. Die
Zahl der untersuchten Schulkinder betrug 600000. Im nörd-
192 Aus allen
lichen Belgien überwiegt der blonde Typus mit hellen,
grauen oder blauen Augen und hellen, blonden oder rothen
Haaren. Im südlichen Belgien herrscht dagegen der braune
Typus vor, der sich durch braune oder schwarze Augen und
Haare kennzeichnet. Die geographische Grenze dieser Gebiete
fällt bemerkenswerther Weise fast genau mit der Grenzlinie
der flämischen und wallonischen Sprache zusammen. In den
flämischen Bezirken dominirt der blonde, in den wallonischen
der braune Typus. Das flämische Belgien schließt sich in
ethnologischer Beziehung an die echt germanische blonde Be-
völkerung an, welche Dänemark, Schleswig-Holstein, Hanno-
ver und Westfalen erfüllt. (Registr. d. Gr. Gen.-Stabes.)
— In Italien konnten bei der Aushebung von 1879
nur 45,33 Proc. der Konskribirten lesen und schreiben.
Der Procentsatz der Analphabeten ist am kleinsten (29^ Proc.)
in Piemont, steigt nach Süden, im Römischen auf 63%, in
Neapel auf 71 Proc. und erreicht in Sardinien und Sici-
lien die Summe von resp. 74% Proc. und 76y3 Proc.
(Registr. d. Gr. Gen.-Stabes.)
— Der Hafen Piräus und damit Athen sind seit
Mitte August direkt mit Konstantinopel, Smyrna und Alexan-
drien einerseits, und mit Corfn und Trieft andererseits ver-
bnnden, indem die Dampfer des österreichischen Lloyd jetzt
statt in Syra im Piräus anlegen. Dadurch erwächst sowohl
dem Lande wie den vielen Reisenden ein großer Vortheil,
indem die lästige Ueberfahrt auf kleineren Schiffen von Syra
nach Athen wegfällt. Es werden im Piräus wöchentlich
zehn der größten Lloyd-Dampfer anlegen und wurde der
Lloyd-Agentur zu diesem Zwecke der nördliche Theil des
Hafens angewiesen. Die Lücke aber, welche der Lloyd in
Syra hinterläßt, wird binnen Kurzem durch die große Kaiserl.
Russische Dampfschifffahrts - Gesellschaft ausgefüllt sein,
welche ihre nene Levante-Linie mit 10 großen Dampfern
befahren und ihre Hanptagentie in Syra errichten wird.
— Die russische Postverwaltung hat kürzlich eine neue
Ausgabe ihres Postknrsbnches erscheinen lassen. Außer
den seit 1875 eingetretenen Veränderungen in den Postkursen
Rußlands enthält dasselbe zum ersten Male die Verkehrs-
anstalten in Ferghana, im Gebiete von Kars und
Batnm, sowie in dem neu erworbenen Theile Bessara-
biens.
— Im Gouvernement Rjazan sind etwa eine Mil-
lion Deßjatinen Land nördlich der Oka auf der Strecke
von Kolomna bis Kassimow fast ganz mit Sumpf be-
deckt. In dieser Sumpfzone liegen die großen Krondomä-
nen: Borowaja, Keletzko-Solodtschinskaja, Radowitzkaja,
Worontzowskaja, Kurtinskaja, Schatnrski bor :c.; zur Trocken-
legung derselben und zur Gewinnung einer flößbaren Wasser-
straße mußten die Flußthäler und Bassins folgender Neben-
flüsse der Oka: Schja, Solodtscha, Wokscha, Pra und
Lamscha kanalisirt werden. Im Lause der Jahre 1876bis
1879 sind die nöthigen Untersuchungen angestellt worden,
bestehend in Nivellements, Tiefbohrnngen (bis 30 Fuß Tiefe),
Vermessungen der Sümpfe und Beobachtungen über den Zu-
stand der genannten Flüsse. Bis Ende 1879 waren in die-
ser Beziehung ausgeführt: 1. 2600 Werst Nivellements,
welche, einen Raum von 1200000 Deßjatinen umfassend,
die Kreise Spaßk, Kassimow, Jegorjewsk und Theile der
Kreise Rjazan und Zaraisk überspannen; 2. Tiefbohrungen
an 29 Punkten; 3. Untersuchung und Messen der Sümpfe
Erdtheilen.
an 140 Stellen. Die 1377 begonnene Kanalisation er-
streckt sich bis jetzt 1. auf Anlage der Hauptkanäle und
Seitengräben für Trockenlegung der Domänen Borowaja
und Keletzko-Solodtschinskaja; 2. begonnen ist die Entwässe-
ruug von Radowitzkaja, welche 27000 Deßjatinen Land um-
faßt im Bassin der Schja, die zwischen Kolomna und Rja-
zan in die Oka fällt; 3. in Angriff genommen ist der Bau
eines Kanals zur Verbindung der Flüsse Solodtscha und
Pra. Im Ganzen waren bis Ende 1879 die Flußbetten
aufgeräumt oder Kanäle angelegt auf 165 Werst. Die Aus-
maße für die Kanäle ?c. sind dieselben wie im Poläß. Die
Entwässerungsarbeiten und in Verbindung damit die An-
läge von Waldwegen, Faschinendämmen und Brücken machen
in den erhöhten Holzpreisen auf den oben genannten Domä-
nen sich bereits fühlbar. Die Flößerei auf der Solodtscha
und ihrem Nebenflüßchen Keletzka ist seit 1878 im Gange.
Die Ausgaben für die gesammten Arbeiten der letzten vier
Jahre betrugen 80 000 Rubel.
Afrika.
— Auf Vorschlag der Herren Choisy und Soleillet ist
der sofortige Bau einer doppelten Telegraphenlinie
von el-Aghuat durch das Land der Beni Mzab nach Wargla
und von Biskra über Tuggurt uach Wargla beschlossen wor-
den. Dieselbe soll als Vorläufer einer Eisenbahn die Be-
wohner der algerischen Sahara mit der französischen
Kultur in Verbindung bringen und sie daran gewöhnen.
— Nach einem in London eingetroffenen Berichte sollen
Kapitän Carter und Herr Cadenhead, Mitglieder der
belgischen Expedition in Jnnerafrika, durch einen Hänpt-
ling ermordet worden sein. Den letzten Berichten zufolge
stand Carter im Begriffe, von Karema am Tanganjika-See
nach Zanzibar zurückzukehren, um dort ein neues Unter-
nehmen behufs des Fanges und der Zähmung afrikanischer
Elephanten ins Leben zu rufen, während Cadenhead mit
Bnrdo und Roger sich in der Nähe von Tabora (Kazeh)
befand.
Inzwischen hat eine fünfte belgische Expedition
unter Lieutenant Braconnier am 10. August dieses Iah-
res Liverpool verlassen, um Stanley's kleine Schaar am
untern Kongo zu verstärken. Dieselbe besteht aus den Lien-
tenants Haron, Valcke, van Hefte und dem Ingenieur Paul
Nevs.
— Matteucci (f. oben S. 94) hat Fa scher, die Haupt-
stadt Darfors, schneller erreicht, als er anfänglich glaubte.
Während seine Gefährten Prinz Borghefe und Kapitän Mas-
sari sich den Freuden der Jagd Hingaben, ist er vorangeeilt,
um alle Vorbereitungen für die Weiterreife nach Wada'i zu
treffen. Wie in Kordofan, so fehlt es auch in Darfor fast
ganz an Wasser; die Eingeborenen sammeln es deshalb in
der Regenzeit (Juni bis September) in ausgehöhlten Bao-
babs, die zuweilen bis 30 m im Umfange messen, und in
denen es sich acht Monate lang frisch und klar hält. Das
Land leidet noch an den Nachwehen der gewaltsamen Unter-
werfung durch die Aegypter; es ist mit Ruinen bedeckt und
wird vom Handel gemieden. Matteucci gedachte nur wenige
Tage in Fascher zu verweilen und dann nach Kolkol an der
Grenze von Wadcü weiterzugehen.
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. V. (Mit vier Abbildungen und einer Karte.) — Schapira's Reise in Jemen.
Von Prof. H. Kiepert. (Mit einer Karte.) — Die kaukasischen Juden. I. — Ein neues Projekt zur Verbindung des Aral-
see mit dem Kaspischen Meere. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Afrika. — (Schluß der Redaktion 24. August 1830.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vitweg und Sohn in Braunschweig.
■M&
Band XXXVIII.
Mit besonderer HerürKsirÜtiZung der AntKroyoloZie uml Giknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
^vAitrt Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 o q
-orauniqrueig m roreite öon 12 Mark pro Band m beziehen. ±OOU.
I m Innern von Hinterindien.
(Nach dem Französischen des Dr. Harm and.)
(Sämmtliche Abbildungen nach den Skizzen und Angaben des Reisenden.)
VI.
Am Abend des Tages, an welchem Harmand von Kem-
merkt aufgebrochen war, langte er an der Stromschnelle
Cheng-dön-sas. an, welche durch eine Reihe größerer und
kleinerer Inseln und Felsbänke gebildet wird, zwischen denen,
wenigstens zu dieser Jahreszeit, nur ein schmaler gewunde-
ner Kanal wirbelnden und schäumenden Wassers bleibt.
Nur unter Herzklopfen konnte er die eine volle Stunde in
Anspruch nehmende Passage zurücklegen. Weil die Ufer so
steil und dicht mit Gebüsch bedeckt sind, ist es unmöglich, die
Pirogen auszuladen, man muß sie mit ihrem gesammten
Ballaste hindurchziehen und zwar mit sehr langen Seilen
von spanischem Rohre, weil diejenigen Stellen, wo die Boots-
leute an Land gehen können, sehr weit von einander entfernt
und sehr klein sind, was die Manipulation noch schwieriger
und gefährlicher machte. Zum Glücke waren die Laos von
Kemmerat lauter ausgesuchte Leute, welche dabei einen Muth
und eine Kaltblütigkeit entwickelten, wie sie der Reisende bei
diesem Volke kaum für möglich erachtet hatte. Immerhin
war es eine böse Fahrt, welche Harmand Niemanden gegen
Ende der trockenen Jahreszeit zu unternehmen räth.
2 7. April. Der Nam-Khöng (Me-Khong) ist mit
schönen Inseln und Felsen bedeckt; der Strom stellenweise
sehr stark; noch einige Stromschnellen. Es ist heiß (37°);
gegen Abend bedeckt sich der Himmel und ferner Donner
läßt sich hören.
28. bis 3 0. April. Nur in Ban-mnk (Ban-Mouc)
wird ein kurzer Aufenthalt gemacht, um die Ruderer zu
Globus XXXVIII. Nr. 13.
wechseln. Hier und da finden sich in dem riesigen, stets
einförmigen und fast stromlosen Flusse lange flache Inseln,
auf denen sich Vögel tummeln, große Jabirns mit metallisch
blauem und weißem Gefieder und rothen Füßen, Kibitze in
großen Schaaren und gefällig fliegende Wasserschneider
(Mövenart).
Am Abend des 30. langte Harmand in Peuuom an,
das im ganzen Laos-Lande wegen seiner alten Pagode
und seines Bonzenklosters berühmt ist. Erste« ist von
zahlreichen thät (pyramidenförmigen Gräbern) umgeben und
wird von zwei Ringmauern geschützt; sie besteht aus einem
sehr hohen thät, dessen Basis unzweifelhaft aus fehr alter
Zeit stammt, aber vielfach umgeändert worden ist, und
einem großen, von schönen hölzernen Säulen mit palmför--
migen Kapitellen umgebenen Gebäude. Das Innere des
letztern ist finster, wird von zahlreichen Fledermäusen bewohnt
und ist mit schlecht erhaltenen Fresken bedeckt; auf den
Fensterläden sieht man Figuren von fast Lebensgröße, welche
Chinesen, Birmanen und auch Europäer darstellen, z.B. einen
typischen Marquis mit Dreispitz, Pnderperrücke, Spitzen-
Hemd, Kniehosen und langen Strümpfen; wahrscheinlich ist
vor langer Zeit einmal ein solches Bild von Bang-kük in
diese Wilduiß gelangt und kopirt worden. Auf dem Altare
sieht man eine Unmasse von Buddhabildern aus den ver-
schiedensten Stoffen und von den verschiedensten Größen,
von derjenigen eines Fingernagels an bis zu 6 Meter Höhe.
Hinter diesem Gebäude erhebt sich innerhalb einer zweiten
25
194 Im Innern t
Ringmauer der thät, dessen Spitze die Kokospalmen ringsum
weit überragt; er besteht aus feinen, sorgsam zusammen-
gefügten und skulptirten Ziegeln in Gestalt ornamentirter
Blätter. Die Basis dieses Thurms ist mit Glasgeschirr
und Porcellanscherben, darunter selbst eine alte Brille, ganz
bedeckt.
Am 2. Mai ging es weiter auf dem hier fast 1 km
breiten, ruhigen und tiefen Strome, an dessen rechtem Ufer
zahlreiche Dörfer und Weiler liegen. Um 5 Uhr Abends
landete man bei La-khon auf dem sandigen Ufer, welches
sich in Folge des wenigen Regens der letzten Tage mit
einem frischgrünen Rasenteppiche bedeckt hatte, auf welchem
Pferde, Zeburinder und Kinder sich tummelten, während
zahlreiche Männer und Frauen sich im Flusse badeten. Letz-
tere ergriffen beim Anblicke des Weißen sofort die Flucht,
mit der einen Hand ihr nasses Kleid haltend, mit der andern
ein heulendes nacktes Kind hinter sich her zerrend. Kaum
war Harmand ans Land gestiegen, so umringten ihn eine
Anzahl Annamiten, die hier eine Niederlassung gegründet
t Hinterindien.
hatten. Sie waren meist dorthin geflohen, als die Franzo-
fen zuerst in Cochinchina gelandet waren und deshalb in
Annam Soldaten ausgehoben wurden; andere hatte die Furcht
vor Strafe oder vor hartherzigen Gläubigern in das Innere
der Halbinsel getrieben. Trotzdem, daß die Franzosen ihre
natürlichen Feinde sind, empfing jene Kolonie unfern Rei-
senden mit vielen Glückwünschen und ausgesuchten Höflich-
leiten wie einen Beschützer, ja fast wie einen Landsmann.
Am folgenden Morgen bezog Harmand die für Fremde
bestimmte Sala und empfing den Besuch des Ortsvorstehers,
eines höchst mißtrauischen, stolzen und dummen Menschen,
den er kaum mittels vieler Geschenke zum Reden zu bringen
vermochte. Doch erfuhr er schließlich so viel, daß der Fürst
von Ub6n sein Wort gehalten, daß auf seinen Befehl für
den Reifenden ein Lager in den Bergen hergerichtet worden
sei, und daß er abreisen könne, sobald es ihm beliebe. Da
hier seine Reise zu Wasser ihr Ende nahm, ging er sofort
daran, sich alles überflüfsig'en Gepäckes zu entledigen, um
so wenig Träger als möglich zu bedürfen. Namentlich
Ankunft vor de
schenkte er den Annamiten vielerlei Dinge und suchte zu
gleicher Zeit unter ihrer Zahl einen Boten ausfindig zu
machen, welcher ihm einen Brief nach dem südlichen Tong-
king an die dortigen französischen Missionäre befördern
könnte; er wollte den Bischof jener Gegend, in welcher es
viele Christen giebt, um seine Unterstützung ersuchen, damit
ihm bei der Überschreitung der Grenze nicht zu viel Hinder-
nisse in den Weg gelegt würden. Anfangs widerstrebten
alle aus mancherlei Gründen diesem Ansuchen; endlich fand
sich dann ein junger Aunamit, der mit Bewilligung des
Gouverneurs und gegen gute Bezahlung die 25 Tage in
Anspruch nehmende Reise ausführen wollte, auch wirklich
nach einigen Verzögerungen dieselbe unternahm, aber, wie
Harmand erst viel später erfuhr, bei seiner Rückkehr von
wilden Laos in der Nähe von La-khön ausgeplündert und
dann aus Furcht vor Strafe ermordet und auf die Seite
geschafft wurde.
Am 4. Mai wurde Harmand in der Gala-Piroge des
Gouverneurs, einer der längsten und größten, die er je ge-
sehen, bei erdrückender Hitze einige Meilen den großen Strom
Dorfe La-khüu.
aufwärts gerudert, stieg dann ans Land und schlug in Be-
gleitung von etwa 10 Trägern die Richtung nach den Ber-
gen ein, deren sonderbar gezackte Gipfel gegen Osten sich
vom Horizonte abhoben. Hier beging er die Unvorsichtig-
keit, barfuß den glühenden steinigen Boden zu betreten und
sich schwer am linken Fuße zu verletzen; er besaß nur noch
zwei Paar Stiefel und hatte dieselben möglichst schonen
wollen. Nach öfterm Anhalten erreichte er den Fuß der
Berge, deren erster Anblick ihn entzückte, und fand dort bei
einem Wasserloche in den Marmorfelsen eine ganz neu er-
richtete niedliche kleine Hütte aus grünem Bambn, in wel-
cher er sich alsbald wohnlich einrichtete. Gleich am nächsten
Tage unternahm er trotz seiner schmerzenden Wunde einen
ersten Ausslug nach den Bergen, der ihn jedoch arg ent-
täuschte. Für einen Künstler sind diese schwarzen zerrissenen
Felsen, diese riesigen Steinmassen, welche sich aus der kahlen
oder nur mit einzelnen Gruppen stachlicher Bambus bedeck-
ten Ebene erheben, diese tiefen Höhlen in ihren Seitenwän-
den und spitzen Felsnadeln ein lohnendes Ziel; der Natur-
forscher mag ihnen fern bleiben. Hat man sich mühsam
Im Innern t
durch das Bambndickicht bis zum Fuße ciues solchen Felsens
hindurchgearbeitet, so sieht man erst, daß eine Besteigung
ganz unmöglich ist, weil die Wände fast senkrecht emporstei-
gen; nur hier und da hat ein Busch in den Spalten Wurzel
gefaßt und findet dort dürftige Nahrung. An den beiden
nächsten Tagen fetzte er seine Nachforschungen fort, fand
auch ein kleines Gehölz , was ihm für feine Sammlerzwecke
besser geeignet zu sein schien, und siedelte dorthin über. Die
t Hinterindien. 195
Hitze wurde jetzt unerträglich, und noch immer wollte kein
Regensallen; er verzeichnete folgende Temperaturen: 9. Mai
Maximum 38°, 3 Uhr Nachmittags 37 V/, 4 Uhr 37°,
6 Uhr 33°, 10 Uhr 27,2°; 10. Mai Minimum während
der Nacht 26,3°, Maximum 38,5°, 6 Uhr Nachmittags
35°, 10 Uhr 30,5°. Trotzdem er schon zwei Jahre auf Nei-
feu und sechs Jahre in Cochinchina zugebracht hatte und die
Sonnenhitze nicht scheute, wurde ihm es hier zu viel; er ver-
Lager unter Bambus am Fuße der Berge bei La-khün.
lor allen Appetit und litt öfters an Uebelkeit. Sollten sich
jemals Europäer in diesem Lande dauernd niederlassen, so
glaubt er, daß der Maimonat alljährlich stark unter ihnen
aufräumen wird. Dabei kein Tropfen Regen und ein wölken-
loser, leuchtender Himmel, keine Insekten, keine Pflanzen
zum Einlegen, keine Vögel zu präparireu! Die Fauna dieser
Berge ist sehr armselig; man sieht weder Pfauen noch Eich-
Hörnchen, die sonst überall so häufig sind; auf dem Boden
nicht eine einzige Fährte von Tiger oder Hirsch. Nur nach
Sonnenuntergang kommen zahllose Schaaren von Fleder-
Mäusen (Rhinolophes) aus den Spalten der Felsen hervor
und fliegen westwärts; sie zu schießen, war Harmand's ein-
zige Unterhaltung. Selbst feine annamitifchen Begleiter
litten unter der erdrückenden Schwüle. Ohne weitere Thätig-
keit verstrichen die nächsten Tage bis zum 15. Mai; die
Hitze stieg bis auf 39,4°, und schließlich verlegte Harmand
25*
196
Im Innern von Hinterindien.
zum dritten Male seine Hütte an den Rand des Waldes,
an den Fuß des größten und höchsten Berges und in den
Schatten einiger hohen Bäume. Am 17. Mai fing endlich
der Regen an reichlich zu fallen und es kamen Insekten zum
Vorscheine; alsbald kehrte auch die gute Laune und Arbeits-
lust des Reisenden zurück und er verbrachte die Morgen und
Abende mit Sammeln, die Mittage mit Zergliedern und
Mikroskopiren; Vögel und Sängethiere waren aber auch
jetzt noch sehr selten. Immer heftiger wurde der eben noch
ersehnte Regen und er goß schließlich in solchen Strömen
herab, daß ihn Harmand verwünschte. Im Walde war es
so dunkel, daß man kaum sehen konnte, und die Feuchtigkeit
war so groß, daß Instrumente, Kleider und Matten sich mit
grünlichem Schimmel bedeckten, und unter den Leuten zahl-
reiche Erkrankungen vorkamen.
Merkwürdig verhielten sich die Berge: trotz des reich-
Lager im Walde am Fuße der Berge von La-khün.
lichen Regensalles bildet sich weder an ihrem Fuße noch aus
ihren Abhängen auch nur der kleinste Bach, sondern alles
Wasser sickert durch Spalten in sie ein, zersetzt sie und bildet
so tiefe Höhlen, welche mitunter riesige Tropfsteinbildungen
aufzuweisen haben. In manchen derselben sind die Wände
buchstäblich mit Fledermäusen bedeckt, ähnlich wie die finste-
ren Gänge der alten Bauwerke Kambodjas; zu Dutzenden
kann man sie mit einem bloßen Stocke zu Boden schlagen
und sammeln.
Am 27. Mai wurde der Rückweg nach dem Me-khüng
angetreten. Die kahle Ebene, welche man beim Hinwege
zu passireu hatte, bot jetzt einen ganz andern Anblick; so
weit man sehen konnte, sproßten die Kräuter, ein herrliches
Schauspiel, besonders wenn die Sonne schien. Es ist das
die schönste Zeit im Jahre. In La-khün wurden die letzten
Vorbereitungen getroffen und die letzten überflüssigen Dinge
großmüthig verschenkt. Etwa zehn Kisten voll Instrumente,
Bücher, Sammlungen u. s. w. wurden nach Bassac zurück-
Im Innern von Hinterindien. 197
geschickt, von wo sie der Fürst nach Französisch-Cochinchina j sie dort ein, aber ihr Inhalt war mit Ausnahme einiger
zu senden versprochen hatte; erst els Monate später trafen | Thiere in Spiritus vollständig verdorben.
ßU/j/JÄ/JD
Felsen schwarzen Marmors in den Bergen 0on La-khün.
Abreise von La-khün.
Am 31. Mai Morgens kreuzte Harm and zum letzten er in den letzten zwei Jahren so oft gefahren war, und lan-
Male den Nam-khüng oder Me-khöng, auf dessen Finthen bete um zehn Uhr auf dem linken östlichen Ufer, wo er noch
198
Im Innern von Hinterindien.
einige zurückgebliebene Träger erwarten mußte. Mit
Schrecken bemerkte er, daß anstatt 40 volle 62 Träger sich
eingefunden hatten, und außerdem noch ein kleiner Häupt-
ling, der sich wie ein Reitersknecht zum Kriege bewaffnet
hatte und stolz auf seinem Pony herumsprengte, daß die
Schellen des rothen Pferdegeschirres einen Höllenlärm voll-
führten. Auch für den Reisenden, der seine sich gerade bes-
sernde Gesundheit schonen wollte, hatte man ein Pferd bereit
gestellt. Endlich setzte sich die lange Kolonne in Bewegung
und durchzog im Gänsemarsche auf engen Pfaden zuerst
Reisfelder. Weiterhin nahm die Gegend ein wilderes Aus-
sehen an; zahlreiche Spuren aber deuteten darauf, daß sie
früher einmal angebaut und mit Dörfern bedeckt gewesen war.
Jetzt aber sind die Fruchtbäume abgestorben, haben sich die
Reisfelder in Sümpfe verwandelt und überall herrscht Einöde,
vielleicht in Folge des annamitisch-siamesischen Krieges von
1830 bis 1831.
Der Reisende selbst mit seinem Führer eröffnete den
Zug; um sein Gepäck kümmerte er sich nicht im Geringsten,
denn er war sicher, daß es heil und unverletzt im Nachtlager
ankam; alle die Träger, Koruaks, Bootsleute u. s. w., die
ihn begleiteten, hatten ihm niemals auch nur einen Stroh-
Halm entwendet. Jedes Gepäckstück, gegen den Regen durch
ein dichtes Laubdach geschützt, wurde von zwei Leuten an
einer dicken Bambustange getragen. Am ersten Tage über-
schritt man auf Ziegenpfaden einen kleinen Berg aus Sand-
stein, dann ein waldiges Thal und übernachtete mitten in
einem Sumpfein einem kleinen Dorfe, das vonPhn-Thays
bewohnt wird. Dieses Volk scheint früher die ganze Gegend
innegehabt zu haben, jetzt aber fast völlig mit den Laos ver-
schmolzen zu sein. Der Marsch des zweiten Tages führte
durch Sümpfe und Waldlichtungen und gegen Abend durch
eine großartige enge Schlucht zwischen senkrecht aufsteigenden
Marmorwänden, am folgenden Tage (2. Juni) pafsirte man
zuerst einen gestrüppreichen, dichten Wald mit moorigem
Boden, in welchem sich viele Spuren von Elephanten zeigten,
sodann ein trockenes, steiniges, rauhes Terrain, dessen zahl-
reiche Schwierigkeiten nur diese kleinen laotischen Pferde zu
Ansicht von Phn-Wa.
überwinden vermögen. Gegen Abend erreichte man weite,
verbrannte, ebene Savannen, die mit sonderbar gestalteten
Marmorselsen bestreut sind. Im Osten zeigten Gruppen
von Kokospalmen und Bambus die Lage der Provinzial-
Hauptstadt Phu-W^ an, deren wenige Hütten zu beiden
Seiten des etwa 40 m breiten Flusses Se-bang-sey am Fuße
eines Spitzberges liegen und einen reizenden und zugleich wild-
malerischen Anblick gewähren. Bewohnt wird der Ort von
Sos, Phu-Thays und Laos durch einander. Der dortige
Mandarin versprach zuerst Träger für den Marsch nach
Annan:, widerrief dann aber seine Zusage mit allen mög-
lichen Ausflüchten und Lügen, die Annamiten seien Kopf-
abschneider, es gebe keinen Weg dorthin und dergleichen,
während die Annamiten in La-khün im Gegentheil behauptet
hatten, daß der Weg nach Annam in Phn-Wä seinen An-
fang nehme. Durch keine Drohungen, durch keine Geschenke,
nicht einmal durch Silberbarren war der Beamte dazu zu
bringen, dem Reisenden Träger und Führer zu stellen, und
dieser sah endlich ein, daß hinter dieser Weigerung kein Ge-
ringerer als der Fürst von ttbon stecke, dem dieses ganze
Gebiet untergeben ist. Offenbar hatte er Befehl gegeben,
den Franzosen bis La-khün und in die dortigen Berge vor-
dringen zu lassen, aber ihn daran zu hindern, die anuami-
tische Grenze zu überschreiten. Alle Versuche, die Leute
auch nur zum Reden und zu Erklärungen über ihre Hand-
lnngsweise zu bringen, scheiterten vollständig: so dumm sie
aussahen, so gewitzt zeigten sie sich, als es galt, den geschickt
gestellten Kreuz- und Querfragen des erbitterten Franzosen
auszuweichen.
Die kaukasischen Juden.
199
Die kaulasi
Nach Beendigung des Gesanges begleitet der Rabbiner
mit seinen Schülern den Bräutigam nach Hause. Hier
führen die Greise und Greisinnen vor dem Bräutigam eilten
Tanz auf — so will es die alte Sitte. Dann begeben sich der
Rabbiner, der Vater des Bräutigams und wenn noch andere
Söhne da sind auch diese, wie ferner die Gemeindeältesten
mit einigen Depntirten zur Braut und nehmen hier eine
Schätzung des Eigenthums der Braut vor, der Garderobe,
Geschirre, Betten, Geld, kurz der ganzen Mitgift; das Resul-
tat wird für den Fall einer etwaigen Ehescheidung in den
Ehekontrakt eingetragen. Jetzt kehren sie wieder zum Bräu-
tigam zurück und führen ihn zu allen denjenigen Personen,
welche iu diesem Jahre Verwandte durch den Tod verloren
haben und noch trauern. Der Bräutigam muß von ihnen
sich Verzeihung und die Einwilligung zu seiner Hochzeit er-
bitten. Freundlich und wohlwollend wird er empfangen,
erhält die Einwilligung und Geschenke noch obendrein; er
küßt dem Hausvater die Hand und wandert mit seinen Be-
gleitern weiter in das Haus der Braut. Hier ist alles zum
festlichen Empfang bereit. Man weist dem Bräutigam einen
besondern Platz an, um ihn herum sitzen seine.Jngendgenos-
sen und die Greise. Jetzt tritt die Mutter der Braut ein:
sie hält in ihren Händen eine hohe Fellmütze (Papacha),
einen silbernen Gürtel und ein rothseidenes Tuch und geht
auf den Bräutigam zu. Er erhebt sich von seinem Sitze,
kreuzt die Arme vor der Brust, beugt das Haupt, küßt der
Mutter unterwürfig die Hände und will vor ihr auf die Knie
fallen. Die Mutter verhindert dies, setzt ihm die Fellmütze
aufs Haupt, umgürtet ihn mit dem silbernen Gürtel und
befestigt das rothseidene Tuch am Gürtel, küßt ihn auf die
Stirn und — tanzt etwas mit ihn: herum. Jetzt erhebt
die anwesende Jugend ein Geschrei: goi schabasch! goi
schabasch! Die Mutter der Braut verschwindet und die
zur Familie der Braut gehörigen alten Männer und Frauen
tanzen vor dem Bräutigam — „nach der Weise ihrer Vä-
ter"; nach beendigtem Tanze küssen sie den Bräutigam und
verabreichen ihm Geschenke.
Unterdeß sitzt in einem besondern Gemach die Braut,
umgeben von ihren „Sogdnschen" (Brautführerinnen) und
Jungfrauen, welche singen und musiciren.
Aus dem Hofe ist der Bald ach in schon bereit; er besteht
aus vier langen Stäben, über welche ein seidenes Tuch ge-
breitet ist. Einige junge Leute halten die Stäbe, andere
stehen herum, mit brennenden Naphthasackeln in den Hän-
den, die Frauen dagegen sind mit brennenden Wachslichtern
versehen. Unter diesen Baldachin stellt sich der Bräutigam,
dann treten der Bater und der Rabbiner hinzu: alles wartet
auf die Braut. Nun geht der Bruder zur Braut, ruft sie
und sie erscheint geführt von ihren Sogduschen und tritt auch
unter den Baldachin. So geschieht es, wenn die Kopulation
auf dem Hofe der Braut erfolgt; findet sie aber in der Syna-
goge statt, so reitet die Braut dahin auf einem guten Roß,
welches der Bruder am Zaume führt; die Sogduschen eben-
falls zu Pferde mit brennenden Lichtern in den Händen fol-
gen ihr. Mit der Braut zugleich stellen sich auch ihr Vater
und ihre etwaigen Brüder unter den Baldachin. Der Rab-
biner vollzieht nun die Trauung genau so, wie bei den
scheu Jude n.
europäischen Juden, d. h. nach den religiösen Bestimmungen
der Talmudisten. Doch ist eine kleine Differenz: Bei den
europäischen Juden muß die Braut sieben Mal um den
Bräutigam herumgehen, bei den kaukasischen Juden kennt
man diesen Gebrauch uicht. Nachdem der Rabbiner alle
Gebete u. s. w. verlesen hat, schreien alle Anwesenden laut
Hurrah! Die Sogduschen führen die Braut hervor, der
Bruder fetzt sie auf das bereitstehende Roß, die Jünglinge
schießen ihre Gewehre ab, die Schwester der Braut (Enga)
oder eine andere ihr nahe verwandte Jungfrau mit einem
brennenden Lichte in der Hand besteigt gleichfalls ein Roß
und folgt der Braut, deren Pferd der Bruder führt: die
übrige Jugend folgt zu Fuß und geleitet die Braut bis zum
Hause des Bräutigams. Unterdeß bleibt der Bräutigam
noch unter dem Baldachin, während der Rabbiner mit seinen
Schülern abermals ein Hochzeitslied absingt. Nach Beendi-
gung des Gesanges geleitet der Rabbiner mit seineu Schü-
lern den Bräutigam nach Hause.
Die Braut wird auf ihrem Wege vou der Stelle der
Trauung bis zum Hause, das sie aufnehmen soll, von allen
Frauen, welche aus ihren Häusern Hervorkommen, mit Reis
beworfen, das heißt, man wünscht der jungen Frau Frucht-
barkeit. Auch die Frauen, welche im Hause die Neuver-
mahlte empfangen, bestreuen sie mit Reis. Beim Eintritt
muß die Braut über ein auf die Schwelle der Thür gelegtes
Stück Eisen hinüberschreiten: das geschieht, weil es Gesund-
heit und Glück bringt. Dann reicht man der Braut zwei
Gläser, das eine mit Honig, das andere mit Oel gefüllt;
sie taucht die rechte Hand in das Oel, die linke in den Ho-
nig und schmiert ein wenig davon auf den Thürpfosten;
das geschieht zur Vorbedeutung eines angenehmen und sorgen-
losen Lebens. Beim Eintritt in das Haus tanzt der Brn-
der der Braut mit ihr eine „Lesghinka"; die Jugend schießt
und schreit Hurrah! Die Dienerschaft bringt Wein und alles
trinkt auf das Wohl der Braut. Mau führt die Braut in
ein besonderes Zimmer; bei ihr bleibt die Enga mit den
beiden Sogduschen. Ans jedem Hause werden drei nn-
gesäuerte Brote (tschurek) nebst Eiern und Fleisch zur
Hochzeit geliefert; an der Thür steht irgend jemand, der die
Gaben enipfängt. Gegen Abend versanuneln sich alle Dorf-
einwohner zur Hochzeitsfeier. Der Bräutigam sitzt; uebeu
ihm ist ein großes seidenes Tuch ausgebreitet, auf die-
fes werden die Geschenke, Geld oder verschiedene silberne
und goldene Gegenstände niedergelegt, welche die einzelnen
Personen glückwünschend darbringen. Neben dem Tuch steht
ein Mensch, welcher ausruft, wer etwas gegeben hat, z. B. „goi
schabasch! N. N. schenkt zu Ehren des Sohnes (der Toch-
ter oder des Bruders) 5 Rubel." Auch die Mutter des
Bräutigams tritt ein, begleitet vou ihren Verwandten; sie
hält einen Teller, auf welchem drei verschieden gefärbte
Tfchurek (ungesäuerte Brote) liegen; auf jedem Brote stehen
drei dünne brennende Wachslichtchen, daneben liegen drei Eier
und drei Aepfel; in den Aepfeln stecken Münzen. Die Mut-
ter übergiebt den Teller dem Sohne, während der Ausrufer-
laut mittheilt, wie viel Geld die Mutter und wie viel die
Verwandten geben. In ähnlicher Weise sammelt auch die
Braut Geschenke ein. Sobald die Darbringung der Ge-
200 Die kaukas
schenke beendet ist, empfängt der Bräutigam alles in Gegen-
wart von Zeugen, und nun setzt sich Alles zum Nachtmahl.
Nach dem Essen kann der, welchem es beliebt, nach Hause
gehen, ein Theil der Gäste bleibt da, um beim Klange der
Trommeln und der „ S it r n e n" (ein Saiteninstrument) bis
zum srUhen Morgen zu tanzen. Um Mitternacht kommen
die Enga und die Sog duschen aus dem Gemache der
Braut und die „Schaffer" führen den Bräutigam hinein.
Nachdem das junge Paar eine Weile allein gewesen, kommt
der junge Ehemann wieder hervor und sofort begeben sich
die Sogduschen mit der Enga wieder zur jungen Ehefrau.
Der Ehemann zieht sich in ein besonderes Gemach zurück
und die Schaff er schießen ihre Gewehre ab zum Zeichen,
daß alles bereits in Ordnung. Die junge Frau aber ver-
läßt ihr Lager nicht vor sieben Tagen, während dessen wird
sie von den Sogduschen und der Enga bedient; alltäglich
kommen die Gespielinnen zu ihr — sie zu erheitern und zu
trösten. Am Sabbath oder auch an dem den sieben Tagen
folgenden Mittwoch versammeln sich alle jungen Männer
und Jungfrauen im Haufe der Neuvermählten, die Männer
beim Ehemann, die Jungfrauen bei der Ehefran und schnuin-
sen, singen und tanzen zum letzten Mal: jetzt hat das junge
Paar endlich seine Freiheit und kann seinen eigenen Geschäf-
ten nachgehen.
Bekanntlich Heirathen die europäischen Juden nur eine
Frau, allein da das Gesetz Mösts die Vielweiberei nicht ver-
bietet, so nehmen die kaukasischen Inden nach dem Gesetz und
der Sitte ihrer Bäter und nach dem Beispiel der musel-
männischen Stämme, zwischen welchen sie wohnen, mehr als
eine Frau, doch nicht mehr als drei.
Wenn eine Frau in Kindsnoth ist und die Geburt
uicht erfolgen will, so nimmt man Erde vom Grabe einer Per-
son, welche im Verlauf der letzten 40 Tage gestorben, thut die
Erde in ein Glas mit Wasser und giebt davon der Kreisen-
den zu trinken; hilft das Mittel nicht, so holt man noch
ein Mal Erde, aber tiefer aus dem Grabe, und verfährt wie
früher. Aber dieses geschieht alles ohne Wissen der Rabbi-
ner, welche ein derartiges Heilverfahren nicht billigen.
Im Dorf M am rasch (Gebiet von Kjnrinsk) wurde,
während der Verfasser dort weilte, iu dem Quartier, das er
iune hatte, ein Knabe geboren. Die Kreisende lag auf dem
Erdboden auf Stroh in einem besondern Gemach. Sobald
der Hausvater erfahren hatte, daß fein Weib ihm einen Sohn
geboren, kam er herbei, und das erste, was er that, war, Lichte
anzuzünden und an die Wände des Zimmers kleine Papier-
zettel zu heften, auf welchen Namen der verschiedenen Schutz-
enget des Neugeborenen geschrieben waren. Allen Frem-
den war der Zutritt zur Wöchnerin nicht gestattet. Erst
nach einigen Tagen fingen die Frauen aus dem Dorfe an,
die Wöchnerin zu besuchen. Acht Tage nach der Geburt
wurde das Knäblein beschnitten. Der Schächter, welcher
hier die Stelle des Rabbiners versah, vollzog mit Geschick-
lichkeit die Operation. Die Operation kann entweder in der
Synagoge oder im Hause der Wöchnerin vor sich gehen.
In Grosnoje wohnte der Verfasser im December 1868
in kalter Zeit einer Beschneidung auf dem Hofe der Wöchne-
rm bei. Trotz der großen Kälte versammelte sich die ganze
Gesellschaft auf dem Hofe; nach Beendigung der Operation
wurden lange Tifche errichtet, und Krüge mit Wein und
Branntwein, gebratene Hühner und Hähne daraufgestellt.
Die Anwesenden, bis zu den Knien im Schnee stehend, zer-
theilten ohne Messer und Gabel das Geflügel und verspeisten
es ohne Brot.
Juden.
Krankheit. Tod. Begräbniß.
Die kaukasischen Juden leiden an mannigfaltigen, je
nach den verschiedenen Lokalitäten verschiedenen Krankheiten.
Vorherrschend sind sie mit allerlei Fiebern behastet; dabei
leiden sie häufig an den Augen. Sehr verbreitet ist die
Skrophelfucht und Schwindsucht, besonders in den Dörfern
Andrejewo Akfajerskaja und Kostek (Terek-Gebiet).
Sobald jemand erkrankt ist, so werden Hausmittel an-
gewandt, mitunter auch der Dorfzauberer herbeigeholt; die
Hülfe eines gebildeten Arztes wird selten in Anspruch ge-
nommen. Häufiger nimmt man seine Zuflucht zu den aus
Persien anreisenden Badern, welche verschiedene Kräuter und
Arzneien verordnen und sofort an die Kranken verabfolgen;
zu diesen haben die Juden volles Vertrauen, wogegen sie vor
den gebildeten Aerzten und deren Mitteln große Scheu hegen.
Ist ein Dorfbewohner erkrankt, so sind die anderen ver-
pflichtet, ihn täglich zu besuchen. Stirbt der Kranke, so ver-
sammelt sich sofort eine große Gesellschaft im Sterbehause.
Der Todte, mit einer schwarzen Decke verhüllt, liegt ans dem
Erdboden, um ihn herum stehen brennende Kerzen — der
Rabbiner, dessen Schüler und einige andere Personen sitzen
im Kreise um den Todten und murmeln Gebete. Die Leiche
bleibt liegen, bis die Todtengewänder, Tachrichim, fertig
sind. Die ganze Gesellschaft der Verwandten und Bekann-
ten sitzt vor dem Hause oder auf dem Hofe und hilft an
jenen Kleidern nähen. Gleichzeitig sind die Klageweiber
auf dem Hofe erschienen; sie sitzen im Halbkreis und erfüllen die
Luft mit ihrem widerwärtigen Geheul. Ein Weib, auf den
Knien liegend, lobt die Verdienste des Verstorbenen; sie schlägt
mit geballten Fäusten sich ins Gesicht, aus den Kopf und
die entblößten Brüste so heftig, daß die danebensitzenden ihr
die Hände halten. Sobald das Weib eine Pause eintreten
läßt, schreien die anderen: hu ja alla! huja alla! Dabei
schlagen anch sie auf ihre Brust und ihren Kopf und machen
derartige Bewegungen, verzerren derartig ihr Gesicht, daß
man nur mit Entsetzen sie anblicken kann. Mitunter geräth
das eine oder das andere Klageweib ganz außer sich — die
mit Blut unterlaufenen Augen sprühen gleichsam Funken,
thierische Wildheit spricht aus dem Gesicht. Wie sie so da-
sitzen mit gelösten Haaren in alten zerrissenen Gewändern,
nur die eine oder die andere in ein weißes Tuch gehüllt —
da treten auch einige Männer, zwei oder drei, heran; hören
eine Weile zu, nicken mit dem Kopfe und schluchzen wie die
Kinder; doch bald, nach einigen Minuten, ziehen sich diese
Männer zurück, um anderen Platz zu machen.
Sind die Todtengewänder fertig, so wird die Leiche hin-
ausgetragen aus dem Hause in ein unterdeß errichtetes Zelt.
Daneben wird Feuer angemacht und Wasser zum Waschen
der Leiche erwärmt; dann wird die Leiche gewaschen. Endlich
wird die Leiche in die aus weißem Baumwollzeug bereiteten
Gewänder gehüllt: zuerst ein langes Hemd mit einer Kapuze
(Baschlik) und mit Aermeln, welche unten durch Handschuhe
verschlossen sind, so daß sowohl der Kopf wie die Hände
vollständig bedeckt sind; dann weite Hosen mit daranbesestig-
ten Strümpfen, um gleichzeitig die Füße zu verhüllen. Fer-
ner wird die Leiche in eine folche Binde gewickelt, wie die
Juden sie bei ihren Gebeten gebrauchen (tatst oder talis
genannt), und zum Schluß wird ihr noch ein langes Todten-
gewand angezogen. Der so sorgfältig angekleidete Todte
wird auf eine Bahre gethan und entweder mit einem schwarzen
oder einem rothen, aus persischem Seidenzeng gemachten Tuch
bedeckt. An einigen Orten wird für jeden Todten eine be-
sondere Bahre aus zwei hölzernen Stangen, welche durch
Die kaukasi
ein leiterartiges Flechtwerk unter einander verbunden sind,
angefertigt; diese Bahre wird nach geschehenem Gebrauch
auseinander genommen und das Holz verbrannt. Man
hält es für eine Sünde, fertige Bahren zu haben, welche in
Erwartung eines Todten da stehen; man meint, dann müsse
jemand sterben. An anderen Orten, wo mau diesen Aber-
glauben nicht hegt, steht in der Synagoge eine feste solid
gearbeitete Bahre, welche zu allen Begräbnissen benutzt wird.
Die Weiber begleiten die Leiche nur bis zur Hofthür; daun
kehren sie ins Haus zurück, gehen auseinander und loben die-
jenigen, welche sich besonders bei den Klagen um den Todten
auszeichneten. Die Männer tragen allein die Leiche auf den
Begräbnißplatz hinaus; unterwegs bleiben sie von Zeit zu
Zeit etwas stehen und lesen ein Gebet oder einen Psalm.
Kurz vor dem Begräbnißplatz macht der Zug abermals Halt;
die Anwesenden stellen sich in einen Halbkreis auf, die Nab-
biner lesen Gebete und das Volk wirft kleine Stückchen zer-
brochener alter asiatischer Münzen in die Lust, um dadurch
die bösen Geister zu besänftigen. Dann trägt man die Leiche
zum Grabe, welches eine Tiefe von 2^/z Arschin (circa 1,7
Meter) und mehr hat. Der Todte wird auf den Rücken,
das Gesicht nach oben, in das Grab gelegt; in der Höhe einer
Arschin (70 cm) etwa werden Bretter darüber gedeckt, so
daß der Todte ganz frei liegt, und dann wird erst die Erde
darauf geschüttet. Auf das Grab wird ein Grabstein mit
einer Inschrift gefetzt: die Inschrift enthält den Namen des
Verstorbenen, den Tag und das Jahr — nach hebräischer Zeit-
rechnung — des Todes; mitunter werden die guten Werke
des Verstorbenen aufgezählt.
Nachdem die Anwesenden das Grab verlassen haben,
reißen sie drei Mal etwas Gras auf dem Begräbniß ab,
werfen es rückwärts über die Schulter und rufen, „es folle
der Tod auf ewig aufhören". Nach der Heimkehr vom Be-
gräbniß waschen sich alle die Hände, stellen sich in einen
Kreis, der Sohn und die nächsten Anverwandten des Todten
in die Mitte und lassen abermals durch den Rabbiner ein
Gebet lesen. Schließlich wandern alle in das Haus des
Todten, woselbst ein Mahl ihrer wartet; wiederum, werden
Gebete verlesen und damit ist die Feierlichkeit beendet. Einen
ganzen Monat oder ein ganzes Jahr brennt im Zimmer,
wo der Todte lag, eine Lampe, einen ganzen Monat hindurch
werden drei Mal täglich Gebete gelesen und Tage lang kla-
gen die Weiber um den Todten. Nach Ablauf eines Mo-
nats findet im Hause dann noch ein Gastmahl auf Kosten
der Erben statt, wobei abermals Gebete verlesen werden.
Und noch ein Mal wird nach Verlauf eines Jahres der Todes-
tag durch ein großes Mahl festlich begangen. Zum Zeichen
der Trauer um den Todten wird das Obergewand amKra-
gen eingerissen und das zerrissene Gewand das ganze Jahr
hindurch getragen. In Kuba erzählte man dem Verfasser,
daß in einigen Dörfern folgende Sitte herrscht: ist ein tap-
serer junger Mann gestorben, so zäumen die Weiber das
Roß des Todten, kleiden ein junges Weib in die Gewänder
des Verstorbenen und setzen sie aufs Roß, daun weinen sie
und klagen um den Todten; das geschieht mehr als ein Mal
im Verlauf des Jahres uach dem Tode. Im Uebrigen sin-
den die Weiber an ihren Klagen besondern Gefallen: einst
hörte der Verfasser bei Ankunft im Dorfe Jangi-Kent nahe
bei Madshalis weiblichen Gesang, als er näher herznkam,
so erfuhr er, daß es sich um eine Todtenklage handle; doch
wie erstaunte er, als man ihm mittheilte, es betreffe die
Klage einen, der vor 25 Jahren bereits verstorben!
Glauben au die Unsterblichkeit der Seele und an
die Seelenwanderung. Vorstellung über die Hölle
und das Paradies. Die an die Unsterblichkeit der Seele
anknüpfenden Vorstellungen sind sehr verschieden. Die einen
Globus XXXVIII. Nr. 13.
>en Juden. 201
glauben, daß die Seele, nachdem sie den Körper verlassen,
ein ganzes Jahr lang im Grabe bleibt und dann erst in den
Himmel zurückkehrt, von wo sie gekommen. Andere glauben,
daß die Seele sofort nachdem sie aus dem Körper entwichen in
den Himmel hinausfliege; und wieder andere meinen, daß die
Seele ein Jahr lang dort an dem Ort verweile, wo sie den Kör-
per verlassen, deshalb brennt an dieser Stelle einfach eine Lampe.
Einige behaupten, daß die Seele alltäglich das Grab auf
dem Begräbniß besuche; deshalb ist es an einigen Orten
Brauch, Wasser auf den Begräbnißplatz zu stellen, damit die
menschliche Seele darin sich baden und von ihrer sterblichen
Behausung reinigen könne, bevor sie sich in die Himmel er«
hebe. Sie glauben auch an die Wanderung der menschlichen
Seele durch verschiedene reine und unreine Thiere. Die
Seele wechselt häufig ihren Sitz, und bleibt in den Thieren
bald längere, bald kürzere Zeit — dabei leidet sie. Dann
nach Ablauf einer Frist gelangt die Seele in die Hölle,
wird dort durch Feuer von ihren Unreinlichkeiten befreit und
kommt schließlich an den ihr bestimmten Ort zur Ruhe.
Die Hölle stellen sich die kaukasischen Inden als eine endlose,
große Halle mit vielen Abtheilungen vor. In jeder Ab-
theilung sind Engel des Verderbens und Teufel, welche die
Sünder qualm, sie werfen sie in Kessel mit siedendem Was-
ser, setzen sie auf glühende Roste, beschmieren sie mitNaphtha
und zünden sie an, schlagen sie mit glühenden eisernen Nu-
then, schleudern sie in Abgründe, werfen sie dnrch die Lnst
von einem Ende der Welt zum andern. Am Sabbath sin-
det keine Strafvollziehung statt, die Tensel und die Sünder
ruhen und erholen sich. Am Sabbath-Abend aber erhebt
sich wieder Wehgeschrei und Klagen.
Das oberste Himmelsgericht wird als eine große Halle
vorgestellt, in welcher eine unzählbare Menge von Lichtern
brennt: die Rabbiner und die großen Leute der alten Welt,
grauhaarige Greise, sitzen in weißen langen Gewändern an
langen Tischen. Hier befindet sich auch eine große Wage, auf
welcher die guten und bösen Thaten der Menschen gewogen
werden. Die Halle ist stets mit allerlei Todten gefüllt,
welche von allen Seiten der Welt zusammenkommen; die
Neuangekommenen können ihre Verwandten und Vorsahren
sprechen; sie können für die Vernrtheilten bitten, daß ihnen
die Strafen erleichtert werden. Hier erhält der gute Mensch
für feine guten Thaten eine Belohnung, d. h. nachdem die
Seele von den Sünden befreit ist, wird sie in das Paradies
geschickt.
Das Paradies ist im höchsten Himmel, wo der Thron
des Weltenschöpfers steht; vor ihm lobt die ungezählte
Menge der Engel und Cherubim andachtsvoll den Namen
Jehovah's Zebaoth — stets bereit seinen Willen zu erfüllen.
Alte fromme Leute, welche sich durch ihre guten Werke auf
der Erde auszeichneten, sitzen da und erfreuen sich des ewigen
unaussprechlichen Anblicks der Größe Gottes. Jede männ-
liche oder weibliche Seele hat ihren besondern Platz. Die
guten Leute sitzen in goldenen und brillantenen Sesseln nahe
bei Gott dem Herrn; die anderen in weiterer Ferne.
Kultus. Die Gebete sind bei den kaukasischen Ju-
den dieselben, wie bei den europäischen, meist nach dem Ritus
des berühmten Rabbiners Asnloi. Sie verrichten ein
Morgengebet beim Aufgang der Sonne, ein Abendgebet beim
Untergang der Sonne, sobald die Sterne sich am Himmel
zeigen. Die Synagogen sind bei den kaukasischen Juden
durchweg nach demselben Plan in tatarischem Stil gebaut;
sie sehen den Moscheen der Mohammedaner ähnlich. Die
Frauen besuchen die Synagoge nie, doch kommen einzelne
herzu, und stellen sich unter die Fenster der Synagoge, bis
der Gottesdienst beendigt ist. Gewöhnlich verliest nur der
Rabbiner die Gebete; die übrigen Anwesenden stehen und
26
202 Die kaukas
sitzen schweigend da und hören zu; der Rabbiner sieht zur
Zeit des Gebetes, mit dem Gesicht nach Westen gekehrt, zum
Tempel Salomonis in Jerusalem.
Die Kinder erhalten so alte hebräische Namen, wie die-
selben unter den europäischen Juden gar nicht in Gebrauch
sind. Es sind solche männliche wie weibliche Eigennamen,
welche zur Zeit der Wanderung durch die arabische Wüste,
zur Zeit der Nichter und zur Zeit der Könige in Israel
gebraucht worden sind. Die kaukasischen Juden müssen hier-
nach die Nachkommen jener Inden sein, welche zur Zeit der
ersten Existenz des Tempels von Jerusalem durch Salma-
nassar von Assyrien in die Gefangenschaft geschleppt worden
sind. (Der Verfasser führt eine große Reihe von Namen
an, welche wir fortlassen.)
Sprache, Schrist und Schulwesen. Die kankasi-
schen Juden haben offenbar nur in der ersten Zeit nach ihrer
Uebersiedelnng ihre nationalen Eigentümlichkeiten und ihre
Sprache sich bewahrt. Später, zur Zeit der persischen Herr-
schast in Trauskaukasien, haben sie sich den altpersischen
Dialekt so angeeignet, daß aus der Vermischung des Alt-
persischen mit dem Althebräischen und mit den zahlreichen
Dialekten der sie umgebenden Volksstämme der jetzt bei den
Juden im Gebrauch befindliche Jargon entstanden ist.
Als Schriftlichen dienen bei diesem Jargon die sogenannten
assyrischen, d. h. die hebräisch-quadratischen.
Während der muselmännischen Herrschaft im Kaukasus
wurden die Inden fast ganz tatarisirt, sie nahmen viel von
der Lebensweise, den Gebräuchen und Sitten der Mnselmän-
ner an, behielten jedoch ihre Sprache (die farsidotatische) bei.
Allmälig eigneten die Juden sich noch Eigenthümlichkei-
ten derjenigen Volksstämme an, zwischen denen sie gerade
lebten.
Die Kenntniß der Gesetze der jüdischen Religion sowie
die Kenntniß der althebräischen Sprache ist nicht sehr ver-
breitet, selbst nicht unter den Rabbinern. Der Verfasser
konnte nur mit Schwierigkeit sich mit den Rabbinern ver-
ständigen.
Die Kenntniß des Lesens und Schreibens der Sprache,
welche am Aufenthaltsort der Juden gerade gesprochen wird,
ist trotz der Wichtigkeit nicht sehr verbreitet. In den Dörfern
wird ein muselmännischer Mulla, in den kleinen Städten
ein kundiger Tatare dafür bezahlt, daß sie für die Einzelnen
die Briefe schreiben oder irgend welche andere Papiere ab-
fassen. Uni den Unterricht der Kinder kümmern sie sich
wenig oder gar nicht. Als Lehrer fungiren die S ch ä ch t e r,
welche auch sonst die Obliegenheit der Rabbiner erfüllen.
Sobald diese kein Fleisch zn schächten haben, so beschäftigen
sie sich mit dem Unterricht der Kinder. Sic lehren die Kna-
ben lesen und schreiben und machen sie mit dem Inhalt der
Bibel bekannt, jedoch nicht mit dem hebräischen Text, son-
dern mit einer sarsisch-tatischen Übersetzung. Für den Unter-
richt wird äußerst wenig au Geld oder iu Geschenken bezahlt.
hen Juden.
Wer Schächter oder Rabbiner werden will, begiebt sich nach
Derbent zn dem dortigen Oberrabbiner oder in irgend
einen Ort nach Rußland. Dabei fassen sie nur die zum
Schächten uothweudigen Fertigkeiten und Kenntnisse ins Auge,
weil dieser Berus seinen Mann nährt; um anderes Wissen
kümmert sich der jüdische Jüngling nicht. Wie sollte er sich
auch andere Kenntnisse aneignen? Ein solcher kaukasischer
Judenjüngling, der nach Rußland zu seinen Glanbensgenos-
sen kommt, versteht weder den Jargon der russischen Juden
noch Russisch, um sich gehörig mit ihnen zu verständigen;
er ist auch nicht im Stande, sich in so kurzer Zeit alle jene
Sprachfertigkeit u. s. w. zu erwerben; er begnügt sich mit
dem Allernothwendigsten, was zu seinem Handwerk gehört.
Kommt er nach Hause, so gilt er daselbst doch als ein gelehr-
ter Rabbiner und ist ein angesehener Mann.
In jeder jüdischen Gemeinde im Kaukasus finden sich
übrigens doch immer einzelne Individuen, welche Alt-
hebräisch verstehen, d. h. wenigstens den Urtext der Bibel
lesen können; doch sind solcher wenig. In Derbent z.B., wo
200 jüdische Familien ^) leben, giebt es nur 20 Personen,
welche Hebräisch verstehen; in Arag unter 90 Familien
nicht mehr als 8 Personen, in Kuba unter 1000 Familien
etwa 25 bis 30 Personen, in Grosnoje unter 200 Fa-
milien nur 6 bis 6 Personen; in den anderen Dörfern
(Aul) wohl nur allein die Rabbiner, selten ein anderer.
Sofort nach meiner Ankunft in einem jüdischen Dorfe
— schildert der Verfasser — suchte ich die Schule auf.
Man führte mich gewöhnlich in ein kleines enges in der
Nähe der Synagoge gelegenes Haus oder in das Quartier
des Rabbiners. Schüler waren wenige vorhanden; meinem
Dorfe von 200 Häusern nicht mehr als 15 Schüler. Der
Rabbiner sitzt auf dem Erdboden oder auf einem Teppich,
um ihn — die Knaben; wenn sie die Bibel oder Gebete
lesen, nicken sie mit dem Kopfe, wie ihr Lehrer. Sie ge-
brauchen eine Ueberfetzung der Bibel und lesen sie mit tata-
rischem Acceut; gedruckte hebräische A-B-C-Bücher sind sel-
ten zu finden; meist zeichnet der Rabbiner die Buchstaben
an eine Tafel und die Kinder malen sie nach. Alle schrei-
ben nach Art der Muselmänner auf den Knien und sind
so sehr daran gewöhnt, daß es ihnen schwer fällt, am Tisch
zn schreiben.
In Derbent existirt eine Art Rabbinerfchnle in einem
großen, hellen, geräumigen und reinen Zimmer. Die Zög-
linge, welche den Kursus hier beendigen, erhalten von dem
dortigen Oberrabbiner ein Zengniß als Schächter oder Rab-
biner. Die andere Schule in Derbent, in Grosnoje, Cha-
sab-Jurta, Temir-Chan-Schnra und in den Dörfern find in
traurigem Zustande.
i) Der Verfasser führt nirgend statistische Daten über die
Kopfzahl der Juden an, sondern zählt nur die Häuser.
Dr. Carl Emil Jung: Australische Typen und Skizzen.
203
A u st r a l i s ch e Typen und Skizzen.
Von Dr. Carl Emil Jung, früherem Jnspector der Schulen Südaustraliens.
IXi).
Der S q u a t t e r.
Die Aristokratie Australiens ist das Sqnatterthnm,
eine Aristokratie, die sich nicht an den Besitz von Land knüpft,
nicht eine Begründung ihrer Ansprüche in dem Alter ihres Ge-
schlechtes sucht, sondern gleich den Patriarchen der biblischen
Zeit und den tatarischen Häuptlingen unserer Tage ihren Reich-
thnm in Herden von Schafen und Rindern hat. Zuweilen
gesellt sich ein fester ländlicher Besitz zn diesem beweglichen
Eigenthum; es ist die Ausnahme, aber nicht die Regel.
Der Squatter schlägt seineZelte auf und baut seine Hüt-
ten, wo der Landmann nicht pflügt. Wie dieser vorrückt,
so weicht er zurück in das Innere. In früheren goldenen
Zeiten — golden für den Squatter, nicht für den Acker-
bauer — war es gestattet, Strecken Landes für einen
Pfifferling zu erwerben. In den ersten Tagen von Neu-
Süd-Wales konnte man Land in unbeschränkten Quantitä-
ten für 5 Sch. per Acre kaufen. Sträflinge, welche sich
gut geführt hatten, wurden mit kleinen Landparzellen be-
schenkt. Die Krone gab an Kolonisten, welche sich Ber-
dienste um die neue Ansiedelung erwarben, ungeheure Striche
fort. Aber heute ist das nicht mehr möglich.
Die Gesetze der Kolonien streben allesammt gegen die
Vereinigung von bedeutendem Grundbesitz in einer Hand.
Das Land, auf dem des Squatters Herden weiden, ist ge-
pachtet. Es ist gepachtet auf 7, 14, 21 Jahre, aber die
Regierung kann jeden Augenblick den Kontrakt kündigen, wenn
sich das Bedürfniß nach Ackerland herausstellt. Im Allgemei-
neu mag man sagen, daß der Squatter für Weidezwecke
uicht dieselben Summen zahlen kann als der Ackerbauer.
Aber das Land, welches für jenen tauglich ist, zeigt sich für die-
feu vielleicht werthlos. Vielleicht ist der Boden bergig, fandig,
salzig, vielleicht ist ihm der Regen versagt, vielleicht ist das
gute Land noch zu entlegen für den Verkauf der Produkte.
In Amerika konnte sich der Hinterwäldler tief im Innern
niederlassen und die Erzeugnisse seines unerschöpflichen
Urlaubes auf Riesenflößen den Mississippi hinunterführen. Au-
streckten entbehrt eines solchen Stromes, die Ufer des Murray
find zudem unfruchtbar, ein Floß aus den Stämmen der
Encalypten gezimmert würde wie Blei auf den Boden des
Flusses versinken. Je weiter man in das Innere dringt,
desto geringer die Niederschläge, desto unwahrscheinlicher die
Aussicht auf erfolgreichen Ackerbau. Das Klima zieht eine
sichere nnüberschreitbare Grenze, aber wo für den Land-
mann kein Raum ist, da mag der Viehzüchter leben. Bis
weit in das Innere hinein reichen diese Stationen der so-
genannten Pionniere australischer Kolonisation. Wir sahen
dort die ersten primitiven Anfänge der Niederlassungen,
Fühlhörner, welche die Kolonie versuchend ausstreckt, die sie
oft genug fchwer verletzt einzog, um immer wieder anfs
Neue den Versuch zu machen, der endlich doch gelingt.
Das Pachtgeld, welches der Squatter zahlt, richtet sich
nach der Güte des Landes. Es zerfällt in Klassen und
jede Klasse wird nach der Fähigkeit, Vieh zu ernähren, ge-
*) S. „Globus" XXXYII1, S. 170.
schätzt. Für jedes Stück, welches auf dem Lande geweidet
werden kann, ist eine Abgabe zu zahlen. Es kommt nicht
darauf an, ob das Vieh wirklich gehalten wird, das Pachtgeld
wird dennoch eingefordert. Wenn aber die abgeschätzte Zahl
überschritten ist, so muß auch für die Ueberzahl die Abgabe
erlegt werden. Die Billigkeit der ersten Bestimmung wird
ohne Weiteres zugegeben werden, die zweite mag ungerecht
und bedrückend erscheinen. Aber in der That ist sie durch
die Verhältnisse geboten und gegen die Habgier gerichtet,
welche sich gern auf Kosten anderer bereicherte.
Es versteht sich, daß in Australien Schafe und Rinder
ihre Haut und ihr Fleisch selber zu Markte tragen. Sie
haben ihren Weg durch die Pachtungen anderer zu nehmen.
Nun mag ein Pächter, der das Gras seiner eigenen Wei-
den ausgezehrt hat, mit seinen Herden auf diese Weise durch
die Ländereien seiner Nachbaren reisen und sie auf deren
Kosten erhalten. Das Gesetz schreibt vor, daß nicht über
eine viertel englische Meile von der Straße abgewichen
wird und daß man sechs englische Meilen per Tag reist.
Beide Bestimmungen sind sehr leicht zu umgehen. Aber
aus alle Fälle leidet der mit Gras reicher bedachte Squat-
ter unter der Noth seines ärmern Genossen mit und das
Gesetz strebt an, den leichtsinnigem und waghalsigern
Viehzüchter haushälterischer und bedächtiger zu machen.
Zu Zeiten großer Dürre waren nahezu alle Herden auf der
Wanderschaft in der Hoffnung, irgendwo Futter zu finden,
das auf der eigenen Station fehlte; dieser Versuch war sehr
oft vergebens.
Die Sqnatter's homesteads, die eigenen Wohnsitze oder
doch die ihrer Stellvertreter, haben ein sehr verschiedenes
Aussehen je nach der Größe des Besitzes und der Lage des-
selben. Das prächtige schloßartige Gebäude in der Nähe
der Städte ersetzt weiter nach Innen das niedrige aber komsor-
table Wohnhaus, umringt von zahlreichen Schuppen und Hüt-
ten, aber an den äußersten Grenzen begnügt sich der Squat-
ter mit einer rohen Hütte aus unbehauenen Stämmen oder
mit dem leicht zu transportirendenZelte. Hier ist noch alles
in unverfälschter Ursprünglichkeit. Der Squatter „dort
oben" ist noch der wahre Nomade. Unbesetzte Weidegründe
breiten sich vor ihm aus, sie stehen ihm offen, und nur die
Notwendigkeit, mit dem hinter ihm Wohnenden Fühlung
zu behalten, um nicht für seine Existenz auf das Fleisch
seiner Herden allein angewiesen zu sein, hindert ihn, weiter
zu schweifen. Ein Leben hier hat seine Gefahren, seine Ent-
behrungen und sehr wenig Reize.
Für ein solches Lebendigbegrabensein findet sich auch nicht
in dem materiellen Erwerb sichere Entschädigung, denn Vieh-
zucht hier im Innern ist nicht viel mehr als eine Lotterie.
Ein Paav Jahre mögen den Squatter reich, ein einziges
zum Bettler machen. Doch findet sich immer eine Zahl
von unternehmenden Leuten, die alle Gefahren anf sich
nehmen.
Diese „Stationen" züchten fast ausschließlich Rinder.
Die Zucht empfiehlt sich aus mehreren Gründen. Sie
26*
204 Dr. Carl Emil Jung: A
verlangt weniger Arbeitskräfte, daher weniger Ausgaben an
Löhnen und Proviant, ein sehr wichtiges Moment in Ge-
geuden, wo die Touue Mehl der schlechtesten Sorte zuwei-
leu an 90 Pf. St. kostet, und außer dem Fleisch, das der
Squatter selber erzengt, sich gar nichts für den menschlichen
Unterhalt bietet. Und die Rinder können ihr Fleisch sel-
ber zu Markte tragen; die Wolle der Schafe kann oft nur
mit großen Kosten zum Hafenplatze geschafft werden, wenn
der Versandt überhaupt möglich ist. Mir begegnete es,
daß die Wollernte eines ganzen Jahres in Bonrko verdarb,
weil der Darling für die Schifffahrt zu uiedrig und die
Landstraßen nach Sydney durch Gegenden führten, auf
denen meilenweit kein Halm oder Strauch zu sehen war,
an dem das Zugvieh Nachts sich hätte erholen können. Und
der Schafzüchter rechnet auf den Wollertrag vorzüglich zur
Deckung seiner Ausgaben, namentlich in den ersten Jahren,
wo man vom Verkauf von Schafen absieht.
In dieser Region bestehen noch ziemlich primitive Ver-
Hältnisse. Herr und Diener stehen hier nicht fern von ein-
ander, obfchon der erste immer noch Mr. So nud So ist
und der zweite Jack, Charley oder foust wie heißt. Kaum
daß der Squatter seine eigene Hütte hat, welche er mit den
Vorräthen theilt, aber die Mahlzeiten nimmt er sicher bei
dem gemeinsamen Feuer mit seinen Arbeitern ein. Sie
schenken ihre Zinnbecher aus demselben Theekessel voll, schnei-
den sich Stücke von demselben Stück Brot, das in der Asche
gebacken wurde, holen sich ihr Fleisch aus derselben Pfanne.
Mit dem Verschwinden von Tellern, Gabeln und Löffeln
brechen manche Gewohnheiten und Vorurtheile nieder. Gleiche
Arbeiten, gleiche Gefahren schließen näher an einander.
Wie der Offizier in der Armee muß der Squatter im fern-
sten Bnsch fähig sein, alle Arbeiten zu verrichten, welche
die Umstände von ihm fordern. Er ist im Nothfalle fein
eigener Schmied, Sattler, Schlächter und Zimmermann, er
muß verstehen ein Pferd zuzureiten und einzufahren, oder
einen jungen Ochsen an das Joch zu gewöhnen. Sein
Arm muß sühig sein, die Axt zu schwingen, sein Auge beim
Schuß scharf und sicher sein. Schon anders sieht es aus,
gehen wir einen Schritt weiter zurück, und in stuseuweiser
Folge bessert sich die äußere Erscheinung der Stationen,
je näher wir den Ackerbaudistrikten kommen. Wenn auch
menschliche Wohnungen noch in weiten Entfernungen ver-
streut sind, so gewahren wir doch überall Spuren menschli-
cher Thätigkeit. Starke Verzännnngen von rohen Pfosten
und vielfachen Linien von Eisendraht, wo der Bnsch reich-
lich ist, ein Verhau von Bäumen und Zweigen dicht in ein-
ander geschichtet, oder von langen Stämmen auf kurzen
Querhölzern ruhend scheiden die großen Weidegründe — Runs
im australischen Englisch — in kleinere Abtheilungen. In
seltenen Fällen sind die Stationen durch Steinmauern ein-
geschlossen. Die letzte Art der Einfriedigung ist natürlich
sehr kostbar, bei weitem die kostbarste von allen, aber es
ist auch die beste und dauerhafteste uud sie schützt gegen die
große Gefahr, welche im Sommer durch Feuersbrünste
droht.
Es bedarf nur eines brennenden Zündholzes, um in
wenigen Stunden die von dürrem Grase wogenden Ebenen
auf viele Meilen weit in Brand zu setzen. Nichts vermag
diese Zerstörung zu hemmen, als ein Wechsel des Windes
oder das unwahrscheinliche Ereigniß eines Regenschauers.
Der Versuch, dem rasenden Elemente entgegenzutreten, hat
mehr als einem der Ansiedler das Leben gekostet. Nur die
Steinmauern können einen wirksamen Damm gegen das
verheerende Element geben, aber auch über sie springt zu-
weilen die Flamme, wenn der Wind sie auf seine Flügel
hebt. Aber die anderen Fenzen fallen und sie helfen außer-
irdische Typen und Skizzen.
dem noch das Feuer nähren und lange nachdem die schwarze
Asche von Gras und Strauch verweht ist, lauern noch in
den schwelenden Stämmen Gefahren, die ein Windstoß auf
noch unberührte Strecken tragen kann.
Daher sind die Gesetze zur Verhütung von Feuers-
gefahr während der trockenen Jahreszeit eingehend und
scharf: nur gewisse Materialien dürfen vom Schützeu als
Vorladung benutzt, nur -Zündhölzer, welche sich aus einer
besonders Präparaten Fläche und nicht anderswo entzünden,
dürfen gebraucht werden, aus offenen Pfeifen zu rauchen
ist verboten, um die Lagerfeuer muß in bestimmter Entser-
nnng ein Raum geschaffen werden, der von allem leicht
entzündlichen Gras und Gebüsch frei ist n. s. w.
Aber wenn auch die Kosten der Einzäunung groß siud
(sie schwanken je nach der Art und Güte zwischen fünf und
zwanzig uud huudert und fnnzig Pfund für die englische
Meile, und mit den zahlreichen Unterabtheilungen beträgt
die Gesammtlänge zuweilen mehrere Hundert englische Mei-
len), so ist auch die Ersparniß und der wirkliche Gewinn
bedeutend. Keine Ausgaben für Schäfer und eine Menge
anderer Leute und bessere und reinere Wolle. Sind nur
die Jahre günstig, so tilgt sich die Schuld wohl auch.
Der Squatter lebt hier schon bequemer. Zwar ist sein
Haus oft einfach, vielleicht aus rohen Steinen oder unbehaue-
nen Stämmen zusammengefügt, aber wenn auch das Am-
ßere rauh und abstoßend ist, das Innere ist freundlich und
komfortabel. Tapeten und Gemälde, Teppiche und ge-
fchmackvolle Möbeln versetzen uns aus der unfreundlichen
Umgebung heraus, und wenn sich Abends die Gesellschaft
zum Diner um den wohlbefetzten Tisch versammelt und
später im Drawingroom dem Spiel und Gesaug der liebens-
würdigen Wirthin oder ihrer Töchter lauscht, so vergißt es sich
leicht, daß man mitten in der Wildniß weilt. Doch lebt man weit
mehr unter der breiten Verandah als drinnen in den Zun-
mern. Weit und geräumig, gegen die Sonne mit Vor-
hängen geschützt, läuft sie um das Haus herum, und hier ißt
und trinkt sich's, plaudert und liest sich's an den herrlichen
Sommerabenden mit ihrer wunderbaren Klarheit uud zau-
krischen Lichtfülle so anmuthig, daß man gern den Voll-
mond hoch am Himmelsbogen sieht, ehe man das Lager
aufsucht.
Vom einfachen anspruchslosen Herrenhause zieheu sich
in langer Reihe den gewundenen Lauf des Creek entlang,
bald am einen bald am andern Ufer, dem Blick durch kuor-
rige Eucalypteu halb verborgen, die zahlreichen Gebäude
der Station. Je größer ihre Entfernung, desto größer der
soziale Abstand ihrer Bewohner. Da ist zunächst Bache-
lors Hall, der Aufenthalt der Verwalter, ebenso mit Küche
und Koch versehen, als das Haus des Besitzers, daneben das
große Gebäude, in dem alles das aufgespeichert liegt, was
sür die Station und ihre Bewohner nöthig ist. Hier
lagern Tonnen von Mehl, Zucker, Salz und andern:
Notwendigen, Hunderte von Kisten Thee, Fässer Ta-
bak, kostbare Konserven verschiedenster Art, feine Sau-
cen und indische starkgewürzte Delikatessen, nach welchen
nicht nur der reiche Squatter, sondern auch Ochsentreiber
und Schäfer stark nachfragen. Hier ist auch ein vollstän-
diges Assortiment von allen den tausenderlei Sachen, welche
dem Maurer, dem Zimmermann, dem Schmied nothwen-
dig sind. Denn wenn nicht für den ersten, so findet sich
doch für die beiden letzten Jahr aus Jahr ein reichlich zu
thun, wo die Station groß ist. Hier liegt anch den Be-
dürfnifsen angemessen ein Lager der verschiedensten Beklei-
dnngsgegenstände aus, von den mannigfachsten Hüten bis zu
den ebenso mannigfachen Fußbekleidungen, fertige Männer-
anzüge und Zeuge für Frauenkleider, Sättel und Sporen,
Dr. Carl Emil Jung: A
Messer und Scheeren, Nadeln und Zwirn, Papier und Tinte
und wie noch die tausenderlei Gegenstände heißen, deren der
civilisirte Mensch bedarf oder zu bedürfen meint.
Weiterhin, fern genug, um die exklusive Aristokratie des
Herrenhauses und der Bachelors Hall nicht durch ihre Nähe
zu beleidigen, sind die Wohnungen der Arbeiter, oft einem
Dörfchen vergleichbar. Hier liegen für sich zu einer kleinen
Gruppe zusammengefügt die weißgetünchten Häuschen der
Verheiratheten. Dort erstreckt sich das lange niedrige Ge-
bände, unter dessen Dach sich die Schlasräume uud die Küche
der ledigen Arbeiter vereinigen. Hier stehen auch die viel-
fachen Schuppen und Werkstätten, die für den Betrieb von
Nöthen sind.
In weit größerer Entfernung ist der Wollschuppeu auf-
gebaut, ein mächtiges niedriges Gebäude mit ungeheurem
flachen Dach; in der That sieht es von fern aus wie ein
Dach und fönst weiter nichts, das wichtigste Gebäude der
Station. Denn hier wird die Ernte eingeheimst, von
der des Sqnatters Existenz abhängt. Dieser Wollschuppen
ist sein Stolz. Die übrigen Gebände mögen unvollkom-
men und unbequem sein, man macht sich wenig Kopfzer-
brechen über ihre Konstruktion, aber der Plan über die An-
läge dieser Schuppen wird mit vieler Sorgfalt erwogen.
Die Schuppen mit ihren Verschlügen zur Aufnahme der
Schafe, Plätze für die Schaffcheerer, mit Wollpressen, von
mächtigen hydraulischen Pressen bis zu den einfachen pri-
mitiven Konstruktionen, wo mit Hand und Fuß gearbeitet
wird, mit Tischen für die Wollfortirer und weitem Stapelplatze
für die fertigen Ballen, umringt von starken Verzännungen
für geschorene und ungeschorene Schafe nehmen einen mächtigen
Raum ein. Oft gehen weit über 100 000 Thiere durch
einen solchen Schnppen; an den Darling Downs in Queens-
land sah ich einen solchen, in dem die doppelte Zahl
geschoren wurde. Danach richtet sich die Zahl der Schee-
rer. In einem kleinen Wollschuppen habe ich süns bei der
Arbeit gesunden; in anderen nicht weniger als sechsundsiebzig:
sechszig bis siebzig Schafe im Durchschnitt täglich ist, was der
Squatter vom Scheerer erwartet. Aber es giebt Leute, die es
bis auf 140 an einem Tage bringen. Man kann sich wohl
vorstellen, daß ein deutscher Wollzüchter von dieser Art
Scheeren nicht besonders erbaut sein würde. Er würde eine
solche Art des Scheerens, wie man sie in den australischen
Schuppen zu oft sieht, keinen Augenblick dulden. Auch
der australische Wollzüchter würde es gern sehen, wenn man
ihm die Wolle seiner Schafe ganz und nicht zerstückelt gäbe,
wenn feine Schafe weder mißhandelt noch zerschnitten würden,
aber er wünscht die Arbeit schnell abgethan. Und große
Schnelligkeit und gute Arbeit gehen nicht leicht Hand in
Hand. Die Wolle wird zerstückelt und die Schafe ver-
lassen des Scheerers Hand mit argen Wunden bedeckt. Bon
allen Seiten tönt der Ruf: „Theer" und die Jungen mit
den Theertöpfen haben oftmals genug zu thuu, die Wun-
den zu bestreichen, damit Fliegen nicht noch ärgern Scha-
den anrichten. Ein Wollzüchter weiß, daß aus solchen Schnitt-
stellen gute Wolle nicht wieder wächst, und der Schaden,
den ungeschickte uud eilfertige Leute anrichten, ist ein nnge-
heurer. Aber der Squatter kann sich nicht helfen. Die Ar-
beit muß während einer bestimmten Zeit bewältigt sein. Ehe
die Nächte wärmer werden, darf man nicht anfangen, das
kahlgeschorene Thier würde den plötzlichen Wechsel nicht aus-
halten. Und die Operation muß beendigt sein, ehe die
heißen Tage die Gräser und Kräuter zeitigen, ihre scharfen
Samen ausschütten und in die dichten Vließe treiben. Die
Wolle wird dann verdorben und die Lämmer leiden. Tan-
sende der letzteren kamen zuweilen durch die scharfen Gras-
famen um, die sich um die Augen festsetzen, sich in die-
tralische Typen und Skizzen. 205
selben einbohren und den Tod herbeiführen. Ein Schaf-
besitzer muß auf die Scheerer des andern warten. Glück-
licherweife ist das ohne Unbequemlichkeit möglich, ja durch
das Klima geboten. Die regenlose, warme Periode beginnt
im Innern eher als nach der Küste zu. Ohne trockenes
Wetter ist ja an Scheeren nicht zu denken. Und so fängt
die Schurzeit zuerst im Innern au, schon Ende August, und
rückt langsam gegen die Küste vor, wo sie im November ihr
Ende erreicht.
Die Scheerer sind die Aristokraten unter den Arbeitern.
Die Arbeit verlangt Kraft und Geschicklichkeit. Nur die
Brunnengräber und Fenzer (Arbeiter, welche Verzännungen
errichten) stehen ihnen gleich. Solche Arbeit wird nicht
durch Tagelohn, sondern kontraktmäßig bezahlt, und der Ar-
beitnehmer fühlt sich dem Arbeitgeber mehr ebenbürtig.
Die Scheerer erhalten von 12 bis 25 Sch. pro Huudert
und Kost, oder sie müssen sich selber verpflegen, der Sqnat-
ter aber liefert alles zu bestimmten Preisen. Im letzter»
Falle miethen sie selbst ihren Koch, der wieder seine Unter-
köche anstellt, wenn die Scheererzahl groß ist. Und er hat
alle Hände voll zu thun, die Leute zu befriedigen. Ein austra-
lischer Scheerer macht extravagante Ansprüche. Drei warme
Mahlzeiten des Tags mit verschiedenen Fleischgerichten, Pud-
diugs und Pasteten, dazwischen Thee und Kuchen vom Morgen
früh, wenn er aus seiner Opossumdecke rollt, bis zum Abend
spät, wenn das schmutzige Kartenpack bei Seite gelegt und die
qualmende Fettlampe ausgelöscht wird, halten den Koch
in lebhafter Thätigkeit. Aber auch er fährt nicht fchlecht.
Hat er seine vielköpfige Herrschaft nach Wunsch gefüttert,
fo schreibt ihm jeder gern 10 Sch. von seinem Verdienste
ab und auch der Koch hat dann sein Schäfchen geschoren.
An eine Reinigung der Wolle dachte man früher nicht.
Wie die Schafe von der Weide kamen, wurden sie geschoren
und die Vließe mit ihrem ganzen Inhalt von Fettschweiß,
Staub und oftmals schwerem rotheu Saude verpackt. Da
man wußte, daß die Käufer in London hohe Procente für
diesen Ballast in Abzug brachten, so war man in Australien
bedacht, so wenig als möglich davon zu verlieren. Nur ja
nicht die Vließe schütteln, damit kein Sand verloren ginge!
Diese Thorheit mußte sich rächen; selbst dem undnrchdring-
lichsten Schädel des konservativsten Sheepsarmers mußte
endlich die Wahrheit einleuchten, daß Sand und Schmutz
nach England zu senden ein theures Vergnügen war, zu-
mal die Empfänger selber gegen die Zusendungen Protestir-
ten. Aber dem Uebel war nicht überall abzuhelfen. Jeden-
falls konnte man die Wolle nicht reinigen, denn auf sehr vie-
leu Stationen fehlte es gerade an dem Notwendigsten, dem
Wasser. Zuweilen ist es zu mineralisch, zu salzig, sehr oft
ist nicht genug vorhanden. DieProcednr muß unterbleiben.
Aber man bemüht sich heutzutage die Wolle so rein als
möglich auf den Markt zu bringen, und seitdem man die
Schafe in Paddocks hält, wird dieser Zweck eher erreicht.
Wo aber Flüsse und große wasserreiche Creeks sind,
hat man auch Wollwäschen eingerichtet. In Bezug aus
den Modus der Operation herrschen die verschiedenartigsten
Ansichten. Die einen waschen das Schaf, die anderen das
Vließ, der will kaltes Wasser, jener hält warmes Wasser
für das allein Nichtige. Die Diskussionen über diese Fra-
gen sind ebenso häufig als leidenschaftlich. Während man
die Advokaten des einen Systems für verblendete Narren
erklärt, welche ihr Geld dem englischen Wollhändler zuwer-
sen, behaupten die anderen, daß die Methode der Gegner
weder ihnen selber noch jemand anderm Nutzen bringe,
sondern einfach den Werth des Artikels verringere. Squat-
ters der eiueu Partei zögern nicht, die recht warme Hoff-
uung auszusprechen, es möge ein jeder, der andere Ansich-
206 Dr. Carl Emil Jung: A
ten vertrete, mit möglichster Schnelligkeit rühmt werden,
um in Muße über seine Verblendung nachdenken zu kön-
nen. ' Inzwischen fahren trotz des lebhaften Wort- und
Federkrieges, dem die Zeitungen ihre Spalten zuweilen
öffnen, die Juterefseuten ruhig fort und vorläufig hat weder
der eine noch der andere den Platz räumen müssen.
In vielen Theilen von Riverina, den Pastoral-Distrik-
ten von Neu-Süd-Wales, auf den Darling Downs in
Queensland u. a. O. ist in einer Entfernung von sechs bis
acht englischen Meilen das Waschetablissement nächst dem
Wollschuppen das Wichtigste der ganzen Station. Und
weil es den Vortheil der Exklusivität genießt — denn einen
Wollschuppen hat ein jeder, eine Schafwäsche wenige —, ist
es dem Sqnatter vielleicht noch weit mehr ans Herz gewachsen.
Er hat aus alle Fälle Grund, sich lebhaft an feine Einrich-
tung zu erinnern, denn eine solche Waschanstalt ist stets sehr
kostspielig. Ungeheure eiserne Cisternen, auf hohen starken
Unterlagen errichtet, füllen sich nnd halten sich gefüllt durch
starke Dampfpumpen. In dem Boden der Cisternen sind
Oesfnungen, aus denen ein starker Strahl mit beträchtlicher
Gewalt auf das Schaf herunterfällt, das zwei Leute ihm
entgegenhalten. Der Fall ist etwa 12 bis 15 Fuß. Vor-
her ist das Schaf in großen Behältern mit kaltem oder war-
mem Wasser eingeweicht worden. Aber das Wasser in den
Cisternen ist immer kalt. Die beiden Männer, welche an
jedem Wasserstrahle stationirt sind — zuweilen sind an
dreißig Leute so beschäftigt —, ergreifen das Thier, das ihnen
zuschwimmt, und drehen und wenden es unter dem starken Fall,
bis es aus ihren Händen schneeweiß hervorgeht. Dann bewe-
gen sich die triefenden Wollträger eine geneigte Ebene hin-
auf aufs Trockene, wenn sie können. Denn die Operation
ist so angreifend, daß die armen Geschöpfe sich kaum auf
ihren Beinen zu halten vermögen, die Wasserlast, welche sich
in ihrem dicken Kleide eingesogen hat, vermögen sie kaum zu
tragen. Dann wandern sie nach einigen Tagen in den Woll-
schuppen. Es erscheint wie Hohn und Spott, den armen
Thieren erst ihr Kleid auf dem Leibe auszuwaschen, um es
ihnen gleich darauf auszuziehen.
Ist die Schurzeit vorüber, so zerstiebt die ganze Zahl
von Scheerern, Wollwäschern, Wollpressern und sonstigen
Arbeitern in alle vier Winde.
Die Decken werden gerollt, Pferde eingeholt nnd nun
geht es fort zu Fuß oder zu Roß, vielleicht klappert auch
ein Leiterwagen mit den Söhnen deutscher Landleute und
gezogen von wohlgenährten deutschen Pferden die staubige
Landstraße hinunter. Denn bei den Farmern ist vor
der Ernte nicht viel zu thun und das junge Volk kann ab-
kommen.
Die letzten schwerfälligen Karren verlassen mit ihrer hoch-
anfgethürmten schwankenden Last von Wollenballen die
Station. Das gleichmäßige Klappen der Scheeren, das
Bellen der Hunde, das dumpfe Gebrüll der Zugochsen, das
Knallen der Peitschen und Fluchen der Treiber ist ver-
stummt. Die großen Schuppen und Hütten, die soeben noch
vom Lärm der Arbeiter wiederhallten, stehen leer; das Perso-
nal ist auf das regelmäßige Minimum reduzirt und die Ver-
waltung ist wieder in ihr gewöhnliches ruhiges Fahrwasser
gerathen.
Der Squatter selber, der nur gekommen ist, um die
Schafschur zu überwachen, kehrt zu seiner Villa bei der
Hauptstadt zurück oder er besucht mit seiner Familie eins
der Seebäder, bis die heißen Sommermonate vorüber sind.
Der muß sehr schlecht bei seinem Bankier angeschrieben sein,
der nicht wenigstens auf ein paar Wochen den Busch mit der
Stadt vertauschen kann.
Einer der am meisten charakteristischen Züge des Squat-
tralische Typen und Skizzen.
ters ist die Gastfreiheit. Aber wir wollen in dies Lob gleich
alle einschließen, welche mit ihm den einsamen Busch be-
wohnen. Der Schäfer in feiner Hütte, der Holzhauer in
seinem Zelte theilen mit nicht weniger freigebiger Hand
von dem Wenigen mit, was sie haben, als der reiche Herden-
besitzer in seinem wohleingerichteten und wohlversehenen
Hause.
Wenn Strzelecki in den Bergen von Neu-Süd-Wales
auf einsame Hütten im Urwalde stieß, so wurde ihm das
freundlichste Willkommen geboten, ohne daß man ihn fragte,
wer er fei, woher er käme und was er für Geschäfte treibe.
Und dieser Zug ist dem australischen Leben geblieben. Der
Wanderer ist kaum in die Hütte getreten, so steht schon
der Kessel auf dem lodernden Feuer, um den immer will-
kommenen Thee zu bereiten, und der Tisch bedeckt sich mit
solchen Speisen, wie sie der Busch bietet. Die Tageszeit
mag sein, welche sie wolle, das erste Anerbieten ist das einer
Mahlzeit.
Und sie wird einem jeden zu Theil. Wenn der Standes-
genösse mit herzlichem Willkommen in das Haus des Be-
sitzers geladen wird, so findet der Gleichgestellte des Aufseher-
Personals freundliche Aufnahme in ihren Wohnungen und
der wandernde Arbeiter findet ein Schaffell, auf dem er
sein Lager aufschlagen mag, in dem Schuppen, welchen das
Dienstpersonal der Station bewohnt.
Dem Gast des Sqnatters steht alles, was die Station
bieten kann, bereitwilligst zur Disposition. Pferde nebst
Sätteln und Zäumen machen fo oft weite Wanderungen.
Mit der Bitte, die geliehenen Thiere und Ausrüstungen bei
irgend einem Nachbar zu lassen, ist die Sache abgemacht.
Die Pferde finden, wo sie die Zäune nicht hindern, ihren
Weg zuweilen schnell genug wieder zurück zu ihren Weide-
gründen. Natürlich ist auf diefe Weise viel Eigenthum
über große Strecken verstreut und es herrscht ein gewisser
Kommunismus. Je dünner und primitiver die Stationen
sind, desto ausgebildeter das System.
Wenn dem Squatter das Glück lächelt, so überläßt er
die Verwaltung der Station anderen. Seine Söhne nehmen
seine Stelle ein oder ein zuverlässiger Verwalter besorgt die
Geschäfte, während er sich in die Nähe der Städte zurück-
zieht, um von dem Leben mehr zu genießen, als ihm der
eintönige Busch bieten kann. Die Hauptstädte der Kolonien
sind mit einem Kranz prächtiger Villen umringt; ihre Eigen-
thümer sind die Besitzer von Schaf- und Rindviehherden. Nur
zu Zeiten verlassen sie ihre Sitze, um die Ernte einznheim-
sen, welche ihnen die Schurzeit bringt. Manch einer zieht
sich in sein geliebtes England zurück, und laut sind die Forde-
rungen, diese Männer, welche ihr großes in den Kolonien
erworbenes Einkommen verzehren, zur Tragung der Steuern
heranzuziehen. Die Squatter sind nicht gerade populär.
In der Regel haben die Squatter keinen bedeutenden
Landbesitz. Ihr Reichthum besteht in ihren Herden. Aber
die Verhältnisse fangen an sich umzukehren und die Aus-
nähme beginnt zur Regel zu werden. Sie bilden eine mäch-
tige Partei und sie sind die Aristokratie der Kolonien. Sie
sind es faktisch durch ihren großen Besitz; sie würden es,
wenigstens zum großen Theil, durch ihre Geburt und Erzie-
hung sein. Viele der Herdenbesitzer gehören den ersten Fa-
milien Englands an; Söhne von Dickens und Trollope
haben ihre Viehweiden im Riverinadistrikt. Der jüngere
Sohn, dem das kleine Kapital, welches ihm zufiel, nicht
ausreichte, um standesgemäß im alten Vaterlande zu leben,
nahm sein kleines Erbtheil von ein paar Tausend Pfunden
und ging nach Australien. War sein Besitz auch gering,
er trat sofort in eine Klaffe ein, die am nächsten der ent-
sprach, welcher er in Großbritannien angehörte.
Dr. Carl Emil Jung: A
Freilich zählt die Klasse auch viele unter sich, die von
der Pike auf dienen. Schottische Schäfer sind durch Spar-
samkeit und Geschick zu großen Besitzern geworden. Der
arme Hochländer, der mit Kilt und Plaid dürftig bekleidet
an der australischen Küste landete, wohnt jetzt in schloßartiger
Villa, während noch vor wenigen Jahren eine elende Rinden-
Hütte ihn und seine halbwilde, schmutzige kleine Brut beher-
bergte. Aber wie gering auch seine Bedürfnisse waren, er
paßte sich schnell den veränderten Verhältnissen an und adop-
tirte sofort für sein Haus alle Einrichtungen vornehmer
Häuser. Wenn man die Eleganz und den Komfort der
Zimmer bewundern muß, die luftigen Hallen und zahlreichen
Bäder, fo erhöht sich das Erstaunen, betritt man das
Bibliothekzimmer. Eine Bibliothek gehört ebensowohl zn
dem Notwendigen eines wohleingerichteten englischen Herren-
hauses als ein guter Marstall oder eine Koppel von Jagd-
Hunden, und eine Bibliothek muß beschafft werden, wenn
auch der glückliche Besitzer sein Lebtag die Bücher nicht an-
sieht. Es gehört zum Ameublement des Hauses.
Es begegnete mir, daß ich ein Gast eines jener reich-
gewordenen Hochländer war und sein Vertrauen durch die
Theilnahme erweckte, welche ich an seinem Whiskey nahm.
Die Geschichte seiner Erfolge zeigte die Architektur der Sta-
tion. Unten am Bache schien sich eine rohe, von Klötzen
und Rinde zusammengefügte Hütte zu bedenken, ob es nicht
Zeit sei, sich zur Ruhe zu legen. Das war das Gebäude,
von dem aus der reiche Schafbaron zuerst als armer Schäfer
seine kleine Herde hütete. Das Haus, welches er äugen-
blicklich bewohnte, war allmälig entstanden. Ein Anbau
nach dem andern hatte das Gebäude vergrößert. Es war
wohnlich und behaglich, wenn es auch jedes Anspruches auf
Schönheit entbehrte. Aber dicht daneben erhob sich ein wah-
res Prachtgebäude aus blendend weißem Stein, mit Thurm
und Zinne, Gallerien und Ballonen, innen mit Säulen von
allerlei kostbaren Steinen geschmückt und reich an Stukkatur
und Vergoldung. Das Gebäude wäre eines Fürsten würdig
gewesen. Natürlich fehlte auch das Bibliothekzimmer nicht.
Aber das machte dem Besitzer Kopfzerbrechen und ich sollte
ihm rathen. Wie war das zu füllen? Bücher sollten da
sein, gutgebundene Bücher, das war die Hauptsache, und viele
Bücher, aber wie sollte er sie aussuchen, der nichts davon
verstand? Ich gab ihm, denke ich, den besten Rath unter
den Umständen. Wir berechneten den Raum, welcher zu
decken war, uud schrieben einem Buchhändler, die Arbeit zu
übernehmen. Der Auftrag wurde zu beiderseitiger Besrie-
digung ausgeführt. Brauche ich hinzuzufügen, daß die
obersten Reihen dummies waren, Rückseiten mit Titeln,
aber keine Bände? Jndeß das Bibliothekzimmer war doch
möblirt uud machte man es in England und Schottland
nicht gerade ebenso? Die Bücher hatten gute Tage; selten
gewiß oder nie wurde ihre Ruhe gestört und der trügerische
Schein blieb für Wahrheit stehen, niemand wagte sich an
die hoch oben thronenden Bände.
Doch nicht alle, welche sich diesem Leben widmen, haben
Erfolge aufzuweisen. Manch einer bewirtschaftet als Ver-
walter die Station, welche ehemals sein Eigenthum war,
andere haben Anstellungen hier und dort in den Regiernngs-
ämtern gefunden, noch andere sind verschollen. Wer weiß,
was aus dem Unglücklichen wird? Als die Jahre 1864
und 1865 verheerend über nahezu das ganze angesiedelte
Australien zogen, wurden nicht wenige, welche soeben Hnn-
derttauseude besessen hatten, zu Bettlern. Denn ihr Eigen-
thnm, ihre Rinder und Schafe, erlagen dem Hunger. Die-
jenigen, deren Stationen mit Schulden belastet waren, nah-
men bald ein Ende, aber der Ruin erfaßte auch die, welche
auf festeren Füßen standen.
Mische Typen und Skizzen. 207
Wer selbst Leiden empfunden, spricht mit Sympathie von
denen, welche betroffen wurden. Ich theilte das Schicksal
so vieler, welche in dem allgemeinen Krach erdrückt wurden.
Aber meine Verluste waren unbedeutend gegen die Einbußen
anderer. Viele retteten kaum mehr als das Leben.
In nicht allzu großer Entfernung von mir lag die Sta-
tion zweier Brüder. Es waren zwei energische Naturen,
denen die Ueberwindung von Hindernissen und das Tragen
von Beschwerden eine Freude war. Eine Reihe von Wechsel-
vollen, aber in ihrem Durchschnitt günstigen Jahren hatte
die strebsamen Männer zu bedeutenden Eigentümern ge-
macht. Ihr Schafbestand belief sich auf mehr als 150 000
Stück. Die Verbesserungen, welche sie aus ihren ausgedehn-
ten Weideplätzen machten, waren zahlreich. Niemand zeigte
so viel Unternehmungsgeist als die Gebrüder Desailly, nie-
mand war auch so glücklich in seinen Erfolgen. Ihr männ-
licher Mnth und ihr gerader Sinn erwarben ihnen die
Freundschaft aller. Wenn irgend ein Squatter mit Besrie-
digung auf feine Lage blicken konnte, so waren sie es.
Da kamen die dürren Jahre. Man kann im nördlichen
Europa, in Europa überhaupt, die ganze Bedeutung einer
Dürre, wie sie Australien zeigt, nicht verstehen. Dreißig
Monate ohne Regen würden jedes Land zur Wüste machen,
hätte es auch das mildere Klima unserer Breiten. Wieviel
gewaltiger und vollständiger mußte diese Zerstörung unter
der heißen Sonne Australiens sein! Auch die Desailly's
wurden betroffen. Zuerst schwand das Futter an den Ufern
des Flusses, sie zogen sich weiter zurück, gruben mit großen
Kosten Brunnen, oftmals vergeblich, aber sie vermochten ihre
Schafe trotzdem nicht zu erhalten. Ihre Herden wurden
schrecklich decimirt. Da kam endlich der Regen; aber nun
nicht mehr zu ihrer Rettung, vielmehr zu ihrem Verderben.
Der schwarze Thonboden wurde unter den heftigen Regen-
güffen zum zähen Morast, in dem die schwachen, bis auf
Haut und Knochen abgemagerten Thiere stecken blieben, und
verendeten.
Damit war alles vorbei. Die ehemaligen Millionäre
waren rninirt. Sie spannten ihre besten Pferde vor die
leichte amerikanische Bnggy und machten sich auf den Weg
nach Melbourne. In dem aufgeweichten, grundlosen Boden
blieben Pferde und Wagen stecken und der Weg nach Hay
mußte zu Fuß zurückgelegt werden. In der kleinen Busch-
stadt waren auch nicht die besten Zeiten. Die Prosperität
der Geschäftsleute, aus denen die Bevölkerung eines solchen
Platzes ja ausschließlich besteht, ist durch die Erfolge bedingt,
welche der Squatter erzielt. Es besteht da der innigste Zu-
sammenhang. Aber obschon es hier schlecht ging, man ver-
gaß die Generosität der Brüder nicht. Das Schicksal der
Männer, die ehedem über Hunderttausende geboten und nun
bettelarm dastanden, rührte die Leute. Sie, die früher mit
prächtigem Gespann in die Straßen gerollt waren, mit
Freuden begrüßt, denn ihr Kommen bedeutete Verdienst für
viele, wateten jetzt durch den Schlamm, müde vom langen
Marsch und mit leeren Taschen, in Kleidern, die Regen und
Wetter fast zur Unbranchbarkeit entstellt hatten. Die Städ-
ter waren schnell bei der Hand, eine Kollekte ergab sosort
eine beträchtliche Summe, welche in feierlicher Versammlung
den Desailly's überreicht wurde als ein Zeichen der Dank-
barkeit der Bewohner für früher ihnen geleistete zahlreiche
Dienste. Es ist erfreulich zu berichten, daß die beiden Jr-
länder eine andere, ihnen zusagende Thätigkeit schnell fanden.
Aber so vergänglich ist oft das Glück des reichen Squatters
und auf so unsicheren Grundlagen ruht es.
Es gab eine Zeit, in der sich ein tüchtiger und spar-
samer Schäfer aus seiner bescheidenen Stellung zu dieser
höchsten, welche Australien bietet, emporarbeiten konnte. Die
208 Aus allen
Eigenthümer der Herden waren oft froh, wenn die Hirten
für ihren Schäferlohn eine Anzahl Schafe nehmen wollten.
Denn vor den Entdeckungen der Goldgruben waren Schafe
für 1 Sch. 6 P. zu haben. Die meisten der Schäfer, welche
sich dazu verstanden, waren schottische Hochländer. Sie zogen
den Schäferstab der Pike und Schaufel vor; man verlachte
sie, aber die Folge hat gelehrt, daß die Vließe, welche sie
wählten, in der That goldene waren. Ohne Hinderung zogen
sie mit ihren kleinen, schnell wachsenden Herden auf die un-
besetzten Weidegründe, für deren Benutzung zu jener Zeit
keine Regierung eine Abgabe verlangte. Ein solches Privi-
legium genießen heute selbst die nicht mehr, welche an die
äußersten Grenzen ziehen. Ist die Weide von Werth, so
findet sich schnell jemand, der das Nutzungsrecht von der
Regierung pachtet. Auch sind die hier und dort eingesetzten
Regierungskommissare überall auf der Wacht.
Die ersten Ansiedler fingen mit kleinen Herden an; sie
und ihre Familien besorgten das Hüten der Schafe, ihre
Bedürfnisse und Ausgaben waren gering. Aber niemand
kann heute so anfangen. Auch giebt es außer in Westaustra-
lien nirgends sehr kleine Besitzer. Squatters mit einem
Bestände von 2000 bis 3000 Schafen sind nur im Westen
zu finden. Der ist schon ein kleiner Squatter zu nennen,
dessen Herden 10 000 Stück zählen, und solche Männer sind
sehr selten. Es giebt auch sehr wenige, welche ihren Vieh-
stand nach Huudcrttausenden berechnen, aber die Zahl der
großen Sqnatter nimmt zu. Die kleinen werden nicht fet-
ten von ihnen aufgezehrt. Das liegt daran, daß sie ihre
Runs mit Schulden übernehmen, welche sie nach und nach
erdrücken. Eine Schafstation mit Einzäunungen, Brunnen
und Cisternen, Gebäuden verschiedener Art ist eine sehr kost-
bare Besitzung. Man darf ihren Werth nicht nach dem
Marktwerth der Schafe berechnen. Wenn diese selber für
einen Preis von 10 Sch. verkäuflich sind, so werden sie mit
der Station vielleicht auf 50 Sch. anzuschlagen sein. Es
ist möglich, daß doppelt soviel gezahlt wird. Es ist gewöhn-
Erdtheilen.
licher Modus, den Preis nach der Zahl der Rinder und
Schafe zu bestimmen. Maßgebend sind immer Länge der
Pachtzeit, Güte der Schafe, des Landes und seine Entfer-
nung vom Absatzgebiete.
Daher repräsentiren schon 10 000 Schafe ein sehr bedcu-
tendes Kapital. Jndeß wenn der Kauflustige nur einige
wenige Tausend Pfund besitzt, so wird es ihm nicht schwer
werden, den Rest zu erhalten. Kaufleute und Banken wer-
den sich freuen, feinen Namen in ihren Büchern zu sehen.
Und alles wird gut gehen, wenn er sich einzuschränken ver-
steht und die Jahreszeiten ihn begünstigen. Mit 80 Pro-
cent jährlichem Zuwachs und hohen Wollpreisen wird es
ihm möglich sein, die Bilanz von der einen Seite auf die
andere zu seinen Gunsten zu führen. Er darf nicht ver-
gefsen, und ist er verheirathet, so muß er seine Frau zu Zei-
teu daran erinnern, daß er nur zum Theil Besitzer der Her-
den ist. Manch einer, dem dies höchst wichtige Faktum aus
dem Gedächtniß schwand, hat selber die Axt an den jungen
Baum seines Glückes gelegt.
Vor allem darf der angehende Squatter keine zu schwere
Last auf seine Schultern laden. Kostet die Station 10 000
Pf. St. und er hat über 5000 zu verfügen, so darf er ge-
trost zugreifen. Es wird ihm möglich werden, bei ökonomi-
scher Verwaltung auch über die schlechten Jahre zu dauern.
Aber es ist möglich, daß er ruinirt wird. Es ist sehr vielen
so gegangen und doch haben sie ihre Stationen nicht ver-
lassen. Nur hat sich ihre Stellung geändert. Wo sie früher'
Herren waren, sind sie Diener, sie bewirtschaften nun als
Auffeher die Stationen, welche früher ihr Eigenthum waren.
So weit ihre Ansprüche an Küche und Keller gehen, werden
sie ohne Weiteres befriedigt, und das Vorrathshaus liefert
auch wohl die Kleidung für ihn selber und seine Familie;
er führt ein gemächliches Leben ohne Sorge, aber auch ohne
Hoffnung. Indessen erntet sein Gläubiger die Früchte der
Arbeiten, welche den ehemals werthlosen Strich zn einer
Quelle des Reichthums machten.
Aus allen
Asien.
— Der Bischof Josephus in Stawropol, ein genauer
Kenner der ossetischen Sprache, hat dort eine Gram-
matik dieser Sprache herausgegeben.
— Von Seiten der kaukasischen Sektion der Kaiserl. Rnss.
Geograph. Gesellschaft befinden sich, wie der „Kawkaz" mit-
theilt, jetzt im Gebiete von Daghestan 1. Herr Zagurski
zur Zeit in Botlich, um die Sprache von Andi und die
Dialekte der benachbarten Stämme zu studiren. 2. Der
Bergingenieur Stein, um Ausgrabungen in alten Grab-
Hügeln bei Tschirkei vorzunehmen und die Spuren der
Eiszeit im Kaukasus zu verfolgen. 3. Herr Seidlitz. Die-
ser hat bereits eine Reise ausgeführt von Temir-Chan-
Schura aus an der Andischen Koisa aufwärts nach Dido
und weiter an der Awarischen Koisa abwärts nach Chun-
zach. Diese Tour, reich an geographischen Resultaten, gab
Herrn Seidlitz, wie er sagte, Gelegenheit Einsicht zu erlan-
gen in die ethnographischen Besonderheiten der vie-
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. VI. (Mit
Dr. Carl Emil Jung: Australische Typen und Skizzen,
der Redaktion 2. September 1880.)
Nedacteur: Dr. R. Kiepert in
Druck und Verlag von Friedrich V
xrdtheilen.
len kleinen Stämme, die er auf feinem Wege traf. Außer-
dem rühmt er besonders das systematisch angelegte Netz
neuer guter Wege, welche die bis dahin fast unzugänglichen
Wildnisse durchschneiden und namentlich auch die von den
dortigen Bewohnern hergestellten billigen Brücken, von denen
diejenigen über die Awarische Koisa in Gidatla vor allen
bemerkenswert sind. Ferner lenkt er die Aufmerksamkeit
darauf, daß dort die Wälder in größerm Umfange und bes-
ser erhalten sind als in Transkankasien, was er zum Theil
dem Fehlen sommerlicher Nomadenwanderungen zuschreibt.
Nach einer weitern Notiz der „Stawrop. Gub. Wjed." ist
am 16. (28.) Juli Herr Müller, Professor des Sanskrit
und der Geschichte des Orients an der Universität Moskau,
in Stawropol angekommen, um an Ort und Stelle die
Dialekte, Sagen und das Leben der Osseten speciell der Di-
gorzen kennen zu lernen und wird dazu, abgesehen von
einigen Wanderungen einige Zeit in einem Gebirgs-Anl
Digoriens zubringen.
s Abbildungen.) — Die kaukasischen Juden. II. (Schluß.) —
.. Der Squatter, — Aus allen Erdtheilen: Asien. — (Schluß
rlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
ieweg und Sohn in Vrannschweig.
Unö
Band XXXVIII.
Jo
Mit besonderer Serücksirkttgung äer AntKroyologie unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vi-. Richard Kiepert.
«ivr| 1trt Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 Q Q A
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cv
Innern von Hinterindien.
(Nach dem Französischen des Dr. Harm and.)
(Sämmtliche Abbildungen nach den Skizzen und Angaben des Reisenden.)
VII.
Es gelang Harmand nicht, trotz aller möglichen Beste-
chnngs- und Ueberreduugsversuche, den Khio-menong (Gou-
verneur) von Phu-Wö. zur Stellung von Trägern und
Führern nach Annam zu bewegen. Kein Drohen, kein
Bitten hals; nur so viel erfuhr er schließlich durch seine Die-
ner, daß sein — nebenbei gesagt, gedruckter und in allge-
meinen Ausdrücken abgefaßter — Paß die Schuld an dem
passiven Widerstände trug, in welchem die Laos eine wahre
Meisterschaft bekunden; ein solcher ist für die in der nach-
sten Nähe von Bang-kok reisenden Kaufleute bestimmt und
besagt, daß man den Inhaber innerhalb des siamesischen
Gebietes Yassiren lassen solle, sagt aber kein Wort darüber,
wie es mit dem Ueberschreiten der Grenzen steht. So sandte
denn Harmand seinen Annamiten Tay auf Kundschaft aus,
damit er in den nächsten Dörfern Erkundigungen über die
Wege nach Osten einzöge; aber nnverrichteter Sache kehrte
er am Abend zurück. Ebensowenig vermochte er Näheres
über den Oberlauf des Flusses Se-bang-fay, an welchem er
sich befaud, und den See, den er durchfließen sollte, zu ersah-
reu. Sehr bereitwillig dagegen zeigten sich alle, Einzel-
heiten über die Provinz Nam-Nan anzugeben, deren Haupt-
ort sechs Tagereisen weit im Ostsüdost lag. So beschloß
denn der Reisende in dieser Richtung sein Glück zu ver-
suchen; betrat er dort doch wenigstens unerforschtes Gebiet
und durfte hoffen, weniger blöde und mehr gefällige Man-
darinen anzutreffen. Allerdings wurde durch diesen Umweg
nach Süden der Abschluß seiner Reise um Monate verzö-
Globus XXXVIII. Nr. 14.
gert. Zudem hatte er die ganze Regenzeit durchzumachen,
und es fehlte ihm an dem nöthigen Materiale, um größere
Sammlungen auzulegeu. Dagegen war seine Gesundheit
völlig wieder hergestellt.
Kaum hatte er seinen Entschluß, nach Nam-Nan zu
gehen, ausgesprochen, so waren auch schon am nächsten Mor-
gen volle 62 Träger zur Stelle, geuau so viele und nicht
einer weniger, als wie er zu La-khön erhalten hatte; obwohl
ihrer 40 genügt hätten, so war es doch nicht durchzusetzen,
auch nur ein paar davon zurückzuschicken. Am 6. Juni
ging es über verbrannte Ebenen, Bergzüge aus Kalk- und
Sandstein, stellenweise auch durch Wald und über mehrere
kleine Bäche nach Ban-Pha-Kieou, einem Dorfe der Pn-
Thays, dessen Einwohner jedoch, wahrscheinlich auf Befehl
des Mandarinen in La-khön, geflohen waren — denn die
Feuer glimmten noch —, lediglich in der Absicht, daß der
Reisende keinen Führer finden sollte. Ja, als er vor Ein-
bruch der Nacht auf die Jagd ging, fand er, daß ringsum
fämmtliche Fußpfade durch hineingesteckte grüne Zweige auf
weite Strecken hin versperrt und uukenntlich gemacht wor-
den waren.
Am folgenden Tage nahm der durch mehr oder wem-
ger trockene Wälder führende schmale Pfad eine entschie-
den südliche Richtung an, überschritt den kleinen Fluß Uö-
Sopha, der durch die Kalkkrusten, die er absetzt, merkwür-
dig ist, und läßt den langgestreckten, hohen Berg Phou-
Sang-Hö zur Rechten. Am 6. Juui ging es den ganzen
27
210 Im Innern to
Tag durch weite einförmige Waldlichtungen und Bambu-
dickicht; der 60 in breite Fluß Se-Noi, welcher zwischen
den Provinzen Phou-W». und Nam-Nau die Grenze bildet,
war zu breit zum Durchwaten. Nach langem Suchen aber
fand Harmand einen Wilden beim Sammeln von Cham-
pignons, der für ein Messer Träger und Gepäck in seinem
Boote übersetzte und ihm obendrein alle seine Pilze schenkte,
welche mehrere treffliche Mahlzeiten abgaben.
: Hinterindien.
Nach einer im Dorfe Ban-Na-Khöh verbrachten Nacht
erreichte man am 9. Juni unter strömendem Regen einen
dichten und wenig betretenen Bambuwald, in welchem der
Pfad bald vollständig verschwand; es mußten Pionniere vor-
angeschickt werden, um mit Säbel und Messer einen Weg
zu bahnen. Auf den Hals seines Pferdes gebeugt und sel-
ber fleißig arbeitend folgte ihnen Harmand auf dem Fuße
nach. Daun ging es bei strömendem Regen über einen
Marsch durch
kleinen Hügelrücken hinüber nach einigen kleinen Dörfern,
deren Bewohner mit merkwürdig primitiven Pressen Kokosöl
bereiten. Ueberall waren die Kräuter und Bambus mit
frischem Grün bedeckt und übersäet mit zahllosen reizenden
Blüthen verschiedener ingwerartiger Gewächse.
In der Nacht vom 1t). zum 11. Juni entlud sich ein
schreckliches Uugewitter, der Vorläufer zahlreicher anderer;
unbekümmert um Regen, Donner und Blitz schliefen die
imbu-Dickicht.
Träger im dicksten Kothe, während Harmand melancholisch
unter seiner Decke kauerte, bemüht, seiue Gewehre und
Munition vor den Wasserflutheu zu bewahren. Vor dem
Blitz fürchten sich übrigens weder Laos noch Wilde, sei es,
daß sie die Gefahr nicht kennen, oder weil fatalistische Erge-
buug den Grundzug ihres Wesens ausmacht. Am 11. be-
trat man eine ganz anders geartete Gegend, alles male-
rischen Reizes bar, aber üppig und fruchtbar, wie nur der
Im Innern von Hinterindien.
211
schönste Bezirk in Cochinchina, Sümpfe und von Gebüsch
und Bambuheckeu eingefaßte Reisfelder, so weit das Auge
reichte, auf denen sich zahlreiche Büffel, Ochsen und Pferde
tummelten. Felder und Herden gehörten zu dem Haupt-
orte der Provinz Nam-Nau. Der Ort selbst liegt an
einem schmalen, gewundenen Flüßchen, dem Se-Kiamphor,
der sich tief in seine feinsandigen Ufer eingewühlt hat; es
gab dort eine leidliche Sala, in welcher sich die Annamiten
Harmand's in den nächsten Tagen von ihrem Fieber er-
holen konnten. Der dortige Gouverneur aber und seine
Leute wollten von Annam und einem Wege dorthin nichts
wissen und vertrösteten ihn auf den nächsten größern Ort
Was die KhZ.s l
und Phe-long. Dieselben unterscheiden sich stark von den
Wilden von Attopeu; aus ihrem stets etwas straffen, spar-
lichen Bart, ihrer Physiognomie und Schädelsorm erhellt,
daß sie Hindu- und Mongolenblut in den Adern haben,
welches hier sich mit älteren Völkerschichten gemengt hat.
Alle diese Wilden übrigens führen dasselbe Leben, welches
auch ihre Abstammung sein mag, von den Stieng an den
znders interessirt.
Grenzen Cochinchinas an bis in das nördliche Laos hinein.
Harmand maß eine Anzahl derer in Nam-Nau und zeich-
nete sie ab; die hier reprodncirten Typen aber, so genau
sie auch sind, geben stets die mit einer breiten Flüche endi-
gende Nase und die weitgeöffneten Nasenlöcher nicht genau
wieder. Weniger interessant war die botanische und zoolo-
gische Ausbeute. Die Savannen, Waldlichtungen und
27*
Falan, wohin er am 14. Juni aufbrach. In Nam-Nau
faud Harmand einige interessante Wilde, die dort in mehr
oder minder strenger Sklaverei lebten, während ihre Stämme
nordöstlich davon ihre Wohnsitze haben; es sind die Brns
Typen von Wilden in Nam-Nau.
212 Im Innern v
Bambndickichte waren zwar reich an Wild; aber was des
Jägers Freude ist, läßt den Naturforscher oft gleichgültig;
seit Saigon kommen stets wieder dieselben Species vor.
Am 14. Juni wurde nach Falan aufgebrochen, der Se-
Kiamphon überschritten und in der Pagode des kleinen Dor-
fes B. Thelong übernachtet, wie stets in dieser Gegend, wo
die Pagoden als Gemeindehäuser und Salas für die Frem-
den dienen. Sie sind übrigens nichts anderes als große, an
drei Seiten offene Schuppen; an der vierten, mit Stroh
oder Bambu, selten mit Lehm oder Mauerwerk, geschlosse-
nen zieht sich eine niedrige Pritsche hin. Ein Buddhabild
enthält ein solches Gebäude gewöhnlich nicht, dafür aber
in der Mitte eine kleine hölzerne Hütte mit mehr oder we-
niger reicher Skulptur, welche ein wät (Pagode, Heiligthum)
im Kleinen oder auch eine jener großen Kanzeln vorstellt,
in welchen die Bonzen kniend Gebete und Litaneien vorlesen.
An allen Vorsprüngen derselben hängen Amulete, Ge-
betssormelu, bunte Bänder und zahllose andere Gegen-
stände.
Am 15. Juni erreichte er Falan am Fuße Se-Kieu-
Soy, welches von Pu-Thays, Suös und einigen Laos be-
Facsimile einer laotischen Zeichnung des Se-baug-hieng.
wohnt wird. Der dortige Mandarin machte sofort seine
Aufwartung und war überaus demüthig, aber von einem
Wege uach Meuong Hwö, d. h. Annam, wollte auch er
nichts wissen trotz aller ihm angebotenen Geschenke. Die
nächsten Tage brachte der Reisende mit anthropologischen
Studien der dortigen Khäs zu, die eine ausgesprochene
Abneigung vor dem photographischen Apparate zur Schau
trugen. Fast alle sind schwer vou den Laos zu unterfchei-
den, um so mehr als letztere in diesen Gegenden fast alle
durchbohrte Ohrläppchen haben; ebenso tragen die Wilden
den Schurz und die siamesische Haartracht. Die Frauen
haben den Oberleib mit einer kleinen nicht unzierlichen Weste
bedeckt. Sonst aber sind es die reinen Wilden, selbst wenn
sie die vorzügliche Idee gehabt haben, Lebensweise und
Tracht des Bonzen anzunehmen, was ihnen sofort zu dem
beneidenswerthesten, bequemsten und gefahrlosesten Leben,
das man sich in diesen Ländern zu erträumen vermag, verhilft.
Nichts erregt ihre Verwunderung; was die Laos am meisten
in Erstaunen versetzte, Flinte, Revolver, Lorgnette und ein
Magnet, brachte auf sie gar keine Wirkung hervor, und sie
sagten dann höchstens: „Wir kennen das nicht!" Nur die
i Hinterindien.
Nägel unter den Stiefeln des Reifenden interefsirten sie; es ver-
ging kein Tag, daß nicht, wenn der Reisende Abends oder bei
Ruhepausen auf feiner Matte ausgestreckt lag, einige Leute
schweigend eintraten, sich ihm langsam näherten, mit ihren
Fingernägeln an seinen Sohlen kratzten und sich dann nn-
ter dem sonderbarsten Mienenspiele halblaut ihre Beobach-
tungen mittheilten. Dabei sind die Laos selbst keineswegs
neugierig; es iuteresfirt sie vielmehr nur dasjenige, dessen
Gebrauch und unmittelbaren Nutzen sie kennen, wie Waf-
fen, Stoffe, Meffer u. dergl.
Am 19. Juni ging es weiter, und zwar in südlicher
Richtung nach der Provinz Phüng; der Himmel war um-
zogen und es regnete fein, aber andauernd, nachdem es
am Tage zuvor mit Strömen gegossen hatte. Der Man-
darin hatte für den Reisenden einen Elephanten besorgt, wel-
chen dieser wegen der schlechten Beschaffenheit des Bodens
(Thon, Sand, rother Sandstein) gern bestieg. Aber das
Thier besaß einen höchst unangenehmen, harten Gang, so
daß Harmand nach kurzer Zeit wie gerädert war; dazu ko-
stete jeder Uebergang über einen der hochangeschwollenen Bäche
mit ihren schlüpferigen Ufern ganz besondere Anstrengungen.
Am folgenden Tage fand er zu seiner großen Ueberraschuug
im Gebüsche rechts vom Wege ein schönes Sandsteinkapitell,
dessen Ornamente ein Werk aus guter alter Zeit verrathen,
es mußte schon Jahrhunderte an jener Stelle gelegen haben;
seine wilden Begleiter konnte» ihm natürlich keine Aus-
knnft über dasselbe geben, behaupteten auch, weder von
einer Ruine noch von einem Steinbruche in der Nähe etwas
zu wissen.
Gegen Sonnenuntergang stieg der Reisende vor der
Pagode von Phüng ab, einem Dorfe von etwa 30 Häu-
fern, welches der Kommandant de Lagrse zehn Jahre früher
besucht hatte. Es wird von Suös und Kh^s Duous be-
wohnt und führt den Titel meuong (— Provinz, oder besser
Bezirk; es giebt deren sehr große und bedeutende und wieder
verschwindend kleine). Natürlich wiederholte sich auch hier
dieselbe Komödie; der Gouverneur kannte keinen Weg nach
Annam hinüber, obwohl Harmand aus früheren Erkundi-
gungen (in Kemmerkt) wußte, daß ein solcher gerade über
Phüng führe. Er hatte fchon die größte Lust, einmal thät-
lich gegen einen solchen Lügner von Beamten vorzugehen;
aber stets hielt ihn der Gedanke, daß er Repräsentant einer
höhern Civilisation sei, und daß eine Unbesonnenheit seiner-
seits späteren Reisenden zum Nachtheil gereichen könne,
wieder von heftigen Ausbrüchen der Erbitterung ab. Das
Schlimmste war, daß die Vorräthe Harmand's zur Neige
gingen, da er sich in La-khün vieler Dinge entledigt hatte,
in der Hoffnung, daß er bald in Annam sein und seine Reise
dort ihr Ende erreichen werde. Es fehlte ihm vor allem
an Kleidern, Schuhen, Muuition, Pflanzenpapier und Spiri-
tus, und er war gezwungen, von weiterm Sammeln abzn-
sehen und sich von nun an ausschließlich mit Anthropologie
und Topographie zu beschäftigen. Und namentlich zu letz-
term bot sich ihm reichliche Gelegenheit, als er nach einem
weitern Tagemarsche über flaches, sumpfiges Land in dem
großen Dorfe Song-khün, gleichfalls einem meuong,
anlangte und den prächtigen, an 300 m breiten Strom Se-
bang-hieng erblickte. Alle feine Verzagtheit war sofort
verschwunden und er entschloß sich, diesen schönen Fluß, den
bedeutendsten linken Znfluß des Me-khüng seit Stuug-treng,
zu erforschen. Freilich war zunächst der passive Widerstand
der Mandarinen zu besiegen, deren Unverschämtheit im
Leugnen sich überall gleich blieb. Als Harmand den ersten
nach dem Se-baug-hieug ausfragte, welcher beim Dorfe selbst
vorbeifloß, antwortete derselbe unverfroren mit dem ewigen
„Bohutiak" (Wir kennen das nicht) — aber da übermannte
Im Innern von Hinterindien.
213
ihn die Wuth, und ein gewaltiger Faustschlag streckte den
Beamten zu Boden. Das schien zu Helsen; denn der da-
durch eingeschüchterte Gouverneur ließ mit sich reden, ver-
sprach, sich die Sache zn überlegen und theilte dem Franzosen
allerhand interessante Dinge über das Land, seine Geschichte,
die Zuflüsse und den Lauf des Se-bang-hieng mit. Unsere
vierte Abbildung ist die Reproduktion einer Skizze dieses
Flusses, die mit weißer Kreide auf eine schwarzlackirte Tafel
gezeichnet war, wie man sie dort für den Entwurf von Brie-
fen benutzt. Dieselben werden später mit einem spitzen
Griffel auf ein Palmblatt eingeritzt, und dann die Schrift-
züge mit einer Mischung aus Oel und Lampenruß eiugerie-
beu, worauf sie deutlich und uuverlöschbar in Schwarz her-
vortreten. Nach langen Verhandlungen setzte es Harmand
durch, daß ihm vorläufig Ruderer und Pirogen zu einer
Fahrt auf dem Se-bang-hieng aufwärts geliefert wurden.
Der Fluß stieg fortwährend und nahm an Schnelligkeit zu,
da es ununterbrochen regnete, und zwar, wie es schien, stärker
und andauernder, als zu gleicher Zeit in Französisch-Eochin-
china. Um 3 Uhr Nachmittags war es mitunter schon so
dunkel, daß man Fackeln anstecken mußte. In der Mitte
des Flußbettes wälzte sich beständig ein langer Streifen von
losgerissenen Baumstämmen, Aesten und Bambus ström-
abwärts. Die Hauptmasse des Gepäcks blieb in Long-Khün
zurück; die leichte Piroge, von sanlen Sues gerudert, hatte
kaum Platz für den Reisenden und sein Zeichenbrett unter
dem ganz neu hergerichteten Blätterdache.
Am 24. Juni begann die Fahrt. Der Strom hatte
überall dieselbe Breite, nirgends Schnellen, durchweg mit
Bambus bewachsene Ufer nnd auf dem rechten Ufer einige
Weiler; das linke war voller Gestrüpp und öde. In jedem
Dorfe mußte angehalten werden, um bei dem me-bän, dem
Aeltesteu, einige neue Ruderer zu erbitten, was nie ohne
lebhafte Diskussion abging. So will es die Sitte, welche
sich Harmand hier gern gefallen ließ, weil es ihm sonst nn-
möglich gewesen wäre, die Namen der zahllosen, zu beiden
Nachtlager.
Seiten einmündenden Bäche und Flüsse zu erfahren; denn
die Anwohner kennen stets nur einen gewissen Umkreis um
ihre Hütte. Sehr hüusig wiederholen sich die Namen dieser
Zuflüsse; man hört dort im Laufe eines Tages mehr wie
einmal die Namen tte Bong, Ue Gniang, lle Phay oder
He Hinlat. Die Laos aber lausen keine Gefahr sich zu
irren oder Verirrung anzurichten, da sie meist nur denjenigen
Fluß kennen, der vor ihrem Dorfe vorbeifließt, und gar kein
Verlangen bezeigen, einen andern kennen zu lernen. Jedes
Dorf ist eine Welt für sich, und jede Familie erzeugt, was
sie an Lebensmitteln, Stoffen n. f. w. braucht, selber; nur
in Zeiten höchster Noth, oder wenn man dem Mandarinen
Steuer bezahlen muß, entschließt man sich zu einem Besuche
bei den Nachbaren, um ein Stück Zeug, Arzneien, Wachs,
Thierfelle, Waldprodukte oder dergleichen bei chinesischen oder
birmanischen Händlern gegen Reis oder Geld umzutauschen.
Das gesammte linke Me-khöng-Ufer von La-khün bis Stnng-
treng befindet sich in der That nahezu im Zustande der
Wildheit.
2 5. Juni. Der Regen hört zwar nicht auf, fällt aber
weniger reichlich, und der Fluß ist seit dem vorhergehenden
Tage schon um einen halben Meter gefallen. Der Fluß
behält feine anfängliche Breite von 300 in bei und wäre
von seiner Mündung an bis hierher für Dampfer wohl
fahrbar. Erst gegen Abend des folgenden Tages (26. Juni)
traf Harmand die erste Stromschnelle an, die zwar ungefähr-
lich ist, aber die Nähe größerer Schwierigkeiten ankündigt.
Rechts mündet der ansehnliche Se-Tamuok ein, welcher
die Grenze zwischen den Laos und den Gebieten der Khäs
bildet; östlich von diesem Punkte beginnt, wenigstens in der
Theorie, das Anuam tributpflichtige Land. Während dieser
ganzen Tagesfahrt waren die Ufer des Stromes öde und
menschenleer, und die großen Oelbäume mit ihrer hellgrauen
Rinde und dem geradlinigen Stamme zeigen nicht mehr die
gewöhnlichen Spuren des Brandes. Alsbald begannen auch
die Leute, die sich bisher als muntere, zähe Ruderer gezeigt
hatten, unverholen ihre Furcht vor den Wilden zu äußern,
welche Harmand stets, wo er auch mit ihnen znsammenge-
troffen war, als friedliebend, ja furchtsam kennen gelernt
hatte. Es ist ja auch möglich, daß diese vor einem Euro-
päer zitternden Khks den sie stets peinigenden Laos gegen-
über, wenn sie zur Verzweiflung getrieben werden oder sich
Thomson's Rückreise vo
in der Uebermacht fühlen, ihrer angeborenen Grausamkeit,
oder besser ihrem Mangel an jeglichem Erbarmen sich völlig
hingeben. Harmand aber fühlte sich bei ihnen stets sicher,
auch wenn er über keine weitere Waffe als einen Stock ver-
fügte.
An diesem Abend wurde unweit einer Stromschnelle
Halt gemacht, die nach ihrem Brausen nicht ungefährlich
schien. Nachdem man die üblichen Borsichtsmaßregeln für
den Fall eines plötzlichen Anschwellens des Flusses getroffen,
wurden mächtige Feuer angezündet; denn es fand sich genug
ziemlich trockenes Holz, weil die Sonne während des Nach-
mittags die Wolken durchbrochen hatte. Ein solches Nacht-
lager am Strome gehört zu den angenehmsten Erinnerungen
einer solchen Reise: ringsum tiefe Ruhe, nur ab und zu von
dem hellen Schrei eines Tigers unterbrochen oder von dem
Geräusch der Aeste, die unter den Füßen einer durch die
Feuer aufgeschreckten Elephantenherde zerbrechen; dann wie-
der das Schnauben, Lachen und Grunzen einer Affenschaar,
welcher ein Panther nachstellt — und endlich schweigt alles
und nur aus der Ferue tönt noch das Rauschen der Strom-
schnelle herüber.
Am 27. Juni verursachte das Passiren der übrigens
ungefährlichen Schnelle einen längern Aufenthalt. Plötzlich
zeigte sich dem Auge des Reisenden, als er um einen Felsen
Lukuga nach Zanzibar. 215
bog, eine kleine Herde von vier Elephanten, welche ruhig
ihr Morgenbad im Flnfse nahmen und sich durch die hin-
und hergehenden Lente merkwürdiger Weise nicht sonderlich
belästigt fühlten. Ruhig Übergossen sie sich mit Wasser und
beobachteten dabei mit ihren kleinen glänzenden Augen fort-
gesetzt jede Bewegung der Menschen. Sie waren kaum
100 m entfernt, und Harmand hätte sich ihnen unschwer
noch mehr nähern können. Leider aber hatte er semen schwe-
ren Karabiner nebst Explosionsgeschossen in Song-Khün ge-
lassen, da er nicht auf solches Wild gerechnet hatte. Den-
noch versuchte er einen Schuß aus seinem Jagdgewehr trotz
der Bitten seiner Ruderer; denn er sah keine Gefahr: wäre
ein Thier wüthend geworden und zum Angriffe geschritten,
so hätte ihn die leichte Piroge mit der Geschwindigkeit eines
Pfeiles fortgeführt. Ruhig zielte er auf den größten Ele-
phanten und traf ihn in die Flanke, daß ein langer Blut-
ström herausquoll. Einen Augenblick zögerte das Thier,
streckte den Rüssel nach seinem Angreifer aus und breitete
die Ohren weit aus; dann machte es Kehrt und folgte seinen
Genossen, welche ohne sich sonderlich zu eilen mit der ihnen
eigenthihnlichen Mischung von Wucht und Elasticität den
steilen Uferhang hinaufkletterten und im Walde verschwanden,
wohin ihnen Harmand nicht folgen wollte.
Thomsons Rückreise in
In der Ende vorigen Monats in Swanfea abgehalte-
nen Jahresversammlung der British Association kamen u. a.
zwei Briefe des Asrikareifenden Joseph Thomson zur
Verlesung, die derselbe an den Sekretär der Royal Geo-
graphical Society gerichtet hatte. Wir theilen im Nach-
stehenden das Wichtigste aus den interessanten Schriftstücken
mit, deren erstes vom 27. März dieses Jahres ausKarema
oder Musamwira am Tanganjika- See, das zweite vom
19. Juli aus Zanzibar datirt ist*).
Am 19. Januar verließ Thomson Kasenga (oder
Mtowa) mit der Absicht, am Laufe des Lukuga entlang
und durch Kabuire gehend, womöglich Liendwe am Südende
des Taugaujika-Sees, wo er eine» Theil feiner Leute zu-
rückgelassen hatte, zu erreichen. Leider stellten sich diesem
Vorhaben vom ersten Tage an Schwierigkeiten entgegen,
die, wie ja so oft, von den eingeborenen Begleitern des
Reisenden ausgingen. Die Leute bildeten sich ein, Thom-
sou wolle sie nach Manyuema führen, dessen Einwohner
als Menschenfresser gefürchtet werden, und fo bemühten
sie sich, ihn auf alle Weife am Vorschreiten zu hindern.
Kein Zureden hals: unweit Meketo (bei Stanley Miketo,
unweit nördlich des Lukuga und westlich des Tan-
ganjika) entliefen die beiden ersten; die anderen drohten,
dasselbe zu thuu, wenn er von der eingeschlagenen Richtuug
nicht abgehen wolle. Sechs Tage lang bot er erfolgreich
ihrem Widerstande Trotz und verfolgte seinen Weg am
Ufer des Lukuga entlang, der zuerst in vorzugsweise
westnordwestlicher Richtung durch ein anmuthiges Thal
fließt, an dessen Seiten Hügel von 600 bis 2000 Fuß
über den See emporsteigen, nnd dann in beinahe ganz
westlichem Laufe sich dem großen westlichen Bogen des
i) Vergl. über den Anfang dieser Reise „Glpbus" XXXVI,
S. 47; XXXVII, S. 93, 144, 218, 344; XXXVIII, S. 94,128.
n Lukuga nach Zanzibar.
Cougo zuwendet. Die Strömung ist ungemein stark, und
machen viele Felsen und Schnellen den Fluß für Canoes
und Boote vollkommen unfahrbar. Es war kein leichter
Entschluß für Thomson, nach den glücklich zurückgelegten
sechs Tagereisen hier dem ungestümen Drängen und Dro-
hen seiner Leute nachzugeben und den Weg nach -Süden
einzuschlagen, doch blieb ihm ebeu nichts anderes übrig.
Bei Makalumbi passirte er den Lukuga uud gelangte so in
das Land Urua, durch welches er in südwestlicher Richtung
nach der Stadt des Kijombo, des Königs aller ans der
östlichen Seite des Congo wohnenden Warua^), zu gehen
gedachte. Es zeigte sich jedoch nur zu bald, daß die
Schwierigkeiten, die er mit feinen Leuten zu bestehen gehabt
hatte, von den zahllosen Beschwerden und Gefahren, die
hier seiner warteten, bei weitem übertrossen wurden. „Die
Warna," schreibt Thomsou, „erwiesen sich durchgängig als
die frechsten Schurken und Diebe. Sie haben keinerlei Ver-
kehr mit Händlern und uicht den geringsten Respekt vor-
dem weißen Manne. Es ist kaum möglich, das elende
Leben zu schildern, das wir während unseres fünfwöchent-
lichen Aufenthaltes in ihrem Lande führten. Die Häupt-
linge forderten übermäßigen Durchgangszoll und zwangen
uns zu langem Verweilen, wo es ihnen irgend beliebte.
Das Volk war stets geneigt, sich mit Kleidern zu versorgen,
indem es meinen Leuten, selbst wenn sie in größerer Menge
beisammen waren, die ihrigen vom Leibe riß. Mehr als
einmal griffen sie uns feindlich an. Aus nur wenigen
Fuß Entfernung wurden Lanzen und Pfeile nach mir ge-
schleudert; in einem Dorfe hatte die wüthende Menge einen
meiner Leute ergriffen, und ich konnte mir nur eben noch
einen Weg hindurchbahuen, uM das schon geschwungene
Nach Cameron ist Kasengo der oberste Herrscher von
ganz Rua oder Urua.
216 Thomson's Rückreise Do
Bell, das seinem Leben ein Ende machen sollte, abzulenken.
Und bei alledem mußten wir uns nicht nur fest, sondern
auch durchaus friedlich zeigen. Der kleinste Zufall, das
geringste Blutvergießen konnte uns verhängnisvoll werden.
Noch jetzt erscheint es mir fast wie ein Wunder, daß wir
alle mit dem Leben davon gekommen sind. Denken Sie
sich den Schreck, mitten in der Nacht dadurch aufgeweckt zu
werden, daß Einem die Decke unter dem Leibe fortgerissen
wird; man hat noch eben Zeit, nach dem Azimnth-Kompaß
zu greifen und entdeckt dabei, daß auch die Uhr schon ver-
schwunden ist. Dies war eines meiner nächtlichen Aben-
teuer. Zum Glück mußte die Uhr dem diebischen Volke
wie etwas Furchtbares erschienen sein, denn am nächsten
Tage brachte der Häuptling sie mir zurück. Nach all
diesen Thatsacheu kann man sich vielleicht einen ungefähren
Begriff von unseren Mühsalen und Beschwerden machen."
Seiner Hülssmittel fast gänzlich beraubt, kam Thom-
son am 10. März wieder in Mtowa an, von wo er sich
am 23. auf dem Cauoe des Air. Höre, der sich auf der
Reife nach dem südlichen Ende des Tanganjika befand, Uber
den See nach Kuugwe begab. Von Kuugwe ging es dann
weiter nach Karema, das am Abend des 26. erreicht wurde.
Unweit Karema, nur durch eine breite Sumpffläche von dem
Orte getrennt, befindet sich das Hauptquartier der Belgischen
Internationalen Expedition, dem Thomson einen Besuch
abstattete, und über das er Folgendes schreibt: „Karema ist
einer der seltsamsten Orte, die man für eine Station am
See überhaupt wählen konnte: eine weite Sumpfebene, ein
kleines Dorf; kein Schutz für Boote, nur feichtes Wasser,
aus dem überall Felsstücke emporragen; kein Raum, um
sich auszudehnen; die Eingeborenen feindlich gesinnt; von
jedem Handelswege weit abgelegen. Die Expedition hatte
schon mit dem Bau von Befestigungswerken und Wüllen
begonnen uud nach richtig militärischer Art Gräben gezogen.
Bei Tische saßen wir, ein Engländer, ein Jrländer, ein
Schotte, ein Franzose, ein Belgier uud ein Deutscher, als
die Repräsentanten von fünf Expeditionen, zusammen —
es wird Ihnen ohne Zweifel erfreulich sein zu vernehmen,
daß unter allen diesen Reisenden der Schotte derjenige
war, der, Dank Ihrer Unterstützung'), den meisten Erfolg
gehabt hatte, obgleich er der jüngste von allen und durch
ein bisher uoch ganz unbekanntes Gebiet gereist war." Nach
einer mäßig guten Fahrt über den See kam Thomson am
7. April in Liendwe (Jendwe) an, wo er Alles in Wünschens-
werthem Zustande, feine dort zurückgelassenen Leute sämint-
lich in bestem Wohlsein, vorfand. Leider aber erwartete
ihn fchon eine neue Enttäuschung: er hatte demnächst sich
nach Kiloa begeben wollen, und mußte nun erfahren, daß
der Weg dorthin nicht zu pafsiren fei. Merere hatte den
Krieg mit den Webehe wieder aufgeuommen, und so war es
x) Mr. Thomson reist im Auftrage der Royal Geogra-
phica! Society.
Lukuga nach Zanzibar.
nicht möglich, aus dem einen in das andere Land zu gelan-
gen. Man mußte wohl oder übel sich zu einem andern Rück-
marfche entschließen, der denn auch, wie Thomson schreibt,
„nicht werthlos" sein sollte. Immer am Seeufer entlang
gehend, umfchritt er das südliche Ende des Tanganjika bis
zur Müuduug des Kilambo, wandte sich dann nach N.-N.-O.
und erreichte, nachdem Uluugu (Uruugu, Laudfchaft am
Südende des Sees zwischen 8° und 9^^ südl. Br.) und
Fipa (zwischen 7" und 8° südl. Br.) passirt waren, in
langsamem Ansteigen die Stadt Kapusi, deren Lage er
auf 8^ südl. Br. und 32° 5' östl. L. angiebt.
Einen kurzen Aufenthalt in dieser Stadt benutzte
Thomson zur endlichen Feststellung der Lage des Hikwa-
(oder richtiger Likwa?) Sees, dessen Gestalt und Lage bis
jetzt auf unseren Karten bedeutend variirt. Freilich konnte
der Reisende auch nur einen Theil des Sees in Augen-
schein nehmen, doch glaubt er nach den Angaben der Ein-
geborenen schließen zu dürfen, daß die Länge dieses Wasser-
beckens 60 bis 70 Miles, seine Breite aber 15 bis
20 Miles betrage. Der See liegt zwei Tagereisen östlich
von Makapufi (wohl dasselbe, wie oben Kapusi) in einer
tiefen Depression der Lambalamsipa-Berge. Er nimmt
den Mkafn aus, einen großen Fluß, der in Kawendi (am
Ostuser des Tanganjika zwischen 5° und 7° südl. Br.)
entspringt, und dem die ganze Wassermasse des größten
Theils von Khonongo (Ukonongo) und Fipa und des gan-
zen Mpimbwe (Ukonongo und Mpimbwe liegen auf Stan-
ley's Karte zwischen 6V20 und 7° südl. Br.) zuströmt.
Mit fast vollständiger Gewißheit glaubt Thomfon angeben
zu dürfen, daß der See keinen Abfluß, wenigstens keinen
Abfluß nach Westen hin, habe. — Die Lage von Tabora,
wie sie sich aus seinen täglich in die Karte eingetragenen
Winkelmessungen und Distanzschätzungen ergab, difserirte
merkwürdiger Weise nur um 1 bis 2 englische Meilen von
derjenigen, welche Speke und Cameron angegeben haben.
Thomson's zweiter, aus Zanzibar datirter Brief enthält
die kurze Mittheilung von dem Eintreffen der Expedition
in Zanzibar, fowie von der demnächst bevorstehenden Heim-
kehr des Reisenden nach England; er gedachte am 28. Juli
Zanzibar zu verlassen. Einstweilen war er uoch damit be-
schäftigt, deu letzten geschäftlichen Theil der Expedition zu
ordnen, die von hier aus mitgenommenen Leute auszuloh-
neu u. f. w. Ueber das Verhalten dieser seiner Begleiter
während der ganzen Reise spricht er sich in der rühmend-
sten Weife ans; besonders erwähnt er die beiden energischen
Anführer Tfchuma und Makatuba, denen der glückliche Er-
folg der Expedition nicht zum kleinsten Theile zu Verdauken
sei. Dr. Kirk hatte in zuvorkommendster Weise das Eu-
gagement aller dieser Leute für Thomson vermittelt, uud
so kam es, daß sie sämmtlich glaubten, sie seien dem Balnja
(Kirk) für das Wohlergehen des steifenden verantwortlich,
den sie sicher zu geleiten und wohlbehalten wieder in Zan-
zibar abzuliefern hätten.
Prof. Dr. Georg Gerland: Merkwürdige Vogesenberge.
217
Merkwürdige
Von Prof. Dr. Georg
I. (Ers
D o
Wenn Goethe einmal sagt, daß jedes wahre Kunstwerk
unerschöpflich sei, so hat er insofern recht, als ein solches
stets auf alle Beschauenden einen gewaltigen Eindruck machen
wird; da aber die geistige Eigenart der verschiedenen Be-
schauer und der beschauenden Generationen stets verschieden
ist, so wird dieser Emdruck selbst wieder stets von anderer
Art, stets neu sein, und so wird der Bedeutung des Kunst-
Werks eine Mannigfaltigkeit der Wirkung zugeschrieben, was
eigentlich nicht ihr, sondern der Mannigfaltigkeit der Be-
schauer, auf welche die vielleicht ganz einfache und stille
Größe ihren Eindruck macht, in Wahrheit zugeschrieben
werden muß. Ein Kunstwerk also ist subjektiv unerschöps-
lich, weil das betrachtende Subjekt, der einzelne Mensch
sowohl und namentlich die Menschheit als Ganzes uner-
schöpflich sind. Denn objektiv unerschöpflich sind nur die
großen Werke der Natur, zu welchen wir ja, im höchsten
Sinne, Mensch und Menschheit mitzuzählen haben. Desto
unerschöpflicher sind sie, je mannigfaltiger die Beziehungen
sind, durch welche sie zu Stande kommen; und fo gehören
gerade die Objekte derjenigen Naturwissenschaft hierher, welche
die komplicirteste Aufgabe hat, die Aufgabe des Zusammen-
wirkens sämmtlicher tellurischen Kräfte, und die Ergebnisse
dieses Zusammenwirkens kennen zu lernen, gehören die Ob-
jekte der Geographie hierher. Man nehme von ihnen, wel-
ches man will.
So z. B. die Gebirge. Jung und Alt ergötzt sich heute,
wie vor Jahrhunderten, an jenen schönen Märchen von Zauber-
höhlen angefüllt mit wunderbaren Schätzen, von Bergen,
die sich anfthun und in weiten Gewölben Gold und Silber und
Edelsteine hoch gehäuft darbieten. Märchen dieses Inhalts
gehören nicht einem Volke vorzüglich an; sie finden sich
überall da, wo merkwürdige Gebirgserhebungen an bewohnte
Ebenen grenzen und durch ihr eigentümlich fremdartiges
Leben die Phantasie der Bewohner reizen. Wie in ihnen
das kindliche Gemüth der Völker in künstlerisch einheitlicher
Gestaltung den Eindruck der Gebirge wiedergegeben hat,
so sind in Wahrheit diese letzteren solche Schatzkammern für uns
und viel unerschöpflicher, als die Höhle Taxa selbst. Zunächst
dürfen wir wahrlich nicht geringschätzen, was sie uns direkt
an Schätzen bieten, an Holz und Kohlen und Bausteinen, an
Marmor, Edelsteinen, Metallen u. s. w. Eben so wichtig aber
ist gewiß die Anregung, welche sie uns durch die ganz neuen
Eindrücke einer in sich abgeschlossenen Welt bieten. Denn
— und dies ist zugleich ein neuer Punkt — welch' eine
neue Zusammensetzung und Bildung des Bodens, welch'
neue reiche Formen in Thier- und Pflanzenwelt, nnabhän-
giger, mannigfaltiger, reizvoller, in der Allheit ihres Lebens,
was für den Naturmenschen von größter Wichtigkeit ist, von
dem in der bewohnten bequemern Ebene Borkommenden ab-
weichend; und an sich so reich, daß ihre Mannigfaltigkeit
und die Art des Zustandekommens derselben auch dem Ge-
lehrten bedeutende Probleme bietet. Dazu die belebende
Kraft der Luft, die lebhaften Bewegungen der Atmosphäre
und ihres Wassergehaltes an Wolken und Nebel und eirtw
Globus XXXVIII. Nr. 14.
Vogesenberge.
Gerland in Straßburg.
e Hälfte.)
u o n.
lich, was auf jedes Gemüth wirken muß, neben, über der
engen Beschränktheit des eigentlichen Gebirges, der Thäler,
der Wälder, die weite freie Aussicht von den Höhen anf das
Gebirge selbst und über die Ebene.
Diese Wirkungen des Gebirges sind von sehr verschiede-
ner Art. Mit ästhetischem Bewußtsein, sei es in malerischer
Darstellung von Landschaften oder im Reisen zu landschaft-
lichem Genuß, hat man diese Eindrücke erst verhältnißmäßig
spät aufgefaßt, ebenso wissenschaftlich kaum vor dem siebzehn-
ten Jahrhundert; gefühlt hat man sie immer. Die prak-
tische Bedeutung der Gebirge war schon in ältesten Zeiten
klar.
Aber nicht nur die Art unseres Sehens und Fühlens
hat sich geändert, auch das Objekt des Sehens ändert sich;
das Gebirge selber, so sehr auch die Berge als Sinnbild
des Festen gelten, ist nicht stabil, ist vielmehr in ewiger
Wandelung begriffen, und hierdurch wird seine Unerschöps-
lichkeit geradezu unendlich. Wir sehen nie dasselbe Gebirge.
Die Vogesen, welche heute auf die herrliche Ebene des El-
sasses herniederblicken, sind andere, als die, welche auf Lud-
wig'sXIV. Mordbrennereien herabsahen, andere, als sie die
Generationen unserer Nachkommen in zwei, drei Jahrhnn-
derten durchwandern werden. Die Atmosphäre, namentlich
aber das Wasser in der Atmosphäre, ist der unerbittlichste
Feind der Gebirge.- als Regen, Nebel, Thau arbeitet es mit
unablässigem Nagen an ihrer Abtragung, und was es leisten
kann, dafür ist wieder das Elsaß selber der klarste Beweis.
Denn wo wir in seiner Ebene auch wandern, da gehen
wir aus Material, welches ursprünglich die Höhe der Berge
deckte, von der Gewalt des Wassers aber herabgeführt wurde,
um den festen Grund für unser Leben zu bilden. Die Ge-
schiebe und Anschwemmungen an Rhein und Jll sind Alpen-,
Iura-, Schwarzwald- und Vogesentrümmer, und ähnlich
wie diese großen Flüsse wirken die kleinen Bäche, die dem
Gebirge entstürzen, nur daß durch ihre so viel größere Zahl,
so viel acutere Arbeitskraft ihre Wirkung eine weit mächti-
gere ist. Aber auch da, wo kein Flußlauf hinkommt, finden
wir im Elsaß den Boden aus einem Erdreich gebildet, wel-
ches sich aufs Klarste als Zersetzungsprodukt der Vogesen
ausweist und durch Regen, Thau, Luft- oder Windwirkung
(Löß) gelöst und herabgeführt wurde. Alle diese Massen,
und ebenso die gewaltigen Mengen von Schlamm und Sand,
welche der Rhein stündlich meerabwärts führt, sind dem nr-
sprünglichen Bestand des Gebirges entzogen, der also früher-
em viel bedeutenderer war als heute, der auch heute noch
sich jährlich, täglich, stündlich mindert.
Es ist schade, daß wir keine Höhenmaße, keine Böschnngs-
angaben, keine wissenschaftlich genauen Abbildungen der
Vogesenberge aus früheren Jahrhunderten besitzen; wir wür-
den sonst berechnen können, wie stark die Erosion während
einer bestimmten Zeit und unter den klimatischen Bedingnn-
gen der Vogesen gewirkt hat. Unsere Zeit sorgt hierin
besser für die Nachkommen. Doch haben wir für die Höhen
der Berge wenigstens einige AnHaltepunkte, welche uns in
23
218 Prof. Dr. Georg Gerland
sehr frühe Zeiten zurückführen. Hierher gehören die durch-
aus vorhistorischeu Gletscherspuren z. B. im Thal der Thür,
welche für die Zeit der Gletscher dieses Thüles ungefähr die
gleichen Verhältnisse der Thalweite, der Gebirgshöhe beweisen,
wie wir sie jetzt haben; hierher gehören ferner die Reste
von heidnischen und römischen Ansiedelungen, die wir noch
heute auf den Berggipfeln finden, wie sie bei ihrer ersten
Anlage dort oben erbaut wurden: seit ungefähr 2000 Iah-
ren ist also die Gipfelhöhe z. B. des Douou nicht wesentlich
niedriger geworden. Ueberhaupt leidet die Gipselhöhe durch
die Angriffe des Wassers sehr viel weniger und sehr viel
später, als die ganze Masse des Gebirges und die Gehänge
der Rücken nnd Berge, denn zunächst werden die Berge durch
immer tiefere Eiufurchuug des Wassers aus dem ursprüug-
lich unzerlegteu Gesammtmassiv immer mehr und mehr
herausgearbeitet und dann müssen sie immer mehr und mehr
von ihren Gehängen hergeben, auf denen ja das Wasser her-
abrinnt, die also seinen Angriffen viel länger und in Folge
der Fallkraft des Wassers stärker ausgesetzt sind, als die
Gipfel selbst.
Alle Gebirge, welche den Wirkungen einer senchtigkeits-
haltigen Atmosphäre ausgesetzt sind, zeigen diese Erscheinnn-
gen, aber sie zeigen sie in wunderbarer Verschiedenheit, und
auf dieser Verschiedenheit beruhen oft um so mehr die
Hauptzüge der Individualität eines Gebirges, als sie bei
wesentlich gleichem geognostischen Material, bei wesentlich
gleicher Lage der Gebirge auftritt, wenn einer der wirkenden
Faktoren auch nur im mindesten sich ändert. Diese, man
möchte sagen, Feiusühligkeit der Gebirge äußeren Einflüssen
gegenüber, welche wir uus erst aus ihren Wirkungen ablei-
ten müssen, da wir dieselben sonst kaum merken würden,
erklärt sich leicht durch die sehr lange dauernde Summatiou
eines an sich vielleicht ganz unbedeutenden Faktors, und ge-
rade diese Summatiou an sich minimalster Dinge ist es,
welche im tellurischen Haushalt die größten Wirkungen
hervorbringt. Wie nahe liegen, ganz unter derselben Breite,
Vogesen und Schwarzwald bei einander; sie bestehen wesent-
lich aus demselben Gesteinsmaterial, und dennoch wie ganz
verschieden ist die orographische Beschaffenheit beider, wie
ganz verschieden der Eindruck, den beide Gebirge, die man
Zwillingsgebirge nennen möchte und nennen kann, auf den
Beobachter machen, wie verschieden auch das organische Le-
ben in beiden bis zum Menschen herauf. Es giebt im
Schwarzwald wohl kaum einen Punkt, den man für eine
Vogesenansicht halten könnte, und umgekehrt auch in den
Vogesen kaum eine Stelle, die man nicht sofort an charak-
teristischen Merkmalen als den Vogesen und uicht dem
Schwarzwald zugehörig erkennen möchte. Die Hauptunter-
schiede beider Gebirge beruhen auf der Thalbildung, welche
in den Vogesen viel breiter, im Verhältniß zur Gesammt-
masse des Gebirges viel bedeutender ist, als im Schwarzwald;
ferner auf der Bildung des Gebirgsmassivs selber, welches
bei den Vogesen klar und schön in drei selbständigen Kämme
entwickelt ist, die einander parallel von Südwest nach Nordost
streichen, während der Schwarzwald in einzelne große Plateau-
Massen zerfällt, deren Trennungslinien im Ganzen von Ost
nach West verlaufen, die aber nirgends ganz selbständig von
einander abgetrennt sind und dadurch keine leichte Uebersicht-
lichkeit gewähren. Die Bildung der einzelnen Berge ist,
wie sich das schon aus jener Kettenbildung der Vogesen er-
giebt, eine vielfach verschiedene; und ganz eigentümlich den
Vogesen sind die Seen, welche am schroffen Ostabhange des
südlichen Hauptkammes austreten. Dieser Ostabhang ist
steil, oft unzugänglich schroff, und unter diesen Felsen, diesen
Steilwänden liegen in circusartigeu Thälern der weiße, der
schwarze, der grüne (Daren-) See, nnd eine ganze Reihe
Merkwürdige Vogesenberge.
ähnlicher Thäler bergen Sumpfgründe an Stelle der klaren
Seespiegel. Fast der einzige See dieser Art, den der Schwarz-
Wald aufzuweisen hat, ist der Feldbergsee. Der Titi- und
Schluchsee entsprechen in ihrer Bildung den berühmten
Seen des südlichen Lothringens, dem Longe- und Gerard-
meer.
Von den Längsketten der Vogesen erstrecken sich nun
eine Reihe von Querthälern uach der Ebene hin; und so
sind sie reicher gegliedert, als der Schwarzwald, und doch
zugleich übersichtlicher. Unzweifelhaft verdanken sie dies Alles
ihrer Jsolirtheit und ihrer mehr westlichen Lage, denn durch
beide Umstände mußte die Erosion stärker auf sie wirken und
zugleich ihr Klima minder rauh werden. So sind sie breiter
geöffnet und also leichter zugänglich, als der Schwarzwald,
wärmer, licht- und farbenreicher, als er, ihre Vegetation,
ihr Anbau ist mannigfaltiger, das menschliche Leben dringt
tiefer und vielseitiger in sie ein, sie machen im Ganzen einen
südlichem Eindruck. Ju Folge aller dieser mannigfaltigen
Eigentümlichkeiten kann man sie als eine Art von Normal-
gebirge hinstellen, als Typus einer reichen orographischen
EntWickelung.
Indem wir nun dies merkwürdige Gebirge näher betrach-
ten wollen, werden wir dies am besten so thnn, daß wir
einzelne besonders merkwürdige Berggipfel jener drei Ketten,
welche die Vogesen zusammensetzen, eingehend näher betrach-
ten, da wir an ihnen die Eigentümlichkeiten des Gesammt-
gebirges und seiner einzelnen Theile in klarster Uebersicht
kennen lernen. Hierbei haben wir zugleich den Vortheil,
daß überall geographische Merkwürdigkeit und landschaftliche
Schönheit in den Vogesen Hand in Hand geht, daß gerade
die Berge, welche für die Geschichte des Gebirges besonders
lehrreich sind, auch für den Touristen besondere Anziehuugs-
kraft haben. Wir beginnen mit den Nordvogesen, den Sand-
steinvogesen, wie man sie auch nennt, weil sie fast ganz aus
rothem triassischen Sandstein gebildet sind. Sie ziehen von
Raon l'Etape, St. Dis, Saales in weitem Halbkreis um
Straßburg bei Zaberu und Weißenburg vorbei in die bayerische
Pfalz; parallel mit ihnen durch das weite Thal der Breusch
getrennt, streicht ostwärts von ihnen der zweite Haupttheil
der Vogesen, der Rücken des Hochfeldes; uud da wo die
Sandsteinvogesen beginnen, hören die südlichen, die krystal-
Untschen oder granitischen Vogesen auf, von jenen durch das
obere Brenschthal sowie durch das Thal von Weiler getrennt,
welches letztere die scharse Trennnngslinie auch zwischen den
Südvogeseu uud dem Hochfeld bildet. In den Nordvogesen
ist der Donon der höchste nnd merkwürdigste Berg *). Nähert
man sich Straßburg von welcher Seite man will, so fällt
in der Vogesenkette eine Partie auf, welche von Osten ge-
sehen als eine Ärt von Gebirgsfenke mit zackigem Einschnitt,
von Norden dagegen, etwa aus der Gegeud vou Bitsch, und
ebenso von Lothringen, von Westen her, als höchst auffallen-
der Doppelgipfel erscheint, der weithin den Gebirgszug über-
ragt. Noch überraschender beinahe zeigt sich dieser Doppel-
gipsel vom Hochfeld aus gesehen; auch vom fernen Hoheneck
in den Südvogesen erblickt man deutlich seine charakteristische
Gestalt, die hier wie aus einer flach gewölbten Ebene am
Horizonte aufzuragen scheint. Es ist dies der Donon oder
besser die Douougruppe (großer, kleiner Donon uud Kelberg),
*•) Wir empfehlen unseren Lesern vor Allem H. Kiepert's schöne
Specialkarte des Deutschen Reichslandes Els.-Lothr. im Auftrag des
kaiserl. Oberpräsidiums zu Straßburg nach amtlichen Quellen
bearbeitet (Berlin 1879, Dietr. Reimer), dazu die treffliche kleine
Reliefkarte von Els.-Lothr., welche in Leipzig bei P. Eckerlein
erschienen ist (Preis 50 Pfennig), oder die bekannte ebenfalls
sehr tüchtige Specialkarte der Reichslande Els.-Lothr. von Louis
Algermissen, Met; 1878, deutsche Buchhandlung (Georg Lang).
Prof. Dr. Georg Gerland
dessen höchster Gipfel, der große Donon (1010 m), alle
übrigen Gipfel der Sandsteinvogesen überragt. Daß er und
seine Umgebung dennoch von Straßburg aus wie eine Gebirgs-
senke erscheint, folgt aus seiner so weit westlichen Lage jen-
seits des Breuschthales, daher die nordöstlich gelegenen minder
hohen Berge, wie der hohe Noll J) (980 m), die Mutziger
Höhe (1007 in) und der Schneeberg (963 in), ja unter-
geordnete Auslaufberge, wie der schön und kühn geformte
Langenberg (la grande cote), der sich von Straßburg aus
gesehen direkt nördlich vom Donon zeigt, diesen höhern Gipfel
in der Gefammtanficht des Gebirges überragen. Auch im
Brenfchthal noch tritt der Donon hinter seinen Vorbergen
zurück; man muß ihn, um ihn ganz zu würdigen, selber auf-
suchen. Das kann man von Schirmeck aus, dem hübschen
und gewerbreichen Hauptorte des Breuschthales, von dem
aus die Straße nach Raon snr Plaine und ins Menrthe-
thal führt, auf höchst bequemen und dabei auch touristisch
sehr lohnenden Fahr- und Fußwegen, welche bis unter die
Gipselpyramide des Berges führen. Wer aber die ganze
Wildheit, Pracht und Größe dieser Natur kennen lernen will,
der gehe von Lützelhausen über den Langenberg und den
Katzenberg zur Mutziger Höhe uud dann auf der Höhe weiter
über Nariou und Noll bis znr Dononeinfattelnng, oder vom
Schneeberg aus über den Rücken, welcher den Kohlberg trägt,
bis zum Dononfattel. Diese Wege gehören zu den wildesten
und großartigsten, welche man in den Vogesen machen kann.
Selbst in den Südvogesen ist nichts, was sie übertrifft. Es
fehlt an den gewaltig anstrebenden Berghäuptern, den so
schön uud so mannigfaltig geformten Gipfelreihen, der wunder-
baren Farbenpracht und leuchtenden Lichtfülle, welche die
Südvogesen schmückt; aber gerade durch ihre düstere Ein-
tönigkeit, durch ihren schweren, schweigenden Ernst machen
diese nördlichen Berge einen ganz eigenartigen, nnanslösch-
lichen Eindruck. Alles ist dicht bewaldet, mit Ausnahme
der Gebirgsrücken selber; diese gewähren von ihren öden
Grasflttchen selten einen freien Ausblick, theils in Folge der
Waldumgebung, theils wegen ihrer eigenen breiten Wölbung.
Die Querthäler, welche sich von den Hauptrücken abseu-
keu, sind eng, tief, von dichtem Walde, meist Nadelholz, be-
deckt, düster, die Gehänge von großer Steilheit , oft weit
hinab mit moosverdeckten Blöcken überstreut, zwischen und
über welche die Tannen ihre Wurzeln strecken. Aber die
Steine geben keinen festen Halt; nnd so sieht man über die-
selben vielfach die Baumstämme hingestreckt, welche den hef-
tigen Stürmen dieser Gegend erlegen sind. Auch die Rücken
selber sind nicht selten durch wilde Felsbildungen ansgezeich-
net, die bald aus einzelnen riesigen Blöcken bestehen,
bald in wilder Zusammenhäufung wahre Felslabyrinthe bil-
den. „Häuserhoch liegen die gewaltigsten Quader wild
über einander gethürmt; eine Moosdecke überzieht trügerisch
die Klüfte, in welche der Fuß bei jedem Schritt einsinkt.
Wer sich dort bei eintretender Dunkelheit einmal verirrte,
begreift, daß auch der Forstmann diese Wildniß nur ungern
allein betritt; der Hülferuf des Verunglückten würde hier
nngehört verhallen2)."
Und nun diese Wälder, die meilenweit ausgedehnt in
ihrer öden Wildheit fast das Gepräge eines Urwaldes zeigen.
An den steilen und steinigen Abhängen, die fern von den
Der Name bedeutet ursprünglich Berg und kommt auch
sonst häusig in Deutschland vor, wenn auch in etwas anderer
Form: der Knüll im Hess. Hügelland, der Knül (mit langem ü)
bei Oschersleben, ein kleiner spitzer Hügel, zu den östlichsten Vor-
bergen des Elms gehörig. Engl, cnoll, knoll, Hügel, altd. nol,
hn'ol, Hügel. Grimm, W.-B. 1464, 1467.
2) Benecke, Abriß der Geologie von Elsaß-Lothringen,
Straßb. 1878, 104.
: Merkwürdige Vogesenberge. 219
Dörfern gelegen und ohnehin schwer zugänglich sind, ist eine
Verwerthnng des Holzes oft kaum möglich. Windgebrochene
Stämme vermodern nicht selten an Ort und Stelle; andere
Bäume stehen verdorrt, im Innern von Pilzfäden aufgezehrt,
deren Fruchtträger als kolossale braungrüne Schirme aus
deu Stämmen hervorbrechen, und von dicken Holzlarven be-
völkert, die, wenn sie erst ihre jugendliche Ungestalt abgestreift
haben, als elegant gehörnte Käfer sich auf der fonuigeu
Rinde der Stämme tummeln werden, deren Inneres sie jetzt
völlig zerstören helfen. Im Allgemeinen aber erscheinen
diese Wälder, wie der geschlossene Tannenhochwald meist,
thierarm; ihr düsteres Schweigen wird nur von verein-
zelten Vogelstimmen unterbrochen. Doch sind Lagerstätten
von Wildschweinen nicht selten, auch Spuren des Edel-
Hirsches finden sich, wenngleich der Tourist diese Thiere
selbst nicht so leicht erblicken wird.
Auch die Vegetation dieser Wälder ist eintönig; es fehlt
ihr nicht an reichlicher, oft sogar üppiger Entwickelung, aber
sie ist verhältnißmäßig artenarm nnd zeigt wenig Pflanzen,
welche dem Gebirge charakteristisch sind und nicht auch in
der Ebene vorkämen. Zu den auffallendsten dieser Ge-
wächse zählt die an Bächen und in feuchten Gründen wach-
sende Adenostyles albifrons, die aus hellgrünen, hnflat-
tigartigen Blättern einen hohen Blüthenstiel mit röthlichen,
dem Wasserhanf ähnlichen Blüthen treibt. Doch ist diese
Pflanze über die gefammten Vogesen verbreitet. Alpine
Pflanzen kommen hier nicht vor.
Kommt man nun endlich auf dem Donon an, hat man
die wildzerklüfteten, an manchen Stellen seltsam ansgesurch-
teu Konglomeratblöcke, welche seinen höchsten (nach N.-O.
gerichteten) Gipfel bedecken, erstiegen, so wird man durch
eine Aussicht belohnt, welche ebenso großartig als für die
genauere Kenntniß des ganzen Gebirges lehrreich ist. Nach
Westen ist der Blick durch andere Berge beschränkt; nach
Nordwesten übersieht man weithin die lothringische Ebene;
die großen Seen schimmern herüber. Diese Nachbarschaft
der nordwestlichen Ebene, zwischen der und 'dem Meere
kein irgend nennenswertes Gebirge liegt, erklärt den unge-
meinen Regenreichthum des Donon, welcher bei den An-
wohnern geradezu sprichwörtlich ist: er ist der erste hoch-
aufragende Berg, der sich den feuchtigkeitbeladenen Nord-
Westwinden, die über Lothringen herkommen, entgegensetzt.
Daher verdichtet sich der Wafserdampf der Luft an ihm zu-
nächst und zumeist, wenn auch die übrigen Höhen, Noll,
Schneeberg u. s. w., nicht leer ausgehen; und da die Ver-
dichtung oft sehr rasch stattfindet, so entladen sich auch Ge-
Witter häufig genug über seinem Gipfel. Auch für Straß-
bürg ist der Donon vorzugsweise der regenverheißende Berg,
denn die Winde, welche uns den meisten Regen bringen,
schlagen zunächst an ihn an; und ferner wenn man eine
Linie vom Donongipfel nach dem Münsterthnrme gezogen
denkt, so läuft dieselbe gerade in der Längsachse des weitge-
öffneten Breuschthales, ein Umstand, welcher meteorologisch
für Straßburg nicht ohne Bedeutung ist.
Durch dies fchöue Thal hin, welches die Aussicht vom
Donon nach Süd und Ost auf das Herrlichste belebt, über
die Hügelketten, welche es einschließen, sieht man dann auch
Straßburg mit seinem dunklen alten Münster- und dem
neuen hellen Wasserthurm liegen inmitten der röthlich schim-
mernden Ebene, welche mit ihrem Farbenreichthum uud ihrer
kräftigen Besonnung allen Vogesenaussichteu einen so nnend-
lichen Reiz verleiht. Jenseits derselben erhebt sich der blaue
Zug des Schwarzwaldes in seiner ganzen Längenansdeh-
nung, soweit er nicht südöstlich im sommerlichen weißlichhellen
Duft verschwindet. Direkt südlich erblicken wir über die nach-
sten Vorberge hin das hier vorzugsweise grüne, wiesenreiche
28*
220 Einiges über
obere Breuschthal, neben demselben südöstlich das gewaltige
Massiv des Hochfeldes, mit kahlen, langgezogenen Rücken über
die verschiedenen Thal- und Gipfelbildungen seiner zahlrei-
chen Ausläufer emporragend; südlich vom Thal die dunkel-
bewaldete merkwürdige Pyramide des Climont, hinter ihr in
starker Verkürzung die Hauptkette der Grauitvogeseu, den
Brezonard, die Hantes-Chaumes und den Hoheneck, von wel-
chem letztern in umgekehrter Richtung blickend Elie de
Beaumont das merkwürdige Aufragen der Dononhörner
schilderte. Südöstlich vom Donon sieht man, ebenfalls in
zusammengeschobener Verkürzung, die Sandsteinketten, welche
ie Turkmenen.
von Frankreich, von St. Die, von Raon l'Etape zum Do-
non ziehen, den Ormont, die Hautes-Chaumes u. a.
Gegen diese Aussichten sticht nun die nach Norden höchst
eigenthümlich ab. Auch hier blickt man noch in einzelne ge-
öffnete Thciler hin; aber dieselben sind nicht groß, sie schneiden
nicht beträchtlich in das Gebirgsmafsiv ein; auch hier sehen
wir aufragende Höhen, aber sie stellen nicht Pyramiden
und Spitzen dar, fondern langgewölbte Rücken, welche sich
nach Norden immer mehr und mehr westöstlich erstrecken,
immer niedriger und flacher werden.
Einiges über i
I
L—. Ueber die zwischen dem Amu-Darja und dem
Kaspischen Meer wohnenden Turkmenen weiß man wenig;
nur über die süd-östlichen Küstenstriche des Kaspischen Mee-
res hat man einige genaue Kunde durch die in den Jahren
1337 bis 1848 ausgeführten Reisen des Baron Bode.
Das ganze Gebiet zwischen dem Amu-Darja, dem
alten Flußbette desselben, dem Kaspischen Meer und
den im Norden Persiens hinziehenden Gebirgszügen El-
burs und Kopepet-dag 2) ist eine Niederung, welche nach
Westen zum Kaspischen Meer leicht abfällt. Das Centrum des
Gebietes ist wegen seines vollständigen Wassermangels gäuz-
lich unbewohnt; ebenso unbewohnt ist der nördliche Theil
am alten Bette des Amu-Darja. Dagegen am Ufer des
Kaspischen Meeres, an den nördlichen Abhängen des Ko-
pepet-dag, am Flusse Murg-ab, welcher von Süden
kommend parallel mit dem Kopepet-dag läuft und sich in der
Wüste verliert; am linken Ufer des Amu-Darja von der
Stadt Chodsha-Sala an der afghanischen Grenze bis
zur Stadt Tschardshui am Amu und an der südlichen
Grenze des Chanats Chiw a findet sich eine aus Turkmenen
fast aller Stämme zusammengesetzte Bevölkerung.
An den Grenzen der Chiwaschen Oase sitzt derjenige
Theil der Jomudeu, welcher Bairam-schaly heißt, in
der Zahl von 15 000 bis 20 000 Zelten (Kibitken) 3). Nörd-
lich von diesen, zwischen ihnen und den usbekischen Ansiede-
lnngen des Chanats Chiwa, sitzen die Tschoudoren. Im
Chanat Chiwa selbst sitzt ein Theil der Goklanen (etwa
2000 Kibitken), während der andere größere Theil (4000
Kibitken) an der persischen Grenze zwischen den Flüssen
Gnrgen und Atrek wohnt.
Ueber diese Turkmenen des Chanats Chiwa etwas zu
reden, ist keine Veranlassung, da dieselben jetzt friedlich sind
und überdies durch die von Turkestan aus gesammelten
Nachrichten genugsam bekannt.
Etwas anderes ist es mit den Turkmenen, welche die
Landstrecke an der Persischen Grenze innehaben.
1) Nach dem Russischen: N. G. Petrusewitsch, Die Turk-
menen zwischen dem alten Flußbette des Amu-Darja und der
nördlichen Grenze Persiens. (Schriften der kauk. Abtheil, der
Kaiserl. Russ. Geogr. Gesellschaft Band XI, Heft I, S. 1 bis 81.
Tiflis 1830.)
2) Russische und deutsche Karten schreiben gewöhnlich Ko-
pet-dag. Nach Vambery Kübbet Dagh, d. i. Kuppelberg.
Es entspricht eine Kibitke einer Familie, zu welcher fünf
Personen gerechnet werden.
> i e Turkmenen.
Ueber die am linken User des Amu-Darja lebenden
Turkmenen ist zu sagen. 20 Werst oberhalb Tschardshni
am Amu wohnt der turkmenische Stamm der Sakaven
(3000 Kibitken). 25 Werst weiter aufwärts am Flusse
wohnen die beiden Geschlechter S aj aty und Eski (zusammen
200 Kibitken), welche zum Stamm Tschondor gehören.
Dann folgen noch weiter aufwärts die dichtgedrängten An-
siedelnngen des Tnrkmenengefchlechts Erfari, welche sich
bis zur afghanischen Grenze hin erstrecken und sogar auf
das Territorium von Afghanistan hinüberziehen. Die Unter-
abtheilungen der Erfari heißen Kara, Ulu-tapa, Kun-
jäfch uud Bekaul; die drei ersten bewohnen das linke, die
letztere das rechte Ufer des Amu-Darja. Ihre Menge wird
etwa in Summa 30 000 Kibitken ausmachen, obwohl sie
von einigen Reifenden bis auf 60 000 Kibitken geschätzt
wird. Es haben alle am linken Ufer des Amu-Darja
lebenden Turkmenen vorläufig noch keine Bedeutung für
Rußland; sie sind 300 Werst von der russischen Grenze
entfernt — das Chanat Buchara liegt zwischen ihnen und
Rußland.
Am Ufer des Kaspifchen Meeres, auf der Halbinsel Man-
gyschlak bei Krasnowodsk und auf den Inseln Tschele-
kenundOznrtschinsk leben die Sch ich z en (auch Sch ich -
löreu genannt), die Ozurdshalinzen und andere Türk-
menenstämme; in Summa etwa 2000 Kibitken. Sie stehen
unter russischer Botmäßigkeit.
Weiter südlich am Ufer des Meeres, zwischen den beiden
Flüssen Gurgeu und Atrek, sowie nördlich vom Atrek
leben auch Jomüden, aber derjenige Zweig derselben,
welcher Kara-tschuk heißt. Es zerfällt nämlich der große
Stamm der Jomud-Turkmenen in zwei Hauptzweige:
Bairam fchaly und Kara-tschuk. Der ganze Zweig
Bairam schalt) wohnt, wie bemerkt, im Chanat Chiwa
nebst einer geringen Menge (1000 Kibitken) des Zweiges
Kara-tschuk. Jeder der beiden Hauptzweige der Jomuden
zerfällt wieder in verschiedene kleinere Zweige und diese in
Geschlechter.
Die Kara-tschuk-Jomudeu theilen sich wieder in
zwei Zweige: Scharis-dshasarbai und Ak-atabai
(tschoni), welche gewöhnlich kurz Dshesarbai und Akata-
bai genannt werden.
Ganz abgesehen von diesen aufgezählten Stamm- und
Geschlechtseintheilnngen zerfallen alle Turkmenen nach ihrer
Lebensweife in ansässige Ackerbau treibende (Tschomuden
genannt) und nomadisirende (Tfchorwa genannt). Die
Einiges über
Notwendigkeit außer anderen Lebensbedürfnissen auch Brot
zu haben, hat zu einer Arbeitsteilung unter den Gliedern
einer und derselben Familie geführt — der Ackerbau und die
Viehzucht in den Steppen bedingen eine durchaus verschiedene
Art und Weise zu leben. Zwischen den Tschomuren und
den Tschorwa besteht eine innige Verbindung; oft werden
die Tschomuren zu Tschorwa und umgekehrt. Verschiedene
Umstände bedingen diesen Wechsel der Lebensweise; in Folge
der Verluste der Viehherden werden einige Turkmenen zu
Ackerbauern und umgekehrt der Erwerb reicher Vieh- und
Kameelherden macht die Ackerbauer zu Viehzüchtern. Dabei
gehören oft die Glieder eines Geschlechts, ja sogar leibliche
Brüder zu verschiedenen Lebensberusen. Die Viehzucht in
der Steppe zwingt die Jomnden zum stetigen Wechsel ihres
Wohnorts, zum Nomadifiren; deshalb leben sie während des
S o m m e r s nördlich vom Atrek, zum Theil an dem Haupt-
Nebenfluß desselben, dem Sumbar, den Winter aber auf
persischem Gebiet am Gurgen und am Atrek. Von den
ansässigen Kara^tschuk-Jomudeu sitzen die Atabai zwi-
schen den Flüssen Atrek und Gurgen und am linken
Ufer des Gurgen, also auf persischem Gebiet; die Dsha-
farbai dagegen sitzen am rechten nördlichen Atrekuser ans
russischem Gebiet und halten sich auch für russische Unter-
thanen.
Das Leben am Ufer des Meeres hat auch die Türk-
menen zu Seefahrern gemacht; aber eben so wenig als sie
auf dem Lande nicht friedliche Hirten, sondern Räuber und
der Schrecken ihrer Nachbarn find, so haben sie auch aus
dem Wasser, bis in die letzte Zeit hinein, sich mit Rauben
beschäftigt. Noch bis vor Kurzem befuhren die turkmenischen
Boote das Kaspische Meer und machten astrachansche und
nralsche Fischer zu Gefangenen; allein seitdem das ganze
Ostufer des Kaspischen Meeres bis zur Atrek-Mündung
unter Botmäßigkeit der Russen steht, seitdem auf der Jusel
Aschur-Ade eine russische Marinestation errichtet ist,
sind die Turkmenen zu Fischern geworden, welche ihre Beute
in Aschur-Ade oder inKrasnowodsk verkaufen. Ganz
haben sie freilich uoch uicht vom Raube gelassen; einzelne
schiffen noch auf dem Busen von Aster ab ad und überfallen
von hier aus Perser, welche auf der parallel dem Meere in
einer Entfernung von 6 Werst hinlaufenden großen Heer-
straße reifen. Doch geschieht dies in nur kleiner Gesellschaft
von drei bis vier Menschen.
Die Gesammtzahl der Kara-tschuk-Jomnden beträgt
15 000 Kibitken, davon gehören zu den Dshasarbai 8000
Kibitken(4500 nomadisirende, 3500ansässige), zuden Ata-
b ai 7000 Kibitken (4500 nomadisirende, 2500 ansässige).
Von der ganzen Gesammtmenge leben nur 1000 Kibitken
beständig in Aulen nördlich vom Atrek; 9000 Kibitken
bringen nur den Sommer — acht Monat — nördlich vom
Atrek zu und leben im Winter auf persischem Gebiet; die
übrigen 5000 Kibitken sind auf persischem Territorium fest
angesiedelt.
Im Osten von den Jomnden, zwischen den Flüssen Atrek
und Gurgen, fitzen die G o kl a n- Turkmenen, welche die
persische Regierung anerkennen und nach Burdschnurd
einen jährlichen Tribut von 6000 Tuman (1 Tuman etwa
8 bis 9 Mark) entrichten. Die G o kl an en zerfallen in folgende
Zweige: Ga'i, Bajandyr, Kyryk, Ai-derwifch,
Tfchakyr-bek-dely, Jangak-sagri. Die Gesammtzahl
der Goklanen beträgt jetzt nach den Mittheilungen des
Herrn Baknlin, russischen Konsnl's in Ast er ab ad, etwa
4000 Kibitken. Der Chef des persischen Distrikts von
Burdschnurd giebt absichtlich die Zahl der Kibitken viel
geringer mit 1800 au, weil er sonst mehr Tribut an die
persische Regierung nach Teheran zahlen müßte, als jetzt
ie Turkmenen. 221
von ihm verlangt wird; er nimmt von den Goklanen jähr-
lich das Vierfache, nämlich 24 000 Tuman, und liefert nur
6000 nach Teheran.
Die Goklanen haben das hügelige Gebiet zwischen den
Vorbergen des Elburs und Kopepet-dag inne, wohl
den besten Theil des nördlichen Perfiens; viel kulturfähiges
Semd, viel Wasser, viel Weide und viel Wälder. Schon
Baron Bode malt mit lebhaften Farben die Fruchtbarkeit
und Schönheit der dortigen Landschaft; hier sei die Lieblich-
keit englischer Landschaften vereinigt mit der Großartigkeit
des Kaukasus. Herr Petrusewitsch findet die Bode'schen
Lobeserhebung«: durchaus nicht übertrieben; das Dreieck
zwischen dem Elburs und dem Kopepet-dag sei eine der
reichsten und gesundesten Gegenden der Erde. Hier fällt in
den Bergen Regen und Schnee, während daneben in der
nördlich vom Kopepet-dag gelegenen Wüste beides
seltene Phänomene sind; das ganze Land zu beiden Seiten
des Atrek, besonders das linksseitige Ufer zum Gur-
gen hin, ist vortrefflich zum Ackerbau geeignet. Hier gedei-
hen Reis, Baumwolle, der Wallnußbaum, Pfirsiche, Apfel-
finen- und Orangenbäume und das Zuckerrohr. Hier sind
auch die Ruinen ansehnlicher Städte.- Dshordshan, Gnm-
bed-i-Kaus, Meschhed-i-Mesrian und andere. Be-
sonders berühmt sind die nördlich vom Atrek in einer Ent-
fernnng von 40 Werst gelegenen Ruinen der letztgenannten
Stadt.
Die Gegend am Gurgen ist das alte berühmte Hyr-
kanien, welches schon zur Zeit Alexander des Großen durch
seine Schönheit und Fruchtbarkeit ausgezeichnet war.
*
Die Teke-Tnrkmenen oder (nach russischer Termi-
nologie) die Tekinzen sind von allen turkmenischen Stäm-
men am zahlreichsten. Nach ihren Wohnsitzen werden unter-
schieden die Tekinzen von Ach al und die von Merw (die
Achal-Tekinzen und die Merw-Tekinzen). Mit dem
Namen Achal wird die schmale kulturfähige Ebene am
Nordabhang des Kopepet-dag von Kifyl-Aiwat bis zur
persischen Provinz Dereges bezeichnet. An die Nordseite
dieses Kulturstrichs grenzt die große bis zum Usboi reichende
Sandwüste. Die Lage der Oase Merw ist eine andere.
Merw liegt ziemlich am Ende des Flusses Murg-ab
(Hühner-Wasser), welcher vom Nordabhang des Parapa-
misus herabströmt. Rund um Merw herum ist alles
Wüste, nur am Murg-ab auswärts sind die Ansiedelun-
gen der Tekinzen zu finden. Die Entfernung zwischen den
am meisten östlich gelegenen Ortschaften Achal, Gäuars
und Merw, d. h. zwischen beiden Oasen, beträgt etwa 200
Werst. Auf der ganzen Strecke zwischen Gäuars und
Merw liegt jetzt keine einzige Ansiedelung, doch strömt der
Fluß Herri-rud (von den Turkmenen Tedshen-Darja
oder Sarachs-Darja genannt) zwischen durch. Der
Herri-rud entspringt am südlichen Abhang des Parapa-
misus, läuft etwa 400 Werst gerade von Osten nach Westen
längs des Gebirges (Herat liegt an ihm), biegt dann unter-
rechtem'Winkel nach Norden, durchbricht die zwischen dem
Parapamisns und dem Elburs sich erstreckendenGebirgs-
anslänse, tritt zwischen Merw und Achal in die Steppe,
woselbst er sich verliert. Noch vor 40 Jahren wohnten die
Tekinzen auch am Herri-rud, doch die Perser haben wegen
der fortwährenden räuberischen Anfälle die dortigen Ansiede-
lungen zerstört.
In der Sandwüste Mittelasiens ist keine Möglichkeit
ohne Wasser zu leben, nördlich von Achal und Merw ist
daher nichts Lebendiges zu finden, kein Vogel, kein Thier.
222 Aus allen
Im Gebiet von Achal dagegen, woselbst eine große Menge
von Gebirgsflüßchen herabströmen, sind zahlreiche Ansiede-
lnngen vorhanden. Weil der Kopepet-dag in seinem süd-
östlichen Theile höher ist als im nordwestlichen, so sind die
vom nördlichen Abhang des Kopepet-dag herabströmenden
Flüsse im südöstlichen Theile wasserhaltiger als die im nord-
westlichen und in Folge dessen sind im südöstlichen Theil
der Oase Achal die Ansiedelungen dichter als im Nordwest-
lichen Theil. Kisyl-Arwat ist die im äußersten Nord-
Westen gelegene befestigte, d. h. mit einer Lehmmauer ein-
geschlossene, Ansiedelung der Tekinzen und von hier ab
ziehen sich längs dem Gebirge anfangs eine, weiter unten
zwei und drei Reihen von Ansiedelungen hin, bis zum Orte
Esch-chabad nahe am östlichen Ende der Oase, fast am
Ende des Kopepet-dag. Weiter nach Osten liegen nur
noch zwei Dörfer, Ann au und G äuars. Die ganze Oase
Achal, von Kisyl-Arwat und Gäuars, hat eine lange
Ausdehnung von etwa 250 Werst und eine Breite von 20
bis 30 Weist durchschnittlich; die Mitte ist etwa 60 Werst
breit. Hier liegt die Ortschaft Gok-tepe, welche das Cen-
trnm des ganzen Gebiets von Achal ist. Man zählt etwa
50 Dörfer in Achal und im Ganzen eine Bevölkerung von
etwa 30 000 Familien (circa 150 000 Individuen beiderlei
Geschlechts).
Die Tekinzen siedelten sich in Achal am Anfang des
vorigen Jahrhunderts an; allein die stetige Zunahme der
Bevölkerung im Hinblick auf die beschränkte Ausdehnung
der Oase nöthigte sie im Anfang dieses Jahrhunderts sich
nach neuen Wohnplätzen umzuschauen. Ein Theil ließ sich
nun unter Anführung des Oras-Ch an am Ende des Flusses
Herri-rud nieder; es wurde hier eine Befestigung Ted shen
oder Oras-Kala erbaut und in Folge dessen erhielt der
Flnß Herri-rud vou der Befestigung Sarachs bis zu
seinem Ende in der Wüste den Namen Tedshen-Darja.
Allein die Tekinzen waren Plünderer und Räuber. So
lange sie in Achal lebten, plünderten sie in Nordpersien,
seitdem sie am Herri-rud hausten, dehnten sie ihre Raub-
züge auf Chorassan aus. In den vierziger Jahren zer-
störte deshalb der Chef der persischen Provinz Chorassan
alle Ansiedelungen der Tekinzen in Ted shen. Deshalb
zogen die Tekinzen sich nach Achal zurück; allein der wieder
eintretende Raummangel in Achal zwang sie abermals sich
nach anderen Wohnplätzen umzusehen. Mit Einwilligung
der persischen Regierung ließen sie sich in Sarachs am
H erri-rnd nieder, von wo die listige turkmenische Bevölke-
rung wegen ihres räuberischen Wesens schon verjagt war.
Hier in Sarachs behaupteten sie sich mit großer Energie
namentlich gegen den Chan von Chiwa, dessen Truppen ge-
schlagen wurden, und wurden in der Folge immer übermüthi-
ger. Sie plünderten im Chanat Chiwa, in Buchara,
in Chorassan und in Merw, woselbst die Turkmenen
Saryki wohnten, welche ebensolche Räuber waren, wie die
Tekinzen — bis die persische Regierung die Geduld verlor
und sie durch abgesandte Armeen züchtigen ließ. Von den
Erdtheilen.
Persern wiederholt in Sarachs bedrängt, wandten die Te-
kinzen sich nach Merw, verjagten und vernichteten die da-
selbst wohnenden Saryki und setzten sich seit dem Ende der
fünfziger Jahre selbst in Merw fest. Die Perser konnten,
so oft sie es auch versuchten, nichts gegen die Tekinzen aus-
richten, und die Tekinzen blieben unabhängig und frei,
nach wie vor der Schrecken der angrenzenden Volksstämme.
Die Zahl der Tekinzen in Merw betrügt etwa 50 000
Kibitken, also etwa 250 000 Individuen beiderlei Geschlechts,
immerhin eine große Menge. Man kann wohl mit Recht
fragen, wie sich die Tekinzen in Merw so schnell vermehrt
haben, da in den dreißiger Jahren man nur von 10 000
Kibitken in Ted shen wußte. Die Gründe der starken V er-
mehrung liegen einerseits in einem starken stetigen Zuzug
aus Achal, ferner darin, daß die Tekinzen mehrfach andere
Stämme an sich heranzogen, fo z. B. zwangen sie vor acht
Jahren 2000 Familien der Salyri, sich unter ihnen in
Merw anzusiedeln.
Jedenfalls gehören die Achal-Tekinzen sowie auch
die Merw-Tekinzen zu einem und demselben Türk-
menenstamm, wenngleich sie außerdem iu gewisse Zweige
sich spalten. Der ganze Stamm der Tekinzen spaltet
sich in zwei Hauptzweige, Tochtamysch und Otamysch.
Der Hauptzweig Tochtamysch theilt sich wieder in die
Bek und die Vekil mit vielen kleinen Nebenzweigen; der
Hauptzweig Otamysch theilt sich in die Sytschmes und
die Bachschi mit vielen kleinen Nebenzweigen.
Merw war früher eine blühende Kolonie, deren Centrum,
die gleichnamige Stadt, von Alexander dem Großen (?)
gegründet fein foll. Dann wurde Merw persisch, und als
am Ende des vorigen Jahrhunderts die ganze Bevölkerung
Merws nach Buchara abgeführt wurde, blieb Merw
unbesetzt, bis am Anfang dieses Jahrhunderts die von den
Tekinzen verjagten Saryki sich daselbst festsetzten — freilich
nicht auf lange, denn bald nahmen die Tekinzen auch Merw
ein, nachdem sie die Saryki verdrängt hatten.
Merw ist jetzt durch die ausgezeichnet geregelte Be-
Wässerung ein fruchtbares Land, in welchem Ackerbau und
Viehzucht vortrefflich gedeiht.
Südöstlich von Merw stromaufwärts am Flusse Murg-
ab nomadisiren die Turkmenen-Saryki; sie haben
nur zwei Ansiedelungen: Pandsh-dech (fünf Dörfer) am
Fuße der Borberge des Parapamisus-Gebirges und wei-
ter abwärts am Flusse Jnletan, woselbst sie die Plätze
der verjagten Salyren einnahmen. Man zählt im Ganzen
12 000 Familien. Die Saryki in Juletan leben mit
den Tekinzen auf gutem Fuß und sind insbesondere wegen
ihrer großen Schafherden berühmt.
Die letzten der an der persischen Grenze wohnenden Türk-
menenstämme sind die Salyri, welche etwa vor acht Iah-
ren ihre Selbständigkeit verloren, indem die Merw-Tekinzen
sie vom Snr-abadn nach Merw überzusiedeln zwangen.
Es giebt ihrer etwa 3000 Familien in Merw.
Aus allen Erdtheilen.
.f . . den Weg getreten ist, vergl. Oesterr. Monatsschr. f. d. Orient
-Jt f t c n. 1880, S. 127) und verlangen eine bessere Ausbildung der
— Die „Mosk. Wjed" beklagen die mangelhafte Ent- Anwohner des Kaspischen Meeres für Schifffahrt und Schiff-
Wickelung des russischen Handels mit Persien (welchem bau, ferner um das Umladen der Schiffe zu vermeiden eine
doch Rußland selbst durch allerlei Plackereien hindernd in Vertiefung des Fahrwassers in den Wolgamün-
Aus allen
düngen, die nach den angestellten Ermittelungen keinen
bedeutenden Aufwand an Zeit und Mitteln erfordern würde.
Arbeiten zur Aufräumung und Vertiefung des Münduugs-
armes Bachtemir sind bereits im Gange.
— Einer Bekanntmachung der russischen Telegraphen-
Verwaltung zufolge ist im transkaspischen Gebiete die Tele-
graphenlinie von Tschikischljar bis Duz-Olum
jetzt dem allgemeinen Verkehr übergeben. Da der Verkehr
von Tschikischljar rückwärts durch persisches Gebiet führt,
so ist bei Depeschen nach jener Strecke neben dem russischen
Porto auch die persische Transitgebühr von 4 Francs für
jede Depesche von 20 Worten zu zahlen. Die getroffene An-
ordnnng zeigt, daß Rußland jetzt auf dem bewohnbaren
Gebiete im Süden der Turkmenensteppe definitive Nieder-
lassungen gegründet hat.
— Nach dem „Bereg" wird Baron Nordenskjöld im
kommenden Herbste Petersburg besuchen und dort Vorberei-
tnngen für seine projektive Expedition nach den Neu-
sibirischen Inseln im Jahre 1832 treffen, deren Kosten
der russische Kaufmann Sibiriakow trägt. Nordenskjöld will
die Mündung der Lena auf dem Landwege erreichen und
dort erst zu Schiffe steigen.
— Am 26. August (7. September) dieses Jahres, als
dem 25. Jahrestage der Krönung Kaiser Alexander's IL,
wird in Tomsk der Grundstein gelegt zudem Hauptgebäude
für die sibirische Universität. Zunächst werden an
dieser Universität nur drei Fakultäten errichtet, eine medi-
zinische, eine juridische und eine philologische.
— Nach der „Tobolsk. Gnb. Wjed." nimmt der Markt
in Obdorsk (nördlichste Stadt am Ob, unter dem Polar-
kreise) alljährlich größern Aufschwung. Im laufenden Jahre
waren für 200 000 Rubel Maaren dorthin gebracht. Seit der
Verkehr mit Europa durch das Eismeer lebhafter geworden
ist, entstehen dort Niederlagen wie für die Einfuhr so auch
für die Ausfuhr.
— Nach einer Korrespondenz der „Tnrkest. Ztg." aus
Wjeruoje haben Futtermangel, der harte Winter und der
tiefe Schnee in den Bezirken von Semirjetschensk
und Knldsha ebensolchen Nothstand hervorgerufen, daß
die Nomaden ihrer Angabe nach 70 bis 80 Procent ihres
Viehstandes verloren haben. Das statistische Comits von
Semirjetschensk hat den eingetretenen Abgang ziffermäßig
feststellen lassen. Die Marktpreise in Wjernoje betrugen im
März dieses Jahres für einen Hammel 30 Kopeken, für ein
Pferd nur 5 bis 7 Rubel, aber das Tfchetwert Hafer kostete
5 Rbl. 50 Kop.; die Fuhre Heu 8 bis 10 Rbl. und Stroh
5 bis 6 Rbl. Das Hornvieh war völlig heruntergekommen;
den Kalmücken gebrach es an Talg zur Beleuchtung und an
der Möglichkeit, sich Feuerung zu beschaffen. Man besürch-
tete eine Steigerung der Noth, wenn die mohammedanische
Bevölkerung Kuldshas vor den heranrückenden Chinesen hätte
auswandern müssen.
— In einem Vortrage, welchen Karl Humann, der
glückliche und energische Entdecker der pergamenischen Reliefs,
vor der Berliner Gesellschaft für Erdkunde (s. deren Ver-
Handlungen VII, Nro. 7, S. 241 ff.) gehalten hat, betonte er
hauptsächlich das überaus rasche Zurück weichen der Tür-
ken vor den Griechen in Vorder-Kleinasien. Er
versteht darunter alles Land westlich von der Linie Konstan-
tinopel-Münduug des Gereuis-tschai (Judos, in Lykien) oder
die Gebiete der sechs Flüsse Bakir-tschai (Kaikos), Gediz-tschai
(Hermos), Kütschük- und Böjük-Menderez (Kaystros und
Maiaudros), Gereuis-tschai (Judos) und Kodschai-tschai(Xan-
thos). Die Bevölkerung dieser Gebiete schätzt er auf rund
1^/2 Millionen Seelen, wovon 600000 auf die Türken, 300000
auf die nomadisirenden Jnrnken in den Gebirgen, 400 000 auf
die Griechen entfallen; 40 000 sind Tschepen (Holzhauer und
Kohlenbrenner, ohne jede Religion, vielleicht Reste der Urem-
wohner des Landes), 60000 Armenier, 40 000 Juden, 15 000
Katholiken, 10 000 bis 15000 Zigeuner, Araber, Bulgaren,
Crdtheilen. 223
Kroaten u. f. w., 4000 bis 5000 Europäer. Die Türken
sprechen selten eine andere Sprache als die ihrige; sie arbei-
ten aus eigenem Triebe ungern, sind schwerfällig, dabei aber,
sofern sie nicht Beamte oder mit Christen viel in Berüh-
rung gekommen sind, ehrlich und gerade. Sie besitzen viel
gesunden Menschenverstand und ein richtiges Urtheil, aber
keine Schlauheit; zu Geldgeschäften taugen sie nichts und
sind meistens arm. Hauptsächlich treiben sie Ackerbau und
Viehzucht; die Gewerbe aber sind meist in die Hände von
Europäern übergegangen, so die Tuchfabrikation und die
Seidenwirkerei. Geblieben ist ihnen nur die Teppichwirkerei,
Sattlerei, das Beschlagen von Pferden und Mauleseln, Kisten
machen, Verfertigen von Holzschuhen und rohen Stiefeln.
Von Schifffahrt wollen sie nichts wissen, während ihnen
das Geleiten von Karawanen besonders behagt. Mancherlei
kommt zusammen, um sie nicht prosperiren zu lassen. Die
vom Islam geforderte strenge Absonderung der Frauen ver-
hindert, daß diese den Männern helfen und in deren Geschäft
ten thätig sind; höchstens beim Ackerbau greifen sie mit an.
Die Schulen sind bodenlos schlecht; wenige Türken bringen
es zum Lesen oder Schreiben ihrer eigenen Sprache. Auf
ihnen allein ruht die ganze Last der Militäraushebung; nur
wenige sind wohlhabend genug, sich davon loskaufen zn kön-
nen. Mit 18 Jahren Heirathen sie, mit 21 bis 22 werden
sie ausgehoben und damit die Ehe auf lange Jahre getrennt.
Die Folge davon ist, daß die Frauen unsittlich werden und
schließlich zur Abtreibung der Leibesfrucht schreiten, ein
Laster, das nicht nur bei Soldatenfrauen oder in den nie-
deren Volksklassen, sondern in allen türkischen Häusern, auch
in den besten, gang und gäbe und die Hauptursache ihres
Aussterbeus ist. Aushebung und Verarmung kommen dazu.
Die Griechen dagegen sind meist äußerst schlau und haben
sich des ganzen Handels und der Schifffahrt bemächtigt. In
jedem Türkendorfe findet sich wenigstens ein Grieche, der
einen kleinen Kram- und Schnapsladen hält; er allein wird
reich, während alle Türken verarmen. Sie sind anßerordent-
lich thätig, strebsam und lernbegierig. Kein griechisches Dorf
ist ohne Schule, und für diese, die Kirche und Hospitäler wird
kein Geld gescheut. In den Städten sind die Griechen mit
Vorliebe Aerzte, Advokaten, Lehrer, dann Kaufleute und
Handwerker. In religiösen Dingen sind sie unduldsamer,
als die Türken, aber ohne inniges religiöses Gefühls Doch
führt ihnen ihre Konfession eine Menge slavischer, meist bnl-
garischer, und auch walachischer Elemente zu, welche bald
die griechische Sprache sowie griechische Namen annehmen
und zu Griechen werden. Viel halten die Griechen auf ihre
Sprache und deren Reinheit; ihre Nationaleitelkeit ist
schrankenlos und selbstverständlich erscheint ihnen, daß die
ganze europäische Politik sich nur um Hellas dreht. Aber
Achtung erweckt es, daß die Griechen in Smyrna allein
jährlich fast % Millionen Mark für ihre Schulen, Gymna-
sien zc. aufbringen.
Wo zwei solche Völker zusammen wohnen, ist es um das
eine geschehen. Man kann fast berechnen, wie lange es noch
dauern wird, bis das ganze Land vom Marmara-Meere bis
hinunter nach Lykien von Griechen bewohnt sein wird, bis
die Türken ganz vertrieben sein werden. Letztere müssen ihre
Aecker verkaufen, und wer sie kauft, ist immer ein Grieche;
Türkendörfer verschwinden nach und nach, theils verdrängt,
theils von selbst, und Griechendörfer entstehen. Das bewei-
sen die zahlreichen Friedhöfe, zu denen das Dorf fehlt, und
dessen Name Niemand weiß; das beweisen die Obstbäume
und die Mauerreste, die sich auf hohen Gebirgen oft mitten
im Walde finden. Die Stadt Aivalyk, gegenüber von
Mytilene, wurde in den zwanziger Revolutionsjahren von
den Türken des benachbarten Ajasmat gänzlich zerstört und
ihre Oel- nnd Weinberge annektirt. Heute wohnen wieder
35000 Griechen in Aivalyk, keine Türken, und die Stadt
Ajasmat ist heute ein Dorf von 20 armseligen Hütten, hat
aber einen türkischen Friedhof, der Vs Stunde lang ist; alles
224 Aus allen
bebaute Land auf Stunden im Umkreise gehört wieder den
Aivaljoteu. Dikeli, Pergamons Hasen, vor 15 Jahren
ein Dorf von zehn Hütten, ist heute von 4000 Griechen be-
wohnt. Pergamon selbst hatte vor 30 Jahren 17 000 Ein-
wohner, nämlich 15 000 Türken und 2000 Griechen, Arme-
nier und Juden; heute wohnen dort 3000 Türken und 8000
Griechen. Die Insel Chios, deren sämmtliche griechische Be-
wohner während der griechischen Revolution umgebracht oder
in die Sklaverei verkauft wurden, zählt heute 60 000 Ein-
wohner, darunter nur 5000 Türken, wenige Armenier
und Juden, alles übrige Griechen. Besonders rasch ist das
Vordringen der Griechen aber in Smyrna. Dabei vollzie-
hen die Griechen diesen Kamps ums Dasein meist, ohne sich
der Sache selbst bewußt zu werden; jeder wohnt in seinem
Dorfe und geht nur seinen Geschäften nach. Aber an ein
Wiederaufblühen der Türken hier ist nicht zu denken. Seit
dem letzten Kriege hat sich denn auch der mohammedanischen
Bevölkerung eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt; der Er-
regung ist die tiefste Apathie gefolgt; kein vernünftiger Türke
glaubt mehr an den Bestand der Herrschaft; die Erpressung
der Behörden und die Rechtlosigkeit haben ihren Höhepunkt
erreicht, und die darunter am meisten leiden, sind die Tür-
ken, weil die anderen meist schlau genug sind, zur rechten
Zeit vorzubeugen, wozu der Türke oft zu stolz ist.
Inseln des Stillen Oceans.
— Professor Bastian traf im April, von Neu-Seelaud
kommend, in Honolulu ein, benutzte seinen Aufenthalt auf
Hawaii zu ethnologischen Studien und fuhr am 10. Mai
weiter nach S. Francisco. Er ist seitdem, wie bekannt, zu
Anfang August von seiner zweijährigen Reise um die Erde
wieder in Berlin angelangt.
Australien.
— Wenn gewisse Leute Auswanderungslustigen noch
immer Australien als ein Eldorado anempfehlen, so steht
damit das unter der dortigen arbeitenden Klasse herrschende
Elend in grellstem Widerspruche. Arbeit für einen solchen
Lohn, daß ein Mann mit seiner Familie davon leben kann,
ist schwer zu finden. Hunderte von Arbeitern suchen vergeb-
lich nach Verdienst, belagern die Regiernngsgebände und ver-
langen Brot für die Ihrigen. Es ist dies zum großen Theile
die Folge der freien Einwanderung aus Europa, welche
die australischen Kolonien auf Beschluß ihrer Parlamente
(die darin sitzenden reichen Herren wollen billige Arbeits-
kräste) viele Jahre hindurch europäischen Auswanderern fast
ohne Beschränkung zu Gute kommen ließen.
In höchst unwahrer, unbegründeter Weise hat man
diese Arbeiternoth in Australien mit den dort eingewander-
ten Chinesen in Verbindung gebracht. Der Jan Hagel, wel-
cher in diesen Kolonien ein besonders ausgearteter ist, er-
laubt sich unter dieser falschen Annahme die rohesten und
grausamsten Handlungen gegen dieselben. Die Beispiele,
welche wir anführen könnten, sind so empörend, daß man
dabei eher an Bestien, denn an Menschen denken muß. Diese
Erbitterung gegen die Chinesen, welche in der That die
harmlosesten Menschen sind, hat selbst bei Parlamentsmit-
gliedern Eingang gefunden, indem sie, unbekümmert um das
internationale Völkerrecht, den Antrag stellten, daß in Zu-
kuuft die Chinesen beim jedesmaligen Eintritt in eine der
Erdtheilen.
Kolonien mit einer Kopfsteuer von 10 Pf. St. belegt werden.
Und auf öffentlichen Meetings wurde beschlossen, daß bei den
nächsten Parlaments Wahlen nur solche Kandidaten berücksich-
tigt werden sollen, welche energischen Maßregeln gegen die
Einwanderung der Chinesen ihre Unterstützung zusagen.
Auch ist in einzelnen Kolonien, wie in Süd-Australien, be-
reits durchgesetzt, daß bei öffentlichen Arbeiten keine Chine-
sen mehr Anstellung finden.
Wenn es gleich richtig ist, daß die Chinesen bei ihren
viel geringeren Bedürfnissen auch billiger arbeiten können,
so steht es doch eben so fest, daß sie den europäischen Arbei-
teru in Australien kaum eine Konkurrenz machen. Eine ge-
naue Nachforschung, welche die Regierung der Kolonie Vic-
toria, wo sehr viel in Chinesenverfolgung gemacht wird,
über die Zahl und Beschäftigung derselben in den einzelnen
Kolonien neuerdings hat anstellen lassen, beweist dies zur
Evidenz. Wir entnehmen aus der dem Parlamente in Mel-
bonrne darüber zugegangenen Vorlage folgende Einzelheiten.
Im Jahre 1859 belief sich die Chinesenbevölkerung in
Victoria auf rund 46 000, hat aber von da ab kontinnirlich
abgenommen und beträgt zur Zeit nur noch 13 000. Die
Gesammtzahl der Chinesen in allen australischen Kolonien
beträgt gegenwärtig 44 270 und zwar in Queensland 14 524,
in Victoria 13 000, in Neu-Süd-Wales 9500, in Neu-
Seeland 4433, in Süd-Australien und Port Darwin 2000,
in Tasmanien 750 und in West-Australien keine. In der
City os Melbourne leben 500 und in den Vorstädten 380
Chinesen. Von diesen konkurrireu nur 66 (Tischler) mit
Europäern, während die Uebrigen als Gärtner und Hansi-
rer beschäftigt sind oder sich Arbeiten unterziehen, welche
Europäer verweigern würden. Dies ist das aus der Unter-
suchung gewonnene Resultat, und darüber so viel Geschwätz
und Lärm!
Vermischtes.
— Der dänische Orlogschnner „Jngolf", Kapitän
Monrier, hat im Juni und der ersten Hälfte des Juli 1879
hydrographische Untersuchungen in der D ä n e m a rk - S tr a ß e
zwischen Island und Grönland ausgeführt, über welche nach
dem Originalberichte Manrier's Petermann's Mittheilungen
(26, S. 311) Näheres enthalten. Es ist dadurch die Existenz
eines unterseeischen Rückens zwischen Island und Ost-Grön-
land nachgewiesen, der wahrscheinlich nirgends tiefer als,
300 Faden liegt, nach Norden und Süden jedoch von größe-
ren Tiefen begrenzt wird. Ob derselbe bis an die Küste von
Grönland heranreicht, ist noch nicht erwiesen, aber sehr wahr-
scheinlich. Es ergab sich ferner, daß „das eiskalte Boden-
wasfer des Polarmeeres wahrscheinlich nirgends, jedenfalls
aber nur in sehr geringen Mengen diesen Rücken überschreitet,
daß derselbe also die Tiefen des Polarmeeres von denen des
Atlantischen Oceans vollkommen scheidet, und der Polar-
ström, nachdem er den Rücken passirt hat, auf einer Boden-
schicht von warmem Waffer nach Süden fließt. Wahrschein-
lich ist derselbe eine Fortsetzung des Shetland-Färö-Jsland-
Rückens, welcher in derselben Weise den Atlantischen Ocean
vom Polarmeere scheidet. Für Island hat dieser Rücken
eine hohe Bedeutung, indem er den bis zum Boden hinab-
reichenden eiskalten Polarstrom von seinen Küsten fernhält,
welchem Umstände die Insel ihr im Gegensatze zum benach-
barten Ost-Grönlande mildes Klima zu verdanken hat."
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. VIII. (Mit sechs Abbildungen.) — Thomson's Rückreise vom Lukuga nach
Zanzibar. — Prof. Dr. Georg Gerland: MerkwürdigeVogesenberge. I. DerDonon. (Erste Hälfte.) — Einiges über die
Turkmenen. I. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Inseln des Stillen Oceans. — Australien. — Vermischtes. — (Schluß
der Redactiou 9. September 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrannschweig.
Hierzu eine Beilage.
•
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Band XXXVIII.
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Begründet von Karl Andree.
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Dr. Richard Kiepert.
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OXaUn](I}IÜCtg m mrei?e tion 12 Mark pro Band ZU beziehen. '
I m
Innern von H i n t e r i n d i e n.
(Nach dem Französischen des Dr. Harm and.)
(Sämmtliche Abbildungen nach den Skizzen und Angaben des Reisenden.)
VIII.
Während dieses ganzen Vormittags fuhr man durch öde
Gegend, und erst gegen 2 Uhr zeigten sich an beiden Ufern
einige Lichtungen und Maisfelder; die dazugehörigen Hau-
ser indessen waren im Dickicht versteckt. Harmand ließ
alsbald landen und schritt aus einem schmalen Fußpfade
vorwärts, bis er zu einigen mit Mais, Gurken und Reis
bepflanzten Feldern und drei Hütten gelaugte, welche hoch
oben auf abgefchuitteneu Baumstämmen errichtet waren.
Dort traf er drei Kinder und eine Frau; ob sie jung oder
alt war, war nicht zu unterscheiden, so dick waren ihre
Züge mit Schmutz und Rauch bedeckt. Die Kinder waren
trotzdem, wie bei allen indochinesischen Völkern, niedlich und
von angenehmer Physiognomie; sie werden indeß bei ein-
tretender Mannbarkeit bald häßlich: die Nase plattet sich
ab, die Backenknochen treten hervor, das Gesicht wird breit
und kurz, während die Angenlidspalten in ihrem Wachs-
thum still zu stehen scheinen. Die Frau hatte in ihrem
ungepflegten Haare eine große Messingnadel stecken und war
nur mit einem etwa zwei Hände großen Stück Baumwollen-
zeug bekleidet, welches nur der Form wegen da zn sein schien,
so durchlöchert war es. Beim Anblick des Weißen ergriff
die ganze Familie schreiend die Flucht, kletterte geschickt wie
Assen zur nächsten Hütte hinaus, zog die Leiter hinter sich
her und begann bald darauf um Hülse zu schreien. Har-
mand sandte nun seine Annamiten aus Kundschaft aus, uud
diese brachten auch bald einen Mann herbei, der etwas Laos-
blut in den Adern zu haben schien und sich mit Harmand's
Globus XXXVIII. Nr. 15.
Ruderern etwas verständigen konnte. Alles aber, was aus
ihm herauszubringen war, bestand darin, daß es weit und
breit keinen Reis mehr gäbe und daß sie, die Khäs, selbst
noch drei Monate bis zur nächsten Ernte warten und ihr
Leben inzwischen mit dem, was sie im Walde fänden, fristen
müßten. Und doch hatte man dem Reisenden in Song-
Khün gesagt, daß er bei den Wilden leicht seine Pro-
Visionen werde erneuern können! Am Abend wurde bei
sechs Hütten Halt gemacht, welche den Namen Th em ep führ-
ten. So hatte auch schon das vorhergehende Dorf geheißen;
da aber die Hütten eines Dorfes oder richtiger Stammes
je nach dem Bedürfnisse der Vertheidiguug oder der Laud-
bestelluug bald näher zusammenstehen, bald über eine weite
Fläche vertheilt sind, so mag das seine Richtigkeit haben.
Ob aber das Dorf nach dem Stamme, den Khäs Themep,
heißt oder dieser nach jenem, vermag Harmand nicht zu
sagen. Büffel besaßen diese Wilden in Menge, aber von
Reis war nicht eiu einziges Körnchen aufzutreiben.
Der 28. Juni ging fast ganz mit der Passage der
schwierigen und gefährlichen Stromschnelle Kheng-Se-Meteh
verloren, wobei die Boote gänzlich entladen werden mußten,
und zwei Leute beiuahe ihr Leben eingebüßt Hütten. Jen-
seit dieser Stelle war der Strom wieder so ruhig und so
glatt wie ein Spiegel und bildete eine Art See von 400 m
Breite, der ringsum von majestätischem Walde eingefaßt war.
Derselbe reichte zwar bis an das Wasser heran, war aber
nur von geringer Breite, und jenfeit dehnten sich wieder die
29
226
Im Innern von Hinterindien.
schrankenlosen Waldlichtungen mit ihren verkrüppelten Bau-
men und ihrem Teppich von Zwergbambus aus.
Gegen Abend wurde vor einer Art Verschanzung Halt
gemacht; dieselbe bestand aus einer dichten Hecke von Dorn-
gestrüpp und Baumstämmen und war von einer Art Gla-
eis, der dicht mit in die Erde gesteckte» spitzen Bambu-
stücken bewehrt war, umgeben. Auf einem schmalen, ebenso
ausgestatteten Pfade gelangte Harmand mit großer Vor-
ficht an ein fest verbarrikadirtes Thor, zu welchem ein kur-
zer Gang aus Baumstämmen, der oben mit Zweigen und
Dornbündeln bedeckt war, führte. Dadurch war jeder Ver-
such einer Uebersteigung des Thores von vornherein abge-
schnitten. Drinnen befanden sich wohl Leute, aber Nie-
mand wollte sich zeigen, so laut auch die den Reisenden
begleitenden Süss riefen. Als auch keine Antwort kam,
nachdem Harmand zwei Messer und einen kleinen Spiegel
über das Thor hineingeworfen hatte, ließ er durch einen
Suö (die Sprache dieses Stammes ist derjenigen der KhKs
nahe verwandt) verkünden, daß er das Thor mit seinem
Waldmesser zerhauen werde, wenn man ihm nicht gutwillig
öffne. Aber erst beim zweiten oder dritten Schlage näherte
sich vorsichtig ein kleiner elender Mensch mit langen in
einen Knoten gebundenen Haaren, eine Lanze mit gekrümm-
tem Blatte in der Hand, und öffnete zaudernd den schwer-
fälligen Verschluß des Thores, nahm die Faschinen und
spanischen Reiter, welche dann noch den Eingang verwehrten,
weg und ließ den Fremden eintreten.
war das für ein stupider Mensch! Wie viel
Hütte von Wilden am Ufer des Se-bang-hieng.
Mühe kostete es ihm, an seinen Fingern die Zahl der Man-
ner in seinem Dorfe — es waren ihrer sechs — zusam-
menzubringen ! Es müssen hier schon mittelbare Bezie-
Hungen zu Aunam bestehen; denn seine Lanze war anna-
mitischen Ursprungs, und eines der Kinder, die ebenso wie
zwei Frauen später zum Vorschein kamen, trug ein halbes
Dutzend Sapeken aus Zink neben Eberzähnen, Muscheln
und Schuppen vom Schnppenthiere um den Hals, nebenbei
gesagt, seine einzige Bekleidung. Innerhalb des Geheges
standen vier Hütten, und in der Mitte eine hohe Plattform
zur Umschau, wie meist in diesen Dörfern. Ebenso fanden
sich hier die überall gebräuchlichen Zaubermittel und die
Gegenstände zur Abwehr böser Vorbedeutung und fremder
Zauberei. Alle Geschenke des Reisenden wiesen diese Wil-
den zurück und wollten ebenso wenig etwas verschenken oder
vertauschen, selbst nicht Dinge ohne Werth, wie Brenn-
holz; das wäre ganz gegen ihre Gebräuche, sagten sie,
und würde ihnen eine Epidemie auf den Hals laden. Nur
die Frauen ließen sich zuletzt bewegen, einige Ellen Messing-
draht anzunehmen. Nur mit Widerstreben willigte der
Mann darein, sich den Kopf messen zu lassen; dabei bog er
ihn hartnäckig vorn über uud wollte oder konnte dem Reisen-
den nicht ins Auge sehen. Die Snös fragte er, ob Har-
mand nicht der König von Bang-kök wäre. In diesem
Dorfe blieb der Reisende über Nacht. Beim Morgengrauen
erschallten laute Rufe über den Fluß; es waren zwei Män-
ner, welche auf die Jagd gegangen waren und ihre Ausbeute
heimbrachten. Die Frauen holten sie über den Strom;
Im Innern v
Wild brachten sie nicht, aber ihre Tragkörbe waren mit
schlechten Früchten, Bambntrieben und wilden Aams gefüllt.
Auf diese Nahrung war nun auch unser Reisender an-
gewiesen.
Am 29. Juni ging es weiter und zwar in Begleitung
eines der Dorfbewohner. Allein schon nach anderthalbstün-
biger Fahrt setzte eine neue Stromschnelle, Kheng Peluon,
deren vier Absätze zusammen nur etwa 1 in Höhe erreichen,
i Hinterindien. 227
der weitern Fahrt ein Ende: nachdem sich die Leute eine
Stunde lang vergebens abgemüht hatten, auch nur die leich-
teste Piroge ohne Ladung hinüberzubringen, sah sich Har-
mand zur Umkehr genöthigt.
Die laotischen Boote sind für Forschungsreisende zu
schwer und tief, wenigstens um stromauf zu fahren; da
wären die nordamerikanischen Rindencauoes am Platze.
Für Thalfahrten sind die ausgehöhlten Baumstämme in-
Thor eines Dorfes der
dessen unerläßlich, weil sie große Widerstandskraft besitzen und
das häusige Auffahren auf Felsen und spitze Baumstämme
im Flußbette ihnen wenig anzuhaben vermag. Der Man-
gel an besseren Nahrungsmitteln und der schlechte Zustand,
in welchem sich die Boytslente befanden, waren weitere
Gründe für Harmand, die Rückreise anzutreten; hoffte er
doch außerdem, bei seiner Reise nach Annam denselben Fluß
noch weiter aufwärts nochmals zu Gesicht zu bekommen.
bilden am Se-bang-hieng.
Für die beste Zeit zur Erforschung des Se-bang-hieng
hält er die Monate Angnst nnd September, wann der Me-
khüng um 7 bis 8 m gestiegen ist und dadurch die Flutheu
des Se-bang-hieng zurückstaut, so daß in demselben eine
gleichmäßige Strömung herrscht, die Felsrisse der Strom-
schnellen unter Wasser stehen, und der Reisende nicht mehr
von einem Regengüsse oder einigen Tagen Trockenheit ab-
Hüngig ist.
29*
228 Im Innern von Hinterindien.
Am 30. Juni kehrte Harmand so rasch als möglich nach machte er nur bei einer frischen, mit Reis und Mais bepflanz-
Song-Khün zurück, begierig zu erfahren, welches der end- ten Rodung Halt, um an den gefällten Baumstämmen nach
gültige Beschluß des Gouverneurs daselbst wäre. Unterwegs Insekten und Schnecken zu suchen; er fand dort neben einem
Instrument, dessen sich die KhZ-s beim Ackerbau bedienen.
wahrscheinlich soeben verlassenen Schuppen eine merkwürdige
Flöte, ein etwa 20 cm langes Stück Bamburohr mit vier
gleich weit von einander entfernten Löchern und einem vier-
eckigen Mundstück (Klappe) an dem einen Ende, an welches
man die Lippen anlegt, um durch Blasen und Einziehen der
Luft die Töne hervorzubringen. Auch aus Ochsen- und
Flöte der Khe
Büffelhörnern machen die KHKs ähnliche Instrumente, deren
Ton sehr stark ist nnd weithin gehört wird. An derselben
Stelle lag ein Ackerbauinstrument, welches von den Khü,s statt
des ihnen unzweifelhaft bekannten Pfluges gebraucht wird,
eine Art zugespitzter Keule aus hartem, schwerem Holze,
welche sehr geschickt in dem einen aufgespaltenen Ende eines
Ein Waldbach wci
langen Bambu befestigt ist, wie es unsere Abbildung zeigt.
Dieses Instrument wird gehandhabt, wie die Handramme
unserer Steinsetzer; man macht damit in den fruchtbaren
Thonboden der Rodungen ein Reihe von Löchern, in welche
je einige Samenkörner gelegt werden, welche Souue und
md der Regenzeit.
Regen zum Reifen bringt. Unter strömendem Regen,
welcher den Fluß — leider zu spät für seine weitere Er-
forschung — um mehr als drei Meter anschwellen ließ,
langte Harmand am folgenden Tage in Song-Khün an.
Dort theilte ihm der Gouverneur mit triumphirendem Ant-
230 Im Innern v
litze mit, daß der Reisende am 4. Juli seine Träger haben
sollte. Er müsse aber nach Menong Phüng zurückkehren,
um von dort in östlicher Richtung Menong Phin zu errei-
chen. Ob ein direkter Weg nach letzterm Orte existirte,
war nicht zu ermitteln. Zwar versuchte der Gouverneur
nochmals den Reisenden von seinem Vorhaben abzubringen
und hielt ihm das schlechte Wetter, die ungesunde Luft in
den Wäldern, die Mnskitos, Blutigel, Tiger, Elephanten
und besonders die feindlichen KHKs und den Mangel an
Lebensmitteln vor; allein Harmand schmiedete das Eisen,
da es warm war, händigte dem Gouverneur sofort 15Tikal
(a 2,80 M.) zu Reis für die Träger ein, die ihn bis Phin
begleiten sollten, und schenkte ihm den Revolver, welchen er
früher schon so oft versprochen hatte, falls ihm ein Manda-
rin Träger nach Afsam hätte geben wollen. Wie Harmand
hier erfuhr, lieferten die Bewohner von Song-Khün vor dem
Kriege zwischen Assam und Siam, d. h. vor etwa 40 Iah-
ren, an ersteres Land einen jährlichen Tribut, welcher in
einem Elephanten bestand, aber dann ganz aufgehört hat.
Der weiteste Punkt, bis zu welchem jetzt Annamiten kom-
men, ist Phin, wo sie zuweilen Büffel kaufen; sonst hat der
früher so rege Verkehr zwischen beiden Ländern ganz auf-
gehört. Den wahren Grund davon findet Harmand in dem
Institut der Sklaverei, wie sie sich bei den Laos und den
Wilden findet.
Am 3. Juli vollendete er die Redaktion seiner topogra-
phischen Aufnahmen und übergab dem Gouverneur eiu Packet
Aushöhlungen im Walde Düng-Kephü. (Fig. 1.)
mit Briefen und Manuskripten, damit er es nach Saigon
schicke. Dasselbe tras erst ein volles halbes Jahr später in
Paris ein, als der Reisende selbst. Dann brachte er sein
Gepäck in Ordnung, welches jetzt nur noch aus 11 Kisten
(die größten 70 cm lang, 40 cm hoch und breit), einem
kleinen Koffer mit Muuition, einem zweiten mit Arzneien,
zwei Ballen Decken, Matten und Muskitonetzen und einem
Korbe Reis bestand, für dessen Transport er sich aber den-
noch auf mindestens 40 Träger gefaßt machte.
Am 4. Juli wurde der Marsch nach Song-Khün an-
getreten; da aber der gerade Weg, den er früher einge-
schlagen hat, jetzt vollständig überschwemmt war, mußte er
einen weiten Umweg östlich um den in den letzten zwei
Wochen entstandenen See Nong-Luong machen, welcher
mehrere Kilometer weit sich ausdehnte und zuweilen auch noch
mehr anwächst. Trotzdem er sich am Rande des lichten
Waldes, der diese Wasserfläche nmgiebt, hielt, mußten er und
seine Trägerschaar öfters durch Sumpf und Wasser waten,
was zwar ganz malerisch aussah, aber sehr umständlich war.
Neber welligen Boden, durch ziemlich verwüstete Wälder
und drei kleine Suö-Dörfer erreichte man Meuong Phüng,
dessen Reisfelder schon im zarten Grün zu prangen anfingen.
Der dortige Gouverneur, vorher gewarnt, wagte sich nicht zu
zeigen und dem Zorne des Reisenden über sein früheres Lügen
zu trotzen. Doch fand er Gelegenheit, fein Benehmen wieder
gnt zu machen: Harmand's sämmtliche Träger entliefen ihm,
und dafür stellte er 40 neue und zwei Elephanten. 26 davon
l Hinterindien.
und ein Elephant trugen das Gepäck, die übrigen Salz und
Reis für ihre Kameraden; denn man hatte jetzt weite öde
oder von Hnngersnoth heimgesuchte Strecken zu pasfiren,
und der Reisende wollte nicht wiederum durch Mangel an
Lebensmitteln ausgehalten werden.
Die Wafserlänse waren zu Gießbächen geworden und die
Beete in den Reisfeldern zu Wehren; das Wasser lies über
sie hinweg und ergoß sich in Kaskaden über die Felder.
Kaum war es möglich, am ersten Abend (6. Juli) ein
halbwegs trockenes Plätzchen im Walde für den noch kranken
und angegriffenen Reisenden ausfindig zu machen und mit
Aesten, Blättern und ledernen Elephantensätteln gegen wei-
tere Regengüsse zu schützen, welche in der Nacht mit sint-
sluthartiger Gewalt herniederrauschten, und alles Gepäck,
Waffen, Herbarium und sonstige Sammlungen durch-
näßten.
Am nächsten Tage erreichte man nach Passiruug eines
öden, einförmigen Waldes eine kleine Ansiedelung von
Khg,s Te Duün inmitten ihrer Reisfelder. Daneben
besitzen dieselben ein Dorf, welches sie die größte Zeit
des Jahres bewohnen, wo einige rasch wachsende Frucht-
bäume, namentlich Bananen, einige Gemüse und die gemein-
Aushöhlungen im Walde Düng-Kephü. (Fig. 2.)
same Umzäunung für die Büffel sich befindet. Wenn dann
die Zeit zum Aussäen nnd Umpflanzen des Reises kommt
und später diejenige, wo es gilt, die Ernte gegen die raube-
rischeu Angriffe der langschwänzigen Papageien, Weber-
vögel n. s. w. zu schützen, dann ziehen die Familien mit
dem nöthigsten Hansrathe auf ihre Felder, nachdem sie ihre
gewöhnlichen Wohnräume verbarrikadirt haben. Diese Khäs,
die sich sonst wenig von den anderen unterscheiden, nur
daß sie weniger wild sind, haben fast dieselben Sitten und
Gebräuche, wie die Laos, ausgenommen das Institut der
Bonzen. Außer dem Reisbau kennen sie keine Industrie;
dafür scheinen sie große Jäger zu sein. Sie besitzen einige
schlechte Flinten und besonders Armbrüste und große Speere
mit sehr dickem Eisen. Am selben Abend marschirte die
Expedition noch bis zu dem Zusammenflusse des Se-Kong-
Khäm und des Baches Bs-loeil, welche trotz ihrer geringen
Breite (50 bis 60 rn) so angeschwollen und reißend waren,
daß man sie nicht durchwaten konnte. Harmand suchte nun
einen mächtigen Baum am Ufer aus und gab Befehl, ihn
zu fällen und als Brücke zu benutzen, was die dortigen
Eingeborenen mit großer Geschicklichkeit und Schnellig-
Einiges über
fett auszuführen verstehen. Kaum aber waren die ersten
Streiche geführt, als einige bis dahin sich versteckt haltende
Wilde zum Vorschein kamen und unter Anzeichen heftigster
Erregung vor dem Reisenden auf die Kniee stürzten. Mit
vieler Mühe brachte man heraus, daß es ein heiliger Baum
sei, dessen Vernichtung unsagbares Unheil im Gefolge haben
werde. Da sie zudem bestimmt versicherten, daß das Was-
ser am folgenden Tage gefallen sein werde, ließ sich der
Reisende bestimmen, den Baum zu schonen und mit den
Wilden in ihr Dorf, Na-Thong mit Namen, zu gehen und
dort zu übernachten.
Am 8. Juli durchzog man einen schönen Wald, den Dong-
Kephö, welcher nur von einer mächigen Bank gelblichen uud
rothen Sandsteins, einem sehr merkwürdigen, aber schwer zu
erklärenden geologischen Vorkommen, unterbrochen wurde.
ie Turkmenen. 231
An der Oberfläche dieser etwa 700 bis 800 m Areal mes-
senden, leicht geneigten Bank fanden sich kreisrunde Oeff-
nungen, die von einem dicken Wulst umgeben waren, wel-
cher von mehr oder weniger sich verzweigenden Spalten
durchsetzt war. Die Oeffnuugen führten zu einer 2 bis 3 m
tiefen, flafchenförmigen Höhlung mit vollkommen glatten
Wänden, auf deren Grunde zwei oder mehr Sandsteinblöcke
lagen (S. 230, Fig. 1). Offenbar sind die Höhlungen
durch die wirbelnde Bewegung der vom Wasser getriebenen
Steine entstanden. Aber woher kam das Wasser, da sich
jetzt kein einziger Bach in der Nähe befindet, und woher der
Wulst mit seinen merkwürdigen Spalten? Das Phäno-
men ist nicht von hohem Alter; deun einige der Löcher sind
zwar mit Schutt und Vegetabilien gefüllt, andere aber noch
in vollkommen reinem und sauberm Zustande.
Einiges über
Die Turkmenen aller verschiedenen Stämme leben durch-
weg in gleicher Weise. Eine eigentliche Obrigkeit giebt es
bei ihnen nicht. Ein jeder Turkmene ist vollkommen frei
und unabhängig. Das einzige, was sie achten, ist die
Macht und die Sitte, „Adat" genannt. Sie handeln
ausschließlich in ihrem eigenen Interesse; allgemeine
Interessen kennen sie gar nicht. Deshalb bekriegen sich die
einzelnen Stämme ganz rücksichtslos unter einander. Der
Adat — die Summe aller durch althergebrachte Bräuche
und Sitten festgesetzten Bestimmungen — regelt auch nur
die Verhältnisse der Eltern zu den Kindern, giebt Anwei-
suugen für Eheschließungen, Beerdigungen, für verschiedene
Feste, für das Verhalten auf Raubzügen, die Theilung der
Beute u. s. w. Hier ist überall das persönliche und höch-
stens das Familieninteresse berücksichtigt. Um das allgemeine
Wohl kümmert der Adat sich nicht. Nur die Besserung
der das Land berieselnden Kanäle und die Nutznießung des
Wassers gilt als eine alle in gleicher Weise interessirende
Angelegenheit, über welche bestimmte Regeln existiren.
Um dafür zu sorgen, daß diese allgemeinen Regeln in
Bezug auf das Wasser, ferner auch die Regel in Bezug
aus die Benutzung des Landes, wirklich beobachtet werden,
wählen die Turkmenen aus ihrer Mitte sogenannte Aksa-
kaly und Chane; bei den chiwesischen und an der per-
sischen Grenze lebenden Turkmenen heißen diese Kjät-
chnda. Eine eigentliche Macht üben diese Chane
niemals aus; sie können keinen einzigen Turkmenen zu ir-
gend etwas zwingen. Freilich genießen einige dieser Chane
einen großen Einfluß, durch welchen sie im einen oder
andern Falle bei allgemeinen Unternehmungen wirken,
aber dieser Einfluß ist uoch lange keine Macht, welche zwin-
gend wirkt.
Die Turkmenen sind Mohammedaner und zwar Sun-
niten. Mullahs giebt es wenige unter ihnen; die Türk-
menen legen den geistlichen Personen als solchen, ganz einerlei,
ob es fremde oder ihre eigenen sind, keine große Bedeutung
bei. Ist der Mullah klug, ist er der Rede mächtig, weiß er
überall zu helfen, so wird er mitunter zu einer einflnß-
reichen Persönlichkeit: er heißt dann Jschan, d. h. der
Auserwählte Gottes, welchem alles glückt. Aber
der Jschan muß, um einflußreich zu bleiben, auch Takt
i e Turkmene n.
und Menschenkenntniß besitzen; nicht jede Angelegenheit ist
geeignet, seine Vermittelung zu beanspruchen, deshalb muß
er vorsichtig sein und wissen, wann er sich nicht in die
Sachen seiner Brüder einzumischen hat. — Bei Ueberfällen
und Plünderungen wählen sich die Turkmenen einen oder
zwei Anführer, Serdar, erfahrene Leute, welche uament-
lich die Wege kennen. Gewöhnlich fordern solche Serdari
selbst ihre Kameraden zu einem bestimmten Zuge auf. Auf
dem Raubzug gehorchen alle dem Serdar, bei der Theilung
der Beute erhält der Serdar einen besondern Antheil, aber
mit Beendigung des Raubzugs geht auch seine Macht zu
Ende.
Die Turkmenen leben so ohne Herrscher, ohne Stan-
desunterschied in äußerst einfachen gesellschaftlichen Ver-
Hältnissen, welche erst jetzt allmälig durch den Einfluß der
Mullahs fowie durch die stetigen Beziehungen mit den
umwohnenden staatlichen Komplexen sich etwas erweitern.—
Jetzt ist alles noch bei den Turkmenen in stetigem Wechsel
begriffen; nur die Familie ist das einzig Beständige, weil
der Mullah die Ehen verknüpft. Festen Landbesitz hat
eigentlich kein Turkmene; nur wo in den Ansiedelungen
Gartenbau und Obstzucht betrieben wird, fängt der Begriff
des privaten Landeigentümers an sich auszubilden.
DieTurkm eu en sind nüchtern, enthaltsam und nicht aus-
schweifend; ihre Weiber sind nicht so zügellos in ihren Sitten
und Begierden wie bei den benachbarten Persern, Chiwesen
und Bucharen. Der Turkmene besitzt nur eine Leidenschaft,
welcher er sich ganz hingiebt, das ist der Raub — alle
Zeit, welche die Beschäftigung mit der Viehzucht und dem
gering entwickelten Ackerbau freiläßt, ist dem Raube ge-
widmet. Diese Beschäftigung allein fesselt den Turkmenen.
Freilich sind auch alle Bedingungen dazu da, um die Türk-
menen zu principiellen Räubern zu machen. Zu jagen giebt
es nichts. Die gauze Niederung zwischen dem Aral-See
und dem Amu -Darja einerseits und dem Kaspischen Meere
andererseits ist eine Wüstenei im wahren Sinne des Wor-
tes. Entweder Sand mit wenigen spärlichen Pflanzen
oder fester steinharter Boden ohne jegliche Vegetation —
der Huf der Pferde hinterläßt keine Spuren. Wasser ist
nur in den einzelnen Brunnen, und solche Brunnen
giebt es nicht überall, z. B. auf der ganzen Wegstrecke von
232 Einiges über
Chiwa nach Merw (400 Werst) giebt es keine Brunnen.
Die ganze Steppenvegetation genügt nur für die Kameele,
wilden Esel und für die Steppenziegen. — Nur an der
Mündung des alten Flußbettes des Amu-Darja bis hinauf
zn dem Brunnen I g d y und ferner in der C h i w a sch en O as e
bis zu den Seen von Sary-Kamysch ist etwas Wasser
und deshalb auch Pflanzenwuchs zu finden; auf der
Strecke zwischen Sary-Kamysch und Jgdy ist das Fluß-
bett vollkommen trocken. — Wilde Esel und Steppenziegen
sind nur am Ufer des Kaspischen Meeres und auch am
alten Flußbett anzutreffen, wo sich Wasser ansammelt;
ein Jagdgebiet mit jagdbaren Thieren fehlt den Turkmenen
durchaus.
Was blieb dem Turkmenen übrig? Er wurde — und
ist es noch — Räuber und Plünderer par excellence. — Sein
Auge ist geschärft, alle seine Sinne entwickelt, seine Fähig-
keit, sich in der Steppe ohne Weg und Steg zurechtzufinden,
ist bewunderungswürdig und erstaunlich. Das stete Leben
in der Steppe hat die Turkmenen sehr enthaltsam in Be-
treff ihrer Nahrung gemacht; das Leben in der Steppe hat
in ihnen die große Liebe zu ihren Pferden entwickelt. Ohne
Pferd ist das Leben in der Steppe eben ganz unmöglich.
Nur das Pferd kann so schnell die große Entfernung
zwischen zwei Brunnen zurücklegen; das vermag das
Kameel niemals. Das turkmenische Pferd ist äußerst aus-
dauernd und stark; es kann mehrere Tage hinter einander
70 bis 80 Werst, ja im Nothfall sogar 100 Werst täglich
machen. Das Kameel muß nach dem angestrengten
Marsche eines Tages am folgenden Tage sich erholen.
Alle Sorge und alles Sinnen des Turkmenen ist daher
aus die Erziehung seiner Pferde gerichtet. Alle Turkmenen-
stamme zeichnen sich durch vortreffliche Pferde aus, am
meisten berühmt sind aber die Pserde der Tekinzen. —
Wenn die Turkmenen eine weite Strecke sehr schnell zu-
rücklegen müssen, so reiten sie auf zwei Pferden, zeitweilig
auf einem Pferde nnd lassen das andere ledig nebenher
laufen, und nach einer bestimmten Strecke wechseln sie die
Pferde; im Allgemeinen werden aber solche forcirte Ritte
selten unternommen.
Den benachbarten Völkern gegenüber, welche, wie die
Perser, Bucharen und Chinesen, im Allgemeinen friedliebend
und nicht kriegerisch sind, hatten die Turkmenen von jeher
keinen sehr schweren Stand. Doch kann man dem Türk-
menen eine gewisse Kühnheit nicht absprechen; freilich ist
es die Kühnheit eines Diebes, nicht die offene Kühnheit
eines Mannes, der die Gefahr kennt und kaltblütig ihr
entgegensieht.
Aus ihren Raubzügen kümmern sich die Turkmenen um
weiter nichts als ihre Beute. Ein turkmenisches Sprichwort
sagt: „Der Turkmene zu Pferde kennt weder
Bat er noch Mutter." Ein Menschenleben ist dem
Turkmenen sehr gleichgültig; er mordet ohne viel Bedenken
einen Menschen, als ob er einen Schafbock tödtete. Wie
viele Gefangene sind von den Turkmenen hingemordet, nur
weil sie ihnen beim Marsche hinderlich waren! In Mittel-
Asien gilt ein Menschenleben nicht viel. Und zum Eut*
gelt verfahren die Nachbaren der Turkmenen, wenn die
letzteren in ihre Hände fallen, mehr als gransam. Äm
Jahre 1861 wurden 100 Turkmenen bei Meschhed von den
Persern gefangen; man ließ sie an Händen und Füßen ge-
fesselt die ganze Strecke von 1000 Werst bis Teheran zu
Fuß lausen. Der Schach, unzufrieden über den Mißerfolg
seiner von den Turkmenen aufs Haupt geschlagenen
Armee, wollte an den Gefangenen feine Wuth auslassen
und zugleich seinem Volke ein Schauspiel geben. Er
ließ die unglücklichen Opfer an die Stadtmauer binden
>ie Turkmenen.
und in einer Entfernung von 300 Schritt auf sie schießen.
Das im Schießen völlig ungeübte Militär fehlte meist —
das Blutbad giug nur langsam vor sich. Die in Teheran
anwesenden Gesandten machten Vorstellungen; das Ein-
zige, was sie erreichten, war, daß das Militär näher
rückte — erst am späten Abend waren alle armen Opser
getödtet! Im Jahre 1875 war der Bruder des jetzt re-
gierenden Schach von Persien Chef der Provinz Chorassan;
als er nach Mefchhed kam, wurde feine Anwesenheit ge-
feiert — man hob 20 unglückliche turkmenische Gefangene,
einen nach dem andern, auf die Spitze von Bayonetten und
tödtete sie auf diese unmenschliche Weise. Der Letzte, der
die Qualen aller seiner ihm vorausgehenden Brüder an-
sehen mußte, bat um Schonung, er wollte sich um
2000 Toman (circa 16 000 Mark) loskaufen. Alles
vergeblich; er sollte, wie bestimmt, dem Tode durch das
Bayonett überliefert werden. Aber es kam nicht dazu;
Angesichts des Herrschers und des ganzen Volkes sank er
plötzlich todt zu Boden — die Furcht vor qualvollem Tode
hatte ihn überwältigt.
Die Turkmenen sind noch grausamer und härter als
die Perser; sie sind ein urwüchsiges Volk, dessen An-
schauungen heute noch dieselben sind wie zur Zeit Tschin-
gis-Chan's und Tamerlan's. Hier einige Beispiele.-
Ans der Insel Aschnr-ada, woselbst eine russische
Marinestation existirt, wohnte ein Turkmenen - Chan mit
zwei Söhnen im Alter von 10 und 6 Jahren. Der ältere
war ein stiller und sanfter Knabe, den der Vater nicht
besonders liebte; der jüngere mit Namen Sardar war
wild und der Liebling des Vaters. Der jüngere fand ein
besonderes Vergnügen darin, alles Lebende zu zerstören.
Einst jagte er einem Huhn nach; weil das Huhn ihm
entlief, fo warf er sich, in wahnsinnige Wuth gerathend, auf
den Boden, mit Händen und Füßen strampelnd, immer
nach dem Huhn verlangend. Der Vater erscheint und läßt,
nachdem er den Grund des Kummers seines Lieblings er-
fahren, dem Knaben sofort ein Huhn reichen. Der Kleine
ergreift das Huhn, dreht ihm den Hals um und reißt den
Kopf ab — uud ist nun völlig beruhigt. Und der Vater
streichelt seinen lieben Sohn und lobt ihn: „Du bist ein
braver Junge!" — Dieser selbe sechsjährige Knabe rieth
seinem Vater, bei einem Nachbar einen Bilderrahmen zu
stehlen, weil er ihn für golden hielt, uud der Vater freute
sich, daß die angeborene Fähigkeit sich so früh bei demselben
entwickelte.
Im Jahre 1867 ließ der Gouverneur von Asterabad,
Mulkan, einen einflußreichen Turkmenen, einen gewissen
Schawal-Chan, ergreifen und erschießen. Im Winter
übersielen die Turkmenen das 20 Werst nördlich von Aster-
abad gelegene persische Dorf Surchan-Kelja, mor-
deten und plünderten; unter den Gefangenen, welche Hehn
in den Turkmenen - Aul geschleppt wurden, war der junge
Sohn des Dorfbesitzers Abdnr-Semet-Chan. Da
erschien die Wittwe des erschossenen Turkmenen vor dem
Anführer des Raubzuges und forderte den jungen Knaben,
um an ihm als an einem Perser Rache für den getödteten
Mann zu nehmen. — Sultan Mamed-Chau ant-
wortete : „Weib, Du hast Recht, nimm den Perser!" Und
das Turkmenen-Weib nahm den Knaben, schnitt mit eigener
Hand dem lebenden Opfer das Herz ans der Brust uud
warf die Leiche den Hunden vor.
Aehnliche Fälle der Grausamkeit, der Hinterlist uud
der Rachsucht erzählt Baron Bode.
* M
Früher, so lange es von der Mündung der Emba bis
zum Südufer des Kaspischen Meeres noch keine russischen
Prof. Dr. Georg Gerland
Niederlassungen gab, waren die Turkmenen die alleinigen
Herrn der Steppe. Sie überfielen und plünderten alles. —
Karawanen konnten kaum von Orenburg nach Chiwa ge-
langen. Die Turkmenen plünderten Freund und Feind,
fremde und eigene Stammesgenossen ohne Unterschied. Am
meisten hatten aber zu leiden die nördlichen und nordöst-
lichen Provinzen Persiens — Chorassan. Hierher wandten
sich die Jomnden und Goklanen, die Tekinzen von
Achal und v o n M e r w, die S a l y r e n und S a r y k e n.
Der ganze Norden und Osten Chorassans bis zur Grenze
von Herat wurde schwer heimgesucht — nur die Trümmer
früherer Dörfer sind jetzt zu finden. In einem einzigen
Bezirk am linken Ufer des Herri-rud, wo man bis 460
Dörfer gezählt, sind jetzt keine 20 zu finden. — An der
chiwesischen und bucharischen Grenze sind die Uebersälle
nicht so heftig, weil die Chane jener Reiche die an ihrer
Grenze lebenden Turkmenen beherrschen und als Schutzwehr
gegen andere feindliche, z. B. gegen die Tekinzen, gebrauchen.
Trotzdem sind auch diese Gebiete bis in die jüngste Zeit
nicht verschont geblieben; so wurde noch im Jahre 1876
die Stadt Pitnak am Amu-Darja von den Tekinzen ge-
plündert; im Jahre 1877 wurde eine Karawane 70 Werst
von Knnja-Urgcndsch niedergemacht.
Durch das Vorgehen der Russen sind nun die Türk-
menen sehr beschränkt worden. Seit der Besitznahme von
Krasnowodsk und Tschikischljar sind die kaspischen
Jomüden, welche von Norden her durch die Russen,
von Osten her durch die Achal-Tekinzen, von Süden
her durch die Perser in Schach gehalten werden, gezwuu-
gen worden, ihre frühere Lebensweise auszugeben. Rauben
können sie nicht mehr, sie sind zum Ackerbau und zur Vieh-
zucht genöthigt und nur selten versuchen sie in die nörd-
lichen Ortschaften der Provinz Asterabad einzufallen.
Die Goklanen, zwischen den Achal-Tekinzen und
den Jomudeu eingezwängt, sahen sich schon früher ge-
zwnngen, den Perfern sich freundlich zu nähern; sie zahlen,
wie schon oben bemerkt, an den Chef des Gebiets von
Bndschnnrd einen Jahrestribut von 24 000 Tuman (etwa
144 000 Mark).
Nachdem fo die Jomnden und die Goklanen ge-
bändigt sind, ist die Turkmenen-Steppe im Norden von
Persien jetzt den Achal-Tekinzen und den Merw-
Tekinzen, sowie den Saryken geblieben; diese sind
jetzt die eigentlichen Herren der Steppe. Ohne beträchtliche
militärische Begleitung kann keine Karawane die Steppe
passiren: aller Karawanen-Verkehr zwischen Krasnowodsk
und Chiwa, zwischen Chiwa, Buchara und Persien ist auf-
Merkwürdige
Von Prof. Dr. Georg
I. D e r D o n o
Wir überblicken also vom Donon aus den ganzen Bau
des Gebirges in seiner charakteristischen Verschiedenheit, und
gerade hierdurch ist die Aussicht von diesem Gipfel fo be-
lehrend. Wollen wir sie vollständig begreifen, so müssen
wir die Eigenart der Gesteine, welche die Vogesen bilden,
die geognostische Beschaffenheit des Gebirges kennen lernen.
Während wir die Südvogesen vorwiegend aus kristallinischem
Massengestein (Granit und Verwandte) und aus sedimen-
Globus XXXVIII. Nr. 15.
Merkwürdige Vogesenberge. 233
gehoben. — Selten, daß eine Karawane sich ungefährdet
durchschleicht. Aber da es im Norden jetzt nicht viel zu
holen giebt, so haben sich die Tekinzen ganz nach Süden
gewandt; der Norden von Persien von Meschhed bis
Schachrud hat unsäglich von ihnen zu leiden. Die
Merw-Tekinzen dringen mit der größten Kühnheit so-
gar bis 1000 Werst südlich von Merw nach Persien ein.
Die persische Regierung versteht das ganze etwa ans
1000 Werst sich ausdehnende Grenzgebiet nicht sonderlich
zu schützen; sie überläßt es den Provinzen Kutsch an,
Budschnurd und Dereges selbst sich zu schützen, so gut
sie können. Im Allgemeinen sind aber die Perser als
Soldaten gegenüber den Tekinzen nicht sehr brauchbar und
die Tekinzen gehen nur zu oft als Sieger aus den Kämpfen
mit dem persischen Militär hervor. — Die Perser können
sich nicht schützen; der Norden Persiens verödet immer
mehr und mehr.
Die Tekinzen werden nur dadurch bezähmt werden,
daß das ganze Gebiet der Turkmenensteppe vom alten
Flußbett des Amu-Darja bis zur nördlichen Grenze Persiens
in die Gewalt der russischen Regierung gelangt. — Die
persische Bevölkerung an der Grenze hofft nur von den
Russen allendliche Befreiung von den ewigen Plagen der
Tekinzen. Als der Verfasser dieser Mittheilung, Hr. Petru-
sewitsch, die nördlichen Provinzen Persiens bereiste, wurden
immerfort darauf bezügliche Fragen an ihn gerichtet, aus
denen er ersah, daß die Perser fest überzeugt seien, wie nur
die Russen ihnen helfen könnten.
Die Tekinzen fürchten den Andrang der Russen, na-
mentlich seit der Expedition gegen Chiwa; sie haben mehr-
fach Miene gemacht, mit der persischen Regierung Frieden
zu machen, sich gegen gewisse Bedingungen zu unterwerfen,
aber zu einem regelrechten Abschluß ist es bisher nicht
gekommen. — Für die Russen wäre das keineswegs zweck-
mäßig, weil die persische Regierung die Tekinzen doch
nicht im Zaum halten könnte, und letztere Persien schonen,
sich aber mit aller Kraft auf den Norden werfen und
diesen beunruhigen würden. — Und das ist gerade, was
die Russen nicht zulassen dürfen.
Der Handelsweg vom Kaspischen Meer bis zum Amu-
Darja muß frei sein, damit die russischen Produkte nnge-
hindert aus den Markt Centralasiens gelangen können.
Und es wäre zu wünschen, daß diese Zeit bald erreicht
werde; daß die Tekinzen vom Achal und vom Merw ebenso
aus Räubern zu friedlichen Viehzüchtern und Ackerbauern
würden, wie die Jomnden und Goklanen es bereits sind.
Vogesenberge.
Gerland in Straßburg.
i. (Zweite Hälfte.)
tären Gesteinen bestehend finden, welche älter oder gleich-
zeitig, oder unmittelbar jünger sind als die Steinkohlen,
gehört der Donon und seine Umgebung, gehört der ganze
Zug vom Ormont (bei St. Die) bis zur bayerischen Pfalz
dem bunten Sandstein an, einer späteren Bildung, welche
erst wieder auf jene jüngeren der eben genannten Niederschlag-
schichten (das sogenannte Rothliegende, gres rouge) folgt,
oft als unmittelbare Fortsetzung desselben. So ergiebt sich
30
234 Prof. Dr. Georg Gerland:
folgende Eutwickelungsgeschichte der Donongegend. Zur
Zeit der Wälder, aus denen später unsere Steinkohlen
wurden, scheint sie zum Rande eines Festlandes gehört zu
haben, welches sich allmälig senkte. So entwickelte sich hier
ein Strandmeer mit reichlichem Flußzulauf und lebhaftem
Wogenschlage, aus welchem sich das Rothliegende mit seinen
zahlreichen und höchst verschiedenartigen, bald abgerundeten,
bald frischeckigen Gerollen niederschlug, wie wir es am Fuße
des Donon als Grundlage des bunten Sandsteins finden.
In diesem Meere traten, nachdem es lange bestanden hatte,
mächtige Ausbruche eines (oder mehrerer) unterseeischer
Vulkane eiu, welche vielleicht durch lange Zeiträume hin-
durch tobten, endlich aber wieder zur Ruhe kamen; denn
über den Porphyr- und Tnfsmassen dieser Ausbrüche, welche
vom Haselthal, von Burg Nideck her am Donon vorbei bis
nach Frankreich ziehen, liegt wieder eine ziemlich bedeutende
Schicht des Nothliegenden auf. Allmälig aber sank jenes
Festland, welches das Meer des Nothliegenden bespülte,
immer mehr; immer mehr breitete sich das Meer aus, wel-
ches zugleich immer tiefer, immer ruhiger wurde. In
diesem Meer setzten sich nun ans dem Nothliegenden jene
Qnarzsandmassen oft in großer Mächtigkeit (400 m) ab,
welche heute unsern Vogesensandstein (gres des Vosges)
bilden. Auch dieses Meer hatte reichliche Zuflüsse, aber
von anderen Gebirgen her, als das Rothliegende; denn es
enthält in seinen Niederschlägen fast ausschließlich Quarz-
trümmer, mögeu diese nun ganz klein, als Sandkörner, oder
größer, als Kiesel, auftreten. Zugleich war auch dieses
Meer, wenn auch die Ufer etwas sich zurückgezogen hatten,
ein Straudmeer. Das beweist das Studium unserer Heu-
tigeu Tiefseeverhältuifse, denn im wirklichen hohen Meer,
fern von dem Festlande, kommen Sandniederschläge, wie die
des Vogesensandsteines, nicht vor, noch weniger aber solche
Geröllensteinlager, wie wir sie ab und zu in diesem Sand-
steine finden. Tief aber muß dies Meer gewesen sein; das
geht aus der fast völligen Abwesenheit aller organischen,
namentlich aller pflanzlichen Reste hervor. Wir haben uns
dasselbe also von ähnlicher Bildung zu denken, wie etwa die
Südhälfte des heutigen Golfs von Biskaya, dessen Küsten
außerordentlich schroff und jäh in sehr große Tiefen (bis zu
3600, ja 4600 m) abfallen. Die Bezeichnung „Strand-
meer" ist nicht in allzu engem Sinne aufzufassen; man
muß vielmehr die wirkliche Ausdehnung der Meere im Auge
behalten. Ein Meer von den Vogesen bis nach Böhmen
und weiterhin sich ausdehnend würde immerhin noch
Strandmeer sein; denn was ist diese Entsernnng gegen die
Breite z. B. des Atlantischen Oceans.
Allmälig aber hob sich dieser Meeresboden wieder, öder-
es traten veränderte Strömungsverhältnisse ein. Wir finden
nämlich einzelne Kiesellager horizontal zwischen den Schich-
ten des Gesteines, und die oberen Schichten desselben gehen
sehr gewöhnlich in ein außerordentlich festes Konglomerat
von Quarzrollsteinen über, welches z. B. den Donongipfel,
den Noll, den Großmann deckt und jene schon erwähnten
Felsenlabyrinthe und Trümmerfelder bildet. Da nun auf
dieses abermals ein buuter Sandstein folgt (gres bigarre)
und dieser zahlreiche Neste von Thieren und Pflanzen birgt,
welche nur an sumpfigen Ufern oder lagunenartiger See-
bildnng ihre Heimat haben konnten, so folgt, daß der
Meeresboden abermals zum Strand- oder Snmpfmeer
geworden war, in welchem sich Sand und Schlamm absetzte.
Das Vorherrschen des Sandes beweist, daß auch diese Bil-
duug einem wirklichen Meer entstamme, welches von beden-
tenden Flüssen gespeist, von Strömungen bewegt wurde.
Mit diesem Gestein schließt die Formation des Buntsand-
steines, die verbreitetste in den Vogesen, nach oben ab.
Merkwürdige Vogesenberge.
Allerdings finden wir diese letzte Formation auf dem
Donon nicht, dessen höchster Gipfel, wie die übrigen höchsten
Gipfel der Sandstein-Vogesen, mit dem Konglomerat endet.
Hat nun auf diesem Konglomerat des Berges niemals jener
feinere Bnntsandstein aufgelegen? Mit anderen Worten,
welche Geschichte hat die Donongegend durchgemacht nach
dem allmäligen Aufsteigen des Bodens jenes Strandmeeres,
welches den Buntsandstein absetzte? Elie de Beaumont
nimmt an, daß schon damals die Vogesen ihre jetzige Höhe
erreicht hätten; richtiger ist die Auffassung, welche Laspeyres
zuerst in Beziehung auf die Pfalz, Ferd. Bleicher (Bulletin
de la societe d'histoire naturelle de Colmar, 1870)
bezüglich der Vogefen ausgesprochen hat, daß die Vogesen-
Hebung erst sehr viel später, erst in der sogenannten tertiären
Zeit erfolgt ist; daß auch die Donongegend einen Theil
jenes Snmpsmeeres bildete, in welchem die sumpfliebenden
Nadelholzbäume, die nach dem berühmten Straßburger
Geologen Voltzieu genannt sind, neben Zapfenpalmen,
baumartigen Liliaceen und mächtigen Farrenkräntern wnch-
fett, in welchem gewaltige Saurier sich tummelten und
zugleich Fische, Seekrebse und Meermuscheln lebten. Wahr-
scheinlich blieb die Gegend nun lange Jahrtausende Meer,
bis zu der Zeit der Hebung, und die verschiedensten Nieder-
schlage lagerten sich auf ihr ab. Alle diese aber, vom
Wasser leicht zerstörbar, wurden nach der Hebung, welche
den Donon, wie wir noch sehen werden, besonders stark
traf, durch die Atmosphärilien wieder hinweggeführt, und
erst das harte Konglomerat besaß Widerstandskraft genug,
um auf dem hohen, so exponirten Gipfel bis heute auszu-
dauern.
Derselben Sandsteinformation nun, welche den Donon
bildet, gehören alle Berge westlich, südwestlich und nördlich
von demselben an; wir finden sie auf den Höhen der
Granitvogesen bis weit in den Süden hin, hier und da
aufgelagert; auch den Schwarzwald überdeckt sie an vielen
Stellen und überall ist sie so völlig gleichmäßig, daß man
sieht, sie hat sich als eine mächtige Decke ursprünglich ab-
gelagert und erst spätere Schicksale haben sie zertrennt.
Namentlich zwei Ereignisse sind hier von Wichtigkeit gewesen.
Erstlich die Hebnng der Vogesen und des Schwarzwaldes,
welche die Sandsteindecke im Norden nur mäßig aufwölbte,
im Süden höher emporhob und weit auseinander sprengte,
die aber jedenfalls nur sehr allmälig sich vollzog; zweitens
die wohl nur wenig später erfolgende Bildung der rheini-
schen Tiefebene, welche das Sandsteinplateau im Osten
schroff abbrach und jene scharfe Grenzlinie des Gebirges
verursachte, welche, in der „Bucht von Zabern" bogenförmig,
in der Pfalz durchaus geradlinig, den Gebirgskarten des
nördlichen Elsasses ein so eigenthümliches Aussehen giebt.
Dies Nordplateau des Sandsteingebirges erscheint nun
vom Douou aus wie eine Reihe von Hügelrücken, welche
von West nach Ost verlaufen. In Wahrheit sind diese
Rücken nur eingeschnittene Theile desselben Plateaus. Denn
von den verschiedenen Eigenschaften des Buntsandsteines ist
die geographisch wichtigste sein Verhalten gegen das Wasser.
Dies Verhalten bedingt die ganze heutige Gestalt des Sand-
steingebirges. Das Gestein, aus unzähligen feinsten Quarz-
köruern bestehend, wird sehr leicht fortgewaschen, daher ist
es, wo es auf größerer Höhe besonders exponirt lag, wie
aus den Südvogesen, bis ans wenige Reste ganz fortgeführt
worden. Schon zur Zeit der Gletscher im Thurthal fand
fich auf den Bergzngen, mit welchen das Thal in Beziehung
steht, kein Buntsandstein mehr, denn sonst würden die
Moränen, welche erhalten sind, auch zahlreiche Saudstein-
trümmer zeigen.
Eine andere Folge dieser leichten Wegsührbarkeit des
Prof. Dr. Georg Gerland:
Gesteines ist ferner die oft sehr auffallende Form der Sand-
steingipsel sowie die Steilheit ihrer Gehänge, von der wir
schon sprachen. Ist ein solcher Berg von allen Seiten frei
ausgesetzt, so wird er durch allmälige allseitige Abwaschung
eine kegelförmige, spitze Gestalt annehmen, wie z. B. der
Voyemont und der Labattenx auf der französischen Grenze
bei Saales. Berge, welche nach einer Seite besonders
exponirt, nach der andern geschützter liegen, werden diese
rundkegelförmige Gestalt nur nach der exponirten Seite
zeigen, so der Langeberg in seinem kühnen Südabfall,
während er nördlich mit dem Katzenberg zusammenhängt.
Die beiden Donon selber zeigen bei sehr steilem An-
stieg die gleiche Form: eine dreiseitige, abgestumpfte Pyra-
mide, indem die Höhe des Berges, durch das harte Kon-
glomerat gegen die Angriffe der Atmosphäre geschützt, ein
kleines Plateau bildet. Diese Konglomerate aber zeigen
verschiedene Schichten, härtere und weichere; letztere wittern
leichter aus, wodurch die Blöcke oft eine streifige Oberfläche
bekommen, als ob sie mit wagerechten Hohlkehlen und Ge-
simsen versehen seien; so einzelne der Blöcke des Donon-
gipsels, so zahllose Felsen in den Nordvogesen, wie jeder,
der etwa von Zabern nach Saarburg fuhr, gesehen hat.
Noch seltsamere Auswaschungssormen finden wir anderwärts.
So liegt die Festung Bitsch auf einem solchen ausgewaschenen
Sandsteinblock, und eine Anzahl ähnlicher oblonger Plateau-
theile, von denen der große nnd kleine Otterbiel die beden-
tendsten, liegen in der Nachbarschaft, aus einem Thalgrunde
zu etwa gleicher Höhe aufragend. Auch die rundliche Wöl-
bnng der einzelnen Rücken, z. B. der Höhe zwischen Schnee-
berg nud Donon, ist Folge der Wasserthätigkeit, des ab-
rinnenden Regens, Thans, Nebels, deren einzelne Tropfen
einzelne Gesteinspartikelchen mitführen und so die einzelnen
aufragenden Plateauabschnitte an den oberen Ränden sanft
abrunden müssen.
Natürlich ist auch die Thalbildung ganz und gar eine
Folge der Wassereinwirkuug. Alle Thäler der Nordvogesen
sind Erosionsthäler, allerdings, wie das Breuschthal und
seine Seitenthäler schon allein beweisen, von sehr verschiedener
Art und Größe; jede Eigenthümlichkeit, welche die Thal-
bildung durch Erosion aufweisen kann, finden wir hier
wieder. Wir besprechen hier nur einige Punkte, welche
für die ganze Bildung und Geschichte des Gebirges grnnd-
legende Bedeutung haben. So sind alle jene ostwestlich
streichenden Rücken Theile des gleichen Plateaus, welche die
ebenfalls ostwestlich verlaufenden Flnßthäler ausgeschnitten,
kleinere Nebenbäche dann wieder, unter verschiedenen großen
Winkeln mit den ostwestlichen Thälern sich vereinend,
mannigfach gegliedert haben. Merkwürdig ist es, daß die
höchste Erhebung der nördlichen Sandsteinvogefen, jener
scharfabgeschnittene Ostrand, durchaus nicht die Wasser-
scheide bildet, vielmehr von einer Reihe von Flüssen durch-
sägt ist, welche alle westlicher entspringen. Klärlich sind
diese Flüsse in ihrer jetzigen Richtung eher da gewesen, als
die Emporwölbung des Ostrandes dieses Nordplateaus er-
folgte, und diese erfolgte so langsam, daß die Flüsse Zeit
genug behielten, durch Erosion ihre Betten immer tiefer zu
legen und dadurch an der alten Stelle zu behalten. Gar
nicht selten ist der obere Lauf der Flüsse rechtwinkelig
gebogen, wofür von den elsässischen Gewässern die Zorn
und ihre Nebenflüsse, wohl auch die Brensch selber Beispiele
abgeben. Diese in Sandsteingebirgen auch sonst häufige
Erscheinung erklärt sich durch einzelne Bruchlinien im Ge-
birge (Verwerfungen) und durch die Neigung des Sandsteins
zu rechtwinkeliger Zerklüftung, welche der ersten Anlage der
Thalbildung die erste Richtung anweisen. Der Sandstein
zeigt sehr zahlreiche Spalteu, theils senkrechte, theils aber
Merkwürdige Vogesenberge. 235
auch, zwischen den einzelnen Schichten, wagerechte. Daher
sickert das atmosphärische Wasser leicht ein und die Ober-
fläche der Rücken und Gehänge trocknet aus. Da aber, wo
das Wasser festeres Gestein antrifft, welches ihm keinen
Durchgang gestattet, da quillt es wieder hervor und bildet
dann nicht selten eine schmale sumpfige, durch abweichende
Vegetation auffallende Zoue. Und an den schroffsten
Wänden findet man im Winter aus dem scheinbar ge-
schlossenen Fels, mitten in der Wandfläche, mächtige Eis-
gebilde hervortreten; diese bezeichnen den Ausgang einer
feinen Klüftung, an welcher das bei größerer Kälte nicht
verdunstende Wasser, sobald es hervortritt, zu Eis erstarrt.
Im Sommer findet man daher au diesen dann glühenden
Wänden, oft aus den ersten Blick ziemlich unerklärlich,
Feuchtigkeit liebende Farrnkräuter, wohl auch große Sträucher
in bestem Gedeihen, deren Wurzeln eben in jene feinen
wasserreichen Spalten eindringen.
Aber auch für die Flußläufe, für die Thalbildung ist
der Donon oder, besser, das Dononsystem, die Gebirgs-
erhebung von Donon bis Noll, ein höchst merkwürdiger Punkt.
Das Rhein- und Saarsystem läßt sich durch eine Linie
trennen, welche etwa vom rheinbayerischen Pirmasenz, östlich
von Bitsch, westlich von Lützelstein und Pfalzburg und
schließlich über den Westrand des obersten Zornthales her-
läuft, um etwa aur Großmann, also an der Dononerhebung,
aufzuhören. Sie bildet, obwohl orographisch auch nicht im
mindesten hervortretend, die Wasserscheide, und es ist jeden-
falls beachtenswerth, daß sie mit einer großen Verwerfung
zusammentrifft, in Folge deren der westliche Landestheil, die
lothringische Gegend, heute tiefer liegt als früher.
Ganz andere Verhältnisse herrschen nun am Donon,
denn dieser Gebirgsstock (den wir auch hier bis zum Noll
rechnen) ward zum Mittelpunkt einer Menge von Flüssen,
welche nach allen Himmelsgegenden ausgehen: die Zorn
nach Norden, die verschiedenen Saarquellen nach Nordwesten,
die Vezouse nach Westen, Plaine, Rabodean nach Süd-
westen, Netzenbach und Hasel nach Südosten. Allein auch
die Quellen der letzteren beiden Flüsse liegen, was sehr
beachtenswerth, auf der Westseite des Gebirges, die Ostseite,
welche nur trockenen Winden ausgesetzt ist, läßt nur wenige
kleine Bäche in die Hasel und den Netzenbach einfließen.
So zeigt die Vertheilung dieser Flüsse höchst genau die
Wirkung der Wetterseite. Und die gleichen Verhältnisse
müssen schon seit sehr alter Zeit bestehen, denn alle diese
Flüsse haben so tiefe, breite Betten (Thäler) gegraben, daß
wir völlig berechtigt sind, den ersten Anfang ihrer Arbeit
mit der Dononerhebung gleichzeitig zu setzen. Sie sind es
auch, welche die alten Ueberlagernngen des Berges bis auf
die Konglomerate abgetragen und hinabgeführt haben in
das Flachland, schließlich in das Meer. Da wir nun die
Dononerhebung in früh tertiäre Zeit verlegen müssen, so
müssen wir auch für jene Zeit die gleichen meteorologischen
Zustände annehmen, wie wir sie heute finden, und da diese
Zustände durchaus auf den Plastischen Verhältnissen des
Festlandes, der Bodenerhebung, der Meeresnähe n. f. w.
beruhen, so müssen schon damals, als sich jene Flüsse bil-
deten, wesentlich die gleichen geographischen Verhältnisse
gewesen sein, wie sie heute sind.
Die Sandsteinvogesen zeigen einige höchst merkwürdige
Analogien mit den beiden anderen Hanpttheilen des Ge-
birges; zunächst, ihre Hauptachse erstreckt sich genau parallel
zu der der südlichen Vogesen, des Hochfeldmassivs, und
ferner, im Südwesten aller drei genannten Theile liegen
die höchsten Punkte derselben, im Süden die verschiedenen
Welchen, der Hoheneck, im Hochfeld der Signalpunkt des
Hochfeldes (1095 m), in den Nordvogesen der merkwürdig
236 Dr. Carl Emil Jung: A
gehobene Donon und drittens, was nun ganz von selbst
folgt, diese Südwesthöhen zeigen die stärkste Denudation;
so haben wir in der Gegend des Ballons fast nur Granit
und Steinkohlenformation, das Hochfeld zeigt an seiner
höchsten Stelle nur Granit, und am Donon tritt der untere
Buntsandstein bis zu den Konglomeraten zu Tage, während
weiter nordwärts die spätere Sandsteinformation dem Ge-
birge auflagert. Aus dieser Symmetrie in der Formung
des Gebirges erklärt sich auch die Höhe des Donons, welche
Elie de Beaumont auf eine lokale Hebung des Gebirges
znrUckführen wollte.
Schon zur Zeit dieser Hebung flössen nun die nördlichen
Vogesenslüsse westöstlich, wie jetzt. Doch war damals die
Wasserscheide zwischen Saar und Rhein wohl höher, wie heut-
zutage, wo der östliche oder westliche Ablans der Gewässer rein
zufällig zu sein scheint. Schon in alter Zeit aber war östlich von
den heutigen Vogesen eine Senke, in welche die Flüsse hinabran-
nen. Später sauk diese östliche Gegend immer mehr — ge-
wiß nicht sehr tief, etwa 200 bis 300 m höchstens — und
zwar sank sie nur allmälig, wodurch zugleich ebenso allmä-
lig der östliche Bruchrand der Vogesen emporgedrängt wurde.
Dies folgt mit Notwendigkeit aus dem Umstand (aus
welchem wir alles Vorstehende folgerten), daß die — westöstlich
strömenden — Flüsse den höhern Ostrand des Gebirges alle
gleichmäßig durchsägt haben, was bei anderer, rascherer Art
der Hebung nicht oder wenigstens nicht so gleichmäßig ge-
schehen konnte. Möglich, daß durch dies Empordrängen
des Ostrandes der obere Lauf der Zorn etwas nach Westen
verlegt wurde, welche jedenfalls, wenn die Erhebung des
Ostrandes eine plötzliche, jähe gewesen wäre, ganz nach
Westen herüber, zur Saar gedrängt wäre. Ob gleich damals,
gleichzeitig mit der Senkung des Rheinthales (wie uns
wahrscheinlich dünkt), oder erst später die Einsenkung der
alten westlichen Wasserscheide erfolgte, ist gleichgültig, jeden-
falls vollzog sich auch diese Einsenkung sehr allmälig und
war unbedeutend genug, um alle die Flußläufe in ihrem
alten westöstlichen Lauf, in ihrem alten Zusammenhang
nicht zu stören; denn nirgends sehen wir in dieser so man-
nigfach bewegten Gegend irgendwie gewaltsam gestörte und
tralische Typen und Skizzen.
dadurch jetzt unregelmäßig gestaltete Flußläufe. Natürlich
haben sich in späteren Zeiten, nach jenen Hebungen und
Senkungen, noch zahllose Nebenthäler gebildet, welche von
den alteingeschnittenen Querrücken mehr oder weniger senk-
recht zu deu Hauptthäleru stehen; ja die secnndäre Thal-
bildung geht auch heute noch weiter; man kann mit Augen
sehen, wie sie sich entwickelt. So blickt man vom Plateau
von Lemberg (Bitsch) hinab in tief ausgearbeitete Thäler;
die Höhenfläche felber ist aber auch schon verschiedentlich
muldenförmig vertieft, und in jeder der Mulden, die theil-
weise noch ganz flach sind, läuft zeitweise oder auch fort-
während ein kleines Rinnsal, welches dem tiefern Thale
zueilt. Ganz allmälig, deshalb aber auch desto unwider-
stehlicher, wird sich auch hier ein immer tieferes Thal ent-
wickeln, bis es endlich die Tiefe, welche jetzt die Hanptthäler
zeigen, nach und nach erreicht hat.
Ein Gestein, welches dem Wasser gegenüber so gefügig
ist, wird nun leicht an seiner Oberfläche durch immer weiter-
gehende Zersetzung in erdartige Beschaffenheit übergehen
und so zur Humusbildung sehr geneigt sein. Dieser Um-
stand ist geographisch wieder von Wichtigkeit, ihm verdankt
der Vogesensandstein seinen reichen Waldbestand, dessen nr-
waldartige Beschaffenheit zugleich aus der Lage, Höhe und
Steilheit des Gebirges resultirt. Da nun aber vom Hoch-
gebirge alle kalkigen Niederschläge weggewaschen sind, da
ferner der Buntsandstein selber so höchst gleichförmig aus
Quarzkörnern zusammengesetzt ist, so ist auch die Vegetation
gleichförmig zusammengesetzt, nicht sehr arten- und formen-
reich. Geschlossene Hochstände ein- und derselben Baumart
herrschen vor und dieser Eintönigkeit der Pflanzenwelt ent-
spricht die Einförmigkeit des Thierlebens. Es ist merk-
würdig, wie die Zustände unserer heutigen Welt, welche
bestimmend auf unser Leben einwirken, in so anßerordent-
lich frühen Zeiten, zur Zeit jenes Strandmeeres des Bunt-
sandsteins, angelegt sind; diese Thatsache zeigt, wie wunder-
bar verkettet die einzelnen Züge des tellurischen Lebens
zusammenhängen, und läßt uns einen Blick thun in den
Zusammenhang irdischer Dinge, der uns mit tiefem Er-
staunen erfüllen muß.
Australische Typen und Skizzen.
Von Dr. Carl Emil Jung, früherem Jnspector der Schulen Südaustraliens.
X.
Bushranger.
Straßenräuber gab es in Australien früh genug. Es
wäre auch zu verwundern, wenn sie nicht existirt hätten.
Entkommene Sträflinge legten sich schon in den ersten
Jahren des Bestehens der Kolonie auf dieses Gewerbe, aber
es war nicht sehr lohnend, denn es gab nicht viel zu neh-
men. Und die einsame Existenz unter den wilden Einge-
borenen war dem schwärzesten Bösewicht so entsetzlich, daß er
sich in der Regel nach einiger Zeit der verdienten Strafe aus-
lieferte. Auch in Vandiemensland stand es nicht anders. Erst
die sich öffnenden Goldfelder änderten die Lage und schufen
für Jndnstrieritter und Gurgelabschneider einen lohnenden
Schauplatz. Vandiemensland hatte so ziemlich die schlech-
teste Sorte empfangen; was ganz unverbesserlich schien,
wurde von Neu-Süd-Wales dorthin geschickt. Eine ziemliche
Anzahl endete am Galgen, aber eine beträchtliche Menge
erhielt tickets of leave und conditional pardons. Die
Leute durften sich frei umherbewegen. Die Polizei hatte
ein Wachstums Auge auf ihr Benehmen, und man hielt sie
in Ordnung.
Die Nachrichten von den wunderbaren Goldentdeckuugen
in Victoria drangen auch über die Baß-Straße, und sofort
bewegte sich ein Auswandererstrom von der Insel nach dem
nahen Festlande. Die freigelassenen Vagabunden Vandie-
menslands erschienen auf den Goldfeldern und griffen zu
ihrem alten Handwerk. Die Straßen wurden unsicher, ein
jeder ging bis an die Zähne bewaffnet, und doch war selbst
so nicht sicher zu reisen, wenn man sich nicht einer größern
Gesellschaft anschloß. Räubereien und Mordthaten waren
Dr. Carl Emil Jung: A
an der Tagesordnung. Am Saume des Black Forest in Vic-
toria warteten die Reisenden, bis sich eine genügende Anzahl
gesammelt hatte, um mit Sicherheit durch den Wald zugehen.
Der „schwarze Wald" war berüchtigt uud gefürchtet; auch
größere Gesellschaften schützten oft nicht. Ein Zug vou 30
Wagen wurde von einer großen Schar Bufchräuber au-
gehalten und Rum, Tabak und andere Sachen von großem
Werthe weggenommen. Wenn die glücklichen Digger mit
dem mühsam erworbeneu Golde zurückkehrten, lauerten ihnen
diese Schurken auf. Die Regierung nahm den Goldtraus-
Port in die Hand und geleitete alles an ihren Kommissar
bei den Diggings abgelieferte Gold unter starker Bedeckung
nach Sydney oder Melbourne. In Victoria waren die
Buschräuber zahlreicher und unverschämter als irgendwo. Die
Polizeimacht schreckte sie nicht. Sie legten eines Tages einen
Hinterhalt im Walde, schössen die Bedeckung nieder und nah-
meu den Goldtransport, der aus 2320 Unzen Gold und 120
Pfund in Münze bestand, weg. Man hat die Räuber nie ansfin-
dig gemacht. Sie wagten sich ganz in die Nähe von Melbourne
selbst, ja sogar in die Stadt, uud überfielen 22 Mann
stark in der Nacht den „Nelson", der segelfertig in der
Hobsons-Bai lag, schlössen die Mannschaft ein, ehe sie ge-
weckt werden konnte, und entkamen mit Gold im Werthe
von gegen 30 000 Pfd. St. Im Hafen lagen zwischen
40 und 50 Schiffe, einige ganz in der Nähe des „Nelson",
und die Strecke, welche die Räuberbaude zu durchrudern
hatte, war keine kleine. Einige von diesen Leuten wurden
später eingefangen; sie erwiesen sich, wie man erwartete, als
alte Galgenvögel, entlassene Sträflinge von Vandiemensland.
Aehnliche Räubereien kamen überall vor; viele jener Ver-
brecher wurden eingefangen, aber die meisten sind dem Ge-
setze entgangen. Victoria sah sich genöthigt, den „Convicts
Prevention Act" zu erlassen, ein Gesetz, das die Einwan-
derung von Sträflingen zu verhindern bestimmt war.
Aber genug war schon da, um Unheil zu stiften. Auch
hatten sich entlassene Verbrecher von Neu-Süd-Wales ein-
gefunden ; die Einwanderer, welche von den Goldfeldern
Calisorniens kamen, waren keineswegs Muster von Recht-
lichkeit und Ordnungsliebe, Europa hatte nicht seine besten
Söhne geschickt. Alle waren gekommen, ihr Glück zu ma-
chen; gelang es nicht durch harte Arbeit, so mochte man es
auf andere Weife versuchen. Dick Tnrpin, der große
Straßenräuber Englands, lebt noch immer als Held in dem
Gedächtniß vieler Briten. Wer den Reichen nahm und den
Armen gab, durfte weiter Sympathien gewiß sein.
Darum war auch die Trauer in vielen Kreisen groß,
als vor Jahren der weitbekannte Buschräuber Gardner durch
Verrath der Polizei in die Hände siel. Der Mann hatte
sich während seiner mehrjährigen Karriere nie eines Mordes
oder auch nur einer schweren Körperverletzung schuldig ge-
macht, er hatte zwar den Reichen beraubt, aber manches
Armen Thräne getrocknet; wenn erden Starken nicht schonte,
so vergriff er sich an dem Schwachen nie, und die Dichtung
hatte seinen Namen mit einer Menge von edlen Zügen um-
hüllt, die wohl zum großen Theil eine wahre Unterlage
hatten. Gardner war daher sehr beliebt, besonders war das
schöne Geschlecht für den stattlichen Mann begeistert. Man
flüsterte sich auch zu, daß der kühne und galante Straßen-
ränber sich hoher Gunst erfreut habe. Die Schönen von
Neu-Süd-Wales trauerten um ihren Helden, wie die Schö-
nen Englands Dick Turpiu's Ende beweint hatten. Gard-
ner's Urtheil war milde genug — die Gerechtigkeit ist nur
im Bilde blind — fünfzehnjährige Strafgefangenschaft wurde
ihm zuerkannt. Aber einflußreiche Verwendung öffnete ihm
bald die Pforten seines Gefängnisses. Nach fünf Iahren
segelte Gardner als freier Mann nach San Francisco und
'trnlische Typen und Skizzen. 237
erfreut sich kraft seines Rufes als vi devant Bushranger
einer einträglichen Kundschaft im „Australiern Hotel" der
Goldnen Stadt.
Die meisten Buschräuber waren Hallunken, denen es
einzig und allein um eine Kommutation des Mein und
Dein zu thuu war. Verbrecher aus verloreuer Ehre, oder
solche, welche ungerechte Verfolgung uud Bedrückung zu
Feinden ihrer Mitmenschen machte, waren wohl selten. Ein
Ben Hall, der auf falschen Verdacht ins Gefängniß gesteckt
wurde und dann nach seiner Entlassung sein Besitzthum
verwüstet, sein junges treuloses Weib entführt fand, ist keine
häusig auftretende Erscheiuuug.
In den ersten Zeiten schwärmte der Busch von solchen
Räubern. Sie plünderten die Vorrathskammern der An-
siedler, beraubten sie ihrer Waffen, wählten sich die besten
Pferde aus, und entführten die Frauen in ihr Lager, aus
dem sie oft erst nach Wochen zurückkehrten. Die Poli-
zei war völlig ohnmächtig gegen sie. An Zahl weit über-
legen, hatten die Räuber den Vortheil, daß niemand gegen
sie auszusagen wagte. Der Terrorismus, den sie ausübten,
schützte sie. Denn wehe dem Manne, der ihnen als An-
geber verdächtig war! Doch wird mancher Zug von Groß-
muth berichtet, der diese Rinaldini und Schinderhannes lie-
benswürdiger erscheinen läßt.
Allmälig wurde man ihrer Herr, die schwarzen Polizisten
leisteten gute Dienste, ihren Spnren nachzugehen und die
Schlupfwinkel aufzufinden. Es war felten, daß man sie
zu Gefangenen machte, sie wußten, was ihnen bevorstand
und sie zogen die Revolverkugel dem Strange vor. Es
blieb ihnen freilich nicht einmal die Wahl, denn der Polizist
wußte, was er von diesen Desperados zu erwarten hatte, man
schoß sie wie wilde Thiere nieder, wenn man ihnen be-
gegnete.
Vor etwa zehn Jahren verbreitete Kapitän „Donner-
keil" Schrecken durch die australischen Kolonien. Sein
plötzliches Erscheinen da, wo man ihn am wenigsten erwar-
tete, hatte ihm den Namen verschafft. Er schien allgegen-
wärtig zu sein. An demselben Tage soll er in den Vor-
städten von Melbourne, am Hasen von Sydney und in den
Ebenen von Adelaide feine Erpressungen verübt haben. Die
Squatter von Darling schworen hoch und theuer, sie Hütten
seinen Besuch zur selben Zeit gehabt. Er 'siel endlich durch
die Büchse eines Polizeireiters, der seinen ermordeten Ka-
meraden rächte. Wenige Tage vorher hatte er sich aus
einer Poststation zum Frühstück eingestellt, und die Reisenden
auf Kosten des Wirthes regalirt, während er die Postfell-
eisen ihres werthvollen Inhalts entleerte.
Der sonst ziemlich nüchternen australischen Jugend ver-
drehte der Ruhmesschein, welcher diese Ritter von der Straße
umgab, den Kopf. Es war eine Zeitlang nichts Ungewöhn-
liches, in der Adelaider Morgenzeitung zu lesen, wie eine Frau
oder ein ältlicher Herr durch das plötzliche Erscheinen eines
Banditen mit geschwärztem Gesicht erschreckt worden sei,
der ihr Geld oder ihr Blut gefordert habe. Unreife Juugen
fingen an dies gefährliche Spiel zu lieben. Endlich erwachte
die Polizei — und ergriff die Unrechten. Vier Brüder wur-
den für mehrere Jahre ins Zuchthaus gesteckt, weil sie des
Straßenraubes für schuldig befunden wurden. Leider fand
man erst mehrere Jahre nach ihrer Verurtheiluug heraus,
daß sie völlig unschuldig waren.
Ein Schrecken früherer Zeiten waren die Frauenräuber.
Die Bushranger vergriffen sich nicht nur an dem Eigen-
thum der Ansiedler, sie kränkten dieselben auch noch weit
empfindlicher in ihren häuslichen Rechten. Oft fand der
Mann bei der Rückkehr zu seiner Hütte sein Weib entführt
und nach Wochen vielleicht kehrte sie aus dem Lager der
238 Dr. Carl Emil Jung: Ai
Räuber zurück. Wenn der Schrei „The Womanlifters
are at hand" erschallte, so erfaßte die Hülflosen Ansiedler
wilder Schrecken. Manchmal vertheidigten die Frauen sich
selber in heldenmüthiger Weise. Sie verbarrikadirteu Thür
und Fenster ihrer rohen Holzhäuser und bewaffneten sich
mit der Büchse ihres Gatten. Eine Frau am Lachlan
entledigte sich ihrer Verfolger, indem sie Strychnin in den
Eierkuchen buk, mit dem sie ihre ungebetenen Gäste rega-
lirte, und der zur Hülfe herbeieilende Ehemann fand sie in-
mitten ihrer im letzten Todeskampfe zuckenden Bedränger.
Eine andere richtete das Doppelgewehr, das sie nicht vor ihren
Feinden zu schützen vermochte, gegen die eigene Brust, und
die hereinstürmenden Räuber fanden nur den blutenden Leich-
nam ihres Opfers. Aber die weibliche Bewohuerfchaft hielt
es nur selten für nöthig, die Citadelle ihrer Unschuld so
heldenmüthig zu vertheidigen; aus einer Klasse bestehend,
welche die Flagge zu streichen gewöhnt war, wurde ihnen
das Opfer leicht und die Ergebung in ihr Schicksal na-
türlich auch.
Es herrscht jetzt fast überall Sicherheit. Nur dann
und wann hört man von einem Räuber, der eine Gegend
von Victoria, Neu-Süd-Wales oder Queensland unsicher
macht und im Kampfe mit der Polizei sein Leben endigt.
Gewöhnlich erschienen diese Bushranger mit verhülltem Ge-
ficht und gut bewaffnet. Da aber im Sommer niemand
verfehlt sein Gesicht mit einem dichtmafchigen Netze oder
Schleier zu verhülleu, wenn er auf Reifen ist, sowie auch
sich mit einem Revolver zu versehen, wo die Schwarzen sich
feindlich zeigen, so wußte man zuweilen nicht recht beim
Begegnen, was man von dem andern zu halten hatte.
Und so war es nicht ungewöhnlich, daß zwei Reiter einander
mit dem Revolver in der Hand begrüßten, sich im Sattel wand-
ten und einander so lange beobachteten, bis sie außer
Schußweite kamen.
Als ich am Parnfluffe nach langem Ritte vom Pferde
sprang und in dein kleinen, aus Holz gebauten Wirths-
Hause einkehrte, legte der Wirth sogleich seinen Five and
twenty shooter auf ben Schenktisch und reichte mir Getränke
und Speisen, ohne mir für einen Augenblick den Rücken zu
kehren. Als ich meine Verwunderung darüber aussprach,
theilte er mir mit, daß er vor einigen Tagen um 200 Pf.
St. beraubt worden sei und daß er sein vorsichtiges Beneh-
men sofort ändern werde, wenn ich ihm meinen Revolver aus-
händige. Indessen da ich den Wirth nicht kannte, so hielt
ich es für besser, meine Waffe zu behalten und auf dem
Kriegsfuße zu bleiben.
Ganz nahe Verwandte dieser Bushranger sind die Vieh-
stehler. Die Landwähler in Queensland und Neu-Süd-
Wales werden von ihren aristokratischen Nachbarn, den
Squatters, beschuldigt, daß sie sich recht oft ein Schaf oder
ein Rind aus ihren Herdeu aussuchen. Aber das heißt das
Geschäft nur im Kleinen betreiben, und trotzdem sich große
Schwierigkeiten bieten, werden diese kleinen Diebe wahrschein-
lich öfter gefangen als die großen.
Aber zuweilen faßt das Gesetz auch den Neichen. In
Queensland stand vor nicht allzu langer Zeit ein großer
Squatter vor Gericht, angeklagt, das Vieh seiner Nachbarn
mehr geliebt zu haben, als recht war. Er hatte das Ge-
schäft viele Jahre hindurch mit gutem Erfolge betrieben,
er hatte ein großes Vermögen gesammelt, hatte so ziemlich
alle Würden erlangt, welche ihm die Kolonie bieten konnte,
aber was er früher aus Noth gethau, trieb er als reicher
Mann vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus Vorliebe
immer noch fort. Daß die Sache nicht eher ruchbar wurde, be-
weist für die Zahl seiner Helfer und Mitschuldigen. Natürlich
wurde er verurtheilt, aber wie das in den Kolonien immer ist,
Mische Typen und Skizzen.
ellenlange, mit Tausenden von Unterschriften versehene Pe-
titionen liefen zu seinen Gunsten ein. Anch australische
Gefängnisse thun sich vergoldeten Schlüsseln auf. Er saß
bald wieder auf seiner Station inmitten seiner Schaft und
Rinder und gab den Nachbarn aufzupassen.
Als ich am Wilson in der Nordwestecke von Queens-
land lebte, wurde eine ganze Herde Rinder ans die ver-
wegenste Weise entführt. Das Unternehmen mußte
lange vorher geplant worden fein. Eines Tages rappor-
tirten die Rinderhirten, daß trotz allen Reitens und Suchens
eine Anzahl von gegen 300 Stück Rindern nicht zu finden
sei. Wir Nachbarn halfen alle gern und eine ganze Schar-
erfahrener Reiter durchsuchte die Gegend nach den Spureu
der Ausreißer, aber Spuren waren absolut nicht zu sehen.
Die Herde war fort. Auf Hunderte von Meilen nach der
Gegend zu, woher die Thiere ursprünglich kamen, war nichts
von ihnen gesehen oder gehört worden. Mehrere Wochen
darauf sagten uns die Marktberichte der Zeitungen, daß der
größte Theil der Herde in Adelaide, circa 1400 Meilen von
uns, zu guten Preisen an die Schlächter verkauft worden
sei. Die Diebe hatten den Wechsel der Witterung benutzt,
die Spuren der Thiere waren durch den schweren Regen
ausgewaschen worden, aus den ersten Tagemärschen durch-
schnitten sie eine völlig wüste, nur für den Augenblick pas-
sirbare Gegend, und als sie später auf die belebte Straße ka-
men, waren sie sicher. Man suchte die Rinder gerade in
der entgegengesetzten Richtung. Die Diebe machten sich mit
dem erlösten Gelde davon und niemand hatte je von ihnen
gehört.
Daß Pferde sehr oft verschwinden und vielleicht erst
nach Jahren wieder auftauchen, vielleicht auch niemals
wieder gesehen werden, kann man wohl denken. Aber
diese Unsicherheit beschränkt sich doch nur auf die weiten nn-
angesiedelten Striche. Und das Gewerbe ist am Ende doch
wenig einträglich. Schließlich erfaßt die Gerechtigkeit doch
den Schuldigen; in Australien ist das nicht so schwer. Lei-
der laufen die Begegnungen von Polizei und Buschrünbern
selten ohne Blutvergießen ab. Es sind dies noch die Nach-
wehen jener wilden, gesetzlosen Zeil, welche die unruhigen
Geister aller Länder nach Australien rief. Das abentener-
liche Leben des Buschmannes selber ist auch nicht wenig
angelegt, Geschmack daran zu erwecken. Aber mit der ver-
besserten Organisation der Behörden nimmt die Sicherheit
auch in den entlegensten Distrikten zu und die Verbrechen
werder seltener.
Ganz vortreffliche Dienste bei der Aufspürung und
Verfolgung von Verbrechern leisten die schwarzen Polizi-
sten, welche man in Victoria, Neu-Süd-Wales und Queens-
land der weißen berittenen Polizeimacht in den Weidedistrik-
ten zugesellt hat. Sie verfolgen eine Spur mit der Schärfe
eines Spürhundes, und wenn sie aus die richtige Fährte ge-
setzt sind, entgeht ihnen die Beute fast nie. Eine Autorität
über den weißen Mann ist diesen Schwarzen nicht gegeben.
Das wäre bedenklich, denn sie zeigen eine etwas übergroße
Vorliebe, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, nament-
lich von ihren Reiterpistolen. Und wären sie allein mit
den Verfolgungen von Verbrechern beauftragt, so würden
sie wohl selten mit Gefangenen zurückkommen. Schickt
man sie einmal hinter einem schwarzen Uebelthäter hinterher,
so kommen sie gewiß allein zurück, aber eine Hand des
Todten, sein Eingeweidefett oder dergleichen sind stumme
Zeugen von der Art, wie sie sich ihres Auftrages entledig-
ten. Aber auch gegen die weißen Buschklepper sind sie eine
vortreffliche Hülfe gewesen; kein Schlupfwinkel war so ver-
steckt, den sie nicht aufzufinden vermochten.
Aus allen Erdtheilen.
239
Aus allen
Europa.
— Von A. Waltenberger's Specialführern durch
die deutschen und österreichischen Alpen ist unlängst der
3. Theil, das bayerische Hochland und Salzburg nebst
den angrenzenden Gebieten von Tirol umfassend (Augsburg,
Lampart u. Comp. 5 M., für Alpenvereinsmitglieder 4 M.),
erschienen. Der Verfasser ist als einer der besten Kenner
der Alpen, auch in wissenschaftlicher Hinsicht, wohl bekannt;
seine Gabe wird deshalb in allen'betheiligten Kreisen mit
hohem Interesse begrüßt werden. An Fülle und Ausführ-
lichkeit des Beschriebenen übertrifft sein Werk alle ähnlichen
Bücher, und für jeden ist gesorgt, von dem kürzesten Spazier-
weg bis zu der schwierigsten Bergbesteigung ist alles auf-
genommen. Besonders sei hier auch auf die allgemeinen
Abschnitte über Natur und Bevölkerung hingewiesen,
welche das ganze Buch sowohl wie die einzelnen Abthei-
lnngen einleiten. Beigegeben ist eine klare Übersichtskarte
in 1:300 000, welche für den gewöhnlichen Touristen voll-
ständig ausreichen dürfte.
— Von den „Europäischen Wanderbildern" (Zü-
rich, Orell, Füßli u. Comp. s. „Globus" XXXIV, S. 349
und XXXVI, S. 109) ist ein neues Heft (Nro. 11) erschienen,
welches Baden in der Schweiz behandelt und seinen
Vorgängern in Bezug auf Text und Abbildungen nichts
nachgiebt. Es sind das die am geschicktesten abgefaßten und
best ausgestatteten Bücher, welche wir in der Art der Spe-
cialführer kennen; sie könnten allen Anforderungen genügen,
wenn die beigegebenen Karten einen größern Maßstab hätten
und technisch sorgfältiger ausgeführt würden. Demnächst
sollen erscheinen: Rom (wir sind gespannt, wie diese Auf-
gäbe gelöst werden wird), Ragaz, Nyon am Genfersee, Lu-
zeru und Konstanz.
— Wie den „Daily News" aus Neapel geschrieben wird,
wird das Aetua-Observatorium bald eine vollendete
Thatsache sein. Die italienische Regierung trägt die Hälfte
der Kosten, die Provinz Catania ein Viertel, das letzte Viertel
die Gemeinde Catania. Das für vulkanologische Studien
bestimmte Observatorium wurde am Fuße des Centralkegels
an der Stelle des wohlbekannten Zufluchtshauses Casa degli
Juglesi errichtet und steht mit mehreren kleineren Stationen
an den Abhängen des Berges in Verbindung. Auch in Ca-
tania selbst soll eine solche errichtet und mit dem Haupt-
observatorium telegraphisch verbunden werden. Außer den
seismischen Beobachtungen werden dort aber auch meteoro-
logische und astronomische ausgeführt werden, für welche
sich die circa 3000 m hohe Lage, die unbeschränkte Aussicht
und die besonders klare Luft vorzüglich eignen, und so wird
das Centralobservatorium in drei Abtheilungen zerfallen,
welche in Verbindung mit der Universität in Catania und
unter dem Ministerium des öffentlichen Unterrichts stehen.
— Wie der „A. Z." aus Belgrad geschrieben wird,
machte die k. k. Geologische Reichsaustalt in Wien im August
der serbischen Regierung den Antrag, das Programm für
die Untersuchung Serbiens in geologischer Hinsicht
unter der Leitung österreichisch-nngarischer Geologen auszu-
arbeiten und auszuführen. Dieser Antrag wurde dankend ab-
gelehnt, weil die serbische Regierung in Würdigung der großen
wissenschaftlichen und praktischen Wichtigkeit einer geologischen
Kenntniß des Landes in dieser Hinsicht schon die Initiative
ergriffen hatte, um für Serbien ein eigenes geologisches In-
stitnt zu errichten. Seiner Zeit wird die serbische Regie-
? r d t h e i l e n.
rung. falls es nöthig sein wird, sich bei den einzelnen Ge-
lehrten der Wiener geologischen Anstalt Raths erholen.
Asien.
— Der Deutsche Palästina-Berein beabsichtigt,
nachdem durch einen namhaften Beitrag des preußischen Kul-
tusministeriums sein Expeditionsfond wesentlich gewachsen
ist, demnächst mit Ausgrabungen in Palästina den Anfang
zu machen, wozu der Plan jetzt ausgearbeitet wird. Ferner
hat der geschäftsführende Ausschuß zahlreiche Aufforderungen
an die in Palästina wohnhaften Mitglieder und Landsleute
ergehen lassen, über die Lebensweise, Sitten, Gebräuche,
Sprache, Anschauungen u. s. w. der Fellachen Berichte an
die Redaktion der Zeitschrift einzusenden, damit auf Grund
möglichst zahlreicher, mit den genauesten Nachweisnngen über
Ort und Zeit der Beobachtung versehener Angaben ein sicheres
Urtheil über die Herkunft und die Eigenthümlichkeit dersel-
ben, beziehentlich über einen Zusammenhang mit früheren
Bewohnern und Sitten des Landes, herbeigeführt werde.
Der Verein hat, um solche Mitarbeit von Landesbewohnern
an der Erforschung Palästinas zu befördern und zu organi-
siren, sogar die Errichtung von Centralstellen, von wissen-
schaftlichen Stationen, und zwar in erster Linie einer histo-
risch-archäologischen, dann einer naturwissenschaftlichen ins
Auge gefaßt und hofft, solche trotz der bedeutenden Kosten
mit der Zeit ins Leben rufen zu können.
— Ueber Jadrintzew's Expedition in den Altai
melden die „Tomsk. Wjed.": Die Expedition hat die Ueber-
zeugung gewonnen, daß diejenigen Eingeborenen an der Bija,
welche Helmersen Teleu teu nennt und bis jetzt dem finni-
schen Stamme zuzählt, nichts anderes sind als die Kumau-
dinzen, welche bis jetzt an denselben Orten wohnen, dasselbe
Kostüm tragen und denselben Typus haben, wie Helmersen
sie, aber als von den Telenten verschieden, beschreibt. Jetzt
beschäftigen sich die Knmandinzen mit Ackerbau uud vermischen
sich mit den Russen. Ob diese Eingeborenen finnischen
Stammes sind, darüber kann erst genaueres Studium ent-
scheiden. Die anthropometrischen Arbeiten der Expe-
bitton, um durch Messungen die Volkstypen zu bestimmen,
gehen günstig von Statten. Herr Jadrintzew, Mitglied
der westsibirischen Sektion der Geographischen Gesellschaft,
ist von einem Photographen begleitet, der die Typen auf-
nimmt. Am 25. Juni (7. Juli) entdeckte die Expedition auf
ihren Exkursionen im Nomadengebiet eine Tropfstein-
höhle, die den Bauern schon seit zwei Jahren bekannt, von
Reisenden aber bis jetzt noch nicht besucht worden ist. Bei
der Untersuchung fand die Expedition im Innern Reste von
einem Meiler uud von Bäumen, ferner Knochen von Thie-
ren und das Skelet eines Menschen, aber ohne Schädel.
Die Höhle liegt am Flusse Tertaual, welcher in den Naim
fällt. Die Besichtigung noch anderer Höhlen am folgenden
Tage ergab, daß diese nicht bewohnt waren, aber die erst-
gefundene Höhle mit den Knochen- und Baumresten ist eine
in wissenschaftlicher Beziehung höchst beachtenswerte Er-
scheinung.
— Zur Organisation der Civilverwaltung in
dem 1876 in Rußland einverleibten Ferghana ist in die-
sem Sommer für das ganze Gebiet (Oblast) ein Organi-
sationsrath und unter diesem vier Kreis-Organi-
fations-Kommifsionen eingesetzt für die Kreise Marge-
lan, Kokan, Andidshan und Namangan; der Kreis Jssarin
ist mit seiner Osthälfte dem Rayon der Kommission für
240
Aus allen Erdtheilen.
Margelan, die Westhälfte derjenigen für Kokan, der Kreis
Osch dem Rayon von Andidshan und der Kreis Tschust dem-
jenigen von Namangan zngetheilt worden. Die Central-
behörde zählt außer dem Vorsitzenden 4 Mitglieder, die
Kommission für Margelan und Kokan je 3, für Andidshan
und Namangan je 4 Organisatious-Kommissare; zu jeder der
4 Kommissionen gehört außerdem ein Chef des Vermefsungs-
weseus, unter dem 15 resp. 12 Feldmesser stehen. Nach dem
Etat gehören die Mitglieder des Orgauisatiousrathes der
V. Rangklasse (Staatsrath) an und beziehen 4500 Rubel
Gehalt, die Kommissare und die Chefs der Vermessungen
der VI. Rangklasse (Kollegienrath, Oberst:c.) und erhalten 2000
Rubel, die Feldmesser der IX. Klasse (Titularrath, Haupt-
mann) 1000 Rubel. Der Jahresetat ist für den Oblast-
Rath auf 23 525 Rubel, für die zwei ersten Kreise auf je
56 795 Rubel, für die beiden anderen auf je 46 666 Rubel,
im Ganzen für die Organisationsbehörden des Gebietes auf
235 447 Rubel festgesetzt.
— In Vorderindien werden jetzt die Vorarbeiten für
die Volkszählung des nächsten Februar, bei welcher zum
ersten Male die Bevölkerung von ganz Britisch-Jndien und
der Vasallenstaaten gleichzeitig gezählt werden soll, eifrig
betrieben. Es wird das ein schwieriges Werk sein, nicht
nur wegen des weiten Ländergebietes, über welches es sich
erstreckt, sondern noch mehr wegen der Unwissenheit und der
Vorurtheile des Volkes. Nach längeren Berathungen ist be-
schloffen worden, folgende Rubriken ausfüllen zu lassen:
Name, Stand, Geschlecht, Alter, Religion, Muttersprache,
Geburtsort, Beschäftigung, Erziehung, Gebrechen, wie Blind-
heit, Taubheit, Stummheit, Wahnsinn und Aussatz. Hindus
sollen gehalten werden, auch ihre betreffende Kaste anzugeben.
— Die Regierung von Bengalen hat kürzlich (August
1880) einen Bericht über die von wilden Thieren ge-
tödteten Menschen vor und nach dem Waffengesetze von
1878 herausgegeben. In den drei letzten Jahren vor 1878
beliefen sich die Todesfälle im Durchschnitte jährlich auf
1601, im Jahre 1878 auf 1374 und 1879 nur auf 1264.
Von 1875 bis 1877 wurden durchschnittlich jährlich 3924
wilde Thiere getödtet, 1878 schon 4690, 1879 aber 5543.
Zu bemerken ist dabei, daß die Ziffer des von wilden Thie-
ren getödteten Viehs stätig wächst.
— Der ansJesso gestrandete Dampfer „Nordenskjöld"
ist Ende Mai glücklich flott geworden und am 24. Juni in
Jokohama eingetroffen, um dort gedockt und ausgebessert zu
werden. Möglicherweise wird also Kapitän Johansen noch
im laufenden Jahre auf ihm seine Reise nach der Lena an-
treten. Sibiriakow, der Besitzer des Schiffes, ist bereits im
August dieses Jahres auf dem Dampfer „Oskar Dicksou"
nach dem Jeuisei aufgebrochen.
Afrika.
— Der Times-Korrespondent in Kairo giebt folgende
officiellen Ziffern über den Handelsverkehr Aegyptens
mit dem Auslande: mit Großbritannien 11 219 682 Pf. St.,
Frankreich 2 327 443, Italien 1 370770, Oesterreich 1145712,
Rußland 962 899, Türkei 703 984, Griechenland 138 863,
Amerika 120067, mit anderen Ländern 451788Ps. St. Zwei
Drittel des gesammten auswärtigen Handels finden also mit
England statt — wobei nicht einmal der Transitverkehr zwi-
scheu England einerseits, Indien und den Kolonien anderer-
seits in Anschlag gebracht ist — und dennoch ist Englisch in
Aegypten nicht als ofsicielle Sprache anerkannt, sondern nur
Arabisch, Französisch und Italienisch, worüber sich jener
Korrespondent bitter beklagt. Er hofft, daß beim Zusammen-
tritt der Kommission, welche die Bestimmungen wegen Er-
Neuerung der gemischten Gerichtshöfe revidiren soll, die eng-
lischen Vertreter auf Beseitigung dieses Mißverhältnisses
dringen werden.
— In der Generalversammlung und Ausschußsitzung
der Afrikanischen Gesellschaft vom 7. August wurde
vom Vorstand mitgetheilt, daß das Reichskanzleramt von den
75 000 M., die der Reichstag zu afrikanischen Zwecken be-
willigt hat, 32000 M. für die Sendung von G. Rohlfs
nach Abessinieu verwenden und 5000 M. als Reserve zurück-
behalten wolle. Heber die 38 000 M., die sonach für die
Afrikanische Gesellschaft übrig bleiben, wurde in der Weise
verfügt, daß 16 000 M. für die in Zanzibar befindliche
afrikanische Expedition unter v. Schoeler und 25 000 M.
für die neue Reise Dr. Pogge's nach der Residenz des
Mnata Jamwo in Südafrika bestimmt wurden, wobei
3000 M. aus der Gefellschaftskaffe beizuschießen sind.
Dr. Pogge wird von Lieutenant Wißmann begleitet und hat
die Aufgabe, eine sogenannte Station beim Mnata Jamwo
einzurichten zur Anknüpfung von Handelsbeziehungen und
Unterstützung künftiger Reisender. Die Versammlung ge-
nehmigte auch nachträglich die vom Vorstand erfolgte Bewil-
ligung von 5000 M. anR. E. Flegel, der eine neue Reise
nach dem Bernte angetreten hat und von diesem Flusse aus
die für das hydrographische Netz Jnnerafrikas so vorzngs-
weise wichtigen Wasserscheidegebiete zwischen Niger, Schari,
Ogowe und Eongo bereisen zu können hofft.
(Behm's Geogr. Monatsbericht in Petermann's Mit-
theiluugeu.)
— Zu Beginn des laufenden Jahres nahm Oberst
Briöre de l'Jsle, der Gouverneur der französischen Sene-
gal-Kolonie, Faidherbe's großartigen Plan wieder auf,
zwischen der Kolonie und dem Niger befestige Posten zu
errichten, damit in deren Schutz Straßen gebaut werden
und Karawanen sicher verkehren könnten. Mit Bewilligung
der Regierung wurde eine Expedition, bestehend aus
HauptmannGallieni, Lieutenants Pietri und Valliöre
und Dr. Tautain, organisirt und verließ am 30. Januar
St. Louis. Dr. Bayol sollte bis Bamako am Niger mit-
gehen und dort als Vertreter der französischen Regierung
zurückbleiben. Am 27. Februar trafen sie in Bakel ein,
vollendeten dort ihre Ausrüstung und gingen am 9. März
zu Lande nach Medina weiter. Sie zählten nun 5 Offiziere,
7 schwarze Spahis, 21 eingeborene Schützen, 2 Dolmetscher
und etwa 70 Esel- und Maulthiertreiber und hatten
20 Pferde, 12 Maulthiere und 200 Esel für ihren persön-
lichen Gebrauch und ihr Gepäck bei sich. Glücklich erreichte
man Basulabe, den vorgeschobensten französischen Posten,
überschritt am 1. April den Fluß Basiug, durchzog die
Landschaften Makadngu, Belea, Fareubula und Fnladugn
uud langte am 20. April in Kita an und circa 3 Wochen
später im Lande Beledngn (nordöstlich von der Stadt Ja-
mina am Niger). Dort war der Empfang ein mißtraut-
scher und als die Expedition am 11. Mai Mittags in Did,
45 km vom Niger, gerade ihr Lager abbrach, wurde sie von
2700 Bambaras angegriffen. Nach entschlossenem Wider-
stände, bei welchem 15 Mann getödtet, 16 verwundet und
7 vermißt wurden, schlug Gallieni mit seiner Begleitung
den Weg nach dem Niger und weiter nach Segn-Sikoro
auf dem rechten Ufer des Niger ein, während Dr. Bayol
mit 6 Leuten und fast ohne Hülfsmittel durch übel gesinnte
Gebiete nach Bakel und S. Louis zurückkehrte, wo er am
3. Juli wieder eintraf. Die Ausrüstung der Expedition
soll zum Theil verloren gegangen sein. Nach neueren Nach-
richten (aus Medina vom 29. Juli) ist dieselbe glücklich in
Segu angelangt und vom Könige Amadhu freundlich auf-
genommen worden. Derselbe hat ihr für sein Gebiet allen
nur möglichen Schutz zugesagt.
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. VIII. (Mit sechs Abbildungen.) — Einiges über die Turkmenen. II. (Schluß.)
Prof. Dr. Georg Gerland: Merkwürdige Vogefenberge. I. DerDonon. (Zweite Hälfte.) — Dr. Carl EmilJung: Austra-
lische Typen und Skizzen. X. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — (Schlich der Redaction
14. September 1880.)
Redacteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vitweg und Sohn in Vraunschweig.
fÜ!iniVr- und
A«-3
Band XXXYIII.
"4
«ä
,«16.
Mit besonderer Berücksichtigung äer AntKropologie unä GtKnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
STWrntrt frfiVtioin Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i q ß
^rnull lOirueig mn sureHe von 12 Mark xi-0 Band zu beziehen.
I m
CV
Innern v 0 n H l n t e r i n d i e n.
(Nach dem Französischen des Dr. Harm and.)
(Sämmtliche Abbildungen nach den Skizzen und Angaben des Reisenden.)
IX.
Weiter ging es durch Wald nach einem Dörfchen der
Duöns, das auf einem kleinen Sandsteinhügel gelegen und
von abstoßender Schmutzigkeit war. Der Boden war mit
tiefem, stinkendem Kothe bedeckt, in welchem thierische Kada-
ver und sonstige Abfälle lagen. Der Häuptling dieses Kon-
Chen genannten Weilers warf sich, ehe er Harmand sein Haus
betreten ließ, mit gefalteten Händen vor einem kleinen, aus
Bambus und Lianen hergestellten Altare, welcher ein Körbchen
aus spanischem Rohr mit der Asche seiner Eltern trug, zu
Boden und sprach ein Gebet, welches ein anderer KHK ihm
Wort für Wort vorsprach, und dessen Zweck darin bestand,
die in dergleichen Dingen sehr verletzbaren Geister der Abge-
schiedenen zu beschwichtigen und sie wegen des freilich er-
zwungenen Eintritts eines Fremden in das Haus um Ber-
zeihung zu bitten. Auf dem Altare lagen außerdem aller-
Hand Anmiete, Strähnen von Baumwolle, lange dünne ge-
kräuselte Bambuspäue und andere Dinge, die der Reisende
nicht weiter zu bezeichnen vermag.
Am folgenden Tage (9. Juli) pafsirte man ein unsrncht-
bares Gebiet, wo überall der Sandstein in großen Platten
zu Tage trat. Nur in den Spalten des Gesteines kamen
verkrüppelte Bäume fort. Das Frühstück nahm der Rei-
sende in der Hütte eines Du6n-Häuptlings ein. Dieselbe
unterschied sich äußerlich wenig von den Wohnungen der
Laos; die innere Einthcilnng indessen ist, wie der Plan auf
der ersten Seite dieser Nummer zeigt, eine völlig verschiedene.
Dann erreichte man den Fluß Se-Tamnok, welcher der
Globus XXXVIII. Nr. 16.
Weiterreise ein ernstliches Hinderniß darbot: es war ein
tiefer Gießbach mit steilen Ufern und von hohem Walde
eingefaßt, und zudem behaupten die anwohnenden Wilden,
daß sie weder Boote besäßen noch solche zu bauen verständen.
Um seinen Trägern, deren Disciplin durch Ermüdung und
Krankheiten gelitten hatte, zu zeigen, daß er vor solchem
Hindernisse nicht zurückschrecke, ließ er sie alle feste Hütten
errichten, und begab sich auf die Jagd, zugleich um längs des
Flusses vielleicht eine bequemere Uebergangsstelle ausfindig
zu macheu. Der morastige, dunkle, von dichtem Nebel
erfüllte Wald aber wimmelte dermaßen von Blutigeln,
daß Harmand's Hosen sich bald von seinem Blute rötheten
und diese Plage seinen Begleitern bald Ausrufe des Schmer-
zes entlockte. Und als er in das Lager zurückkam, begehrten
die Sußs heimzukehren, da der Strom doch unpassirbar sei,
und sie keinen Reis mehr hätten; sie hatten nämlich als rich-
tige Wilde ihre für mehr als zehn Tage bestimmte Ration
binnen vier Tagen hinuntergeschlungen. Sosort ließ Harmand
allen noch übrigen Reis, die Messer, Schurze und Tabak-
bündel der Träger in seine Hütte bringen und bewachte die-
selben dort die ganze Nacht, um einer allgemeinen Desertion
vorzubeugen, was seine Lage zu einer sehr kritischen gemacht
hätte. Auch die Blutigel saugten diese Nacht mit wahrer
Wuth und dazu regnete es wie bei der Sintfluth.
Am nächsten Morgen indessen lockten die Axtschläge der zur
Arbeit gezwungenen Träger zwei Duöns mit elenden kleinen
Booten herbei, die ihre Dienste anboten. Ohne sich lange zu
31
242
Im Innern von Hinterindien.
besinnen, ließ Harmand sofort Träger und Gepäck einen
nach dem andern allmälig übersetzen, schickte die Elephanten,
welche sich hartnäckig weigerten, den Fluß zu Passiren, zu-
rück, ließ sich als letzten hinüberfahren und setzte sich an
die Spitze der Kolonne. Aber welch ein Weg! Unausge-
setzt mußten sie durch einen zähen, rothen Koth, der mit
1 bis 2 Fuß Wasser bedeckt war, marschiren und mußten
noch von Glück sagen, daß keine Blutigel sich zeigten. Nach
3 Stunden war ein anderer Fluß, der Se-Tuon, zu über-
schreiten, weder tief noch breit, aber so reißend, daß die
Träger, um die Strömung zu überwinden, zu einem eigen-
thümlichen Manöver ihre Zuflucht nehmen mußten. Zwei von
ihnen legen sich eine Kiste im Gleichgewichte auf die Schul-
teru, dann treten 8 bis 10 andere an sie heran, umschlin-
gen sich gegenseitig mit den Armen, so daß sie eine einzige
Masse bilden, laufen nun wie toll den steilen Uferrand hinab
und gelangen vermöge ihrer Wucht glücklich durch die Strö-
muug hinüber.
Bald darauf war Menong-Phin erreicht, wo sich Har-
mand in einer sehr bequemen sala für einige Tage einquartierte
und mit großer, freudiger Ueberraschuug sich durch einen
großen Mann begrüßt sah, dessen Turban aus schwarzem
Krepp und dessen langes, seitwärts auf der Brust zugeknöps-
tes Gewand mit weiten Aermeln den Annamiten verrieth.
Seine Freude wuchs, als er erfuhr, daß der Mandarin vom
Hofe von Hüö regelrecht eingesetzt sei, d. h. daß er Laos be-
reits verlassen habe, sich in Annam befinde, und daß seine
Reise sich ihrem Ende nähere. Ohne es zu ahnen und ohne
von den Trägern darauf aufmerksam gemacht worden zu
sein, hatte er die so schwierig zu erreichende Grenze über-
schritten; dieselbe liegt zwischen einem kleinen Nebenflüsse
des Se-Tamnuk uud dem Se-Tuon. In seinem Entzücken
überhäufte er den Gouverneur mit Gescheuken, und dieser, der
wiederholt die Reise nach Hüö unternommen hatte, machte
dem Franzosen werthvolle Angaben über den Weg dorthin.
Der Gouverneur führte noch den laotischen Titel Khio-
Schlafzimmer
Altar
Zimmer der
Vorfahren
Plan einer Hütte der KHäs Duäns.
Menong; denn die Annamiten haben den Pn-Thays ihre der
laotischen nachgeahmte politische Verfassung gelassen und sich
zunächst mit einem geringen Tribute begnügt. Nach seinen
Angaben mußte Harmand zunächst drei Tagereisen weit
nach Tschepon, dem Hauptorte einer andern Pu-Thay-Pro-
vinz am linken Ufer des Se-Bang-Hieng, gehen; von dort
konnte er in zwei Tagen die wasserscheidende Kette erreichen,
sie auf einem niedrigen Passe überschreiten und so direkt
nach dem hüyen (Unter - Präfektur) Cam-Lö kommen.
Letzteres aber sollte an einem Flusse liegen, auf welchem
es nur zwei Tagereisen weit bis Hüö ist. So konnte er,
wenn alles gut ging, in einer Woche sich am Ziele seiner
Reise befinden!
Nach Meuoug Phiu kommen ziemlich häusig aunamitische
Händler mit bronzenen Töpfen, Eisenwaaren, Salz, eingesal-
zenen Fischen und jenem in Jndochina so geschätzten Ge-
würz nüoc-mam (Fischwasser), wofür sie Ochsen, Büffel
uud Werg von chinesischer Brennessel eintauschen. Ge-
wohnlich warten sie die Zeit ab, wo das Anwachsen der
Flüsse ihnen es möglich macht, zu Wasser zurückzukehren.
Sehr viel seltener^gehen die Pu-Thays nach Annam, wenn
sie auch nicht so viel Mißtrauen und Furcht vor diesem
Lande zur Schau trugen, wie die Laos. Bor dem Kriege
waren die Annamiten in der That Herren des Landes und
hatten in Tschepön ein administratives Centrum, Na-Bön
genannt; an den Usern des Se-Tuon hat Harmand sogar
die Reste eines von ihnen angelegten Forts gesehen. Später
hielten sie es für klüger, zwischen ihren und den siamesi-
schen Besitzungen eine Uebergangszone zu lassen, in welcher
sie nur einen geringen Tribut an Wachs, Elsenbein und
barem Geld (circa 50 Franks) erheben. Der Khio-menong
hat zwar den laotischen Behörden keinen Zins zu entrichten,
schickt aber doch von Zeit zu Zeit seinen Sohn nach Kem-
merat und sendet dem dortigen Gouverneur seine Empseh-
lnngen und einen Bronzetopf, um gute Beziehungen zu
demselben zu erhalten.
Aus dem oben Mitgeteilten ist ersichtlich, wie wenig
Werth geographische und politische Erkundigungen haben,
welche man auf einer solchen Reise ans der Entfernung ein-
zieht. Niemals hat jemand den Dr. Harmand von diesem
Vasallenstaate der Pn-Thay erzählt, welcher doch im Strom-
gebiete des Me-khüng selbst liegt, und er hätte Monate lang
Heerd
Küche
Heerd i
Im Innern b
nur wenige Kilometer von ihrem Gebiete entfernt herum-
ziehen können, ohne das Geringste von ihrer Existenz zu
erfahren. Und dabei sind diese Dinge hinsichtlich der zu-
künftigen französischen Kolonisation in Hinterindien von
größter Wichtigkeit. Denn der Tag ist nicht mehr fern, an
welchem ganz Annam eine französische Kolonie wird, und als-
dann kann dieses Gebiet der Pu-Thay gewissermaßen als
Eingangsthor für Handel und Civilifation in das sonst uuaus-
bleiblicher Vernichtung entgegengehende Me-khüug-Thal die-
nen. Es giebt im Ganzen drei Pn-Thay-Provinzen: Phin,
Tschepon weiter aufwärts am linken Ufer des Se-Baug-
Hieng und Wang am rechten Ufer. Den Mandarinen der-
selben sind wiederum mehrere wilde Stämme unterthan.
Hinterindien. 243
Es sind noch keine zwei Jahrhunderte her, daß der Bnd-
dhismus und die Leichenverbrennung bei den Pu-Thay ein-
geführt ist. Ueber ihren Ursprung und ihre Geschichte
haben sie nur sehr unbestimmte Überlieferungen. Danach
sind sie von Norden gekommen, von Nam-Noi, was nicht
viel sagen will; denn der Name bedeutet „Kleiner Fluß"
und kommt im Lande der Laos sehr häusig vor. Nach ihrer
Angabe hätten sie einst alles Land am linken Ufer des
Flusses von 19o nördl. Br. an bis hinab zum Thale des
Se-Bang-Hieng, dasselbe einbegriffen, besessen; ob aber
unter einem einzigen Herrscher, oder in lauter getrennten
Provinzen, wie heute, vermochten sie nicht anzugeben. Ihre
Schrift ist die laotische, ihre Sprache wahrscheinlich nur
Betende Khas Duüus.
ein siamesischer Dialekt. Ihr Typus ist sehr unbestimmt;
in Folge zahlreicher Mischungen mit verschiedenen Khä-
Stämmen ähneln sie diesen, deren Physiognomie doch selbst
so wechselnd ist, in hohem Grade.
Am 13. Juli brach Harmand in nahezu nördlicher
Richtung ans ititd zog am Abhänge des Berges Phn-khon-
kan hin, unter strömendem Regen und über wenigstens ein
halbes Hundert Bäche von 3 bis 4 Fuß Tiefe. Mit Mühe
fanden die Führer am Abend ein Khk-Dorf zum Uebernachten
auf, so geschickt waren die dorthin führenden Wege verborgen
und labyrinthartig durch einander geführt. Man fand
auch nicht ein einzelnes Dorf, sondern mehrere kleine Weiler,
alle verpalissadirt und zur größern Sicherheit noch von einer
gemeinsamen Umwalluug aus dicken Psählen umgeben. Mit
Gewalt mußte man sich den Eingang in diese überaus
schmutzige Ansiedelung erzwingen, fand aber drinnen eine
ziemlich reinliche, wenn auch nicht ganz vollendete Hütte,
welche eine Art Gemeindehaus zu sein schien, zum Obdach.
Die Lage des Dorfes am Ufer eines großen Baches (Küy),
mit seinen ranchenden Dächern und scharfen Palissadenspitzen,
die aus einem wahren Chaos von Gebüschen und Schling-
pflanzen hervorsahen und von prächtigen Bäumen überragt
waren, im Hintergründe die bläulichen Umrisse einiger Ge-
birge, war wundervoll. Seine Einwohner aber wußten nur
zu sagen, daß sie Khüs seien; von irgend welcher Stammes-
Zugehörigkeit war, wie gewöhnlich, keine Rede. ^
Am folgenden Tage führte der beschwerliche Weg durch tiefe
Sümpfe und über zerrissene, steinige Ebenen; bis zur Mitte des
Körpers watete man im Wasser und verwickelte sich alle
Augenblicke in hohes Kraut mit schneidenden Blättern, die ihre
31*
244 ° Im Innern r
Beute sobald nicht losließen. Mit Freuden erblickte Harmand
endlich zwischen den Bambus die rothe Flnth des Se-Bang-
Hieng, seines alten Bekannten, wo auf Befehl des Gouverneurs
von Phiu acht Pirogeu bereit standen, um ihn und sein Gepäck
überzusetzen. Der Fluß hat hier noch eine bedeutende Mäch-
tigkeit und eine Breite von wenigstens 160 in. Nachdem
Harmand etwa 1 km weit auf ihm hiuabgefahren war, be-
fand er sich vor der Mündung eines ansehnlichen Zuflusses,
des Se-Tschepön, der unter einem rechten Winkel sich von
links (Osten) her in den Hauptstrom ergießt. Bananen-
Pflanzungen und Gärten in Menge bedecken sein Ufer;
überall steigen hohe Berge an, einer hinter dem andern, je
nach ihrer Entfernung verschieden gefärbt; südlich vom Flusse
steigt fast unmittelbar an demselben und nahezu senkrecht
eine mit der schönsten Vegetation bedeckte Bergkette ans, an
welcher hier und da mächtige horizontale Schichten eines
grauen Sandsteins zu Tage treten, über welche schneeweiße
Wasserfälle, von den starken Regengüssen der letzten Tage
l Hinterindien.
genährt, herabrauschen. Aber nicht durch landschaftliche
Schönheit allein zeichnet sich diese Gegend aus; auch für einen
naturwissenschaftlichen Sammler bietet sie des Neuen und
Interessanten viel, namentlich in der Zeit vom März bis
Juni; später hätte ein Europäer gewiß von der übermäßi-
gen Feuchtigkeit viel zu leiden.
Das Dorf Tschepön, welches den Titel meuong führt,
besteht aus 30 bis 40 zerstreuten Hütten, hat aber einst
bessere Tage gesehen. Eine Sala besitzt es nicht; wozu
auch, da niemand dort hinkommt? So machte es sich
der Reisende denn in der Pagode zu Füßen eines 6 m hohen
roth und golden angestrichenen Buddha bequem. Der Gou-
verneur, dessen Frauen und Töchter durch kleine Geschenke
bestochen wurden, stellte sofort eine beliebige Anzahl Träger
bis Dinh, dem ersten Posten der Annamiten, zur Verfügung.
Hier nämlich befand sich Harmand weder in Annam noch
in Laos, sondern in einem Uebergangslande. Man trägt
hier noch den laotischen Schurz, daneben aber den annamitischen
Piro gen be:
Turban; manche schlingen ihre Haare in einen Knoten,
andere haben dieselbe Haartracht, wie im Thale des Me-
khüng. Auch das Vorkommen und die Form von Kinn- und
Schnurrbärten verräth die Existenz annamitischen Blutes. Seit
Phin tragen beide Geschlechter eine kleine Tunika mit vielen
kupfernen Knöpfen. Vom Laude der Laos spricht man hier,
wie früher von Annam: niemals geht jemand dort hin und nie
kommt jemand von dort her. Die Pirogen der Pn-Thays sind
von laotischer Form, d. h. lang und schmal und an beiden Enden
mit einem meißelsörmigen Vorsprunge versehen, sind aber hin-
ten mit einer Anzahl Ruder, die man aufrechtstehend Hand-
habt, ausgestattet, während die Ruderer vorn sitzen. Der
Mandarin von Tschepön zahlt jährlich eine Abgabe von
227 Quan; eine Quan besteht aus 600 Zinkstückchen, die
an einem Strohbande aufgereiht sind und einen Werth von
noch nicht einen Frank haben. Hier, wie überall, hat der
letzte Krieg zwischen Assam und Siam ein schreckliches An-
denken hinterlassen; in Masse wurde damals die Bevölke-
rung theils nach «nderen siamesischen Provinzen, theils nach
Bang-kök selbst abgeführt. Da letzteres eine Reife von
4 bis 5 Monaten vorstellt, so kann man ermessen, wie
Pn-Thays.
viele von den Unglücklichen unterwegs ihr Grab gesuu-
den haben.
Am Morgen des 17. Juli schiffte sich Harmand auf
dem Se-Tschepön ein, zum letzte» Male auf einem Zu-
flusse des Me-khüug. Derselbe bietet eine Reihe von Land-
schasten, immer die eine schöner und malerischer als die
andere. Bald von rechts, bald von links tritt eine Berg-
nase vor und zwingt den von Osten kommenden Strom
zu zahlreichen Biegungen, Schlingen und Schnellen, von
denen keine einzige gefährlich, aber alle sehr mühsam zu
überwinden sind. Ab und zu ist der Wald an seinen Ufern
von den Pn-Thays und Khäs niedergeschlagen, um Raum
für Dörfer und Felder zn gewinnen. Mitunter war es
nöthig, durch das wirre Gestrüpp mit dem Messer einen
Weg für die Pirogen zu bahnen und, sich an die Zweige
und Wurzeln anklammernd, sie über die Stromschnellen hin-
wegzuziehen. Dabei kam es einmal vor, daß eine ganze Fa-
mitie von Schlangen ins Boot fiel, vor denen die Ruderer
sofort ins Wasser sprangen, obwohl sie sich als ungiftig her-
ausstellten; aber diese Stämme halten alle Schlangen für
gefährlich. Unterwegs begegnete man vielen Wilden, die
Im Innern von Hinterindien.
245
Fluß unter Bäumen.
■1
ü
246
Im Innern von Hinterindien.
anthropologisch gesprochen schon
zu den Annamiten gehörten; sie
zeichneten sich als höchst charak-
teristische, energische Köpse aus,
wie sie soust in Hinterindien nicht
vorkommen, mögen aber ihre Nach-
barn an Muth nicht übertreffen.
Wenn möglich, ergriffen sie beim
Anblick des Reisenden die Flucht;
sonst gingen sie bei ihm vorbei,
ohne ihn anzusehen, ja ohne ihn
scheinbar zu bemerken, obwohl sie
ihre Erregung dabei nicht verber-
gen konnten.
Am Abend des nächsten Tages
erblickte Harmand zwei Pirogen,
die ihn beobachteten und dann so-
fort verschwanden, vernahm bald
darauf den ihm so wohl bekannten
Ton des Tamtam, das in stets
schnelleren Rhythmen geschlagen
wurde, und traf schließlich auf
einige Soldateu, die ihn kalt em-
pfingen und auf seine Anrede
nichts antworteten. Allein er
bemerkte auch keine Spuren von
Feindseligkeiten; und das war
ihm zunächst schon genug. Denn
jetzt war der entscheidende Augen-
blick gekommen, wo er seinem
Ziele so nahe war und es von der
Haltung der annamitischen Be-
amten abhing, ob er dasselbe bald
erreichen oder ohne Mittel und
Vorräthe in die laotische Wildniß
zurückgestoßen werden würde. Der
Befehlshaber des Postens, ein doi,
war abwesend, wohl um bei dem
nächsten höhern Mandarinen In-
struktionen zu holen; sein Stellver-
treter aber versprach dem Rei-
senden Träger bis Cam-Lo, aber
nicht vor drei Tagen — er wollte
offenbar erst die Rückkehr feines
Vorgesetzten abwarten. Harmand
gab sich damit zufrieden und ver-
trieb sich die Zeit mit der Jagd.
Das Fort ist nur eine Ver-
paliffadirung, ohne Graben, Mau-
ern und Kanonen; viel interessan-
ter ist das dabei liegende Dorf.
Es ist ein Verbannungsort für
die Wittwen und Waisen der hin-
gerichteten politischen Verbrecher
Tongkings. Verbannte männli-
chen Geschlechts scheinen sich nur
in geringer Anzahl dort zu be-
finden. Der Platz ist, für An-
nannten wenigstens, sehr nnge-
sund; sie halten sehr schwer auf
bewaldetem Lehmboden aus, wäh-
rend sie sich in ihren kahlen
Sümpfen und Reisfeldern sehr Köcher der Stieng als
wohl fühlen. Deshalb gleicht P^be der Kunstfertigkeit
die Verbannung nach Dinh einer der iudochinesichen Wilden,
langsamen unblutigen Hinrichtung;
die Leute halten selten länger als 4 bis 5 Jahre aus. Da-
für ist die Bewachung keine strenge und jeder kann nach
seinem Geschmacke leben, sich auch mit Eingeborenen ver-
Heirathen. Entweichungen kommen nicht vor, weil man
sich viel zu sehr vor den Laos und ihrer angeblichen Men-
schensresserei fürchtet.
Das Fort dient zugleich als Zollstätte und zum Schutze
gegen die wilden Ta-Hoi der Umgebung, welche kurz vor
Harmand's Ankunft eine Frau geraubt hatten. Diese gegen-
seitige Furcht, dieser Zustand der Rechtlosigkeit und des
Hasses zwischen den verschiedenen Völkern ist nach dem Nr-
theile des Reisenden meist eine Folge der Sklaverei. All ihr
Thun und Handeln wird nur von einem Gefühle, dem der
Furcht, beeinflußt. Ihr Glaube an böse Dämonen, die
dem Menschen nur schaden und nie wohlwollen, und welche
man deshalb mit Opfern besänftigen muß; die Anlage gut
versteckter und befestigter Wohnungen; die unendliche Zer-
splitterung der Bevölkerung in lauter kleine Gemeinden,
welche das Bewußtsein einer Nationalität nicht aufkommen
läßt, alles das hat seinen Grund lediglich in der steten
Furcht, welche die guten Eigenschaften dieser Stämme nicht
zur Entwickelung kommen, sie des Lebens nicht froh werden,
Pfeifen von indochinesischen Wilden.
weder Handel noch Ackerbau aufblühen läßt. Könnte man
die Sklaverei unterdrücken und damit die gegenseitige Furcht,
so würden die Laos mit den Stämmen der Wilden Handel
treiben und die Annamiten sich über das ganze Gebirge in
das Me-khüng-Gebiet wagen und dessen Naturprodukte an
die Küsten des so nahen und jetzt noch so entfernten Chine-
fischen Meeres schaffen. Dabei ist die Unterdrückuug der
Sklaverei nicht schwer; man brauchte nur die beiden großen
Märkte in Bang-kük und Kambodja aufzuheben. Für
letzteres Land ist das Ziel nahezu erreicht; in Bang-kük
aber müßte es europäischem Einflüsse doch leicht gelingen,
beim Könige das Verbot der Sklavenjagden im Innern und
des Menschenverkanfes durchzusetzen. Binnen einem Jahr-
zehnt (?) schon könnte man die Wirkungen einer solchen
Maßregel verspüren: die Wilden, welche sich unter einander
Gefangene abnehmen, um sie im Laos-Lande zu verkaufen,
fänden diesen Absatzweg versperrt, könnten in größerer
Sicherheit leben und ihre Fähigkeiten, die nicht geringer als
bei den Laos sind, entwickeln. In manchen Punkten über-
treffen sie dieselben sogar: ihr Kunstsinn z. B. erscheint
reger und besonders origineller. Harmand hat bei ihnen
verschiedene Gerätschaften gesunden, welche einen feinen
Geschmack verrathen, und Stoffe mit sehr einfachen Mustern,
aber gut gewählten Farbenzusammenstellungen. Als Be-
F. A. Ober's Aufenthalt
weis für diese Behauptung giebt er die Abbildungen einiger
Gegenstände und nimmt damit gleichsam Abschied von diesen
wenig bekannten, aber interessanten Völkerschaften. Der
eine ist ein Köcher für vergiftete Pfeile, der von einem
Stieng-Stamme herrührt und sich jetzt in der „Exposition
permanente des Colonies" im Trocadero-Palaste zu Paris *)
J) Dieselbe ist soeben durch Dekret vom 19. August in ein
„Ethnographisches Museum" umgewandelt worden, an welchem
Dr. Hamy und M. Landrin als Konservatoren angestellt worden
sind. Die beaufsichtigende Kommission besteht aus dem Admiral
lf den Karibischen Inseln. 247
befindet. Dieser Köcher besteht aus einer Bamburöhre,
deren ganze Oberfläche mit dem Messer zu prachtvollen
Arabesken ausgeschnitzt und zum Theil mit einer dünnen
Lackschicht überzogen ist. Die beiden anderen Gegenstände
sind zwei Pfeifen, die eine aus weißer Erde, die andere aus
einem schwärzen Steine; dieselben stammen von Wilden aus
der Umgebung von Attopen und könnten der europäischen
Fabrikation sehr w.ohl zur Nachahmung dienen.
Paris, Milne Edwards, Senator Charton, Maunoir, Georges
Perm und de Quatrefages.
F. A. Ober's Aufenthalt
Wir entnehmen die nachfolgenden Schilderungen einem
unlängst unter dem Titel: „Champs in the Caribbees"
erschienenen Reiseberichte des amerikanischen Ornithologen
F. A. Ober, der, im Frühjahr 1876 von dem „Smithso-
niau Institute" zur Erforschung der Vogelfauna der Kleinen
Antillen ausgesandt, zwei Jahre angestrengter Thätigkeit an
die Erfüllung dieser Aufgabe setzte und bei seiner Rückkehr
neben den erfreulichsten Resultaten für seine Wissenschaft
(er hat allein 123 verschiedene Vogelarten, darunter 21 vor-
her unbekannte, gesammelt und bestimmt) auch eine Fülle
werthvoller und sehr erwünschter Nachrichten über die geo-
graphischen und ethnographischen Verhältnisse der von ihm
durchstreiften Jagdgebiete heimbrachte. War doch von den
meisten jener Inseln, die in Bezug auf Naturschönheit und
Reichthum ihrer Produkte wohl die Perlen des westindischen
Archipels genannt zu werden verdienen, bisher nur der
schmale knltivirte Küstensaum den Naturforschern und Geo-
graphen gründlicher bekannt, die Kenntniß des waldreichen
Innern dagegen eine sehr lückenhafte gewesen. Und mit
Ausnahme einiger vorübergehender Aufenthalte in Städten
und Pflanzungen an der Küste hat Ober die ganzen zwei
Jahre seines Verweilens auf den Kleinen Antillen im In-
nern der Inseln in dem waldigen Berglande zugebracht,
zum großen Theil im Verkehr mit den Cariben, den spär-
lichen, meist schon stark gemischten Ueberresten der letzten
Rothhautbevölkerung des Archipels. Reich an Strapazen
und Entbehrungen aller Art war dieses Jägerleben in der
tropischen Wildniß, und doch andererseits wieder so reich an
mannigfaltigem hohen Naturgenuß, daß, auch abgesehen von
der Freude des Forschers an seiner Arbeit, die Zeit dieses
Aufenthaltes einen unvergeßlich schönen Abschnitt in seinem
Leben bildet. Die begeisterten Schilderungen der tropischen
Landschaft und aller ihrer Wunder, denen wir fast auf jeder
Seite des Ober'schen Buches begegnen, und die durchaus
den Eindruck des Wahrempfundenen machen, beweisen am
besten, daß der Reisende nicht nur mit dem Auge des ge-
lehrten Naturforschers beobachtet hat. Leider müssen wir,
um das Maß eines kurzen Auszuges nicht zu überschreiten,
uns hier die Wiedergabe vieler jener meisterhaften Schilde-
rnngen, sowie mancher interessanten, zum Theil mit echt-
amerikanischem Humor vorgetragenen Episoden aus dem
Jagdleben des Reisenden und aus seinem Verkehr mit den
Einwohnern versagen, und uus lediglich darauf beschränken,
dem Leser in großen Zügen ein Bild der von Ober besuch-
ten Inseln vorzuführen, wie es sich uns nach seinem Be-
richte darstellt.
den Caribischen Inseln.
Der erste Besuch Ober's, und zwar ein Besuch, der drei
Monate, vom März bis Juni, währte, galt der seit 120
Jahren im englischen Besitz befindlichen Insel Dominica.
Die Hauptstadt Roseau oder Charlottetowu, uach wel-
cher der kleine Kausfahrer, aus dem der Reisende sich befand,
bestimmt war, ist auch der Haupthafen der Jnfel. Auf der
Westküste belegen, ist Roseau wie alle Häfen auf dieser Seite
der Caribischen Inseln meist nicht leicht, d. h. nur uach läu-
germ Kreuzen vor der Küste, zu erreichen. Schon Colnm-
bus erwähnt in seinem Berichte die widrige Meeresströmung,
die längs der westlichen Seite des Archipels hingeht, als ein
großes Hinderniß seiner Fahrt in diesem Jnselmeere. Das
Landen in den Häsen stets verzögernd, oft genug auch zwi-
scheu den nördlicheren Inseln große Schiffe anf verborgene
Klippen und an Felsen treibend, ist diese Strömung zu ver-
schiedenen Zeiten des Jahres von verschiedener Gewalt und
augenscheinlich durchaus unabhängig von den Gesetzen,
welche die Richtung der Hauptströmungen und Winde in
dieser Gegend bestimmen. So ist die Frage über ihre Ent-
stehung lange ein vielerörtertes Problem gewesen, und erst
in verhältnißmäßig neuer Zeit ist festgestellt worden, daß sie
dem Ausflusse eines mächtigen Stromes, des Orinoko, ihren
Ursprung verdankt, der durch die größere oder geringere
Menge Wassers, die er führt, die wechselnde Stärke der
Strömung bedingt. Das Schiff, auf dem Ober sich befand,
hatte am Nachmittag St. Pierre auf Martinique verlassen;
die Entfernung von hier bis Roseau beträgt nur 35 See-
meileu. Ein günstiger Landwind von den Bergen her und
der durch deu Kanal zwischen den beiden Inseln wehende
Passat beschleunigte anfangs die Fahrt; um Mitternacht hatte
das Schiff die Südspitze von Dominica erreicht, aber der
Anbruch des Tages fand es, durch die Strömung weit Hinaus
nach Nordwesten getrieben, wieder fern vom Lande. Kein
Lüftchen regte sich, schlaff hingen die Segel herab, das Meer
glich einem blendenden Spiegel, dessen Anblick die Augen
schmerzen machte. In allen möglichen Stellungen des cloice
far niente lag die farbige Mannschaft, mehr als 20 Leute,
auf dem Verdeck. Ober's Vorschlag, eine Anzahl von ihnen
zum Rudern anzustellen, rief die unwillige Verwunderung
des ebenfalls farbigen Kapitäns und ein wahres Geheul der
Entrüstung unter den Leuten selber hervor. Zum Glück
für den ungeduldigen Reifenden begegnete man am Nach-
mittag einem kleinen Ruderboote, das ihn aufnahm und in
wenigen Stunden an sein Ziel brachte, während seine Ge-
fährten noch bis zum Nachmittag des folgenden Tages ge-
duldig vor der Küste kreuzen mußten. Wie eine kompakte
248 F. A. Ober's Aufenthalt
dunkelgrüne Masse hatte man aus der Ferne die Insel hoch
aus dem glänzenden Meere ragend gesehen; jetzt beim Näher-
kommen löste sich diese Masse vor den entzückten Blicken des
Reisenden in bewaldete Berge, schmale, tiefeinschneidende
Thäler und neblige Gipfel auf, die bis in die Wolken rei-
chen. Hin und wieder leuchtet ein weißes Pflanzerhaus in
einem Thale, erblickt man in einem Haine von Kokospalmen
halb verborgen ein Dorf aus rohgezimmerten Hütten.
Ein besonderes historisches Interesse knüpft sich an Domi-
nica: es war die erste Insel, auf der Columbus bei seiner
zweiten Reise landete. Mit siebenzehn Schiffen und einer
Mannschaft von 1500 Leuten war ervonCadiz ausgesegelt;
von den Canarischen Inseln richtete er seinen Kurs auf die
Inseln der „wilden Cariben" oder Kannibalen, von denen er
durch die friedlichen Einwohner von Hispaniola so viel ver-
nommen hatte. Am 3. November 1493, einem Sonntage,
erblickte er bei Tagesanbruch die erste dieser Inseln, der er
den Namen Dominica, Sonntag, beilegte, und bald darauf
uoch mehrere andere, „alle mit dichtem Walde bedeckt und
von Scharen von Papageien und anderen tropischen Vögeln
bevölkert, und die Luft rings umher von füßen Düften er-
füllt." Dominica ist nur 30 Miles lang und 11 Miles
breit, hat aber durch sein unebenes, gebirgiges Terrain be-
deutend mehr eigentliche Oberfläche, als irgend eine andere
westindische Insel von gleichem Umfange. Als Columbus
der Königin Jsabella Bericht erstatten mußte über die Er-
gebuisse seiner zweiten Reise, illustrirte er seine Beschreibung
der Insel Dominica mit ihren Klüften, Schluchten und ver-
zweigten Thälern zwischen den Hügelzügen und steilen Ber-
gen bekanntlich dadurch, daß er ein Blatt Papier in der
Hand zerknitterte und dasselbe zusammengeballt vor der Kö-
nigin auf den Tisch legte. Dieses abwechselungsreiche Ter-
rain trägt natürlich wesentlich zur Erhöhung der malerischen
Schönheit des kleinen Jnsellandes bei, und diese Schönheit
hat von Anfang an wieder ihrerseits dazu beigetragen, Do-
minica zu einem von allen seefahrenden Nationen lebhaft
begehrten und einander bestrittenen Besitze zu machen. Etwa
fünf Miles von der Küste entfernt erhebt sich der 4000 Fuß
hohe Lake Mountain, dessen Gipfel meistens in Wolken ge-
hüllt ist. Er gewährt der Hauptstadt vollständigen Schutz
gegen die von Osten, vom Atlantischen Meere, kommenden
Winde, läßt ihr aber auch die ersten Sonnenstrahlen des
Morgens erst geraume Zeit nach Sonnenaufgang zugehen.
Mehrere zerklüftete, aber mit der reichsten Vegetation bedeckte
Hügelketten ziehen unweit der Küste sich nach Norden und
Süden und endigen in gewaltigen Felsvorsprüngen am
Meere. Aus dem saftigen, in allen Nüancen vertretenen
Grün leuchtet allenthalben das Blau der Mango- und
der Kakaoblüthen, das Goldgelb des Zuckerrohrs, der Limo-
nen und der Orangen. Schlanke Palmen krönen die Gipfel
der Berge; hin und wieder zeigt sich an einem sanften Ab-
hange ein kultivirtes Stück Land. Mitten in dem Thale
aber, an dessen Ausgang Roseau liegt, steigt ein Hügel an,
der Morne Bruce, von dessen mit weichstem Grase bewach-
senen Gipfel man besonders gegen Abend, wenn die Sonne
in das Caribische Meer sinkt, eine herrliche Aussicht genießt.
Nach Osten, das Thal aufwärts, sehen wir in seinem
Grunde mehrere Zuckerplantagen, die Wohnhäuser und an-
deren Gebäude von schlanken Palmen umgeben. Eine hohe,
steile Bergwand schließt in der Ferne die Aussicht ab; deut-
lich erkennen wir den mächtigen Wasserfall, der von ihr sich
hinabstürzt, und der uns wie ein schmales silbernes Band
erscheint. Nach Westen blicken wir weit hinaus auf das
Meer, davor auf die Stadt, die, vou der sinkenden Sonne
hell und mild beleuchtet, in all ihren Einzelheiten deutlich
erkennbar ist: viele Bäume und nur wenige Häuser bilden
>f den Ccmbischen Inseln.
die grobgepflasterten, geradlinigen Straßen. Und es ist gut,
daß dem so ist; denn reichlicher vertreten würden die ein-
stöckigen Holzhütten von 16 bis 20 Fuß Länge und Breite,
die der Mehrzahl nach von dem weitüberhängenden Dache
bis hinab zu der Schwelle in einem bedenklichen Zustande
des Verfalles sich befinden, kaum noch fo malerisch erscheinen.
Durch die Folie dieser elenden Holzbauten gewinnen die öffent-
lichen, massiven Gebäude: das Fort, ein niedriger Steinban,
der von seinem hohen Uferfelsen ans die Rhede beherrscht,
das Gouvernementshaus niit dem Gefängnisse daneben, die
katholische und die englische Kirche, an architektonischer Bedeu-
tung; den schönsten Schmuck aber bilden auch für sie die
daneben gepflanzten herrlichen Palmen. Zahlreiche Obst-
bäume werden in den Gärten der Stadt kultivirt, und mehr
als einmal fesselt ein mit fremdartigen Früchten beladener
Baum, der Uber ein schadhaftes Dach oder eine Gartenmauer
von gröbster Arbeit hinausragt, die Aufmerksamkeit des uor-
dischen Reisenden. Am meisten sind Mango-, Orangen-
und Limonenbänme, Pawpaws, Bananen und Tamarinden
vertreten nnd, sie alle überragend, die Kokospalmen mit den
schwerherabhängenden Büscheln ihrer grüngoldigen großen
Nüsse. Eine Röhrenleituug von den Bergen her versieht
die Stadt mit dem klarsten Trinkwasser vom „Sweet River";
der Roseansluß aber, der brausend am Morne Bruce vorbei
durch das Thal fließt, bildet an seiner Mündung in das
Meer unweit des Hafens einen breiten weißen Schanmstrei-
fen, der wie eine Schneewehe aussieht. Der dicht am Fort
gelegene Markt der Stadt ist ein quadratischer Platz, der,
gewöhnlich öde und still, nur Sonnabends ein lebhaftes
Marktgewühl zeigt. Aus mehreren Meilen im Umkreise
kommen dann die Landleute niit ihren Bananenbüscheln oder
den Früchteu des Brotbaumes zur Stadt; in kleinen Buden
werden gesalzene Fische, oft genug alt und stinkend, feilge-
boten und begierig gekauft; ebenso süße Backwaaren und
Zuckerwerk, das eigene Fabrikat der dieselben feilhaltenden
Negermädchen. Ein sonderbares Gemisch von Gesichtsfarben
und Typen weist die kaufende und verkaufende Menge ans;
von hellem Gelb bis zu schwärzlichem Braun sind alle
Schattiruugen vertreten. Dicht am Meere gelegen, von
einem zierlichen Gitter eingefaßt, nur wenige Bäume, dafür
desto mehr Blumen, vorzugsweise Rosen enthaltend, befindet
sich der öffentliche Lustgarten der Hauptstadt, ein stolzes
Zeichen verfeinerter Geschmacksrichtung, dessen Nothwendig-
feit in dieser paradiesischen Natur dem Reisenden zuerst etwas
befremdlich erscheint.
In der ersten Frühe eines herrlichen Märzmorgens
machte sich Ober auf den Weg landeinwärts. Einige aus
dem Gebirge zur Stadt gekommene Frauen trugen sein Reise-
gepäck auf dem Kopfe die oft steilen und schlüpfrigen Berg-
Pfade hinauf. Durch Limonenhaine an den Abhängen ent-
lang schreitend gelangte man bald an eine Schlucht, in der die
ersten mächtigen Baumfarne standen; an den Rändern
wucherten kleinere Farnarten in üppiger Fülle. Immer
bergauf, meist im Schatten der herrlichsten Bäume, selten
nur über grasbedeckte unbewaldete Strecken ging der Weg;
mehr als einmal mußten breite, aber um diese Jahreszeit
nur leise tröpfelnde Gebirgsbäche überschritten werden. End-
lich war, kurz vor Sonnenuntergang, das Ziel der Wände-
ruug erreicht; man befand sich etwa 2000 Fuß über dem
Meere, wo der eigentliche Hochwald der Insel beginnt. Ein
schmaler Pfad am Waldessaume führte zu einem Gitter-
thore in einer hohen Oleanderhecke, innerhalb deren das kleine
Dorf Landat liegt, das nach einem französischen Ansiedler,
der vor nunmehr hundert Jahren von Martinique oder
Guadeloupe hierhergekommen sein soll, benannt ist. Und er
hätte in der That kaum einen herrlichem Ort für seine
F. A. Ober's Aufenthalt
Niederlassung wählen können, als gerade diese hochgelegene
Lichtung im Waldrande, die aus drei Seiten von den hohen,
waldbedeckten Bergen mit ihren tiefen Schluchten und zahl-
losen Wasserläusen umgeben ist, auf der vierten Seite, nach
Westen hin, aber den entzückendsten weiten Blick gewährt.
Hier zieht sich vom Walde an ein grasbedeckter Abhang hin,
auf dem einzelne Baumgruppen und große Felsblöcke von
unverkennbar vulkanischem Ursprünge verstreut sind, und der
mit einem so steilen Abstürze endigt, daß die Bewohner des
Dorfes nur auf weitem Umwege in das davorliegende Thal
gelangen können. Hinter diesem von einem breiten Flusse
durchströmten und im Schmucke der üppigsten Vegetation
prangenden Thale aber fällt der Blick auf das Meer mit
seiner ewig wechselnden Farbe und Beleuchtung. Das Dorf
selbst besteht aus sieben elenden Holzhütteu mit tief herab-
hängenden Palmenblattdächern; es wird noch von den Nach-
kommen des alten Jean Baptiste Laudat bewohnt, dessen
gleichnamiger Enkel heute das Oberhaupt der kleinen pa-
triarchalischen Niederlassung ist. Außer dem Namen und
dem Stolze auf ihre Abkunft besitzen aber die fünf hier leben-
den Familien Laudat kaum etwas, was sie als Weiße kenn-
zeichnen könnte. Ohne Zweifel ist die Gattin, die ihr Vor-
fahr, der Familientradition nach, erst hier geheirathet haben
soll, eine Negersklavin gewesen, die er aus seiner Heimath
mitgebracht hatte; und daß späterhin auch noch eine Ver-
Mischung mit caribischem Blute stattgefunden haben muß,
wird durch die Hautfarbe der heutigen Vertreter der Familie
deutlich bewiesen. Dieselben sind ein kräftiges Geschlecht,
von schlankem, ebenmäßigen! Wüchse, röthlich blauer Fär-
buug uud langem, lockigem, schwarzem Haar. Ihre Sprache
ist das allgemein übliche Patois der französischen Kolonien, ein
seltsam korrnmpirtes Französisch; nur das Oberhaupt der
kleinen patriarchalischen Niederlassung und seine nahe hundert-
jährige, noch rüstige und geistesfrische Mutter verfügten
über einen Schatz von englischen Worten, die, in der eigen-
thümlichsten Weise ausgesprochen, ihre Rede nicht gerade
verständlicher machten. Lächerlich genug war die Verachtung
gegen alle „Farbigen", die sie zur Schau trugen, obgleich
sie- von denselben sich höchstens durch eine etwas reichlichere
Kleidung, sonst in keinem ihrer Lebensbedürfnisse oder Lebens-
gewohnheiten merklich unterschieden. Aber: „Weißer Mann
steht Gott (1s mon Dieu) am nächsten," oder: „Weißer
Mann nicht wie Farbiger, er ißt Knochen von Hühnern nicht
mit," waren Redensarten, die bei jeder Gelegenheit wieder-
kehrten. So wurde denn auch Ober's Aufenthalt in ihrer
Mitte als höchste Ehre betrachtet; man hatte ihm eine leer-
stehende Hütte dicht neben der des alten Jean Baptiste als
Wohnung gegeben; und, während die Männer stets bereit
waren, ihn als Führer durch den Wald zu geleiten oder alle
Arten von Arbeit für ihn auszuführen, sorgten die Frauen
in der aufmerksamsten Weise für seine Verpflegung. Kaffee,
in Oel gesottene Eier, Yamswurzeln und Palmenkohl, hin
und wieder ein Jguana, einige Drosseln oder auch ein Krebs,
welche die Männer für den Gast herbeigeschafft hatten, bil-
deten das Menu der täglichen Mahlzeiten, die stets trefflich
mundeten, wenn der Reisende nicht gerade vorher einen un-
freiwilligen Einblick in die kulinarischen Vorbereitungen ge-
than hatte, bei denen es in Bezug auf Sauberkeit bedenklich
genug zuging. Bereinigte sich so alles Nebensächliche, um
Ober's Aufenthalt zu einem angenehmen zu machen, so
brachte auch jeder ueue Tag ihm die wünschenswertesten
Erfolge in seiner Sammlerthätigkeit. Die Wanderungen
durch die herrlichen Tropenwaldungen, die er meist in der
Frühe des Morgens antrat, um die Vögel an den für sie
charakteristischen Stellen zu finden, und die er nicht selten
auf mehrere Tage ausdehnte, waren freilich oft anstrengend
Globus xxxvm. Nr. 16.
lf den Karibischen Inseln. 249
genug; galt es doch ein unaufhörliches Hinauf- und Hinab-
klettern an meist schroffen Thalwänden, ein mühsamstes
Durchdringen von wucherndem Strauchwerk und Schling-
pflanzen, wo oft seine Begleiter mit dem Machete, dem
großen 2 Fuß laugen, dolchartigen Messer, erst einen Weg
bahnen mußten. Aber jedes neu erlegte Exemplar der merk-
würdigen Vogeltypen der Antillen, dieser Inseln, die, nach
Wallace, mit „ihrer begrenzten aber eigenthümlichen Fauna
eine der interessantesten zoologischen Subregionen" sind, ent-
schädigte reichlich für alle Anstrengungen. Als besonders
bemerkenswert!) unter den von ihm hier gesanunelten Schätzen
erwähnt Ober den sogenannten Tremblenr oder Zitterer,
einen drosselartigen Vogel, der sich durch die unaufhörlichen
krampfhaften Bewegungen mit Flügeln und Schwanz aus-
zeichnet; den Siffleur Moutague oder Bergpfeifer, dessen
melodischer Gesang von unvergleichlicher Schönheit ist, und
den Soleil Coucher oder Souuenuutergaugsvogel (Myiar-
chus Oberi), eine von ihm neu entdeckte und nach ihm be-
nannte Species. Dieser kleine Bogel, der regelmäßig eine
halbe Stunde vor Sonnenaufgang und Untergang seinen
lauten, klagenden Ruf, der^in der That wie die Worte soleil
coucher klingt, durch den Wald erschallen läßt, wird von
den Eingeborenen als Dschnmbi (böser Geist, oder Gespenst)
betrachtet nnd demgemäß nie gelobtet. Als Ober ihn glück-
lich erlegt hatte, gerieth sein Führer ganz außer sich vor
Schrecken: wenn die bösen Geister seinen Tod nicht an dem
Reisenden rächten, so würden sie jedenfalls dem Dorfe eine
Heimsuchung durch den Tod eines seiner Einwohner senden.
Zu den hervorragenden Typen der antillischen Bogelsauna
gehören bekanntlich die Kolibris, die Ober in vier Arten
ans Dominica vertreten fand. Die zierlichen Vögel, die auf
dem amerikanischen Kontinent und auf den meisten der West-
indischen Inseln von den Eingeborenen mit Blasrohren er-
legt werden, wurden hier vorzugsweise lebend gefangen, und
dieser Vogelfang bildet den Hauptsport der Knaben der In-
fei. Eine Gerte von 10 bis 15 Fnß Länge, die ihnen die
Mittelrippe eines Palmblattes liefert, und ein Klümpchen
Vogelleim, den sie sich aus verdicktem Saft der Brodfrucht
durch langes Kauen herstellen, gehören dazu. Hinter einem
Busche versteckt, nähert der kleine Jäger die an ihrem obern
Ende mit Vogelleim bestrichene Gerte dem auf einem Zweige
sitzenden Kolibri; der Vogel sieht sie neugierig an, pickt,
während sie ihm immer näher kommt, mehrmals danach
und hängt im nächsten Augenblicke hülflos zappelnd und mit
den Flügeln schlagend daran fest. Ober's vielfach angestellte
Versuche, Kolibris in der Gefangenschaft lebend zu erhalten,
schlugen immer wieder fehl. Zuerst schien es den kleinen
Thieren in dem mit Gaze bezogenen Bauer, in das täglich
frische duftende Blüthen gethan wurden, gut zu behagen;
sie fraßen Insekten, Honig und Syrup, flatterten munter
umher, starben aber regelmäßig am dritten oder vierten
Tage.
Einer der interessantesten Ausflüge, die Ober von Laudat
aus unternahm, galt dem sogenannten siedenden See, der,
wie das ganze ihn umgebende vulkanische Terrain, im Jahre
1875 von Mr. Watt, einem Beamten der Kolonie, entdeckt
worden ist. Durch mehrere heftige Regengüsse in den letzt-
vergangenen Tagen waren die Gebirgsbäche mächtig ange-
schwollen und schwer zu passireu, dafür die Waldvegetation
wennmöglich noch üppiger und schöner. Der Weg führte
unter anderm dnrch eine wohl mehrere Morgen große,
muldenförmige Depression, in der die ganze Pracht der ein-
heimischen Flora konzentrirt zu sein schien. Hunderte und
Tausende von Pflanzentypen der wundersamsten Gestalten
waren hier vereinigt; unter ihnen allen aber ragten die Herr-
lichen Baumfarne hervor, von deren Großartigkeit in den
32
250 F. A. Ober's Aufenthalt
tropischen Wäldern die verkrüppelten Exemplare unserer
Treibhäuser keinen Begriff zu geben vermögen. Findet mau
sie doch selbst in ihrer Heimath nur in einer Höhenzone von
zwischen 1000 und 2500 Fuß über dem Meere in voller
Entwicklung, d. h. 30 bis 40 Fuß hoch, mit breiter voller
Krone auf schlankem Stamme. Vertreten sie demnach in
den höheren Bergregionen die Stelle der meistens niedrigere
Standorte bevorzugenden Palmen, so finden wir anfDomi-
nica auch eine Art dieser letzteren, die schöne Euterpe mon-
tana, zahlreich vertreten, welche dieselbe Tendenz für kühle,
schattige Lokalität hat, und deshalb in Begleitung der Farne
bis zum obersten Rande des Hochwaldgürtels hinaufgeht.
Dicht an den felsigen Rändern mehrerer Flußläufe hinauf,
durch große Dickichte von Calla und anderen Wasserpflanzen
ging es nun aus dieser reichen Thalmulde in mehrstündigem
beschwerlichen Ansteigen zu dem Vulkangebiete empor.
Immer spärlicher wurde Thier- uud Pflanzenleben ringsum,
je mehr man sich der sogenannten PetiteSoufriere, dem
hochgelegenen ersten Schweselthale, aus dem dichte Dampf-
Wolken aufstiegen, näherte. Es ist dies ein Becken von meh-
reren hundert Fuß Tiefe, desse« ziemlich steile Wände an
der einen Seite einen tiefen Einschnitt zeigen, und dessen
weiß und gelb gefärbtem, siebartig durchlöchertem Felsboden
allenthalben Schwefeldämpfe, heiße und kalte Wasserstrahlen
und stinkende Gase entströmen. Es war ein Zischen und
Brausen auf der ganzen Fläche, als befände man sich inmit-
ten zahlreicher arbeitender oder ihren Dampf auslassender
Maschinen. Nach wenigen Minuten des Ausenthaltes in
dieser heißen, dampferfüllten Luft waren die ganzen Messing-
bestandtheile au Ober's photographischem Apparat sowie die
Silbermünzen, die er bei sich führte, blauschwarz gefärbt.
Ueberall zerbröckelte der Boden unter den Füßen der Wan-
derer, als sie jetzt am innern Thalrande entlang auf die
Kluft in der Hügelwand zuschritten, durch die ein breiter,
aus mehreren Ouellen der Petite Soufriere gebildeter Fluß
abströmte. Und hier ward ihnen der überraschendste Anblick
zu Theil. Die tiefe Schlucht, durch welche der Strom in
unzähligen kleinen Wasserfällen seinen Weg abwärts nahm,
zeigte eine Vegetation, wie sie reicher und großartiger nicht
gedacht werden konnte. Baumfarne, Palmen, wilder Pisang,
Orchideen, wilde Ananas, tropischer Wein, Lianen mit selt-
sameu Blüthen, bnntgesärbte Schmarotzerpilze bildeten den
erfreulichsten Gegensatz frischen Lebens zu der nur wenige
Schritte entfernten Region der Oede. Hier wurde der Platz
für die Ajupa bestimmt, die geräumige und vollkommen
regendichte Lagerhütte, welche die Eingeborenen in kürzester
Zeit aus Baumstämmen, die sie mit Wurzeln und Lianen
zu einem Gerüst verbinden, und den großen Blättern des
Balisier oder wilden Pisang (Heliconia behia) herzustellen
verstehen. Während zwei seiner Begleiter mit den Vorbe-
reitungen für das leichte Bauwerk beschäftigt waren, begab
sich Ober mit dem dritten nach dem noch etwa 20 Minuten
entfernten, bedeutend höher gelegenen siedenden See. Noch
ein zweiter Strom, der geräuschvoll über gebleichte Baum-
stämme und Felsstücke stürzte, die mit einer starken Schwefel-
krnste überzogen waren, mußte passirt werden; sein Wasser
war milchweiß gesärbt und zeigte eine sehr hohe Temperatur;
eine Menge kleiner Bäche strömten ihm zu, die theils eben-
falls milchiges, theils ockergelbes oder anch schwärzliches
lf den Caribischen Inseln.
Wasser führten. Weiches Torfmoos bedeckte die Felsen, an
einigen Stellen sah man hohe Anhäufungen von Bimsstein
und Lava. Eine von hohen Rändern eingeschlossene Thal-
mnlde, weniger tief und auch kleiner als die Petite Sou-
friere, folgte auf dies quellige Terrain; aus den Spalten
ihres glatten bituminösen Bodens, auf dem hin und wieder
Hausen von Schwefelsteinen zerstreut lagen, stiegen Dämpfe
auf. Nachdem sie passirt und ein hoher, steiler, unmittelbar
dahinter aufsteigender Berg glücklich erklommen war, lag der
große See vor den Blicken des Reisenden. Aber das erste
Gefühl bei dem Anblicke dieses Wuuders von Dominica war
das der Enttäuschung: von der heftigen Bewegung, dem
Sieden und Aufwallen des Wassers, über das die wenigen
Reisenden, die ihn bis jetzt besucht haben, berichtet hatten, war
nichts zu merken; nur in der Mitte fand eine leise, angen-
scheinlich durch das Aufsteigen von Gasen hervorgerufene
Bewegung statt, die sich in weiten Kreisen bis an das User
fortpflanzte. Eine Messung der Ausdehnung des Sees oder
der Höhe der ihn einschließenden Kraterwände ist bis jetzt
noch nicht vorgenommen worden; doch schätzt Ober den
Durchmesser der Wasserfläche auf 300 bis 400 Fuß, die
Höhe der Ränder aber aus 80 bis 100 Fuß. Die Ufer
bestehen aus eisenhaltiger, mit vielen Steinen und größeren
Felsstücken untermischter Erde, sie sind ziemlich steil, an vie-
len Stellen ausgehöhlt und eingesunken. Auf der Nordseite,
über der sich hohe Hügel erheben, fallen zwei kalte Ströme
in den See; am Ufer des einen derselben stellte Ober seinen
photographischen Apparat aus, und in der milden Beleuch-
tuug der schon dicht am Rande der westlichen Hügel stehen-
den Sonne gelang die Aufnahme der interessanten Landschaft
vollkommen und ohne Zweifel bedeutend besser, als wenn
der See in heftiger Bewegung und von dichten Dampswol-
ken überlagert gewesen wäre. Dem Aufnahmepunkte gerade
gegenüber befindet sich eine tiefe Kluft in der Bergwand,
durch die der Abfluß des Sees, wenn derselbe in Thätigkeit
ist, dem Meere zugeht; durch diese am obern Ende 30 bis
40 Fuß breite Spalte sah man über die grünen Berge der
Insel und das Meer hinweg bis zu der miudestens 20 Miles
entfernten Küste von Martinique. Die Temperatur des
Wassers betrug, freilich ziemlich dicht an der Oberfläche,
96» F., die der Luft zu gleicher Zeit 67°, und die der bei-
den in den See fließenden Ströme 65° F. Einige Monate
zuvor hatte Dr. Nicholls 196° F. gemessen, während der
See in vollster Bewegung und der ganze Krater dermaßen
mit Dampf erfüllt war, daß man nur selten etwas von dem
Wasser erblicken konnte. Für die Annahme, daß man es
hier mit einem (wahrscheinlich intermittirenden) Geyser zu
thuu habe, der durch die Gewalt seines Strahles die Oess-
nnug seines Kraters erweitert und sich ein Becken gebildet
hat, spricht der Umstand, daß Ober am nächsten Tage nicht
nur das Niveau des Sees beträchtlich gestiegen fand, fondern
auch eine vermehrte Bewegung uud ein lauteres Brausen
des Wassers konstatiren konnte, die im Lanse des Tages
noch bedeutend zunahmen; leider durfte er das unzweifelhaft
bevorstehende nene Aussieden des Sees nicht abwarten, son-
dern mußte, zufrieden in dem Bewußtsein, der erste gewesen
zu seiu, der den See in Ruhe erblickt hatte und deshalb auf
eine iutermittirende Thätigkeit desselben schließen durfte, den
Rückweg antreten.
Die amerikanischen Tiefsee-Forschungen im Karibischen Meere.
251
Die amerikanischen Tiefsee-Fc
1^. L. Seit mehreren Jahren ist der Küsteuvermessnngs-
Dampfer der Marine der Vereinigten Staaten „Geo. S.
Blake" im Auftrage der Regierung (Coast and Geodetic
Survey) mit Tiefseeforschungen im Gebiete des Golf-
stromes, des Golfs von Mexiko und des Antillenmeeres be-
schästigt. Im December 1878 trat derselbe unter dem
Befehl des Kapitänlieutenants Sigsbee seine zweite Expe-
dition an, da in jenen Breiten allein wahrend der Winter-
monate derartige Arbeiten möglich sind. Als Chef des
wissenschaftlichen Stabes befand sich Professor Alexander
Agassiz, der Sohn des berühmten Naturforschers, an Bord.
Die ersten Tiefen-- und Temperatur-Messungen fanden im
südöstlichen Theile des mexikanischen Golfes statt: von den
Florida-Bänken, im Westen der Halbinsel dieses Namens,
bis zu der großen Pucatan-Bank uud dem Nordwesten die-
ser Halbinsel, sowie in den zwischen jenen Punkten und
dem westlichen Ende von Euba gelegenen Gewässern. Be-
sonders reich war die hier mit dem Schleppnetze erlangte
zoologische Beute. Die größte Tiefe wurde mit 1920 Fa-
den (11520 Fuß) zwischen den Tortugas-Juselu, südwest-
lich von Florida, und Kap Catoche, der nordöstlichsten
Spitze Aucataus, gesunden, die uächstgrößte mit 1568 Fa-
den (9408 Fuß) im Norden davon. Alle Wassertiefen
von etwa 600 Faden (3600 Fuß) und darüber zeigten eine
gleichmäßige Temperatur von 39" F. (6" R.). Nachdem
Kapitän Bartlett den Oberbefehl übernommen, führte die
Weiterfahrt von Key West, bei Florida, nach Cnba, Ja-
maica, San Domingo, St. Thomas uud den Virginischen
Inseln, uud durch die verschiedenen Gruppen der Leeward-
und Windward-Jnseln (Kleinen Antillen) hinab bis Barbados
und Trinidad an der südamerikanischen Küste. Auf dieser
Rundfahrt ergaben die Lothungen eine größte Tiefe von
2700 Faden (16 200 Fuß) zwischen den beiden dänischen
Inseln St. Thomas und Santa Cruz. Im März 1879
kehrte der Dampfer nach Norden zurück, nachdem auf dieser
Fahrt im Ganzen 200 verschiedene Stationen genommen
und mehr als 230 erfolgreiche Züge mit dem Schleppnetz
bis zur Tiefe von 2400 Faden (14 400 Fuß) ausgeführt
worden waren.
Auch im vergangenen Winter wurden auf dem „Blake"
unter Kapitän Bartlett's Befehl diese Forschungen fort-
gesetzt, über deren sehr wichtige Resultate jetzt detaillirte
Berichte vorliegen. Das Hauptfeld der diesjährigen Expedi-
tion waren die Gewässer des westlichen Caribischen Meeres.
Zuerst wurden nochmals die aus der letzten Fahrt erlang-
ten Tiefen- und Temperaturmefsuugeu in der Windward-
Passage zwischen Cnba und San Domingo bestätigt, und
einige Schleppnetzzüge direkt auf dem unterseeischen Hügel-
rücken in dieser Straße ausgeführt. Nach den gewonnenen
Beobachtungen scheint es sehr wahrscheinlich, daß ein großer
Theil des Zuflusses für den Golfstrom auch durch diese
Passage strömt, und somit der Golfstrom nicht, nach der
bisherigen Ansicht, seinen Weg ausschließlich durch die
Florida-Straße nimmt. Die Strömung nach Norden in
der Windward-Passage erstreckt sich ohne Zweifel bis zu
800 Faden (4800 Fuß) Tiefe hinab, und die Temperatur
derselben mit 39^/^ F. bleibt bis auf den Hügelrücken der-
jenigen gleich, welche im Golf von Mexiko und dem westlichen
Caribischen Meere in allen Tiefen unterhalb 700 Fadeu
schungen im Caribischeil Meere.
(4200 Fuß) als Normaltemperatur gefunden wurde. Einige
Lothnngslinien mit Reihentemperaturen wurden hierauf von
Jamaica nach Südwesten über die Pedro- und Rosalind-
Bänke bis zur Honduras-Bank ausgeführt, und hierbei die
interessante Thatsache festgestellt, daß die erwähnte Normal-
temperatnr von 39^" nicht durch diesen Theil des Meeres
eindringen kann.
Es folgten nun Lothungen zwischen Hayti und Jamaica,
welche eine allgemeine Tiefe von nicht über 800 Faden
(4800 Fuß) zwischen diesen beiden Inseln ergaben, mit
Ausnahme eines außerordentlich tiefen Kanals, welcher den
Haupttheil des Caribischen Meeres im Süden von San
Domingo mit den Gewässern im Norden von Jamaica ver-
bindet. Dieser Kanal läuft mit einer allgemeinen Tiefe
von 1000 Faden (6000 Fuß), die sich stellenweise bis aus
1200 Faden (7200 Fuß) vergrößert, dicht am Südufer von
Hayti entlaug, wendet sich am westlichen Ende der Insel
nach Norden, wobei seine Breite nicht 5 bis 6 Miles über-
steigt, und hierauf südlich von der Navassa-Jnsel nach We-
sten, um sich dann in zwei Ausläufer zu theilen, von wel-
chen der eine nach Norden zwischen Navassa und der Formi-
gas-Bank, und der andere nach Westen zwischen letzterer
und Jamaica eindringt.
Nach kurzem Aufenthalt in Santiago de Cnba machte
der „Blake" eine Reihe von Lothungen auf der von diesem
Hasen genau nach Süden führenden Linie bis zu dem Ost-
ende von Jamaica, wobei schon 25 Miles südlich von Euba die
große Tiefe von 3000 Faden (18 000 Fuß) gefunden wurde.
Durch die späteren, ausgedehnten Forschungen wurde sestge-
stellt, daß diese tiefe Stelle das östliche Ende eines uuge-
heureu, unterseeischen Thales von großer Tiefe
bilde, welches sich zwischen Euba und Jamaica nach Westen
bis zu den Cayman-Jnseln erstreckt, und dann, sich nach
Süden wendend, bt^» tief in den Golf von Honduras ein-
dringt. Die Cayman-Jnseln und die Misteriosa-Bank
erwiesen sich • durch diese Entdeckung als die Bergspitzeu
einer unterseeischen, auf ihrem Südabhange außerordentlich
steilen Fortsetzung der Bergkette, welche das südöstliche Ende
von Euba einnimmt. Dieses tiese Thal ist an seinem öst-
lichen Ende zwischen Euba und Jamaica ziemlich schmal,
aber zwischen dem Kap Cruz auf Euba und der Negrit-
Spitze, dem Westende Jamaicas, verbreitert es sich. An
dieser Stelle zeigten die Lothungen eine Tiefe von 3000
Faden (18 000 Fuß) 15 Miles von der cnbanischen, und
von 2800 Faden (16 800 Fuß) 25 Miles von der Küste
Jamaicas. In der Nähe von Groß-Cayman verengt sich das
Thal wieder, aber 20 Miles von dieser Insel wurde die größte
Tiefe desselben mit 3428 Faden (20 568 Fuß) gefunden.
Diefes tiefe Wasser erstreckt sich bis zu der Linie zwischen
der Misteriosa-Bank und den Schwan-Inseln, mit 3010
Faden (18 060 Fuß) Tiefe in einer Entfernung von 15
Miles von letzteren. Aus der Linie zwischen der Misteriosa-
Bank und der Bonacca-Jnsel, an der Küste von Honduras,
zeigte sich eine allgemeine Tiefe von 2700 Faden (16 200
Fuß) und bis weit in den Golf von Honduras hinein blieb
dieselbe über 2000 Faden (12 000 Fuß). Zwischen der
Misteriosa-Bank und der Chinchorro-Bank, direkt im We-
sten an der Küste Aucatans, erwiesen die Lothungen eine
gleichförmige Tiefe von 2500 Faden (15 000 Fuß), und
32*
252 Die Pflege der Kinder in den ersten Lel
auch nordwärts von Misteriosa und Groß-Cayman bis zu
der Insel Pinos bei Euba und dem Kap San Antonio,
dem Westende Eubas, blieb diese Tiefe konstant.
Die Entdeckung dieses außerordentlichen unterseeischen
Thales im westlichen Theile des Caribischen Meeres ist
offenbar von großer Wichtigkeit für unsere Kenntniß der
physikalischen Gestaltung des Meeresbodens. Nach Kapi-
täit Bartlett's Forschungen erstreckt sich dieses Thal in einer
Länge von 700 statute-miles von dem Theile zwischen
Euba und Jamaica bis fast zur Spitze des Golfs von Hon-
duras, mit einer durchschnittlichen Breite von 80 Miles.
Nach der Krümmung nordwärts zwischen der Misteriosa-
Bank uud der Halbinsel Hncatan läuft es zwischen dem
Rücken der Cayman^Jnseln und der Südküste Eubas noch
um 430 Miles weiter, mit einer Breite von 105 Miles,
und deckt somit im Ganzen einen Flächeninhalt von 85 000
Qnadratmiles. Nirgends beträgt seine Tiefe weniger als
sjahren bei verschiedenen Volksstämmen.
2000 Faden (12 000 Fuß), mit Ausnahme von zwei oder
drei Punkten, den Gipfeln ebensovieler unterseeischer Berg-
spitzen. Durch feine größte Tiefe von 3428 Faden, 20
Miles im Süden von Groß-Cayman, wird diese niedrige
kaum 20 Fuß über dem Meere erhabene Insel als der
Gipfel eines Berges erwiesen, welcher sich demnach 20 588
Fuß über dem Boden des danebenliegenden, unterseeischen
Thales erhebt, — eine Höhe, welche kein Berg auf dem
nordamerikanifchen Kontinente erreicht. Durch diese Tiefe
erhalten die Spitzen der Blauen Berge auf der Insel Ja-
maica eiue Gesammthöhe von fast 29 000 Fuß über dem
Boden diefes Thales, wodurch sie der Erhebung der höchsten
Himalaya-Gipsel über dem Meeresspiegel gleichkommen.
Für den tiefsten Theil dieses großartigen unterseeischen
Thales hat der Chef des Coast and Geodetic Survey in
Washington zu Ehren des Befehlshabers des „Blake" den
wohlverdienten Namen des „Bartlett Deep" festgestellt.
Die Pflege der Kinder in den ersten Lebensjahren bei verschiedenen
Volksstämmen.
L —. Auf der anthropologischen Ausstellung in Moskau
im vorigen Jahre (1879) befand sich auch eine Abtheilung,
in welcher Verschiedeue auf die physische Erziehung der Kin-
der sich beziehende Gegenstände zusammengestellt waren.
Die Anregung dazu war von Dr. A. Pokrowski, Direk-
tor eines Kinderkrankenhauses in Moskau, ausgegangen.
Derselbe hatte nicht allein jene ausgestellten Gegenstände
gesammelt, sondern auch den Versuch gemacht, Mittheilungen
und Beschreibungen der bei der Kinderpflege üblichen Pro-
ceduren von den verschiedensten das Russische Reich bewoh-
ueudeu Volksstämmen zu erlangen. Einiges von dem ihm
zugeschickten Material ist bereits in den Protokollen der
Sitzungen des Eomitss abgedruckt. Andere Mittheiluugeu
werden in einer größern umfassenden Arbeit, welche Dr. Po-
krowski über den Gegenstand vorbereitet, zur Veröffentlichung
gelangen. Wir greifen aus dem schon gedruckten vorliegen-
den Material Einiges heraus.
Dr. Pokrowski hat, um möglichst genaue Auskunft
gerade über ganz bestimmte ihn interessirende Fragen zu er-
halten, ein genaues Programm ausgearbeitet und dasselbe
an seine Eollegen in Rußland verschickt *). Wir halten es
nicht für nöthig, dasselbe ausführlich wiederzugeben, fondern
beschränken uns hier die einzelnen Paragraphen des Program-
mes zu nennen, auf welches die Fragen sich beziehen.
1. Pflege der Haut. Waschen und Baden.
2. Wickeln und Windeln. Kleidung.
3. „Richten" der Glieder.
4. Wiegen und Bettstellen.
5. Nahrung.
6. Sitzen, Kriechen, Laufen der Kinder.
Wenden wir uns nun einzelnen Volksstämmen zu:
i) Das Programm ist in wörtlicher Übersetzung wieder-
gegeben in den Sitzungsberichten der gelehrten estn. Gesellschaft
in Dorpat, Jahrg. 1879, S. 144 bis 146.
Die Esten *).
Die neugeborenen Kinder werden unmittelbar nach der
Geburt mit warmem Wasser und Seife abgewaschen; die
Anwendung eines Wannenbades ist selten: kalte Bäder oder
irgend welche Beimischungen zum Wasser werden nicht an-
gewandt. Im Speciellen wird nichts für die Pflege der
Haut sowohl bei Kindern (als auch bei Erwachsenen) gethan,
aber im Allgemeinen wird die Hautkultur durch die regel-
mäßig allwöchentlich genommenen heißen Dampfbäder ent-
schieden gefördert.
Die Neugeborenen werden immer gewickelt, so ver-
langt es die alte Sitte und das Vorurtheil; man meint ohne
Wickeln könne kein Kind gedeihen! Das mit einem kurzen
Hemdchen versehene kleine Wesen wird in ein viereckiges
linnenes Tuch („Windel") geschlagen, darüber wird eine
zweite wollene Windel gethan und beide werden mittelst eines
Wickelbandes befestigt, welches man von den Schultern
bis zu den Füßen in Zwickeltouren um das Kiud schlingt.
Selbstverständlich sind dabei die Arme nicht frei, sondern
werden mit „eingewickelt". Daß das Wickeln irgend welche
nachteilige Folgen für das Kind hätte, läßt sich wohl kanm
nachweisen, es erscheint nur als eine überflüssige Quälerei,
durch welche das Kind in feinen freien Bewegungen ge-
hemmt wird.
Die Kleidung des Kindes ist äußerst primitiv. Wird
das Kind nicht mehr gewickelt, liegt es nicht mehr in der
Wiege, so zieht man ihm ein grobleinenes Hemd an und
setzt es auf den Fußboden. Von besonderen Kinderkleidern ist
nichts bekannt, wie früher fo in der Gegenwart. Werden
die Kinder größer, so erhalten sie die abgelegten Kleider der
Eltern. Die Knaben laufen sehr lange ohne Hosen umher,
Cf. die oben erwähnten Sitzungsberichte S. 146 bis 150,
woselbst die von Dr. Kreuzwald gegebenen Antworten auf
die Fragen des Programms abgedruckt sind.
Die Pflege der Kinder in den ersten Leb
wo sie nicht der Schulzwang nöthigt, sieht man sie bis zum
zehnten Jahre ohne dieses Kleidungsstück.
Die Sitte, durch Ziehen und Recken der Glieder die Ex-
tremitäten besonders geeignet zu späterm Gebrauch zu machen,
„das Richten der Glieder", ist den Esten unbekannt.
Wiegen giebt es zwei verschiedene Arten: 1. Rümpel-
wiegen. Ein länglich viereckiger Kasten ist auf zwei mond-
viertelförmigen Füßen befestigt, welche dem Untergestell eines
Schaukelpferdes gleichen; die Bewegung ist eine ähnliche.
Beim Wiegen stößt man leicht gegen den Fußboden, wodurch
das Kind tüchtige Puffe erhält und „ermüdet" wird.
2. Die Schaukel- oder Wippwiegen. Sie bestehen
ans einem leichten Holzkasten oder einem Korbe, von dessen
vier oberen Ecken Stricke ausgehen, die letzteren sind oben zu-
sammengebunden und an die Spitze einer elastischen Stange
— einer jungen schlanken Birke — gebunden; das Stamm-
ende ist irgendwo an der Zimmerdecke befestigt. Hat
ein Zug an der Wiege gewirkt und dadurch die elastische
Stange gekrümmt, so dauern die Schwankungen eine geraume
Zeit fort. Gewöhnlich werden ältere Kinder oder alte Leute
angehalten, die Wiege zu schaukeln. Diese Art Wiege wird
häufig im Sommer im Freien an Baumästen oder anderen
Gegenständen improvifirt, wobei die mütterliche Schürze die
Wiege vorstellt. Man füttert meist die Wiegen mit Heu,
mitunter mit Kurzstroh (in Liv- und Estland „Kaff" ge-
nannt) aus.
Druckbinden für den Kopf oder für andere Körpertheile
werden niemals in Anwendung gezogen.
Das Neugeborene wird möglichst bald an die Mutter-
brüst gelegt. Findet noch keine Milchabsonderung statt, so
giebt man dem Kinde ein mit gekautem Brot und Zucker-
gefülltes Lutsch- oder Saugbeutelchen (Zulp oder Zülp ge-
nannt); bei „kultivirteu" wird dem kleinen Weltbürger fofort
Kamillenthee eingeflößt. Bei hinreichendem Milchreichthum
der Mutter wird dem Kinde in erster Zeit keine anderweitige
Nahrung gereicht, bald aber — in der Regel schon vom drit-
ten Monat — gewöhnt man es an andere Nahrung, aus
Furcht, daß das Kleine diese Kunst später nicht mehr erlerne.
Daneben dauert das Stillen noch 1 bis 2 Jahre fort; die
Mutter glaubt dadurch sowohl dem Kinde eine Wohlthat zu
erweisen, als auch sich selbst: auch unter den Estinnen herrscht
die Ansicht, daß das Stillen eine neue Konception verhindere.
In Ermangelung der Muttermilch dienen als Surrogat
Kuh- und Ziegenmilch, ferner Mehlbrei oder Buchweizen-
grütze.
Die kleinsten Kinder lernen früh sitzen. Nur in den ersten
Wochen ihres Lebens werden sie in horizontaler Lage auf
den Armen getragen oder auf dem Schooße gehalten. Spä-
ter werden sie in sitzender Stellung getragen oder irgendwo
aus den Fußboden hingesetzt und durch Kissen und Polster
unterstützt. In der Kunst des Kriechens findet keine befon-
dere Unterweisung statt — es bleibt dem Geschick und In-
stinkt des Einzelindividuums überlassen, wie dasselbe die Loko-
motion des Körpers vornimmt, ob durch Rutschen oder durch
Kriechen. Sobald die Kinder aber anfangen sich anszurich-
ten, kommt eine fehr verderbliche Methode in Anwendung,
das Stehen in einem besonderen, schwer zu beschreibenden
Apparat, welcher das Kind festhalten und vor dem Falle
schützen foll. Hierdurch wird aber bei der gewöhnlich man-
gelnden Aufsicht der Grund zu krummen Beinen und wohl
auch Abnormitäten in der Krümmung der Wirbelsäule ge-
legt, sobald das Kind vermöge seiner schwächlichen Körper-
konstitutiou zu solcher Verkrümmung prädisponirt ist. Bei
dem ersten Versuche des Gehens leitet man die Kinder am
Gängelbande oder führt sie an der Hand.
bei verschiedenen Volksstümmen. 253
Völker des Kaukasus.
Armenier und Tataren im Kreise Nüchel (Gonv. Tislis)]).
Bei den Armeniern und Tataren des Kreises Nucha
wird das neugeborene Kind unmittelbar nach der Geburt
mit Salz bestreut; dann etwa nach Verlauf von 20 bis 30
Stunden iu heißem Wasser gebadet und jetzt erst reicht ihm
die Mutter ihre Brust.
Bei der Mehrzahl der Bewohner des Kreises Nucha
erwarten die Frauen ihre Niederkunft in ihrer Familie, wo-
bei sie von ihren Verwandten und von „klugen Frauen"
unterstützt werden. Bei den Bewohnern aber der Ortschaft
Kach im Bezirk Sakataly (mohammedanische Grusiner,
welche man Jngiloizen nennt), ferner bei den Armeniern in
Sultau -N u ch a und N id sh werden die Frauen, welche ihrer
Niederkunft entgegensehen, vollständig sich selbst überlassen.
Bei den Jngiloizen z. B. wird die Frau aus den bewohn-
ten Räumen als „unrein" fortgejagt; sie muß irgend
einen Stall oder eine Scheune aufsuchen, hier muß sie ohne
jegliche fremde Hülfe das Kind zur Welt bringen, dasselbe
waschen n. s. w. und erst nach 5 bis 7 Tagen, wenn alles
gut abgelaufen ist, darf sie in ihre Familie zurückkehren und
muß ihren häuslichen Obliegenheiten nachgehen. Die Ar-
menier in Sultan-Nucha und Nidsh überlassen auch
die Frauen sich selbst, aber schaffen ihnen wenigstens eine
ordentliche Lagerstatt in irgend einem geschützten Raum und
versorgen sie mit allem nöthigen Zubehör.
Wegen der großen Armuth der Tataren jenes Kreises
wird dem Neugeborenen selten ein neues oder reines Hemd-
chen augezogen; gewöhnlich wickelt man es in irgend welche
Lappen und erst nach 3 bis 4 Monaten, wenn die Umstände
es erlauben, giebt man dem Kinde ein Hemd und ein kurzes
Kamisol ohne Aermel, welches aus buntem Zitz gemacht
und mit Watte gefüttert ist. Die Tataren setzen dem Neu-
geborenen ein aus Callico gefertigtes mit Watte leicht ge-
füttertes Käppchen (Calottchen) auf den Kopf uud binden
darauf irgend einen Lappen oder ein Tuch.
Die Neugeborenen werden bei Tataren und Armeniern in
gleicher Weife gewickelt. Das Kind wird erst in ein
dreieckiges Tuch geschlagen und dann vom Kopf abwärts bis
zu den Füßen gewickelt; dabei werden natürlich Schultern
und Arme nach vorn gezogen, über der Brust laufen die
Bindentouren kreuzweise. Dann wird das gewickelte Kind
mittelst zwei bis drei breiten Binden an einer Wiege befestigt,
welche etwa die Gestalt eines flachen Kastchens hat. In
dieser Lage verharrt das arme Kleine oft länger als 24
Stunden.
Der Boden des Kastens, welcher als Wiege dient, besteht
aus drei oder vier kleinen Brettchen. Eins derselben in der
Mitte der Wiege hat ein Loch, in welches ein cylindrisches
thönernes Gefäß (eine Art „Nachtgeschirr") hineingeschoben
wird. Die am Boden der Wiege befindliche weiche aus Schaf-
wolle hergestellte Matratze hat jenem Loch des Bodens entspre-
chend gleichfalls eine Oeffnung. Nun wird eine kurze winklig
gebogene hölzerne mit Wachs innen ausgegossene Röhre
eingeführt, welche mit einem Ende an den Unterleib des
Kindes sich anschmiegt, mit dem andern Ende in jenes Gefäß
hineinragt. Durch diese sinnreiche Vorrichtung, welcher die
Tataren eine große Aufmerksamkeit schenken, werden von dem
Kinde viele schädliche Einflüsse fern gehalten^), indem das
Kind vor dem Naßwerden vollkommen gehütet wird. An
Nach N. Stojanow in Nucha (Kawkas 1879, Nro. 40).
2) Es ist hier nicht der Ort, eine aussührliche Beschreibung
mitzutheilen.
254 ° Aus allen
den vier Ecken des Kastens werden FUße angebracht, von
denen je zwei auf Bogen ruhen, so daß die Wiege geschau-
kelt werden kann. Oben hat der Kasten am Kopf und an
den Füßen je einen Bügel, welche durch ein Bindeholz ver-
bnnden sind. Hieran kann man bequem die Wiege fassen
und hin und her tragen; auch dienen der obere Bügel und
das Bindeholz zur Befestigung einer leichten Decke oder eines
Vorhangs.
Die Neugeborenen erhalten zuerst die Mutterbrust; fehlt
der Mutter die Milch, fo giebt man dem Kinde einen
Lutschbeutel aus Brot mit warmer Kuhmilch, oder aus
dem Mehl „Ptasch". Einen Brei aus diesem Mehl
erhalten die Kinder wohl auch neben der Muttermilch,
weil man überzeugt ist, daß diese Nahrung die Kinder
gut nähre, ihnen eine gewisse Körperfülle gebe. Wohlhabende
Leute reichen mitunter den Kindern im ersten MoMt, wenn
die Muttermilch nicht genügend vorhanden ist, geschlagenes
Eigelb mit Zucker. Im Allgemeinen giebt man den Kin-
Erdtheilen.
dern sehr lange die Muttermilch, 1 bis 3 Jahr; daneben
erhalten aber Kinder von 7 oder 9 Monaten schon an-
dere Nahrung. Hin unruhige Kinder einzuschläfern wird
entweder reines Opium angewandt, oder eine Abkochung von
Mohnsamen; in dem einen wie im andern Falle kommen
nicht selten tödtlich verlaufende Vergiftungen vor.
Bei armen und mittellosen Leuten schenkt man den Be-
mühungen der Kinder das Gehen zu erlernen gar keine
Aufmerksamkeit, man überläßt sie sich selbst. Bei wohl-
habenden Leuteu bemüht man sich, dem Kinde zu helfen und
seine Geh- und Stehversuche durch allerlei Mittel zu unter-
stützen. Erwähnenswerth ist ein besonderer Apparat, „ Tsche-
ran" genannt: ein dreieckiger, auf Rädern laufender Nah-
men, in welchen das Kind hineingestellt wird. (Da der
Beschreibung des Apparats keine Abbildung beigefügt, fo ist
die Konstruktion dem Ref. nicht ganz klar geworden; er ver-
zichtet deshalb auf nähere Schilderung.)
A us allen
Europa.
— Die Entwässerungsarbeiten im Poläß sind
auch 1879 eifrig gefördert; es sind jetzt im Ganzen 850000
Dessjätinen (— 1,09 ha), also über ein Zehntel des Gebie-
tes trockengelegt; von 949 Werst fertiger Kanäle koin-
men 217 Werst allein auf die Arbeiten des vorigen Jahres.
Der Flößereibetrieb von 1879 mit 36 000 Stück Bäume«
übertrifft den der Jahre 1876 bis 1878, in denen zusam-
men nur 32 500 Stämme verflößt werden konnten. Abge-
sehen vou der quantitativ wie qualitativ gesteigerten Ertrags-
sähigkeit der ausgedehnten Waldungen und der ueu entstandenen
Wiesen sind auch bereits 24 000 Dessjätinen Land an den Rän-
dern der entwässerten Sümpfe oder auf sonst unzugänglichen
Inseln für Acker- uud Gartenbau gewouueu worden. Unter
den neu entstandenen Wegen ist besonders beachtenswert!)
die Fahrstraße von Rjetschitza über die Dörfer Bndka,
Timkowka, Korowatitschi, Bobag und Wasilewitschi uach
Mozyr. Die Entfernung zwischen beiden Städten beträgt
jetzt nur 93, gegen früher auf der Poststraße 140 Werst,
davon die Strecke Bndka-Timkowka bisher 38, jetzt nur 3
Werst. Im Ganzen führen 112 Werst neuer Wege über
trockengelegte Sumpfstrecken. Der Werth des Grundes
und Bodens ist von 4 ans 15 bis 25 Rubel für die Dessjä-
tiue gestiegen. Eine genaue Darstellung der Arbeiten giebt
das in russischer Sprache erschienene Buch „Die Austrock-
nnngsarbeiten im Poläß und im Gouvernement
Rjazan" mit illuminirten Karten des Poläß und eines
Theiles des Gouvernements Rjazan, St. Petersburg, 1880,
.Preis 1 Rubel 50 Kopeken.
— Die Stadtverwaltung von Eherson macht bekannt,
daß die Arbeiten zur Vertiefung der Mündungsarme
des Dnjepr erfolgreich fortschreiten. Spätestens am 6.
(18.) August wird der Kanal für die Dampfer bei 15 Fuß
Tiefe auf 3^ Werst Länge eröffnet. Oberhalb des Ver-
einignngspnnktes des Bjelogrndowoje uud Sburjewskoje-
Armes sind 10 Fuß Tiefe; demnächst wird zur Vertiefung
des Restes des Kanals von iy2 Werst Länge geschritten-
— Den „Samar. Gnb. Wjed." zufolge ist die Wolga-
brücke der Orenbnrger Eisenbahn bei Station Obscha-
rowki jetzt vollendet. Am 2. (14.) August 1880 wurde der
Fußgängerverkehr auf den beiderseits der Geleise angelegten
Erdtheilen.
Trottoirs eröffnet. Die Brücke ruht auf 12 gewaltigen
Pfeileru und hat zwischen den Ufern eine Länge von rund
670 Sasheu (1430 in). Erbauer ist der Ingenieur Berezin;
der Bau kostete 4% Mill. Rubel.
— Aufang Juli dieses Jahres ist eine regelmäßige pe-
riodische Dampfschifffahrt von Archangelsk uach No-
waja Zemlja in Betrieb getreten. Mit dem ersten Dam-
Pfer begab sich Stabskapitän Tjagin dorthin, um die Ar-
beiten behufs Anlage des Zufluchtshafens und der Rettungs-
station (vergl. „Globus" Bd. 36, S. 351) zu beenden. Nach
dem „Praw. Wjestn." berichtet derselbe Folgendes: Am
1. (13.) Juli Abends 6 Uhr abgefahren, ging der Dampfer
schon nach 3 Tagen am 4. (16.) Juli auf der Rhede von
Malyja-Karmaknly vor Anker. Bei der Einförmigkeit, welche
die Ufer der Moller-Bay kennzeichnet, bewährte sich das auf
der Insel Karmaknly aufgestellte Sigual zur Bezeichnung
des Eingangs zum Ankerplatze als völlig zweckmäßig.
Nach Aussage des samojedischen Ortsältesten sind alle
Ansiedler gesund und, Dank reichlicher Renthierjagd, ohne
Entbehrungen durch den Winter gekommen. Es gab zwei
Neugeborene. Nahe dem Zufluchtshafen auf dem südlichen
Gusin-Nos überwinterte« noch drei Samojeden-Familien,
die von der Petschora gekommen waren; eine davon blieb
in Malyja-Karrnaknly und beabsichtigt in den Verbaud (Ar-
iel) der Rettungsstation einzutreten, die beiden anderen und
eine Kolonistenfamilie, die an derselben Stelle den Winter
zubrachten, gedenken wiederzukommen. Die übrigen Ansiedler
hatten sich für den Winter wie folgt eingerichtet: Zwei Fa-
milien am Flusse Gusiuaja, wo sie ältere Hütten erworben
hatten, eine in Bolschija Karmaknly und zwei in dem Zu-
fluchtshause; aus der Mitte der letztereu ist der jetzige Ael-
teste gewählt, Athanasius Nemtinow, ein lesenskuudiger,
gewandter und sorgsamer Mann. Das Eis ging in der Kar-
makuly-Bucht erst am 3. (15.) Juli auf uud heftiger Wind
hinderte bisher das Aufstellen der Stangen, welche das
südliche Fahrwasser begrenzen.
Afrika.
— Im Austrage der französischen Regierung ist
M. Lombard nach Abessinien gegangen. Seine Zwecke sind
topographischer Natur; auch will er die Civil- und Militär-
einrichtnngen dort kennen lernen.
Aus allen
— Der italienische Kapitän Casati unternimmt eine
Reise nach dem Bahr-el-Ghazal, um durch das Njamujam-
Land den Ts ad-See zu erreichen und namentlich die Hy-
drographie des Uelle und Schari aufzuklären.
— Ueber die Ermordung des Kapitän Carter und
Mr. Cadenhead liegen jetzt Einzelheiten vor, welche am
4. August in Zanzibar bekannt wurden. Danach befanden
sich die beiden Europäer aus dem Marsche nach der Küste,
als sich ein Kriegszug des wohlbekannten Häuptlings Mirambo
dem Dorfe, in welchem sie übernachteten, näherte. Derselbe
hatte den Zweck, allen Handel und alle Karawanen in sein
(Mirambo's) Land zu lenken und alle Straßen nach den
innerafrikanischen Seen, welche nicht durch seine Besitzungen
gehen, zu versperren; nach einer andern Version galt sein Zug
geradezu der belgischen Station Karema am Tanganjika-See.
Mirambo selbst war übrigens bei dem Gemetzel nicht zugegen,
sondern noch etwa einen Tagemarsch entfernt. Als sich seine
Leute näherten, gingen die beiden Reisenden ihnen entgegen,
um sich mit ihnen zu verständigen; Cadenhead wurde aber
sofort erschossen, worauf seine 150 Leute sofort die Flucht ergrif-
fen und Carter mit zwei treuen Dienern allein übrig blieb.
Da er seine Sache verloren sah, schoß er mit seinem Repetir-
gewehre 15 der Angreifer über den Haufen, ergriff dann
seines todteu Freundes Waffe und erlegte damit weitere
fünfzehn und fiel dann, von der Nebermacht bewältigt. Der
Sultan von Zanzibar hat sofort den Lieutenant Matthews
mit einer starken Abtheilung regulärer Truppen nach dem
Innern abgeschickt, um zunächst die Station Mpwapwa zu
decken, und man hofft, daß weitere Maßregeln ergriffen wer-
den, um die Straße nach den Seen zu sichern.
— Der französische Schiffsfähnrich Mifon wird dem-
nächst nach dem Ogowe abgehen und dort die westliche
Station des französischen Comite der internationalen Affocia-
tion besetzen. Savorgnan de Brazza hat den Ort für die-
selbe am obern Ogowe ausgewählt uud will dann in der
Richtung nach dem Congo aufbrechen, quer durch das Land
der Bateke. Dr. Ballay, welcher mitMison zusammen hin-
ausgeht, wird ihn auf seiner Reise, den Alima oder Likona
abwärts begleiten.
— Kapitän T. L. Phipfou-Wybrants hat, wie
Petermann's Mittheilungen melden, von England aus eine
sorgfältig vorbereitete Reisenach Südost-Afrika angetreten,
wo er die Landschaften zwischen Zambesi und Limpopo bis
zur Ostküste hin, wo außer den Arbeiten von Manch und
Erskine wenig zu sehen ist, zu erforschen gedenkt. Einen
Dampfer und einen Theil seiner europäischen Begleiter hatte
er bereits vorausgeschickt.
— In der Zusammensetzung der oben S. 192 erwähn-
ten fünften belgischen Expedition nach Inner-
Afrika ist insofern eine Veränderung eingetreten, als
Lieutenant Haron erst später am obern Kongo zu seinen
Gefährten stoßen wird und inzwischen mit einem „gehei-
men" Auftrage betraut ist, dessen Ausführung etwa zehn
Monate in Anspruch nehmen wird. Dr. Dutrieux,
welcher aus Gesundheitsrücksichten nach Belgien zurück-
kehren mußte, wird wiederum nach Afrika gehen nnd sich
Oberst Sala anschließen, welcher mit der Unterdrückung der
Sklaverei beauftragt ist. Das bei seiner ersten Anwesenheit
in Afrika von ihm gesammelte Wörterbuch der Swahili-
Sprache foll, obwohl es noch unvollendet ist, von der iuter-
nationalen Association gedruckt werden, damit es andere
Reisenden verbessern und vervollständigen können.
Arktisches Gebiet.
— Das Schiff „Willem Barents" hat, nachdem es
ziemlich weit in das Eismeer vorgedrungen war, am 9. d.
die Rückreise von Hammersest nach Niederland angetreten
und damit seine dritte Nordpolarfahrt zum Abschluß gebracht.
— Ein Franzose, M. Octave Pavy, hat sich auf dem
amerikanischen Nordpolsahrer „Gulnare", welcher durch den
Erdtheilen. 255
Smith-Sund vordringen wird, eingeschifft. Kapitän How-
gcite, der Unternehmer der Expedition, hat ihm gestattet, daß
er sich mit Proviant auf zwei Jahre am Kap Alexander im
Smith-Snnde ausschiffe, und von der englischen Regierung
hat er Erlanbniß erhalten, die bei der Expedition des
„Alert" und der „Discovery" angelegten Lebensmittel-Depots
anzugreifen.
Der „Corwin", welcher ausgeschickt worden ist, nach
der „Jeannette" und mehreren Walfischfängern im Norden
der Beringstraße zu suchen (s. „Globus" XXXVIII, S. 64),
hatte am 8. Juni Unalaska verlassen, am 9. St. Paul und
St. George besucht, am 11. im Norden der Nnnivak-Jnseln
iu 60%° nördl. Br. Eis angetroffen und war von demsel-
ben vom 12. bis 17. besetzt gewesen, bis ihn ein starker Nordost
daraus befreite. Dann legte er an der St. Lawrence-Jnsel
an, welche durch eine Hnngersnoth fast ihre ganze Eskimo-
Bevölkerung verloren hat. Auf seiner Weiterfahrt nach Nor-
den wurde das Schiff etwas nördlich des 69. Breitengrades,
noch 140 Seemeilen von Wrangel-Land entfernt, durch einen
undurchdringlichen Eiswall von 40 Fuß und mehr Mächtig-
keit aufgehalten und kehrte deshalb nach St. Michael zurück,
um Kohlen einzunehmen und dann den Versuch zu machen,
die Herald-Jnsel zu erreichen. Ueber die vermißten Schiffe
war nirgends etwas zu erfahren.
Nordamerika.
—- Nach dem letzten Berichte des canadischen Mini-
sters des Innern leben in der Dominion noch 103 367
Wilde (Eingeborene), und zwar vertheilen sie sich wie folgt:
Prince-Edward-Jnsel....................266
New-Brunswick (894 Micmas und 539
Milicites)............................1433
New-Scotlaud..................2126
Uuter-Cauada..........................12 054
Ontario ............................15941
Manitoba und Nordwesten..............30 227
Athabaska..............................2 398
Rupertsland............................3 770
Britisch Columbien . -.........35152
(Le Tour du Monde.)
— Die Namen „Lac" resp. „Riviere des Plnies",
„Rainy River" und „Rainy Lake" geben ein merk-
würdiges Beispiel ab, wie sich geographische. Namen verän-
dern. Ursprünglich wurden jene beiden Gewässer, wie es
scheint, nach dem Trapper, der sie entdeckte, Riviere resp.
Lac Rene genannt. Als später andere Waldläufer, franzö-
fischen Ursprungs, in jene Gegend kamen, hielten sie diese
Namen für englisch (rainy — regnerisch), übersetzten sie in ihre
Sprache uud tauften See und Fluß Lac und Riviere des
Pluies. Noch später kamen Engländer und übersetzten dies
zurück in Rainy Lake und Rainy River.
(L. deTurenne, Quatorze mois dans l'Amerique du Nord.)
— Abbe P etitot, der wohlbekannte Indianer-Missio-
nar und Erforscher des Mackenzie-Flußgebietes, ist neuer-
dings in das bisher noch von keinem Weißen besuchte Ge-
biet zwischen dem Peace River (Undschiga), dem Mackenzie-
Flusse und dem Liard eingedrungen, hat dort mehrere große
Flüsse, drei mächtige Seen und zwei dem Felsengebirge pa-
rallele Bergketten gefunden und ein Volk entdeckt, das zu
dem Stamme derEtscha-Ottine gehört und nie mit den
Weißen Verkehr gehabt hat. Ihre Haut ist fast so weiß,
wie die von Europäern; sie haben regelmäßige Züge und
eine fast kaukasische Leibesbeschaffenheit. Nur wenige besitzen
sehr schief gestellte Augen, bei den meisten jedoch sind diefel-
ben gerade, groß nnd sehr schön, wenngleich von eisiger Kälte.
Weder in ihren Physiognomien noch in ihren Sitten haben
'sie irgend etwas Wildes; sie sind viemehr sanft, sehr fröhlich
nnd haben eine fast weichliche Sprache; ihre Rede ist stets
kurz, zerhackt, wie abgebrochen. Eine Eigenthümlichkeit,
256 Aus allen
welche Petitot bei keinem andern Stamme der Deue gefnn-
den hat, ist, daß die jungen Leute den Namen ihres Hundes
führen, an welchen das patrouymische Suffix tra d. i. „Ba-
ter" gehängt wird. Also: Vater eines Hundes! Ein höchst
eigentümlicher Ehrentitel in der That.
(Bulletin de la Soc. de Geogr. de Paris, Avril 1880.)
— Ueber Newfonndland, die älteste englische Kolo-
nie — im Juni 1497 von John Cabor entdeckt, wofür der-
selbe von Heinrich VII. eine Belohnung von 10 Pf. St. er-
hielt —, macht ein Korrespondent der „Mail" (15. Septem-
ber 1880) einige Mittheilungen von Interesse. Die Bewoh-
ner der Insel kennen noch heutigen Tages uichts Wichtigeres,
als die Fischerei, und sehen argwöhnisch auf jede Art
Verdienst, der nicht ans dem Meere kommt. „Ein Acker-
See ist tausend Acker Landes Werth" ist ihr Sprichwort.
Durfte doch bis zum Jahre 1811 Niemand in der Haupt-
stadt St. John ein Haus bauen ohne schriftliche Erlaubnis?
des Gouverneurs, uud eine solche wurde niemals ertheilt,
wenn nicht das Gebäude ausschließlich eingerichtet war, „um
Fische zu pökeln, salzen, trocknen nnd verhandeln". Der
ältere Pitt erklärte in einer seiner leidenschaftlichen Reden,
daß diese Fischereien für das Königreich von solcher Wichtig-
keit wären, daß man sie sich erhalten müßte, selbst wenn ein
Feind schon den Tower besetzt hätte. Und die Neufundland-
Fischerei zu beschützen und zu heben, ist während des ver-
flosseueu Jahrhunderts ein Hauptziel der englischen Staats-
männer gewesen; sie haben dermaßen danach gestrebt, aus
der Insel lediglich eine Fischereistation zn machen, daß es
fast wunderbar erscheint, wie dieselbe trotz dieser verkehrten
Politik gediehen ist. Heutzutage aber ist der Betrieb der
Fischerei prekärer und weniger lohnend als früher. Die
Zahl der Armen ist bedeutend: die Bevölkerung von Neu-
fuudlaud nebst Labrador beträgt circa 180 000 Seelen, der
jährliche Aufwand für Unterstützung der Armen aber 100000
Dollars. Um die Zahl der Armen zu mindern und den
Unbeschäftigten Arbeit zu geben, ist es nöthig, das an Acker-
banland und Mineralen reiche Innere der Insel zu erschließen,
und deshalb ist der Bau einer Eisenbahn quer durch die-
selbe beschlossen worden (s. oben S. 112), sehr zumVerdrusse
einiger hervorragender Kaufleute, die in der Fischerei ihr
ganzes Heil erblicken. Wie werthvoll aber die Minen Neu-
fuudlands sind, mag ein Beispiel zeigen. Vor fünf Jahren
fing ein Mr. Ellershausen aus Nova Scotia an, eine Kupfer-
mine auszubeuten, und heute nimmt Neufundland bereits
die sechste Stelle unter den Kupfer producirenden Ländern
ein. Er hat seinen Besitz jetzt für eine bedeutende Summe
an Kapitalisten aus den Vereinigten Staaten verkauft. Blei-
gruben werden schon ausgebeutet; ferner giebt es sicher
Nickel, sowie reichlich Gold und Kohle. Der Korrespondent
kann sich keine bessere Kapitalsanlage denken, als die, in ver-
nünftiger, vorsichtiger Weise den Bergbau in Neufundland
zu heben. Fische und Erze sind jetzt die Hauptgegenstände
der Ausfuhr. — Als Euriosa theilt er mit, daß Nenfund-
land im letzten Jahre 27 Gallonen spanischen Rothweins
nach — Spanien exportirte, 24 Dollars für Tödtung von
Wölfen ausgegeben hat, und daß die berühmte, nach der
Insel benannte Hnnderaee degenerirt und jetzt in besserer
Qualität in Europa zu finden ist.
Südamerika.
— Dr.Crevanx ist im August zn seiner dritten Reise
in Südamerika von Frankreich abgefahren. Er will von
Colombien aus die Quellen des Rio Negro erreichen und
denselben bis zum Amazoueustrome hinabfahren. Die Pa-
riser Geographische Gesellschaft läßt jetzt seine Kompasanf-
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. IX. (Mit fei
sehen Inseln. I. — Die amerikanischen Tiefsee-Forschungen
Lebensjahren bei verschiedenen Volksstämmen. I. — Aus a
Nordamerika. — Südamerika. — Vermischtes. — (Schluß
Erdtheilen.
nahmen der Flüsse Oyapock, Parn und Japura in großem
Maßstabe koustruireu.
— Nach dem letzten Jahresberichte der „South Ameri-
can Missionary Society" beträgt die Einwohnerzahl von
Feuerland etwa 8000. 3000 davon bilden den Stamm der
Aahgans, welche in der Nähe der Missionsstation wohnen.
29 Grundstücke, von y2 bis s/4 Acre Größe, werden bereits
von indianischen Familien bebaut; an einzelnen Stellen ver-
wenden sie auf das Einzäunen und Beackern sogar besondern
Fleiß. Auch der Viehstand nimmt durch Einfuhr allmälig
zu; bis jetzt sind circa 60 bis 70 Stück im Besitze von Ein-
geborenen, welche unter dem Einflüsse der Mission entschie-
den Fortschritte machen.
— Mr. Whymper berichtet in einem Briese aus
Gnayaqnil vom 13. Juli an die Royal Geographica! So-
ciety (s. deren Proceedings, Septemberheft 1880, S. 570),
daß er am 3. desselben Monats eine zweite erfolgreiche
Ersteigung des Chimborazo ausgeführt hat. Während
die erste von Süden stattfand, unternahm er die zweite von
Nordwesten aus. Er brach mit seinen Begleitern um 5^ Uhr-
Morgens von dem 15 950 Fuß hoch gelegenen Lagerplatze
auf, erreichte die Gipfel um 1 Uhr Nachmittags, verweilte
daselbst iy2 Stunden und befand sich um 5 Uhr 10 Minu-
teu wieder am Lagerplatze. Dieser Weg erwies sich als viel
besser, denn der früher eingeschlagene. Während des Auf-
stieges nahm man einen starken Ausbruch des 60 engl. Mei-
len entfernten Eotopaxi wahr; derselbe begann um 5 Uhr
40 Minuten Morgens und um 1 Uhr fing Asche zu fallen
an, so dick, daß der Gipfel des Chimborazo „wie ein ge-
pflügtes Ackerland aussah". Zuletzt unternahm die Gesell-
schaft eine vollständige Tour um den Chimborazo in einer
Höhe von 12000 bis 15 000Fuß. Vorher hatte Mr. Whym-
Per den Earihnairazo bestiegen, eine Reise nach dem Altar
gemacht und damit alle Unternehmungen ausgeführt, dereut-
wegen er nach Ecuador gekommen war. Zur Zeit, als er
den Brief schrieb, wurde er in Guayaquil festgehalten, weil
ein Theil seiner im Innern gemachten Sammlungen, die
aus naturwissenschaftlichen und namentlich mineralogischen
Objekten und Alterthümern der Inka-Zeit bestehen, noch
nicht angekommen war.
Vermischtes.
— Die Meeresuntersuchungen im Golf von
Biscaya durch die wissenschaftliche Regiernngs-Expedition
auf dem französischen Staatsdampfer „Travailleur"
(s. oben S. 64) haben sowohl hinsichts des Meeresgrundes als
auch der ihn belebenden Fauna die interessantesten und über-
rascheudsteu Resultate geliefert. Die Vermessungen erwiesen,
daß der Meeresgrund in besagtem Golf voller Gebirge ist
mit hohen Bergen und tiefen Thälern. Um das Kap Peiias
und Sautauder sind Tiefen, also Thäler, gefunden worden
von 2700 Meter, und wieder Berge, welche fast bis znm
Meeresspiegel emporragen. Die Thierwelt an Echinodermen,
Ealverien, Dysostern, Erustaceen, Seesternen u. s. w. ist in
diesen Seethälern in stannenswerther Fülle vorhanden. Auch
sind hier viele Arten dieser Seethiere aufgefunden worden,
welche man längst für ausgestorben hielt, da sie nirgends
mehr angetroffen wurden. Der berühmte Marseiller Pro-
fessor Marion, welcher sich die Erforschung der Thierwelt
des Meeres zur wissenschaftlichen Hauptaufgabe gestellt hat,
befindet sich ebenfalls an Bord des „Travailleur" und hat
für seine Arbeiten die reichste Ausbeute gemacht, welche be-
sonders dazu dienen wird, die Fauna des Atlantischen Oceans
mit der des Mittelländischen Meeres zu vergleichen.
(N.-Z.)
Abbildungen.) — F. A. Ober's Aufenthalt auf den Caribi-
Caribischen Meere. — Die Pflege der Kinder in den ersten
t Erdtheilen: Europa. — Afrika. — Arktisches Gebiet. —
Redaetiou 21. September 1880.)
Redactenr: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Svhn in Vraunschweig.
Band XXXVIII.
Mit besonderer Herücksicktigung äer AntKroyologie unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
SVWrtitvt f Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QQA
-oraurtjajrüeig zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. ^ *
I m Innern von Hinterindien.
(Nach dem Französischen des Dr. Harm and.)
(Sämmtliche Abbildungen nach den Skizzen und Angaben des Reisenden.)
X.
Am frühen Morgen des 21. Juli empfing Harmand end-
lich den Besuch des Doi oder Kommandanten des Forts, eines
schönen Annamiten mit ernstem, listigem Gesichte. Mit
vieler Würde und in allerhand theatralischen Stellungen
hielt ihm derselbe eine wohl einstudirte Rede, welche darauf
hinauslief, daß er zunächst an den tri-hüyen in Cam-Lü
berichten müßte, worauf Harmand in nicht weniger wür-
diger Weise erklärte, daß er seinen Willen durchsetzen werde,
daß der Doi als Annamite die Franzosen gewiß kenne,
daß er Eile habe; wenn er sofort Träger erhielte, wolle er
eine Silberbarre daran wagen. Das Gesicht des Beamten
zitterte vor Habgier, denn eine Barre int Werthe von etwa
100 Franks ist dort zu Lande ein seltenes Fressen; gleichzeitig
aber fürchtete er, von seinen Untergebenen der Pflichtver-
gefsenheit beschuldigt zu werden. Oessentlich wollte er das
Geld nicht annehmen, und das war es gerade, worauf der
Neifeude bestand. Nach langem stummem Kampfe über-
wand er endlich seine Besorgniß und öffnete resignirt seine
Betelbüchse, in welche Harmand die Barre mit hörbarem
Geräusch hineinfallen ließ; dann entfernte er sich, während
auf den Gesichtern seiner Begleiter ein höhnisches Lächeln
spielte.
Den nächsten Tag wurde der Reisende noch durch Fie-
ber festgehalten; am folgenden (23. Juli) gegen Mittag
aber fanden sich ein Dutzend Träger ein. Das waren
zwar zu wenig; aber in seiner Ungeduld, vorwärts zu
kommen, übergab er dem Pu-Thay-Hänptling des Depor-
Globus xxxvill. Nr. 17.
tirten-Dorses fünf versiegelte Kisten mit der Weisung, sie
ihm so bald als möglich nachzuschicken, und brach auf.
Der Pfad wird sofort sehr schwierig, führt zuerst über
einige Hügel und dann am Abhänge von Bergen hin, von
denen aus man eine prächtige Aussicht hat, die uoch viel
schöner gewesen wäre, wenn es nicht schrecklich geregnet, ge-
blitzt nnd gedonnert hätte. Nach allen Richtungen hin
steigen Berge auf in solcher Menge und solchem Wirrwarr,
daß es Harmand unmöglich war, über ihre allgemeine An-
ordnnng und Richtung sich klar zu werden. Er begegnete
zahlreichen Moi's (Wilden), die mit Lanzen und großen, lang-
griffigen Säbeln bewaffnet waren; sobald sie aber dem
Fremden näher kamen, schlüpften sie gewandt in die Büsche
und verschwanden darin wie Gespenster, ohne daß auch nur
ein trockener Zweig gekracht hätte. Gegen 5 Uhr Abends
gelangte man nach dem Dorfe Lang-Tnn, wo der Hüyen
residirte. In der Pagode desselben kehrte Harmand ein;
fie enthielt keine Buddhabilder, geschnitzte Kanzeln und gelb-
röckige Bonzen, wie diejenigen in Laos; auf dem gestampf-
ten Fußboden standen mit Matten bedeckte Feldbetten und
in der Mitte des Raumes als Altar ein kleiner Tisch mit
zwei gedrechselten hölzernen Leuchtern und einer bronzenen
Kohlenpfanne.
Bald stellte sich auch der Hüyen ein, ein junger Mensch
mit seinem, jesuitischem Gesicht, von fast weißer Hautfarbe
und unmäßig langen Nägeln; er ist offenbar von guter
Familie, muß aber irgend eine administrative Missethat auf
33
258
Im Innern von Hinterindien.
dem Gewissen haben, sonst wäre er nicht aus diesem Po-
sten in den ungesunden, wilden, verrufenen Gebirgen. Es
entspann sich zwischen ihm und Harmand ein langes Ge-
sprach, in welchem jeder den andern abwechselnd einznschüch-
Haus eines reichen Annamiten.
Vorderseite eines Hauses eines reichen Annauriten.
tern!, zu täuschen und zu verlocken suchte. Die Annamiten
waren aber der festen Ueberzengung, daß die Ankunft des
Franzosen auf so ungewöhnlichem Wege nur höchst wichtige
politische Gründe haben könnte, eine Ansicht, von welcher
Im Innern von Hinterindien.
259
sie alle Betheuerungen Harmand's nicht abzubringen ver-
mochten. Er erlangte zwar von dem Hüyen das Ver-
sprechen in zwei Tagen abreisen zu dürfen, wurde aber trotz
eines reichen Geschenkes hier länger aufgehalten, als er er-
wartet hatte.
Diese Gegend scheint übrigens ihren Ruf der Ungesund-
heit vollauf zu verdienen; denn nicht nur Harmand, son-
dern auch sein intelligenter annamitischer Diener Tay litten
hier stark am Fieber. Wie ihm mitgetheilt wurde, schie-
nen die Annamiten in letzter Zeit ihre Ansprüche auf das
Thal des Se-Bang-Hieng kräftiger zu verfolgen: sie haben
in den Moi'-Dörfern der Umgegend 2000 Soldaten zu
stehen und errichten Befestigungen auf den Berggipfeln;
auch ist das Fu Cam-Lö und das Hüyen Lang-Tnng ganz
neuen Ursprungs. Harmand betrachtet das alles nur als
eine gute Vorbereitung für die unvermeidliche Herrschaft
der Franzosen, welche diese Länder ihrer jahrhundertelangen
Lethargie entreißen wird.
Die Annamiten in diesem Gebirgslande sind religiöser
oder besser abergläubischer, als alle anderen, die Harmand
je kennen gelernt; Tag für Tag kamen sie in Schaaren zur
Pagode, opferten und knieten vor dem Altar nieder. Auch
der Hüyen und ein Schulinspektor, der gerade anwesend war,
warfen sich alle Augenblicke zu Boden, bald drinnen in der
Pagode, bald draußen unter einem in die Erde gesteckten
Sonnenschirme. Offenbar haben sie von den Sitten der
Moi's etwas angenommen.
Der Gouverneur (Hüyen) spielte ein falsches Spiel;
auf seinen Befehl verkauften die Leute dem Fremden keine
Lebensmittel mehr. Allein in der Umgegend gab es Pfauen
und Turteltauben genug, und seine Flinte schaffte bald Rath.
Niemand wollte ihm ferner Auskunft geben über den nach
Cam-Lö führenden Weg; aber bei feinen Streifereien in
der Umgegend fand Harmand bald heraus, daß es nur der
am besten im Stande gehaltene sein könnte. So verstrich
der 27. Juli. Am 28. kam die Nachricht aus Cam-Lü,
Das Fort von Cam-Lö.
daß sich am nächsten Morgen 4 Elephanten und 20 Sol-
dateu einfinden würden, um den Reisenden dorthin zu ge-
leiten. Aber wer nicht kam waren Elephanten und Sol-
dateu. Harmand versiegelte also kurz entschlossen seine
Kisten, machte den Hüyen mit seinem Kopse für deren In-
halt, welcher Eigenthum der französischen Regierung sei,
verantwortlich und brach dann in Gesellschaft eines Dieners
auf, als Proviant nur eine Büchse Sardinen in der Tasche
mit sich führend. Der Aunamite Tay, der heftig am Fie-
ber erkrankt war, blieb nebst dem Koch beim Gepäck zurück.
Der Weg war reizend und führte zunächst durch einen
schönen Wald, durch welchen vor Zeiten eine breite Straße
geschlagen worden war, von welcher nur wenige Spuren
übrig geblieben waren. Nach etwa zwei Stunden über-
schritt Harmand den letzten Zufluß des Me-khöug und eine
viertel Stunde später erblickte er am Grunde einer tiefen
Schlucht einen vielfach gewundenen Fluß, welcher in der
entgegengesetzten Richtung nach dem Chinesischen Meere zu
floß. Es war der Ran-Quan. Indessen war noch die
große Gebirgskette, deren dunkelblaue Spitzen in der Ferne
sichtbar waren, zn überschreiten; jener Fluß mußte dieselbe
in einer tiefen Thalspalte durchbrechen.
Gegen Abend begegnete er einer Schaar von Wilden,
welche bei seinem Anblicke so erschraken, daß sie ihre
Waffen fortwarfen und sich auf die Knie stürzten, und
erreichte ein niedliches Moi' -Dorf, wo er zu seiner Ueber-
raschung dieselbe Art von Hütten fand, wie früher ein-
mal weit im Süden und auch bei Attopeu: die Wände
derselben stehen schief, anstatt senkrecht, und die Balken sind
in sonderbarer Weise geschnitzt. Die armen Bewohner
empfingen und bewirtheten ihn nach besten Kräften. Am
nächsten Morgen durchstreifte er jagend die Umgegend nnd
sammelte schöne Pflanzen; das Land ist herrlich und hätte
ihn sicher zu einem mehrtägigen Aufenthalte veranlaßt,
wenn ihn nicht der Mangel an Lebensmitteln weiter getrie-
ben hätte. Der Weg führte dann steil hinab in ein enges
Thal, welches der jetzt zu einem stattlichen Strom gewordene,
au 100 m breite und prächtig klare Ran-Quan, zahlreiche
Stromschnellen bildend, durchfließt. Er bot hier einen
herrlichen Anblick dar, wie er zwischen zwei Bergreihen
dahinströmt, die eine abgerundet und kahl, die andere mit
steilen Abhängen nnd mit schönen Bäumen bedeckt, die sich
in deu Flutheu spiegelten, und auf denen sich, riesigen Bln-
men gleich, Pfauen im Sonnenglanze wiegten.
33*
Im Innern von Hinterindien.
In einem nahen Dorfe machte er Halt. Die Wilden
dort trugen eine Art ärmelloser Jacken aus der verfilzten
Rinde von Antiaris toxicaria, jenem berühmten Baume,
über welchen ähnliche Fabeln im Umlaufe sind, wie über
den amerikanischen Manzanillo-Banm.
Von dort wollte der Reisende eben aufbrechen, als ein
Bote kam und ihm die Ankunft der Elephanten und der
Eskorte meldete. Es waren ihrer zwei Thiere, welche, da
sie von den Annamiten zwei- bis dreimal so stark beladen
werden, als von den Laos, das gesammte Gepäck trugen.
Außerdem waren noch zahlreiche Träger dabei. Der Anna-
mite Tay befand sich in beforgnißerregendem Zustande; be-
wußtlos lag er in einer von zwei Männern getragenen
Hängematte.
Der Weg führte anfangs am linken Ufer des Ran-Qnan
abwärts; dann floß letzterer nach O.-S.-O. und trat in ein
breites, prachtvoll angebautes Thal, während Harmand zuerst
mehrere fast trockene Flüsse, deren Bett, soweit der Blick
reichte, mit großen Rollsteinen erfüllt war, und darauf eine
Kette steiler, baumloser, mit Mais bebauter Berge überschritt
und dann in eine Art weiten Circns hinabstieg, wo er in
dem Moi-Dorfe Taniang übernachtete. Dort befand er
sich am Fuße der großen aunamitischen Gebirgskette, und
eine weitere Tagereise brachte ihn in ein civilisirtes Land.
Bald hinter Taniang steigt der Weg an zu einem nur
250 m hohen Passe, welchen zu beiden Seiten, namentlich
aber zur Linken, Felsgipsel von wenigstens 1200 bis 1500 in
Höhe überragen. Jenseit des Passes senkt sich das Terrain,
Besuch des Mandarinen von Cam-Lo.
steigt wieder an und bleibt zunächst noch sehr coupirt; der
Führer leitete den Reisenden durch ein wahres Gewirr un-
anfhörlich auf- und absteigender Pfade, welche sich meist in
Schluchten voller Geröll hinzogen. Der alles bedeckende
Wald macht es vollends unmöglich, sich hier zurecht zu sin-
den. Endlich erkletterte man einen letzten hohen Berg mit
schlüpfrigem Thonboden, und nun lag Annam vor ihren
Augen, trocken, ohne Bäume, überall augebaut, eiu merk-
würdiger Gegensatz gegen das Land im Westen. Es war
das erste Mal, daß ein Europäer, vom Laos-Lande kommend,
dieses Gebirge überschritt. Wie mit einem Zauberschlage
war nun alles vollendet, die Natur wie die Menschen, der
Boden wie die Ackerbauer. Drüben im Westen ein wildes,
mit Wald bedecktes, regenreiches Land, wo die Bestellung
des Bodens in den ersten Anfängen liegt, hier in Annam
ein sonnenbeschienenes Land voll Reisfelder, Batatenpflan-
znngen, Maulbeerbäume, Ricinus und Mais, wo überall
Menschen graben, hacken, Wasser tragen; dazwischen zer-
streute Dörfer im Schatten von Kokos- und Arekapalmen.
In der That, der Abstand zwischen europäischer und anna-
mitischer (Zivilisation ist sehr groß; aber ganz gewaltig ist
er zwischen derjenigen der Annamiten und der Laos.
In einem hübschen Dorfe machte Harmand Halt und
fand freundliche Unterkunft bei einem Notabeln, welcher
ein hübsches Haus mit jenen kunstreich geschnitzten Balken
und Zwischeuwäuden bewohnte, wie sie die Annamiten so
hoch schätzen und ihren Gästen mit solchem Stolze zeigen.
Die Dörfer dieser Gegend bauen in Menge die ölreiche Ban-
kulnuß (Aleurites triloba), von welcher große Haufen Vör-
den Häusern zum Trocknen lagen. Ueber Hügelland, bei
262 Im Innern v
einigen Eisengrnben vorbei erreichte man noch an demselben
Abend das Fort und Dorf Cam-Lü, wo eine drängende,
sich stoßende Menschemnasse schon ans den Anblick des wag-
halsigen Fremden, der das so gefürchtete Laos durchzogen
hatte, wartete. Ihr Verhalten zeigte jedoch keine Spnr von
Feindseligkeit. Gleich zu Beginn des Ortes empfingen ihn
einige besser gekleidete Leute und Soldaten, um ihn zu dem
für ihn bestimmten Hause zu führen. Denn in Annam
giebt es keine salas, wie in Kambodja und Laos, fondern
der Fremde wohnt bei den Einwohnern, wenigstens in den
kleineren Orten. In Cam-L» nun wollte man ihn bei dem
Arzte einquartieren; er aber weigerte sich dessen, da diese
Leute in Annam in sehr geringer Achtung stehen, und zwar
mit vollem Rechte. So führte man ihn denn in das feinere
Haus eiues Mandarinen, welcher sich zur Inspektion von
Schulen auf Reisen befand. Am folgenden Tage langte
auch das GePack an; der fieberkranke Tay war auf dem
Wege der Besserung und genas nach einigen Tagen.
Hinterindien.
Da die neugierige Menge dem Reisenden ziemlich lästig
fiel, fo luden ihn der Befehlshaber des Forts und der Fn
(Civil-Gouvernenr) ein, in das Fort überzusiedeln. Er aber
lehnte dankend ab, damit es nicht aussähe, als suche er ihren
Schutz, suchte seine Uniform hervor und machte die uöthigen
Besuche. Die Soldaten im Fort, welches in gutem Zu-
stände und mit etwa einem Dutzend Kanonen bewehrt war,
standen unter Waffen, sei es aus Vorsicht, sei es zum Prunk,
und das Tamtam ertönte mit Gewalt. Der Kommandant
(quan schanli), ein alter, weißbärtiger Mann, dem Jeder-
mann, vom Fn abwärts, aufs Wort gehorchte, empfing den
Franzosen kalt, fast unhöflich; als aber dieser ihm mit glei-
cher Münze diente, änderte er seine Taktik und fing zn
schmeicheln an. Nun wurde auch Harmand versöhnlicher
und überreichte ihm zuletzt als Geschenk eine schöne Dose in
Galvanoplastik, wofür er Körbe mit Reis, Früchten und
Kuchen und zuletzt auch die Zusage erhielt, daß er, wann er
wünschte, Transportmittel bis Quang-Tri, der Hauptstadt
'//// ^////M
Die Missi.
der Provinz, erhalten solle. Am nächsten Tage erwiderte
der Quan Schanh den Besuch unter großem Ceremoniell;
unter Geschrei und Tamtamklang, unter Vorantritt von
Lanzen- und Fahnenträgern und von seinen Schirmhaltern
gefolgt, hielt er niit großer Würde seinen Einzng. Gar zn
gern hätte er den Inhalt von Harmand's Kisten, die er voll
Waffen glanbte, näher untersucht; da aber dieser nicht dar-
aus einging, sah er sie genau von anßen an, wechselte einige
nichtssagende Phrasen, grüßte nachlässig und verschwand mit
möglichster Majestät.
Am 4. August ging es weiter, und zwar auf einer wirk«
lichen Straße mit Seitengräben und Brücken, auf welcher
Boten und eilige Couriere zu Pferde (tram) verkehren,
welche ihre Depeschen in versiegelten Bamburöhren über die
Schulter gehängt haben. Anfangs führte der Weg durch
Reis- und Ackerfelder bis zu einem Posthause an der großen
Straße von Hüö nach Tong-king, wo gefrühstückt wurde.
Nachmittags jedoch waren Dünen blendend weißen, glühen-
den Sandes zu überschreiten, fo daß Harmand zn dem Pa-
lankin seine Zuflucht nahm. Es ist das eine kurze Hänge-
matte, oben mit einem Dache und Vorhängen versehen, welche
Bo-Liöu.
von zwei Leuten an einer langen Stange auf der Schalter-
getragen wird. Dieselben bewegen sich stets im Laufschritte
und vermögen bei erträglichem Boden darin Erstaunliches
zu leisten. Angenehm ist diese Beförderungsweise nicht. An
der Straße lagen zum Glück zahlreiche Gasthäuser, wo der
Reisende seine von Schweiß triefenden Träger für wenig
Geld mit Thee, Reisbranntwein und allerlei Eßwaaren
regaliren konnte.
Die Gegend ist ziemlich eben, trocken, kahl und einför-
mig; aber überall, wo ein wenig Feuchtigkeit vorhanden ist
und sich während der Regenzeit Wasser ansammelt, ist der
Boden sorgfältig bestellt, leider nur mit Reis, anstatt mit
sogenannten Kolonialfrüchten, für deren Anbau das mittlere
Annam sich vorzüglich eignet, und deren Ausbeute zugleich
durch die zahlreichen, meist bis an den Fuß des Gebirges
schiffbaren kleinen Flüsse sehr leicht gemacht wäre. Dort,
wo die Straße diese Flüsse kreuzt, siud Fähren stationirt,
welche den Personenverkehr ohne Bezahlung vermitteln.
Gegen Abend überschritt Harmand den ansehnlichen Fluß
Da-Han, welcher einen lebhaften Handelsverkehr vermittelt,
und erreichte Quang-Tri, dessen Fort mit seinen langen,
Prof. Dr. Georg Gerland:
rothen Mauern, seinen monumentalen, von Wachthürmen
überragte» Thoren und mächtigen Getreidespeichern schon
von weitem sichtbar war. Nach mancherlei Förmlichkeiten
und Umständlichkeiten wurde ihm hier ein Brief des sran-
zösischen Geschäftsträgers Philastre in Hüö übergeben, worin
ihn derselbe ausforderte, da seine Reise ohne Zustimmung
der annamitischen Regierung (!) unternommen sei, Euro-
päer aber kein Recht hätten, in Hüö sich aufzuhalten, sich
nach Tong-king zu begeben, d. h. ohne Kleider, Schuhe oder
irgend welche Vorräthe halb Annam von Süden nach Nor-
den zu durchwandern. Während die annamitischen Mauda-
rinen seine Reise unterstützten, suchte sie ein französischer
Beamter zu unterbreche»!! Harmand schrieb sofort an den
Geschäftsträger und setzte ihm seine Lage und die Unmög-
lichkeit, seiner Anweisung Folge zu leisten, auseinander,
wandte sich auch gleichzeitig an die im Lande wohnenden
französischen Missionäre und bat um ihre Unterstützung.
Schon am folgenden Tage (5. August) trafen von verschic-
denen Seiten ihrer zwei, die Patres Mathey und Patinier,
ein, glücklich, einem Landsmann zu begegnen und von die-
fem nicht minder freudig begrüßt. Mit ihnen wurde ver-
abredet, daß Harmand in der nicht weit gegen Norden gele-
genen Mission Bo-Liöu die Antwort des Geschäftsträgers
abwarten solle. Dort brachte er etwa eine Woche zu. Er
versuchte zwar auf die Jagd zu gehen; aber die Neugier
und Zudringlichkeit der Eingeborenen wurde ihm so lästig,
: Merkwürdige Vogesenberge. 263
daß er zuletzt den Garten seiner Wirthe nicht mehr verließ
und sich die Zeit damit Vertrieb, daß er mit ihnen über
ihre Aussichten und Sorgen plauderte. Die Mission be-
steht aus zwei Häusern, deren eines in europäischer Weise
eingerichtet ist, uud einer kleinen Kapelle, in welcher sich
jeden Sonntag eine ansehnliche Schaar Gläubiger versam-
melt. Der Tisch war nicht gerade reich besetzt, und es gab
nicht einmal Brot, dafür aber einige Gläser Abendmahl-
wein und vorzüglichen Ananaswein inländischer Fabrikation.
Aber war es doch schon nichts Geringes für Harmand, an
einem Tifch, auf einem Stuhl zu sitzen, ein Tischtuch vor
sich und wohlwollende Menschen, mit denen er französisch
reden konnte, ohne sie betrügen zu müssen oder von ihnen
betrogen zu werden!
Am 12. August verließ er die Mission, nachdem die
Erlaubuiß zur Weiterreise eingetroffen war, in Begleitung
von 20 Mann Eskorte. Die Umgegend von Quaug-Tri
ist noch sehr bevölkert und gut angebaut, namentlich mit
Baumwolle. Bald darauf aber beginnen wieder Sanddünen,
welche.sich fast bis an das Gebirge ausdehnen und den Rei-
senden zum Besteigen des Palankin nöthigten. Am Abend
des 13. August führte ihn eine Barke über den Fluß vou
Hüs, wenige Minuten später begrüßte ihn sein Kollege, der
Dr. Mondi^re, und nach einigen Tagen kehrte er aus der
„Antilope" nach Saigon uud von dort nach Frankreich
zurück.
Merkwürdige
Von Prof. Dr. Georg 1
I
Ungersberg
Die französischen Erforscher der Sahara haben die ein-
zelnen Felsen und Bergmassive von Sandstein, welche von
der heutigen Bodenfläche der Wüste aufragen, temoins ge-
nannt, Zeugen nämlich für die frühere Höhe des Wüsten-
bodens, welcher hauptsächlich in Folge der Einwirkung von
Temperaturunterschieden und Luftströmungen allmälig ver-
witterte und jene Felsen und Berge als letzte Ueberbleibsel
zurückließ. Mit diesen Temoins der Wüste können wir
nun eine ganze Reihe unserer Vogesenberge vergleichen, alle
die nämlich, welche als letzte Reste jener alten Sandstein-
bedeckuug, die zur Zeit der Hebung der Vogesen die Ge-
sammtausdehunug des Gebirges überlagerte, bis auf die
heutige Zeit übrig geblieben sind. Nun hat freilich bei uu-
seren Bergen die Fortwafchnng durch das atmosphärische
Wasser weitaus die größte Rolle gespielt, anders wie bei
jenen Tsmoins der Wüste, deren Umgebung fast nur durch
Einflüsse der trockenen, windbewegten Atmosphäre zertrüm-
mert und fortgeführt worden ist. Daher ist auch die Gestalt
beider Gebilde höchst verschieden. In der Wüste schroffe, fast
würfelförmige, wenig im Einzelnen zerlegte Bergmassen, oder
einzelne spitze, mehr oder weniger säulenförmige Ueberbleibsel;
bei uns breite ins Gesammtmassiv eingeschnittene Thäler,
mit Böschungen von verschiedener Steilheit bei plateauartigen
Rücken, kegelförmige Gipfel it. s. w. In den Kreis dieser
Zeugen der Vogesen gehört aber insofern auch derDonou,
als er mit seinen nächsten Nachbarn, dem kleinen Donon
Vogesenberge.
Gerland in Strnßlmrg.
Climont.
uud Kelberg und gewiß auch mit dem Noll und Schneeberg,
bei der ersten Hebung ein zusammenhängendes Plateau bil-
bete, welches sich allmälig uach Norden senkend in das heu-
tige Nordplateau der Saudsteinvogesen überging: es wurde
vielleicht schon durch die Hebung gespalten, jedenfalls aber
durch den Einfluß des Wassers zu derjenigen Gestalt aus-
gearbeitet, in der wir es heute finden.
Ferner gehören zn diesen Ueberresten der alten Bog eseu-
decke die Sandsteinberge, welche nord- uud ostwärts den
zweitenHaupttheil der Vogesen, das Hochfeld, umsäumen.
Dieser Gebirgstheil, weit minder ausgedehnt als die uörd-
lichen und südlichen Vogesen, wird eigentlich nur vou einem
gewaltig emporgewölbten langgezogenen Granitrücken gebildet,
der schroff sich aus dem Weiler-Thal erhebt, in lang einge-
schnittenen Thälern dagegen zum Breuschthal uud iu die
Ebene abfällt. Der Rücken selbst ist öde, kahl, moorig,
völlig reizlos; auch von der Ebene aus gesehen macht der
lange, ungegliederte, mächtige Höhenzug eine» recht eiutöni-
gen, wenig anlockenden Eindruck. Ringsherum aber ist dies
Granitmassiv überdeckt vou Sedimentgesteinen, welche sich
noch vor seiner Hebung auf ihm abgelagert, im Süden von
den devonischen Schiefern des Weiler Thales, im Westen,
Norden und Osten hauptsächlich vou buntem Sandstein. In
diese übergelagerten Gesteine sind nach den drei letztgenann-
ten Himmelsgegenden die Thäler eingefurcht, durch welche
man zum Hochseld emporsteigt; die Südseite mit ihren steil
264 Prof. Dr..Georg Gerland:
aufgerichteten Schiefern zeigt eine weiter ausgearbeitete Thal-
bildnng nicht, ein Umstand, der nicht ohne Interesse ist.
Auch eine Reihe heutzutage isolirter und nicht unbedeutender
Gipfel gehören diesen aufgelagerten Sedimenten an, eben
jene Temoins, welche das Hochfeld umsäumen: der Hahnen-
berg, Girbaden, der Dreispitz, der Heidenkopf und der Odi-
lienberg bis zur Bloß und dem Kienberg; sodann ganz ver-
einzelt im Süden neben einigen ganz kleinen Sandsteinrücken
der Hoch-Ungersberg (904 m). Daß dieser Gipfel wieder
besonders merkwürdig ist, lehrt schon jeder Blick von Straß-
bürg oder überhaupt vom Osten auf die Bogesen: denn über-
all zeigt sich der Ungersberg durch Gestalt und Lage gleich aus-
gezeichnet. Er ist der südlichste der scharf markirten Höhen,
welche am Ostrand des MittlernTheiles der Vo gesen aus-
ragen, und gleich südlich von ihnen folgt eine bedeutende Senke,
der Ausgang des Weiler und des Leberauer Thales, denn der
Altenberg (864 in), der beide trennt, liegt etwas weiter vom
Rande des Gebirges zurück. Auch der Aufbau des Ungers-
berges ist merkwürdig und ebenfo charakteristisch wie der des
Donon. Auf einer breitgewölbten Unterlage von Rothliegen-
dem, deren Fortsetzung, rundliche, immer niedrigere Hügel,
durch Wasserläufe von einander getrennt, südlich von dem
schönen, regelmäßig gebildeten und herrlich grünen Thal von
Reichsfelden bis an den Rand des Gebirges ziehen, auf
dieser breitgewölbten Unterlage erhebt sich aus der Höhe von
etwa 450 m die aufgesetzte Buntsandsteinmasse als breite
Pyramide mit steiler Böschung, deren Gipfelhöhe, ziemlich
spitz kegelförmig, namentlich steil von Nordwesten her aufsteigt.
Die Unterlage des Berges, das Rothliegende, ist auf der Ost-
seite uubewaldet: mit dem Sandstein beginnt der schöne Laub-
wald, der bis zur höchsten Spitze den Berg einhüllt; nur
diese letztere, ein schmales, blocküberschüttetes Plateau, ist bis
auf mäßig hohes Buschwerk und einzelne Tannengruppen
frei und gewährt von der Spitze der einzelnen Blöcke eine
oder vielmehr verschiedene außerordentlich schöne Aussichten,
so daß die Besteigung des Berges, welche bei der großen
Steilheit der Sandsteinpyramide zuletzt beschwerlich genug
ist, sehr reich belohnt wird.
Nach Osten zu sieht man weit ausgedehnt die herrliche
Ebene und über den Rhein den Schwarzwald, dicht im Vorder-
grnnd, die Ausläufer des Gebirgs bildend, jene Hügel des
Rothliegenden, nördlich aber vom Reichsfelder Thal einen
ähnlichen, ebenfalls unbewaldeten Hügel, nur länger gestreckt,
steiler, den Eichelberg, dessen Spitze (411 in) wieder aus
Buntsaudstein gebildet ist und ziemlich genau zu jener Höhe
stimmt, bei welcher die Sandsteinbedeckung des Ungers-
berges ihren Anfang nimmt. Natürlich übersieht man auch
im Osten, Norden nnd Westen die Hauptberge des Hochfeld-
umssivs und hier ist für die Kenntniß des ganzen heutigen Auf-
baues des Gebirges der Höhenzug von Interesse, welcher vom
Champ du Feu, dem höchsten Rücken des Hochfeldes, genauer
vom Hochwald zum Sockel des Uugersberges hinzieht, und
den man namentlich deutlich erkennt, wenn man vom Ungers-
berg auf der Westseite ins Weiler Thal hinabsteigt. Hier
zeigt sich denn auch sehr deutlich, daß die Thäler, welche von
jenem Rücken sich südwärts öffnen und schließlich in das
Weiler Thal einmünden, durchaus nur Erosionsthäler sind,
und wir können diese Behauptung gleich hierauf alle Thäler
ausdehnen, die vom Hochfeldmassiv nach irgend einer Seite
herabsteigen. Auch das Champ du Feu sieht man direkt
vom Uugersberg; sein hoher Rücken schließt den Blick nach
Nordwesten ab. Weitaus den interessantesten und schönsten
Eindruck aber empfängt man von der Aussicht im Süden
und Westen. Im Süden fehen wir über die nächsten Vor-
berge hin das Weiler Thal und jenseits mauergleich, aber in
herrlicher Gliederung, die nördlichste Wand der Granit-
Merkwürdige Vogesenberge.
vogesen aufragen, den Zug, welcher das nördlichste Thal
derselben, das Leberau Thal, nördlich abschließt, und darüber-
hinaus eine Reihe von Gipfeln des südlichen Gebirges, welche
wir zum Theil noch genauer kennen lernen wollen. Diesem
Nordzug folgen wir mit dein Blick weithin nach Westen, in-
dem wir ihn durch das Weiler Thal begleiten, welches durch
den im Hintergrund aufragenden Climont abgeschlossen wird.
Man übersieht also vom Ungersberg am genauesten das
Hochfeld und die nördlichsten Südvogesen; der dritte Theil
des Gebirges, das Sandsteinplateau des Nordens, zeigt sich
zwar noch, allein zu fern, zu versteckt, um charakteristisch
wirken zu können. Aber gerade durch seine Stellung zwi-
schen den beiden südlichen Hanpttheilen der Vogesen wird der
Ungersberg sehr lehrreich: wir übersehen hier eins der merk-
würdigsten Vogesenthäler, das Thal von Weiler, welches
die Nord- und Mittelvogesen von den Südvogesen trennt.
Schon der Anstieg vom Ungersberg, mag man nun westwärts
etwa über Erlenbach oder von der Südseite des Berges her
in das Weiler Thal eintreten, ist landschaftlich außerordeut-
lich schön und wissenschaftlich belehrend genug: für uns ge-
nüge die Betrachtung, daß wir die gleichen Verhältnisse wie
am Donon wieder finden, die Quellenzone da, wo unter dem
Sandstein das Rothliegende beginnt, den viel schrofferen Ab-
fall des Berges nach der einen (beim Ungersberg Nordwest-
lichen) Seite, die Eintönigkeit der Sandsteinflora u. s. w.
Das Thal selber verläuft in älteren Gesteinen als der Bunt-
sandstein; es ist für die geographische Betrachtung ebenso
interessant als für den Touristen lohnend. Der letztere wird
es schon nicht unangenehm finden, daß er in Weiler selbst,
in der Post, vortrefflich aufgehoben ist; und fo kann er,
wenn er Nachts dort ausgeruht hat, mit frischester Kraft
am Morgen zum Climont aufbrechen. Obgleich das Thal
auf den Karten wenig hervortritt, denn es ist nicht sehr breit,
und obgleich es ferner fortwährend ansteigt (Weiler 271 in,
Steige 360in, Straße nördlich vom Climont 597 nnd 585in,
Saales 558 in nach der französischen Generalstabskarte), fo
bildet es doch einen höchst bequemen Uebergaug nach Frank-
reich, über Saales, wo es auch mit dem Breufchthal in be-
qnemster Verbindung steht, nach Provenchöres und St. Di6.
Die Straße, welche von Saales nach letztgenanntem
Städtchen führt, ist vortrefflich und auch landschaftlich von
hoher Schönheit, obwohl der Westabhang der Vogesen, auf
welchem sie sich in das Menrthethal herabsenkt, weit minder
großartig gestaltet ist, als die Ostseite des Gebirges. Diese
Verbindung beider Länder wird hier deshalb so bequem,
weil hier eine höchst merkwürdige Senke die Vogesen durch-
quert: der Südzug der Vogesen endet, indem er plötzlich
direkt südlich vom Climont nach Osten umbiegt; der mitt-
lere Theil des Gebirges, das Hochfeld, beginnt erst jenseits
des Weiler Thales, und die Nordvogefen erst jenseits des
Breuschthales. Beide Thäler würden breit geöffnet sein nach
Frankreich, wenn nicht gerade hier der Climont läge, wenn
nicht vom Climont eine Bodenschwelle südlich von Saales
herziehend das Brenschthal schlösse. Ueber sie, welcher zwei
höhere Berge, der Labatteux (709 in) und Voyemont (304in),
gleichsam aufgesetzt sind, verläuft daher die neue deutfch-fran-
zösische Grenze, indem dieselbe hier von dem Kamm der Süd-
vogesen überspringt auf den bei St. Dis beginnenden Zug der
Nordvogefen. Sie läßt also in ihrem plötzlichen beinahe recht-
winkligen Abbiegen die eigentümlichen geographischen Ver-
hältnisse dieser Gegend klar erkennen. Am Ostende des Thales
(zugleich auch vor der Mündung des Leberaner Thales, wel-
ches durch seinen Bergbau berühmt war und ist) liegt das
früher so bedeutende Schlettstadt, welches diesen Uebergang
nach Frankreich, den bequemsten, welchen die Vogesen über-
Haupt aufweisen, von deutscher Seite aus vertheidigen sollte.
Prof. Dr. Georg Gerland:
Die Straße zieht im Weiler Thal an dessen Nordseite
hin und jenseits Weiler steigt direkt über ihr in anßerordent-
lich schroffem Anstieg und nur von wenigen südlich geöffne-
ten und nicht sehr ausgedehnten Thalern unterbrochen die
Südseite des Hochfeldes empor, welche hier ganz aus jenen
alten, steil aufgerichteten Schiefern gebildet ist. Daher
liegen die landschaftlich schönen Partien aus der Südseite
der Straße. Hier sinkt das Thal ties unter die Höhe der-
selben hinab und man sieht über die schönsten Wiesengründe,
über ein wechselndes Hügelland hin, welches nach Westen
höher ansteigt, stets aber aufs Herrlichste von dem dunkel-
ernsten Climont überragt wird. Es ist dieser kleine Hügel-
zng der Honil, der zwar vom Climont durch ein ziemlich
tieses Thal getrennt ist, dennoch aber als die Vorberge des-
selben aufgefaßt werden kann, da er aus demselben Material
wie der Grundsockel des Climont, aus den schon erwähnten
Schiefern gebildet uud ihm ferner nach jenem Hauptberge
hin einige kleine stumpf-kegelförmige Gipfel aufgesetzt sind,
welche denselben gleichsam vorbilden, indem sie ebenfalls auf
ihrer Schieferuuterlage einen Kopf von Rothliegendem, zum
Theil auch von Buntsandstein tragen. Die Lage des Ho-
nils, der in zwei Arme, beide ostwestlich gerichtet, zerfällt,
ist sehr merkwürdig; er ist eingeschoben, wenn wir Climont,
und die Bodenschwelle, welche Labattenx und Voyemont
sowie nordwärts den Hügel La Fraize trägt, mit zu ihm
rechnen, zwischen die drei Hanpttheile der Vogesen, die hier
sich nähern, ohne sich zu berühren. Das Weiler Thal und
seine Straße sahen wir nach Westen zu fortwährend an-
steigen: es steigt an zu jeuer Bodenerhebung, welche die
genannten Berge trägt und die drei Vogesentheile, nament-
lich aber die Südvogesen und das Hochfeld, zugleich geolo-
gifch trennt und orographifch verbindet. Ihre größte
Höhe hat sie nördlich vom Climont, wo sie bis zn 597 in
aufsteigt, und diefe Höhe behält sie im Wesentlichen bis nach
Saales (553 m) bei. Sie ist so bedeutend, daß sie zur
Wasserscheide zwischen Gießenbach (Weiler Thal), Arensch
und Fave (Menrthe) wird. So befinden wir uns bei Be-
steigung des Climont auf einem Terrain, welches zwar in
den Vogesen liegt, thatsächlich aber kaum zu ihnen zu ge-
hören scheint und auf keinen Fall zu einem der drei Vogesen-
theile gehört. Die krystallinischen Vogesen schließen südlich
ab ; die nördlichen beginnen erst in ziemlich weiter Entfer-
nnng westwärts; das Hochfeld steigt in isolirter Schroffheit
nördlich auf. Zu welchem dieser Theile also dürfen wir
den Climont, den Honil, das gesammte Weiler Thal rechnen?
Offenbar gehören sie zu keinem derselben; sie stehen durch-
aus für sich und bilden streng genommen einen vierten, völlig
selbständigen Theil des Gebirges. Doch ist wohl zu beach-
ten, daß wenn man die Hauptachse der Südvogesen in die
des Hochfeldes verlängert — und beide liegen durchaus in
derselben Linie —, diese Verlängerung, diese Verbindung
beider Achsen durch jene höchste Bodenerhebung des vierten,
eingeschobenen, vermittelnden Vogesentheiles hindurchgeht,
welche wir nördlich vom Climont sich bis zu 597 in erhe-
beud fanden.
Jedenfalls ist diese Lage des Climont, diese Anordnung
der Verhältnisse eine durchaus bemerkenswerte. Sein Bunt-
sandstein erhebt sich auf einem Sockel von Rothliegendem,
der seinerseits wieder aus den alten Schiefern aufliegt. Das
Rothliegende hat dieselben unzweifelhaft einst ganz bedeckt,
denn es tritt im Westen (La Fraize, Labattenx u. s. w.) uud
auch im Osten des Thales südlich (bis zur hohen Königs-
bürg) und nördlich desselben auf und die einzelnen kleinen
Köpfe, die wir östlich vom Climont auf dem Rücken des
Honil aufragen sahen, sind gleichfalls mit ihm bekrönt,
lieber ihm lag dann wieder als zusammenhängende Decke der
Globus XXXVIII. Nr. 17.
Merkwürdige Vogesenberge. 265
Buntsandstein, den wir von den Bergen westlich von Saales
über den Voyemont und Climont bis zum Attenberg in sehr
bedeutenden Resten finden. Auf dem Altenberg lagert er
unmittelbar auf dem Granit anf.
Alles Uebrige ist weggewaschen und so ist auch das
Weiler Thal, so wie wir es heute haben, wesentlich in Folge
der Erosion entstanden. Dabei ist aber das plötzlich steile
Ansteigen des Hochfeldes und die Art, wie der südliche Grenz-
zug des Thales verläuft, welches beides man sehr deutlich
vom Climont aus sieht, in hohem Grade merkwürdig. Wir
sehen, der Zug kommt von Südsüdwest, genau in derselben
Richtung, in der sodann das Hochfeldmassiv weiter streicht;
er setzt gerade südlich vom Climont beinahe rechtwinklig um,
und bildet nun jenen mauerartigen Grenzwall des Thales,
jenen schroffen Abschluß der Südvogesen, den man von der
Straße des Weiler Thales aus jenseits der Wiesengründe
desselben und hinter den Höhen des Honil steil aufragen
sieht. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, als sei
er gewaltsam aus seiner Richtung umgebogen, ebenso wie
auch das schroffe Ansteigen des Hochfeldes, die starke Empor-
Hebung der Schiefer an seiner Südseite etwas Gewaltsames
hat. Dieselben sind fast senkrecht gestellt, in hohem Maße
durch Druck zerklüftet; während anf ihnen das Rothliegende,
der Buntsandstein als ruhig horizontale Niederschläge abge-
lagert sind. Und so haben wir wohl in dem merkwürdigen
Bau der Wände des Weiler Thales den Beweis, daß Ans-
Waschung nicht allein seine heutige Gestaltung bedingt hat.
Dagegen sind die Thäler, welche den Climont umgeben,
deren östlichstes ihn vom Honil trennt, nur durch Erosion
gebildet. Sie sind tief eingeschnitten; und so scheint der
gewaltige Berg, von der Straße aus gesehen, wie ans der
Tiefe auszusteigen, wodurch sein Anblick besonders schön
wird: man sieht die hell schimmernden Wege in die Wald-
gründe verlaufen, aus welchen die Tannenwände der edel-
geformten Pyramide sich ernst erheben.
Auch die Vegetation ist hier im Thale eine viel eigen-
thümlichere und artenreichere als am Ungersberg und Donon,
der Einfluß der nahen Granitberge läßt sich schon spüren, er zeigt
sich schon in den Umgebungen des Ungersberges, welche durch
mancherlei botanische Seltenheiten (Sedum Cepaea, Digi-
talis lutea u. s. w.) bekannt und interessant sind. Und auch
abgesehen von allen Seltenheiten, wie üppig ist im Weiler-
Thal die Vegetation! Zu ganz besonderm Schmuck gereichen
ihr im Juli zwei Rosenarten, beide weißblühend, die eine
kriechend, mit einzelnen Blüthen, die andere strauchartig, mit
reichen Blüthenbüscheln (Rosa arvensis und stylosa), welche
auch Gärten und Parkanlagen herrlich zieren würden; doch
findet man sie nirgends angepflanzt, obgleich die gärtnerisch
kaum werthvollere Rosa pimpinellifolia fo viel gezogeu
wird.
Der einzige gangbare Weg zur Climonthöhe führt uns
von Süden empor; wir müssen in das Thal, aus welchem
der Berg sich erhebt, hinabsteigen, die Fermes du Climont
berühren nnd dann, nach Umgehung des Berges, ihn von
Süden her besteigen, wo sein Massiv eine breite Ein-
buchtung in Folge eines Erosionsthals zeigt, welches von
seinem Gipsel herabkommt. Der Anstieg des tannenbe-
deckten Berges ist, wie bei den meisten dieser Sandsteinberge,
steil und unbequem. Auch das Gipfelplateau ist bewaldet,
doch hat man von allen Seiten schöne freie Ausblicke
und diese sind bei der centralen Stellung des Berges für
den ganzen Aufbau des Gebirges höchst belehrend. Nach
Westen zu blicken wir tief hinein in das französische Lothrin-
gen und sehen hier zunächst, wie Wellenzüge hinter einander,
jene Buntsandstein-Rücken, welche sich nordöstlich bis zum
Donon Hinerstrecken, bei St. Di« den Ormont mit lang-
34
266 F. A. Ober's Aufenthalt
gestrecktem, vielfach eingeschnittenem Kamm im Vordergrund,
von ihm nordöstlich die Ketten, welche das Brenschthal west-
lich begrenzen; dann hinter ihm die Berge zwischen Rabodean
und Plaine, welche südwärts in zwei Ketten auseinander-
gehen, nordwärts sich zu einem Rucken vereinen, und
hier die größte Höhe und Breite (Grand Brocard 835 m,
St. @rime 860 m) erreichen; hinter diesen den Höhenzug jen-
seits der Plaine, und weiter im Süden andere, minder bedeu-
tende, aber ähnliche Züge. Diese Rücken erblickt man hier
hinter einander: von der schönen Paßhöhe des Col du Bon-
homme sieht man gerade durch die Gebirgsspalte, welche die
Meurthe in das Südwestende derselben eingesägt hat, wie durch
große geöffnete Thore hindurch. Es versteht sich, daß auch diese
Buntsandsteinmassen ursprünglich eine Decke waren, welche
sich bis zum Climont und weiter östlich erstreckte; daß sie aber
durch die Fluß- und Wasserthätigkeit in jene Formen zerlegt
sind, welche wir sehen. Sie haben also bloß den Schein von
Gebirgszügen: in Wahrheit sind sie nur ausgeschnittene
Theile eines Plateaus, deren Gehänge steil, deren Kamm,
abweichend von den sonst ganz gleich gebildeten, aber niedri-
geren und rundlichen Rücken des Nordplateans, oft seltsam
eingerissen erscheint.
Sie leiten nnscrn Blick nach Norden hin, zu den uns
schon bekannten Dononhörnern und den Nordvogesen, aus
denen der Noll nebst Nachbarschaft und einige andere Höhen
aufragen. Das Breuschthal, obwohl es sich theilweise hinter
deu Höhen desChamp du Feu verbirgt, ist deutlich markirt;
von keinem andern Berg läßt sich die Dreitheilnng der Vo-
gesen so klar erkennen, wie vom Climont, wo wir den gan-
zen Höhenrücken des eigentlichen Hochfeldes, zu beiden Sei-
ten desselben seine Ausläufer in das Brenschthal sowohl wie
in die Rheinebene und dicht vor uns, so wie in langer Linie
lf dm Karibischen Inseln.
ostwärts seinen steilen südlichen Abfall klar übersehen. Blicken
wir aber in der Richtung unseres Aufstiegs nach Süden, so
haben wir die Granitwand der Südvogesen vor uns, mit
Höhen von 992 und 852 m, welche im (freilich nicht graniti-
schen) Altenberg mit einer Höhe von 864 m endet. Dieser
Nordabhang, obwohl er in ziemlich breiter Böschung abfällt,
macht doch völlig den Eindruck einer schroffen Meiner, über
welche hin die höheren Südgipfel und Kämme aufragend her-
übersehen, so der, auf welchem die Hohkönigsburg steht, der für
die ganze Formation höchst typisch ist. Zu diesen Temoins
gehören ferner — wir beschränken uns auf das Hochgebirge
und sehen von den Vorbergen der Vogesen ab — die obersten
Höhen des Thännichels, der Hochfels, Rammelstein und die
Höhen südlich bis zum Kalbling; sowie ferner, noch weiter
im Süden, über dem Münsterthal, die beiden Hohnack nebst
dem sich westwärts ziehenden Kühberg, der seinerseits wieder
zwei lange Arme nach Norden streckt, le Rain des Chenes
der französischen Karte. Außerdem noch kleine, an sich höchst
unbedeutende Punkte, wie nordwestlich vom Hohnack der
Noirmont, der Fände, nördlich und beim ersten Blick in der
Aussicht auffallend der Cras bei Urbeis und neben ihm ein
lang nach Osten gezogener Rücken, ferner einzelne kleine
Flecken dicht bei Drei-Achren, wie der Frauenkopf, Belve-
dere u. s. w. Wichtig werden diese kleinen Reste nur, weil
sie sehr deutlich beweisen, daß wirklich dereinst überall
hin das ganze Gebirge mit dem gleichen Sandstein Uber-
lagert war. Südlich vom Münsterthal finden wir in den
deutschen Vogesen den Bnntsandstein nicht mehr; er tritt
erst weit im Süden wieder ans, in Frankreich, bei Belsort
und ans dem Ballon de Servance, welcher dem Elsässer
Belchen gegenüber liegt.
F. A. Ober's Aufenthalt
Nach einem vierwöchentlichen Aufenthalt in dem Berg-
dorfe beschloß Ober, sich für einige Zeit nach der Ostseite
der Insel zu begeben, und dies zwar nicht nur zum Zwecke
zoologischer, sondern mehr noch ethuologischer Forschungen.
Lebt doch auf einer kleinen Strecke der atlantischen Küste
von Dominica und in dem dahinterliegenden Waldlande
der größere Theil des heute noch vorhandenen spärlichen
Ueberrestes der alten caribischen Jnselbevölkerung, die in
mehr als einer Beziehung zn den interessantesten und zu-
gleich uoch immer nicht genügend bekannten Erscheinungen
auf ethnologischem Gebiete gehört. Und da leider mit ziem-
licher Gewißheit angenommen werden muß, daß in nicht
gar vielen Jahren auch die letzten Spuren jener Rothhaut-
bevölkernng von den Inseln verschwunden sein werden, so
darf Ober's Bemühen, noch möglichst viel Material über
Lebensweise, Sitten und vornehmlich über die Sprache des
harmlosen, früher so mächtigen und gesürchteten Volkes zu
sammeln, wohl als ein dankenswerthes bezeichnet werden.
Ueber die ersten Bewohner der Antillen und ihre theil-
weise Verdrängung durch die vom südamerikanischen Konti-
nent kommenden Cariben sagt Oscar Peschel (Völkerkunde,
S. 214): „Die Kleinen und Großen Antillen sowie die
Bahama-Gruppe wareu vor 1492 von einem sanften aber
höchst unkriegerischen Menschenschlag bewohnt, den Herr
den Caribischen Inseln.
vou Martius Taiui genannt hat. Die wenigen erhalte-
nen Reste ihrer Sprache, meistens Ortsnamen, verstatten
keine feste Begründung ihrer Abkunft, doch nimmt man in
neuester Zeit an, daß sie in Verwandtschaft standen mit den
Arowaken Südamerikas, die noch gegenwärtig die Guya-
nas bewohnen. Sie unternahmen keine weiten Seereisen,
höchstens daß die Bewohner im Süden Haitis sich gelegent-
lich nach Jamaica oder die von Jamaica sich gelegentlich nach
Haiti wagten. Von ihren Inseln aber waren sie schon
1492 theilweise durch einen außerordentlich begabten, phy-
sisch und geistig geadelten Menschenstamm, durch die Kari-
ben, verdrängt worden, denen wir ihre völlige Nacktheit, den
Hang zum Seeraub, das Gelüste uach Menschenfleisch und
das Salben ihrer Pfeile mit Gift nicht zu hoch anrechnen
dürfen. Die Jnfelcariben, deren Sprache sich nur als
Mundart von dem Caribischen des Festlandes unterschied,
hatten bereits die sogenannten Kleinen Antillen erobert, die öst-
liche Hälfte von Pnertorico besetzt und erstreckten ihren Men-
schenraub sogar bis nach Haiti, wo einzelne ihrer Abenteu«
rer Reiche gegründet, und ältere Ankömmlinge sich der Land-
schaften am Ostrande bemächtigt hatten." Von der See-
tüchtigkeit, Tapferkeit und Grausamkeit der Jnselcariben
wußten die alten Conquistadores nicht genug zu berichten:
auf ihren aus ausgehöhlten Baumstämmen hergestellten
F. A. Ober's Aufenthalt
Pirogen, die 40 Fuß lang waren und 50 Mann fassen
konnten, unternahmen sie Raubzüge, die sie 150 Leguas weit
ausdehnten. Coluuibus erzählt von einer Insel, auf der
er nur die Weiber der Eingeborenen angetroffen habe, da
sämmtliche Männer unter der Anführung ihres Königs auf
einer Raubfahrt mit zehn Pirogen auswärts gewesen seien;
„diese Pirogen oder Kriegsschiffe aber wurden mit bäum-
wollenen Segeln oder mit Rudern nach dem Takte eines
Vorsingers bewegt."
Die Gewandtheit im Gebrauche ihrer Waffen, die
Sicherheit, mit der ihre vergifteten Pfeile das Ziel erreichten,
die Tapferkeit der Frauen und Kinder, die während der
Piratenzüge der Männer ihre Küsten gegen fremde Ein-
fälle vertheidigten, vor allen Dingen aber der Gebrauch, die
Gefangenen zu verzehren, unterschieden die Cariben wesent-
lich von dem sanften, kindlichen Volke der großen Inseln;
und wenn auch Columbus der Königin Jsabella den Vor-
schlag machte, das furchtbare Volk ganz von der Insel zu
entfernen und als Sklaven in Spanien zu verkaufen, „wo-
durch die friedlichen Inselbewohner von kriegerischen und
unmenschlichen Nachbaren befreit, die königlichen Einkünfte
beträchtlich vermehrt und zahlreiche Seelen dem Verderben
entrissen und mit Gewalt dem Himmel zugeführt werden
könnten," so muß er Wohl ebensowenig wie die späteren
spanischen Eroberer an die Ausführbarkeit dieses Planes
geglaubt haben; denn während die Nachfolger des Columbus
von den friedlichen Bewohnern der großen Inseln mehr als
eine Million vertilgten, vermieden sie, wo es nur irgend an-
ging, eine feindliche Begegnung mit den gefürchteten „Heid-
nischen Kannibalen".
Sehen wir nun, was die vorschreitende Civilisation heute
noch von dem mächtigen Volke ans den Inseln übrig gelas-
sen und was Ober an Notizen über Lebensweise, Sitten
und Sprache der Juselcariben gesammelt hat.
Das heutige Caribengebiet auf Dominica erstreckt sich
etwa 3 Miles am Meere entlang zwischen dem Mahoe-
und dem Crayfish-Flusse. Hier wohnen noch etwa zwan-
zig Familien von ganz oder doch beinahe ungemischter
caribischer Race; aus St. Vincent, der einzigen Insel, wo
sich außerdem noch Cariben vorfinden, giebt es nur fünf
oder sechs Familien reinen Blutes, daneben aber zahlreiche
Mischlinge von Cariben und Negern, die gemeinhin auch
als Cariben bezeichnet werden.
Der echte caribische Typus unterscheidet sich von dem
der nordamerikanischen Indianer sowohl durch die hellere
goldbraune Hautfarbe, die zu der Bezeichnung „gelbe In-
dianer" Veranlassung gegeben hat, als auch durch die grö-
ßere Feinheit des üppigen, langen, bläulich schwarzen Haa-
res. Der Schnitt des Gesichtes erinnert in auffallender
Weise an den der mongolischen Race. Die Cariben sind
meist große, stattliche Gestalten, starkgliederig und mit kräs-
tig entwickelter Muskulatur. Leider verliert sich ziemlich
früh schon die Anmuth und Symmetrie ihrer Körperformen
und macht sich bei den Frauen besonders eine Tendenz zur
Korpulenz geltend. Die freie Haltung des Kopfes, des ge-
raden Rückens und der zurückgebogenen Schultern, durch die
sich die jüngeren Leute auszeichnen, dars wohl zum Theil
dem Gebrauche, alle Lasten auf dem Kopfe zu tragen, zu-
geschrieben werden. Die Sitte, die Stirnen der jungen
Kinder künstlich platt zu drücken, die bis zum Ansang unse-
res Jahrhunderts noch unter den Cariben herrschte, ist jetzt
vollständig abgekommen; ebenso, und zwar seit längerer Zeit
schon, der Gebrauch, die Muskelpartien der Arme und Beine
mit starken Baumwollbinden abzuschnüren und sie dadurch zu
unverhältnißmäßiger Stärke anschwellen zu machen. Die-
sen sonderbaren Gebrauch, den die spanischen Eroberer bei
lf den Caribischen Inseln. 267
den Jnselcariben vorfanden, erwähnt Humboldt int Anfange
unseres Jahrhunderts als noch unter den Cariben von Gn-
yana herrschend.
Als Ober nach zweitägigem Marsche durch das Wald-
gebirge sich der Caribeuniederlassung Salibia näherte, sah
er schon von Weitem auf einem das kleine Dorf überra-
geudeu Hügel ein hohes hölzernes Kreuz sich gegen den
Himmel abzeichnen, welches den Kirchhof des heute römisch-
katholischen Volkes bezeichnete. Die Bäume, die an dieser
Stelle gestanden hatten, lagen abgehauen zwischen und über
den Grabhügeln wie Symbole des Todes. Die fünf oder
sechs Hütten, aus denen das Dorf besteht und in deren
einer, leerstehender der Reifende sein Quartier für die näch-
sten Wochen aufschlug, sind niedrig, mit sehr ties herabhän-
genden Dächern von Calumetgras; einige sind an den Sei-
ten offen, andere mit Holzwerk, noch andere mit Matten
aus Wurzeln und Gras verkleidet. Auch die Thüreu be-
stehen meistens aus derartigem Flechtwerk. Neben jeder
Hütte befindet sich das „Kochhaus", meistens nur ein Gras-
dach auf vier niedrigen Pfählen, selten mit vollen Wänden,
in dem auf einigen zusammengestellten Steinen das gewöhn-
lich einzige Kochgeräth der Familie, ein großer eiserner
Topf, steht. Jede Familie hat außer einem kleinen Garten
an ihrer Hütte noch einen sogenannten „Proviantgrund",
weiter landeinwärts in den Bergen, wo Yamswurzeln
(Dioscorea sativa und D. alata), Pataten (Batatas edu-
lis), Kassaven (Jatropha manihot und J. janipha), Ba-
nanen (Musa paradisiaca uud M. sapientum) uud Arnm
(Caladium sagittaefolium) gezogen werden. Da die
Humusschicht ans den felsigen Hügeln nur ziemlich dünn
ist, müssen diese Berggärten alljährlich an einer neuen
Stelle angelegt werden. Von der gedrückten Stellung
der Frauen, den Mißhandlungen, die sie nach einigen
älteren Schriftstellern zu erdulden haben sollten, konnte
Ober nichts wahrnehmen; sowohl bei den Cariben der
Küstendörfer als auch bei den vereinzelt im Walde woh-
nenden schien ein inniges Familienleben zu herrschen, und
die Theiluug der Arbeit zwischen beiden Geschlechtern eine
ziemlich gleichmäßige zu sein. Große Gastfreiheit und
eine zutrauliche Gutmüthigkeit charakterisiren sie alle; nur
iu den Wäldern findet man noch einige, die bei dem Heran-
nahen eines Weißen erschreckt die Flucht ergreifen. Von
den alten Kriegs- oder auch nur den Jagdneigungen
ihrer Vorfahren ist nichts auf sie übergegangen; kaum daß
man noch in einem Dorfe einen Bogen und Pfeile, eine
alte Streitaxt oder Keule vorfindet, die als Andenken an
die Tapferkeit ihrer Voreltern bewahrt werden. Aus frü-
her Zeit aber stammt wahrscheinlich noch eine Fertigkeit,
die sie alle besitzen und die zu ihrer heutigen Art zu feilt
besser paßt: die Kunst, aus Wurzeln, Zweigen und Gras
zierliches Flechtmerk herzustellen. Die caribischen Wasser-
dichten Körbe, die zwischen zwei Lagen von Flechtwerk ein
Futter von übereinandergelegten Palmblättern haben, sind
ein auf den ganzen Antillen vielbegehrter Artikel. Auch
ein Gefäß zum Auspressen und Trocknen der Tapioka,
des aus den Kassaven gewonnenen Mehles, ist erwähnens-
Werth. Es besteht iu einem vier Fuß hohen kegelsör-
migen Korbe aus feinem Flechtwerk, der am obern Rande
etwa 6 Zoll im Durchmesser hat, und so konstrnirt ist,
daß er, wenn man ihn mit Kassavabrei gefüllt und an
der untern Spitze mit einem Steine beschwert aushängt,
einen gleichmäßigen fortwährenden Druck auf die darin ent-
haltene Masse ausübt, deren wässerige Bestandtheile dadurch
schnell ausgepreßt werden. Dieses ebenso einfache als
sinnreiche Geräth ist schon von den Spaniern auf den Ca-
ribischen Inseln im Gebrauche gefunden worden.
34*
268 F. A. Ober's Aufenthalt
Trotzdem die Cariben von Dominica sich zur katholischen
Religion bekennen, mit größter Regelmäßigkeit und oft in
dein unbequemen und entstellenden Schmuck europäischer Klei-
dung die kleine rohgebaute Kapelle besuchen, wenn (einmal
in jedem Monat) ein französischer Geistlicher, der von der
andern Seite der Insel dazu herüberkommt, einen eiligen
oberflächlichen Gottesdienst abhält, lebt noch ein großer
Theil des alten Aberglaubens ihrer Vorfahren in ihnen fort.
Die besten Studien über diesen Gegenstand konnte Ober
an einem jungen Halbcariben anstellen, den er als Diener
engagirt hatte, und der bei den Jagdstreisereien durch den
Wald in Erzählungen von Dschumbis oder bösen Geistern
aller Art, verborgenen Schätzen n. s. w. unerschöpflich war;
dabei war er aber ein anstelliger munterer Bursche und
mit dem scharfen Blicke des Indianers für die kleinsten
Gegenstände der ihn umgebenden Natur begabt, der ihn zu
dem wüuschenswerthesten Begleiter für den Reifenden
machte.
Die Sprache der Cariben auf Dominica ist heute ein
korrumpirtes Französisch, die der St.-Vincent-Cariben da-
gegen ein ebenso verdorbenes und schwer verständliches Eng-
lisch; die letzteren gehören auch zur englischen protestantischen
Kirche. Nur wenige unter den ältesten Leuten haben noch
eine richtige Kenntniß der alten caribischen Sprache, deren
Abstammung und Verwandtschaft lange Zeit ein vielfach
erörtertes philologisches Problem gewesen ist. Eine Bear-
beituug der Studien über das Caribische, die Ober im Ver-
kehr mit einigen jener alten Leute machte, sowie eiue Mitthei-
luug des von ihm gesammelten Vokabulariums dürfen wir
erst in einer spätern Publikation erwarten, einstweilen müssen
wir uns an einigen vorläufigen, freilich interessanten Anden-
tnngen genügen lassen. Durch den Umstand, daß die Cari-
ben von ihren Raubzügen stets neue weibliche Gefangene
heimbrachten (die männlichen wurden getödtet) und mit den-
selben lebten, hat sich wahrscheinlich die seltsame Erschei-
nnng eines gesonderten Männer- und Frauendialektes in
ihrer Sprache ausgebildet; diese Sprachsondernng schreibt
sich sogar sicherlich schon von der Eroberung der Inseln her,
bei der die Cariben die männlichen Einwohner vertilgten,
die Weiber aber, wie die Tradition erzählt, gut behandelten
und heiratheten; die an diese heute noch im Volke lebende
Tradition sich kuüpseude Angabe, daß die Sprache der
Weiber mit der der Arowaken auf dem Kontinent große
Ähnlichkeit habe, bedarf noch der Bestätigung. Bis
zum fünften Jahre sollen bei den alten Cariben die Kna-
ben unter den Frauen geblieben und ihre Sprache gere-
det haben, danach mußten sie die der Männer annehmen.
„Für bestimmte Gegenstände," sagt Ober, „haben sie zwei
ganz verschiedene Worte; in der Konstruktion der Sätze
zeigt sich wohl eine gewisse Analogie, doch sind die Sätze
des männlichen und des weiblichen Dialektes stets in den
Anfangs- oder Endworten von einander verschieden. Fast
als Regel kann aufgestellt werden, daß ein Wort, das bei
dem Manne mit einem B. anlautet, im weiblichen Dialekt
mit einem N. beginnt." Noch eine dritte gleichzeitige
Sprache aber haben die alten Cariben besessen, von der
uns einige Reste erhalten sind: es war dies eine den Kin-
dern und Weibern unverständliche Kriegssprache, in der die
Männer ihre Berathungen abzuhalten pflegten; erst wenn
die Jünglinge einen Beweis ihrer Tapferkeit geleistet hat-
ten, durften sie diefe Geheimsprache erlernen.
Merkwürdig ist das Fehlen von Schimpfworten, verächt-
lichen Ausdrücken und dergleichen in der Caribenfprache.
Der beleidigendste Ausdruck war: „Du bist kein Guter" oder
„Du bist nicht lebhafter als eine Schildkröte"; weniger auf-
fallend ist vielleicht die von Ober angeführte Thatsache, daß
auf den Caribischen Inseln.
sie kein Wort für den Begriff „Tugend" haben. Ober's
Angabe aber, daß sie nicht weiter als bis 20 gezählt hätten,
und dies auch nur vermittelst der Finger und Zehen, be-
ruht wahrscheinlich auf einem Mißverständnis Unter den
Cariben des Festlandes, über deren nahen Znsammenhang
mit den Jnselcariben ja kein Zweifel fein kann (wenn auch
die Abstammung beider vielleicht noch nicht festgestellt ist),
finden wir nämlich folgendes interessante Zahlensystem:
1 — ein Finger; 5 = eine Hand; 10 = zwei Hände;
15 — zwei Hände und ein Fuß; 16 = zwei Hände, ein
Fuß, eiu Finger; 20 — ein Mann; 21 — ein Mann,
ein Finger; 25 — ein Mann, eine Hand; 35 — ein
Mann, zwei Hände, ein Fuß; 40 — zwei Männer, n. s. w.
Wahrscheinlich haben Ober's caribische Gewährsmänner ihm
nur den Anfang dieser Zahlenbezeichnungen mitgetheilt;
denn bei einem Volke, das wie die Jnselcariben durch ihre
Seefahrten eine gewisse Kenntniß der Gestirne, des Zeiten-
Wechsels u. s. w. sich angeeignet hatte (wofür wir in den
Berichten der Spanier unzweifelhafte Zeugnisse vorfinden),
dars ein so mangelhaftes Zahlensystem kaum vorausgesetzt
werden.
Zahlreiche bildliche Ausdrücke finden sich in ihrer
Sprache vor: Für Mond und Monat haben sie zwei
Worte, kä-ti und noo-no, die aber beide anch für beide
Begriffe gelten; für: „Mein Weib" sagen sie „mein
Herz"; für „Knabe" —kleiner Mann; für „irrsinnig"
— ohne Licht; die Finger werden häusig die „Kinder der
Haud", der Regenbogen wird „Gottes Feder" genannt; von
einem verlorengegangenen Dinge sagen sie: „es ist ge-
storben".
Von alten caribischen Bräuchen, die sich bis iu die neue
Zeit hinein erhalten hatten und bei den im Walde wohnenden
Cariben gewiß heute noch vorhanden sind, erwähnt Ober
die Sitte, die Todten in sitzender Stellung zu begraben, das
Gesicht gen Morgen gerichtet, damit sie, wenn der große
Geist sie rufen würde, zum Aufspriugeu bereit seieu. Starb
der Eigeuthümer einer Hütte, so wurde er in der Mitte der-
selben, das Kinn auf die Knie gestützt, begraben; seine
Angehörigen aber bauten sich in geringer Entfernung davon
eine neue Hütte. Die altcaribische Heirathsceremonie war
äußerst einfach, das für einander bestimmte Paar grub ge-
meinschastlich einige Kassavenwurzeln, zerstampfte, wusch
und kochte sie aus, und bereitete aus dem Mehl einen
ziemlich dicken Kuchen. Der ausgekochte Saft wurde
mit Rum gemischt, mit gewissen harzigen Blättern ge-
würzt, und nebst dem Kuchen auf einen Tisch gestellt, um
den sich das zu verheiratende Paar, die Eltern des Mäd-
chens und zwei Zeugen niederlassen mußten. Der Vater
zerschnitt den Kuchen in sechs Stücke, von denen er dem
Bräutigam eines gab, der es in das Getränk tauchte und
dann dem Mädchen überreichte, die es verzehren mußte
und die ihm dafür ein anderes gab, das sie aus der Haud
der Mutter erhalten hatte. Waren diese beiden Theile des
Kuchens verzehrt, so wurde die Ehe als geschlossen betrach-
tet, und nun folgte gewöhnlich ein Festmahl und Trinkgelage,
dessen Kosten der Bräutigam bestreiten mußte.
Der Glaube an Zauberkünste ist unter den heutigen
Cariben noch viel verbreitet; zwar hat die englische Regie-
rnng die Obeah-Priester und -Priesterinnen aufgehoben,
welche Amulete und geheimnißvolle Mittel, und zwar sehr
häufig solche Mittel, die einen Feind oder Nebenbuhler aus
der Welt schafften, zu vergeben hatten. Doch besteht im
Geheimen ihr Einfluß fort; tief im Walde, an einer schwer
zugänglichen Stelle sah Ober selber eine Hütte, in der eine
mächtige und von dem „christlichen" Volke viel besuchte
Obeah-Priesteriu wohnte.
Die Pflege der Kinder in den ersten Lel
Auf Dominica hat man bis jetzt noch keine Zeugen einer
frühern Kulturstufe in Gestalt von Waffen oder häuslichen
Geräthen und Werkzeugen aufgefunden; auf St. Vincent
dagegen sind schon vielfach derartige Gegenstände uud zwar
der rohesten primitiven Art gefunden worden: steinerne
Beile, Aezte, Schlachtbeile, Meißel, Lanzenspitzen n. s. w.,
die man vielleicht eher der Urbevölkerung der Inseln als
den caribischen Eroberern zuschreiben darf.
Auf St. Vincent, Guadeloupe und einigen anderen klei-
nen Inseln finden sich roh in den Felsen gehauene Skulp-
turnt vor, auf der erstgenannten Insel auch ein sogenannter
Opserstein mit eingegrabenen Zeichen uud Rinnen. Auch
die sogenannten Zemi oder kleinen Götzenbilder der Indianer
gehören zu den häusigeren Funden; wenn man auch seit
Kurzem erst dahinter gekommen ist, daß gewisse, immer für
Zemi angesehene kleinere und größere hölzerne Thiergestalten
(Schildkröten und Eidechsen vorzugsweise), deren tief aus-
geschnittene Augenhöhlungen wahrscheinlich mit Edelsteinen
ausgefüllt gewesen waren, und die man auf allen Inseln
in großer Zahl antrifft, keine Zemi, sondern nur Verzierun-
gen an den kunstvoll geschnitzten Sesseln der Indianer ge-
Wesen sind.
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Geschichte
der Jnselcaribcn in den letzten hundert Jahren, so sehen wir
sie um das Jahr 1772 zum erstenmale mit den Englän-
dern im Kampfe, als diese ihnen die besten, bisher von ihnen
innegehabten Ländereien nehmen wollen. Damals waren
sie noch ein kräftiges, tapferes, zahlreiches Volk, und Eng-
lsjahren bei verschiedenen Volksstämmen. 269
land, dem Unruhen in den westindischen Kolonien gerade
zu jener Zeit ungelegen kommen mußten, gab ihnen nach
und beließ sie im Besitze ihrer Landstriche. Sechs Jahre
später aber empörten sich die Cariben, von den Franzosen
von Martinique aufgestachelt, zum zweitemnale; Frankreich
mischte sich hinein und eroberte bei dieser Gelegenheit die
Insel St. Vincent. Als dieselbe aber nach wenigen Jahren
wieder in den Besitz der Engländer überging, verfuhren diese
nicht gerade glimpflich mit der caribischen Bevölkerung, und
der in Folge dessen wachsende Haß der Cariben gegen die
anmaßenden Bedrücker kam schließlich im Jahre 1795 zu
einem neuen furchtbaren Ausbruch. Anderthalb Jahre lang
dauerte auf dem kleinen Jnselterrain der Krieg der Jndia-
ner gegen die englischen Truppen. Er endete, trotz der ans
Wunderbare grenzenden Tapferkeit und Kriegskunst der Ca-
riben, wie er ja nicht anders enden konnte, mit ihrer Ver-
nichtnng. Die kleinen Reste des caribischen Volkes von
St. Vincent wurden zunächst nach der Insel Ruatan trans-
portirt; im Jahre 1805 zurückberufen, erhielten sie neben
großmüthiger Verzeihung ihrer „Vergehungen" einen Land-
strich von 250 Acres zugewiesen, den die Kolonialregierung
für ihre Zuckerrohrpflanzungen nicht verwerthen konnte.
Hier ließen sich jedoch vorzugsweise die sogenannten „schwar-
zen Cariben", die Mischlingsrace, die bei den Engländern
immer in größerer Gunst gestanden hatten, nieder; die we-
nigen reincaribischen Familien nahmen an der Ostküste der
Insel kleine Ländereien von der Regierung in Pacht.
Die Pflege der Kinder in den ersten Lebensjahren bei verschiedenen
Volksstäimnen.
ii.
Die Tataren, Kurtinen und Armenier des Kreises
Scharuro-Daralagesk (Gouv. Eriwan)*).
Unmittelbar nach der Geburt wird dem Kinde die Nabel-
schnür mit einem wollenen, baumwollenen oder seidenen Faden
unterbunden, dann wird die Nabelschnur durchschnitten,
ohne abzuwarten ob die Nachgeburt schon herausgekommen
ist oder nicht. Das Durchschneiden wird bei den Tataren
und Kurtinen mit einem gewöhnlichen oder einem Rasir-
messer, bei den Armeniern mit einer Schern vollzogen.
Dabei halten die Armenier unter die Nabelschnur ein Stück
Brot oder eine Münze, die Kurtinen dagegen ein Stück ge-
trockneten Kuhmist — das geschieht, damit das Kind wäh-
rend seines Lebens stets vom Glück begleitet sei.
Dann wird bei allen drei Völkerstämmen die ganze
Körperoberfläche des Kindes mit feingestoßenem Kochsalz
bestreut, vor allen die Falten und Vertiefungen der Achsel-
grübe, Kniekehle, Dammgegend u. s. w. Das bestreute Kind
wird dann in alte Lappen gehüllt und neben seine Mutter-
gelagert. Nachdem das Kind zwei bis drei Stunden, bei
den Armeniern wohl noch länger, in Salz gelegen, wird es
in reinem, gewärmtem Wasser gebadet; mitunter mit An-
i) Nach dem Russischen von Garril Oganisjanz (Kawkas
1879, Nro. 54, 55 und 58).
Wendung von Seife. Bei einzelneu armenischen Familien
wird statt des Bestreuens mit Salz ein einfaches Bad in
Salzwasser gebraucht.
Das Bestreuen mit Salz, das Baden, vollzieht die Orts-
Hebamme, welche unumschränkt in der Wochenstube regiert.
Unmittelbar nach dem Bade sährt bei den Armeniern die
Hebamme mit der mit gepulvertem Kochsalz oder Zucker
bestreuten Spitze des rechten Zeigesingers dem Kinde in den
Mund und drückt die Zunge nach oben — damit das Kind
die Mutterbrust gut nehme. Bei den Tataren und Knrti-
nen geschieht dies unmittelbar vor dem Einflößen der ersten
Nahrung , bei den Kurtinen wird der einzuführende Finger
mit einer Salbe ans Butter und Zucker bestrichen, bei den
Tataren wird der Finger ganz rem eingeführt.
Bei den Armeniern wird das Neugeborene nur etwa
5 bis 6 bis 7 Tage oder länger regelmäßig täglich einmal
gebadet bis zur Taufe, nach welcher das Baden drei Tage
unterbleibt; dann werden zuerst mit Wasser die mit heiligem
Salböl bestrichenen Körpertheile abgewaschen und jetzt beginnt
wieder das regelmäßige Baden drei bis vier Mal in der Woche.
Bei den Kurtinen wird das Neugeborene bis zum vierzigsten
Tage nach der Geburt täglich ein Mal gebadet, später aber
nur ein Mal in der Woche uud zwar am Freitag. Bei den
Tataren werden außer dem einmaligen Baden bei der Ge-
bnrt die kleinen Kinder niemals regelmäßig gebadet, sondern
nur gelegentlich gewaschen, wenn sie sich beschmutzt haben.
270 Die Pflege der Kinder.in den ersten Lekn
Nach dem jedesmaligen Bad werden bei den Armeniern
die Kinder an den Körperfalten, am Halse, hinter den Ohren
mit feingestoßener, trockener Thonerde bestreut, mitunter mit
einem Gemisch aus Thonerde und Brausethon (feste Letten),
welcher letztere vielfach im gewöhnlichen Leben statt der Seife
benutzt wird. Bei den Tataren bestreut man die betres-
senden Körperstellen mit Fett, Butter oder nimmt Ziegel-
mehl oder gebrannte Thonerde. Bei den Kurtinen spritzt
die Mutter etwas Milch auf jene leicht sich röthenden Stel-
len und streut dann auch gebrannte Thonerde darauf.
Damit der Nabel sich nicht entzünde, legen die Tataren
und Kurtinen als heilendes und erweichendes Mittel Kui-
mach auf, einen aus Weizenmehl und Butter dick gekochten
Brei, welcher der Wöchnerin Tags nach der Entbindung
zum Essen gegeben wird und eine Zeitlang ihre ausschließ-
liche Kost bildet.
Eine eigenthümliche Sitte, welche nur die Tataren üben,
ist das Schwarz färben der Augenlidränder und der
Wimpern. Im Verlauf der ersten 40 Lebenstage bestreichen
sie alle 2 bis 3 Tage den Neugeborenen die Ränder der
Augenlider mit einem in schwarze Farbe getauchten Stift.
Die Farbe heißt „Sjurma" und ist nichts weiter als Nnß,
welcher in besonderer Weise gewonnen wird. Ans eine
irdene Schale wird Ricinnsöl gegossen, ein Docht hinein-
gesteckt und angezüudet; diese breunende Lampe wird in eine
Grube gethan und mit einem kupfernen Teller oder einer
reinen eisernen Schaufel bedeckt. Der au der Schaufel oder
dem Teller sich niederschlagende Nuß ist aber „Sjurma
Wohlhabende Leute nehmen wohl auch Gänse- oder Hühner-
fett und einen Porcellanteller zum Zudecken der Lampe.
Das Färben soll die Augen schwarz, kräftig und weitsichtig
machen, erzeugt aber oft Katarrhe der Bindehaut.
Sowohl bei Tataren wie bei Kurt inen wird den
Mädchen wie den Knaben nach beendigtem ersten Lebensjahre
das Haupthaar abrasirt; bei den Knaben geschieht es von
nun ab regelmäßig alle 15 bis 20 Tage, bei den Mädchen
nur drei Mal und dann nicht mehr. Auch bei den Arme-
niern findet sich dieser Gebrauch, doch rasireu sie die kleinen
ein- oder zweijährigen Mädchen nur ein Mal, die älte-
ren Knaben mehrere Male, aber mit langen Pausen;
das geschieht, weil die ersten Haare auf dem Hanpt des
Kindes als unrein gelten. Damit den kleinen Mädchen
die Haare recht gut und schön wachsen, bedeckt man ihnen
den Kopf auf 24 Stuudeu mit fettem Schafmist.
In Bezug auf die Kleidung der Neugeborenen ist nicht
viel zu erzählen. Bei den Armeniern wird das Kind bis
zur Taufe in Lappen gewickelt, dann nach der Taufe erhält
es ein Hemd ans Baumwollenzeng uud später ein wattirtes
Jäckchen, „Archalnk". Um den Kopf wird ein Tuch ge-
schlagen. Die Tataren und Kurtinen geben dem Kinde
unmittelbar uach der Taufe ein Hemd und ziehen eine Jacke
ohne Aermel, eine Art Weste, „Onnjnk", darüber. Auf die
große Fontanelle des Kopfes legen sie ein Stück Baumwollen-
zeug, decken ein weißes Tuch darüber uud setzen dem Kinde
noch ein Käppchen aus, welches sie mit den unter dem Kinn
gekreuzten uud nach oben zum Scheitel hinaufgeschlageueu
Enden des Tuches befestigen. Die untere Körperhälfte und
die Beine bleiben in dem ersten Lebensjahre stets frei.
Das Wickeln uud Windeln des Neugeborenen zerfällt
bei den Armeniern in zwei durch die Taufe von einander
getrennte verschiedene Perioden. Nach dem ersten Bad wird
das Kind in reine Lappen gehüllt; dabei beginnt man mit
den Beinen, streckt dieselben und wickelt sie ein, dann erst
wird der Leib und die an die Brust gelegten Hände einge-
wickelt. Der Kopf wird mit einem Tnch bedeckt, dessen
beide Enden von hinten durch die Achselhöhlen durchgezogen
Sjahren bei verschiedenen Volksstämmen.
und auf der Brust gekreuzt werden. So liegt das Kind
auf dem Lager der Mutter bis zur Taufe, nach welcher es
seine eigene Wiege bekommt.
Bei den Tataren und den Kurt inen wird in folgen-
der Weise verfahren: Die Kinder werden sehr sorgfältig
eingewickelt, indem man ebenfalls von unten anfängt uud
nach oben weiter fortschreitet; man benutzt dazu Tücher oder
Lappen, welche durch Schnüre oder Binden znsaiumengehal-
teu werden. Auf den Kopf setzt man dem Kinde eine Art
Mütze oder Käppchen. Nach Verlauf von 40 Tagen wird
erst der rechte, dann der linke Arm drei Tage lang nicht
mehr eingewickelt, dann bleiben endlich beide nngewickelt.
Das Kind liegt stets auf dem Lager der Mutter; es kommt
daher auch nicht selten vor, daß die Mutter ihr Kind er-
drückt. Wiegen werden nicht gebraucht, doch kommt das
Kind bei den Tataren mitunter, bei den Kurt inen am
Tage stets in den sogenannten „Tfchotfch".
Eine besondere Wichtigkeit wird dem „Richten der
Glieder" beigelegt, man meint dadurch schöne Körperfor-
men, Festigkeit und regelmäßige Entwicklung der Glieder
zu erzielen. Bei den Armeniern wird diese Prozedur vom
15. Lebenstage an jedes Mal nach oder beim Baden von
der Hebamme geübt. Die Hebamme streicht mit der Hand
die Schultergegend, zieht an den Beiueu und Armen, drückt
mit den Fingern jedes einzelne Gelenk derselben; hebt uud
zieht den Kops, um den Hals zu verlängern, drückt mit den
Fingern die Ohrmuscheln an den Schädel. Um dem Kopf
die gewünschte Form zu geben, unterstützt sie mit der linken
Hand deu Unterkiefer und führt die rechte Hand mit vor-
sichtigem aber anhaltendem Drücken vom Nacken über den
Scheitel nach vorn. An einigen Orten wird — nach been-
digtem Bad — das Kind mit einer Hand an den Füßchen ge-
halten und mit nach unten gekehrtem Kopf zweimal wie ein
Pendel geschwenkt; dann wird das Kind wieder umgekehrt,
die linke Haud stützt deu Unterkiefer, die rechte den Nacken,
um deu Kopf zu hatten, und nun wird das Kind abermals
zwei Mal geschwenkt. Schließlich wird die Nase seitlich
durch Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt und die
Stirn und Augenbrauen mit der Innenfläche der Hand ge-
glättet. Aehnliche Manipulationen, mit geringen Abwei-
chnngen, werden von den Tataren und Kurtinen ausgeübt.
Die Armenier benutzen für das getaufte Kind eine voll-
ständige S ch a u k e l w i e g e: einen kleinen etwa 1 Arschin 5 bis
6 Werschok (circa 1 Meter) langen, ]/2 Arschin (0,35 Meter)
hohen uud breiten Kasten, an dessen unterer Fläche, statt der
Füße, halbkreisförmige Bretter befestigt sind. Am Kopfe
und Fußende der Wiege sind hölzerne Bügel angebracht,
welche durch einen der Länge nach verlaufenden Stab ver-
buuden sind. An diesem Stab kann die Wiege leicht hin
und her getragen werden; an denselben hängt man auch
allerlei Spielsachen, Muscheln, Knochen u. s. w., zur Be-
schäftiguug für das in der Wiege liegende Kind. An diesen
Stab stützt sich die Mutter, wenn sie dem Kinde die Brust
reicht, wobei das Kind in der Wiege liegen bleibt. Am
Boden der Wiege befindet sich eine weiche mit Schafwolle
gefüllte Matratze, welche mit einem weißen Tuch bedeckt ist;
beide haben in der Mitte eine Oeffnuug, welche einer Oeff-
nnng am Boden der Wiege entspricht, wie das bereits oben
beschrieben x). Sowohl unter den Kopf als unter die Füße
werden besondere kleine Kissen gesteckt, worauf zwei Tücher,
eines für die obere, das andere für die untere Hälfte des
Bettes bestimmt, daraufgedeckt werden. Ist das Bettchen
gemacht, so wird das Kind hineingelegt, das betreffende Rohr
in Ordnung gebracht und das Kind mit den bereit liegenden
i) Die Einrichtung mit der Röhre ist dieselbe.
Die Pflege der Kinder in den ersten Lel
Tüchern zugedeckt. Nun wird das Kind durch zwei Binden,
welche quer, die eine über die Brust und den Bauch, die
andere über die Beine geschlungen werden, an die Wiege be-
festigt, so daß es unbeweglich darin liegt, jedoch mit freien
Armen und Füßen. Beim Stillen wird das Kind nicht
aus seinen Banden befreit, sondern die Mutter kniet nieder
und reicht ihm so ihre Brust; dabei ereignet es sich wohl,
daß des Nachts die Mutter bei diesem Geschäft einschläft
und mit ihrer schweren Brust Mund und Nase des Kindes
vollkommen verschließt; beim Erwachen findet sie ihr Kind
erstickt.
Außerdem wird vielfach — auf dem Felde, im Freien —
der schon genannte Tschotsch (armenisch) in Anwendung
gezogen. Der vom Verfasser sehr ausführlich beschriebene
„Tschotsch" ist aber nichts anderes als eine improvisirte
Hängematte, zu welcher ein Tuch, ein beliebiges Stück Zeug
oder ein weites Gewand genommen wird; man befestigt aber
nicht die Enden der Hängematte selbst an zwei Bäume oder
eingesteckte Pfähle, sondern hängt sie mittelst zweier langer
Stricke auf. Zur bessern und bequemern Lagerung der
Kinder wird mitunter wohl eine kleine Matratze in die
Hängematte gelegt. Das Kind liegt im Allgemeinen so be-
quemer als iu der Wiege, deshalb pflegt man bei Erkran-
kungen häufig die Hängematte zu benutzen.
Bei den Tataren ist, wie schon bemerkt, keine Wiege im
Gebrauch, sondern des Tags über liegen die Kinder in der
Hängematte, welche auf Tatarisch „Ncuun" heißt, und
des Nachts im Bette der Mutter.
Die Kurtinen benutzen keine Wiegen und nur selten
die Hängematte. Die Frau bindet sich das eingewickelte
Kind mittelst eines großen Tuches auf den Rücken, und
geht so ihrer Tagesarbeit nach. Beim Nomadisiren werden
die Kinder iu Säcke gesteckt, welche die Mutter oft paarweise
vor sich aufs Pferd hängt; es sieht sehr merkwürdig aus,
wenn so vor der Mutter am Halse des Pferdes jederseits
ein Kinderkopf aus dem Sacke hervorschaut. Solche Säcke
zur Ausbewahrung der Kinder sind so üblich, daß sie einen
unumgänglichen Bestandtheil der Mitgift bilden. Iu Er«
mangelung solcher besondern „Kindersäcke" bedenkt sich die
Fr'an nicht lange, nimmt ein Paar ihrer weiten Hosen, bindet
dieselben unten zu, steckt oben je eiu Kiud in eine Hose und
hängt das Paar dem Pferde über. Die Kurtinen-Weiber
sind auch sonst an ein sehr einfaches Verfahren gewöhnt:
spürt ein Weib beim Wandern die Geburt nahen, so bleibt
es etwas am Wege zurück, wartet ihre Niederkunft ab, nimmt
ihr Neugeborenes und schließt sich bald den anderen wieder an.
Bei den Armeniern erhält das Kind 3 bis 4 Stunden
nach der Geburt schon die Brust, doch nicht die der eigenen
Mutter, sondern einer andern Frau, erst nach drei Tagen
beginnt die Mutter das eigene Kind zu stillen. Nach 3 bis
4 Monaten reicht man dem Kinde zur Muttermilch schou
andere Nahrung. Bei Mangel an Muttermilch giebt man
Kuhmilch mit Zucker oder gewöhnlich einen dicken Brei ans
Kuhmilch und dem aus den Früchten von Elaeagnon hor-
tense bereiteten Mehl (die Früchte werden Pschat genannt).
Bei den Tataren giebt man den Neugeborenen, in Ermange-
lung vou Muttermilch, eine Mischung von Butter und Zucker
und später ebenfalls Pschat-Brei. Sehr gebräuchlich ist
es während der ersten sechs Monate den Neugeborenen vom
15. Tage an, entweder täglich oder alle drei Tage etwas
Mohnsaft (Chasch-chasch) einzuflößen. Man bereitet sich
diesen Saft durch Auspressen der Mohnköpfe unter Zusatz
von etwas Muttermilch und Zucker. Bei den Armeniern
wird der Mohnsaft nur ausnahmsweise zum Einschläfern
benutzt. Bei den Tataren sind kleine Küchelchen im Ge-
brauch, welche ans Persien eingeführt werden und auf Per-
lsjahren bei verschiedenen Volksstümmen. 271
sisch Chamra - banausch heißen; die Küchelchen sind hell-
braun, «1 bis iy2 Linien dick und haben einen Durchmesser
von 1 bis iy2 Werschok; sie bestehen aus Stärkemehl,
Zucker und einem Aufguß aus Stiefmütterchen. Man giebt
dem Kinde entweder die Küchelchen direkt zum Saugen oder
man macht daraus mit Butter oder mit Muttermilch eiuen
Brei. Durch den Genuß dieser Nahrung sollen die Kinder
kräftig werden und ein gesundes Aussehen bekommen. Als
Abführmittel wird der Saft aus den Früchten der Cassie
fistula gebraucht, welche gleichfalls aus Persieu eingeführt
werden. Die Kurtinen verfahren wie die Armenier und
Tataren, nur sind ihnen alle Surrogate — abgesehen von
der Kuhmilch — vollkommen fremd.
Die Kinder werden ein oder zwei Jahre lang gestillt
und dann ganz allmälig entwöhnt; um das zu erreichen,
schmiereu die Mütter Kuhmist. Theer oder einen Aufguß
von bitteren Kräutern auf die Brust.
Im sechsten Lebensmonat werden bei allen drei Volks-
stämmen die Versuche gemacht, das Kind sitzen zu lasse»;
im 7. bis 8. Lebensmonate läßt man die Kinder kriechen
und im 10. bis 12. Lebensmonate lehrt man sie gehen.
Man benutzt dazu hier und da eine besondere Vorrichtung,
welche aus Armenisch „Tschrik" oder „Tschor" genannt
wird. Ein viereckiger senkrecht stehender Rahmen wird mit
seinem untern Rand anf zwei Räder gesetzt; von der Mitte
der durch beide Räder gehenden Achse läuft ein nnpaarer
Stab aus, an welchem ein drittes Rad befestigt ist; mit-
unter ist dieser unPaare Stab und der obere Rand des Rah-
mens durch ein besonderes Stäbchen verbunden. Das Kind,
welches mit seinen Händchen den obern Rand des Rahmens
hält, schiebt den Rahmen vor sich her und folgt dann selbst
nach. Bei den Armeniern des Kreises Kasach (Gouverne-
ment Jelifawetpol) giebt es noch eine Art Tschor. An
einem etwa Halbarschin hohen hölzernen unbeweglich in der
Erde steckenden Pfosten läßt man einen horizontal liegenden
gleichfalls x/2 Arschin langen Stab sich drehen. Das Kind,
welches diesen horizontalen Stab erfaßt, kann sich nun mit
ihm um den senkrechten Pfosten herumdrehen.
Die im Knban-Distrikt lebenden Armenier, welche
Armawiren^) oder Armawirzen heißen, haben einige
Eigenthümlichkeit, wodurch sie sich von deil anderen Arme-
niern unterscheiden. Die kleinen Kinder werden nur iu den
drei ersten Lebenswochen täglich gebadet, später nicht mehr.
Das Einsalzen der neugeborenen Kinder findet nicht statt,
man nennt die Armawirzen deshalb anch „uugesalzeue
Armenier". Ein Hemd wird dem Kinde erst nach der
Taufe angezogen. Wenn das Kind zum ersten Mal in die
Wiege gelegt wird, so legt man anf 5 bis 10 Minuten eine
Katze dazu, damit das Kind so sanft (?) wie eine Katze
werde; dann wird das Kind erst mittelst der Wickelbänder
an der Wiege befestigt. Das Wickeln dauert ungebührlich
lange, 2 bis 3 Jahre. Ein „Richten der Glieder" findet
nicht statt. Die benutzten Wiegen sind gewöhnliche Schaukel-
wiegen wie die beschriebenen. In den ersten 3 bis 7 Ta-
gen stillt die Mutter selten ihr eigenes Kind, gewöhnlich
irgend eine andere Frau. Es soll vorkommen, daß die
Großmutter, eine vielleicht bald 50jährige Frau, das Neu-
geborene zu sich nimmt, und um der Tochter Ruhe zu schaf-
feu, dem Kinde die Brnst reicht und daß dann wirklich sich
Milchsecretion einstellt, so daß die Großmutter ihre Enkel
stillen kann. Im Allgemeinen werden die Kinder sehr lange
gestillt, 5 bis 7 Jahre bis zu einer neuen Schwangerschaft.
Man zeigte dem Berichterstatter einen Knaben von 6 bis 7
x) Kawkas 1879, Nro. C>2, von S. Sch—t.
272 Aus allen
Jahren, welcher schon die Schnle besuchte, aber trotzdem noch
an der Mutterbrust trank.
Bei der Geburt wenden die Hebammen sonderbare
Mittel an; um Wehen zn erregen, geben sieder Frau Was-
Erdtheilen.
ser zu trinken, mit welchem ein Säbel abgespült wurde.
Um die Wehen zn verstärken, muß die Frau ihren Haar-
zops in den Mund stecken oder in eine leere Flasche hinein-
blasen.
Ans allen Erdtheilen.
Europa.
— Die „A. Z." hat den seltenen Fall eines Kultur-
sortschrittes in der Türkei zn verzeichnen: die Eröffnung
eines Museums sürAutiken im Porcellau- oder Tschinli-
Köschk in Konstantinopel, dessen Herstellung der unermüd-
lichen Fürsorge des Dr. Dethier zu danken ist. Das Mu-
seum umfaßt Reste der assyrischen, babylonischen, syrischen,
hellenischen, byzantinischen und selbst himjaritischen Kultur;
ob es aber dem Publikum geöffnet sein wird, ist noch frag-
lieh; die wissenschaftliche Arbeit in demselben ist einstweilen
nicht gestattet.
— Die Donau bei Galatz in 45"26' nördl. Br. ist
in den 43 Jahren von 1337 bis 1379 im December 13 mal,
im Januar 16 mal nnd im Februar 5 mal zugefroren
gewesen, und zwar am frühesten im Winter von 1862 bis
1363, am spätesten in den Wintern von 1857 und 1871; die
geringste Anzahl der Tage (13) , an denen die Donau zuge-
froren gewesen ist, traf ebenfalls in den Winter 1871, die
größte Anzahl (94) in den Winter 1841. Im Durchschnitt
friert die Donau in den ersten zehn Tagen desJanuar
zu und die durchschnittliche Dauer des Zugefrorenseins ist
48 Tage. In neun Wintern ist die Donau gar nicht zuge-
froren gewesen, nämlich in den Wintern von 1843, 1346,
1852, 1853, 1854, 1360, 1367, 1373 und 1877. Das Auf-
thanen der Donau erfolgte in der Zeit von 1337 bis 1879
3 mal im Januar, 16 mal im Febrnar und 15 mal im März,
am frühesten im Winter von 1866, am spätesten im Winter
von 1841. Die durchschnittliche Zeit des Ansthanens fällt
auf die letzten 10 Tage des Februar. Zum Vergleiche
hiermit geben die „Annalen der Hydrographie tc." (VII, IX,
S. 476) für die Wolga bei Astrachan (46" 21' nördl. Br.,
also noch nicht einmal 1° nördlicher, als Galatz) nach den
Berechnungen von Dr. A. Wojeikow die Durchschnittswerte
derselben Phasen für die Jahre 1830 bis 1867, nämlich:
Mittleres Datum des Zufrierens der Wolga bei Astrachan
16. December — d. h. circa 1 Monat früher, als das der
-Donau bei Galatz — und des Anfthanens den 25. März,
also 1 Monat später, als das der untern Donau.
— Der russische Bergingenieur Samsouow ist mit
einer geologischen Untersuchung des Landes der
Astrachan-Kazaken beaustragt; daneben sollte er sein
Augenmerk darauf richten, ob die Möglichkeit vorhanden sei,
die Ländereien der Kazaken künstlich zu bewässern. Für die
Ländereien im Kreise Tz arew, Gouveruement Astrachan,
ist, wie er festgestellt, eine Bewässerung durch Anlage von
Dämmen zu schaffen; bei den dann besuchten Stanitzen
Saratowskaja und Kamyschinskaja schließt der bergige
Charakter der Gegend eine solche aus. Bei seinen Exkur-
sionen im Gebiet der Kazaken von Kamyschin entdeckte Sam-
sonow das Vorhandensein von Torf und Eisenstein.
(Sarat. Sprawotschn. Listok.)
— Nach einer Veröffentlichung des statistischen Comits
im Gouvernement Astrachan über die Kalmyken be-
deckt die Kalmyken-Steppe 6 900833 Deßjatinen (—1,09 ha)
Land und hat 129 552 Bewohner, 24,6 Proc. der Gesammt-
bevölkernng des Gouvernements. Für die Kalmyken wurde
1849 die erste Schule mit 50 Schülern eröffnet, 1862 kam
eine Abtheilung für Feldscheer-Lehrlinge, 1864 eine solche
für Gymnasiasten hinzu; außerdem wurden 3 Schüler der
Kalmykenschule in die Kreisschule zu Astrachan und 5 in die
Feldscheer-Schnle nach Kazan geschickt. Seit 1864 besteht in
jedem „Ulns" eine Schule für 15 Knaben, seit 1372 auch
für 10 Mädchen. Im Jahre 1363 ward in Astrachan eine
Schule für Kalmykenmädchen mit 20 Schülerinnen eröffnet,
von denen 3 ihre weitere Ausbildung auf dem weiblichen
Gymnasium zu Astrachan fortsetzen. In der Kalmykensteppe
kommt jetzt eine Schule aus 7533 Bewohner oder ein Schüler
auf 703 Kalmyken.
Die astrachanischen Kalmyken leben in 23 002 K ib itken.
Ihr Viehstand betrügt: 47 080 Pferde, 145 069 Stück
Hornvieh, 469 270 gewöhnliche, 1460 feinwollige Schafe,
18 Schweine, 8127 Ziegen und 15 890 Kameele.
Vermis chtes.
— „Natnre" (Nro. 565, S. 393) berichtet über eine
Luftballonfahrt der Herren Perron und Kapitän Gau-
thier von Cherbonrg aus, wobei eine Höhe von 1500 m er-
reicht und fehr interessante Beobachtungen über die Fär-
bnng des Meeres gemacht wurden. Wo das Wasser
tief war, erschien es ganz tintig, und die Tiefencurveu zeig-
ten sich fast so deutlich, wie die äqnidistanten Höhenlinien
auf Generalstabskarten. Schiffe konnte man mit einiger
Mühe sehen, den Rauch von Dampfschiffen aber viel leichter,
als diese selbst.
— Von dem Pferde bestände der Erde entfallen
nach einer Schätzung, welche „The Mail" mittheilt, auf
Oesterreich 1367 000, Ungarn 2179000, Frankreich circa
3 000 000, Rußland 21 470090, Deutschland 3 352 000, Groß-
britannien und Irland 2 255000, Türkei circa 1000 000,
die Vereinigten Staaten 9504 000, die Argentinische Repu-
blik 4000 000, Eanada 2 624000 und Uruguay 1 600000.
— Bis zu welchen Höhen gegenwärtig die Eisen-
bahnen emporsteigen, zeigen folgende Angaben: Die Apen-
ninenbahn erreicht ihren höchsten Punkt bei 617 in Er-
hebuug über den Meeresspiegel; beiderSchwarzwaldbahn
liegt derselbe 850 , bei der über den Semmering 890,
bei der Bahn Poti-Tiflis 975 m über dem Meere. Der
St.-Gotthard-Tuuuel befindet sich in einer Höhe von
1154 m, die Brenn erbahn steigt bis 1367, die Mont-
Cenis-Bahn bis 1333, die North-Pacific-Bahn bis
1652, die Central-Pacific-Bahn bis 2140, die Union-
Pacific-Bahn bis 2513, die über die Anden bis 4769m
Höhe empor. (Registrande des Gr. Generalstabes X.)
Inhalt: Im Innern von Hinterindien. X. (Schluß.) (Mit sechs Abbildungen.) — Prof. Dr. Georg Gerland:
Merkwürdige Vogefenberge. II. Ungersberg. Climont. — F. A. Ober's Aufenthalt auf den Caribischen Inseln. II. —
Die Pflege der Kinder in den ersten Lebensjahren bei verschiedenen Volksstämmen. II. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen:
Europa. — Vermischtes. — (Schluß der Redactiou 23. September 1880.)
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. 22. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
ffa <ßänder-,
Band XXXVIII.
e%.
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v
Jtöl8.
Mit besonderer Herücllsicktigung äer AntKroyologie uns Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
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Panama und Darien.
Nach dem Französischen des Schiffslieutenants A. Reclus.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Die wunderbare Entwickelnng der meisten an den Stillen
Ocean grenzenden Länder Amerikas, die Erschließung Chi-
nas und Japans für den Welthandel, der schnelle Auf-
schwung Australiens erfordern gebieterisch die Eröffnung
eines Seeweges durch die schmale Scheidewand, welche in
Central-Amerika den Atlantischen vom Großen Oceau trennt.
Diese Notwendigkeit war schon lange erkannt, aber keiner der
verschiedenen Pläne sicherte den Schiffen eine freie und nn-
gehinderte Durchfahrt ohne Unterbrechung, da alle Projekte
auf einen Schleusenkanal gerichtet waren, dessen Uebelstände
bekannt genug sind, während es doch klar ist, daß man erst
dann zu diesem Auskunftsmittel greifen darf, wenn die Un-
Möglichkeit eines horizontalen Kanales erwiesen ist.
Im Jahre 1875 gab es auf dem ganzen Isthmus nur
eiue Gegend, welche die amerikanische Expedition unter dem
Kommandanten Selfridge noch nicht vollständig unter-
sucht hatte: das südliche Danen. Verschiedene Nachrichten,
hauptsächlich aber die 1866 erfolgte Erforschung des Paya-
Thales durch Herrn de Lach arme ließen hier eine Plötz-
liche Unterbrechung der Cordillere hoffen, durch die man mit
verhältnißmäßig wenig Kosten unter Benutzung des Atrato
und des Tuyra einen Kanal graben könnte, dessen Eud-
punkte die prächtige Bai von Uraba und der schöne Hasen
von San Miguel sein sollten. Diese Lücke iu den Unter-
suchungen der Amerikaner auszufüllen, beschloß ein Mann,
der sich schon lange mit der interoceanischen Kanalfrage be-
schäftigt und 8 Jahre vorher den Rio Bayano bis zum
Globus XXXVIII. Nr. 18.
Dorfe Pirrea, einem vor ihm noch von keinem Weißen er-
reichten Punkte, erforscht hatte, L. N. B. Wyse. Eine
günstige Gelegenheit bot sich ihm dar: der internationale
geographische Congreß zu Paris 1875. Unter Lesseps'
Vorsitz wurde eiue Jury ernannt, um die beste Linie für
einen Kanal zu bestimmen und die finanzielle Möglichkeit
des Unternehmens zu prüfen. Der Antrag eines aus An-
hängern des Wyse'schen Planes bestehenden Comics, den
Zusammentritt dieser Jury bis uach vollständiger Erforschung
der Linie Paya-Caquirri zu vertagen, wurde angenommen,
und nun schritt man sogleich ans Werk: in nicht ganz einem
Jahre war eine Gesellschaft gebildet, das Kapital aufgebracht,
die Konzession zu einem Kanal von den Vereinigten Staa-
ten von Columbia erlangt und das Erforschungspersonal
vereinigt; durch Wyse's Erfahrung in den Gegenden, denen
die Expedition galt, war es möglich, die nöthigen Jnstrn-
mente, Waffen, Lagergeräthschasten, Lebensmittel für sechs
Monate mit der Schnelligkeit auszuwählen und anzuschaffen,
die erforderlich war, um gleich bei Beginne der trockenen
Jahreszeit nach Danen zu gelangen, der einzigen, in der
ein nicht akklimatifirter Europäer die Mühen eines Aufent-
Haltes in Sumpf und Urwald ertragen kann.
So schiffte sich bereits am 7.November 1876 die Kom-
Mission auf dem „Lafayette" ein, im Ganzen 20 „Pionniere",
von denen sich die meisten erst beim Abfchiedsdiner kennen
lernten, unter ihnen zwei Italiener, Oliviero Bixio und
Gnido Mnsso, die leider ihr Vaterland nicht wiedersehen
35
274
Panama und Danen.
sollten, ferner der Oberwegebaumeister Celler, der Doktor
Vi guier und unser Berichterstatter, der Schiffslieutenant
Armand Reclus. Am 21. bot Guadeloupe seine
bergigen, bis zum Gipfel der imposanten Soufriöre
(1484 m) bewaldeten Massen den Blicken der Reisenden
dar und am folgenden Tage legte man inFort-de-France,
der Hauptstadt vou Martinique, an, um neue Kohlen ein-
zunehmen.
Diese Insel verdient nicht mehr den Namen „Perle der
Antillen": ihr bischen Bedeutung verdankt sie nur noch
wenigen Kaffee- und Zuckerrohrpflanznngen; obgleich ihr
Klima sehr gesund ist und sie leicht die zehnfache Bevölke-
rung haben könnte, vermindert sich dieselbe. Der Wonne
eines dortigen Aufenthaltes thnt allerdings die entsetzliche
Verbreitung des Eckeukopfes, einer der giftigsten Schlangen
der Welt, bedeutenden Abbruch; diese häufig 7 Fuß laugen
Ungeheuer schlafen zwar den Tag über in ihren Löchern,
Nachts aber bedecken sie alle Straßen und wehe dem, den
ihr fast stets tödtlicher Biß erreicht, die Wissenschaft hat
noch kein Gegengift gefunden, und die alten Negerinnen,
denen man Zauberkraft zuschreibt, erhöhen durch ihre Quack-
salbereien nur noch die Qualen des zum Tode verurtheilten
Opfers. Der Stolz des Ortes ist die Savannenpromenade,
unter deren riesigen, duukelbelaubten Sandbüchseubäumeu
man die erfrischende Brise und den entzückenden Blick auf
die Bai genießt; die umgebenden Hügel sind kahl und trau-
rig, die Ebene jedoch, das Thal des Flüßcheus Madame,
Prangt im üppigsten Grün. Zwei Tage später erreichte
man La Guayra, den Hasen von Caracas, dessen weiße
Häuser an den kahlen, steilen Felsen der Sierra einen wenig
verlockenden Anblick gewähren; nach ferneren zwei Tagen
wurde Puerto Cabello besucht, ein wirklicher und schöner
Hafen, dessen Stadt jedoch einen ungesunden nnd ärmlichen
Eindruck macht, dann der Vorhafen des Magdalenenslnsses,
Barrauquilla Sabanilla, berührt, bis endlich, am 21.
November, der „Lafayette" vor Colon oder Aspinwall
vor Anker ging.
Von der hohen See ans giebt es nichts Reizenderes als
Haus in Colon.
den Blick auf die Stadt und die Rhede: links erscheinen die
niedrige Insel Manzanillo und die weißen, von Kokosbän-
men beschatteten Häuser Colons; rings umher ist die Ebene
mit Wäldern bedeckt, welche die Limon-Bai umgürten; rechts
und liuks von dieser steigen in einiger Entfernung die Höhen
von Mindi und Puerto Bello auf, während geradeaus im
bläulichen Hintergrund niedrige Hügel den Rücken bilden,
der die Ebenen der atlantischen Küste von denen der paci-
fischen trennt.
Die Dampfer legen dicht an den den Bahnhof der Eisen-
bahn von Colon nach Panama bildenden Magazinen an, und
viele Reisende verlassen das Schiff nur um sich sofort in
den Waggon zu begeben. Die Stadt, anf der Nord-West -
Spitze der kleinen Korallen-Insel Manzanillo erbaut, zählt
4000 Einwohner in zwei ganz verschiedenen Vierteln: das
eine, welches sich in einer Breite von circa 200 in auf dem
festen nnd trockenen Boden eines Madreporenriffes erhebt,
beherbergt in großen, einstöckigen, mit Ballonen und Veran-
den geschmückten Häusern die aus Agenten, Kaufleuten,
Bahnbeamten u. s. w. bestehende weiße Bevölkerung; dieser
Theil ist gesund und höchst reinlich, gleich hinter ihm beginnt
der Sumpf, in den hinein 2 oder 3 Reihen von Behansnn-
gen parallel der Bahnlinie auf Pfählen oder fragwürdigen
Erdaufschüttungen und außerdem die verschiedenen Dienst-
gebäude, Bahnhof, Magazine, Quais erbaut sind. Die
sogenannte Front Street ist noch leidlich anständig, die an-
deren Straßen aber, deren Hütten ihr Dasein zum Theil
den Brettern alter Seifen-, Cognac-, Wermuthkisten ver-
danken, so daß die sie zusammenhaltenden Nägel und Lianen
der leichtesten Meeresbrise weichen, starren von allem mög-
lichen Schmutz und Unslath, welche die Gefräßigkeit von
Huudeu, Schweinen und — aber leider nur zu felten —
„Galliuazos", d. h. Geiern, den besten Straßenreinigern,
anlocken. Ist es noch nöthig zu bemerken, daß dies das
Negerviertel ist? Zwischen den beiden Theilen sind, um
den Sumpf zu drainiren und die Stadt gesunder zu machen,
zwei große Teiche gegraben, die mit dem Meere in Ver-
bindung stehen und so nicht nur ihr Wasser erneuern, son-
dern auch Alligatoren Zutritt verschaffen, welche sich durch
Verzehren des in den Bassins befindlichen Unrathes höchst
verdient machen.
Am Rande dieser Teiche erhebt sich eine prächtige Bronze-
Panama und Darien.
275
gruppe: Christoph Columbus bringt Amerika seinem Europa
dar; dieses einzige wirkliche Kunstwerk des Isthmus ist ein
Geschenk, welches die Exkaiserin Eugenie einem entfernten
Verwandten, dem General Mos quer a, srüherm Präsiden-
ten der Vereinigten Staaten von Columbia, gemacht hat.
Colon besitzt außerdem eine den Beförderern der Eisenbahn
Aspinwall, Channcey uud Stepheus zu Ehren errich-
tete Säule (von der es aber besser ist ganz zu schweigen)
und eine gothische Kirche für 309 Personen in amerikanisch-
englischem Stil, die sich, so häßlich sie an sich ist, doch in
ihrem braun-rothen Porphyr unter der elenden Umgebung
recht stattlich ausnimmt.
Auf der ganzen Insel giebt es keine Bäume; nur an
der Kirche, dem Bahnhos und dem Leuchtturme hat man
mit Mühe einige Kokos-
Palmen gepflanzt, und aus
dem Sumpfe erhebt sich
das Gerippe eines riesigen
Wurzelbaumes als will-
kommener Ruhesitz sür die
Gallinazos, welche die
Wegereinigung gütigst
übernommen haben. Rund
um die Insel hat die Eisen-
bahngesellschaft eine schöne
Promenade für ihre Beam-
ten angelegt.
Zur Zeit des Goldfie-
bers und vor der Erbau-
ung der Pacisic-Bahn hatte
Colon und seine Eisenbahn
eine ganz andere Bedeutung
als jetzt; der Durchzug war
enorm und die Stadt wurde
der Sammelpunkt von
Diggern, Jndustrierittern,
Abenteurern aller Art, kurz
der ganzen Hefe der weißen,
gelben uud schwarzen Race,
die sich den ausschweifend-
sten Orgien hingab uud
dadurch eine leichte Beute
für das Sumpffieber wurde.
Heute ist das alles an-
ders; Niemand läßt sich
mehr durch die Reize des
Aufenthaltes verlocken, und
statt des weißen und sar-
bigeu Gesindels weist Co-
lon eine ruhige und nicht
weniger moralische Be-
völkeruug auf als jede au-
dere Stadt Amerikas; die Anwesenheit von Frauen uud
Familien hat einen heilsamen Einfluß auf die Sitten und
somit aus den Gefnndheitszustaud ausgeübt: das Fieber
herrscht nicht mehr unumschränkt auf der Insel, sondern er-
reicht nur die Unglücklichen, welche sich dem Trünke, einem
in tropischen Ländern allerdings recht häufigen Laster, hin-
geben.
Da Panama für die Zwecke der Expedition unVergleich-
lich größere Vortheile darbot, so begnügte man sich mit
einem zweitägigen Aufenthalt in Aspinwall und bestieg am
23. November die berühmte interoceanische Eisenbahn.
Beim Austritt aus der Stadt hat man rechts die grü-
nen Gewässer der Limon-Bai, links den Sumpf; auf einem
200 in langen Viadukt überschreitet man den Meeresarm,
Statue des Columbus iu Colon.
welcher die große Bai mit dem Puerto Escondido verbindet,
dessen mit Zwerg-Mauglebäumen bedeckte Jnselchen einem
mit Smaragden besäeten Spiegel gleichen. Nach einem
Kilometer kommt man mitten durch röthliche, nackte Hügel,
deren Einschnitte jedoch eine eben so grandiose, dicht belaubte
uud mit Lianen verwickelte Vegetation zeigen wie der wirk-
liche Wald; eine derselben dient als Kirchhof von Colon.
Mit der Ueberwindung der Loma del Mono, eines Ausläu-
fers der Sierra Qnebrancha, und dem Eintritt in den
Sumpf von Mindi beginnt die Flora üppiger zu werden.
Die Manglebäume wachsen, die Palmen vermehren sich,
lange, zarte Farne geben einen zierlichen Rahmen, Lianen
umstricken die Bäume, weite Flächen siud mit Helikonien be-
deckt, deren enorme rothe Blüthen und mehrere Meter lange
Blätter einen wunderbaren
Anblick gewähren. Stelleu-
weise macht der Wald küust-
licheu Wiesen Platz, auf
denen schönes Vieh weidet,
Rohrhütten tauchen hier
und da auf, deren Bewoh-
ner die Palmen uud Mufa-
ceeu der Gegend ausbeuten:
so die rothen Blütheukolbeu
des Corroso zu Oel, die
Mandeln der Taguapalme
zu Knöpfen, ihren Saft
zu Palmwein, die enormen
Blätter zu Dielen und Ta-
felwerk oder auch zu Säcken
und groben Geweben.
2 oder 3 Meilen von
Colon steigt die Bahn
einige Meter; ein Durch-
blick durch den Wald zeigt
zum ersten Male den Cha-
gres, der hier mit seinen
Mäauderwindungeu deu
Flecken Gatuu umfließt.
Weit und breit bekleidet
hier der Wald die Abhänge
mit seiner grünen Hülle,
nur in der Ebene und auf
niedrigen Hügelchen erblickt
man Savannen, aber auch
noch durch Palmenwälder
unterbrochen, doch nähren
diese wenigstens nicht jene
Legionen von Epiphyten
und Dornen, die ein wah-
rer Fluch für Central- uud
Südamerika siud: mehr
noch als die brennende Sonne, mehr sogar als die heftigen
Fieber stemmen sich die Lianen der Herrschaft des Menschen
auf dem Boden der Tropen entgegen.
Gatuu sowohl wie die übrigen Bahnhöfe sind jetzt gar
nicht mehr von weißen Beamten bewohnt; nur Neger sieht
mau, denen die Pflege der Bahn anvertraut ist. An irgend
einer beliebigen Haltestelle legt der Reisende, der deu Zug
benutzen will, sein Gepäck auf eine Aufschüttung in der Höhe
der Waggons; er besorgt selbst das Signal und der Zug
hält; will er aussteigen, so benachrichtigt er den Zugführer,
der ihn am gewünschten Orte absetzen läßt. So macht die
Gesellschaft bedeutende Ersparnisse an Beamtenpersonal und
der Dienst geht darum nicht schlechter; nie ist ein Unglücks-
fall zu beklagen gewesen. In Colon uud in Panama sind
276
Panama und Danen.
Front Street in Colon.
Kirche und Säule in Colon.
Panama
die Geleise auf offener Straße; drei Glockenschläge ertönen,
bei deren drittem es abgeht; in die langen, an beiden Enden
offenen Wagen steigt ein wer will, erst unterwegs werden
die Fahrscheine nachgesehen; wird Jemand ohne einen solchen
ertappt, so hält der Zug an und setzt den allzu Sparsamen
ab; diesem Mißgeschick aber wird sich nicht leicht Jemand
aussetzen, denn einige 40 km in der Sonnenhitze zu mar-
schirm ist gerade kein Vergnügen, und wenn auch vielleicht
ein Neger auf diese Weise den Vortheil eines gebahnten
Weges durch die Wildniß zu benutzen dächte, wie wollte er
über die Brücken kommen, die zu belegen man natürlich
für Lnxus gehalten und auf deren Querbalken, einige Hnn-
dert an der Zahl und über ein Meter von einander ent-
d Danen. 277
fernt, er also nacheinander springen müßte? Kein Gatter
schützt die Geleise, frei bewegen sich die Herden darauf;
man fährt etwas langsamer, der Pfiff der Lokomotive, an
dessen Verständniß sich der Instinkt des Viehes schnell ge-
wohnt hat, ersucht sie, Platz zu macheu, und was etwa noch
widerspenstig bleibt, wird durch den „Ochsenkäsich", ein
Weidengeflecht in Gestalt einer Pflugschaar, ohne großen
Schaden nach rechts und links befördert. Der schönste und
angenehmste Platz im ganzen Zuge ist beim Zugführer im
Gepäckwagen, aus dessen großen Seiten- und Vorderthüren
man behaglich die Landschaft genießen kann und außerdem
noch auf das einzige Glas und das Eiswasser, welches die
Gesellschaft den Reisenden giebt, den ersten Anspruch hat.
Straße in Chagres.
Hinter Gatun überschreitet die Bahn den Rio gleichen
Namens und gelangt zwischen die Loma del Tigre und del
Lion, zwei ganz steile, mit prachtvollen Bananen bewaldete
Kegel; wieder geht es in eine snmpfige Ebene, aber ohne
Manglebänme, und allmälig machen die Palmen dem Ur-
walde Platz. Zwischen Ahorca Lagarto und Buhio
Sold ado tritt man in eine Schlucht, in der sich der Cha-
gres einen Weg zwischen senkrechte Felsen gebahnt hat; bis
zur Station Bnena Vista folgt man dem Flnsse, 10 Me-
ter hoch über seinen Gewässern, bis man ihn bei Barba-
coas auf einer großen Brücke überschreitet, deren hohe
Wände leider die ganze Aussicht versperren. Mehrere Dör-
ser, deren Einwohner Feldban zu treiben anfangen, fliegen
vorüber, der malerische NioObispo wird zweimal gekreuzt
und eine zweite Lokomotive kommt zn Hülfe, um den
Cerro Cnlebra (den „Natterberg") zu überwinden,
hinter welchem man nun mit Gegendampf die Abdachung
nach dem Stillen Ocean hinabfährt. Erst windet sich die
Straße gesimsartig einige 20m über dem Rio Grande
an dessen steilen Felswänden entlang, dann aber wird der
Blick frei, der Cerro de Ancon zeichnet feine kühnen
Linien anf dem Dunkelblau des Meeres und dem lebhafter»
Azur des Himmels ab und an seinem Fuße dehnt sich P a -
nama hin, welches in seinen grandiosen Ruinen von Wei-
tem den Anblick einer großen Stadt gewährt; rechts werden
das untere Chagres-Thal und die gezackten Spitzen des
Cerro de Cabras sichtbar, und am Horizont entdeckt man
halbverschwommen die Umrisse der Taboga-Jnseln.
wurden auf drei Seiten auf dem Terrain der Ebbe gebaut,
so daß bei der Fluth die Wogen dagegen prallen, und an
jedem Endpunkt erhob sich eine kolossale Bastion gegen den
Ocean. Heute sind die Festungswerke uubewehrt und bau-
fällig, Steine und Balken, von der Brandung unterspült,
von Ranken und Mauerpflanzen zerklüftet, liegen auf dem
Strande umher, den die Ebbe zurückläßt. Die Südost-
Bastion, die noch ziemlich erhalten ist, dient jetzt als Pro-
menade, auf der allabendlich die Kreolen in vollen Zügen
die frische Meeresbrise einathmen und den herrlichen Blick
auf das Panorama der Rhede und ihrer grünschimmernden
Inseln genießen. Die andere Bastion ist vollständig zer-
trümmert, trägt aber noch die geraden, stolzen Mauern des
Klosters San Francisco.
Panama :
Die Niederfahrt führt schnell in eine weite Ebene, in
der nur die lappenblättrige Guagaja gedeiht, daun erscheint
wieder Wald, dessen Charakter aber ein ganz anderer als an
der Ostküste ist, und überall bilden Kaktus mit ihren car-
moisinsarbigen Blüthen undurchdringliche Dickichte. Ein
Pfiff, und der Zug hält auf dem Bahnhofe von Playa
Prieta, dem Theil der Stadt, der gerade im innersten
Winkel des Hafens von Panama liegt.
d Darien. 279
Die Stadt zählt jetzt mit den Vorstädten circa 40 000
Seelen. Nach der Zerstörung des alten Panama durch den
Bukauier Morgan wählte der Statthalter Fernande; de Cor-
dova als Stätte der neuen Gründung eine felsige, leicht zu
verteidigende Halbinsel am Fuße des Cerro Ancon. Der
berühmte Baumeister Don Alsonso de Villa Corta schuf
dort einen Platz, dem an Festigkeit in ganz Südamerika
nur Cartagena gleich steht; mehrere Meter dicke Mauern
Trure du. cheirwrv d&fer cLo Co U)[L-Asrp inwall/ ^
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Karte
des
Isthmus von Panama
mit dem Plan der Eisenbahn und -----
des Kanal-Projektes
Wyse-Reclus.
SIGJYES CONVEMKOTELS ^
280
Die Medschertin - Somali.
Die M e d s ch e
Nach G.
Bereits auf S. 44 dieses Bandes erwähnten wir des
Buches von Georges Rsvoil: „Voyages au Cap des
Aromates", welches sich speciell mit den Medschertin be-
schäftigt. Wir kommen um so lieber darauf zurück, als
Rövoil an dem dort mitgetheilten Berichte des Obersten
Graves-Bey Verschiedenes auszusetzen hat und ihm nament-
lich den Vorwurf macht, den Charakter jener Somali nicht
richtig aufgefaßt zu haben, in welchem ein wesentlicher Zug
die Liebe zur Freiheit und die Furcht vor fremden Unter-
drückern ist. Das Rävoil'fche Buch (Paris, E. Dentn1880)
beschreibt zwei Fahrten nach jenem nordöstlichen Hörne
Afrikas, die eine zu kaufmännischen Zwecken im „Adonis",
welche vom December 1877- bis Mai 1878 dauerte, und
wobei lediglich eine Anzahl Plätze an der Benadir-Küste,
dem nördlichsten Theile der Besitzungen des Sultans von
Zanzibar, sowie an der Südküste des Meerbusens von Aden
berührt wurden. Bald nach seiner Rückkehr nach Frankreich
bot sich ihm wieder eiue Gelegenheit zur Erforschung des
Medfchertin-Landes, die er sofort ergriff. Als er aber in
Bender Meraya landete, machte ihm ein mit den benach-
barten Allnla ausgebrochener Krieg die Erforschung des
Landes unmöglich. Er kam zwar bis nahe an Allula,
bestieg auch den nahen, 1219 m hohen Berg Karoma,
und zog an der Küste nach Westen hin; aber in das Innere
einzudringen gelang ihm nicht und nach dreimonatlichem
Aufenthalte an der Küste kehrte er von Lasgore aus nach
Aden zurück. Zur nähern Kenntniß des Landes hat er
mithin wenig beitragen können; dagegen wohl zu der seiner
Bewohner, unter welchen er ganz allein ein volles Viertel-
jähr zugebracht hat. Was er also über diese mittheilt, ver-
dient als Quelle volle Beachtung; wir geben im Nach-
stehenden auszugsweise das Kapitel wieder, in welchem er
seine Beobachtungen über Land und Volk zusammengefaßt
hat.
Die Medfchurtin-Küste beginnt bei dem kleinen Hafen
Bender Zijada am Meerbusen von Aden und endet beim
Vorgebirge Ras el Kel im Judischen Ocean, jenseit dessen
das Gebiet des Hawea-Stammes beginnt. Im Westen
und Süden sitzen die Tribns der Warsangeli, Ugadin und
Dolbohaut; das von ihnen eingeschlossene Gebiet umsaßt
12000Quadrat-Lieues. Das Medschurtin-Laud zerfällt in
drei Theile: die Küste, wo alle Städte (bender) liegen,
und im Innern ein Gebiet mit dem Hauptorte Mich und
eines mit der Hauptstadt Karkar, beide im Innern des Lan-
des. Karkar liegt nach der Angabe der Eingeborenen am
Fuße eines hohen gleichnamigen Berges mit reicher Vege-
tation, auf dessen Abhänge sich die Nomaden mit ihren
Herden während der Regenzeit zurückziehen.
Die Haupthäfen des Medfchurtin-Landes sind Bender
Gasem (Bossassa), Bender Chor (Bottiala), Bender Me-
raya und Allüla am Golfe von Aden und Haffün am
Indischen Oceane. Dort erhandeln Araber und Banianen
die Landesprodukte. Ein Gouverneur (Kadi), zwei Bei-
sitzer und ein geistlicher Richter verwalten diese Städte im
Namen des Sultans, deren Bevölkerung höchstens 1000
bis 1500 Seelen zählt. Berge in ostwestlicher und südost-
nordwestlicher Richtung und in der Höhe von 500 bis
2000 in wechselnd erfüllen das Land (zunächst wohl nur
tin-Somali.
tevoil.
soweit es dem Golfe von Aden zunächst liegt). Dieselben
bestehen aus Marmor und auf ihnen wachsen die Sträu-
cher, von denen Gummi und Weihrauch gewonnen wird.
Dieselben gedeihen in allen Höhen; bis zu 1200 in hoch
hat sie Rävoil auf dem Dschebel Karoma bei Bender Me-
raja angetroffen. Mitunter begreift man gar nicht, wor-
ans sie ihre Nahrung saugen, aus so kahlen Felsen stehen sie.
Wasserrisse, deren Bett während des größten Theiles
des Jahres trocken liegt, durchfurchen überall das Küsten-
gebiet; außerdem eMiren nur ganz kurze Wasserläufe, deren
Wasser etwa vier bis fünf Seemeilen weit aufwärts
brackisch ist; denn soweit reichen Ebbe und Fluth. An der
Mündung der Schluchten findet sich meist ein großer Tüm-
pel Salzwassers, welcher durch das Durchsickern des Meeres-
wasfers entstanden ist.
In den Bergen des Medschurtiu-Landes kommt Eisen,
Blei und auch Quecksilber vor, letzteres nach Aussage der No-
maden in ziemlich großen Quantitäten. Getreide producirt
das Land nicht. Dagegen ist der antike Name „Land der
Wohlgerüche" wohl begründet; denn es wächst dort nicht
ein Kraut, welches nicht seinen besondern Geruch aus-
strömte. Weihrauch und Gummi gewinnt man aber nur
von den beiden Baumarten Olibanum und Akazie. Zu
Ansang März machen die Nomaden mittels eines Hack-
Messers einen tiefen Einschnitt in die Bäume, zu Ende des
Monats einen zweiten. In den letzten Tagen des Mai hat
dann das ausfließende Gummi und Harz fein größtes Vo-
lumen und Konsistenz gewonnen, und alsdann sammeln
Frauen und Kinder die bessere Qualität desselben in Körbe
ein; die schlechtere bleibt unter den Bäumen liegen.
Neben den Hansthieren, Rindern, Ziegen, Schafen
und Kameeleu, giebt es eine große Menge — Rävoil
schätzt sie ans 500 bis 600 Stück — großer Affen in den
Bergen bei Meraja; ferner Gazellen, Schakale, Hyänen :c.,
sowie eine Art Ratte mit sehr kurzem Leibe und einem
langen, wie ein Schweinsrüssel endigenden Auswüchse ans
der Nase. Man hat über die „Ratte mit dem Rüssel"
gelacht, und doch giebt es keine bessere Bezeichnung für die-
selbe, welche auch an anderen Punkten Afrikas gefunden
worden ist (Macrocelydes Rozetti, Rhyncochion).
Die Somali kennen ihre Geschichte; nach ihrer Heber-
lieferung stammen sie von Shabarti ben Ismail, dem Ab-
kömmling einer edlen Familie von Ashem, der, als er gegen
Empörer zu Felde ziehen wollte, von widrigen Winden an
die afrikanische Küste verschlagen wurde. Dort nahm ihn
ein Fischer aus, dessen Tochter er heirathete. Wenig später
vertrieben seine Nachkommen dann die ursprünglichen Ein-
wohner dieser Küste und machten sich zu alleinigen Herren
des Landes. Es existiren noch in Mekka einige Häuser,
welche die dorthin wallsahrtenden Somali als ihr Eigen-
thnm ausgeben, indem sie behaupten, daß dieselben von
ihren Vorfahren gebaut feien. Mit Stolz behaupten sie,
daß sie einst Gallas gewesen seien, und scheinen ihren ara-
bischen Ursprung nicht einzugestehen. Die Genealogie der
verschiedenen Sultansfamilien, welche bis jetzt über ihr Land
geherrscht haben, ist ihnen sehr gut bekannt.
Der politische Zustand des Landes gleicht durchaus un-
serm einstigen Feudalsysteme. Rsvoil fand auch mit Er-
Die Medsch
staunen Anklänge an die französischen Gesetze vom Veuds-
miaire des Jahres IV, welche die Gemeinden für indivi-
dnelle Bergehen haftbar machen. Jetzt beherrscht ein juu-
ger Sultan, der während seiner Minorennität unter Vor-
niundfchaft steht, das Land; ihm steht ein Rath zur Seite,
dessen sämmtliche Mitglieder seiner Familie angehören.
Seine Unterthanen gehorchen seinem Worte; aber er zwingt
ihnen seinen Willen nicht auf, sondern derselbe wird in all-
gemeinen Versammlungen erklärt, wo jeder das Recht hat,
das Wort zu ergreifen und seine Ansicht auszusprechen;
man hört ihn aufmerksam an und tritt dann in die Be-
rathnng ein.
Vom Sultan hängen die Kadis oder Gouverneure der
Städte ab, deren jeder zwei Räthe und einen religiösen Rich-
ter als Beisitzer neben sich hat. Diese berathen zunächst
die Angelegenheiten ihrer Gemeinde, ehe sie dieselben der
Entscheidung des Ministerraths, wenn man diesen Aus-
druck brauchen darf, unterbreiten.
Die Somali zerfallen in zwei Klassen, die reichen
Kaufleute, welche in den Küstenplätzen Handel treiben, und
die Armen, welche gewöhnlich als Beduinen bezeichnet wer-
den und mit ihren Herden in den Bergen leben. Letztere
sind gewissermaßen die Sklaven der Reichen; sie sammeln
den Gummi und die sonstigen Produkte der Ländereien,
welche jenen gehören. Es existirt dort nämlich ein Grund-
besitz, der für jeden fcharf begrenzt und mit Steuern für den
Sultan belastet ist. Die schwersten Strafen treffen den,
welcher aus fremdem Grunde und Boden beim Einsammeln
jener Produkte betroffen wird.
Alle Städte des Landes gleichen sich einander; es sind
Ansammlungen von Stroh- oder Fellhütten, welche eine
Befestigung aus Piss ganz im Stile unserer alten Burgen
umgeben. Diese Forts find durchaus unsolide; die wölken-
bruchartigen Regengüsse weichen sie auf und bei der dann
fast stets unmittelbar folgenden Hitze bekommen sie Risse
und Sprünge. Sie sind mit allen jenen Vertheidiguugs-
Mitteln ausgestattet, wie sie unsere Burgen zu jener Zeit
besaßen, als noch Lanze, Bogen und Pfeile die einzigen
Augriffswaffen waren. Außer diesen Bauten und den
Moscheen sindet man in den Städten des Medschurtiulaudes
nur noch große Schuppen, in denen der Gummi nach der
Ernte aufbewahrt wird; alle übrigen Häuser, die nicht in
Straßen angeordnet sind, sondern bunt durch einander ste-
hen, wie namentlich in Bender Chor, bestehen, wie gesagt,
aus Holz oder Stroh und Fellen.
Die Waffen des Somali sind Lanze (warmo), Schild
(gaschan), Säbel (belaui), Keule (madag), Bogen und
Pfeile (gaboio) und die Schleuder. Die Kampfordnung
ist folgende: zuvorderst stehen die Lanzenträger, dahinter
die Bogenschützen; die Schleuderer und die wenigen Besitzer
einer Flinte sind als Tirailleurs auf den Flanken vertheilt.
In dieser Aufstellung rücken die beiden feindlichen Heere auf
einander los, und es beginnt das Schießen und Steineschleu-
dern. Sind sie sich einander näher gekommen, so kämpft
man mit den Lanzen, zuerst mit kurzen, die geworfen wer-
den, dann mit längeren, mit welchen man im Nahekampfe
zustößt. So rücken sie immer näher an einander, indem
sie die feindlichen Wurfspeere aussammeln und zurückschleu-
dern. Wenn sie dann nur noch wenige Meter von einander
entfernt sind, stürzen sie auf einander los und fassen sich dann
Mann gegen Mann; dann thueu Schwert und Keule ihre
Schuldigkeit. Für einen am Boden liegenden Feind giebt
es keinen Pardon; aber jede Partei nimmt ihre Todten vom
Schlachtfelde mit sich hinweg.
Glvbus XXXVIII. Nr. 18.
tm-Somali. 281
Was die Steuern anlangt, so zahlt nur der Eigen-
thümer dem Sultan einen Grundzins, der fremde Händler
den „Aschur".
Der Medfchertin-Typus ist sicherlich der reinste von allen
Somali; sie sind gleichsam der wahre Stamm und Grund-
stock der übrigen. Der Somali von reinem Blute, wenn
man diesen Ausdruck brauchen darf, hat eine leicht gebogene
Nase, eine etwas aufgeworfene Lippe, krauses und meist
langes Haar. Er sieht aus wie ein schöner Europäer mit dunk-
lerHaut. Leicht kann man die verschiedenen Kreuzungen mitden
Nachbarvölkern erkennen, z. B. die der Stämme Dolbohante
und Medschurtiu an den krausen, kurzen Haaren, der etwas
abgeplatteten Nase und den wulstigen Lippen; je weiter
südlich, desto mehr treten diese charakteristischen Merkmale
an Nase und Lippen hervor.
Die Medschnrtin sind groß und wohlgestaltet; aber ihr
Körper ist meist mit Narben bedeckt, eine Folge ihres kriege-
rischen Lebens. Wahrhaft imponirend ist ihr Gang voller
Adel und ihre stolze Haltung. Selten sindet man unter
ihnen Krüppel, eiuestheils, weil sie eine rauhe Kindheit
durchmachen müssen, und dann, weil bei ihren erbitterten
Kämpfen kein Quartier gegeben wird. Der Küstenbewoh-
ner ist koket in seiner Tracht; in sein großes, weißes Tuch
gehüllt, das er über den Kopf zieht, Stock oder Lanze in
der Hand steht er herausfordernd da oder wie ein Bild der
Eitelkeit. Der Beduine im Innern des Landes trägt da-
gegen auf seinem Gesicht und an seiner Kleidung die dent-
lichen Spuren seines rauhen, wilden Lebens; aber auch bei
ihm leuchtet der Trotz durch die Lumpen hindurch, die von
dem Erdboden, auf welchem er schläft, die gelbbraune Farbe
angenommen haben.
In Bezug auf Sittlichkeit sind die Medschurtin sehr
streng; beide Geschlechter sind mit größtem Anstände beklei-
bet und behandeln sich gegenseitig mit viel Ehrerbietung und
Achtung. So verrichten in Meraja, an der Nordküste, die
Frauen ihre Abwaschungen in einer Lagune außerhalb des
Dorfes, die Männer in einer andern am entgegengesetzten
Ende des Dorfes.
Der Somali ist von Natur faul; den größten Theil des
Tages verbringt er mit Nichtsthun und murmelt dazu sei-
nen Rosenkranz herunter. Seine Hauptbeschäftigung besteht
in der genauen Erfüllung der mohammedanischen Religions-
Vorschriften, d. h. er besucht täglich fünfmal die Moschee.
Nur wenige bleiben hintereinander bei der Arbeit. Ganz
anders die Frauen. Den ganzen Tag lang flechten sie
Matten oder besorgen den Haushalt, holen Wasser, Holz :c.
herbei. Trotzdem ist ihre Lage viel besser als diejenige der
arabischen Fraueu. Zunächst sind sie die Herrinnen im
Hause; denn wenn auch der Somali in Vielweiberei lebt,
so hat er doch stets nur eine Frau bei sich, unter demselben
Dache. Sodann können sie in voller Freiheit gehen und
kommen, ohne daß sie im Geringsten von ihren Männern
oder Eltern deswegen behelligt werden. So halten sie
denn auch ihre gemeinsamen Plauderstündchen ab, wobei
des Klatschens kein Ende ist; aber in dieser Zeit ruhen
ihre Finger nicht, sondern flechten unaufhörlich an den
Matten.
Sobald der Somali-Knabe entwöhnt ist, kümmert sich
seine Mutter nicht mehr viel um ihn. Sie läßt ihn sich
ruhig im Sande wälzen, wo die Sonne ihre glühenden
Strahlen auf ihn herabsendet, ihn wärmt und kräftigt und
fein Wachsthum beschleunigt. Sobald das Kind lausen
und seine Hände gebrauchen kann, entfaltet es alle Instinkte
seiner Nace; es macht sich kleine Bogen, Pfeile und Lanzen
und baut sich aus einem Brett und einem Fetzen Leinwand
ein kleines Schiff, das es auf dem Wassertümpel am
36
282 F. A. Ober's Aufenthalt
Meeresstrande schwimmen läßt. Der Somaliknabe ist sehr
kriegerischen Geistes, hat stets Zänkereien und zeigt früh-
zeitig seine Abneigung gegen die Kinder der Araber und
Vanianen. Zum Jüngling geworden, greift er zu ernst-
lichen Waffen und seine Spiele werden zu Hebungen,
in denen er seine Kraft und Geschicklichkeit gegen seine
Altersgenossen erprobt. Ohne Sattel und Zügel steigt er
zn Pferde, macht lange Märsche, sucht Strapazen auf, kurz
treibt alles, was ihn zu einem wahrhaften Krieger und
Vertheidiger seines Vaterlandes machen kann. In diesem
Alter ist der Tanz sein Hauptvergnügen.
Die Mädchen leben stets in enger Gemeinschaft mit
ihrer Mutter, nehmen an keiner Festlichkeit Theil und gehen
wenig aus. Von den verheiratheten Frauen unterscheiden
sie sich dadurch, daß sie die Haare fein geflochten und auf
die Schultern herabhängend, und um die Stirn ein rothes
Band tragen. Frauen dagegen tragen ihr Haar gekräuselt,
und zwar in einer am Hinterkopfe befestigten Haube.
Als Schmuck trägt der Somali nur einen Ring und
am Halse ein Amulet, einen Koranvers in einem ledernen
Säckchen, das von zwei Bernsteinkugeln gehalten wird.
Frauen und junge Mädchen tragen silberne Schmucksachen,
welche in höchst merkwürdiger Weise den Einfluß der auti-
ken Welt auf diesen Theil Afrikas beweisen. Dieselben be-
stehen aus deu Ohrgehängen (selangsil) mit der Katena,
welche dieselben, unter dem Kinne durchgehend, verbindet;
dem Kuled, einer andern Art von Ohrgehängen in Form von
Fragezeichen und in eine Birne endigend, welche oben in
der Ohrmuschel befestigt werden, und schließlich dem Ring
(katun). Auch tragen sie Perlen am Halse oder eine große
mit Stückchen Bernstein verzierte Silberplatte. Letzterer
Schmuck hat durchaus arabischen Charakter, während die be-
schriebenen Ohrgehänge vollständig denen gleichen, welche
so häufig bei Ausgrabungen römischer, griechischer und
ägyptischer Monumente gefunden werden. Aber nicht nur
die Geschmeide, sondern auch die Tracht der Fraueu erin-
nert an jene Epoche; man kann nichts Merkwürdigeres sehen,
als eine dieser orientalischen Schönheiten — und Schön-
heiten sind es in der That —, graziös in ihr weißes oder
rothes Gewand gehüllt, das, ans der linken Schulter zusam-
mengehakt, den rechten Arm und Busen frei läßt.
Der Somali ist auf seine Frau eifersüchtig weniger ans
Liebe, als aus Stolz; mit dem Tode bestraft er ihre Untreue.
Einer Hochzeit hat Rvvoil während seines Aufenthaltes an
der Medschnrtin-Küste leider nicht beiwohnen können und
vermag eine solche nicht zu beschreiben; dagegen war er bei
der Verlobung eines Mädchens von Bender Chor (an der
Medschurtiu-Küste) mit einem Warsangeli zugegen. Letzte-
rer begab sich mit einigen Gefährten zum Vater des Mäd-
lf den Caribischen Inseln.
cheus; aus sein Aenßeres hatte er für diese Gelegenheit die
größte Sorgfalt verwendet. Die ganze Familie, mit Aus-
nähme des Mädchens, faß im Halbkreise vor der Thür ihrer
Hütte und erwartete den Freier. Nach Austausch der ge-
bräuchlichen Begrüßungen eröffnete einer der Gefährten
des Warsangeli sofort den Handel mit dem Vater; sowie
man über die Anzahl der zu zahlenden Piaster und Kameele
einig war, erschien die Braut und nahm neben dem Freier
Platz; man brachte Kaffee und etwas gedörrten Mais
und besiegelte mit dieser einfachen Mahlzeit den Vertrag.
Am Abend machte sich der Freier auf den Weg, die Mitgift
zu holen, und ließ zwei seiner Begleiter als Bürgen des
Kanfes zurück.
Der Somali ist ein fanatischer Mohammedaner und
hat vor deu Todteu die höchste Achtung. Die Friedhöfe
liegen meist inmitten der Städte und Dörfer neben den
Moscheen; Niemand betritt sie ohne Grund. Ein gewöhn-
liches Grab wird durch einen einfachen aufgerichteten Stein
bezeichnet; wo aber ein im Kampfe gefallener Krieger ruht,
erhebt sich ein Tmnulus. So oft die waffenfähige Mann-
fchaft in den Krieg zieht, nimmt sie beim Auszuge aus dem
Orte ihren Weg bei den Gräbern der Gefallenen vorbei,
stößt Schreie und Verwünschungen aus und richtet an
ihre früheren Kampfgenossen Gelübde und Bitten; im Be-
griffe sich zu entfernen feuern sie einige Flintenschüsse ab
oder schießen einen Pfeil oder schleudern einen Wurfspeer
aus das Todteufeld, den sie erst später wieder aufnehmen.
Rsvoil hat neben den Wegen des Landes große Stein-
Haufen angetroffen, welche nach Angabe seiner Führer von
den Bedninen nur deshalb zusammengetragen worden wären,
um die Wege davon zu reinigen. Allein diese riesigen Hau-
sen befanden sich fast immer in der Nähe eines Begräb-
nißplatzes oder eines Moskit, eines großen runden Platzes,
dessen Bodeu vollständig gesäubert ist, und auf welchem der
Nomade sein „messaclschit" (Thierhaut) zum Gebete aus-
breitet. Die Vermuthung des Reifenden, daß es primitive
Denkmäler zum Gedächtniß von Verstorbenen sind, scheint
uns das Richtige zu tresseu.
Das ist in großen Zügen der Charakter der Somali und
der jetzige Staud ihrer Civilisation. Den ihnen anhaftenden
Ruf von Wildheit und Grausamkeit verdienen sie wenig;
viel mehr sind sie mißtrauisch und eifersüchtig auf ihre Frei-
heit, als böse, und sie besitzen einen gewissen Fond. Wenn
man ihre Gebräuche achtet und sie überzeugt, daß man ihr
Land nicht erobern will, so wird man , wenn nicht ihre
Freundschaft gewinnen, so doch^ wenigstens sichere Beziehungen
zn ihnen anbahnen, die Naturprodukte ihres Landes ausben-
ten und auf friedlichem Wege diesen abgelegenen Winkel
Afrikas der Civilisation zuführen können.
F. A. Ober's Aufenthalt auf den Caribischen Inseln.
in.
Die Streifzüge, die Ober von Salibia aus unternahm,
waren reich an den interessantesten Ergebnissen. Wie der
Charakter der Waldvegetation auf dieser Seite der Insel
sich in mancher Beziehung von dem der Ostseite unterschei-
det, so weistauch das Thierleben hier mehrere dersürDomi-
nica eigentümlichen Formen reichlich vertreten auf, die
dort nur selten sind oder ganz fehlen. Schaaren von Pa-
pageien bevölkern die Hochregion des Waldes, in dem, neben
der obenerwähnten Bergpalme (Euterpe montana), vorzugs-
weise der über hundert Fuß hohe Gommier oder Fackelbaum
der Eingeborenen häufig vorkommt, der zu den Burseraceeu
oder Balsambäumen gehört (Bursera gummifera). Die
bis acht Fuß dicken Stämme dieser gewaltigen Bäume, die
meist durch das dichte Gehänge ihrer Luftwurzeln und der
F. A. Ober's Aufenthalt
hineinvcrflochtenen Lianen ganz verhüllt sind, dienten und
dienen auch heute noch den Cariben zur Herstellung ihrer
Canoes. Das wohlriechende Harz, das aus der Rinde des
Baumes ausschwitzt, wird iu den katholischen Kirchen der
Inseln als Weihrauch verbrannt; die Indianer aber ver-
wenden es heute noch wie früher zu den mehrere Fuß lan-
gen Fackeln aus zusammengerollter Rinde, deren sie sich
bei nächtlichen Waldwanderungen und bei ihren Fischzügen
an der Küste bedienen.
Durch das ganze verworrene Gebiet des Innern der
Insel lausen alte Jndianerpfade, auf deuen Ober, von seinen
beiden jungen Cariben geführt — denn zu dem einen von
ihm als Führer engagirten Burschen gesellte sich bald ein
unzertrennlicher Gefährte —, in manches Waldversteck, manche
verborgene Höhle gelangte, die, bisher von dem Fuße eiues
Weißen noch nicht betreten, zur Zeit des Kampfes mit den
Engländern den vertriebeneu Häuptlingen des Volkes sichern
Schutz gewährt hatten; noch heute führen in den abgelegensten
Theilen des Waldes einige Nachkommen jener alten Flücht-
linge ein dem Naturzustande sehr nahes Leben. In dem
täglichen Verkehr mit seinen jugendlichen Begleitern, in
deren Konstitution mit dem Negerblute auch ein gewisser,
dem Indianer sonst nicht eigener Humor übergegangen war,
mußte Ober immer von Neuem die Findigkeit und den
praktischen Sinn des Naturkindes bewundern, das auch
uicht die kleinste Gabe seiner reichen Umgebung unbeachtet,
geschweige denn unverwerthet läßt. Die sogenannte „Be-
dürsnißlosigkeit des Wilden" aber wollte ihm hier, wo die
verschwenderische Natur für alles, was nothwendig, und noch
für gar vieles, was überflüssig ist, in reichstem Maße sorgt,
nicht mehr so merkwürdig erscheinen, als sonst wohl. Wir
dürfen hier bei Ober's anziehenden Schilderungen seiner
mannigfachen Jagdabeuteuer, der Wanderungen durch den
Wald, der Nachtlager in der Ajnpa neben einem allmälig
verglimmenden Feuer vou wohlriechendem Holze, während
von draußen her das unaufhörliche, aus tausend seltsamen
Tönen zusammengesetzte Geräusch der tropischen Nacht
hereinschallt, wir dürfen auch bei feinen Beschreibungen der
glücklich erlegten Thiere und mancher Pflanzen, deren wohl-
thätige und nützliche Eigenschaften er durch seine Begleiter
kennen lernte, nicht länger verweilen. Er war glücklich
genug, von der großen, der Insel eigentümlichen Papa-
geienart Chryotis augusta, dem „Cicero" der Indianer,
zwei Exemplare zu erlegen. Diese Art, die nicht wie die
kleineren Papageien in Schaaren, sondern nur paarweise
vorkommt, lebt vorzugsweise hoch oben in den Bergen, wo
sie an den Samen der Balsambäume ihre Lieblingsnahrung
findet. Im Herbste, wenn ihr Fleisch besonders zart und
fett sein soll, machen die Indianer vielfach Jagd auf die im
herrlichsten Grün und Purpur strahlenden, sehr scheuen
Vögel.. Als einer sehr merkwürdigen und bisher wohl kaum
bekannten, wenigstens nie geglaubten Erscheinung sei aber
hier eines Zuges wandernder Krabben gedacht, den Ober
eines Tages im Walde antraf. Wir lassen ihn im Folgen-
den die Begegnung selber schildern.
„Bei dem Hinaufklettern an einer steilen Hügelwand,
vollauf damit beschäftigt, mich mühsam festzuhalten, kam es
mir plötzlich vor, als sei ich von lebenden Wesen um-
geben, die ich deutlich über die Felsen und Blätter hinweg-
rascheln hörte. Ich rieb mir die Augen und sah um mich.
Meyong (der junge Caribe), der dicht hinter mir war, hatte
sie schon erblickt und rief mir im größten Eifer zu: „Gar-
dez, les crabes!'" lind in der That, da kroch ein Heer
von Krabben, und wir befanden uns mitten drinnen. Ei-
ligst traten wir ihnen aus dem Wege; denn diese Krabben
(die etwa von der Größe einer großen Strandkrabbe sind)
auf den Karibischen Inseln. 283
haben die unangenehme Gewohnheit, auf und über alles
zu kriechen, was in ihrem Wege liegt, und wenn sie nur int
mindesten gereizt werden, ihre starken Scheeren zu ge-
brauchen.
„So stellten wir uns denn hinter einen großen Baum,
und mein Führer griff von Zeit zu Zeit aus dem vorüber-
ziehenden Heere eine heraus, bis er so viele beisammen hatte,
als er fortbringen konnte; mit einem Endchen Lialine, einer
dünnen, fchnurartigen Wurzel, band er jeder Gefangenen die
Scheeren zusammen und warf sie dann auf den Hausen zu
seinen Füßen. Zum Glück für uns war es nur ein kleines
Heer, das uns den Weg nicht sehr lange versperrte; manchmal
ziehen sie aber in Schaaren von Tausenden. Der einzige über-
Haupt vorhandene Bericht über diese Krabbenzüge findet sich in
dem Werke eines alten französischen Schriftstellers vor; und,
hätte ich die Thiere nicht selber auf ihrem Marsche gesehen,
so würde ich sicherlich die Wahrheit mancher seiner Angaben
bezweifeln. Sie leben nicht nur in einer Art von geord-
neter und ruhiger Gesellschaft in ihren Schlupfwinkeln in
den Bergen beisammen, sondern ziehen regelmäßig einmal
im Jahre gemeinsam, und zwar in Schaaren von mehreren
Millionen Individuen, nach der Meeresküste hinab. In
den Monaten April und Mai fangen sie ihre Expeditionen
an und kommen dazu aus den alten Baumstümpfen, den
Felsspalten uud den Erdlöchern, in denen sie sich aufhalten,
hervor.
»Das Ziel ihrer Wanderung aber ist das Meer, wo sie
ihren Laich absetzen. Kaum ist die Krabbe am Strande
angelangt, so kriecht sie, so schnell sie kann, an den Rand
des Wassers, läßt die Wellen über ihren Körper hinweg-
spülen uud den Laich abwaschen. Die Eier werden im
Sande ausgebrütet, und bald danach sieht man Millionen
junger Krabben den Strand verlassen und langsam in die
Berge hinausziehen. Bei dem Wege zum Meere hinab
gehen sie immer geradeaus; liegt eine Hütte in ihrem Wege,
so machen sie sogar den Versuch, daran emporzuklimmen.
Der Zug bewegt sich mit der Präcisiou einer Armee vor-
wärts; gewöhnlich ist er in einzelne, von den Stärksten
angeführte Bataillone getheilt. Die Nacht ist ihre Haupt-
marfchzeit; regnet es aber bei Tage, so benutzen sie auch
diese günstige Gelegenheit zum Vorwärtskommen. Wäh-
rend sonniger Tage liegen sie sämmtlich bis zum Abend
still. Zur Zeit des Schalenwechsels verkriechen sie sich in
ihre Löcher, die sie vorher mit Gras uud Blättern ange-
füllt haben.
„Was mein indianischer Bursche über die Lebensweise
der Krabben zu erzählen wußte, stimmte im Wesentlichen
mit diesem Berichte überein; er fügte nur noch hinzu, daß,
wenn es etwas Vorzügliches gäbe, dies ohne Zweifel das
Fleisch dieser Thiere sei; eine Angabe, die ich aus eigener
Erfahrung bestätigen kann, da wir an demselben Abend
noch Krabben in den verschiedensten Zubereitungsarten
verspeisten."
Viele Tage lang streifte Ober in den unwegsamsten höch-
sten Theilen des Berglandes umher in unermüdlichem Su-
chen nach einem Bewohner jener Regionen, dem sogenann-
ten Diablotin, einem Vogel, von dem die Eingeborenen
ebenso wie die alten französischen Beschreibungen der Insel
Wunder über Wunder erzählten. In den Einzelheiten
vielfach auseinandergehend, stimmten diese Berichte alle
darin überein, daß der Diablotin ein auf den Bergen in
Felsspalten und Erdlöchern nistender, nächtlicher Schwimm-
vogel von der Größe einer Ente und von abschreckend häßlichem
Aussehen sei, der Nachts in großen Schaaren und mit lau-
tem, gellendem Geschrei zum Fischfange nach dem Meere zu
fliegen pflege. Früher ziemlich häufig, von den Indianern als
36*
284 F. A. Ober's Aufenthalt <
Dschumbie und auch von den weißen Ansiedlern mit einer
gewissen abergläubischen Furcht betrachtet, ist der Vogel
seit dreißig Jahren schon so selten nur gesehen worden, daß
sein Vorhandensein heute von vielen für eine Fabel gehalten
wird. Auch Ober's nächtliche Jagdwanderungen nach dem
Diablotin, in dem er eine Art Sturmvogel, Prion Carib-
bea, zu finden erwartete, blieben erfolglos, wohl aber zog
ihm der unausgesetzte Aufenthalt in der nebligen Bergluft
und ein heftiges Unwetter mit Sturm und Regen, das ihn
in einer der Nächte überraschte, einen heftigen Fieberanfall
zu, der ihn, nachdem er acht Tage lang in einer Waldhütte
darniedergelegen hatte, zu schleunigem Verlassen des feuchten
Waldgebietes zwang. Das Verpacken und Nachsenden der
gesammelten Schätze seinem jungen Cariben überlassend,
begab er sich auf einem Küstendampfer nach Rofeau zurück,
wo er zuerst unweit dieser Stadt, dann weiter nördlich an
der Küste, in dem Thale von Battalie, durch einen länge-
ren Aufenthalt in den herrlich gelegenen Pflanzungen des
Dr. Jmray Erholung von den Folgen des Fiebers suchte.
In einer andern Gestalt als bisher im Urwalde und in
den primitiven „Proviantgründen" des Volkes trat ihm
hier der Reichthum der Insel entgegen, auf der das kleinste
Stück Bodens, wenn richtig benutzt, eine wahre Goldgrube
für den Besitzer werden kann.
Das enge, von hohen Felswänden eingeschlossene Thal
von Battalie war vor 20 Jahren, als der um das Wohl
der Insel in jeder Weise hochverdiente Dr. Jmray es an-
kaufte, eine nur sehr geringen Ertrag liefernde Zucker-
Plantage. Heute ist das üppige Meer von Grün, das
den ganzen Thalgrund bedeckt, ein Citronengarten, des-
sen Bäume so dicht neben einander gepflanzt sind, daß sie
den Boden vollständig beschatten. Die meisten dieser
Bäume sind etwa 15 Jahre alt und liefern, da der Frucht-
ertrag der Citronenbänme mit dem dritten Jahre anfängt,
mit dem fünften aber feine volle Höhe erreicht, schon seit
einem Jahrzehnt dem Besitzer ein nicht unbedeutendes Ein-
kommen, das sich in einigen besonders guten Jahren aus
2000 Pf. St. pro Saison belaufen hat. Bis auf das
Ausschneiden der unteren Zweige in den ersten Jahren und
das spätere gelegentliche Nachpflanzen eines neuen Baumes
bringt die Kultur der Citronen keine Arbeit mit sich; die
abfallenden, nie aber zu pflückenden Früchte werden von
Kindern gesammelt und nach der neben dem Garten errich-
teten Mühle gebracht, wo sie zwischen zwei aufrechten Walzen
ausgepreßt werden. Der Saft wird in große Pfannen gelei-
tet, bis zu Syrupsdicke eingekocht und in großen Fässern von
50 Gallonen (ungefähr 2,5 dl) nach England verschifft, wo er
zu Citronensäure verarbeitet wird. Der Preis eines solchen
Fasses variirt zwischen 20 und 30 Pf. St., und da die Bäume
nur während zweier Monate im Jahre (Februar und März)
ohne Früchte sind, so beträgt der durchschnittliche Ertrag
der nicht großen Pflanzung 70 bis 80 Fässer pro Saison.
Mehrfach ist schon der Vorschlag gemacht worden, behufs
weiterer Verminderung der beträchtlichen Transportkosten,
den Citronensaft gleich an Ort und Stelle zu krystallisiren;
doch haben dahinzielende, in den Citronenplantagen Floridas
angestellte Versuche bis jetzt noch kein lohnendes Resultat
ergeben wollen, wobei freilich nicht außer Acht gelassen wer-
den darf, daß der Boden von Florida bei weitem nicht so gün-
stig für die Citronenkultur ist, und die dort producirte Frucht
weder an Quantität noch an Qualität (d. h. Saftreichthum)
mit der der westindischen Inseln verglichen werden kann.
Sehr anerkennenswerth sind auch die Bemühungen des
Dr. Jmray für die Wiedereinführung des Kaffeebaues
auf der Insel. Vor langer Zeit schon hatte der Kaffee
von Dominica großen Ruf und Bedeutung im Kolonialhan-
if den Caribischen Inseln.
del; gegen Ende des vorigen Jahrhunderts befanden sich mehr
als 300 Kaffeeplantagen auf der Insel, die zusammen einen
jährlichen Ertrag von 300 000 Pfund repräsentirten; aber
mit der Aufhebung der Sklaverei in den britischen Kolonien im
Jahre 1833 wurde der Betrieb des Kaffeebaues in der damals
üblichen Weise lahmgelegt. Reiche und ergiebige Pflanzungen
wurden verlassen, und heute vermag die Produktion der
Insel den eignen Bedarf nicht mehr zu decken. Vor unge-
fähr 40 Jahren gesellte sich zu dem erschwerten Betriebe
noch ein zweites Hinderniß: das Auftreten einer Coccus-
art auf den Kaffeepflanzen, die die Blätter und Blüthen der-
felben zusammenschrumpfen machte, ganze Ernten ver-
nichtete und das Eingehen von noch mehreren Plantagen
veranlaßte. Augenscheinlich trug die Nachlässigkeit der Be-
sitzer einen Theil der Schuld an dieser verderblichen Ver-
breitung; denn auch auf Guadeloupe hat dasselbe Insekt sich
mehrmals gezeigt, aber, da stets rechtzeitige Maßregeln da-
gegen ergriffen wurden, nie fo großen Schaden angerichtet.
Von der Ansicht ausgehend, daß die früher kultivirte Mokka-
Varietät zu zart sei, um den Angriffen des Infekts wider-
stehen zu können, hat Dr. Jmray nun mit bestem Erfolge
den Liberia-Kaffeebaum eingeführt, dessen Blätter eine dickere
und zähere Epidermis haben. Zur Zeit von Ober's An-
Wesenheit auf Dominica besaß er in der Nähe von Rosean
eine drei Jahr alte Pflanzung von Liberia-Bäumen, deren
viele schon Frucht angesetzt hatten.
Die im Lause des Juni immer häufiger eintretenden
Regenschauer, die freilich mit den Güssen der Wintermonate
noch nicht verglichen werden konnten, bewogen Ober, den
Aufenthalt aus dem hohen bergigen Dominica mit dem auf
einer der niedrigeren, deshalb weniger regenreichen Insel
zu vertauschen. So brachte er die Monate Juli und August
auf den ebenfalls britischen Inseln Barbuda und Auti-
gua zu, die er in seinem Reiseberichte irrthümlich als
„Koralleninseln" bezeichnet, die jedoch von unzweifelhaft
neuer oder tertiärer Formation und in nicht bedeutender
Tiefe mit den vulkanischen Inseln durch eine versunkene
Bank verbunden sind. Barbuda, das sich bis vor Kurzem
noch in dem Besitze der Familie Codrington befunden hat,
gehört heute der Krone, ist aber für eine längere Reihe von
Jahren an zwei vornehme Engländer verpachtet, die einen
großen Theil des Waldes zu einem reichen Wildpark um-
geschaffen haben.
Das Klima von Antigua ist merklich wärmer als das
der gebirgigen Inseln, obgleich während des größten Theils
des Tages ein frischer Wind weht. Die heißesten Stunden
außer der Mittagszeit sind die Morgenstunden von 7 bis
10, und die Zeit des Sonnenunterganges gegen 8 Uhr,
kurze, heftige Regenschauer kamen auch hier im Juli und
August nicht selten vor; sie dauerten höchstens eine bis zwei
Stunden und hörten stets ebenso plötzlich auf, wie sie uner-
wartet und gleich mit voller Kraft begonnen hatten. An-
tigua war die erste der Inseln, wo Ober unter der Plage
der Mosquitos zu leiden hatte, und neben ihnen trat zur
besondern Verschärfung der Leiden seines äußern Menschen
der sogenannte „Chegoe" (Pulex penetrans) auf, ein
Floh, dessen Stich anfangs wenig schmerzhaft, aber, wenn
nicht bei Zeiten beachtet, von den verhängnißvollsten Folgen
begleitet zu sein pflegt. Die erbsengroße weiße Geschwulst,
die sich nach wenigen Stunden schon zeigt, enthält nämlich
das Insekt, das sich fast unmerklich tief unter die Haut bohrt,
um seine Eier hineinzulegen. Wird es nicht rechtzeitig und
geschickt mit einer Nadel aus der Wunde entfernt, und diese
dann mit Tabaksasche ausgefüllt, um jedes etwa zurückge-
bliebeue Ei zu tobten, so entstehen die schmerzhaftesten Ge-
schwüre, da die aus den Eiern auskriechenden Larven sich
F. A. Ober's Aufenthalt
tief in die Muskeln einbohren. Unter den Negern, die in
dieser wie in jeder andern Beziehung nachlässig und faul
sind, trifft man häufig genug Individuen an, die durch den
Chegoe fämmtliche Zehen verloren, andere, die infolge der
entsetzlichen Geschwüre ein Bein eingebüßt haben.
Gegen Ende September verließ Ober auf einem nach
Barbados bestimmten Schiffe die Insel Antigua. Die Zeit
der Orkane hatte längst begonnen, und die meisten anderen
Schisse dieser Gewässer lagen in den Häsen und auf den
Strand gezogen. Die eigentliche „Orkanzeit" dauert von
der Mitte des Juli bis etwa um die Mitte des Oktober,
und erreicht gewöhnlich zur Zeit des Herbstäquinoktiums
ihren Höhepunkt. Es ist eine Zeit der Windstillen, das
Meer verrätherisch ruhig, der Wind wechselnd. Gewöhnlich
beginnt der Orkan mit einem aus Westen oder Nordwesten
kommenden Winde, der sich schnell zu der furchtbaren Ge-
walt verstärkt, welche die Inseln zu verwüsten und das
Werk vieler Jahre in wenigen Stunden zu zerstören Pflegt.
Dem ersten langen, heißen Tage, den Ober auf dem mit
Passagieren und Fracht überfüllten Schiffe zubringen mußte,
folgten noch vier ähnliche auf spiegelglattem Meere unter
bleiernem Himmel, und der Reisende lernte zur Genüge ein-
sehen, warum die Inselbewohner die unaufhörlichen, fieber-
erzeugenden Regengüsse der drei letzten Monate des Jahres
den „lustlosen" Tagen des August und September vor-
zuziehen pflegen. Erst am fünften Tage und zwar gerade
vor dem Ausbruch eines heftigen Orkans, der auf der
Insel Grenada 300 Häuser umriß, lief das Schiff in den
Hafen von Roseau ein, wo Ober einen längern Aufenthalt
der Fortsetzung dieser langsamen Fahrt vorzog.
In den ersten Tagen des Oktober verließ er bei günsti-
gerer Witterung an Bord eines Dampfers den Hafen von
Rofeau; an den Küsten von Martinique und Santa Lucia
entlang, durch den Kanal im Süden der letztgenannten In-
sel ging die Fahrt und bald sah man St. Vincent sich
aus dem Meere erheben, wie den „Traum einer Insel",
mit ihren dichten Palmenhainen, von leichtem Nebel um-
flössen, von der sinkenden Sonne roth bestrahlt; nirgends ein
schroffer vorspringender Felsen oder eine emporragende Klippe.
Der Hasen von Kingston, in den der Dampfer einlief, ist
eine nach Westen und Südwesten offene Bucht, tief und
geräumig genug, um eine Flotte aufnehmen zu können.
Die kleine Stadt, die sich im Halbkreise um den sandigen
Strand der Bucht hinzieht und hinter der unmittelbar die
bewaldeten Berge ansteigen, zeigt unter ihren Gebäuden kein
einziges Bauwerk von irgend welcher Bedeutung. Das
Polizeigebäude am Hafendamm ist hier, wie in allen Städ-
ten der kleineren englischen Inseln, der stattlichste Bau.
An der einen Seite der Bucht erhebt sich auf einem 600
Fuß hohen Hügel ein altes massives Fort, das heute als
Leuchtthurm und Signalstation dient; ein zweites, das auf stei-
lem Hügel die Stadt überragt, ist heute nur noch eine Ruhte;
es hat in dem Kriege zwischen den Cariben und Engländern
eine große Rolle gespielt, ist von den ersteren mehr als
einmal genommen und von den englischen Truppen nur mit
Mühe wiedererobert worden. Halb in den Boden versnn-
ken liegen noch mehrere alte Kanonen daneben, deren Gefähr-
ten während des letzten amerikanischen Krieges von einem
unternehmenden Spekulanten angekauft und für einen äu-
ßerst geringen Preis der Südarmee überlassen wurden. Einen
hervorragenden Zug in dem Landschaftsbilde dieser Küsten-
strecke bildet eine lange Allee von Palmen, der Stolz der
Bewohner von Kingston. Sind auch durch verschiedene
Orkane schon mehrere Bäume aus der stattlichen Reihe ge-
rissen worden, so gewährt sie doch immer noch einen impo-
santen Anblick. Sie bildet einen Theil des Weges nach
.ff den Caribischen Inseln. 285
dem etwa dreiviertel Meilen von der Stadt gelegenen Brun-
nen von Kingston, einer kräftigen mineralischen Heilquelle,
deren etwa fechs Zoll stark aus dem Felsen brechender
Strahl „um die Zeit des Vollmondes nicht nur stärker slie-
ßeu, sondern auch Wasser von derartiger Kraft und Gehalt
führen soll, daß es die stärksten Flaschen zersprengt."
Der Aufenthalt in Kingston bot des Interessanten
nicht viel; so trat Ober schon nach wenigen Tagen seine
Reise in das Innere der kleinen Insel und nach der Ost-
küste an. Er war von mehreren in Kingston ansässigen
Besitzern von Zuckerplautageu mit Empfehlungsbriefen an
die Verwalter ihrer Anlagen versehen worden, die dem Rei-
senden denn auch nicht nur die beste Aufnahme zu Theil
werden ließen, sondern ihm sogar für die ganze Dauer fei-
uer Tour die uöthigeu Reitpferde zur Verfügung stellten.
Das erste Ziel der Reise war auch hier das vulkanische
Terrain der Insel; an der malerischen Westküste entlang,
wo das vulkanische Gestein von den Wellen zu phantasti-
schen Bogen und Höhlen ausgewaschen ist, wo in einem der
Thäler ein mächtiger Säulenbasalt emporragt, ging es nach
mehrtägigem, durch heftige Regengüsse gebotenem Verweilen
in einer am Fuße der Grande Sousriöre gelegenen Plan-
tage zu dem Krater hinauf. Die Eruption der Sonfrisre
von St. Vincent ist die letzte gewesen, die auf den west-
indischen Inseln überhaupt stattgefunden hat. Seit über
hundert Jahren hatte der mit der üppigsten Vegetation be-
deckte Vulkan kein anderes Zeichen innerer Thätigkeit von
sich gegeben, als eine aus einem Spalt an seiner Südseite
gelegentlich aufsteigende dünne Rauchsäule. Da brachte der
April des Jahres 1812 den entsetzlichsten Ausbruch, der
drei Tage lang andauerte, und dessen Wirkungen einerseits
bis nach Caracas, wo ein furchtbares Erdbeben nicht weniger
als 10000 Menschen das Leben kostete, andererseits bis in das
Thal des Mississippi hinein sich fortpflanzten. Neben dem
alten Krater, aus dem ein hohes kegelförmiges Felsstück,
das inselartig aus seiner Mitte emporgeragt hatte, in die
Luft geschlendert wurde, öffnete sich ein neuer Schlund.
Drei breite Lavaströme, der eine von sast 200 in Breite,
wälzten sich abwärts; die ganze Insel wurde mit Asche über-
schüttet, eine große Zahl blühender Besitzungen verwüstet.
Heute befindet sich am Grunde des alten Kraters, 1200 Fuß
unter dem schroffen Rande, ein großer See, von einem
breiten Kranze goldgelben Schwefels und leuchtend grü-
ner Moose eingefaßt. Die reiche Vegetation von Baumfar-
nen nnd Bananen, die den Berg bis zu halber Höhe bedeckt,
geht weiter nach dem Gipfel hin in eine dichte, niedrige
Decke von Farnkräutern und großen Lykopodien über, die
den Felsen vollständig bekleiden. Dicht an dem höchsten
Gipfel befindet sich in der Felswand eine geräumige Höhle,
die, nach Westen offen, einen weiten Blick über die großar-
tige schroffe Kraterlandschaft und das Meer dahinter gewährt.
Hier brachte Ober beinahe eine Woche zu, in Gesellschaft
eines alten Negers, der mit jeder Stunde des unermüdlich
herabströmenden Regens melancholischer wurde und, in einer
Ecke der Höhle zusammengekauert, sehnsüchtiger seines
„stock's" von zwei alten und zwei jungen Schweinen ge-
dachte, die er „unversorgt" unten in der Stadt zurückgelas-
sen hatte. Es galt diesmal das Auffinden des sogenannten
„Sousrisrevogels", der, durch seinen eigenthümlichen klagen-
den Gesang allen Bewohnern der vulkanischen Gegend bekannt,
nur sehr selten einmal gesehen wird. Oft genug war diese
Kraterregion, von der sich die Soufriörevögel selten über
einen Büchsenschuß weit entfernen sollen, vergebens, von
einheimischen und fremden Naturforschern nach dem nnsicht-
baren Vogel durchforscht worden. Ober war glücklich genug,
nach mancher vergeblichen Wanderung vier Exemplare des
286
Ethnographische Bemerkungen zu einigen Rechtsgebräuchen.
seltenen Vogels zu erlegen, der sich nachmals als eine neue,
dem Siffleur montagne von Dominica verwandte, Art her-
ausstellte und Myiadestes sibilans benannt wurde. Mit
diesem Erfolge erreichte aber auch die Geduld seines Be-
gleiters ihr Ende: der Tod der geheimnißvollen Vögel, die,
wie alles Unerklärliche, „Dfchnmbi" waren, mußte die Rache
aller Geister der Gegeud nach sich ziehen; eine Begegnung,
die Ober noch am nämlichen Tage mit einer der hier häu-
figen großen Schlangen hatte, war der erste Beweis für
diese Ansicht. Durch keine Ueberrednng war der schwarze
Bursche mehr auf dem Berge zu halten, und so mußte
Ober, der inzwischen noch eine zweite nene Vogelspecies
(Leucopeza Bishopi) gefunden hatte, sich wohl oder Übel
entschließen, seinem Drängen nachzugeben und nach dem
„Caribenlande" an der Ostküste hinabzusteigen, dessen frisch-
grüne Ebene sich vom Fuß der Berge bis an den Ocean
hinzieht.
Ethnographische Bemerkungen zu einigen Rechtsgebränchen.
Von Richard Andree.
i.
Für die meisten Rechtskundigen liegt jeuseit des römi-
schen Rechtes eine Wüste, die zu betreten sie sich scheuen
und von deren Vereisung sie keinerlei Gewinn für ihre
Wissenschast erwarten. Das Wagniß über die beglaubigte
Geschichte hinauszugehen und die Uranfänge des Rechts
zu erforschen oder gar eine Vorgeschichte zu konstrniren
scheint nicht nach dem Geschmacke unserer Juristen zu sein,
und doch läßt sich bei einiger Mühe das vortrefflichste Ma-
terial zusammentragen. Die Jurisprudenz verträgt wie
jede andere Wissenschaft, daß man an ihr die vergleichend-
ethnologische Methode erprobe, welche sich ans so vielen Ge-
bieten als nützliche und untrügliche Führerin da gezeigt hat,
wo die Geschichte schweigt. Man darf es dabei freilich nicht
ansangen, wie Adolf Bastian in seinem 1872 erschienenen
Werke über „Die Rechtsverhältnisse bei verschiedenen Völ-
kern der Erde." Und doch wäre er, der mehr gelernt und
gesehen hat als alle anderen lebenden Ethnographen, in er-
ster Linie dazu berufen gewesen, ein solches Werk zu schreiben,
es ist aber ungenießbar, ohne Quellenangaben, wie fast alle
Bastian'fchen Schriften, und daher kaum benutzbar.
Es ist daher von diesem über 400 enggedruckte Seiten
umfassenden Werke abzusehen, will man sich über die rechts-
wissenschaftlichen Verhältnisse auf ethnologischer Basis kon-
strnirt unterrichten, und es bleiben allein die verdienstvollen
Schriften des Richters Alb. Herm. Post in Bremen übrig.
Im Jahre 1875 erschien sein Buch „Die Geschlechtsgeuos-
senschast der Urzeit und die Entstehung der Ehe" und 1878
ließ er folgen „Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens",
wobei sich der Jurist als gewandter Beherrscher ethnologischen
Materials zeigte. Es ist ganz unzweifelhaft, daß die von
Post angewandte Methode, sich bei den Naturvölkern nach
deren Rechtssitten umzuschauen und diese unter vergleichen-
dem Gesichtspunkte zu betrachten, eine richtige ist, wie weit
aber die juristischen Schlußfolgerungen, welche er daraus
zieht, zutreffend sind oder zur Kritik herausfordern, das ver-
mögen wir nicht zu benrtheilen, da wir nicht Fachmann sind.
Es genügt nach unserer Ansicht aber hier schon das Mate-
rial herbeizuschaffen und zu sichten, so daß danach, wenn es
sich gehäuft hat und kritisch verarbeitet wird, die vergleichende
Rechtswissenschaft erbaut werden kann.
Post nennt daher auch sein neuestes Buch „Bausteine
für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethno-
logischer Basis" (Erster Band, Oldenburg, Schulze'sche
Hofbuchhandlung 1880). Abgesehen von den philosophischen
Kapiteln der Einleitung, die wir gern dem verdienten Ver-
fasser geschenkt hätten, kann man sich mit den von ihm ansge-
stellten allgemeinen Sätzen nur einverstanden erklären. Er geht
wie ein Naturforscher zu Wege und stellt die juristischen That-
sachen des Völkerlebens ohne Rücksicht auf deren historischen
Zusammenhang zum Gegenstande der wissenschaftlichen Er-
forschnng hin. Diese vergleichende Methode, sagt Post, sei
von juristischer Seite stark angefochten und für durchaus
unwissenschaftlich erklärt worden. „Anscheinend haben aber
die Gegner derselben gar kejnen Begriff von ihrem Wesen."
Indem Post nun die Methode vertheidigt, zeigt er, wie
man eine große Anzahl von Rechtssitten als fertige Bildnn-
gen überall schon da vorfindet, wo ein Volk in die Geschichte
eintritt. „Ueber diesen Punkt kam die historische Forschung
nie hinaus; die vergleichend-ethnologische Forschung aber ist
im Stande durch Vergleichung der Rechtssitten von Völker-
schasten verschiedener Entwicklungsstufen eine vollständige
Vorgeschichte dieser Rechtssitten zu erschließen." Und so
behandelt der Autor unter diesem Gesichtspunkte dann die
Verwandtschasts- und ehelichen Verhältnisse, Rache, Buße
und Strafen, die strafbaren Handlungen sowie eine Anzahl
einzelner Missethaten: Ehebruch, Diebstahl, Raub, Erpres-
sung, Brandstiftung, Meineid, Tödtnng, Körperverletzung,
Zweikampf:c.
Das Rohmaterial ist überreich in der ethnographischen
und Reiseliteratur zerstreut und braucht nur gehobeu zu
werden. Hier tritt nun aber der schwierige Fall ein, daß
der Ethnograph von Jurisprudenz nichts versteht, und der
Jurist, so eifrig er auch forschen und stndiren mag, doch die
große Literatur nicht zu bewältigen vermag. Solche Man-
ner, die nach beiden Seiten gerecht werden, dürften selten sein,
und so anerkennenswerth anch das von Post Beigebrachte ist,
sieht man doch aus seinen Quellenangaben, daß das Mate-
rial, über welches er verfügte, nicht allzureich ist. Soll der
Ethnograph auf dem vorliegenden Felde behülflich sein, so
muß er sich, wenn ihm juristische Kenntnisse abgehen, damit
begnügen den Stoff herbeizuschaffen. Im Verlaufe meiner
ethnologischen Studien ist mir die weite Verbreitung und
die Uebereinstimmnng mancher Rechtssitte ausgefallen; viel-
leicht ist es nicht uninteressant, das ethnographische Rohmate-
rial zusammenzustellen, was ich in Bezug aus einige Ein-
richtnngen und Sitten und mit völligem Mangel juristischen
Verständnisses der Sache im Nachfolgenden thnn will.
I a g d r e ch t.
Jagdgesetze, und wären sie von der einfachsten Natur,
finden wir bei fast allen Naturvölkern. Das Thier der
Ethnographische Bemerkungen
Wildniß erscheint als das Eigenthum des Naturmenschen,
dem die Jagd Nahrung und Kleidung verschafft. Alle sind
gleich und haben gleichen Anspruch auf die Thiere, die sie
jagen. Nur das Jagdgebiet und die festgesteckten Grenzen
bilden eine Schranke für Uebergriffe in fremdes Territorium.
Die Grenze wird streng respektirt, aber innerhalb des eige-
nen Gebietes kann ein jeder jagen und das Wild wird durch
Tödtung Eigenthum des Jägers. Nicht eiu Einzelner übt
das Jagdrecht aus, sondern alle haben Anrecht auf die Thiere
des Bodens, eine Anschauung, die sich noch darin wider-
spiegelt, daß in den Augen des Volkes Wilddieberei nicht
für unmoralisch gilt.
Sehr streng ausgebildet sehen wir namentlich in Afrika
die Begrenzung und Respektirnng der I a g d g e b i e t e. Bei
den Banjai am untern Sambesi ist das Jagdgebiet eines
jeden Häuptlings scharf begrenzt und gewöhnlich durch ein
Flüßchen bezeichnet. Wird ein Elephant auf dem einen
Gebiete verwundet und verendet auf dem andern, so wird
die untere Hälfte des Thieres vom Herrn des Grundes und
Bodens beansprucht. Dieses Gesetz wird so streng beob-
achtet, daß der Jäger nicht einmal ohne Weiteres den von
ihm erlegten Elephanten zerlegen darf, sondern erst zu dem
Herrn des Bodens, auf dem er liegt, schicken und warten
muß, bis derselbe Jemanden mit der Bollmacht zur Thei-
lung schickt. Befolgt der Jäger diese Vorschrift nicht, so
muß er Elfenbein und Fleisch hergeben *). Als die west-
afrikanischen Fan im Gebiete der Okande eine Herde Ele-
phanten erlegt hatten, stellten die Okande sich ein und ver-
langten ihren Antheil an der Beute, indem sie als Grund
angaben, es sei ihr Gebiet, auf dem die Elephanten erlegt
worden seien 2). Flüchtet in Unjoro in Centralafrika das
verwundete Wild auf fremdes Gebiet und verendet dort, so
erhält der Eigenthümer des Bodens den rechten Vorderfuß
desselben 3).
Etwas anders sind die Jagdgesetze der Somal in dieser
Beziehung. Ein Jäger, der auf fremdem Territorium einen
Elephanten oder Strauß erlegt hat, muß sich dort einen
Schutzherrn ernennen, dem er den Werth eines Kleides für
das erlegte Thier zu zahlen hat. Flüchtet sich ein verwnn-
detes Thier auf fremdes Land und wird dort erlegt, fo hat
der Jäger bei späterer Ausgleichung die Hälfte der Zähne
oder Federn zu beanspruchen^).
Hierhin gehört das Gang-gate genannte Jagdgesetz der
wilden Veddas auf Ceylon. Es bedeutet wörtlich „Dorf-
Hinterviertel". Die Dörfer haben nämlich ihre Jagdgesetze
streng gegen einander abgegrenzt; wird die Grenze überschritt
ten und auf fremdem Gebiete ein Thier erlegt, so erhält der
Herr des Jagdgrundes davon das Hinterviertel5).
Gilt auch allgemein der Grundsatz, daß innerhalb des
Stammesgebietes ein jeder jagen darf, fo treten doch auch
Beschränkungen ein und es bleiben einzelne Thiere oder
Theile derselben dem Häuptlinge oder Landesfürsten vorbe-
halten; andererseits finden wir auch schon die Anfänge einer
Schonung des Wildes.
Die Jagd auf den Kranich, den heiligen Vogel des Lan-
des, ist in Japan nur den Fürsten und hohen Adligen vor-
behalten6). Wird in Unjoro ein Löwe oder Leopard in der
Nähe der Wohnung des Häuptlings getödtet, so trägt man
das ganze Thier zu ihm; ist der Ort, wo das Thier erlegt
1) Livingstone, Missionsreisen II, 260.
2) Lenz, Skizzen aus Westafrika 163.
3) Emin-Bey (Schnitzler) in Petermann's Mitth. 1879, 394.
4j Haggenmacher in Petermann's Ergänzungsheft Nro. 47,
32 (1876).
5) Bailey tnTransact. Ethnol. Soc. New Series II, 282.
G) v. Kudriaffsky, Japan. Wien 1874, 12.
zu einigen Rechtsgebräuchen. 287
wurde, zu weit entfernt, fo wird das Fell dem Könige ge-
bracht. Tödten Leute in fremdem Lande eines dieser Thiere,
so gehört das Fell dem Könige des Landes. Von getödteten
Elephanten gehört in Unjoro ein Zahn von Rechtswegen
dem Könige, den andern kann der Jäger behalten; der Kö-
mg tauscht ihn aber gewöhnlich gegen ein Mädchen ans *).
Der Fürst an der Loangoküste empfängt vom Elephanten,
Nilpferd, Büffel und der Enryceros-Antilope als Jagdrecht
Vorder-und Hinterviertel der Seite, auf welcher das erlegte
Wild lag, vom Elephauten überdies den entsprechenden Stoß-
zahn. War der Elephant jedoch in solcher Stellung ver-
endet, daß beide Zähue den Boden berührten, so gehörte dem
Herrn das ganze Elfenbein. Wurde ein Manati erlegt, so
fiel ihm Brust uud Schwauzstück zu. Einige Arten sehr
wohlschmeckender Seefische mußten ihm ausschließlich abge-
liefert werden 2).
Im alten Peru waren (ans staatswirthschaftlichen Grün-
den) die wilden Thiere durch strenge Gesetze geschützt und
dem einzelnen die Jagd nicht erlaubt. Sie waren Eigenthum
der Regierung, nnd nur höchstens vier Mal im Jahre wnr-
den unter der Aussicht des Inka großartige Treibjagden an-
gestellt, an denen bis zu 100 000 Menschen Theil genom-
men haben sollen (!). Die Beute wurde dann vertheilt3).
Bei den Malers in Bengalen hat der Mandschhi (Dorf-
oberhaupt) die Hälfte des erlegten Wildes zu beanspruchen 4).
Was die Schonung des Wildes betrifft, fo beobachteten
die Irokesen aus weiser Oekouomie zu gewissen Zeiten die-
selbe bei weiblichen Jagdthieren 5). Unter besonderen Schutz-
gesetzen stand auf Neuseeland die Ratte, das einzige-vier-
füßige Jagdthier neben dem Huude in dem fleischarmen
Lande und daher geschont; die Häuptlinge verzehrten den-
jenigen, der sich als Wilddieb eine Ratte aneignete"). Bei
den Narinjeri - Schwarzen in Südaustralien waren dreizehn
verschiedene Wildarten, die meist leicht zu erlegen sind, für
die Alten refervirt; den jungen Leuten war deren Genuß
verboten, unter dem Borgeben, daß sie davon krank würden
oder frühzeitig alterten. Der wahre Gruud dieses Verbotes
war jedoch, die Ausrottung jener Thiere zu verhüten7). Bei
den Malers in Bengalen stehen Katzen unter dem Schutze
der Jagdgesetze und wer eine tobtet, muß jedem Kinde im
Dorfe eine Quantität Salz geben. Tödtung eines Jagd-
hundes wird mit zwölf Rupien Strafe geahndet8).
Bei Naturvölkern, wo es sich oft um die Erlegung großer
Thiere, wie der Elephanten, Büffel, Nilpferde u. f. w., hau-
delt, oder wo Treibjagden auf ganze Herden von Zebras
oder Antilopen angestellt werden, wird die Jagd von vielen
gemeinschaftlich betrieben, und es müssen daher über die Ver-
theilnng der gemeinsam erlangten Beute bestimmte Regeln
vorhanden sein.
Häufig findet man da die Bestimmung, daß derjenige,
welcher die erste Wunde dem erlegten Thiere beigebracht,
auch der Eigenthümer desselben ist. Die Makalaka in Süd-
asrika jagen mit Netzen, die gemeinschaftlich aneinander ge-
reiht werden und oft eine Länge von 4 bis 5 engl. Meilen
haben. Jeder Besitzer einer Mampnla (Netz) stellt sich bei
dem seinigen hinter einem Schirm aus Baumzweigen ans,
bereit, sobald sich ein daher stürmendes Stück Wild darin
1) Einin Bey (Dr. Schnitzler) in Petermann's Mitth. 1879,
394.
2) Pechuel-Lösche im „Globus" XXXII, 238.
Prescott, Eroberung v. Peru 113.
4) Dalton in Zeitschrist f. Ethnologie 1874, 349.
5) Maitz, Anthropologie III, 85.
6) Crawfurd in Transact. Ethnolog. Soc. New Se-
ries II, 388.
7) Jung in Mitth. Vereins f. Erdkunde zu Halle 1877, 32.
8) Dalton in Zeitschrift f. Ethnologie 1874, 349.
288
Aus allen Erdtheilen.
verwirrt, demselben einen Speer zuerst in den Leib zu werfen,
denn nach dem Jagdrecht gehört demjenigen, der den ersten
verwundenden Wurf gethan, die Beute an *). Die Woitos
am Tanasee in Abefsinien Harpuniren das Nilpferd mit Har-
punen, deren eiserne Spitze ein bestimmtes Familienzeichen
trägt, welches den übrigen Stammesgenossen bekannt ist.
Demjenigen wird das Eigenthumsrecht zuerkannt, welcher
den ersten Wurf auf das Nilpferd gethan hat, selbst wenn
das verendete Thier an einer fernen Stelle strandet2). Läßt
sich nicht genau darthuu, wer die erste Wunde beigebracht,
so treten aushülfsweise Bestimmungen ein. Die knöchernen
Pfeile der Konjagen Alaskas sind mit der Marke des Be-
sitzers bezeichnet. Da nun die Seeotter nie von einem Pfeile
getödtet wird, sondern oft 4, 5 oder noch mehr erhält, die
von verschiedenen Jägern herrühren, so gilt als Regel, daß
derjenige die Beute erhält, dessen Pfeil dem Kopfe am näch-
sten steckt3). So bezeichneten auch die alten Isländer ihre
Walharpunen mit einer Marke, die am Ding bekanntgegeben
war, um dadurch sich ihr Recht auf den harpuuirteu Fisch
zu sichern, auch wenn er an einen fremden Strand trieb 4).
Der Jagd steht der Fischfang gleich. Beim Fange der
großen Stachelrochen gehen die Palau-Jusulaner der Süd-
fee gemeinsam vor; doch gehört die Beute nicht allen, die
am Fischfange Theil nehmen, fondern immer nur dem Boote,
dessen Führer den Rochen zuerst erblickt und die Genossen
durch bestimmte Zeichen zur Jagd herbeirief. Von ihr sich
auszuschließen, darf keiner wagen 5).
Auch das Gesetzbuch des georgischen Zaren Wachtang
vom Jahre 1723 hat auf die Jagd bezügliche Paragraphen,
in denen §. 180 auf die gemeinschaftlich betriebene Jagd
Rücksicht nimmt: „Es kann vorkommen, daß ein Jäger
einem Wilde eine Wunde beibringt, der andere aber es er-
legt. Wenn die Wunde so groß ist, daß man die Sehne
eines Vogens hineinthun kann, so gehört das Wild dem
ersten Jäger; sonst aber dem letztem" 6).
Wird dagegen der Grundsatz festgehalten, daß das ge-
meinsam erlegte Wild den Jägern gemeinschaftlich gehöre,
so kommt es darauf an billige Bestimmungen für die Ver-
theiluug zu schaffen, die sehr willkürlicher Natur sein können.
Bei den südaustralischen Schwarzen von Port Lincoln
erhalten bei der Vertheilung der Jagdbeute die Männer die
männlichen, die Frauen die weiblichen, die Kinder die jun-
gen, noch nicht erwachsenen Thiere ?).
Mauch in Petermann's Ergänzungsheft Nro. 37,43 (1374).
2) v. Heuglin, Abessinien 290.
3) Holmberg, Völker d. russ. Amerika. Helsingfors 1355, 115.
4) K. Maurer, Island. München 1874, 416.
6) Semper, Palau-Jnseln 86.
6) v. Haxthausen, Transkaukasia II, 213.
7) Wilhelmi, Manners and customs of the Australian
Natives. Melbourne 1862, 16.
Wer bei den Malers in Bengalen ein angeschossenes
Wild mit suchen hilft, erhält die Hälfte davon, wenn es ge-
fnnden wird *).
Derjenige, welcher bei den gemeinsam jagenden Pehuel-
chen Patagoniens den Strauß mit dem Bolas fängt, läßt
feinen GeHülsen das erlegte Thier tragen, welches alsdann
getheilt wird. Die Federn und der Leib vom Kopfe bis
zum Brustbein und das eine Bein gehören dem, der den
Strauß gefangen, das Uebrige dem, der geholfen. Ist es
ein Gnanaco, so nimmt der Erste« gleichfalls die bessere
Hälfte2).
Bei den nordamerikanischen Indianern sind die Gesetze
über die Vertheilung der Jagdbeute unter den verschiedenen
Banden oft sehr verschieden, wodurch manchmal Streitig-
keiten verursacht werden. Wenn zwei Hidatsa (Minetaris)
gemeinschaftlich einen Büffel tödten, one takes the hind
quarters and hump and is said „to take the back".
The other takes the rest of the forequarters and the
entrails and it is said to „take the paunch" 3).
Bei den Karawanen, die von der ostafrikanischen Küste
ins Masai-Land und nach Ukamba gehen, herrschen eigene
Jagdgesetze. Derjenige gilt als Erleger eines Thieres, wel-
cher es zuerst anschießt. Er erhält bei der Theilnng Zunge,
Herz, Leber, Nieren, dann wird das Wild in zwei Hälften
zerlegt, wovon eine Hälfte die gesammte Karawane, die
meist unter verschiedenen Unternehmern steht, bekommt. Die
zweite Hälfte nimmt die Karawane des Kaufmanns, in
welcher der Erleger dient. Diese Hälfte wird wiederum hal-
birt, ein Theil kommt dem Erleger zu, der andere dem Kauf-
mann uud seinen Leuten. Wenn Jemand aus der Kara-
wane einen Elephanten erlegt, so gehört ein Zahn dem
Schützen, der andere seinem Herrn. Letzterer entscheidet,
welcher Zahn dem Schützen zu geben ist 4).
Gering geachtet wird dagegen das Verdienst desjenigen,
welcher in Unjoro die erste Lanze aus ein Thier wirft; er
erhält bei der Vertheilung nur einen Vorderfuß, und die
Vertheiluug der übrigen Beute geschieht durch gegenseitiges
Übereinkommen 5). „Im Innern Südafrikas," sagt Living-
stone, „sind die einzigen Wildgesetze die, daß derjenige, welcher
ein Thier zuerst verwundet, für den Erleger desselben gilt,
wenn er ihm auch einen bloßen Stich beigebracht hat; der
zweite darf ein Hinterviertel, der dritte einen Vorderschenkel
beanspruchen" 6).
*) Dalton in Zeitschrift f. Ethnologie 1874, 349.
2) Musters, Unter den Patagoniern 82.
3) W. Matthews, Hidatsa Indians, Washington 1877, 39.
4) Hildebrandt in Zeitschrift f. Ethnologie 1378, 379.
5) Emin-Bey a. a. O. 394.
6) Missionsreisen II, 260.
Aus allen Erdtheilen.
Asien.
— Dem „Kawkaz" zufolge soll das weite fast unbebaute
Steppengebiet zwischen der Knra und dem Aras, die söge-
uanute Milskische Steppe, ein Ranm von 230000 Deß-
jatiuen Fläche und für Baumwollbau geeignet, jetzt wie-
der in Kultur gesetzt werden. Zunächst siud 60000 Deß-
jatiuen der Steppe, deren alte Bewässerungsgräben nur
gereinigt und vertieft zu werden brauchen, zur BePflanzung
bestimmt. Das bewässerte Land wird in Parcellen von
mindestens 5 Deßjatinen unter billigen Bedingungen zum
Besäen mit Baumwolle verpachtet und soll, wenn ein solcher
Abschnitt 10 Jahre laug wirklich in Kultur erhalten worden
ist, in das volle Eigeuthum der Pächter übergehen.
Inhalt: Panama und Danen. I. (Mit sechs Abbildungen uud einer Karte.) — Die Medschertin - Somali. —
Ober's Aufenthalt auf den Caribifcheu Inseln. III. — R. Andree: Ethnographische Bemerkungen zu einigen Rechts-
gebrauchen. I. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — (Schluß der Redaction 12. Oktober 1830.)
Nedacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicweg uud Sohn in Vraunschweig.
Mit besonderer Herücksicktigung tler AntKroyologie u:u? Gtünologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
m ri, Jährlich 2 Bände a 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i qqa
-ölCtUVt | Cl)iX)CIQ zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. ^
Panama und Darien.
Nach dem Französischen des Schiffslieutenants A. Reclus.
(Sänuntliche Abbildungen nach Photographien.)
II.
Vor nicht ganz einem Jahrhundert war Panama eine
der reichsten und schönsten Städte der Welt. Die mit den
Schätzen Perus beladenen Gallioncn, der unaufhörliche
Strom von Auswanderern und Abenteurern machten es
zum besuchtesten Ein- und Ausschiffuugshafen Westamerikas;
aber die Kriege zwischen England und Spanien, der Verfall
der Mutterstadt und besonders die eifersüchtige und niedrige
Politik, welche diese gegen ihre Kolonien befolgte, legten den
Grund zu seinem Ruin, den häufige Fenersbrünste noch be-
fchleunigten. Als die Auswanderung nach Kalifornien blühte
und die isthmische Eisenbahn gebaut wurde, schien der alte
Wohlstand wiederzukehren: die Stadt war von Reisenden
überfüllt und Tausende von Schiffen lagen im Hafen; aber
die Pacifiebahn hat diese Hoffnung bald zerstört. Dennoch
sind die jetzigen Verhältnisse der Stadt nicht übel und die
Einwohnerzahl eine dreimal so große als vor 30 Jahren.
Es sind nur noch wenige von jenen alten spanischen, nach
maurischem Muster gebauten Häusern übrig, in denen dicke
Mauern die Hitze abhielten und unaufhörlich rauschende
Springbrunnen angenehme Kühle im weiten „Patio" ver-
breiteten, sie haben fast durchweg modernen Miethskafernen
Platz gemacht; doch trifft man noch eine Menge Bauten
aus dem vorigen Jahrhundert mit steinernem Erdgeschoß
und zwei Stockwerken aus Holz, welche von allen Seiten um
2 Meter überstehen und dem Fußgänger Schutz gegen Re-
gen und Sonne gewähren. Diese hohen Gebäude geben der
Stadt eine eigenartige Physiognomie, und möglich sind sie
Globus XXXVIII. Nr. 19.
hier nur deshalb, weil Erdbeben in Panama unerhört sind,
während das gauze übrige Central-Amerika, besonders aber
Nicaragua und- San Salvador, furchtbar unter dieser Plage
leiden und alle anderen Städte daher nur Lehm- und Bretter-
Häuschen aufweifen.
Recht stattlich nimmt sich Panama aus mit seinen zehn
Kirchen, seinen Klosterruinen, Palästen, Gefängnissen, Arfe-
nalen und Riesenbefestigungen. Die Mauern und Gräben,
welche die Stadt nach der Landseite schützten, sind der Ge-
suudheit und bessern Verbindung mit den Vorstädten Pue-
blo Nuevo, Arrabal, Santa Ana wegen geschleift und
ausgefüllt worden, aber leider auch zum großen Schaden für
die politische Ruhe und Sicherheit des Hauptortes. Denn diese
Ortschaften sind der Wohnsitz der farbigen Bevölkerung, die
leicht durch jedeu beliebigen Intriganten — für diese Species
ist ja der Boden hier nur allzu fruchtbar — zur Empörung
aufzuwiegeln ist; sobald einer dieser Leiter eine genügende
Anzahl Unzufriedener gewonnen hat, ist der Aufstand fertig:
die Insurgenten besetzen den Platz von Santa Ana, seine
Kirche und alle Gebäude, die den Ort beherrschen, während die
Regierungspartei sich aus einem Hügel verschanzt, von dem
aus die Küste und die Straße nach der furchtbaren Vorstadt
bestrichen werden kann, aber leider ist die Position zu klein
und faßt daher zu wenig Vertheidiger, das Feuer der Geg-
ner verjagt sie bald uud die Stadt ist erobert.
Die Höhen von Santa Ana werden als so wichtig be-
trachtet, daß es früher verboten war, selbst die kleinste Hütte
37
290 Panama i
darauf zu errichten. Ein Marquis von'Santa Ana wollte
dieses Verbot umgehen und baute erst im Einverständniß
mit den religiösen Orden eine Kirche mit Kloster gerade
mitten auf das Plateau, wogegen die Regierung nicht ein-
zuschreiten wagte; als er aber weiter ging und, aus dem
Bestehen dieser Baulichkeiten die virtuelle Außerkraftsetzung
jenes Verbotes schließend, einen Palast ausführen ließ,
wurde der Weiterbau vom Vicekönig inhibirt. Kirche, Klo-
ster, Palast dienen nuu der Vorstadtbevölkerung als Festung
und sichern ihr, besonders seit dem Verschwinden der dicken
Mauern und tiefen Gräben Panamas, den Sieg. Die
Ruinen der Kirche wirken durch ihre Masse, Verhältnisse,
Düsterkeit und Strenge des Anblicks; wie alle großen Bau-
d Danen.
teu der Stadt ist Santa Ana in vulkanischem Gestein: Por-
phyr, Trachyt, dnnkelrothem oder grünem Basalt, errichtet.
Sehr interessant wird sie durch die Trümmer eilig ausge-
worfener Verschauzuugen und die Tausende von Löchern,
Eindrücken und Abschrammungen, welche Kanonen- und Ge-
wehrkugeln auf ihren Mauern zurückgelassen haben; dieses
im Namen des Gottes der Liebe und des Friedens anfge-
führte Gebäude ist der Ort, wo die erbittertsten Bürger-
kämpfe des ganzen Landes stattgefunden haben, wo der Bo-
den am häufigsten mit Bruderblut gedüngt worden ist.
Von den Dutzenden von Kirchen, welche die innere Stadt
birgt, und die mit ihren zugehörigen Klöstern einen Begriff
von dem frühern Neichthum Panamas geben, dienen nur
Kirche Santa Ana in Panama.
noch wenige zum Gottesdienst, die meisten sind zu Wohn-
Häusern umgewandelt oder in Trümmer zerfallen; die Klö-
ster werden als Magazine oder Kasernen, eins als Kranken-
Hans benutzt. Das bedeutendste, San Francisco, welches
den größten Theil der Nordostbastion bedeckte, wirkt durch
seine riesige Massigkeit; seine Kirche, die noch für den Knl-
tus benutzt wird, hat als einzigen Schmuck einen Glocken-
thnrm aufzuweisen, der aber kaum über das Schiff empor-
ragt; dieses selbst klafft an allen Ecken auseinander, die
Mauern sind aus dem Loth, die Säulen zeigen eine bedenk-
liche Lebensmüdigkeit und den Rest geben ihm Legionen von
Ameisen, die allüberall sein Holz- und Mauerwerk durchbohrt
und einen Versuch, sie mit Petroleum zu ertränken, siegreich
überstanden haben.
Die Ruinen des Iesniten-Kolleginms sind die imposan-
testen der Stadt. Dieses Kloster, welches fast eben so enorm
wie San Francisco, nur etwas weniger kahl ist, hat nie
seine Vollendung erlebt; seine Kapelle, der eine Fenersbruust
das Dach geraubt, dient manchmal theatralischen Borstel-
luugeu im Freien.
Von allen Denkmälern, welche den vergangenen Glanz
Panamas mit erlebt haben, ist nur die im geschmacklosen
Jesuiten-Stil erbaute Kathedrale ihrem Ruin entgangen.
Ihre Thürme siud die höchsten von Central- und Südame-
rika und dienen den vom hohen Meere Einfahrenden als
Leuchttürme, aber ihr einziger Schmuck, die Bekleidung mit
Perlmutterschalen, ist allmälig herabgefallen und höchst öko-
nomisch durch runde, weißangestrichene Aushöhluugen ersetzt
worden.
Im Vergleich zn Colon ist Panama ein wahres Para-
Panama
dies. Man findet dort eine wirklich feine, europäische Ge-
sellschafl und ein monumentales Hotel, dessen Besitzer, Herr-
Georges Loew, allen wünschenswerten Comsort bietet; es
ist der schönste Gasthof an den Ufern des Großen Oceans,
abgesehen von Californien, und das Comptoir des Cafss
(oder vielmehr des „Bar-room") in seinem Erdgeschoß dient
als Börse von Panama, in der die wichtigsten Geschäfte
verhandelt und abgeschlossen werden; eine Roulette, einen
Coiffeur, einen Buchhändler und Zeitungsverkäufer, ja auch
den ersten Bankier des Ortes, Herrn Ehrmann, birgt er in
seinem Innern; Letzterer, übrigens ein Millionär, besitzt
anch ein Cigarrenlager, in welchem er seine Maaren nicht
verkauft, sondern, der herrschenden Leidenschast gemäß, ver-
ld Danen. 291
würfelt, und ein Magazin von chinesischen Curiositäten und
indianischen Alterthümern, welche mit dem wachsenden
archäologischen Interesse und der allmäligen Erschöpfung
der Fundstätten ihren Preis verdoppelt und verdreifacht haben.
Um nach dem alten Panama zu gelangen, folgt man
erst dem Savannenwege, dann einem Fußpfade durch die
Walder zu den Sümpfen des Rio Algarobo, die man
anf den Resten einer alten Straße ohne allzu sehr iu den
Schlamm zu versinken überschreiten kann; über den Fluß
führt eine sehr hohe, einbogige Brücke, deren Gemäuer bis
aufs letzte Fleckchen von Rankengewächsen überwuchert und
austapeziert ist uud jenseit welcher man die Stätte des alten
Ortes betritt. Der Urwald hat wieder Besitz von seinem
Kloster San Francisco in Panama.
Gebiet genommen; von der einst so mächtigen Stadt sind
die Kirche de las Monjas und ein sogenannter Wartthurm
(wohl vielmehr Glockenthurm eines Klosters) die einzigen
Ueborbleibsel, und nur einige Trümmerhaufen zeigen, wo die
alte Kathedrale gestanden. Die gepflasterte Straße, welche
nach dem Atlantischen Ocean führte, kann man bis zum
Rio Chagres verfolgen, von da ab aber hört jede Spur auf;
die Lianen haben die Steine zersprengt uud verwittert.
Diese armseligen Trümmer sind das einzige Denkmal einer
volkreichen Stadt, des alten Handelsemporiums Spaniens
und seiner südamerikanischen Kolonien, der bedeutendsten
Festung am Großen Ocean. Sie wurde im Jahre 1518
von Pedro Anas Davila gegründet; aber schon vor der Ent-
decknng Amerikas muß der Ort eine gewisse Bedeutung für
den Haudel gehabt und mächtige Stämme zur Niederlassung
angelockt haben; der Chagres gewährte an seiner Mündung
einen trefflichen Hafen, von wo die indianischen Pirogen bis
zum Knie bei Matachin vordringen und dort ihre Waaren
die letzten 22 Kilometer auf gebahnten Wegen durch Last-
träger in einem Tage nach Panama befördern konnten. Der
Reichthum der indianischen Stadt mußte die Begierde der
Conquistadoren reizen: sie verließen ihre erste Nieder-
lasfnng Santa Maria la Antigua in den Sümpfen des
Atrato und setzten sich in Panama fest. Ihre mitten unter
den indianischen Hütten errichtete Stadt wuchs so schnell,
daß sie schon 1521 zum Bisthnm erhoben wurde, doch nur
anderthalb Jahrhunderte sollte sie bestehen, denn 1671 wurde
sie von dem kühnen Flibnstier Morgan zerstört und nicht
wieder aufgebaut.
Ein anderer sehr lohnender Ausflug ist die Besteigung
37*
292 " Panama
des Cerro de Ancon. Von seinem 170 m hohen Gipfel
schweift der Blick Uber den riesigen Golf mit seinen zierlichen
Inseln, Uber die Ebene des Rio Grande, Uber die welligen
Hügelketten, die den Horizont begrenzen und bei den Ruinen
der unter ihrem grünen Leichentuchs begrabenen alten Stadt
endigen. Beim Abstieg vom Ancon kommt man am Chor-
rillo, der einzigen Quelle, die der Stadt Wasser liefert,
vorbei. Hier bearbeiten die Wäscherinnen bei furchtbarster
Hitze ihre Wäsche mit tüchtigen Kieselschlagen; „nur nicht
genirt" ist die Losung, welche diese Damen in geradezu
schreckenerregender Offenheit befolgen, indem sie fast zn viel
Scheußlichkeit den Blicken der Vorübergehenden darbieten:
Indianerinnen, Negerinnen, Mulattinnen — wem von ihnen
gebührt der Preis der Häßlichkeit?
id Danen.
Weiterhin, zwischen Straße und Meer, liegen zwei Fried-
Höfe. Der erste, den Fremden gehörig, ist wunderbar schat-
tig, blühend und malerisch schön, der der Panamaner hin-
gegen macht einen traurigen Eindruck: ein riesiges schwarzes,
massives Thor schließt einen quadratischen Hos mit dicken
Umfassungsmauern, in deren übereinander liegenden Nischen
die Särge gestellt werden.
Vor dem Eintritt in die Stadt kehrt man noch im
„Hotel zum Paradiese" bei Herrn Clement ein, einem braven
Mann, der es seinen Gästen angenehm zu machen versteht
und in dessen Hängematten man nach genossener Douche
den Rest des Tages süß verträumt.
Ehe wir die Stadt Panama verlassen, müssen wir einige
Worte über den Isthmus sagen, dem sie den Namen gege-
Jesuitenkollegium in Panama.
ben. Bekanntlich liegt er ungefähr unter dem 9. Grad
nördl. Br. und dem 82. westl. L. und ist eine der bedeutend-
sten Einschnürungen jenes Erdarmes, welcher Nord- und
Südamerika verbindet. Schmaler ist nur der etwas öst-
lichere Isthmus von San Blas mit 50 Km, während der
unserige vom innersten Punkte der Bai von Limon bis znr
Mündung des Rio Grande 56 km. mißt. Auch in Bezug
auf die Niedrigkeit seiner Pässe kommt er erst in zweiter
Linie mit seiner 82 in hohen Cnlebra, da der Guiscoyol-
Paß auf dem Isthmus von Rivas zwischen dem Nicaragua-
See uud dem Großen Ocean sich nur bis zu 46 in erhebt.
Bei Colon ist die Küste des Atlantischen Oceans sehr nie-
drig, sumpfig uud auf 1 bis 2 Meilen mit Wurzelbäumen
bedeckt und von Korallenriffen umgeben, während zu beiden
Seiten dieser Strecke ziemlich hohe Hügel ansteigen. Die
Westküste dagegen ist bedeutend höher: der Cerro de Cabras
mit 500 in und der Ancon strecken ihren Fnß bis in den
Ocean, und die steilen Wände, die sich direkt vom Meere
aus erheben, sind nur von den Schluchten des Rio Caüuitio
und des Rio Grande durchbrochen, jenseit deren sich aber
ein sehr niedriges Thal bis auf 5 km weit erstreckt. Außer
den Thälern des Chagres und des Rio Grande giebt es
zwischen Colon und Panama weder Tief- noch Hochebenen,
sondern wohin das Ange schweift, Hügel und Gipfel, deren
unendliches Gewirr schwer zu überblicken und zn schildern
ist. Der östlichste Ausläufer des Cerro Trinidad schneidet
den Isthmus schräg durch und vereinigt sich mit der atlanti-
schcn Cordillere 50 km östlich von Puerto Bello; diese
Panama
Kette bildet die Wasserscheide der beiden Meere und bietet
der Bahn — und späterhin auch dem Kanal — den Paß
von 82 m Höhe dar.
Der Rio Chagres entwässert den Nordabhang des Jsth-
mus. Er entspringt circa 50 km nordöstlich von der gera-
den Linie zwischen Colon und Panama. Sein oberer Lauf
läuft parallel mit der oben besprochenen Bergkette und dringt
durch enge Schluchten, welche weite Becken — wohl frühere
Seen — scheiden. Bei Matachin wendet er sich nach We<
sten und nachdem er bei Barbacoas eine nördliche Richtung
angenommen, ergießt er sich bei der Stadt Chagres ins
Meer. Sein mittlerer Lauf ist ungleich: Stromschnellen
wechseln mit breiten, tiefen, trag daher fließenden Strecken
ab, und von Trinidad bis zur Mündung sind seine Gewässer
so kraftlos, daß in der trockenen Jahreszeit die schwache
Flnth des Oceans genügt, um eine rückwärts fließende
Strömung zu erzeugen.
Der Wald erstreckt sich uicht über das ganze Land. Die
Savannen, besonders auf dem Südabhang, bilden einen
ziemlich breiten Streifen zwischen der Küsten- und der Cor-
dillerenwaldnng uud stechen angenehm gegen das unentwirr-
bare Dickicht ab; in der Regenzeit wachsen hier einige Arten
spärlichen und kurzen Grases, welches in den ersten trocke-
nen Tagen einer Schicht von rothbrannen Blättchen weicht;
diese werden sofort angezündet, damit die Prärie in der ersten
Regenzeit, zu welcher das Vieh dort weidet, wieder grünt.
Wie in allen tropischen Ländern scheidet sich das Jahr
in einen Sommer oder trockene, uud einen Winter oder
Regenzeit; diese letztere wird jedoch von einer kurzen Reihe
schöner Tage, dem „Veranito" oder kleinen Johannissom-
mer, unterbrochen. Der Regen stellt sich gegen Mitte oder
Ende Mai ein, Ende Juni erscheint wieder für einen Mo-
nat schönes Wetter, worauf die uafse Zeit wieder beginnt
und bis Anfang December anhält; dann kommen die Nord-
winde und mit ihnen das fchöne Wetter für fünf ganze
Monate, während deren jedoch gewisse bevorzugte Striche,
wie Colon, das untere Thal des Chagres, der Gipfel der
Cordillereu, bisweilen besprengt werden. Die Temperatur
des Isthmus von Panama ist in der That recht erträglich.
In der trockenen Zeit schwankt sie zwischen 20 und 35, im
übrigen Theil des Jahres zwischen 24 und 30 Grad; wäh-
rend jener erfrischt der Nordwmd die Luft, während dieser
mildern tägliche Stürme die Hitze. Auch übt dies Klima
auf den weißen Einwanderer nicht die schädlichen Einflüsse
aus wie sonst so viel in den Tropen; wofern er nur ein
regelmäßiges Leben führt, ist er Krankheiten viel weniger
ausgesetzt als die Kreolen; trotz der riesigen Menschenströme,
die hier zur Zeit des Goldsiebers ihren Durchzug hielten,
ist Panama weder von der Cholera noch vom gelben Fieber
heimgesucht worden, und der Sonnenstich, der in Mexiko
häufig ist, gehört hier fast zu den unbekannten Dingen.
Nur Colou mit seiner sumpfigen Umgebung macht hiervon
eine traurige Ausnahme, und doch ist der schlimme Ruf
dieses Ortes nicht in seiner ganzen Ausdehnung gerechtser-
tigt; in Wahrheit ist seine Sterblichkeit nicht größer als die
der anderen Häfen der Antillen, und selbst mit den Sümpfen
steht es nicht so schlimm: der übelberüchtigtste, der von
Mindi, hat seit dem Bau der Straßeu so tüchtige Fort-
schritte in der Landwirthschast gemacht wie kein anderer
Ort des Isthmus.
Der traurige Ruf Pauamas stammt aus der Zeit, in der
die Eisenbahn noch nicht existirte. Nach unendlichen Müh-
salen im Hafen von Chagres ausgeschifft, mußten die Aus-
tb Darien. 295
Wanderer fünf schreckliche Tage die Windungen des Flusses
hinauffahren, in enge Pirogen ohne Schutz gegen Regen und
Sonne eingeschachtelt; so kamen sie schon elend in Gorgona
an, und um Pauama zu erreichen, hatten sie noch 20 volle
Stunden unter tausend Beschwerden des Bodens und der
Witterung zu marschiren; Abends kein stärkendes Mahl,
Nachts kein Lager, bis auf die Haut durchnäßt und doch
nicht im Stande, die Kleider zu wechseln; wie kann ein
Organismus, und wenn er noch so stark, diesen Leiden wider-
stehen, geschweige denn jene Gesellschaft von Abenteurern,
welche Ausschweifungen aller Art fchon vorher geschwächt
hatten? Es kam noch etwas anderes hinzu, uiu die Furcht
vor Panama zu verschlimmern: die Straße war mit Räuber-
banden bedeckt, welche den Heimkehrenden auflauerten und
so ans bequemere Art an den calisornischen Schätzen Theil
nahmen.
Dieses Unwesen dauerte so lauge, bis ein kaum 20jähri-
ger Amerikaner, Ran-Rnunels, es sich zur Aufgabe
machte, ihm zu steuern: mit feinen kühnen Genossen drang
er in die Wälder und lynchte ohne Erbarmen die Banditen,
die er in ihren Schlupfwinkeln überraschte; in wenigen Mo-
naten hatte dieser neue Herkules das Land gereinigt.
Was hat man nicht Alles über den Gesundheitszustand
Panamas gefabelt, was fabelt man nicht noch! Jede Schwelle
sollte auf dem Leichnam eines Erdarbeiters ruhen! Die beste
Widerlegung geben die Anualen der Eisenbahngesellschaft
selbst: hiernach sind während des Baues nur 293 Weiße
gestorben, und doch waren häusig bei 7000 zur gleichen Zeit
auf den Bauplätzen. Allerdings wütheten in der ersten Zeit,
als die schwersten Arbeiten zu verrichten waren, heftige Krank-
heiten in der kleinen Schaar der Piomnere; aber erstens waren
das Jrländer, die ja dem heißen Klima der Tropen aui
schlechtesten widerstehen sollen, und dann waren auch nicht
die geringsten Anstalten gemacht, die Kranken zu pflegen;
erst 1852 sing man an, einen Sanitätsdienst einzurichten,
auf Maiizmiillo erhoben sich einige Holzbaracken, die Maga-
zine von Colon wurdeu mit den nöthigen Borräthen ansge-
rüstet und längs der Bahn baute man Schuppen, in denen
die Arbeiter Schutz vor Regen und Sonne fanden; endlich
wurden die Jrländer durch Neger von den Antillen, Nord-
amerikaner und nicht-keltische Europäer.ersetzt, und da außer-
dem die anstrengendsten und aufreibendsten Arbeiten voll-
endet waren, so hob sich der Gesundheitszustand zusehends
und das Sterblichkeitsverhältuiß war nicht größer als bei
jeder derartigen Unternehmung in solchem Klima.
Man hat besonders viel von Chinesen-Hekatomben ge-
sprochen. Nun, die Wahrheit ist, daß unter den 1000 Söhnen
des himmlischen Reiches, welche die Gesellschaft in Dienst
genommen hatte, sofort nach ihrer Ankunft eine furchtbare
Selbstmordepidemie ausbrach, jeden Morgen fand man
Dutzende an Bäumen in der Nähe ihrer Lager erhängt.
Einmal fogar, wird vermuthet, fetzten sich einige von ihnen
während der Ebbe an die Küste des Stillen Oceans und
erwarteten ohne eine Klage, ohne ein Wort, ohne eine Be-
weguug die steigende Flnth, bis sie der feuchte Tod aus
Sklaveuketteu befreit hatte.
Diese wahrhaft tragische Begebenheit wäre Werth, bis
auf die fernste Nachwelt überliefert zu werden; aber ach! —
es ist nur schade, daß damals die Chinesen im Mittelpunkt
des Isthmus arbeiteten und zwar nach der atlantischen Küste
zu, weit entfernt vom Ocean, uud noch dazu — einem
Ocean ohne Gezeiten!
296
F. A. Öber's Aufenthalt auf den Caribischen Inseln.
F. A. Ober's Ansenthalt
Das fruchtbare Gebiet führt heute seinen Namen nur
noch nach der Analogie des alten „lucus a non lucendo";
als reichster Theil der Insel ist es seit lange schon aus den
Händen der Cariben in die der Engländer Ubergegangen;
die ausgedehnten Zuckerplantagen, aus denen es besteht, ge-
hören der Mehrzahl nach einer einzigen großen Firma.
Weiter nach Süden hin liegen an der Küste mehrere Neger-
dörfer, daun folgt an der Sandy Bay die eigentliche cari-
bische Niederlassung Rabaca, ein breiter, sandiger Strand,
von einem Kranze felsiger, mit üppiger Waldvegetation be-
deckter Hügel umgeben. Es ist ein abgelegener, malerischer
Fleck, auf dem die Bewohner aber hauptsächlich auf den
Nahrungserwerb aus dem Meere angewiesen sind. So
beschäftigt sich auch der Haupttheil der hier wohnenden Ca-
riben und Halbcariben, unter denen Ober einige Zeit zur
Fortsetzung seiner Sprachstudien sich aufhielt, ausschließlich
mit dem Fischfange.
Durch längeres Verweilen auf mehreren Zuckerplantagen
gewann Ober einen Einblick in die bestehenden Arbeitsver-
Hältnisse der Insel, die schon seit längerer Zeit den Betrieb
jener Anlagen bedeutend erschweren. Die im vorigen Jahr-
hundert von den Pflanzern so lange erbetene, endlich von
der englischen Regierung selbst in die Hand genommene
Einführung des Brotfruchtbaumes auf St. Vincent ist feit
der Abschaffung der Sklaverei den Plantagenbesitzern zum
Unheil ausgeschlagen.
Ueberall auf der Insel wächst heute die Brotfrucht wild;
der faule uud zugleich genügsame Neger braucht kaum etwas
anderes zu feinem Unterhalte als diefe; und auch um sich
den billigen Luxus eines Stückes eingesalzenen Fisches zu
seiner Mahlzeit verschaffen zn können, hat er nicht nöthig,
auf einer Pflanzung angestrengt zu arbeiten: als allgemeine
Regel kann von ihm gelten, daß er Hunger und Faulheit
dem reichsten durch Arbeit zu erlangenden Mahle vorzieht.
Die Einführung der Kuli-Arbeiter aus Ostindien hat
nach der Meinung der Pflanzer die Schwierigkeit nicht ge-
hoben, nur geändert. Der Schutz, den die englische Regie-
rnng den Kulis angedeihen läßt, ist, wie vielleicht nicht ganz
mit Unrecht behauptet wird, ein zn ausgedehnter. Bei der
geringsten Veranlassung fordert der Kuli heute seinen Herrn
vor Gericht; unter dem Vorwande der Krankheit bleibt er,
so oft es ihm beliebt, von der Arbeit zurück, und der Ver-
such, in dem nur zu häufig vorkommenden Falle der Krank-
heitssimulation ihn zur Erfüllung seiner Pflicht zu zwingen,
wird mit hoher Geldbuße, ja oft mit Freiheitsstrafe geahndet.
Man muß, wie Ober, Zeuge gewesen sein der endlosen Miß-
Helligkeiten in dem Verkehr mit diesen Arbeitern, um zu der
Ueberzeuguug zu gelangen, daß die Schutzmaßregeln der
englischen Regierung in diesem Falle mehr von falschen,
sentimentalen Hmnanitätsprincipien, als von einsichtsvoller
Kenntniß der betreffenden Verhältnisse diktirt worden sind.
Freilich ist ja der Lohn, den der Kuli erhält, unglaublich
gering, bei seiner Genügsamkeit aber macht er auch von die-
sem Minimum noch Ersparnisse; gewöhnlich schon nach
Ablauf des ersten Jahres hat er in einem abgelegenen
Winkel der Pflanzung ein bis zwei Ziegen oder eine Kuh
auf der Weide; und sind die (gewöhnlich fünf) ansbednnge-
den Caribischen Inseln.
nen Jahre abgelaufen, so begiebt er sich mit einem kleinen
angesammelten Kapital in eine der westindischen Städte, wo
er irgend einen Handel anfängt. Dabei arbeitet er nur
fünf Tage in der Woche; denn von den durch den Regie-
rungskontrakt bestimmten fechs Arbeitstagen hat er den
Sonnabend als eigenen Feiertag abgezogen.
St. Vincent wird oft als die „Jnfel der Palmen und
des Zuckerrohrs par excellence" bezeichnet, und in der
That finden sich wohl auch auf keiner anderen der Kleinen
Antillen Palmen von so verschiedener Art und in so Herr-
licher Entwicklung. Die Kokos-, die Areka-, die Bergpalme
sind vertreten, mit besonderm Stolze aber weisen die Be-
wohner der Insel aus zwei andere eigenthümliche und äußerst
zahlreich verbreitete Arten, die sogenannte Groo-groo- uud
die Gris-gris-Palme, hin, von denen die erstere durch die
dichten federartigen Büschel ihrer seitlich gekräuselten Blätter
dem Charakter der Vegetation an den Berghängen ein eigen-
artiges Gepräge verleiht. Was aber die Kultur des Zucker-
rohrs auf St. Vincent anbetrifft, so ist dieselbe allen gut-
gemeinten Bemühungen der Regierung zum Trotz, die aus
ihren ostindischen Kolonien die Kultur des Mango, des
Zimmets, der Muskatuuß, der Gewürznelken hierher ver-
pflanzen wollte, vorherrschend geblieben. In mehreren Thei-
len der Insel finden sich heute noch verwilderte Gewürz-
gärten, die aus dem vorigen und dem Ansang dieses Jahr-
Hunderts stammen. Muskatnußbäume werden in geringem
Umfange auch heute noch knltivirt, und wird der jährliche
Ertrag jedes Baumes auf fünf Dollars geschätzt.
Von St. Vincent aus begab sich Ober nach Gre-
nada, der südlichsten der Kleinen Antillen, die wegen ihres
eigenartigen Thierlebens von ganz besonderm Interesse für
ihn war. Längs der Westseite der Gr en ad inen ging
die Fahrt, der langen Reihe kleiner Inseln, welche von der
Südspitze von St. Vincent über einen ganzen Breitengrad
bis. Grenada sich hinzieht. Wie die Spitzen eines halb
untergesunkenen Gebirgszuges ragen die Inseln ans den
Wellen; einige von ihnen niedrig und langgestreckt, gar
nicht oder doch nur spärlich angebaut, andere hochragende
Felsklippen, noch andere aber von Bächen durchströmt, reich
bebaut und dicht bevölkert. Die größte von diesen ist Be-
quin, die eine Länge von ö Miles, eine Breite von mehr als
einer Mile hat, und in deren Mitte sich ein 800 Fuß hoher
bewaldeter Hügelzug hinzieht. Viele der kleinen Inseln ge-
hören einzelnen Besitzern oder, wie Balliceaux und Bat-
tovia, Handelsgesellschaften an, die ziemlich ausgedehnte
Schaf- und Rindviehzucht darauf betreiben. Alle sind sehr
reich an verschiedenen Vogelarten, wilden Tauben, Brach-
vögeln und Enten; und Schaaren von Seevögeln bevölkern
auch ihre felsigen Küsten; auf Bequia sah Ober zuerst eine
bisher unbekannte Tnrdns-Art (Quiscatus luminosus), die
er später noch auf mehreren anderen der Grenadinen, aber
auf keiner der größeren Jnfeln wiederfand. Die Insel
Grenada selber, in deren malerisch gelegenem Hafen
St. George der Dampfer vor Anker ging, zeichnet sich wem-
ger durch ihre Vogelfauna, als vielmehr durch den Reichthum
an Gattungen und Arten der auf ihr lebenden Saurier aus.
Vorzugsweise zahlreich sind die Jguanen hier vertreten,
F. A. Ober's Aufenthalt
deren zartes Fleisch auf den ganzen Inseln eine beliebte
Speise ist. Unter diesen harmlosen, pflanzenfressenden Thie-
ren giebt es einige Arten von abschreckendstem Aeußeru, an-
dere, die durch ihre Schutzfärbung merkwürdig und von den
Aesten der am Strande wachsenden Maugrovebäume, auf
denen sie vorzugsweise sich aufhalten, kaum zu unterscheiden
sind.
Grenada ist trotz seines felsigen Bodens ganz besonders
für die Kultur des Kakaobaumes geeignet. So ist denn
auch die ganze Küstenzone der Insel ein einziger großer
Wald von Kakaobäumen, und es giebt wohl keine Neger-
samilie hier, die nicht neben ihrer Hütte einige der kostbaren
Bäume, und mit ihnen ausreichendsten Lebensunterhalt, be-
säße. Der Kakaobaum, der unter günstigen Bedingungen
eine Höhe von 20 bis 30 Fuß erreicht, wächst ziemlich lang-
sam; bisweilen trägt er schon im dritten Jahre, die volle
Höhe des Fruchtertrages erreicht er aber nicht vor dem siebenten
oder achten Jahre. Als junger Baum muß er durch daneben-
gepflanzte breitblättrige Schattenpflanzen sorgsam gegen die
Sonne geschützt werden. Hitze und Feuchtigkeit sind zu
seinem Gedeihen unerläßlich, und diese beiden Bedingungen
findet er eben auf Grenada in ausreichendstem Maße ver-
eint. Die einzigen Feinde, mit denen die Kakaokultur hier-
zu kämpfen hat, sind die Affen, die in der Mittlern Hoch-
region der Insel zahlreicher vertreten sind, als auf irgend
einer andern der Kleinen Antillen.
Der dichte Waldkranz, der die eigentliche vulkanische Re-
gion mit ihrem großen, 2000 Fnß über dem Meere gelege-
nen Kratersee umgiebt, ist von Schaaren großer und kleiner
Affen bevölkert, die regelrechte Raubzüge iu die Kakaopflan-
zungen unternehmen, und oft sehr erheblichen Schaden an-
richten. Ober hatte durch den glücklichsten Zufall Gelegen-
heit, bei einem solchen Uebersall einer Pflanzung den Zu-
schauer abgeben zu können. Aber trotzdem er hauptsächlich
mit dem Borsatze, Jagd auf Affen zu macheu, sich nach dem
innern Walde begeben hatte, fehlte ihm, dem Zoologen, im
entscheidenden Augenblicke das Herz, auf einen aus der
„menschenähnlichen Schaar" zu schießen, die er in ihrem
muntern Treiben über eine Stunde lang belauscht hatte.
Nach mehrmonatlichem Ausenthalt in Tobago und
Barbados begab sich Ober im Juni nach Martinique,
das er auf der ersten Fahrt nach Dominica nur flüchtig
berührt hatte. Zum zweiten Male täuschte ihn bei dem
Einlaufen in den Hafen von St. Pierre der imposante und
malerische Anblick der Stadt, die, mit dem großen Vulkan
als Hintergrund, sich amphitheatralisch um die Hasenbucht
aufbaut. Erst aus der Nähe wird man gewahr, daß die
Fensteröffnungen der meisten Häuser keine Scheiben haben,
daß alles Holzwerk an ihnen schadhaft, alle Dächer und
Mauern in einem bedenklichen Znstande des Verfalls oder
in dem unschönsten Zustande unpassenden Flickwerkes sind.
Die Straßen sind schmal, aber gut gepflastert, in der Mitte
von Kanälen durchflössen, die, Dank dem abschüssigen Ter-
rain, die Abfälle uud den Kehricht der Stadt in Wünschens-
werthester Schnelligkeit dem Meere zuführen. St. Pierre
ist der Haupthandelshafen der Jnfel, und gilt als Sitz des
Bischofs, und mit seiner zahlreichen Garnison, mit dem
Theater, in dem während der drei Wintermonate regelmäßig
eine französische Truppe spielt, mit den zahlreichen Läden,
die echt französische Waaren führen, mit seinem lustigen
Volke und leichten Leben für das „Paris der Kleinen An-
tillen". Unweit der Stadt, in den Bergen, befindet sich
der Wallfahrtsort MorneRouge, zu dem die ganze Bevöl-
kernng der Insel einmal im Jahr pilgert. Die Kirche in
diesem kleinen tropischen Gebirgsdorfe ist ein Meisterwerk
der Architektur und enthält manch werthvolles altes Bild.
Globus XXXVIII. Nr. 19.
auf den Caribischen Inseln. 297
In Morne Rouge schlug Ober sein Quartier auf, und von
hier aus unternahm er nähere und weitere Streifzüge, um
sich mit der charakteristischen Fauna von Martinique bekannt
zu machen. In Bezug auf die Vögel und die wenigen in
dieser Region überhaupt vertretenen kleinen Sängethiere
stimmte dieselbe im Wesentlichen mit der Fauna von Domi-
nica überein; aber bedeutend zahlreicher waren hier noch
Schnecken und kleinere Eidechsen, Centipeden und Skorpione
vertreten, und, widerwärtiger als sie alle, eine große, lang-
behaarte giftige Tarantel, die in den Gärten von St. Pierre
besonders häufig ist. Die größte Plage der Insel ist aber
die Lanzenspitzen-Schlange, Craspedocephalus laneeolatus,
die außer auf Martinique nur noch auf Sta. Lucia vor-
kommt. Und diese ihre Jsoliruug auf den beiden Inseln,
während ihr nächstes Vorkommen in Guyana ist, gehört zu
den rätselhaftesten Erscheinungen in der Verkeilung der
Thiere. Alljährlich sterben in der Erntezeit auf den beiden
von der Schlange heimgesuchten Inseln zahlreiche Arbeiter
an ihrem giftigen Bisse; denn sie hält sich ebenso häufig in
den Rohrfeldern wie im Walde auf. Ja, seit einer Reihe
von Jahren macht sie auch den herrlichen botanischen Gar-
ten von St. Pierre unsicher, in dessen Wegen schon mehrere
große Exemplare gelobtet worden sind, und der, früher ein
Lieblingsaufenthalt der Einwohner, heute ganz verödet ist.
Unweit Port de France, dem Sitze der Regierung vou
Martinique, erhebt sich inmitten eines an das Meer gren-
zenden Parks die Statue „der größten Tochter der Insel",
der Kaiserin Josephine, die Napoleon III. im Jahre 1863
hier errichten ließ; etwas weiter nach Süden hin, dicht bei
der kleinen Stadt Trois Jlets, sehen wir heute noch die alten
Häuser der Zuckerplantagen von La Pagerie, in deren einem
am 23. Juni 1763 die nachmalige Kaiserin von Frank-
reich geboren wurde. Mit größter Genauigkeit hat Ober in
den alten Kirchenbüchern und Registern von Trois Jlets
nachgeforscht, Kopien genommen und so manche Notizen
über die Familienverhältnisse Josephinens an das Licht ge-
bracht, die bisher nicht bekannt waren.
Das letzte Ziel von Ober's Jnselreisen vor seiner Rück-
kehr in die nordische Heimath war die Doppclinsel Guade-
loupe, deren westlicher, höherer Theil vulkanischer Natur,
uneben und bergig ist, während die östliche, nur durch einen
ganz schmalen Kanal oder Fluß, die Riviöre salse, von ihm
getrennte Juselhälste vollkommen niedrig und eben ist.
Point a Pitre, der Haupthafeu der Insel, liegt an der süd-
lichen Mündung des Flusses; dicht daneben die zweitgrößte
Zuckerfabrik der Welt, die nur durch die des Chedive von
Aegypten übertroffen wird. Sämmtliche Gebäude der Stadt,
von der großen Kathedrale bis hinab zu dem kleinsten Pri-
Dathaufe, fallen dem Reisenden durch ihr neues Aussehen
auf; und aus dem ersten Gespräch mit einem der Einwoh-
ner erfährt er die Ursache dieser Erscheinung: innerhalb
der letzten Jahre ist die Stadt erst von einem heftigen Erd-
beben heimgesucht, dann durch eine Feuersbrunst gänzlich ein-
geäschert worden. So ist heute in der Stadt selbst noch kaum
ein Baum wieder zu sehen; nur weiter landeinwärts, an dem
sumpfigen von Mosquitos heimgesuchten Ufer der Riviöre salee
erheben sich einige Mangrovebänme. Von Point ä Pitre
wurde die Fahrt nach Basse Terre fortgesetzt, dem Sitze der
Regierung von Guadeloupe; die Franzosen zeigen in ihren
Kolonien ein anerkennenswerthes und einsichtsvolles Streben
nach Decentralisation: nirgends finden wir die oberste Behörde
des Landes in dem Haupthafenorte, dafür aber die Inseln in
allen Richtungen von vorzüglichen Straßen durchschnitten, die
sich vou den Landwegen und Saumpfaden auf St. Vincent
und Dominica vortheilhast unterscheiden. Die Stadt Basse
Terre, die gegen das Ende des 17. Jahrhunderts von dem
38
298 Prof. Dr. Oeorg Gerland:
ebenso gelehrten wie kriegerischen Dominikaner Psre Labat
gegründet worden ist, weist mehr als ein imposantes Gebäude
in ihren breiten, geraden Straßen ans. Vor wenigen Iah-
ren hat eine furchtbare Choleraepidemie ihre Einwohner
decimirt; und, wenn man nur einige Sommertage in Basse
Terre zugebracht und die ungesunde heiße Luft der Stadt
eingeathmet hat, fo ist man, wie Ober sagt, nur erstaunt,daß
die Cholera nicht alljährlich mit gleicher Heftigkeit auftritt.
Deshalb begiebt sich in den heißen Monaten der ganze besser
sitnirte Theil der Bevölkerung in einen hoch oben in den
Bergen belegenen Ort unweit der caribischen Küste, wo nicht
nur reine Luft, sondern auch heiße und kalte, zu Bädern
gefaßte Quellen sich befinden. Auf seinem Wege nach dem
Vulkangebiet der Insel, der Sousriöre de Guadeloupe, Pas-
sirte Ober den kleinen Badeort, unweit dessen sich auch das
Sommerlager der Garnison von Basse Terre befand. Aus
reichen Kaffeeplantagen, die sich weit an den Bergen hin-
aufzogen (denn Kaffee bildet den Hauptexport der Insel),
kam man in die herrlichste Hochwaldsregion, in deren trübem
Dämmerlicht sich aus allen Seiten eine Vegetation zeigte,
wie sie der Reisende noch auf keiner der anderen Inseln
in gleicher Ueppigkeit und Schönheit wahrgenommen hatte.
Mehrere Stunden lang führte der Weg durch dieses Wald-
gebiet, das trotz des bunten, wuchernden Durcheinander der
verschiedenartigsten Pflanzenformen doch nicht den Charak-
ter einer WUdniß hatte; dann ging es höher bergan, die
Bäume wurden niedriger, und man kam an einen unter
Baumfarnen hinströmenden Fluß, dessen Wasser eine so
hohe Temperatur hatte, daß trotz der beträchtlichen Luft-
wärme ein dichter Dampf von ihm aufstieg. Mühsam ar-
beitete man sich einen Weg durch die Farnkräuter uud
Orchideen, die den Pfad überwucherten, um dann einen ftei-
len, mit Strauchwerk und Gestrüpp bewachsenen Abhang
hinauszuklimmen, der auf eine kleine Ebene am Fnße des
eigentlichen Kegels führte. Hier hemmte keinerlei Vegetation
mehr die Aussicht; auf der kahlen Ebene lagen hin und
: Merkwürdige Vogesenberge.
wieder große Blöcke zerstreut; manche in so gewagten Stel-
luugen des Gleichgewichts aufgerichtet, daß man sich scheute,
dicht an ihnen vorbei zu gehen. „Eine ungeheure Pyra-
mide, deren Spitze abgebrochen, und die durch eine verbor-
gene Macht in der Mitte auseinandergerissen ist: das ist
die Sousriöre von Guadeloupe." An der einen Seite reicht
die trennende Kluft nicht ganz bis an den Rand der obern
Fläche und es bleibt eine schmale Brücke, aus der man auf
das zweite kleine Plateau gelangen kann. Die Tiefe des
schwarzen Abgrundes kann der Blick nicht ermessen, die Wände
gehen fast senkrecht hinab; aus einem Spalt in der einen
dringt unaufhörlich dichter weißer Dampf. Und mit wü-
thender Gewalt und in heftigen Stößen drangen auch aus
zahllosen kleinen Hügeln und tiefen Spalten des zweiten
Plateaus Dampfsäulen mit so lautem Geräusche hervor,
daß es dem Reisenden nicht möglich war, sich hier mit sei-
nen Begleitern anders als durch Zeichen zu verständigen.
Ans der schwarzen, kraterartigen Oeffnung eines Hügels
stiegen verpestende Schwefeldämpfe auf, und ein Blick durch
einen breiten Spalt daneben ließ das Innere einer Höhle
sehen, deren Wände über und über mit goldglänzenden
Schweselkrystallen bedeckt waren. Mehr noch als bei einer
der anderen antillischen Vulkanregionen drängte sich dem
Beobachter hier der Gedanke auf, daß eine neue Eruption
in kurzer Zeit bevorstehen müsse, und unwillkürlich fiel der
Blick immer wieder auf deu großen Mittlern Spalt, aus
dem die beiden letzten Ausbrüche stattgefunden haben.
Der Gipfel der Sonfrwre hat nach Humboldt eine
Höhe von 5000 Fuß über dem Meere; ein heftiger Wind,
der sich erhob, als die Reisenden eben die höchste Spitze er-
stiegen hatten, zerriß den Nebel, der bisher jede Aussicht
verhüllt hatte, und so zeigte sich vor Ober's Blicken noch
einmal das ganze nähere und ferne Jnfelgebiet ausgebrei-
tet, das zwei Jahre hindurch das Feld seiner ebenso ersolg-
wie genußreichen Forschungen gewesen war und dem er jetzt
Lebewohl sagen sollte.
Merkwürdige Vogesenberge.
Von Prof. Dr. Georg Gerland in Straßburg.
III.
Der H o h n a ck.
Der Hohnack — VerHüne im romanischen Patois der
Gegend genannt — ist in geologischer Beziehung sehr ein-
fach gebaut. Das Buntsandsteinmassiv, aus welchem er be-
steht, lagert unmittelbar, ohne die vermittelnde Zone des
Rothliegenden, aus dem Granit auf; jene Feuchtigkeitszone,
die wir am Climont, am Ungersberg über dem Rothliegenden
fanden und die den vielen Klüften und Spalten des so leicht
durchdringlichen Steines ihren Ursprung verdankt, findet sich
hier unmittelbar über dem Granit. Der Berg selbst besteht
von unten bis oben ganz aus dem gleichen Material und
trägt auf seiner langgestreckten Gipfelfläche die uns schon
bekannte Konglomeratdecke, welche in große Blöcke zerfallen
ist. Aber trotz diefer Einfachheit des Baues ist der Hohnack
doch einer der interessantesten Berge des Elsaß. Zunächst
ist auch er wieder typisch für die Buntsandsteinformation.
Ein langer, schmaler Rücken, von Südost nach Nordwest
gerichtet, am Nordwestende, an der Wetterseite, am niedrig-
sten und hier sowie auf der Südwestseite mit stark entwickelter
Blockhalde, gut bewaldet bis auf die (trockenere) Nordostfeite
und die Gipfelfläche, wo die Bäume vereinzelter stehen,
die Wände in den oberen Partien von großer Steilheit,
nach unten durch ihr eigenes Zersetzungsmaterial verbreitert,
so zeigt der Hohnack eine dem großen Donon völlig ähnliche
Bildung. Die schützende Konglomeratdecke des Gipfels giebt
ihm seine eigenthümliche heuschoberähnliche Gestalt; wie denn
alle die Sandsteinberge mit abgestumpftem oder abgeflachtem
Gipfel von diesen Konglomeraten überlagert sind. Wo ihr
Schutz fehlt, da sind die Berge, soweit sie ohne denselben
erhalten sind, zn' spitzen Kegeln zusammengeschmolzen. Von
besonderm Interesse ist nun der Umstand, daß die Schichten
des Hohnack, welche ganz horizontal liegen, unmittelbar auf
dem Granit aufruhen, auf welchem sie unmittelbar abge-
lagert sein müssen. Der Boden des Strandmeeres, auf wel-
chem sie sich niederschlugen, war also felsig, es war Granit-
Prof. Dr. Georg Gerlan!
boden, wie auch in unseren heutigen Meeren felsiger Boden
nicht selten beobachtet wird. Jener Sockel des Rothliegenden,
welchen wir bisher unter allen jenen Buntsandsteinbergen
fanden, fehlt hier durchaus, wie dies Gestein überhaupt im
Gebiet der Südvogesen nicht vorkommt, mit Ausnahme der
Hohen-Königsburg; diese aber, am Rande der Gebirgserhebung
nach Nordosten vorgelagert, hat eine Ausnahmestellung. Un-
möglich kann das Rothliegende etwa durch Erosion von diesem
Theil des Gebirges weggeführt worden sein. Wäre dies der
Fall, so müßte, während sonst der Buntsandstein sich unmittel-
bar aus dem Nothliegenden entwickelt, so daß es nicht immer
leicht zu sagen ist, wo letzteres aushört und ersterer beginnt, so
müßte hier, während nordwärts schon lange das Meer flnthete,
welches den Sandstein niederschlug, der Meeresboden mit den
Niederschlägen des Rothliegenden sich gehoben und sehr lange
als Festland gehalten haben. Denn die völlige Wegwaschuug
einer solchen Gesteinsschicht kostet Zeit. Dann würden wir
aber einerseits die scharskantigen Trümmer, welche das
Rothliegende stets aufweist, im Buntsandstein wieder finden,
die bei der Kürze des Weges in das Buntsandsteinmeer
sowie bei der Tiefe und Ruhe des letztern gewiß ihre schar-
fen Kanten behalten hätten; und andererseits würden wir
die Sandsteine nicht so gleichmäßig hoch nach oben abschließen
sehen, als wir es, wie wir gleich sehen werden, tatsächlich
finden. Kurz, aus dem Fehlen des Rothliegenden in den
Südvogesen folgt mit Notwendigkeit, daß ihre Gesteins-
massen inselartig gehoben waren zur Zeit, als sich nördlich
(bis in die Gegend der Hohkönigsburg) und südlich (nörd-
lich von Belfort bis Aue am Eingang des Doller-Thales,
ja vielleicht bis in die Gegend von Sennheim und Watt-
weiler) und westlich (in Lothringen) das Rothliegende nieder-
schlug. Auch zur Steinkohlenzeit bestand diese Insel schon;
sie trug nach Nordosten zu, in der Gegend des heutigen
Thäuuichel, einige Lagunensümpfe mit Strandvegetati'on,
aus welchen sich die unbedeutenden Kohlenlager und die
isolirten und wenig mächtigen Schichten des Kohlengebirges
ablagerten, auf welchem der Sandstein des Thännichels auf-
liegt. Als nun aber der Boden der Strandsee, welcher das
Rothliegende niederschng, allmälig immer tiefer und tiefer
sank, da sank jene Granitinsel mit und so lagerte sich der
Buntsandstein unmittelbar auf den Granit ab. Dieser
Insel verdanken denn wohl auch die scharfeckigen Gerölle
des Rothliegenden zum Theil ihre Entstehung.
Durch die wagerechte Lagerung seiner Schichten unter-
scheidet sich der Hohnack wesentlich vom Climont, dessen
Schichten nach Daubree nordwärts geneigt sind, wohl in
Folge der südwärts emporgestiegenen Granitberge; ebenso
vom Ungersberg und den übrigen Sandsteinbergen des Hoch-
seldes, denn diese alle zeigen geneigte Schichten und zwar so,
daß sie nach dem Centrum des Hochfeldes hin etwas ge-
hoben sind. Wir haben es bei diesen Buntsandsteinbergen
mit Resten zu thun, welche die Flanken des Hochfeldmas-
sives decken, welche also beim Emporsteigen des Granites sich
naturgemäß nach außen senkten. Umgekehrt liegt der kleine
Rest, den wir als Hohnack übrig haben, mitten auf dem
alten Granitmassiv, und der Theil der Sandsteindecke, zu
welcher er gehörte, muß durchaus ebenmäßig emporgestiegen
sein.
Wir erwähnten schon die ziemlich gleichmäßige Höhe, in
der wir überall die Konglomeratdecke finden; es ist von
Interesse, die Höhen der verschiedenen Sandsteinberge ver-
gleichend zu überblicken. Da haben wir die beiden Hohnack
mit 930 und 931 m, den Cras mit 879 m, Thännichel
944, Ungersberg 904, Climont 974, Altenberg 880,
Noirmont 861 m; dann denFauds mit 770 in, Drei-Aehren
mit etwa 730, die Hohe-Königsburg mit 512, Voyemontmit
: Merkwürdige Vogesenberge. 299
804, Bloß 819, Heidenkopf 780, den Eichelberg mit 411
und den Ballon de Servance mit 1189 m. Sofort aber
scheiden die extremsten Zahlen aus, wenn wir bedenken,
daß der Ballon de Servance dem höchst gehobenen Theil
der Vogesen — der ganz granitische Ballon d'Alface hat
1244in —, daß ferner die Hohe-Königsburg (522m),
der Eichelberg (411 m) dem äußersten Gebirgsrande, dem
stärksten Erosionsgebiete angehören. Wir finden überhaupt,
daß die Randberge, wie Heidenkopf, Bloß, eben weil sie
Randberge sind, unter etwas anderen Bedingungen stehend,
alle etwas niedriger sind; und wenn wir dasselbe auch bei
den mehr centralen Noirmont, Faud<z, Boyemont finden, so
zeigt sich gleich bei diesen Bergen die Form sehr eigen-
thümlich: sie alle sind im vollen Sinne was die Franzosen
so bezeichnend Mamelons nennen. Die Konglomeratdecke
ihrer Gipfel war also bei ihnen nicht stark genug, den Berg
vor dem Zusammenschmelzen zu bewahren, auch sind alle
diese Berge den atmosphärischen Einflüssen besonders aus-
gesetzt, der Boyemont im Westen auf der Scheide zwischen
Fave- und Brenschthal, der Noirmont, der Fands in der
unmittelbaren Nähe der granitischen Hantes Chaumes und
ihrer Nebel- und Regenmassen; wer längere Zeit hier im
Gebirge lebte, kennt die meteorologische Bedeutung dieser
höchsten Westwand. So bleiben uns nur Berge übrig von
annähernd gleicher Höhe, deren Mittelmaß etwa 920 bis
940 m beträgt. Allerdings ist bei denselben der Sandstein
nicht gleichmächtig, wie denn z. B. der Granitsockel des
Hohnack 801 in, der Sockel des Ungersberges etwa 470
bis 500 in, beim Thännichel etwa 650 m beträgt. Die
Konglomerate liegen aber ziemlich in gleicher Höhe. Hier-
aus folgt, daß jene Granitinfel, auf welche sich der Sand-
stein niederschlug, selber schon unregelmäßig geformt, in
Höhen und Thäler (in Folge der Erosion jener uralten Zei-
ten) ausgearbeitet war; daß wir es ferner mit einer Nieder-
schlagsdecke von gleicher Höhe zu thun haben, welche erst
später zerrissen wurde. Zu der heutigen Höhe derselben
(920 m) stimmen nun auch die Höhen des Domm (1010 m)
und seiner Nachbargipfel Noll (983 in), Schneeberg (963m),
Grand Brocard (833 in), St. Crime (860 in); letztere beiden
westlich vom Rabodeau. Die größere Höhe des Douou er-
klärt sich eben aus der ueu einsetzenden Hebnng des nörd-
lichen Gebirgstheiles, unter welchem man ja im Jägerthal
Spuren von Granit findet.
Nachdem wir so, gleichsam im Hinansteigen, uns
über das Material des Hohnack und seiner mühevoll
steilen Seiten unterrichtet haben, bleibt uns jetzt noch
übrig, die Aussicht von der Höhe des Berges zu betrachten.
Wie ist sie schön und großartig und doch wieder wie ganz
nen und eigentümlich! Wir sehen hier nur die Süd-
vogesen, die beiden nördlichen Theile nur in einzelnen An-
deutungen fern am nördlichen Horizonte; aber gerade dadurch
erschließt sich uns eine ganz neue Welt. Nach Norden ist
der Blick eher ein unruhiger zu nennen; er schweift über all'
die vereinzelten Höhen, die mannigfaltigen kleinen Gebirgs-
züge, welche sich diesseits und jenseits der Weiß erheben, und
findet seinen Abschluß in den Höhen des Thännichel, des Bre-
zonard und der Töte des Faux südwärts über le Bouhomme.
Wer sich hier über all die kleinen Gipfel und verschobenen
Gebirgsketten, wiesie da und dort auftauchen, sicherund rasch
zu orientiren im Stande ist, den dars man wohl „vogesensest"
nennen. Nach Nordwesten und Westen (hier über den roth-
schimmernden Kühberg und viele Waldhöhen hin) schließt
der lange kahle Rücken der Hautes Chaumes den Horizont,
welche man zum Unterschied der Hautes Chaumes südwest-
lich vom Donon auch wohl die Hautes Chaumes von Pairis
nennt, nach dem Namen einer altberühmten Abtei in der
38*
300 Prof. Dr. Georg Gerland:
Nähe des Weißen Sees. Man begreift von dem erhöhten
Standpunkt des Hohnack aus recht deutlich, wie diese Hautes
Chaumes für die ganze so reich gegliederte Gebirgswelt, die
man übersieht, gleichsam der Rückgrat sind. Herrlich ist der
Blick in diese reiche Welt, wenn der mannigfaltige Wechsel
von Wald und Wiese und angebautem Land, von Berg und
Thal, wenn die zahlreichen Dörfer unter blauem Himmel,
im leuchtenden Sonnenglanze daliegen; aber auch stürmisches
Wetter hat hier (wie überhaupt im Hochgebirge) seinen
hohen Reiz. Da sieht man die Hautes Chaumes in ihrer
vollen Bedeutung, man möchte sagen Thätigkeit: unablässig
steigen die Wolken hinter ihnen aus, um weithin nach
Südosten zu ziehen, wenn sie nicht vorher schon das Ge-
birge in Regen hüllen; oder über den hohen Westrücken
lagern sich dichte Nebel, von deren wogendem Rande mächtige
Flocken sich ablösen, um als phantastisch geformte graue
Schleier zum Beschauer heranzuziehen. Größer, ja biswei-
len wirklich furchtbar wird die Erscheinung, wenn sich die
Wolken rascher bilden, wenn sie zu Gewittern sich plötzlich
zusammenballen: weiß steigen sie aus, sie werden dunkler
und dunkler, eilend und drohend breiten sie sich weithin aus
und senden mit unerwarteter Schnelligkeit mächtige Regen-
fluthen nieder. Aus diesen gewaltigen Niederschlagmassen
erklärt sich einmal die starke Auswaschung der Vogesen, an-
dererseits der Wasserreichthum des Ost- und Westabhanges
des Gebirges, der, bei dem starken Gefäll der Flüsse von be-
deutender Arbeitskraft, auf das Thätigste von der Industrie
ausgenutzt wird. Auch sonst ist er natürlich für die Ebene
und ihre Ausnutzung von der größten Wichtigkeit.
Blicken wir nun bei klarem Wetter nach Osten, so bildet
hier den Mittelpunkt der hohen, blauen Schwarzwaldkette
der Kandel; südlich ragt der Feldberg mächtig aus, das
Auge aber wird durch den kühner geformten Welchen noch mehr
angezogen, von welchem aus sich der Blauen in raschem
Zuge zur Ebene hinabsenkt. An besonders hellen Tagen
und bei günstiger Tageszeit sieht man anch die zackigen
Gipfel der Alpen, während sonst Schwarzwald und Jura
die Aussicht abschließen. Auch in der Ebene giebt es viel
zu sehen: zunächst als Mittelpunkt der Aussicht Colmar,
welches seine Lage zunächst der breiten Oessnnng des Münster-
thales und der Paßverbindung über die Schlucht verdankt,
dann aber auch den Ausgang des Weißthales und die Paß-
Verbindung über den Col du Bouhomme nach Fraize und
St. Die beherrscht. Hinter Colmar sieht man die Jll, und
verschiedene Kanäle, von denen der Vaubankanal oft durch
Spiegelung besonders deutlich sichtbar ist, dann den Rhein,
Neu- und Altbreisach, hinter beiden den dunkel aufragenden
Kaiserstuhl, an diesem südwärts vorbei am Gebirge Freiburg
mit seinem Münsterthurm. Auch der lebhaft gegliederte, schön
bewaldete Abhang der Vogesen selber, der in der Ebene mit
einer fortlausenden Reihe von Dörfern geschmückt ist, bildet
eine reiche Zierde der Aussicht, dicht über ihm liegt die
Kapelle, liegen die Gasthäuser des vielbesuchten Wallsahrts-
ortes Drei-Aehren, der mit seiner herrlichen Aussicht in
Rhein- und Münsterthal, mit seinen reichen und bequemen
Spaziergängen, seinen prachtvollen Wäldern, seiner unver-
gleichlichen Lust einen der schönsten Sommeraufenthalte bil-
det, den man finden kann.
Aber der schönste Blick vom Hohnack ist nach Süden,
über waldige Abhänge in das Münsterthal und über dasselbe
hinaus in die neue Welt der Ballons. Schon die außer-
ordentlich schöne Gebirgswand, welche das Thal nach Süden
abschließt, der die Höhe der Flixbnrg vorgelagert ist, zeigt
die Ballonbildung deutlich in dem hohen Landsberg, dessen
Gipfel indeß dem Schlosse zu Liebe, das er tragt oder trug,
künstlich abgerundet ist, und noch mehr in dem auch geolo-
Merkwürdige Vogesenberge.
gisch merkwürdigen stumpfen Kopse der höchsten Höhe dieses
Zuges (826 m), an dessen südwestlicher Fortsetzung die
Ruine Laubeck ausragt, über dem Sulzbacher Thal. In
dieses Thal sieht man tief hinein; es wird abgeschlossen durch
die schöne Bildung des kleinen Belchens (kahlen Wasens),
der das eigentliche Centrum dieses Südblickes bildet, obwohl
gleich rechts von ihm der Ballon von Gebweiler aufragt
und links der Blick über die gewaltigen Höhen des Hanpt-
kammes vom Hohnack an bis zum Elsässer Welchen hin-
schweift. Die Form dieser Berggipsel fällt hier um so mehr
aus, als man im nächsten Umblick nach Norden und Westen
so ganz andere Formen sieht: im Westen die langen Rücken
des Kühbergs, der Hautes Chaumes; im Norden spitze
Kegel oder langgestreckte stets tief geschartete Berge, nach
Süden aber diese rundlichen Kopse hinter und neben ein-
ander mit sehr geringer Schartuug. Gerade hierdurch macht
die Südwand des Münsterthales, welche den stumpfen Kopf
trägt, einen so gewaltigen Eindruck: mächtig und steil ragt
sie aus, bis zu der bedeutenden Gipfelhöhe, und doch ist ihr
Kamm lebhaft, aber in ernster man möchte sagen majestä-
tischer Formbildung gegliedert.
Eine ganz unvergleichliche Schönheit gewähren dem
Hohnack die Wälder, die ihn umgeben — nicht diejenigen,
welche er selber trägt, sondern die, aus denen er aufragt, die
aus granitischem Boden wachsen. Sie bestehen meist aus
Edeltannen (P. Picea). Die Straße, welche von Drei-
Aehren nach dem Hohnack führt, verläuft oberhalb der zahl-
reichen südöstlich und östlich gerichteten Erosionsthäler, welche
steil bis ins Münsterthal hinunter abfallen. Aus den dich-
ten Wäldern, welche sie bedecken, ragt einzelnes Granitgestein
großartig, durch Erosion allmälig herausgearbeitet, hervor;
steigt man auf einem solchen freien Platz von der Straße
hinab, so hat man eine der schönsten Gebirgsansichten, die
man in den Vogesen haben kann: man sieht auf den tiefen
Absturz der Thalgrate hinab, in ein weites, nach unten strahlig
zusammenschießendes Thal, über dunkelgrüne Tannenwipfel,
welche höher und höher aus der Tiefe ragen, auf ernste dun-
kelgrüne Wände, die im Sonnenlichte goldgrün leuchten,
aus die blauduftige Höhe des stumpfen Kopfes, welcher den
Kreis nach Süden schließt, und über diese schweigenden
Gründe hin auf den rothfchimmernden Hohnack, der in selt-
samen, aber edelu Formen mächtig zum blauen Himmel
aufragt. Rings um den Fels steht blühende Heide, fliegen
einzelne Waldschmetterlinge; es ist schwer, sich von der Be-
trachtung loszureißen.
Auch das Thier - und Pflanzenleben in der Umgebung
des Hohnack ist reich und schön: es treten die Formen der
granitischen Hochvogesen ans, darunter viele seltene, anch
viele alpine Pflanzen. So findet man bei einem fommer-
lichen Aufstieg von Türkheim aus gleich an den Mauern
dieser Stadt das Heliotropium europaeum, in den Wein-
bergen massenhaft Calendula arvensis, an den Felsen die
zierlichen Halme des Triticuia Lachenali, die gelben Stern-
chen des Leontodon pyrenaicum, der schönen rothglänzen-
den Dolden des Purpursedums, der Glockenblumen, Finger-
hüte, und vieler anderen Pflanzen nicht zu gedenken. Ein
großer Schmuck der Waldwiesen sind die zahllosen Schmetter-
linge, die hier fliegen, darunter manche Arten, die nur dem
Gebirge eigen sind. Und nun die Zahl der fruchttragenden
Sträucher, des rothtraubigen Waldholluuders, der Himbeeren,
Heidelbeeren, Brombeeren! Edle Kastanien werden in reich-
lichen Beständen bis ans die Höhe von Drei-Aehren gezogen,
wo sie auch Frucht ansetzen, doch wohl nie reifen. Der
Hohnack selbst, aus Sandstein bestehend, ist nicht eben
Pflanzenreich; zu den Hauptprodukten seiner höchsten Fläche
Ethnographische Bemerkungen zu einigen Rechtsgebräuchen. 301
gehört die Preißelbeere, welche in der ganzen Gegend über- werthen derselben gewiß eine lohnende Beschäftigung werden
reichlich wächst. Man benutzt sie vielfach zur Herstellung können, z. B. in le Bonhomme, wo die Töte de Faux mit
eines gebrannten Wassers; doch würde ein weiteres Ver- diesen Früchten fast ganz überdeckt ist.
Ethnographische Bemerkungen zu einigen Rechtsgebränchen.
Von Richard Andree.
Ii.
Die Asyle.
Mit dem Aufdämmern der Geschichte beginnen auch die
Nachrichten über die Asyle, in denen der Verfolgte eine Frei-
statte findet. Sechs Levitenstädte des gelobten Landes
(Kedes in Naphtali, Sichem in Ephraim, Hebron in Juda,
Bezer in Rüben, Ramoth Gilead in Gad und Golan in
Manasse) waren als Asyle für unfreiwillige Todtschläger
auserwählt worden, und auch der Tempel zu Jerusalem galt
als Asyl. Bekannt sind die griechischen Phygandentheria
und die römischen urbes fugitivorum, deren Asylrecht seit
Konstantin dem Großen aus die christlichen Kirchen über-
gingen. Seit Langem ist im civilifirten Abendlande die Be-
deutung der letzteren als Freistätten erloschen, aber bei den
Swanen im Kaukasus sind die alten Kirchen noch jetzt Asyle
für jeden Verbrecher *), und dasselbe gilt von den christlichen
Kirchen Abessiniens, so z. B. von dem berühmten Gottes-
Hause in Axum, von der Kirche in Gondar 2).
Auch in der mohammedanischen Welt sehen wir die
Kultusstätte als Asyl. Die Moschee Karubim in Alt-Fez
ist Asyl, in welchem geflüchtete Verbrecher vor der Verfol-
gnng weltlicher Gerechtigkeit sicher sind. In Mikenes ist
die Moschee Mulei Jsmael das berühmteste Asyl für Ver-
brecher. Rohlfs war Zeuge, wie Soldaten, welche revoltirt
hatten, dort mehrere Tage unbelästigt blieben und erst die
Zufluchtsstätte verließen, als ihnen Straflosigkeit zugesichert
wurde s).
Der Both (innerste Raum?) der Klöster im buddhisti-
fchen Siam bildet eine Freistätte für Verbrecher 4). Für
Diebe und Ehebrecherinnen der Brahminen in Malabar be-
steht ein Asyl im Knnitscheri-Tempel Vellappa-nadu südöst-
lich von Calicut, wo keine Macht sie antasten darf, es fei
denn, sie verließen den Platz. Freilich zählte man dieses
unter die 64 Anatscharams oder Mißbräuche, welche dort
von den Brahminen eingeführt waren 5). So war auch das
Heiligthum des Prove bei den heidnischen Obotriten, das
der Chronist Helmold sah 6), ein Asyl, ein freier, von einem
Holzzaun umgebener Hofraum mit zwei Pforten, gelegen
im heiligen Hain. „Der Eintritt in den Hofraum war
allen verwehrt, außer dem Priester uud denen, die opfern
wollten, oder die von Todesgefahr bedrängt wurden; denn
diesen durfte der Zufluchtsort niemals verschlossen werden.
Die Slaveu haben nämlich solche Ehrfurcht vou ihren Heilig-
thümern, daß sie den Umkreis eines solchen selbst in Kriegs-
zeiten nicht mit Blut beflecken lassen."
Ein Sklave in Aschanti, welcher sich in den Tempel
1) v. Haxthausen, Transkaukasia I, 140 Anmerkung.
2) v. Heuglin, Abessinien 148, 213.
3) Rohlfs, Erster Aufenthalt in Marokko 241, 235.
4) Bastian, Reisen in Siam 120.
5) K. Graul, Reise in Ostindien I, 335.
6) Chronik der Slaven 1. Buch, 83. Kapitel.
flüchtet und dem Fetisch weiht, ist frei. Doch wer zwei Un-
zen Goldes und vier Schafe den schlauen Fetischpriestern
zahlt, der verschließt dadurch seinen entlaufenen Sklaven in
voraus die Thür des Fetischhauses J). Als Freistätte gelten
bei den Kaffern auch Häuptlingsgräber 2).
In der ganzen Südsee gilt dieser Rechtsbrauch. Die
Hawaiier hatten Asyle, Pahunas genannt, deren Zahl be-
schränkt war. Auf Hawaii gab es deren zwei, auf Oahu,
Mauü und Kanai je ein solches Asyl. Ein großer Hofraum
war auf drei Seiten mit Steinen umschlossen; an der vier-
ten befand sich eine hölzerne Einfriedigung, deren Thür stets
offen blieb. Keinem war der Eingang verwehrt. Wer vor
einem Feinde entfloh, sich vor dem Zorne des Häuptlings
in Sicherheit bringen wollte, wer das Tabu verletzt, einen
Diebstahl verübt, einen Mord begangen, oder eines der vie-
len religiösen Gebote übertreten hatte, war gerettet, sobald
er das Pahuua betrat. Er warf sich vor dem Altar der
Schutzgottheit nieder, brachte irgend ein Opfer dar und hatte
damit Verzeihung erwirkt. Während der Fehden zwischen
den verschiedenen Stämmen flüchteten Weiber und Kinder
nnd nichtstreitbare Männer mit Habe und Vorräthen dorthin
und waren sicher, weil die Rache der Götter aus jeden fiel,
der das Asyl verletzen würde. Im Innern standen viele
Hütten, die in gutem Zustande erhalten wurden. Das Pa-
Huna von Honanau, von welchem jetzt kaum noch schwache
Spuren übrig geblieben sind, war 700 Fuß lang und 400
breit 3).
Im Falle eines Mordes flohen der Schuldige und alle
seine Angehörigen auf den Samoainfeln nach einem andern
Dorfe des Bezirkes oder in einen andern Bezirk; in jedem
Falle war dieser Ort dann eine Zufluchtsstätte. So lange
sie dort blieben, wagte es felten Jemand sie zu verfolgen
und Feindseligkeiten mit dem Dorfe hervorzurufen, welches
sie beschütztes.
Flüchtet ans den Palan-Inseln der Mörder in ein
Haus, so ist er in Sicherheit, da kein Feind in einem Hanse
getödtet werden dars, besonders in Anwesenheit des Wirthes5).
Auch in Amerika unter den Tschirokis gab es vor
60 Jahren noch Zufluchtsstätten, in deren geheiligten Gren-
zen kein Blut vergossen werden durfte. Selbst ein Kriegs-
feind, den man in diesen Friedensstätten antraf, wurde mit
der größten Gastfreundschaft behandelt und in Frieden ent-
lassen 6).
1) Bowdich, Reise nach Ashantee. Weimar 1820, 361.
2) Maitz, Anthropologie II, 393.
3) „Globus" XXV, 69 (1874).
4) „Ausland" 1865, 731.
5) Kubary in Journ. Mus. Godeffroy. Heft IV, 25.
6) Boudinot im Journ. Americ. Geogr. Society V. 221.
New-Hork 1874.
302 • Skizzen aus i
Wie Reutlingen im Mittelalter Asylstadt für unvorsätz-
liche Todtschläger war, so diente lange Zeit Ranguhn in
Pegn als Zufluchtsort für zahlungsunfähige Schuldner *).
Interessant ist es auch zu sehen, wie die Perser den alten
Kultus des Pferdes im Zusammenhang mit dem Asylrecht
in ausfallender Weise bewahrt haben. Wer in einen Pferde-
stall flieht, und wäre es der größte Verbrecher, der ist ge-
schützt gegen alle Verfolgung und fo sicher, als habe er seine
Zuflucht zu einer Moschee genommen oder ein Asyl gesucht.
Der Herr des Stalles muß ihn als heilig gehaltenen Gast
betrachten und darf ihn nicht den Händen der verfolgenden
Gerechtigkeit überliefern2).
So wie der Ort vermöge des ihm anhaftenden Rechtes
eine Freistätte für Verbrecher werden kann, fo vermag auch
der Mensch schützend einzutreten, und es haftet vor allem am
Weibe die Vorstellung, daß sie gleichsam ein Asyl sei und
dem Flehenden Schutz gewähren könne. „Rettend war in
der Sage die Nähe von Königinnen, Fürstinnen, die unter
ihren Mantel nahmen, ja von Frauen insgemein. Die
Einwohner von Baröges in Bigorre haben unter anderen
volkstümlichen Gebräuchen den bewahrt, daß jeder Ver-
brecher, der zu einem Weibe flüchtet, begnadigt werden
muß" s).
Ein Fremdling, der sich unter den Schutz eines tscher-
kessischen Weibes begab oder die Brust desselben mit dem
Munde berühren konnte, ward, wenn er auch ein Feind, ja
der Mörder eines Blutsfreundes war, als eigener Bluts-
verwandter geschont und geschützt 4). Wie wunderbar sind
nun hier die Parallelen aus Afrika! Hildebrandt erzählt:
„Unlöslich ist das Schntzbündniß, welches ein Wakamba
oder anderer Ostafrikaner mit einem Stamme schließt, wenn
er im Kampfe oder sonstiger Bedrängniß um Pardon flehend
ein weibliches Wesen, selbst ein kleines Mädchen, ergreift
a) Michael Symes, Reise nach Ava. Weimar 1801, 56.
2) Brugsch, Aus dem Orient II, 102.
3) Grimm, R A. 892.
4) Pallas, Reise in den südlichen Statthalterschaften des
russischen Reiches. Leipzig 1799, I, 336. Wen der Tscher-
keffe als Gastfreund aufgenommen, dem ist auch Sicherheit und
Leben damit gewährleistet; nie wird er ihn verrathen oder an
den Feind ausliefern. Wollen diese ihn mit Gewalt wegführen,
so giebt die Frau des Wirthes dem Gastfreunde Milch von
ihrer Brust zu trinken, wodurch er als ihr rechtmäßiger Sohn
anerkannt wird, und seine neuen Brüder haben nun die Pflicht,
ihn mit ihrem Leben gegen seine Feinde zu vertheidigen und
sein Blut an ihnen zu rächen, v. Klaproth, Reise in den Kau-
kasus I, 572.
und an ihrer Brust saugt, oder den Penis eines seiner Feinde
berührt. Der Stamm und besonders die berührte Person
schützt von nun an nicht bloß das Leben des Flehenden, son-
dern geht die engste Verbrüderung mit ihm ein, welche so
weit reicht, daß er ihm Haus und Weib überläßt. Nach
dem Tode des Schützenden geht dieses Bündniß sogar auf
seine Erben über" r).
An der Loangoküste hatte ein Freier oder auch ein
Sklave, sobald er kein die öffentliche Sicherheit gefährdendes
Verbrechen begangen hatte, fondern nur in irgend eine Fa-
milienfehde verwickelt, oder der Zauberei augeklagt war,
oder aus irgend wachem Grunde von einem Mächtigen ver-
folgt wurde, oder auch bei seinem Eigenthümer sich nicht
mehr wohl fühlte, das Recht, sich einem Landesfürsten
(Mfnmu nsi) als Sklave aufzudringen. Er eilte zu diesem,
beleidigte ihn formal durch eine unehrerbietige Handlung,
durch einen leichten Schlag, oder verursachte eine geringe
Schädigung des enger mit der Persönlichkeit verknüpften
Eigenthums, indem er ein Geschirr zerbrach oder ein Ge-
wand zerriß. Der betroffene Grundherr hatte dann die
Verpflichtung, ihn als seinen Hörigen aufzunehmen, zn sei-
nen Gunsten mit den Verfolgern zu unterhandeln, sie mit
Güte, nötigenfalls mit Gewalt der Waffen von seinem
Schützlinge fern zu halten 2).
In Cameron's Lager kam ein Weib gestürzt und band
einen Knoten in den Turban eines seiner Leute, wodurch
sie sich unter dessen Schutz stellte, da ihr Mann sie geschla-
gen hatte. Ihr Mann folgte bald nach und forderte sie zu-
rück; bevor ihm die Frau aber wieder übergeben wurde,
mußte er als Buße eiueu Ochsen und drei Ziegen bezahlen
und in Gegenwart eines Häuptlings versprechen, sie niemals
wieder zu mißhandeln. Diese Sitte herrscht weit durch
Ostasrika 3). Mit solchen Beispielen vor Augen und nament-
lich im Hinblick aus das von Pechuel Berichtete müssen wir
denn auch den ägyptischen Oberst Pnrdy der Unkenntniß
beschuldigen. Vier entlaufene Sklaven schlitzten seinen Pser-
den die Ohren aus, „um in den Schutz der europäischen
Macht zu gelangen". Pnrdy, den Brauch nicht kennend,
ließ sie vor eine Kanone spannen, bis die Ohren der Pferde
geheilt waren 4).
x) I. M. Hildebrandt in Zeitschr. f. Ethnologie 1878, 387.
2) Pechuel-Loesche im „Globus" XXXII, 238.
3) Cameron, Quer durch Afrika I, 67.
4) Reisebriefe aus Kordofan und Dar-Fur von Dr. Pfund.
Hamburger Geogr. Mitth. 1876 bis 1377, 144.
kizzen aus Oberalba«ien.
Von Spiridion Gopöevio.
D u r a z z o.
Als ich mich das erste Mal mit dem Lloyddampfer dem
Haupthafen Mittelalbaniens näherte, erfuhr ich eine arge
Enttäuschung. Ich hatte in dem alten hochberühmten
Dyrrhachion eine Stadt etwa von der Größe und Bauart
von Corsu erwartet. Statt dessen präsentirte sich mir ein
zwar malerisch gelegenes, aber seiner Ausdehnung nach un-
bedeutendes Dorf. Gleich D ulciguo steigt der Ort amphi-
theatralisch an und erinnert mit seinen verfallenen Festnngs-
mauern an Lepanto. Als ich aber an das Land stieg und
durch die Straßen schritt, mußte ich mir gestehen, daß Du-
razzo an Armseligkeit uud Schmutz kühn mit allen türkischen
Provinzialstädten rivalisiren könne.
Durazzo hat heute etwa 200 Häuser mit circa 1200
Einwohnern, davon 150 Katholiken, 500 Griechen und
550 Mohammedaner. Außerdem sollen in der Vorstadt
noch gegen 200 Zigeuner leben. Die Häuser sind größten-
theils in Ruinen, der Rest elende Holzbaracken. Die
Gassen bieten das Möglichste an Schmutz, Gestank, Un-
Skizzen aus
ebenheit und Steile. Da hier die Hunde nicht, gleichwie
in Konstantinopel, die Straßenpolizei versehen, auch keine
menschliche existirt, läßt sich dies begreifen. Kein Wunder,
wenn dann Durazzo als Fiebernest berüchtigt ist und von
Fremden möglichst gemieden wird, wozu freilich auch das
elende Wasser und die nahe Lagune das ihrige beitragen.
Warum Durazzo auf manchen Karten als Festung be-
zeichnet wird, sehe ich nicht ein. Im Mittelalter mochte sie
stark genug sein, heute beschränken sich die ganzen Fortisikatio-
nen auf die verfallene Umfassungsmauer, wie denn auch die
ganze Besatzung aus 20 Mann mit einer alten Kanone
besteht. Die erwähnte Mauer ist aus den Trümmern der
alten Stadt erbaut, denn viele der inmitten eingemauerten
Steinblöcke zeigen altrömische Inschriften, aber auch byzau-
tinische Skulpturen und sind offenbar erst von den Vene-
zianern oder Türken, wie es eben kam, eingesetzt worden.
Die Stadt hat mehrere in Moscheen umgewandelte alte
Kirchen, von denen jene nahe der Porta Marina der heili-
gen Maria geweiht war. Die Katholiken besitzen eine Pfarr-
kirche. Ihr Erzbischos residirt aber nicht hier, sondern
weit nördlich, unweit des Flusses Mat in Delbinischte,
wo ich ihn besuchte. Die Reihe der Bischöfe reicht bis in
das fünfte Jahrhundert hinauf, der zweite Namens Astius
soll unter Trajan hingerichtet worden sein. Auch die Grie-
chen besitzen eine Kirche.
Der Hafen oder vielmehr die Rhede ist sehr ausgedehnt
und gilt, trotzdem sie gegen Süden offen, als ziemlich
sicher. Ich kann wenigstens aus eigener Erfahrung bestä-
tigen, daß wir, obwohl unter heftigem Sciroccosturm ein-
laufend, ganz ruhig vor Anker lagen. Freilich hat der Sturm
im Februar 1346 von zwanzig hier ankernden Schiffen
sechszehn derart auf den Strand geschleudert, daß bloß zwei
wieder flott gemacht werden konnten. Da manche jener
Fahrzeuge drei Anker ausgeworfen hatten, erklärte man
diese Katastrophe aus dem schlechten Zustande des Grundes,
welcher durch das Ballastauswerfen immer ärger wurde.
Die große Lagune, welche sich im Norden der Stadt aus-
dehnt, soll ehemals durch zwei tiefe Kanäle mit dem Meere
verbunden gewesen sein und Galeeren getragen haben; den in
der österreichischen Küstenausnahme und danach auf den ande-.
ren Karten eingetragenen Verbindungskanal mit Brücke
kann ich mich nicht erinnern gesehen zu haben. Da jedoch
der Strand an jener Stelle kaum wenige Fuß über dem
Meeresspiegel liegt, so ist es leicht möglich, daß Sturmslu-
then über den Küstensand in die Lagune schlagen. Durazzo,
von den Albanesen Dürres, von den Serben D ratsch
(Dra5) genannt, wird von einem unter dem Mudir von
Karaja stehenden Kaimakam verwaltet, dem ein Hafen-
kapitän zur Seite steht. Beide Beamten sind ihrer Kolle-
gen im türkischen Reiche würdig. Der österreichische Kon-
sul, welcher verdammt ist, in Durazzo zu wohnen, ebenso
der Agent des Lloyd (dessen Dampfer wöchentlich dreimal
anlegen) und der Arzt, ein ehemaliger polnischer Jude, sind
herzlich zu beklagen. Ich würde um keinen Preis der Welt
dort wohnen wollen.
Die Hauptstraße, welche sich iudeß nur durch ihre Länge
von den anderen Gäßchen unterscheidet, führt durch die
Stadt zum Landthor, vor welchem der Bazar und eine Vor-
stadt liegt, von der man freiem Ausblick hat. Die Bevöl-
kerung ist ziemlich herabgekommen. Zigeuner und Zigeuue-
rinnen (letztere nicht nur unverschleiert, sondern auch uube-
kleidet) treiben sich stets auf der Gasse umher, so daß man
fast glauben könnte, sie bildeten den Hanpttheil der Bevöl-
kerung. Die vornehmen Damen aller drei Religionen zei-
gen sich nur selten und dann verschleiert auf der Straße.
Die männliche Bevölkerung ist größtenteils ärmlich und
Oberalbanien. 303
zeigt nichts von dem stolzen Auftreten der Albanesen in an-
deren Städten. Und doch, welche Geschichte hat Durazzo,
welche Wichtigkeit besaß es im Alterthum und Mittelalter!
630 vor Christus von den Kerkyräern unter dem Namen
Ep id am no s gegründet, erhielt es seinen altillyrischen Namen
Dyrrhachion wieder von den Römern, da sie in dem grie-
chischen eine üble Vorbedeutung sahen. Sie hatten es
kampflos dem König Gentins von Jllyrien abgenommen
und deshalb mit Privilegien ausgestattet. Unter den Rö-
mern wuchs die Stadt zu einem bedeutenden Hafenplatze
heran, denn Cicero, welcher sie als Verbannungsort gewählt,
spricht von ihrem geräuschvollen Treiben. Im Bürger-
kriege spielte es eine große Rolle, Pompejns und Cäsar
landeten daselbst und lieferten sich in der Ebene zwei
Schlachten. Nach der Theilung des Reiches dem oströmischen
Kaiserthnme zugetheilt, fiel es 986 in die Hände des bul-
garischen Kaisers Samuel, der es jedoch nur drei Jahre lang
behauptete. Um diese entfernte Provinz besser schützen zu
können, verlieh der byzantinische Kaiser Michael Kuropa-
lates der vornehmsten Familie den Statthaltertitel als
„Herzöge von Durazzo". Dies hinderte nicht, daß die
Bulgaren 1018 unter der Regierung Michael's des Paph-
lagoniers sich abermals der Stadt bemächtigten und sie bis
1042 hielten. Unter dem Kaiser Alexios Komnenos lan-
deten 1081 die Normannen 15 000 Mann stark unter
Robert Guiscard bei Durazzo und griffen es zu Wasser
und zu Lande an. Ihre Flotte wurde jedoch durch einen
Sturm zerstört, und Guiscard rettete sich mit Mühe zur
Landarmee, welche sein Sohn Bohemund befehligte. Ale-
xios, welcher mit Entsatz herankam, wurde beim heutigen
Teke Aleksi geschlagen und wäre fast bei Nderenje von den
Verfolgern gefangen worden. Trotzdem zog sich die Bela-
gerung in die Länge und erst am 15. Februar 1082 konnte
Guiscard durch Verrath eines Edelmannes von den venezia-
nischen Hülsstruppen der Besatzung die Stadt nehmen. 1085
empörten sich die Einwohner nach dem Eintreffen der Nach-
richt vom Tode Gniscard's, verjagten die normannische Be-
satzuug und kehrten zu Byzanz zurück.
Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Lateiner
wurde die Stadt 1205 der venezianischen Republik übergeben,
aber schon im nächsten Jahre dem Kaiser Theodoras Ange-
los Komnenos zurückgestellt. 1272 kam KarlI. von Anjou
aus Italien, eroberte die Stadt und erneuerte ihre Privile-
gieu. Doch wurde sie schon zwei Jahre später durch ein
gewaltiges Erdbeben zerstört. Die Bewohner flohen nach
allen Richtungen und die Albanesen plünderten die zerstör-
ten Häuser rein aus. Erst nach vier Jahren konnten die
meisten der nach Berat geflohenen Einwohner zur Rückkehr
bewogen werden, allein der Hauptglanz der Stadt war da-
hin. 1304 trat Karl II. die Stadt dem Herzog Philipp
von Tarent ab, welcher deren Privilegien bestätigte, was
aber die Durazziner nicht hinderte, schon im nächsten Jahre
abzufallen. Das Erscheinen des Herzogs und sein Amnestie-
versprechen bewogen indeß die Stadt zu neuer Huldigung.
Im Jahre 1333 erwarb Graf Johann von Achaja Du-
razzo durch Tausch; als er aber zwei Jahre später starb,
bemächtigte sich der serbische Kaiser Stefan Duschan des
Platzes (1336). Prinz Ludwig von Durazzo rüstete sich
zur Rückeroberung, welche 1337 gelungen zu sein scheint.
Bis zum Tode Karl's, des Sohnes Johannes von Achaja,
vielleicht noch länger herrschte Neapel unmittelbar oder mit-
telbar über Durazzo; 1359 wird jedoch bereits Karl I.
Thopia als Herr von Durazzo in einer Urkunde erwähnt.
Es scheint, daß er nicht rechtmäßig zu diesem Besitz kam,
denn 1373 rüstete sich Prinz Lüdwig von Navarra, welcher
bei seiner Heirath mit einer Tochter der Königin Johanna von
304 ° Aus allen
Neapel Durazzo als Mitgift erhalten hatte, zur Eroberung
Albaniens. Kaum an dessen Küste gelandet, starb er jedoch
und seine Truppen begannen auf eigene Faust mit den Alba-
nesen, besonders mit Karl Thopia, Krieg zu führen. Dieser
rief seiueu Schwager, den montenegrinischen Fürsten Gjuragj
BalZi« (Georg Balschitj), zu Hülse. Beide zusammen be-
lagerten die Söldner in Durazzo, welches diese mittlerweile
genommen, wurden jedoch zurückgeschlagen und konnten sie
nur gegen Zahlung einer Summe zur Räumung der Stadt
bewegen. Die beiden Alliirteu überwarfen sich jedoch und
erst im Frieden von 1376 blieb Thopia im unangefochtenen Be-
sitz Durazzos. Die Wirren nach dem Tode König Karl's
von Neapel benutzend, zog jedoch Balscha II. neuerdings vor
Erdtheilen.
Durazzo und nahm es im Sturm. Da er aber noch im
selben Jahre in der Schlacht bei Savra gegen die Türken
blieb, sah sich sein Sohn Gjnragj II. gezwungen, die Stadt
an diese abzutreten (1387). Durch Vermittelung einer
mit dem Sultan Mnrad I. verwandten Chadiu (Prinzessin)
erhielt er indeß Durazzo bald wieder zurück. Zur selben
Zeit starb Karl Thopia und sein Sohn Georg trat 1392
seine Ansprüche ans Durazzo den Venezianern ab. Diese
setzten sich mit Gjnragj II. in Verbindung und erlangten 1394
gegen eine Geldsumme die wirkliche Abtretung der Stadt,
welche nun bis 1501 in ihrem Besitz blieb. Seither ist Du-
razzo türkisch geblieben.
Aus allen Erdtheilen.
Asien.
— Eine amerikanische Missionarin, Miß Norwood aus
Swatow, bat kürzlich die Art beschriebe«, wie die Füße
der chinesischen Frauen verkürzt werden. Erst wenn
das Kind laufen und verschiedenes Andere thun kann, be-
ginnt das Verfahren, zu welchem eigens 2 Zoll breite und
im ersten Jahre zwei, später fünf Ellen lange Binden angefer-
tigt werden. Das Ende derselben wird auf den Spann ge-
legt, über die Zehen, unter der Sohle her und über den
Hacken gezogen, so daß die Zehen nach der Sohle hin und
über dieselbe gepreßt werden, während der Spann sich aus-
baucht und in der Sohle ein tiefer Einschnitt entsteht, wel-
cher von dem Theil des Fußes, der auf dem Erdboden steht,
bis zum Spauu iy2 Zoll betragen soll. So wird der Fuß
umwickelt, und das Ende der Binde festgenäht; man quetscht
ihn so, daß beim Gehen bloß der Ballen des großen Zehen
den Erdboden berührt. Große Mengen Alaun werden an-
gewandt, um Eiterung und schlechten Geruch zu verhüten.
Nach einem Monat wird der Fuß in heißes Wasser gehalten,
um einige Zeit zu ziehen; dann wird die Binde sorgfältig
losgewickelt, wobei manch Stückchen todter Haut abfällt und
Geschwüre und Wunden zum Vorschein kommen; manchmal
schält sich auch ein großes Stück Fleisch von der Sohle, ja
es fallen sogar ein oder zwei Zehen ab, doch fühlt sich in
diesem Falle die Frau dadurch belohnt, daß sie hernach um
so kleinere und zartere Füße hat. Jedesmal nach Abnahme
der Binde wird der Fuß geknetet, damit die Gelenke ge-
schmeidig werden, und dann wird so schnell wie möglich ein
neuer, noch festerer Verband angelegt. Im ersten Jahr sind
die Schmerzen so heftig, daß die Dulderin zu Allem unfähig
ist, und zwei Jahre lang thnt der Fuß beständig weh, als
ob er mit scharfen Nadeln gestochen würde. Durch bestän-
diges, festes Binden stirbt der Fuß binnen zwei Jahren ab
und hört auf zu schmerzen, allmälig schrumpft auch das
ganze Beiu bis zum Knie zusammen, so daß nur Haut und
Knochen bleiben. Wenn „die goldene Lilie", wie die chine-
sische Frau ihren Zarten, kleinen Fuß nennt, erst so nmge-
bildet ist, kann er durch nichts seine frühere Gestalt wieder-
erlangen.
— Nach einer im Domänenministerium angefertigten Zu-
sammenstellung zählen die Gouvernements Tobolsk nud Tomsk
787 696 Seelen, Jrkntsk, Jeniseisk, Zabaikal-Land, Amur-
Land, Küstengebiet und Jakntsk 601037, Sibirien im
Ganzen 1383 733 Seelen. Die Oberfläche umfaßt für
Westsibirieu 2054826 Quadrat-Werst; Ostsibirien
8654 939 Q.-W., das Ganze also 10709764 Q.-W, davon
sind für Anbau geeignet in Westsibirien 666 915 Q.-W. oder
32,4 Proc. des Raumes, in Ostsibirien 1 612 390 Q.-W.,
d. h. nur 18 Proc. der Oberfläche.
— Ueber den Kreis Karkalinsk, den größten der
Oblast Semipalatinsk, bringen die „Semipal. Oblastn.
Wied." folgende Angaben: Der Kreis umfaßt rund 176 000
Quadrat-Werst oder über 18000 000 Deßjatiueu Land; die
Bevölkerung bestand 1879 aus 121 560Seelen, fast aus-
schließlich Kirgizen (116 547 in 203 Wolosts). Fast das
ganze Gebiet des Kreises ist wasserarme Steppe und bietet
dem Landbau, der künstliche Bewässerung erfordert, große
Schwierigkeiten; viel günstigere Bedingungen findet die in
hohem Maße entwickelte Viehzucht. Bis zu dem verderb-
lichen Winter 1879/80 zählte man im Kreise etwa 200 000
Pferde, 40 000 Kameele, über 40 000 Stück Hornvieh und
eine Million Schafe. Die Ausläufer des Ala-tau streichen
bis in den Kreis hinein und bieten mit dichtem Walde be-
deckt einen großen Reichthum an Wild; das könnte einen
einträglichen Handelsartikel abgeben, aber die Kirgizen sind
schlechte Jäger und ziehen deshalb aus dem Reichthum von
kostbarem Pelzwerk wenig Gewinn.
— Zu dem Artikel „Die Chnnchnsen im Süd-Nssnri-
Gebiet" („Globus" XXXVIII, S. 173) theilt uns ein Ken-
ner der chinesischen Sprache Folgendes mit. Der Name
jener chinesischen Räuber lautet chung-chu (cliung = roth,
chu = üßart); statt „die Chnnchnsen" sagte man also richtiger
„die Chnngchn". Was den Namen „Mansy" (leider stets
in Mansy oder Mausen verdruckt) anlangt, so wird derselbe
besser Man-dsy geschrieben. Es ist ein Spitzname der
Südchinesen bei den Nordchinesen und findet sich schon in
der Form Mangi für Süd-China bei Marco Polo. Am
Amur bezeichnet er schlechthin den „Chinesen" überhaupt
und ist dort vielleicht mit Anlehnung an den Namen der
Mandschn in Gebrauch gekommen.
Inhalt: Panama und Darien. II. (Mit fünf Abbildungen.) — Ober's Aufenthalt auf den Caribischen In-
seln. IV. — Prof. Georg Gerland: Merkwürdige Vogesenberge. III. Der Hohnack. — R. Andree: Ethnographische
Bemerkungen zu einigen Rechtsgebräuchen. II. — Spiridion Gopöevie: Skizzen aus Oberalbanien. I. Durazzo. —
Aus allen Erdtheilen: Asien. — (Schluß der Redaction 22. Oktober 1880.) ___
Redacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
lit besonderer Herücksickiigung äer AntKroNoloZie um! Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
vr. Richard Kiepert.
9^rrr it rt (rhftiPtrr Jährlich 2 Bände a 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i
O I.U Ull s zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. D v/.
Panama u
Nach dem Französischen des
Schissslieutenant Wyse, das Haupt der Expedition, traf
inzwischen die letzten Vorbereitungen und warb Träger und
Macheteros an, welche mit dem Waldmesser (machete)
Schlingpflanzen, Gestrüpp und Bäume zu beseitigen und
einen Weg durch den Urwald zu bahnen hatten. Auf dm
Rath des Großkaufmanns Recuero, des Haupt-Ex- und
-Importeurs in Dariers wählte Wyse an zwanzig Leute aus,
welche indessen mit ihrer angeborenen Indolenz sich später
von so geringem Nutzen erwiesen, daß man froh war, sich
ihrer rasch entledigen zn können. Ganz anderen Schlages
waren die Männer, welche Herr de Lacharme vom Rio Sinu
in der Provinz Cartagena herbeibrachte, wahre Kolosse, ge-
stählt durch das rauhe Leben des Holzhauers, nüchtern, ge-
horsam, ergeben und unermüdlich. Eigentlich hätte die
Expedition ihre Wasserfahrt von Panama aus in Canoas,
Bongos uud ähnlichen elenden Fahrzeugen antreten sollen;
aber davon wollte Aizpnru, der Präsident des Staats, nichts
wissen: er stellte ihr einen kleinen Dampfer „Taboguilla"
zur Verfügung und gab ihr fogar in Gesellschaft mehrerer
hohen Beamten und Notabeln das Geleit.
Die Abreise war auf den Abend des 11. December
festgesetzt. Der Dampfer, welcher fönst dazn dient, die
Reisenden von der Eisenbahnstation nach den großen See-
dampfern überzuführen, ist überaus klein und besitzt keinen
Schiffsraum, fo daß das Deck stets überfüllt ist. Auf
feinem leichten Spardeck hatten aber bereits die 30 Mache-
teros der Expedition sich festgesetzt. Außer der letztern
schiffte sich noch ein Trupp Soldaten ein, welcher die Gar-
Globus XXXVIII. Nr. 20.
Il d Darien.
Ichiffslieutenants A. Reclus.
nifon von Aaviza in Danen ablösen sollte, ferner das Musik-
korps des Regiments von Panama — eine Aufmerksamkeit
gegen die Fremden, welcher dieselben gern überhoben ge-
wesen wären —, endlich der Präsident mit feinem Gefolge
und einer Schaar von Panamanern, welche diese Gelegen-
heit, in ihr einförmiges Dasein etwas Abwechselung zu
bringen, mit Freuden ergriffen. Holzhauer, Soldaten und
Musikanten hatten die besten Plätze bereits besetzt und den
größten Theil des noch übrigen Raumes mit ihrem Gepäck,
Decken und Hängematten ausgefällt: der Präsident und die
Mitglieder der Expedition mochten sehen, wie sie sich unter-
brachten. Als ersterer an Bord kam, empfing ihn Feuer-
werk und Musik. Au Schlafen war nicht zu denken; jeder
mußte sehen, wie er in möglichst wenig unbequemer Lage
oder Stellung die Nacht mit Trinken, Spielen oder der-
gleichen hinbrachte. Ueber dem Trinken vergaßen zum
Glücke die Musiker bald ihre Instrumente.
Um 51/2 Uhr Morgens zeigte sich in der Dämmerung
der Strand des Meerbusens San Miguel. Gegenüber
dem Kap Garachine bot sich ein herrlicher Anblick dar:
das ziemlich hohe Ufer verschwand vollständig hinter hoch-
ragenden Bäumen, deren schnurgerade weiße Stämme ein
wahres Dach dunkelgrünen Laubes trugen. Manche dieser
Riesen maßen sicherlich mehr als 30 m in der Höhe. Keine
Schlingpflanze, kein Schmarotzergewächs, wie so häufig im
Urwalde, beeinträchtigte die mächtige Wirkung der fymmetri-
fchen gewaltigen Bäume.
Nachdem der kleine Dampfer mit dem Lande kommuni-
39
308 Panama
etil hatte, steuerte er auf die Boca Chica los, eine und
zwar die südlichste der beiden Müuduugen, durch welche sich
der Tuyra iu die Bai San Miguel ergießt, und welche für
das südliche Darien als Häsen dienen.
Der Isthmus von Darien, zwischen 7l/2 0 und 9^/-/
nördl. Br. und 79" und 81 y20 westl. Länge von Paris
gelegen, wird durch das Gebirge von San Blas von der
Landenge von Panama geschieden. Er reicht bis an die
Ebene des Choco im columbischen Staate Cauca und bis
zu dem großen Gebirgsknoten Pirri, von dessen Gipfel nach
der Angabe mancher Schriftsteller am 25. September 1573
Vasco Nunez de Balboa zum ersten Male die leuchtenden
Wogen des Stillen Oceans erblickte.
Darien zerfallt in zwei Theile: den Isthmus von San
Blas, von welchem weiter unten die Rede sein wird, und
das südliche Darien. Letzteres wird von einer Bergkette
durchzogen, deren Haupttheile die Namen Cordillere von
Llorana, Nique und Mali führen. Ihre Höhe wechselt
d Darien.
vielfach; im Durchschnitt verläuft sie näher dem Atlantischen
als dem Stillen Oceane, und in Folge dessen findet sich
auf jenem Abhänge der Cordillere kein bedeutender Fluß,
während dem Stilleu Oceane der Chucunaque und der
Tuyra zufließen. Letzterer nimmt den erstem bei Real de
Santa Maria auf, bildet weiter abwärts, wo der Rio Sa-
bana sich in ihn ergießt, einen prachtvollen innern Hasen
uud mündet dann in die Bai San Miguel.
Die Naturschätze dieses Gebietes lassen sich noch gar
nicht berechnen. Die Goldminen von Cana waren die er-
giebigsten in ganz Central-Amerika, so schlecht sie auch aus-
gebeutet wurden. Von den Erzeugnissen des Waldes kennt
man einstweilen nur erst die taqua oder Elsenbeiuuuß und
den Kautschuk, dessen Ertrag, vor zwanzig Jahren auf seinem
Höhepunkte angelangt, indessen durch die unvernünftigen
Verwüstungen der Sammler fchon bedeutend nachgelassen
hat, so daß die Bevölkerung Dariens nach einer kurzen Zeit
der Blüthe wieder in tiefes Elend versunken ist.
Chepigana. (Nach einer C
Die Bai San Miguel, welche der Dampfer in Zeit
von zwei Stunden kreuzte, wird von hohen Hügeln einge-
faßt, hinter welchen sich mächtige Berggipfel erheben —
allerdings kein ermnthigender Anblick für eine Expedition,
welche eine Senkung für einen Kanal zu suchen hatte.
Nachdem man aber einige Dutzend Kilometer in der Rich-
tnng, wo die Berge sich am drohendsten erheben, zurückgelegt,
zeigte sich zwischen der Insel Jgnana und dem Kap Colo-
rado eine Oessnung in der Küstenlinie und dahinter eine
weite, mit Inseln bedeckte Bucht, zwischen welchen hindurch
der Dampfer feinen Weg nahm, der des Mannichfaltigen
und Ueberrafchenden genug darbot. Nochmals scheint ein
zusammenhängendes Ufer der Weiterfahrt ein Ende Zu be-
reiten; aber nur eine halbe Kabellänge von einem Vor-
gebirge entfernt zeigt sich eine circa 100 m breite Straße,
in welcher eine starke Strömung gefährliche Wirbel hervor-
bringt. Um dieselben zu vermeiden, wäre ein Umweg von
10 km nöthig; da aber diese Straße, die Boca Chica, nur
eine halbe Seemeile lang und dazu tief ist, uud der Dampfer
nur genügen Tiefgang besitzt, so wagt er sich mit großer
Schnelligkeit hindurch und erreicht glücklich die Mündung
;ze von Lieutenant Reclus.)
des Tuyra. Noch passirt er einige kleine Inseln, dann den
Landvorsprung, welcher das hübsche Dörfchen La Palma
trägt, und nun zeigt sich jener einförmige Anblick, den alle
großen Ströme der Tropen darbieten: eine weite Flüche
nahezu regungslosen, gelblichen Wassers, von einer leichten
Brise kaum gekräuselt, und ringsum, so weit das Auge
reicht, flaches Land und niedrige mit Manglebänmen be-
deckte User. Hier am Tuyra indessen bringen die hohen
Hügel in der Ferne einige Abwechslung in die Landschaft.
Beim. Einflüsse des Sabana wird der Strom so breit, wie
ein Meeresarm, um sich dann vor Chepigana, wo der
Dampfer um ein Uhr Nachmittags landet, auf uur 11/2 km
zu verengern. Im Feiertagsgewande hatte sich, den An-
kommenden zu Ehren, die gesammte Bevölkerung auf dem
Hügel, welcher die Kirche trägt, versammelt; die weißen oder
hellfarbigen Kleider der Frauen, die halbnackten bronzenen
Körper der Männer gaben zusammen ein malerisches Bild.
Hier endlich begann das Arbeitsfeld der Expedition; aber
der Anfang ging nicht so leicht von statten. M. Wyse
hatte viel Mühe, Boote zum Befahren des Tuyra aufzutrei-
ben; denn die Bewohner von Chepigana nahmen die gute
Panama:
Gelegenheit wahr und forderten so unverschämte Preise, daß
sich der Präsident selbst ins Mittel legen mußte. Durch
seine Unterstützung erhielt die Expedition eine große „canoa"
und mehrere Ptrogen, welche insgefammt aus je einem
Baumstamme bestanden, der nur mittels der Axt ohne Zu-
hülsenahme des Feuers ausgehöhlt worden war.
Am 13. December verabschiedeten sich der Präsident und
die übrigen Einheimischen von der Kommission, tauschten
zahllose Händedrücke, Umarmungen, selbst Küsse aus und
d Darien. 309
kehrten auf der „Tabognilla" nach Panama zurück, während
die kleine Flottille der Europäer noch auf das Eintreten der
Flnth zu warten hatte. Diese Ruhepause benutzte Reclus,
das Dorf zu besichtigen. Chepigana liegt am Fuße eiues
kleinen Felshügels am Rande eines ungesunden Sumpfes.
Zwei Tage Arbeit würden genügen, dem stagnirenden Wasser
Abfluß zu verschaffen — aber die Indolenz ist zu groß, als
daß mau sich zu einer fo geringfügigen Anstrengung auf-
raffte. Die Wände der Häuser bestehen sämmtlich aus
£ Rol/J k~r
Zamba. Mulai
Typeu aus Darien. (Nach
Schilf; an dem Holzgerüste ist kein einziger Nagel verwendet,
alles wird nur durch Lianen zusammengehalten. Manche
enthalten vier Zimmer, einige rühmen sich sogar eines
obern Stockwerkes. Das Dach, eine dicke Schicht Palm-
blätter, schützt vortrefflich gegen die Hitze und laßt keinen
Regentropfen hindurch; dafür aber beherbergt es zahllose
Skorpione und Eidechsen sowie Spinnen von entsetzlicher
Größe, während unter dem vorspringenden Schutzdache
Wespen, deren Stich sehr schmerzhaft ist, zu Hunderten ihre
Nester angeklebt haben. Die Einrichtung der Wohnungen
ist natürlich sehr einfach: ein Bettgestell, ein Moskitonetz,
ein oder zwei Koffer, welche die ganze Habe der Familie
umschließen, ein paar Bretter und drei Steine, welche den
gußeisernen Kochtopf tragen.
Die Häuser sind nach Gutdünken hier und dort errichtet.
Zur Regenzeit verwandeln sich die Straßen in Moräste,
e. Mulattin.
Skizzen von A. Urdaneta.)
und nur einige reichere Leute haben den Platz vor ihrem
Hause mit Scherben von irdenen Bierflaschen gepflastert.
Als noch der Kantfchnkhandel in seiner Blüthe stand, und
jedermann, und mochte er noch so faul sein, täglich seine
30 bis 40 Francs verdiente, wurden jene Kruken in solcher
Menge leer getrunken, daß man ganze Straßen damit hätte
pflastern können, und daß man auf dem Kirchhofe Unifaf-
sungen der einzelnen Begräbnißstätten, Kreuze auf den Grä-
bern und selbst Namen der Verstorbenen aus den Boden-
stücken mnthwillig zerbrochener Bierflaschen hergestellt hat.
In den Schlammlöchern wälzen sich Herden magerer
mit Aussatz behafteter, laugzähuiger Schweine, die sich nur
mit den Hunden — Gallinazos (Geier) kommen hier nicht
vor — in das Geschäft der Straßenreinigung theilen.
Kinder, welche ihnen in den Weg kommen, falls sie sich auf
einen neuen Haufen Unrath stürzen, werden öfters umgerannt
Zambo.
Indianerin.
310 Ein Brief 5
und gebissen. „Nignas", „Gusanos" und andere Insekten
legen ihre Eier direkt in das lebende Fleisch dieser Schweine,
dessen Genuß nach Reclns' Beobachtung selbst von den ärm-
sten Leuten verschmäht wird.
Die Ureinwohner dieser Gegenden, die Cnnas- und
Chocos-Jndianer, sind in das Innere des Landes gedrängt
worden, wo sie am Oberlaufe des Tuyra und Chucunaqne
wohnen. Vollständig getrennt von den Darieuiten haben
sie, außer in Paya, bis jetzt ihre Freiheit sich bewahrt.
Eiuige andere Stämme bewohuen die Küste des Atlantischen
Oceans; sie sind weniger frei als jene und könuen den Co-
lombianern, welche Kautschuk und Tagna sammeln, keinen
Widerstand entgegensetzen.
Die eigentliche Bevölkerung Dariens zählt kaum 2000
Seelen und lebt in den unteren Thälern des Tuyra und
Chncuuaque; sie stammt von eutlauseueu Negersklaven, welche
sich mit Indianerinnen vermischt haben, und hat auch etwas
Blut von Weißen, Chinesen und Hindus, welche beim Bau
der Pauama-Eisenbahn beschäftigt gewesen waren, in ihren
Adern. Fast reine Schwarze bilden die Mehrzahl; aus
Höflichkeit nennt man sie „pardos" (Dunkele) oder „Colo-
rados" (Farbige); das Wort „Neger" gilt bei ihnen für
eine tödtliche Beleidiguug. Die meisten Mischlinge sind
Zambos und stammen aus einer Vermischung jener Colo-
rados mit Küstenindianern, olivenfarbigen Indianern von
Chiriqui oder rothen peruanischen Indianern; von denen des
Südens haben sie Kraft, Schönheit und die prächtige Haut-
färbe geerbt, von den Indianern von Chiriqui Mäßigkeit,
Geduld, Aumnth, Liebe zur Arbeit und Gehorsam. Fast
allen rollt auch ein wenig, aber auch nur ein paar Tropfen
„blauen Blutes" (sangre azul, d. i. europäisches Blut) in
den Adern; echte Mulatteu aber und Mischlinge zwischen
Weißen und Indianern sind in Danen selten.
Dank ihren indianischen Vorfahren haben nicht alle
Darieuiteu krauses Wollhaar, sondern häusig feines, glän-
zeudes, einfach gewelltes Haar; die so bevorzugte» führen die
Bezeichnung Cholos. Unter ihnen finden sich die stärksten
Männer und die schönsten Frauen. Im Allgemeine» sind
die Männer ziemlich muskulös und haben auf deu ersten
Blick ein kräftiges Aussehen. Das rauhe Handwerk des
Jägers und „caucliero" (Kautschuksammler), das Lebeu im
Ein Brief P
Aus einem Schreiben Prschewalski's aus der Stadt
Gui-de-tin am obern Hoang-ho (Mai 1880) bringt der
„Nnss. Jnval." vom 30. September (12. Oktober) dieses
Jahres folgenden Auszug:
Nach Erledigung meiner Geschäfte in Si-ning kehrte
ich zu meinem Lager zurück, das mich 25 Werst südlich von
der Stadt D o ukyr (im Südwesten von Si-ning) erwartete.
Nachdem wir alle Sammlungen verpackt und nach Alaschan
abgeschickt hatten, brachen wir am 20. März (1. April)
zum Hoang-ho auf, bis zu dem vou Donkyr aus 83 Werst
zurückzulegen waren. Da, wo wir den Gelben Fluß erreich"
teu, ändert er scharf seine nordöstliche Richtung in eine öst-
liche. An der Biegung liegt der kleine Grenzort Gomi,
von ackerbauenden Tanguteu bewohnt, die äußerste bewohnte
Niederlassung am obern Hoang-ho. Der Fluß selbst hat
hier bei niedrigem Wasser eine Breite von 60 bis 70 Sa-
shen (1 Sashen — 2,134 m) und eine sehr schnelle Strö-
schewalski's.
Urwalde, die langen Flußfahrten, alles dies würde sie un-
gewöhnlich stark machen, wenn sie nicht in ihrer Jugend so
durchaus gar keine Pflege genossen hätten; dazu kommt die
ungenügende Ernährung unterwegs, schlechte Witterung,
allerhand Unfälle im Walde und besonders die Trunksucht,
so daß man hier wenig Erwachsene in gutem Gesundheits-
zustande sieht. Greise kommen selten vor und nur unter
denen, welche nicht das mühselige Gewerbe des Canchero
ausgeübt haben.
Im Großen und Ganzen sind die Bewohner Dariens
sanftmüthig, gastfreundlich, freigebig und dienstwillig; allein
sie ertränken oft diese guten natürlichen Eigenschaften nach
und nach durch zügellose Trunksucht. Für den „anisado",
einen im Lande selbst bereiteten, gemeinen, aber sehr starken
Anisschnaps, geben sie alles her und hungern selbst, um ihn
sich verschaffen zu können. Unglücklicherweise ist derselbe
sehr billig, und so werden unter seinem Einflüsse die sonst
so friedlichen Leute streitsüchtig, greise», durch einen Scherz
gereizt, zum Machete und stechen blind darauf zu. Furcht
vor Strafe hält sie nicht zurück; denn an Ort und Stelle
giebt es keine Gerichte, Panama ist weit und der schützende
Urwald nahe. Nach einigen Monaten haben die Beleidig-
ten die Sache und ihre Nachsucht vergessen, und der Schul-
dige kann ungestraft in sein Dorf zurückkehren.
Die grenzenlose Kurzsichtigkeit dieser Leute liefert sie den
kleinen Kaufleuten i» Panama und Cartagena vollständig
in die Hände. Alles, was sie verdienen, wird sofort aus-
gegeben und obendrein stecken sie stets noch tief in Schulden.
Um ihren Gläubigern, deren Ansprüche durch Gesetz nicht
minder wie durch den Gebrauch geschützt sind, gerecht zu
werden, verdingen sie sich bei Patronen, die sich oftmals in
ebenso bedrückter Lage besinden, als „mozos" oder „con-
certados". Es ist das eine Art milder Sklaverei, der sich
die Leute ohne Murren und oft für ihre ganze Lebenszeit
unterziehen. Das Herkommen zwingt sie, bei ihren Herren
Werkzeug, Kleidung uud Nahrung zu kaufen, und diese sor-
gen schon dafür, daß die Schulden sich zwar nicht vergrößern,
aber auch nie getilgt werden. Die „Mozos" verrichten die
einzige Arbeit, welche es hier giebt: sie sammeln Kautschuk
und Tagna; um die Bestellung des Bodens, und wäre er
noch so fruchtbar, kümmert sich hier kein Mensch.
schewalski's.
mnng (300 Fuß in der Minute). Am Ufer und auf den
Jnfeln stehen Baumgruppen von Schwarzpappeln und Wei-
den. Der Wasserspiegel des Flusses liegt auf 3000 Fuß
absoluter Höhe.
Nach zehntägigem Aufenthalt in Gomi gingen wir
am Hoang-ho weiter aufwärts. Mit vieler Mühe und nur
durch Drohuugeu erhielten wir einen Führer, aber einen
Idioten, der die Gegend auf 100 Werst flußaufwärts nur
fehr wenig kannte. Offenbar war unter allen Bewohnern
der schlechteste zum Führer ausgesucht und noch dazu auf
Befehl aus Si-ning. Der dortige Amban hatte vor nns
her einen Boten geschickt mit der Anweisung, uns auf jede»!
Schritte zu täuschen, unsere Weiterreise durch heimliche Kniffe
möglichst zu erschweren, äußerlich aber uns vollste Ergeben-
heit und zuvorkommende Dienstwilligkeit zu zeigen. So ge-
schah es denn auch in Gomi. Einen Führer erhielt ich erst
als ich erklärte, ich würde den Ortsältesten mit mir nehmen.
Ein Brief -
Von Gomi begann unsere mühevolle Erforschung am
Gelben Flusse aufwärts. Das ganze Bassin seines Ober-
lanfes charakterisirt sich durch zahllose ungewöhnlich tiefe
Korridore oder Trancheen, die in Schwemmland (Thon,
Kiesel und kleine Steine) eingeschnitten und ausnahmslos
von oft ganz kleinen Flüßchen durchzogen sind. Nicht selten
bilden sich auch solche Einschnitte zur Zeit der starken Som-
merregen. Die Wände dieser Korridore, immer senkrecht abfal-
leud und schrecklich ausgezackt, haben zum mindesten eine loth-
rechte Tiefe von 1000 Fuß. Am Hoang-Ho selbst, der in einem
ähnlichen aber 6 bis 7 Werst breiten Korridore dahinfließt,
erheben sich die Steilwände auf 1600 Fuß Uber den Wasser-
spiegel. Eine große Zahl solcher Abgründe durchschneidet
die Gegend am obern Hoang-Ho. Auch in großer Nähe
sind diese Spalten noch nicht wahrzunehmen. Man geht
auf völlig ebenem Wiesengrunde, da öffnet sich plötzlich vor
unseren Füßen der gähnende Abgrund, auf dessen Boden
ein Flüßchen sich hinschlängelt, begleitet von Laubholzbäu-
men, ebenso bedecken Gebüsche stellenweise die Seitenwände
der Schluchten. In dieselben hinab führen von den Si-
fan angelegte Fußsteige, aber es ist äußerst beschwerlich
für Lastthiere diese Pfade hinabzusteigen oder aufwärts zu
klimmen, die auf eine Länge von 3 bis 4 Werst 1500 Fuß
Fall haben; noch dazu drohen die lehmigen Hänge fortwäh-
rend mit Einsturz. Das stete Passiren solcher Schluchten
kostete uns und unseren Thieren unglaubliche Mühe und
Anstrengung.
Zu den Unbequemlichkeiten des Vorwärtskommens trat
nun noch die feindselige Haltung der Landeseinwohner, der
Si-fan. Sobald wir ihr Gebiet betraten, zeigte sich
ein Reiter, der von fern uns zurief, wir würden bald er-
fchlagen sein, und davonjagte. Es war wie im letzten Win-
ter in Tibet, der reine Kriegszustand: Wachdienst bei Nacht,
Schlaf mit der Waffe unter dem Kopfkissen, Jagd mit ste-
ter Bereitschaft des Revolvers, Weiden des Viehs höchstens
auf Büchsenschußweite von unserm Lagerplatze entfernt.
Die Drohungen der Si-fan blieben indeß bei bloßen
Worten. Allen war sehr gut bekannt, wie wir die Jegraer
ans dem Tanla uus ferngehalten hatten; die Si-fan, ebenso
feige und eben solches Gesindel, vertauschten ihre feindliche
Haltung sehr bald mit einer mehr friedlichen, sie kamen so-
gar zu uns und verkauften uns Butter und Hammel. Zu-
letzt bekannten diese Wilden, daß sie schrecklich geängstigt
worden waren durch Gerüchte, die aus Si-ning uns vor-
angingen, und daß sie alle aus den Ortschaften, durch die
wir kamen, hätten flüchten wollen.
Nachdem wir 130 Werst von Gomi zurückgelegt hatten,
trafen wir in den tiefen Thalspalten zwischen hohen theil-
weise schneebedeckten Bergen ordentliche Wälder und fanden
darin viele Vögel, unter ihnen auch drei noch unbekannte
Arten. Besonders viel gab es blaue langohrige Fa-
sanen (Crossoptilon auritum). Diefer schöne Bo-
gel , von dem es nur einige Exemplare in den Museen
zu Paris und Petersburg, vielleicht auch in London, giebt,
fand sich sehr häusig sowohl in den Wäldern wie in den
Gebüschen von 9500 Fuß absoluter Höhe au. Wir haben
täglich einige Exemplare erlegt und die besten davon für
unsere Sammlung ausgewählt, in der wir jetzt 26 Stück
haben; sie füllen eine ganze Kiste; ohne die Schwierigkeit
des Transports hätten wir leicht ein ganzes Hundert blaner
Fasanen mitbringen können. Eine andere Merkwürdigkeit
der beschriebenen Gegend ist eine Arzneipflanze, Rh ab arber,
die dort in unglaublicher Menge wächst. Die alten Wur-
zeln erreichen eine riesige Größe. Ich habe anss Gerathe-
wohl eine solche Wurzel genommen, die ohne ihre zahlrei-
chen (im Ganzen 23) Seitenverzweigungen 16 Zoll lang,
rschewalski's. 311
12 Zoll breit und 7 Zoll dick war und (roh) 26 Pfund
wog. Ich bringe diefe Wurzel getrocknet für Herrn Maxi-
mowitsch mit.
Nachdem wir so eine Schlucht nach der andern durchschrit-
ten, zuletzt noch überdies einen Streifen Sand von 20 Werst
Breite passirt hatten, kamen wir zur Mündung des Flusses
Tschurmyn, der in den Hoang-ho fällt. Am Gelben
Flusse selbst ist diese Stelle nur 130 Werst von Gomi ent-
sernt; auf uuferm Umwege kamen 193 Werst heraus. Eine
Rekognofzirung von der Mündung des Tschurmyn noch
40 Werst weiter aufwärts am Hoang-Ho überzeugte mich,
daß es unmöglich sei, den gewaltigen Gebirgskamm zu um-
gehen, den der Gelbe Fluß hier durchbricht. Die Berge
ragen empor bis in die Wolken; furchtbare Abgründe sin-
den sich auf jeder Werst Weges; Viehfutter fehlte vollstäu-
dig. Das Gebirge zu umgehen und selbst den Weg
dazu erst durch Rekognofziruugeu zu finden, da unser Füh-
rer noch nie dort gewesen war, erschien mir unmöglich,
da wir Maulthiere bei uns hatten nnd nicht Kameele, die
an die Entbehrungen in der Wüste gewöhnt sind. Aber auch
mit Kameelen wäre es kaum möglich gewesen, dieses Gebirge
zu umgehen, das aller Wahrscheinlichkeit nach die östliche
Fortsetzung des Burchan-bndda ist.
Inzwischen waren uusere Thiere (Maulthiere und Pferde)
durch den mühevollen Weg stark angegriffen, vier derselben
hatten wir verloren. Auf das andere User des Hoang-Ho
überzugehen, der an der Mündung des Tschurmyn 40 bis
50 Sashen (— 2,134 m) Breite hat, war auch unmöglich,
es gab kein Holz zum Bau eines Flosses, und die Strö-
mnng war sehr reißend. Endlich hat auch die Gegend auf
dem andern Ufer des Gelben Flusses ganz denselben unzu-
gänzlichen Charakter. In Anbetracht alles dessen kehrte ich
um, giug nach Gomi und von dort nach der Stadt Gui-de,
die 60 Werst stromabwärts am rechten (südlichen) Ufer des
Gelben Flusses liegt.
Unser Dolmetscher, ein Tarantsche aus Kuldsha, ein
sehr beherzter uud ergebener Mann, war nach Si-ning ge-
schickt, um dem dortigen Amban mitzntheilen, daß wir über
Gui-de in das Schneegebirge gehen würden, welches 50
bis 60 Werst südlich dieser Stadt liegt. Aus die Nach-
richt von diesem meinem Vorsatze gerieth der Amban, der
geglaubt hatte, ich würde nach Hanse zurückkehren, in unbe-
schreibliche Wuth uud erklärte, er werde mich nicht auf das
südliche Ufer des Hoang-Ho lassen, er habe darüber Befehle
aus Peking. Der Dolmetscher erklärte daraufhin dem Am-
bau, er habe nur Auftrag ihm meinen Entschluß mitznthei-
len, nicht um Erlaubniß zu bitten, und ich würde dahin ge-
hen ohne Rücksicht auf den Zorn des Amban. Die Sache
endete damit, daß der Amban Befehl gab, uns auf das
rechte Ufer des Hoang-Ho überzuführen, was auch heute (?)
geschehen ist. Ferner hat er uns ein Papier zugestellt, in
dem er erklärt, daß er uns weder nach Kuku-nor, noch von
Gui-de aus weiter nach Süden gehen lassen kann, weil dort
die Tanguten sich empört haben, was freilich eine Lüge ist.
Ich selbst habe nicht die Absicht weiter als zu den Schnee-
bergen im Süden von Gui-de vorzudringen; ich werde dort
den Juni zubringen, ihre Flora und Fanna studiren und
dann, wahrscheinlich über Si-ning, mich in das Gebirge
nördlich von dem Götzentempel Tscheibsen begeben, dort
den Juli über verweilen und meine früheren Untersuchungen
in diesem Gebirge vervollständigen.
Das Wetter ist andauernd schlecht, jeder Tag bringt
Regen, im Gebirge Schnee; in der Nacht vom 11. (23.)
zum 12. (24.) Mai waren in der offenen Steppe 12" C.
Kälte, im Gebirge war es noch kälter. Trotzdem giebt es
viele Pflanzen in den Bergen, wir haben schon 250 Ar-
312 Fr. Hub ad: Die Fr
ten gesammelt; dann haben wir Fische im Hoang-ho ge-
saugen und etwa 500 Exemplare von Vögeln präparirt.
Außerdem ist eine Karte der durchzogenen Gegend angeser-
tigt, es sind astronomische, Barometer- und Thermometer--
Beobachtungen gemacht und viele Typen gezeichnet worden.
Kurz, unsere Untersuchungen sind ziemlich vollständig.
Die Quelle des Gelben Flusses selbst habe ich freilich
nicht erreicht, aber dahin kann man auch schwerlich anders
gelangen als aus Tzaidam, auf dem eigentlichen Hochlande
von Tibet. Bei alledem ist doch zu bezweifeln, daß der
Hoang-ho in seinem obern Laufe eine so scharse Biegung
macht, wie man sie gewöhnlich auf den Karten darstellt.
Auf der erforschten Strecke, 250 Werst von Gni-de auf-
wärts, gicbt es wenigstens keine solche Biegung. Von dort
nämlich bis Gomi aufwärts (60 Werst) fließt der Fluß
rein in östlicher Richtung, die nächsten 100 Werst kommt
er aus Nordosten uud die letzten 100 Werst bis zum gro-
ßen Durchbruch aus Norden. Wie die Sisan angaben,
wendet sich hinter jenen Bergen der Hoang-ho nach Nord-
Westen (immer in der Richtung des Flußlaufes gesprochen),
aber nur um dies schneebedeckte Gebirge zn umgehen.
»lingsfeier der Slaven.
Das ist alles, was ich in der Kürze über unsere zwei-
monatliche Reise am obern Hoang - ho mittheilen kann.
Offen gestanden ging es uns im Lande der wilden Sisan
viel besser als jetzt unter den Chinesen. Letztere haben solche
Thorheiten über uns in Umlauf gesetzt, daß sie den starken
Argwohn jenes einfachen Volksstammes noch vergrößerten.
So z. B. fragte der Amban von Si-ning jetzt unfern Dol-
metscher: ob ich wirklich 40 Sashen tief in das Innere der
Erde sehen nnd dort alle Schütze sogleich entdecken könne.
Die Sisan waren alle fest überzeugt, daß wir Zauberer
feien uud bei Nacht fortflögen, wohin wir wollten; nur
unsere Lastthiere könnten nicht über die Gebirge wegfliegen.
Vom Grafen Szechenyi sagte derselbe Amban von Si-ning,
dieser Reisende (der eine Messung am Hoang-ho vorge-
nommen) habe aus dem Grunde des Flusses einen Zauber-
stein gehoben, der 10000 Lan Gold Werth sei. Fabel über
Fabel.
Im Gebirge bei Tschcibsen werde ich den Juli zubriu-
gen, dann nach Alaschan gehen und etwa den 20. August
(1. September) dort eintreffen.
Die F r n h l i n g s f
Von Fr. Hnbad, Gyn
Wie bei jedem andern Volke wurde auch bei den Slaven
der Festkalender des Jahres nach dem Wechsel regelmäßig
eintretender Naturerscheinungen bestimmt; wie Tag und
Nacht stetig auf einander folgen, ein Wechsel, der auf den
ersten Menschen, wenn wir ihn uns mit vollständig ent-
wickelten Geistesgaben ausgestattet denken dürften, einen
schrecklichen Eindruck gemacht haben muß, folgen im Jahre
zwei wesentlich verschiedene Abschnitte, deren Gegensatz die
Natur deutlich genug hervorgehoben hat, um den Menschen
schon im ersten Kindesalter auf die Idee zu bringen, dar-
nach seine Zeiteinteilung einzurichten. Demnach zerfiel
das Jahr wieder in zwei Hauptabschnitte, Sommer (leto)
und Winter (zima), von denen der erstere als der über-
wiegendere, dem Menschen wichtigere, zugleich den Na-
uteri für das ganze Jahr abgab, wie andererseits nördlich
wohnende Völker, so die weit gegen Norden sitzenden Ger-
manen, bei denen dem Winter fast volle sieben Monate zn-
fallen, nach Wintern rechneten. Wie Recht wir haben, für
die älteste Zeit nur zwei Jahresabschnitte anzunehmen, zei-
gen deutlich die Namen für das Frühjahr, welches Serben,
Russen, Cechcn und Slovenen als „Vor-Sommer, junger
Sommer" (serb. proljece, russ. nadletnij cas , podletie,
cech. podletx, slov. rnlado leto, pomlad) bezeichnen, wäh-
rend für deu Herbst analog der Name „Vor-Winter" bei
vielen Stämmen gebräuchlich ist.
Den Jahresanfang verlegten die Slaven wie alle ver-
wandten Völkerschaften auf den (25.) März, da zu dieser
Zeit die Natur aus ihrem Schlafe erwacht und die Licht-
gottheiteu zur Herrschaft gelangen. Diese heidnische Ein-
richtung erhielt sich auch nach der Bekehrung zum Christen-
thume; der russische Volksglaube und die Apokryphen suchen
sie dadurch zu begründen, daß zn dieser Zeit die Welt und
der Mensch erschaffen worden seien. So heißt es z. B. in
dem apokryphen Leben des heiligen Stephan von Perm:
ier der Slaven.
isialprofessor in Pettau.
„Der Monat März steht an der Spitze aller Monate und
wird der erste genannt, nach dem Zeugnisse des Gesetzgebers
Moses, welcher sagt: Unter den Monaten soll auch der
März der erste sein, denn im März begann alles Beste-
hende, am 21. (25.) März nämlich wurde der erstge-
schasseue Mensch, Adam, der Begründer des Menschen-
geschlechtes, von Gott erschaffen" x). Die orientalische Kirche
hatte in Rußland nach dem Beispiele von Byzanz, woher
sie ja gekommen war, ihrer Zeitrechnung den römischen In-
diktionenzirkel der Steuerperiode zu Grunde gelegt und
damit den 1. September zum Jahresanfang bestimmt, doch
das Volk hielt an dem Alten fest wie in den übrigen Thei-
len Europas, wo mau sich, trotzdem von den Römern der
1. Januar als Jahresanfang übernommen war, auch bis
tief in das Mittelalter hinein an den alten heidnischen Ter-
min hielt; erst Peter der Große verlegte in Rußland den
Jahresanfang auf den 1. Januar.
Freilich war es anch den alten Völkern nicht entgangen,
daß der entscheidende Umschwnng schon früher, zur Zeit der
Wintersonnenwende, eintrat, zu der die Römer das Geburts^
fest der unbezwinglichen Sonne (dies natalis solis invicti,
am 25. December) feierten. Dieselbe Vorstellung von der
Geburt der Sonne zeigen die Mythen aller anderen Völker,
der Germanen wie der Slaven. Selbst das Christenthum
konnte die Bedeutung des Weihnachtstages als eines solaren
Festes lange nicht aus den Gemüthern der Gläubigen reißen;
so tadelt Leo der Große, zu dessen Zeit die ältere solare
Bedeutung des Festes offenbar noch in guter Erinnerung
war, in einer Predigt die „verderbliche Ansicht", daß die-
ser Festtag nicht wegen der Geburt Christi, sondern zu Eh-
reu des Aufgehens der neuen Sonne, wie sie sagten, gefeiert
*) Afanasjev, poeticeskija vozzrenija Slavjan na pri-
rodu. St. Petersburg 1866 — 1869 III, p. 659.
Fr. Hub ad: Die Frü
werde. Die Erinnerung an die Sonnenriten des Mit-
winters lebt ja noch jetzt in einem großen Theile von Eu-
ropa; dieselbe wird durch die Freudenfeuer, die deutscheu
„Julfeuer", die französische „souche de Noel", die serbi-
schen „badnjak" *) und durch eine große Zahl von Gebräu-
chen wachgehalten. So singen die Jünglinge, welche bei den
Serben zu Weihnachten von Hans zu Haus ziehen, ein
Lied, das die Bitte enthält, die Kühe mögen viel Milch ge-
ben, um den „jungen Gott" (bozic) zu baden. Könnte
man bei diesem zwar noch mit vollem Rechte vermuthen,
daß darin eine christliche Vorstellung von dem neugeborenen
Gottessohne enthalten sei, so lassen die anderen bei gleicher
Gelegenheit gesungenen Lieder, welche von dem „alten Badu-
jak" und dem „jungen BoÄe sprechen, gewiß nicht dieselbe
Deutung zu. Deshalb finden die Mythologen mit Recht
in diesen zwei Personen die Hinweisung auf den heidnischen
Sonnengott Perun, von dessen Lichte man sich das Wohl-
ergehen der Menschen und der ganzen Natur abhängig
dachte-). Wie langsam die Sonnenverehrung aus dem
Volksgemüthe verdrängt wird, zeigen viele Beispiele; so hatte
sich Tertullian noch über viele Christen zu beklagen, „die
mit Vorliebe die Himmelskörper verehrten und ihre Lippen
gegen die ausgehende Sonne zu bewegen pflegten," und Leo
der Große über jene, die, ehe sie die Basilika von St. Peter
betreten, oder wenn sie auf einem Hügel standen, sich gegen
die aufgehende Sonne wandten und sich vor ihr verbeugten;
dies thuu sie, sagte er, theils aus Unwissenheit, theils ans
dem Geiste des Heidenthums. Ja bis auf den heutigen
Tag nimmt nach Wnttke der Bauer in der Oberpfalz seinen
Hut vor der aufgehenden Sonne ab, und in Pommern muß
der Fieberkranke dreimal bei Sonnenaufgang gegen die
Sonne gerichtet beten: „Liebe Sonne, komm' bald herab
und nimm mir die siebenundsiebzig Fieber ab. Im Namen
Gottes des Vaters u. s. w." Noch heutzutage steigen die
Bauern in Sachsen, Brandenburg und Nußland am Oster-
morgen auf Berggipfel, um die Sonne ihre drei Freuden-
sprünge machen zu fehen, wie man es in England in jenen
Tagen auch zu thuu pflegte, da Thomas Browne die eigen-
thümliche Behauptung vertheidigte, „daß die Sonne am
Ostermorgen nicht tanze" 3). Außerdem finden wir im
slavischen Volksglauben noch viele Anhaltspunkte, welche be-
weisen, daß zur Weihnachtszeit das Geburtsfest der Soune
gefeiert wurde; so sagt ein serbisches Sprichwort: „man
fragte den Wolf, wann es am kältesten sei: zur Zeit, da die
Sonne geboren wird," lautet die Antwort. Dahin gehö-
ren auch die Wunderzeichen, welche das Volk zu dieser Zeit
geschehen läßt. Um Mitternacht öffnen sich die Pforten des
Himmels, die Wasser der Flüsse beleben sich, verwandeln sich
in Wein, wie denn auch in Deutschland die Meinung angetrof-
fen wird, wohin zu dieser Zeit Odin, Freir, Holda und Freia
kommen, „alle Wasser — Wein, alle Bäume — Rosmarein".
Auf den Bäumen entwickeln sich Blüthen und reifen goldene
Aepfel. Zu der Zeit streut der Himmel reiche Gaben;
was immer man bittet, während der Hinunel offen ist,
wird gewährt; darum bleiben die Serben nach Vnk Ste-
phanovie Karagjio am Feste der heiligen drei Könige die
ganze Nacht unter freiem Himmel, um denselben offen zu
sehen und sich während dieser Zeit etwas zu wünschen.
1) Dem Badnjak entspricht der stand, jul-block, der engl,
yule-clog, das ist ein Holzklotz, der am Weihnachtsabend in
das Feuer gelegt und wo möglich brennend erhalten wird, wie
das franz. caligneau. Vergl. „Globus", Bd. XXX, Nro.
4 und 5.
2) Krek, Einleitung in die slavische Literaturgeschichte I,
S. 194 sf.
3) E. B. Taylor, Die Anfänge der Kultur. Deutsch von
F. W. Spenge! und Fr. Poske, II, S. 297.
Glvbus XXXVIII. Nr. 20.
lingsfeier der Slaven. 313
Auf das Erwachen der Natnr deuten anch die Gebräuche
iu dieser Zeit; die oechifchen Bauern pflegen z. B am Weih-
nachtsabend die Obstbäume im Garten zu fchütteln, um
sie aus dem Schlafe zu wecken; und sagen dabei: „Wach
auf, wach auf! Bäumelein! gieb Obst; heute ist Weihnachts-
abend." Dasselbe thuu die Lausitzer Wenden zu Mitter-
uacht; bei den Serben dagegen läuft ein Hausgenosse mit
dem Beile in der Hand in den Garten und thnt, als wollte
er die Bäume fällen, woran ihn ein anderer zu hindern
sucht, indem er im Namen der Bäume verspricht, sie wür-
den reichliche Früchte tragen *).
In dieser hochheiligen Zeit ist natürlich ein Blick in
die Zukunft möglich, woher sich die Menge der verschieden-
sten Orakel leicht erklären läßt. Die Mädchen können er-
fahren, ob sie im Laufe des nächsten Jahres Heirathen wer-
den oder nicht, die Jünglinge können ihre zukünftige Brant
erschauen; der Landmann kann erfahren, welcher Monat
des künftigen Jahres naß, welcher trocken sein wird. Er
braucht dazu nur vou einer Zwiebel 12 Schalen abzuschälen,
dieselben mit etwas Salz zu bestreuen und sie der Reihe nach
mit den Namen der zwölf Monate zu benennen. Am fol-
genden Morgen findet er, daß auf einigen das Salz naß ge-
worden; deren Monate werden sich durch Feuchtigkeit aus-
zeichnen 2). Wer zur heiligen Mitternachtsstunde allein sich
im Freien befindet, sieht in den Wolken die Zukunft; streitende
Heere bedeuten ein Kriegsjahr, Särge sagen ein großes
Sterben voraus u. s. w.
Diese und ähnliche Beispiele, deren sich noch viele anführen
ließen, beweisen deutlich, daß die Weihnachtsfeier nur die Vor-
bereitung des Frühlings bildet; so nennen z.B. die Bulgaren
den December „kolozeg", das ist den Monat der Entzüu-
dung des (Sonnen-) Rades, weil bei ihnen, wie bei den
Slovenen Kärntens und den Polen in Galizien noch vor
wenigen Decenuien, in vielen Gegenden Deutschlands da-
gegen noch heute, die Zeit der Wiedergeburt der Soune
durch Anzündnng mit Pechkränzen umwnndeuer Räder und
durch Rollen derselben vom Berge ins Thal hinab gefeiert
wurde 3).
Die eigentlichen Frühlingsgebräuche zeichnen sich durch
eine große Mannigfaltigkeit ans; freilich haben sich nicht
alle mehr an demselben Termine erhalten, an welchem sie
in vorchristlicher Zeit gefeiert wurden; der christliche Fest-
kalender bot Centralifatiouspunkte genug, an welche sie sich
anschlössen, wobei ste natürlich eine neue Deutuug erhielten,
wie wir es z. B. an dem Weihnachtsfeste schon gesehen ha-
ben, welches aus dem Geburtsfeste der Soune zum Geburts-
feste Christi wurde. Die Kirche nämlich stand dem Volks-
glauben bald ohnmächtig gegenüber; sie ließ daher die alten
Feste bestehen, gab ihnen aber eine neue Deutuug. Zweck-
mäßigkeitsgründe bewogen z. B. Papst Gregor den Großen
in einem Briefe an den Abt Mellitus und Augustinus von
England zu empfehlen, daß man die Götzenkirchen bei jenem
Volke ja nicht zerstören solle ^).
Unter den Anzeichen, welche die Ankunft des Früh-
lings ankünden, finden sich die verschiedensten. So erzäh-
len die Russen, der Wassergeist (Vodjanoi) wache im Som-
mer, im Winter schlafe er. Im Anfang des Frühjahrs
erwacht er, da ist er hungrig und zornig, da bricht er das
Eis, wirft die Schollen übereinander, erregt die Wellen,
daß sie die Ufer überfluthen und treibt die Fische nach allen
*) F. F. Hanus baieslovny kalendär slovansky.
Prag 1860, p. 31.
2) „Globus" XXXIII, S. 142.
^_3) Krek, Einleitung S. 200 Anmerkung 4; Atanasjev III,
p. 738 seq.
4) Mone, Geschichte des Heidenthums II, 105.
40
314 . Fr. Hubad: Die Fi
Seiten auseinander. Von dieser Zeit sagen die Bewohner
des Archangelschen Guberniums höchst bezeichnend, das
Wasser „werde wieder lebendig". Zu der Zeit sucht man
den Vodjauoi zu besänftigen. Die Bauern kaufen aus ge-
meiusame Kosten ein Pferd ohne zu handeln, füttern es
drei Tage mit Brod und Oelkucheu, fesseln ihm dann die
Füße, binden an seinen Hals zwei Mühlsteine, beschmieren
ihm den Kopf mit Honig, flechten rothe Bänder in die
Mähne und lassen es um Mitternacht durch ein Eisloch in
den Fluß. Drei Tage wartet der Vodjanoi mit Ungeduld
unter Unruhe des Wassers und dumpfem Stöhnen auf sein
Opfer. Dieses beruhigt ihu wieder. Aus dem gleichen
Grunde vergraben in der Ukraine die Müller einen Stuten-
köpf in die Wehren und Deiche, damit sie der Wassergeist
nicht zerstöre, und opfern ihm an anderen Orten ein fettes
schwarzes Schwein, daß er keinen Schaden anrichte, während
Fischer Schmalz in den Fluß gießen, um ihn günstig zu
stimmen^), wie auch ihre Geschäftsgenossen, die sloveni-
schen Fischer an der ungarischen Grenze in Steiermark, nach
einem Berichte des Herrn Pfarrers Terstenjek, ehe sie zum
Fischfange ausgehen, dem Gestirn (Wassermann) ein Tuch
mit einem Ring in die Mur werfen2).
Ebenso unbändig wird der Hausgeist (domovoi) zu die-
ser Zeit; am 30. März wüthet er nach russischem Volks-
glauben von dem Erscheinen der Morgenröthe bis nach
Mitternacht, da die Hähne anfangen zu krähen; da will
er keinen seiner Hausgenossen mehr kennen, die Pferde wirft
er unter die Krippe, beißt die Huude, die Kühe hindert er
am Fressen, wirft das Hausgeräth durcheinander, wälzt sich
dem Hausvater vor die Füße und treibt den größten Unfug,
so daß während der Nacht sich niemand zum Fenster traut
uud mau das Vieh schon vor Sonnenuntergang in den
Ställen wohl verwahrt. Als Ursache dafür geben die Leute
au, daß der Hausgeist im Anfange des Frühlings seine
Haut wechsele, daß ihn Raserei befalle oder ihn die Lust
anwandle, eine Hexe zu freien ^).
Auf solche Weise kündigt sich der Frühling, die „Vesna",
an, doch hat sie noch viele andere Boten. Die russischen
Bauern gehen am 1. März auf Hügel, um die Vesna an-
zurufen; da singen sie das Lied von der schönen Vesna, die
kommt und Freude bereitet, hohen Flachs und reichliches
Getreide bringt. Dies wiederholen sie auch am 9. und
25. des Monats. Zu der Zeit erscheinen auch die Vor-
boten; am 4. März kommen die Saatkrähen, am 9. die
Lerchen, am 25. die Schwalben und bringen warmes Wet-
ter; ihnen folgen die Grillen und der Bär, Storch uud
Kukuks. Mit vollem Rechte werden anch diese Boten
alle hochgehalten, verkünden sie ja die Befreiung von dem
eisigen Joche des Winters. So begrüßten denn auch schon
die alten Griechen die Frühlingsboten mit bestimmten Ge-
brauchen5).
Ebenso wie die Kinder von Rhodos, ziehen anch heut-
zutage in Kleinrußland und Bulgarien im Anfange des März
die Kinder von Haus zu Haus, besingen den Frühling
und tragen eine hölzerne Schwalbe6) oder Gebäck in Form
von Lerchen herum. Die Schwalbe steht bei den Slaven wie
bei den übrigen Völkern in hohem Ansehen; sie heißt deshalb
bei den Cechen „der Vogel der Jungfrau Maria", bei den
1) Afanasjev I, 635; II, 244 seq.
2) Slovenski glasnik 1859, p. 171. Vergl. „Globus"
XXXIII, S. 142.
3) Afanasjev II, 104.
4) Afanasjev III, 678, 633.
5) S. „Globus" Bd. XXXI, S. 266 f.; S. 284s.
6) Miladinovci, Baigarski narodui pesni. Agram 1861,
p. 522.
hlingsfeier der Slaven.
Russen „der heilige" oder „göttliche", in Deutschland
„der Herrgottsvogel", bei den Franzosen „1a ponle de
Dien". Das Haus, unter dessen Dache sie nistet, schützt
sie vor Brand; ihren Tod oder die Zerstörung ihres Nestes
straft Gott mit dem Tode des Frevlers, mit Brand und
anderm Unglück. Wer fie tobtet, bekommt nach russischem
Volksglauben Sommersprossen; darum wascheu sich die
Kleinrussen, wenn sie die erste Schwalbe sehen, und sprechen
ein Sprüchlein, um sich vor Sommersprossen zu bewahren.
Das frühe Erscheinen dieses Vogels prophezeiet eiu geseg-
netes Jahr.
Ein anderer Verkünder des Frühlings und Prophet ist der
Kukuk, dessen Ansehen bei den alten Polen noch viel größer
war als jetzt, wenn wir der altpolnischen Chronik des Proko-
sius i) glauben dürfen. Dieser erzählt, „der Gottheit Zywie
wäre auf einem Berge, welcher davon Zywiec hieß, ein
Tempel errichtet gewesen, in welchem sich in den ersten
Tagen des Monats Mai eine unzählige Menge Volkes ver-
sammelte und von der Gottheit, welche man für die Urheberin
des Lebens hielt, ein langes und glückliches Leben erflehte.
Vorzugsweise hätten ihr aber jene geopfert, welche den ersten
Kukuksruf gehört hatten, da sie glaubten, sie würden so viel
Jahre noch leben, als der Vogel seine Stimme hatte hören
lassen. Sie meinten nämlich, der oberste Lenker der Welt
verwandle sich in den Kukuk, um ihnen die Anzahl der
Lebensjahre zu verkünden; deshalb zählte das Tödten des
Bogels für ein Verbrechen und die Behörden bestraften den
Uebelthäter mit dem Tode." Als ein verwandelter Gott er-
scheint er anch in der griechischen Mythologie; in seiner Gestalt
nahte Zeus zuerst der Here; das sitzende Bild der Göttin zeigt
einen Knknk auf dem Stab; ein die Hochzeitsprocefsion des
Zeus und der Here vorstellendes Basrelief läßt auf des
Zeus Szepter einen Kukuk sitzen, wo in anderen Darstel-
luugeu der Adler thront. Wegen dieser Verflechtung des
Vogels mit der Ehefeier ist es leicht begreiflich, warum des-
sen Ruf Verheirathuug und Ehesegen weissagt. Deshalb
finden wir ihn im Volksglanben aller Nationen als Prophe-
ten. Die Entstehung desselben erzählt aber der slavische
Volksglaube abweichend vom deutschen. Während der letz-
tere zu sagen weiß, er sei ein verwünschter Bäcker- oder
Müllerkuecht, und trage darum sahles, mehlbestaubtes Ge-
fieder, weil er in theurer Zeit armen Leuten von ihrem Teig
gestohlen, und wenn Gott den Teig im Ofen segnete, ihn
herausgezogen, bezupft und jedesmal dabei gerufen habe
„guknk" (et steh!), war die serbische „knkavica" eine Jung-
frau, welche ihres Bruders Tod so lauge beweinte, bis sie
in den Vogel verwandelt wurde, und kleinrussische wie serbi-
sche Volkslieder besingen sie als Vogel der Trauer und Schwer-
muth, während russische Volkssagen ein juuges Mädchen
durch eine Zauberei in sie verwandelt werden lassen. Bei den
Germanen und anderen Völkern steht der Kukuk auch in
üblem Rufe; er gilt für einen Ehebrecher, der seine Eier
in fremde Nester lege, weshalb auch bei den Römern sein
Name gleichbedeutend mit Ehebrecher war, und im Dent-
schen vor Alters „gouoh", „göuchlin" so viel wie unech-
tes Kind, Bastard, bedeutete; ja er erscheint in den Redens-
arten: das weiß der Kukuk und ähnliche, sogar als teusli-
sches Thier, während er bei den Slaven, die ihn immer
weiblichen Geschlechtes sein lassen, nichts Böses oder Teuf-
lisches au sich hat. In öechischen Liedern klagt er aus der
Eiche über des Frühlings Vergänglichkeit, bei den Serben be-
zeichnet sein Ruf den Haidnken Unheil, wenn er aus dem
Clironicon slavosarmaticum Procosii. Varsaviae
1827, p. 113.
Prof. Ferd. Blumentritt: Die @rb!
„schwarzen" (unbelaubten) Walde schallt; aber Glück, wenn
er ans grünem Walde ertönt1).
Doch wer könnte noch alle Thiere aufzählen, deren
Erscheinen die Ankunft des Frühlings verkündet; erscheinen
ja auch die Pflanzen als Vorboten. Wer bei den Deut-
schen den „ersten viol" erschaute, zeigte es au; das ganze
Dorf lief hinzu, die Bauern steckten die Blume auf eine
Stange und tanzten darum, wie es Hans Sachs besingt.
In Südrußland freut man sich über das Erscheinen der
scilla bifolia; in Scharen ziehen die Kinder aus, die
Blume zu sammeln, tanzen und fingen Liedchen, in denen
sie Gott um genug Regen für das Jahr bitten 2).
Grimm, Deutsche Mythologie, vierte Ausgabe II,
S. 563 ff. — 2) Afanasjev III, p. 684.
den des Juli 1880 auf den Philippinen. 315
Warum die Wandervögel als Boten des Frühjahrs
gelten, ist wohl nicht nöthig zu erklären; wir wollen nur noch
darauf hinweisen, daß nach öechischem und russischem Volks-
glauben weit im Osten die Sonne ihr Reich hat; dort ist
ewiger Sommer, dort ist der Himmel ewig heiter, dorthin
fliegen im Herbst die Vögel, wie nach deutschem Volks-
glauben in das Engel« oder Sonnenland, um im Frühjahr
wiederzukehren und ans die Erde die verschiedenartigsten
Sämereien zu bringen. Unter diesen, erzählt das russische
Märchen, bringt der Kukuk oder die Dohle den Himmels-
schlüssel, womit der Himmel geöffnet wird, daß er wieder
Regen giebt.
Die Erdbeben des Juli
Von Prof. Fer
Erdbeben sind in einem so vnlkanreichen Lande, wie es
der Archipel der Philippinen ist, keineswegs selten, und Ma-
nila, die Hauptstadt jener spanischen Kolonie, ist durch sie
mehr als einmal vernichtet worden, was freilich nicht hin-
derte, daß das reiche Handelsemporinm zu neuem Glänze
wieder auferstand. Bereits am 10. November 1610 wurde
die kaum 39 Jahre bestehende ummauerte Stadt durch einen
heftigen Erdstoß theilweife in Trümmer gelegt. Im Herbst-
monate 1627 wurde Luzon durch ein gleiches Natnrereigniß
in der furchtbarsten Weife verheert, in dem Caravallos-
Gebirge sank ein Berg zusammen^), und solche durch Erd-
beben oder Vulkanausbrüche bewirkte Bergstürze stehen in
der Geschichte der Philippinen nicht vereinzelt da. Am be-
kanntesten ist der theilweise Einsturz des Vulkans Inga auf
der Halbinsel Camarines (Süd-Luzon): am 4. Januar
16412) stürzte die gegen das Dorf Bnhi gewendete Seite
des Berges ein, die Trümmermassen stauten den gleichnami-
gen Bach, wodurch der noch heute existireude See von
Buhi entstand. „Die Haupttrümmermassen erblickt man in
einem wilden Chaos an den Usern des Sees von Buhi und
noch weiter hinaus zerstreut" 3). Auf Mindanao geschah
Aehnliches 1675 *). In 1641 stürzten in Jlvcos (Nord-
Westküste Luzous) sogar drei Berge ein 5); es geschah dies
während der gleichzeitigen Eruption dreier Vulkane und eines
heftigen Erdbebens, das den ganzen Archipel verwüstete.
1645 fand neuerdings ein Erdbeben statt, welches Manila
in einen Trümmerhaufen verwandelte. 600 Personen, nach
anderen gar 3000 verloren hierbei das Leben. 48 Stnn-
den lang war die Atmosphäre der ganzen Insel Luzon mit
Staub und Asche angefüllt 6). Zwar forderten die großen
Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande.
Leipzig 1743, XI, 426, n. (Mas.) Informe sobre el estado
de las islas filipinas en 1842. Madrid 1843, I, 13.
2) Nach anderen 1628. Man vergl. F. Jagor, Reisen in
den Philippinen. Berlin 1873, 109.
3) R. v. Dräsche. Fragmente zu einer Geologie der Insel
Luzon. Wien 1878, 3, 67.
*) Mas, a. a. O. I, 13.
5) Jagor, a. a. O. 325 nach: Ii. Magisa, Succeso raro de
tres Yoicanes dos de fuego y uno de agua. Manila 1641.
6) Renouard de St. Croix. Reise nach Ostindien, den
Philippinischen Inseln und China. Aus dem Französischen über-
setzt v. PH. Chr. Weylandt. Berlin 1811, 184.
880 auf den Philippinen.
. Blumentritt.
Erdbeben von 1658, 1675, 1699, 1796, 1824 und 1852
genug Opfer au Menschenleben, Hab und Gut, aber erst
1863 traf Manila wieder ein ungemein harter Schlag, in-
dem ain 3. Juni des genannten Jahres ein außerordentlich
heftiges Erdbeben in einer halben Minute 616 Steinbauten
gänzlich zur Erde warf und 556 andere unbewohnbar
machte. 400 Todte, 2000 Verwundete lagen unter den
Trümmern. Es gab kein Haus, das unbeschädigt geblieben
wäre. Acht Millionen Dollars gingen an Waaren und
Eigenthum verloren. 1872 erschreckte ein neues Erdbeben
die Bewohner Manilas, doch war die Gewalt desselben ge-
ring. Um so furchtbarer war die Katastrophe, von welcher
Manila mit dem größten Theile Lnzons in den letzten Juli-
tagen des laufenden Jahres getroffen wurde.
Ehe ich zur nähern Beschreibung dieses großartigen
Naturereignisses übergehe, ist es zum Verständniß des Fol-
geudeu nöthig, darauf hinzuweisen, daß der Name Manila
eigentlich nur der mit Bastionen und einer Citadelle ver-
sehenen Festung an der Mündung des Pasigslusses zukommt.
Das ist die wirkliche „Cindad de Manila", welche im ge-
wöhnlichen Verkehre und in der Umgangssprache meist „Ma-
nila iutramnros" oder „Manila mnrada" genannt wird.
In diesem Manila befinden sich die größten Kirchen, dann
die so zahlreichen Klöster der Kolonialhanptstadt und die
stattlichen Kasernen, ferner das Rathhaus, der Gouverneurs-
und der erzbischöfliche Palast, überhaupt große meist össent-
liche Steinbanten. Trotzdem die Bewohner dieser Manila
mnrada größtentheils aus Spaniern und deren Abkömm-
lingen bestehen, so ist sie doch nicht der Centralpnnkt des
Handels und Verkehrs; dieser befindet sich vielmehr in den
Vorstädten und Vororten Manilas, welche unter dem Namen
Manila extramnros eine nicht ofsicielle Gesammtbenennnng
besitzen. Die lebhaftesten und wichtigsten dieser Vororte
sind Tondo und Binondo, in welchen anch die europäischen
Konsuln residiren nnd die meisten ausländischen Handlnngs-
Häuser ihre Etablissements besitzen. Die Häuser der In-
dier — so nennen die Spanier die malaiischen Eingebore-
nen — und der Chinesen sind nur aus Holz, Rohr und
Nipablättern verfertigt, und da diese Vorstädte zum größten
Theile von Farbigen bewohnt sind, so unterscheiden sie sich
schon durch das Aeußere von der feierlichen Grandeza der
Steinbauten der Manila mnrada.
40*
316 Prof. Ferd. Blumentritt: Die Erdbc
Am 14. Juli dieses Jahres um 12 Uhr 53 Minuten
Morgens trat das erste Erdbeben in Mauila ein. Es waren
zwei Stöße, der erste in der Richtung von Südwest nach
Nordost, der zweite von Südost nach Nordwest. Das Erd-
beben machte sich in einem großen Theile Lnzons fühlbar.
Wenngleich die Intensität des Erdbebens nicht überall die-
selbe war und die Zahl der Erdstöße an verschiedenen Punk-
ten auch verschieden war (so verspürte man in Taal und
Batangas nur einen einzigen), so stimmten doch die Mel-
düngen ans allen Gegenden darin überein, daß nirgends ein
Schaden an Wohnhäusern und Bauten stattgefunden hätte.
Auch ein am 17. um 7 Uhr 38 Minuten früh eintretendes
Erdbeben war fo schwach, daß es den an derartige Schwan-
kuugeu der Erdriude gewöhnten Manilesen keinen «llzngro-
ßen Schrecken einjagte. Das Unheil sollte erst den folgenden
Tag kommen.
Es war ein Sonntag, die Läden waren gesperrt und da
die Geschäfte ruhten, so hatte ein großer Theil der enropüi-
schert Bevölkerung sich nach den Villen und Sommersitzen
in dvc Umgebung Manilas begeben. Um 12 Uhr40Miuu-
ten Mittags kam plötzlich das Erdbeben, das mit einer außer-
ordentlichen Heftigkeit 1 Minute und 10 Sekunden anhielt.
Dieser Augenblick genügte, um die halbe Stadt, insbesondere
die am Flusse liegenden Theile, auf das Entsetzlichste zu ver-
wüsten. Es gab kein Haus, das unbeschädigt geblieben wäre.
Die Gassen waren mit Trümmermassen und herabgefallenen
Ballonen und Fenstergittern bedeckt. Der Thurm der Kirche
des Vorortes Sampaloc sowie das Pfarrhaus stürzten ganz-
lich eiu, dasselbe geschah theilweise mit der großen Tabaks-
fabrik im Arrocerosviertel. Ein ganzer Trakt des steinernen
Gebäudes, in welchem die Bureaus des Marinekommandos
etablirt sind, stürzte ein, ohne daß zum Glücke jemand von
den Inwohnern beschädigt wurde. Die Europäer wurden
überhaupt mit einem günstigen Geschicke bedacht, denn nur
zwei von denselben erlitten Verletzungen, der eine von ihnen
war ein Nordamerikaner Namens Parker, der eine Verwun-
duug am Kopfe und einen dreifachen Armbrnch davontrug,
der andere war ein Don Tomä-s de Velasco, der nur leicht
am Kopfe verwundet wurde. Die farbigen Eingeborenen
hatten größere Verluste zu erleiden, ein einziges zusammen-
brechendes Haus hatte drei Menschen erschlagen, während
es gelang, ein Weib mit seinen Kindern unversehrt unter den
Trümmern desselben hervorzuziehen. Fast alle steinernen
Gebäude waren unbewohnbar geworden, die großen Kirchen
mit ihren Thürmen wiesen bedenkliche Spalten und Risse
auf, als ob sie jeden Augenblick zusammenzustürzen drohten.
Der Schrecken der Bevölkerung war ungeheuer, denn
die Erde zitterte den ganzen Tag, so daß eine Wiederholung
der Katastrophe jeden Augenblick zu befürchten war. Eine
eigenthümliche Rolle hatte bei diesem Erdbeben das Meer
gespielt: es war plötzlich um 3x/2 Fuß gesunken und eben
so plötzlich wieder zum alten Niveau zurückgekehrt. Von
den im Pasig befindlichen Fahrzeugen aus bemerkte man,
daß im Momente des Erdbebens das Wasser Blasen und
Schaum auftrieb, auch hatte auf der Insel Romero (Ma-
nila extramuros) die Erde sich geöffnet und aus der Spalte
trat übelriechendes Wasser heraus; später erfuhr man, daß
zur selben Zeit aus der Oberfläche des Sees von Bay, dem
der Pasig entströmt, plötzlich eine große Anzahl todter Fische
geschwommen wäre, eine Erscheinung, die man bei dem Erd-
beben vom Jahre 1824 Gelegenheit gehabt hatte auch aus
dem Pasig zu sehen.
Der energische Generalkapitän Marquis Estella traf so-
fort mit einer lobeuswerthen Umsicht alle Anstalten, um
das allgemeine Elend zu lindern und bei einer Wiederholung
der Katastrophe für alles gerüstet zu sein. Vor allem wnr-
en des Juli 1880 auf den Philippinen.
den fämmtliche Aerzte in die einzelnen Stadtbezirke vertheilt
nnd durch Entfaltung der militärischen Macht für die öffent-
liche Sicherheit Sorge getragen, insbesondere wurden die
Sträflinge der Gefangenhäuser, welche jetzt im Freien kam-
piren mußten, von einem starken Truppenkorps bewacht;
die durch herabstürzende Trümmer verletzten Häftlinge wnr-
den in das Militärhospital gebracht. Da der Thurm der
Kathedrale jeden Augenblick einzustürzen drohte, so mußten
die Gebäude in der Nachbarschaft jener Kirche auf behörd-
licheu Befehl geräumt werden. Ohnedies begann freiwillig
ein allgemeiner Exodus der weißen Familien. Hatte auch
die ummauerte Stadt bei dem Erdbeben verhältnißmäßig
wenig Schaden gelitten, fo war doch bei einer Wiederholung
dieses Naturereignisses der Aufenthalt in derselben gefährlich,
da, wie schon erwähnt, sie aus wuchtigen Steinbauten besteht
oder, richtiger gesagt, bestand. Die Bewohner Manilas be-
gannen also alle ihre Habseligkeiten in Eile zu packen, um
sich zu Lande oder zu Wasser nach den vorzugsweise von
Jndiern bewohnten Stadttheilen zu begeben, deren leicht-
gebaute Hütten mehr Sicherheit boten. Die Straßen und
Thore Manilas waren bald von einer dichten Menge von
Karren und Lastträgern dnrchflnthet, doch hatte der General-
kapitän verboten, daß die Wagen anders als im Schritte
fahren sollteu, damit nicht durch die Erschütterung, welche
schnelles Fahren auf hartem Pflaster hervorbringt, neue
Einstürze von baufälligen Häusern stattfänden. Die ganze
Nacht vom 18. auf den 19. durchzogen Militärpatrouillen
die Straßen der Stadt, um die Ordnung aufrecht zu erhal-
ten, es wurde auch ein Strolch in dem Augenblicke erwischt,
als er ein Haus anzünden wollte, und dies gerade in einem
Stadttheile, der vorzugsweise aus hölzernen Häusern und
Rohrhütten besteht. Der Generalkapitän schlug sein Nacht-
lager in den luftigen Räumen des Teatro de Variedades
auf, denn sein Palast sowie der des Erzbischofs und das
Rathhaus waren unbewohnbar geworden. In der Nähe
des Teatro de Variedades kampirten die Truppen, für die
man noch am Nachmittage Baracken erbaut hatte. Das
Erdbeben hatte in gleicher Stärke beinahe in ganz Luzon
gewüthet, eine große Anzahl von Kirchen, Pfarrhäusern und
Brücken (den gewöhnlich einzigen steinernen Gebäuden eines
philippinischen Dorfes) waren ihm zum Opfer gefallen.
Da die schwachen zitternden Bewegungen der Erdober-
fläche bis um 9 Uhr Morgens den 19. anhielten, so wurden
auf Befehl der Regierung die Vorlesungen an der Univer-
sität und der Unterricht in den übrigen Schulen bis auf
Weiteres eingestellt.
Obwohl die Jesuiten, welche ein seismographisches Ob-
servatorium iu Mauila besitzen, neue Erdbeben in Aussicht
stellten, so glaubte doch eiu großer Theil der Bevölkerung,
das Aergste sei schon überstanden, weil die Schwankungen des
Erdbodens immer schwächer und seltener austraten; die nn-
glückliche Stadt sollte aber erst das Aergste erleiden! Am
20. um 3 Uhr 40 Minuten Nachmittags begann plötzlich
die Erde zu schwanken und eine zum Himmel aussteigende
Staubwolke hüllte die ganze Stadt iu einen Schleier ein,
während die Luft von dem Prasseln und Poltern der stür-
zenden Gebäude uud Balken sowie von dem furchtbaren
Angstgeschrei der sich eiligst rettenden Leute ertönte. Das
Erdbeben, dessen oscillatorische Bewegung von Ost nach
West gerichtet war, hatte zwar nur 45 Sekunden gewährt,
aber eine Intensität aufgewiesen, welche alle Erdbeben Ma-
nilas feit 1645 übertraf. Der Thurm der Kathedrale so-
wie die Thürme mehrerer anderer Kirchen lagen auf der
Erde, alle Gebäude, welche das Erdbeben vom 18. nur un-
bewohnbar gemacht, waren jetzt entweder vollständig baufällig
oder zu Ruinen geworden.
Prof. Ferd. Blumentritt: Die Erdb
Inmitten der allgemeinen Verwirrung verlor der Mar-
qnis Estella nicht einen Augenblick den Kopf. Ans seinen
Befehl gingen die Gendarmen von Haus zu Haus, um
nachzusehen, ob keine Verluste an Menschenleben — und
deren gab es leider nicht wenige — vorgefallen wären. Sie
hatten weiter den Austrag, jedem unverzüglich alle Hülfe zu
leisten, die man von ihnen beanspruche, und die wackeren
Leute, welche die ganzen Tage und Nächte hindurch fort-
während Dienst gehabt hatten, vollzogen den Auftrag mit
einer Opferwilligkeit und Ausdauer, die ihrer musterhaften
Disciplin wie ihrer Menschlichkeit alle Ehre machte. Sämmt-
liche Regierungsbehörden sowie der Stadtrath traten — wie
dies auch Sonntag geschehen war — zu einer Sitznng zu-
sammen, in welcher die zn treffenden Maßregeln, insbeson-
dere der Bau von Nothbaracken, besprochen wurden. Jnzwi-
schen hatte eine unsagbare Aufregung die Gemüther der
Bevölkerung ergriffen. Alle Geschäfte wurden eingestellt
und die Europäer vor allen dachten nur daran, die unheil-
volle Stadt zu verlassen oder wenigstens auf freiem Felde
zu kampiren. Die meisten der weißen Familien suchten sich
an Bord der auf der Rhede und im Flusse ankernden Dam-
pfer und Segelschiffe zu retten. Die Schiffskapitäne aller
Nationen sowie die in Manila selbst ansässigen Rheder weit-
eiferten mit einander in der Liebenswürdigkeit und gast-
freundlichen Gesinnung, mit der sie die geüngstigten Flücht-
linge aufnahmen.
Im Laufe des Nachmittags erfuhr man, daß der südlich
von Manila gelegene Vulkan Taal *) in Eruption begriffen
wäre. Diese Nachricht trug viel zur Beruhigung der Ge-
müther bei, denn man glaubte, daß diese Eruption so viel
wie das Ende der Erdbeben bedeute. Leider sollte sich diese
Annahme als eine irrige erweisen. Um 10 Uhr 10 Minu-
ten Abends kam ein neuer Erdstoß, das Erdbeben währte
55 Sekunden uud verwandelte die ganze Stadt in ein
Trümmerfeld, doch fielen nur wenige Verletzungen vor, in-
dem jener Theil der Bevölkerung, welcher nicht auf den
Schiffen Unterkunft gefunden hatte, im Freien oder auf den
großen Plätzen lagerte. Schon bei dem ersten Erdbeben
dieses verhängnißvollen Tages hatte das aufgeregte Meer
eine Barke begraben; bei dem zweiten kam die Barke wieder
zu Tage, um sogleich wieder in den Wogen zu verschwinden.
Auch am Flusse Pasig machte sich ^das zweite Erdbeben sehr
fühlbar und verursachte panischen Schrecken unter den zahl-
reichen Familien, welche alle Räume der im Flusse befind-
lichen Fahrzeuge füllten. Der unter einem donnerähnlichen
Gepolter erfolgende Zusammensturz einiger großen Zucker-
. magazine trug nicht wenig bei, den allgemeinen Schrecken in
Todesangst zu verwandeln. Die Militär- und Civilbehör-
den walteten ihres Amts mit seltener Umsicht und Uner-
schrockenheit. Während der Gendarmerie und den Linien-
trnppen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit überlassen wurde, wurde besonders an der Ret-
tung der Tabaksvorräthe2) der halb eingestürzten, halb mit
dem Einstürze drohenden Fabrikräume gearbeitet. Der
Generalkapitän und der Erzbischos durchschritten zu Fuß
die Straßen der so furchtbar heimgesuchten Stadt, um überall
Trost einzusprechen oder die Ausführung der Rettungsmaß-
regeln in Person zu überwachen. Einen eigentümlichen
1) Der Vulkan von Taal liegt auf einer Insel des Sees
von Bombon. Sein furchtbarster Ausbruch fand im December
1754 statt; bei dieser Gelegenheit wurden vier blühende Städte
vernichtet, darunter die Provinzialhauptstadt Taal, welche dann
auf einer andern «stelle vom Seeufer entfernt neu aufgebaut
wurde.
2) Auf deu Philippinen ist seit 1781 das Tabaksmonopol
eingeführt. *
en des Juli 1880 auf deu Philippinen. 317
Anblick gewährte in dieser Nacht die ummauerte Stadt, in-
dem dieselbe, von ihren Bewohnern verlassen, in Grabesstille
schwarz und dunkel dalag. Nur auf den großen Plätzen
und Glacis lagerten unter Zelten und Rohrbaracken einige
weiße Familien und die Menge der farbigen Bevölkerung.
Am andern Tage, den 21. um 6 Uhr früh, fand eine
vom Erzbischose celebrirte Feldmesse statt, um den Himmel
um Gnade anzuflehen, alle Behörden, die gesammte Geist-
lichkeit, sämmtliche entbehrlichen Truppen mit ihren Musik-
banden und zahllose Massen der übrigen Beoölkernngs-
klaffen Manilas erschienen zu diesem Bittopfer, das die er-
zürnte Gottheit auch zu versöhnen schien. Zwar kam am
24. noch cht Erdbeben, aber seine Gewalt war gering; es
hätte auch übrigens wenig mehr gefunden, was zn zerstören
gewesen wäre. Bereits an dem zuletzt erwähnten Tage
wurden die Geschäfte wieder ausgenommen. Bei den Erd-
bebendes 18. und 20. waren 12 Personen getödtet und 177
verletzt oder verwundet worden, während die ersten Nachrichten
von 320 verloren gegangenen Menschenleben gesprochen hatten.
Es ist indeß wohl möglich, daß die erstgenannte Zahl hin-
ter der Wirklichkeit zurück bleibt, denn es ist die Frage, ob
schon alle Verwundungen registrirt sind, auch scheint nach
den mir vorliegenden Daten die Zahl der verwundeten Sträf-
linge der Gefangenhäuser von Binondo und Bilibid in jene
Ziffer nicht mit einbegriffen zu sein. Der Schaden, den
das Erdbeben anrichtete, ist gewiß ans mehrere Millionen
Dollars zn veranschlagen, denn bei der gleichen Katastrophe
von 1863 wurden die Verluste aus acht Millionen Dollars
geschätzt und das Jahr 1380 war furchtbarer als jenes.
Nur vereinzelte Steinbanten hatten das Erdbeben glücklich
überdauert, es waren dies unter anderen die Brücken über
den Pasig und die wuchtige Masse der Dominikanerkirche,
welche nach dem Erdbeben von 1363 erst wieder neu
auferbaut wordeu war. Heftige Regengüsse, welche seit
dem 20. vom Himmel niederfielen, zerstörten das meiste
Gut und jene Maaren, die nicht durch Trümmer :c. beim
Erdbeben selbst vernichtet worden waren; denn die Maaren
lagen entweder im Freien oder in Schuppen, deren Dächer
Löcher hatten, dnrch die das Wasser Eingang erhielt. Noch
am 14. August „wackelte die Erde", wie ein an diesem
Tage an mich gerichtetes Schreiben aus Manila meldet, doch
war alle Gefahr längst vorüber.
Spärlicher als aus Manila stoßen uns Berichte aus den
übrigen Theilen Luzons über die Erdbeben vom 13. uud 20.
auf, obwohl uns unter den wenigen Meldungen einige von
großer Wichtigkeit zu sein scheinen; ich will mit dem min-
der Wichtigen beginnen, wobei ich die gleichlautenden Mel-
dungen von Einstürzen der Kirchen und Thürme in X und
Y gänzlich übergehe. Die Erdbeben vom 18. und 20. Juli
wurden in ganz Lnzon verspürt, am heftigsten in Camarines,
jener langgestreckten stark gegliederten Halbinsel, welche das
südliche Ende Luzons bildet.
Die Halbinsel Camarines ist ein an Vulkanen sehr
reiches Land, denn außer den aktiven Vulkanen Mäyon oder
Albay und Bulusau besitzt sie noch eine stattliche Anzahl
von erloschenen Feuerbergen. Bei Weitem der gefährlichste
unter diesen Bergnngeheueru ist der Mäyou, dessen Ausbrüche
von Verheerungen begleitet sind, deren Beschreibung jeden
Gefühlsmenschen mit Entsetzen erfüllen muß. Der Mäyon
verhielt sich aber während der ganzen Zeit ruhig, es zeigte sich
nicht mehr Rauch, als gewöhnlich seinem Krater zu entsteigen
pflegt, dagegen begann der Bulusau, der sonst nicht gefähr-
lich zu sein schien, gerade am 20. Rauch auszuwerfen, nach-
dem schon Tage lang Erdbeben vorhergegangen waren. Diese
hatten schon am 7. Juli begonnen und die Bevölkerung in
Schrecken versetzt, denn in keiner Provinz haben diese Natur-
318 ' Aus allen
ereignisse so viel Opfer an Gut und Menscheuleben gefor-
dert wie hier, besonders wenn die Küste an einigen Stellen sich
senkte, wie dies sich 1840 ereignet hatte. Sehr heftig war
dort das Erdbeben am 13., es hatte eine Art von rotirender
Bewegung, so daß sich viele Personen, um nicht zu fallen,
platt auf die Erde warfen. Der Hauptstoß währte 70 bis
80 Sekunden, doch schwankte die Erde in kleinen Zeitinter-
vallen bis 4^ Uhr. So finden wir, daß die Erdbeben
von zwei Vulkanausbrüchen, denen des Taal und Bulusan,
begleitet waren, doch ist uns über die Natur dieser Erup-
tionen nichts Näheres bekannt. ?ava schien nirgends sich
gezeigt zu haben, wenigstens sprechen die bisherigen Mel-
düngen nur von einer bedeutenden Menge Rauch und
Dampfwolken; der Taal speciell spie vom 17. bis 22.
Juli so viel Rauch, daß die ganze Atmosphäre über dem
Bombon-See und seinen Gestaden in Dunkelheit gehüllt
war.
Diese Nachrichten sind aber alle verhältuißmäßig ohue
jede Bedeutung gegenüber der Meldung, daß ein neuer
submariner Vulkan zwischen der Ostküste Luzous
und der kleinen Insel Polillo entstanden wäre.
Die Nachricht von diesem Ereignisse traf am 27. Juli in Ma-
nila ein. Die Entstehung dieses Vulkans war zugleich die Ur-
sache entsetzlicher Verheerungen, von welchen der Distrikt La In-
Erdtheilen.
santa, der der Insel Polillo gegenüber liegt, getroffen wurde.
Damit wäre denn die Heftigkeit und die große Ausdehnung
des Erdbebens aufgeklärt, und wir müssen mit Geduld einer
genauen und authentischen Beschreibung jenes seltenen Er-
eignisses entgegeusehen.
Die Entstehung neuer Vulkane ist auf den Philippinen,
diesem klassischen Lande des Vulkanismus, nicht auf diesen
letzten Fall beschränkt. Im Jahre 1856 verwandelten sich
die Didikaklippen (nördlich von Lnzon, östlich von den Ba-
bnjanes) plötzlich in einen aus dem Meere aufsteigenden
Vulkan, der 1860 bereits eine Höhe von 700 Fuß erreicht
hatte*). Im Jahre 1641 begannen plötzlich zwei bisher
geschlossene Berge, der Mte. Santo Tomas am Golf von
Lingayen und ein kleiner Berg im Snlu-Archipel, zu gleicher
Zeit mit einem Vulkan auf Miudauao zu speien, doch hat
man in neuester Zeit die diesbezüglichen Nachrichten über
den erstgenannten Berg als ein Mißverständniß bezeichnet.
Interessant wäre es noch zu erfahren, ob in dem Visayer-
Archipel das Erdbeben sich auch fühlbar machte; alle Berichte
und Briefe, die mir über diese Angelegenheit zu Gesichte
gekommen sind, schweigen gänzlich hierüber.
x) Dr. C. Semper, Die Philippinen und ihre Bewohner.
Würzburg 1369, S. 14 f.
Aus alle»
A s i ° i,.
— Ein Franzose, Hüber mit Namen, hat ans seiner
Reise nach Dschebel Schammar in Arabien Ende Mai die
Oase Dschof erreicht und rüstete sich, die Wüste Nesüd zu
durchziehen. In Hail will er etwa ein Vierteljahr bleiben
und dann nach Jemen gehen. Es ist das zunächst dieselbe
Reise, welche unlängst der Engländer Blunt (s „Globus"
XXXVII, S. 251) mit seiner Frau ausgeführt hat. Auch
Charles M. Doughty hat bor einigen Jahren längere Zeit
in Schammar zugebracht.
— Einer Bekanntmachung der russischen Telegraphen-
Verwaltung zufolge siud aus der Liuie Jrkutsk-Blago-
wjeschtschensk die Stationen Poworotnaja, Sobolinaja und
Snjeshnaja Anfangs September 1880 dem öffentlichen Ver-
kehr übergeben worden.
— Das officielle Journal des Vilajets g)emen,. „Sana",
meldet die Entdeckung einer Goldmine im Distrikte
Sana, welche ungemein reich — das arabische Blatt sagt
in seiner überschwänglichen Schreibweise: „eine der reichsten
der Erde" — sein soll. Die Behörden von Saick sandten
eine Kommission, bestehend aus einem höhern Offizier und
einem Chemiker, zur Untersuchung und ein Detachement
Soldaten zum Schutz gegen die Beduinenstämme an Ort
nud Stelle. Eine Bestätigung der Meldung wäre den Be-
Hörden gewiß sehr willkommen, denn Gold können die Tür-
ken sehr nothwendig brauchen.
— Dem „Kawkaz" zufolge haben die Bohrungen zur
Auffuchuug guten Trinkwassers für Baku auf 12 Sashen
(1 S. — 2,134 m) Tiefe eine erste Schicht brauchbaren Was-
sers und in demselben jetzt auf 20 Sashen vertieften Bohr-
loche uoch eine zweite wasserhaltige Schicht angetroffen.
— In der Sitzung der Petersburger Technischen Ge-
sellschaft vom 3. (15.) Oktober dieses Jahres hielt Herr
Potylitzyn einen Vortrag über die Naphtagnellen im
Kaukasus, welche er in Gemeinschaft mit Herrn Mende-
c r d t h e i l e n.
läjew während des eben verflossenen Sommers im Austrage
des Finanzministeriums besucht hat. Fundstätten sind nach
allen Beobachtungen die Vorberge zu beiden Seiten des
Hauptkammes, uud die Quellen liegen in sandigem Boden
in einer Tiefe von 53 bis hinauf zu 9, ja zu 6 Sashen
2,134 m). Ungemein charakteristisch ist in der Nähe der
Naphtaqnellen das Vorhandensein von heißen Schwefelquellen
uud von Schlammvulkanen. Den ursächlichen Zusammen-
haug zwischen beiden sucht der Vortragende wie auch Mende-
läjew in der Bildung der Naphta als Produkt chemischer
Reaktion aus unorganischem Kohlenstoff. Die Ursache des
traurigen Standes der Naphtaindustrie in Rußland sieht
Potylitzyn nur in der unrichtigen Art der Ausbeutung der
Naphta.
— Die Expedition zur Untersuchung des obern Laufes
des Flusses Jrtysch hat, wie die „Semipal. Oblast. Wjed."
mittheilen, im Jahre 1830 bei Besichtigung der Flnßstrecke
oberhalb Ustkameuogorsk die Ueberzeuguug gewonnen, daß
Dampfer wie diejenigen, welche jetzt auf dein Jrtysch den
Verkehr mit Semipalatinsk vermitteln, auf der Strecke zwi-
scheu Ustkamenogorsk und Buchtarma noch weniger
Schifffahrtshindernisse fiuden, als zwischen Ustkamenogorsk
und Semipalatinsk.
— In Folge der letzten Hnngersnoth in Kaschmir
(s. „Globus" XXXIV, S. IN; XXXVI, S. 16 und 349) sind,
wie die „Oesterreich. Mouatsschr. f. d. Orient" (1880, S. 153)
berichtet, mehrere Industrien gänzlich eingegangen. Weber,
Lackarbeiter und Goldschmiede sind zu Tausenden nach den
Ebenen ausgewandert, während anch die Zemindars zum
Theil ihre Ländereien verlassen haben. Die Zahl der Shawl-
Weber in Srinagar betrug kurz vor der Hungersnoth an
10 000, heute erreicht sie kaum die Höhe von 4000. Der
Seidenhandel unter der Leitung Babu Nelumburs hatte
einen blühenden Aufschwung genommen und große Qnanti-
täten Seide wurden alljährlich nach Europa exportirt. Die-
ser Handel hat gegenwärtig nahezu aufgehört zu bestehen und
Aus allen
wohl lange Zeit wird darüber hinweggehen, ehe er sich von
den letzten Schlagen erholt haben wird. Die Landwirthschaft
dagegen giebt Hoffnung zu baldiger Besserung, und die letzten
Ernten waren befriedigend. Gleichwohl werden viele Tau-
sende Hungernder noch täglich in den Regieruugsbarakeu
und Missionsstationen ernährt.
Afrika.
— Von dem Afrika-Reisenden Dr. Oskar Lenz
(s. „Globus" XXXVIII, S. 88 und 104) ist in Wien fol-
gendes vom 26. Juni datirtes Schreiben eingegangen: „Am
20. Juni bin ich mit meiner aus ueuu Kameelen und acht
Personen bestehenden Karawane glücklich iu Arauau (Ära-
itiätt), sechs Tagreisen von Timbnktn, angekommen uud
wurde vom Scheris und der Bevölkerung gut aufgenommen.
Die Reise von Teudus (f. oben S. 106) hierher nahm 31
Tage in Anspruch, da wir manchen Umweg machen mußten
unserer Sicherheit wegen. Morgen soll es weiter gehen nach
Timbnktn, von dort suche ich die französischen Forts am
Senegal zu erreichen. Oktober oder November hoffe ich in
Wien zu sein."
— Am 14. Oktober hat Oberst Flatters Paris ver-
lassen, um seine im vergangenen Frühjahre unterbrochene
Reise durch die Sahara (f. oben S. 30) wieder auszn-
nehmen. Ihn begleiten Hauptmann Masson als Zweiter im
Kommando, die Ingenieure Beringer und Santon, welche
mit der Aufnahme der Karten, Pläne und Profile betraut
sind, Roche als Geologe, Guiard als Arzt und Naturforscher,
Lieutenant Dianons als Dolmetsch, 83 eingeborene Träger,
Kameeltreiber und Führer, 43 eingeborene Schützen. In
Wargla, von wo die Expedition Mitte November aufbrechen
soll, wird sie von Tuareg vom Haggar-Plateau erwartet,
mit welchen Oberst Flatters bereits auf seiner ersten Reise
Freundschaft geschlossen hatte. Die Richtung, welche die
Expedition einschlagen wird, geht auf Sokoto im Hauffa-
Laude.
— Dem Dr. Mattencci ist es nicht gelungen, von
Osten her iu Wadai einzudringen (s. oben S. 94), und er
mußte nach Fascher, der Hauptstadt Darfurs, zurückkehren.
Sein Begleiter, der junge Prinz Borghese, kehrt über Char-
tum nach Italien zurück, während Mattencci zusammen mit
Massan noch den Versuch machen will, Wadai im Süden
zu umgehen und so Baghirmi und Bornn zu erreichen.
— Die Wiener Geographische Gesellschaft hat einen
Aufruf zu Subskriptionen für eine österreich ische Asri ka-
expediti on erlassen, welche Dr. Emil Holnb unternehmen
will. Er hat den Plan, den ganzen Erdtheil von Süden
nach Norden zu durchziehen; vom Kap der Guten Hoffnung
aufbrechend, will er an den Zambesi vordringen, das Land
der Marutfe-Mambunda, das er schon einmal besucht hat,
ferner das Wasserscheidegebiet zwischen Zambesi und Kongo
(ein guter Gedanke!) und die Onellseen des letztern Stromes
näher erforschen, und schließlich durch Darfur Aegypten
zu erreichen versuchen. Die Expedition ist auf drei Jahre
Dauer veranschlagt und ihre Kosten aus etwa 50 000 Gul-
den, wovon Dr. Holnb ein Zehntel selbst beisteuert.
Australien.
Reiches Goldfeld in Nordaustralien entdeckt.
Unser Artikel über die Port-Darwin-Ansiedelung in
Nordaustralien war im Jahrgang XXXVIII, S. 91 u. folg.,
kaum erschienen, als die unerwartete Nachricht einlief, daß
dort Eude Juni dieses Jahres ein sehr reiches Goldfeld entdeckt
worden sei, — so reich wie einst nur die Diggiugs der Ko-
louie Victoria in ihrer Blüthezeit waren. Das Terrain des-
selben war zwar zur Zeit noch ein beschränktes, allein wo
derartige Goldklumpen, wie die gefundenen, mit Leichtigkeit
ausgegraben werden, da läßt sich wohl mit gutem Rechte
annehmen, daß es sich im gegenwärtigen Falle nicht nm eine
Erdtheilen. 319
kleine Gold-Oase handele, sondern daß der Norden Anstra-
licns überhanpt doch wohl reich an Gold sein müsse.
Das neue Goldfeld, genannt The Margaret Goldfield,
liegt im Bette des Margaret-Flusses, eines im Sommer
trockenen Wasserlaufes, und ungefähr acht Miles von Port
Darwin Camp am Yam Creek East, wo sich seit Jahren
ebenfalls Goldfelder, aber von viel geringerer Bedeutung,
befinden. Mau benntzt von Port Darwin aus zunächst auf
25 Miles bis Southport den Wasserweg, und dann aus
neunzig Miles eine gute Landstraße bis Uam Creek East.
Die letzten acht Miles führen über ungebahnte Wildniß,
dnrch welche jedoch die südaustralische Regierung, zu deren
Gebiet die Port-Darwin-Ansiedelung gehört, jetzt ebenfalls
eine Fahrstraße für den Transport der nöthigen Lebens-
mittel n. s. w. schleunigst ebene» läßt.
Da die Entdeckung des Margaret-Goldfeldes von Chine-
sen, welche zur Zeit die hauptsächliche Bevölkerung von Port
Darwin bilde»1), gemacht wurde, so ward fast das ganze
Terrain auch nur vou ihnen, nach den Regeln des bestehen-
den Minengesetzes, okkupirt. Aber es ging dabei nicht ohne
Blutvergießen ab. Die Chinesen der Port-Darwin-Ansie-
delnng setzen sich aus zwei Parteien zusammen, welche sich
immer feindlich gegenüber stehen, den Canton- und den Hong-
koug-Chiuesen. Die letzteren sind die bei weitem zahlreiche-
ren und suchten die ersteren aus ihren Claims, wie das den
Goldgräbern nach dem Minengesetze zur Ausnutzung zu-
stehende Stück Laud heißt, gewaltsam zu vertreiben. Es kam
darüber zu einem blutigen Kampfe, an welchem sich mehr
denn 600 Chinesen betheiligten und den die drei anwesenden
Polizisten nicht zu hindern vermochten.
Die Menge der Goldstücke, groß und klein, wie sie mit
leichter Mühe ausgegraben wurden, war erstaunlich, darunter
Nuggets vou 35, 56 und 66 Unzen. Zwei Goldklumpen von
fast gediegenem Golde wogen sogar 25 und 42 Pfund!!
Eine Kompagnie von Canton-Chinesen gewann in einer
Woche 4000 Unzen Gold, was, wenn wir die Unze nur mit
3 Pf. St. 15Sch. berechnen, einem Werthe von 300 000 M.
entsprechen würde. Dazu kommt, daß die Unze dieses Gol-
des wegen seiner Feinheit mit 2 Sch. höher bezahlt wird
als das am Dam Creek, Pine Creek und anderen Plätzen
gefundene. Da diese Entdeckung in die trockene Jahreszeit
fiel, so kouuteu Lebensmittel, an welchen eben kein Mangel
war, zu verhältnißmäßig billigen Preisen herbeigeschafft
werden.
Daß diese reichen Erträge des Margaret-Goldfeldes ge-
waltiges Aufsehen in Australien hervorgerufen haben, ist
leicht begreiflich. Aber dabei ist der Aerger, daß es die Chi-
nesen sein mußten, welchen die Ausbeute fast allein zufällt,
nicht minder groß, und das um so mehr, als sie mit jedem
Schiffe, welches von Port Darwin nach China abgeht, ihre
Funde dahin senden. Die Kolonie hat von diesen Chinesen
keinen Nutzen. Ihre geringen Lebensbedürfnisse importiren
sie aus China, und mit dem gefundenen Golde ziehen sie
wieder heim.
Wir haben schon gelegentlich von der großen Agitation
gesprochen, welche gegenwärtig in ganz Australien gegeu die
Chinesen herrscht. In Queensland hat das Parlament eine
Bill zum Schutze gegen ihre massenhafte Einwanderung ge-
nehmigt. Auch in den übrigen Kolonien verlangt die arbei-
tende Klasse stürmisch einen gleichen Schutz. In Südanstra-
lien sträubte sich die Regierung bisher gegen Maßregeln,
welche sich völkerrechtlich nicht rechtfertigen lassen, und gab
*) Nach einer Mittheilung des Kronlandministers im süd-
australischen Parlamente belief sich die Bevölkerung der Ansie-
dclung um Port Darwin am 31. Juli 1880 insgesammt auf
400 Europäer, 30 Malaien und 2040 Chinesen. Davon waren
100 Europäer und 1600 Chinesen auf den verschiedenen Gold-
feldern beschäftigt. Auf dem Margaret-Goldfeld allein arbeite-
ten 50 Europäer und 1100 Chinesen.
320 ° Aus allen
nur in so weit nach, daß bei öffentlichen Arbeiten hinfort
keine Chinesen mehr Verwendung finden sollen. Als nun
aber die Nachricht über die Entdeckung der Margaret-Dig-
gings einlief, ließ sie sofort durch das Parlament eine Bill
unter dem Namen „the Chinese Immigrants Regulation
Act of 1880" genehmigen. Dieselbe besagt im Wesentlichen
Folgendes.
1. Der Kapitän eines jeden Schiffes, welches in einen
südaustralischen Hafen einläuft, hat sofort der Hafenbehörde
eine zuverlässige Liste aller au Bord befindlichen Chinesen
mit Angabe des Namens, des Alters, des bisherigen Aufent-
haltes und der Beschäftigung einzureichen.
2. Jedes für einen südaustralischen Hafen bestimmte
Schiff darf nur einen Chinesen auf je zehn Tonnen
seines Gehaltes mit sich führen. Für jeden überschüssigen
Chinesen verfällt der Kapitän in eine Strafe von 10 Pf. St.
3. Vor der Landung hat der Kapitän für jeden Chine-
sen eine Kopfsteuer von 10 Pf. St. zu entrichten.
4. Derselben Kopfsteuer unterliegen auch Chinesen,
welche aus einer der anliegenden Kolonien über Land in
Südaustralien anlangen, wenn sie sich nicht einer Geldstrafe
von 20 Pf. St. aussetzen wollen.
5. Die eingehändigte Quittung hat der Chinese auf
Verlangen der Behörde zu jeder Zeit vorzuzeigen.
6. Nur Chinesen, welche als britische Unterthanen in
britischen Besitzungen geboren sind, werden von obigen Be-
stimmnngen nicht betroffen.
Wir können noch hinzufügen, daß die südaustralische
Regierung den Herren Spence und Owsten in Melbourne
bewilligt hat, sich im Northern Territory ein Areal von
22 000 Acres Land auszusuchen. Dasselbe soll ihnen nach Ab-
lauf von sechs Jahren als freies Eigenthum zugeschrieben
werden, wenn sie nachweisen, daß sie wenigstens 10 000 Pf. St.
darauf verausgabt und 500 Tonnen Zucker gewonnen haben.
Die genannten Herren wollen sich am Daly-Flusse, welcher
in Ausou Bay mündet, niederlassen und dort Zuckerplan-
tagen anlegen und Pferdezucht betreiben. Damit wäre denn
endlich einmal ein erster Versuch mit Plantagen int Northern
Territory in sicherer Aussicht.
Arktisches Gebiet.
— Die verfrühte Rückkehr des niederländischen Nord-
Polarschiffes „Willem Barents" (s. oben S. 255), wel-
ches schon am 4. September in Hammerfest eingelaufen war
und sich jetzt in Amsterdam im Trockendock befindet, ist durch
einen Unfall herbeigeführt worden. Während der Befehls-
Haber nämlich die Kreuzinsel zu umsegeln suchte, stieß das
Schiff während der Nacht auf eine in der Nähe derselben
liegende Sandbank. Es wurden bereits Vorbereitungen zur
Rettung der Bemannung des Schiffes, welches man verloren
glaubte, getroffeu, als dasselbe nach unsäglicher Mühe wieder
flott wurde. Der Plan die Reise fortzusetzen oder doch we-
nigstens den von dem Schiffe mitgeführten Gedenkstein auf
der Oranien-Insel zu errichten, mußte aufgegeben werden.
Dennoch erklärt der Befehlshaber, es würden zahlreiche und
selbst mehr magnetische und sonstige Wahrnehmungen als
während der vorigen Expedition gemacht. Namentlich-wurde
die Eisgrenze ziemlich vollständig aufgenommen.
— Die Geographische Gesellschaft in Bremen versendet
folgende Mittheilung: Bremen, 14. Oktober 1880.
Unser Mitglied Kapitän Dallmann, kürzlich aus dem Eis-
meere nach Hammerfest zurückgekehrt, schreibt von dort in einem
heute angekommenen Briefe an seine Rheder: „Dieser Tage
Erdtheilen.
war hier eine Dampfjacht (die,, Eira"), ein großes Hölzer-
nes Schiff, welches von hier via Tromsoe nach Schottland
(Peterhead) weiter ging. Das Fahrzeug wurde in Peter-
head im letzten Winter erbaut; der Eigenthümer, Herr Leigh
Smith aus London, war an Bord. Der Kapitän war zu-
fällig ein Bekannter von mir, da ich in der Davisstraße mit
ihm zusammen gefischt hatte; er suchte mich auf und erzählte
mir, daß sie im Juni Peterhead verlassen und bei Jan
Mayen sich einige Tage zwischen Robbenfängern und Rob-
ben aufgehalten, selbst einige hundert Robben geschossen hät-
ten und dann weiter bis östlich von Spitzbergen gedampft
wären. Darauf feien sie ohne besondere Umstände und ohne
viel Eis nach Franz-Josephs-Land gekommen; sie seien
da, wo die Oesterreicher mit dem „Tegetthoff" gewesen, ge-
landet, hätten auch einen Cairn (Steinhaufen) uud andere
Spuren am Lande gefunden, das Schiff selbst aber nicht ge-
sehen. Herr Smith zeigte mir seine Karten und hat er dar-
nach noch etwa 50 bis 100 Seemeilen mehr den öfter-
reichischenEntdecknngen hinzugefügt; ohne viel Zeitverlust
und ohne viel Eis getroffen zu haben, wären sie nach Spitz-
bergen zurückgedampft, hätten dort noch einige Tage Ren-
thiere geschossen und wären in 56 Stunden von da nach
Hammerfest gekommen." — In Betreff der weiter östlich und
südlich um Nowaja Semlja belegenen Meeresgebiete lauten
dagegen die Nachrichten über die Eisverhältnisse sehr nn-
günstig. Von den nach Sibirien (Ob und Jeniffei) bestimm-
ten Schiffen ist nur der „Neptun" glücklich nach dem Ob
und wieder zurückgekommen, hat aber auch mit manchen
Schwierigkeiten durch das Eis zu kämpfen gehabt.
— Der „Corwin", jener Zollkutter, welcher uach dem
Nordpolsahrer „Jeannette" Nachsuchung halten sollte (vergl.
„Globus" XXXVIII, S. 64 und 255), ist nach San Fran-
cisco zurückgekehrt, nachdem er das ganze Meer zwischen
Point Barrow und der Herald-Insel (nördlich der Bering-
Straße) durchsucht hat, ohne eine Spur von der „Jeannette"
zu finden (vergl. über deren Ausrüstung und Abreise „Glo-
bus" XXXVI, S. 112, 155, 240; XXXVII, S. 32). Doch
ist dies noch kein Grund, sich deshalb ernstlichen Besürch-
tuugeu hinzugeben, wie das Beispiel der Expedition unter
Payer und Weyprecht zeigt, welche etwa zwei Jahre lang
verschollen war und dann glücklich zurückkehrte. Inzwischen
hat das Navy Department der Vereinigten Staaten durch
Vermittelung der russischen Regierung einen freilich sehr
alten Brief des Lieutenant de Long, Kommandanten der
„Jeannette" erhalten, welcher vom Kap Sertze Kamen 29.
August 1879 datirt ist. Danach befanden sich damals alle
Mitglieder der Expedition wohl auf, uud de Long beabsich-
tigte, in der folgenden Nacht über die Koljutfchiu-Bai nach
dem Wrangell-Lande zu fahren.
— In Christiania traf am 9. Oktober ein ans Kabarova
(am Jugor Schar) 19. September datirter Brief von dem
Dampfer „Oskar Dick so n" ein, auf welchem dessen Besitzer,
der bekannte Großkaufmann Sibiriakow, eine Reise nach
dem Jeuisei unternommen hat. Das Schiff hatte mit großen
Schwierigkeiten zu kämpfen; wiederholt versuchte es, durch
Jugor Schar oder Matotschkiu Schar in das Karische
Meer einzudringen, stieß aber stets auf uudurchdring-
liches Eis und saß im Matotschkin Schar sogar vier Tage
laug auf Grund, ohne indessen Schaden zu nehmen. Vom
10. bis 19. September lag es in Kabarova, bis der däni-
sche Dampfer „Neptun" (s. oben) meldete, daß die Passage
eisfrei fei. Am 20. früh sollte der „Oskar Dicksou" einen
neuen Versuch macheu, sein Ziel zu erreichen.
Inhalt: Panama und Darien. III. (Mit vier Abbildungen und einer Karte.) — Ein Brief Prschewalski's. —
Fr. Hubad: Die Frühlingsfeier der Slaven. I. — Prof. Ferd. Blumentritt: Die Erdbeben des Juli 1880 auf den
Philippinen. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Australien. — Arktisches Gebiet. — (Schluß der Redaction
1. November 1880.)_________
Nedacleur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage, enthaltend literarische Anzeige über: „Allgemeine Erdkunde". Ein Leitfaden der astrono-
mischen und physischen Geographie, Geologie und Biologie. Bearbeitet von Dr. I. Hann, Dr. F. v. Hochstetter
und Dr. A. Pokorny. Dritte Aussage. Verlagsbuchhandlung von F. Tempsky in Prag.
vird
Band XXXVIII.
%
'e
je 21.
Mt besonderer Berücksichtigung der AntKroyologie uns GtKnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
m Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i Qü A
Braunschwelg 19 zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. IddO.
Panama und D a r i e n.
Hach dem Französischen des Schiffslieutenants A. Reclus.
IV.
Es finden sich in Darien wohl manche hübsche Frauen, Niemals wird man eine Frau eine Last tragen oder ein
r dieselben verblühen rasch in Folge frühzeitiger und hän- Boot rudern sehen. Obwohl die Männer während des
aber dieselben verblühen rasch in Folge frühzeitiger und hau
figer Mutterschaft, übermäßiger
Anstrengungen, mangelnder Psle-
ge, schlechter Nahrung und Nei-
gung zum Anisschnaps. In dem
Alter, wo andere Frauen in voller
Jugend uud Gesundheit sich be-
finden, sind sie in Darien bereits
verblüht, gealtert, krank uud je
nach dem Blute, welches in ihren
Adern fließt, fett oder abgezehrt.
Dem Genüsse des Tabaks huldi-
gen sie im Uebermaße, uud zwar
haben sie die merkwürdige Ge-
wohnheit, das brennende Ende
der Cigarre im Munde zu hal-
ten, weil dieselbe nur so gut
schmecke. Das Rauchen lernen
die Kinder sehr frühzeitig.- Reclns
hat mit eigenen Augen gesehen,
daß Negerkinder ihre Cigarre fort-
warfen, um an der Mutterbrust
zu saugen. Negerjungen werden
übrigens sehr lange gesäugt.
Die Männer sind hier zu
Lande besser, als in vielen weit
civilisirteren Gegenden, indem sie ihren Frauen weder
die harte Feldarbeit noch sonst etwas Schweres znmuthen.
Globus XXXVIII. Nr. 21.
zM
!>
Haarputz einer reichen Frau in Darien.
(Nach einer Skizze von Lieutenant Neclus.)
Boot rudern sehen. Obwohl die Männer während des
größten Theiles der guten Jahres-
zeit fern von ihren Hütten zu-
bringen, nm Kautschuk und Ta-
gua zu sammeln, so kehren sie doch
zum Säen uud Ernten des Reis
dorthin zurück. Auch wenn das
anbaufähige Land fern von ihrem
Dorfe liegt, nehmen sie ihre
Frauen nicht dorthin mit. Die-
selben haben nichts zu thun, als
ein Bischen zu kochen, zu waschen
und die Kinder zu besorgen. Letz-
tere Arbeit drückt sie nicht sonder-
lich schwer: alle ihre Mutter-
pflichten bestehen darin, ihre Nach-
kommenschaft vier Jahre oder
länger zu stillen, die Kleider der
Mädchen zu waschen, gelegentlich
die kleine Gesellschaft durchzuprü-
geln und die jüngsten auf der
Hüfte mit sich herumzutragen.
Ehe die Kinder noch laufen kön-
nen, läßt man sie draußen im
Regen und Sonnenscheine mit
Hunden und Schweinen herum-
kriechen. Darum ist auch die Kindersterblichkeit in Darien
erschreckend groß und ein Bevölkerungszuwachs trotz der vielen
41
322
Panama und Darien.
Geburten kaum zu merken. Reclus hat Frauen kennen ge-
lernt, welche von einem vollen Dutzeud Kindern kein einziges
aufgebracht haben; Blattern, allerlei Unglücksfälle und beson-
ders Sonnenstiche raffen die meisten hinweg, und die Neber-
lebenden haben magere, mit Narben uud Wunden bedeckte
Glieder, dick aufgetriebene Bäuche uud schlotternde Kniee.
Selbst dem unaufmerksamsten Beobachter muß die Menge
der niit Nabelbrüchen behafteten Kinder auffallen. Sie
sind scheußlich anzuschauen; aber sie entwickeln sich geistig
schneller, als weiße Kinder, und ihr Gesicht funkelt von
innerm Leben. Freilich dauert das nicht lange; denn im
Alter von acht Jahren, wo ihr Leib sich herausbildet und
kräftigt, wird ihr Geist träge und ihre Intelligenz hört auf,
sich weiter zu entwickeln. Die geringe Sorgfalt, welche man
den Kindern angedeihen
läßt, hat übrigens noch
andere Gründe, als das
Klima und die Nachlässig-
keit der Eltern; vor allem
trägt die Sittenlosigkeit
und die Leichtigkeit, mit
welcher Ehen geschlossen
und gelöst werden, Schuld
daran.
Die Frauen tragen noch
das alte kreolische Kostüm,
einen Unterrock von leich-
tem, weißem Stoffe niit
mehreren Volants, aus wel-
che in Roth oder Lila Guir-
landen aufgedruckt siud, da-
zu ein Mieder, welches so
weit ausgeschnitten ist, daß
stets die eine oder andere
Schulter nackt bleibt, und
oben mit drei ähnlichen
Falbalas besetzt ist. Die
Haare werden in der Mitte
gescheitelt und bilden, wenn
sie nicht allzu kraus sind,
zwei lange Zöpfe; ist es
unmöglich, sie zu flechten,
so theilt man sie in 10 oder
12 große Büschel, rollt die-
selben zu „Schalen" aus,
steckt große goldene Kämme
und einige frische Blumen
hinein, hängt sich massive
Ohrringe, die im Choco
fabricirt werden und mit billigen Perlen aus dem Meere
bei Panama besetzt sind, in die Ohren und erhält so die
beliebteste Kopftracht. Auf dem Kopfe tragen die Frauen
einen Strohhut, welcher genau dem der Männer gleicht; die
Füße sind meist unbekleidet und werden nur bei feierlichen
Gelegenheiten in rothe oder grüne Schuhe gezwängt.
Der Anzug der Männer, so lange sie im Dorfe ver-
weilen, besteht einfach aus Hemde und Hofe, ausnahmsweise
auch Schuhen; gehen sie zur Arbeit, so entledigen sie sich
jenseit der letzten Hütte des Ortes all dieser Dinge, verber-
gen dieselben unter einem Strauche bis zu ihrer Rückkehr
und begnügen sich mit einem Schurze, der an einer Schnur
um den Leib befestigt ist, und mit „abarcas", einfachen
Sandalen; die Stelle des Strohhutes nimmt dann ein zu-
sammengerolltes und fest um den Kopf gelegtes Tuch ein.
Von ihrem machete (Waldmesser) trennen sie sich nie. Im
Walde drinnen vereinfachen manche selbst noch diese Beklei-
Wie man in Darien die Kinder trä^t.
(Nach einer Skizze von Lieutenant Reclus.)
dnng nnd tragen statt des Schurzes nur einen winzigen
Lappen, die „pampilla", zuweilen selbst diese nicht mehr,
sondern nur noch die nie sehlende Schnur um den Leib.
Diese ist das wichtigste Stück in der Kleidung eines Bewoh-
ners von Darien. Den Knaben vom fünften bis zum zehn-
teu Jahre ersetzt sie die Hose und härtet die Taille ab, gerbt
sie gewissermaßen, so daß sie später Schurz, Feuerzeug,
Messer, Tabaksbeutel, kurz alle die Dinge, die wir Europäer
in die Taschen stecken, tragen kann. Häusig indessen schneidet
die Schnur iu die Haut ein uud viele Männer haben an der
Taille zahlreiche Narben, ähnlich den im Geschirre ergrauten
Karrengäulen.
Um 9 Uhr Abends fuhr die Expedition mit eintretender
Flnth in mehreren Pirogen oder „champa" und einer gro-
ßen „canoa" ab. Letztere
trug die Mehrzahl des eu-
ropäischen Personals; sie
war 20 m lang, 2 m breit
und aus einem einzigen
Baumstamme hergestellt,
hatte eine nahezu cylindri-
sche Form uud ermangelte
deshalb vollständig des
Gleichgewichtes; sobald sich
einer der Insassen nur im
geringsten rührte, fiug sie
bedenklich zu kippen an.
Da die Gesellschaft sehr
zahlreich und der Platz be-
schränkt war, so war es
unmöglich zu schlafen; frei-
lich hätten auch die Mos-
kitos jeden Schlaf zu uichte
gemacht. Ohne diefe wahr-
Haft unerträgliche Plage
wäre eine Forschuugsreife
in Darien während der
trockenen Jahreszeit eine
wahre Vergnügungspartie.
In seinem untern Laufe
hat der Tuyra, dessen Tiefe
fast überall mehr als 7 in
beträgt, oft mehr als 1 km
Breite; seine Ufer sind
flach, sumpfig, nur mit
Mauglebäumeu bestanden,
oft auf weite Strecken
überschwemmt und alle
Augenblicke von Mündnn-
gen kleiner Zuflüsse durchschnitten, welche die nagende
Thätigkeit der Ebbe und Flnth verbreitert hat. Nachdem
man oberhalb Chepigana ein weites Becken Passirt hat,
befindet man sich dort, wo am rechten, nördlichen User
die große Lagune Matunfacrati ihren Anfang nimmt;
dieselbe zieht sich dem Flusse parallel mehrere Dutzeud
Kilometer weit hin. Wie die Leute dort glauben und
erzählen, ist niemals einer der Unvorsichtigen, die sich
dorthin gewagt haben, zurückgekehrt, außer einigen spa-
nifchen Soldaten, welche im vorigen Jahrhundert vor In-
dianern flüchten mußten. Auf einem Floße erreichten sie
unversehrt das andere Ufer der Lagune, wußten aber Wunder-
dinge von riesigen Krokodilen, gewaltigen Wasserschlangen
und sonstigen Ungeheuern zu erzählen, die ihnen dort begeg-
net waren. Selbst die muthigsten Leute bedenken sich, in den
Arroyos, die mit jener Lagune in Verbindung stehen, zu
fischen oder zu jagen. Manche Ungläubige zucken die Achseln
Panama und Danen.
über die angeblich dort hausenden Bestien und halten die
Gegend ganz einfach für verzaubert; wenn sich dort eine
Jagdgesellschaft von einander trennt, so ist sie verloren:
denn der böse Geist, der dort haust, verwirrt die Stimmen
der sich Zurufenden dermaßen, daß keiner dem Rufe des an-
dern antworten und das Boot wieder finden kann. Gern
hätte die Expedition diesen See besucht, weil derselbe für
einen zukünftigen Kanal vielleicht in ähnlicher Weise sich
verwenden ließe, wie die Bitterseen für den Suez-Kanal, und
dadurch Verbesserungsarbeiten im Tuyra in Wegfall kommen
Real de Santa Maria. (Nach einer Skizze des Lieutenant Reclus.)
könnten; allein stets fehlte ihr die Zeit zur Untersuchung Bei Tagesanbruch wurde au der von Sümpfen umgebe-
des Gewässers, welches vielleicht nur eiu Netz alter Fluß- nen Alligatoren-Insel geankert, die ihren Namen mit Recht
arme ist. trägt, da sich auf ihr die mächtigen Saurier mit Vorliebe
Molineca. (Nach einer Ski?
sonnen. Weiter aufwärts nimmt die Breite des Flnsses
bedeutend ab und betrügt im Durchschnitte nur noch 300 m;
sein Lauf wird gewundener, seine Ufer werden höher und
sind nur noch stellenweise und nur bei Hochwasser Ueber-
schmemmnngen ausgesetzt, das Mangrovedickicht wird durch
>e des Lieutenant Reclus.)
andere Bäume ersetzt und Lianen treten in immer znneh-
mender Ueppigkeit auf. Kurz vor dem Zusammenflüsse des
Chucunaqne und Tuyra sind die schlammigen Vorsprünge
des Ufers mit Pflanzen bedeckt, deren herzförmige Blätter
mehrere Fuß lang sind. Dort passirt man die kleine Insel
41*
324 Panama
Real Viejo, eine vorzügliche militärische Position, wo die
Spanier einst ein kleines Fort errichtet hatten. Bei der
Mündung des Chucuuaque, der eigentlich der Hauptfluß ist
und an welchem sich eine breite Sumpfebene hinaufzieht,
verbreitert sich das Bett des Stromes noch einmal; weiter
aufwärts ist der Tuyra nur noch ein hübsches Flüßchen mit ho-
hen, reich bewachsenen Ufern. Die Nacht verbrachte dieExpe-
dition in Real de Santa Maria, dessen brave Bewohner
den Fremden erlaubten, in ihrer Hütte die Hängematten zu
befestigen und sich darin von der schlaflosen Nachtfahrt zu
erholen. Um 2 Uhr Morgens waren sie aber schon wieder
auf den Beinen, um die Fluth zu benutzen, passirten bei
Tagesanbruch Moliueca, das elendeste Dorf in ganz Da-
Piuogana. (Nach
der erste Ingenieur Celler mit seinen beiden ans 15 Expe-
ditionsmitgliedern und 33 Eingeborenen bestehenden Bri-
gaden die Arbeit; die erste derselben unter Millat hatte den
Stromlauf zu nivelliren und zu verpfähleu, die zweite den
Plan desselben aufzunehmen. An dem einen Tage machten
die Herren Gerster und Mufso, am folgenden Barbiez und
Sofa die Aufnahmen; während des Ruhetages berechneten sie
ihre Beobachtungen und zeichneten an der Karte. Bixio war
mit der Organisation des Lagers und der allgemeinen Leitung
der Dinge betraut. Sobald die Arbeit im Gange war, fuhr
Wyfe den Paya, einen rechten Nebenfluß des Tuyra, hinauf,
um mit den dortigen Indianern Beziehungen anzuknüpfen
und die niedrigste Einsattelung in jenem Theile der Cordil-
lera zu suchen. Reclus mußte den Fluß hinab nach Che-
pigana zurückfahren und dabei Tiefen- und Winkelmessungen
ö Danen.
rien, und erreichten um Mittag Piuogana, einen Ort
von 200 Einwohnern, wo Lieutenant Wyfe mit einem Theile
des Personals schon am Abende zuvor eingetroffen war. So-
fort ging man daran, die einzelnen Brigaden zu bilden. Auch
hatte man bereits in diesem sehr reinlichen und gut gelegenen
Dorfe eine niedliche Hütte als Hauptquartier eingerichtet
und den Verpflegungsdienst organisirt. Am Morgen des
18. December waren alle Vorbereitungen getroffen, die In-
strumente regulirt und ein Dutzend Pirogen beladen. Lieute-
uaut Reclus erhielt von seinem Ches den Auftrag, deu un-
tern Tuyra und die Gezeiten in Chepigana zu studireu;
beigegeben wurden ihm der Schotte Balfonr und der Boots-
mann Leuoau. Frühzeitig am folgenden Morgen begann
Photographie.)
vornehmen, Querprofile entwerfen und dergleichen. Seine
einzige Unterhaltung bestand darin, den am Ufer schlafenden
Krokodilen ab und zu eine Kugel zuzusenden. Erst am
vierten Tage erreichte er Chepigana, wo er sofort einen
Fluthmesser zu errichten begann uud feinen Gefährten Bal-
four im Ablesen desselben und im Vornehmen meteorologi-
scher Beobachtungen unterrichtete, um später, gegen die Mitte
des Januar, wieder zu Lieutenant Wyse stoßen zu können.
Damals war es Weihnachten, welches eine volle Woche hin-
durch gefeiert wird. Dauu versammeln sich alle Einwohner
im Dorfe, selbst die iu weiter Ferne arbeitenden Cancheros;
bei Tage wird gespielt und getrunken, Nachts getrunken und
getanzt. Die Jugend vergnügt sich besonders damit, auf
der Trompetenfchnecke zu blasen; religiöse Gemüther geben
ihren Gefühlen durch Glockeuläuten, Trommeln und Flinten-
326 Fr. Hubad: Die Frli
schüsse Ausdruck; es ist zu begreifen, daß Reclus während
der Festzeit nur selten und mit Mühe etwas Nachtruhe fand.
Reclus sah bald ein, daß die lokalen Beobachtungen in
Chepigaua ihm kein genaues Bild von dem Gange -der Ge-
zeiten im Tuyra geben könnten, und benutzte deshalb die
paar noch übrigen Tage, um nach la Palma zu gehen,
wo der Fluß zusammen mit dem dort einmündenden Sabana
ein weites Wasserbecken, den von der Natur vorgezeichneten
innern Hasen des erträumten Kanales, bildet. Am 2. Ja-
nnar 1877 trat er die circa 18 Km lange Fahrt dorthin
an; das Wetter war herrlich und es war hohe Fluth. Lang-
sam und ohne die geringste Furche zu hinterlassen schwamm
die Piroge den mit zahlreichen Baumstämmen bedeckten
Fluß hinab. Von der Regungslosigkeit des Bootes getauscht,
näherten sich ihm alle Augenblicke kleine Tümmler und Schild-
kröten, welche um diese Jahreszeit iu Massen den Tuyra
auswärts ziehen, um auf den Sandbänken des Oberlaufes
ihre Eier abzulegen. Stets waren die Flinten in Bereit-
schast; aber immer verschwanden die Schildkröten sofort,
als sie ihren Jrrthum erkannten, und ohne zu treffen, schlug
die Ladung ins Wasser.
Nachdem das Kap Seteganti, auf welchem die Spa-
uier ein Fort errichtet hatten, passirt war, kam man in
den breiten Aestnar an der Vereinigung des Tuyra und Sa-
bana, und sofort war es anch mit dein Gefühle der Sicher-
heit, welches man bei Flußfahrten hat, vorüber. Bei letzteren
hat man, wenn ein Unwetter losbricht, stets noch Zeit sich in
einen Seitenarm zu retten; hier aber'ist das Gewässer breit,
tief und schlammig, und ist reich an Wirbeln und Strudeln,
lingsfeier der Slaven.
welche selbst den besten Schwimmer in die Tiefe ziehen.
Jedes schwimmende Stück Holz halten die Bootsleute in
ihrer Furcht für ein Krokodil oder einen Haifisch, welche
auf gnte Beute warten; zudem wissen die Schiffer, daß,
felbst, wenn es ihnen gelänge bei einem Schiffbruche das
Ufer zu errichen, sie im Schlamme versinken oder im Man-
grovedickicht verhungern müßten. Und doch ist diese geführ-
liche Gegend so schön, so friedlich und harmonisch. Hinter
dem breiten Sumpfstreifen, der so flach ist, daß man nicht
unterscheiden kann, ob die Mangroven mit ihren tausend
Wurzeln und mächtigen Aesten im Flusse oder auf dem
Laude wachsen, steigen schön geformte Hügel und kleine
Waldberge auf. Je nach der Höhe und dem Boden wechseln
die Pflanzenarten; ohne Ende sind die Unterschiede in der
Färbung und Gestaltung der Vegetation: bald sieht sie aus
wie matter meergrüner Sammet, bald wie leuchtende Seide;
hier schillern im Sonnenschein die lichtgrünen Fächer der
Cocos-Bellos, dort wechseln die langen dunkeln Büsche der
Palmen mit den riesigen Qnippos-Bäumen, welche man
selbst in der dichtesten Laubmasse stets herauserkennt, und auf
den Hügelu drängen sich die den Bananen ähnlichen Plata-
nillos zusammen. Unmöglich ist es aber zu schildern, wie
weich und wie vielfach die Uebergänge der einzelnen Töne
und Schattirnngen in einander stattfinden. Jenseit der Hü-
gel erheben sich überall die sägeförmigen Spitzen der
Cordillere und die weniger schroffen Gipfel des Pirri-Maf-
sivs, aber in solcher Ferne, daß sie trotz der Reinheit und
Durchsichtigkeit der Luft wie Nebelgebilde erscheinen.
In solcher Umgebung liegt La Palma.
Die Frühlingss
Von Fr. Hubad, Gyn
Von den Boten angekündigt kommt der Frühling nach
russischem Glauben auf einem scheckigen Pferd oder, wie
ein russisches Liedcheu, mit welchem die Bauern im März
und April die Vesna rufen: „Auf einem Pflügelein, ans
einem Eggeleiu" x), somit auf den Werkzeugen, welche der
Bauer zu der Jahreszeit am meisten braucht. Eine ähn-
liche Vorstellung zeigt sich unverkennbar auch bei den Slo-
venen. In den letzten Faschingstagen ziehen in einigen Ge-
genden, so z. B. bei Pettan in Steiermark, die „Pflüger"
(oraci) Herum. Mehrere maskirte Burschen, von denen
einer als Teufel den Pflug ziehen mnß, während ein ande-
rer mit einer großen Peitsche knallt, und ein dritter in einem
Korb Gaben sammelt, kommen vor das Haus, ziehen den
Pflug einige Male durch deu Hof als symbolische Eröffnung
der Feldarbeiten und werden darauf mit Eßwaareu und Ge-
tränken beschenkt, die sie nach vollzogenem Aufzuge gemein-
sam verzehre».
Nach einem andern russischen Volkslieds, welches beim
Vesua-Nufeu gesungen wird, kommt der Sommer in einem
Kahn (auf nassem), der Winter in einem Wagen (auf
trockeuem Wege) gefahren. Dabei hat sich in einigen Ge-
genden noch ein Ueberrest alter Frühlingsopfer erhalten;
die Bulgaren z. B. gehen am 1. März bei Sonnenaufgang
das Frühjahr anrufen uud halten ein eigens zu diesem Zwecke
') Afanasjev III, p. 678.
ier der SIaven.
isialprosessor in Pettan.
gebackenes Brod in der Hand; russische Landleute dagegen
breiten auf dem Felde ein neues Leinwandstück ans, legen
Kuchen darauf, wenden sich gegen Osten und sprechen:
„Sieh da! Mütterchen Vesna!" Daranf entfernen sie
sich, lassen ihre Gaben unter freiem Himmel und hoffen,
daß die Vesna (die Weißrussen denken sich den Frühling
als ein schönes, jnnges, schlankes Mädchen, Ljalja) sich mit
der Leinwand kleide und für das ihr dargebrachte „Salz und
Brod", womit in Rußland jeder Gast beim Eintritte ins
Haus bewirthet wird, Flachs und Hans gedeihen laffeT).
Die Volkslieder, welche beim Frühlingsempsange gesnn-
gen werden, reichen in ein hohes Alterthum hinauf und ent-
halten wichtige Daten für den Mythenforscher. Nicht ge-
ringeres Interesse gebührt den Spielen und sonstigen Ge-
bränchen aus dieser Zeit. So feiern die Weißrusseu der
Ljalja (Personifikation des Frühlings) am Vorabende des
St. Georgstages den Ljaljnik. In einem Heine versam-
meln sich die Bauernmädchen, wählen eines ans sich zur
Ljalja, kleiden sie in weißes Leinen, umwinden ihr Hals,
Hände und Taille mit frischem Grün und setzen ans ihren
Kops einen Kranz ans Frühlingsblumen. Die Ljalja setzt
sich dann auf deu Rasen, neben sie stellen die Versammel-
ten Mnndvorräthe, welche sie zu diesem Zwecke mitgebracht
haben, und legen grüne Kränze dazu. Darauf reichen sich
i) Afanasjev III, p. 690.
Fr. Hubad: Die Frühlingsfeier der Slaven.
327
die Mädchen die Hände und beginnen den Neigen um die
Königin des Festes zu tanzen; dabei singen sie Lieder, in
denen sie um Segen für die Feldfriichte bitten. Nach Be-
endigung der Feier vertheilt die Ljalja die Eßwaaren und
die Kränze unter den Anwesenden; die letzteren sowie das
Grün, welches die Ljalja geschmückt, werden dann bis zum
nächsten Frühjahr sorgfältig aufbewahrtx).
Die Frühlingsgöttin erscheint aber nicht nur als Be-
schützerin der Saaten, sondern auch der Ehe und des Liebes-
genusses. Daher erklären sich die verschiedenen Liebesorakel,
welche in dieser Zeit den Liebenden Aufschluß über die
Zukunft geben; deshalb werden von dem russischen Volke
auch Spiele veranstaltet, die aus die Liebe Bezug haben und
deshalb „Brände" (gorelki) heißen 2).
Die bisher angeführten Frühlingsgebräuche zeigen uns
die Jahreszeit in ihrem lieblichen Kleide; betrachten wir
nun den Unterschied zwischen Winter und Sommer von einem
andern Gesichtspunkte, so erscheint uns der Winter im Volks-
glauben auch als Repräsentant des Todes, der Sommer als
der des Lebens, eine Auffassung, die wohl schon so alt sein mag
als das Menschengeschlecht. Diese erzengte bei den Griechen
den sinnigen Mythus von der Persephone, die von dem ge-
waltthätigen Beherrscher der Unterwelt geraubt,' durch Zeus'
Beschluß den einen (winterlichen) Theil des Jahres bei
ihrem sinstern Gemahl in der Unterwelt selbst als finstere
Beherrscherin der Todten, den andern (sommerlichen) Theil
aber bei ihrer Wachsthum und Getreidesegen spendenden Mut-
ter selbst als lichte freundliche Gottheit zubringen muß. Darin
sehen wir das Absterben des Naturlebens im Herbste und
sein Wiedererwachen im Frühling in einem sinnigen
Bilde dargestellt, wie es schon das in der Jlias erwähnte
Linoslied in dem Tode und Wiedererwachen des Linos
feierte und später das aus der Religion semitischer Völker
übernommene Adouissest darstellte. Adonis' Name bedeutet
ben „Herrn"; er ist der Gott der männlichen, belebenden und
zeugenden Naturkraft, dessen die weibliche Naturgöttin (in
der Adonissage Aphrodite) nicht entbehren kann, den sie
aber im Wechsel der Jahreszeiten immer eine Zeitlang
missen muß, bis sie ihn wieder gewinnt.
Dies kleidet der Mythus iu das Bild eines schönen
Jünglings, Adonis, des Geliebten der Aphrodite, den ein
Eber, das Sinnbild der feindseligen winterlichen Mächte,
wie wir ihn auch bei Germanen und Slaven finden, zum
Tode verwundet. Sie beweint ihn trostlos, aber die Götter
gewähren, daß er aus dem Reiche des Todes auch wieder
zu ihr zurückkehren darf. Das Fest selbst wurde mit Tod-
tenklagen um den Adonis begangen; man stellte Bilder
aus, die den Gestorbenen darstellten, ging in Prozession da-
mit umher, wobei die sogenannten Adonisgärtchen, d. H.Kasten
oder Blumentöpfe mit Lattich, Fenchel und anderen Ge-
wüchsen, die man darin gesäet hatte, getragen und dann ins
Wasser geworfen wurden. Dann aber wurde auch das
Wiederaufleben und die Rückkehr des Adonis mit Freuden-
festen gefeiert.
Dem ersten Theile dieser Feier entspricht das „Todaus-
tragen", welches in Schlesien, Böhmen, Mähren, Sachsen,
Thüringen, bei den Lausitzer- und Elbeslaven, den Polen und
anderen üblich war und theilweise noch im Gebrauch ist. Am
Sonntage „Lätare", in Böhmen am Sonntage „Judica",
welcher deshalb auch der Todteusonntag (smrtna nedele)
heißt, versammelten sich in den Dörfern und Städten Er-
Wachsens und Kinder in großer Zahl, machten von Holz,
Lumpen uud Stroh ein häßliches Bild einer alten Frau
1) Afanasjev III, p. 679.
2) Vergl. „Globus" XXXIII, S. 316.
(der Tod ist im Slavischen weiblichen Geschlechtes), banden
es an eine Stange und trugen es unter Gesängen, Liedern
und dem lautem Jubel des Volkes in den Straßen umher.
Zuletzt wurde die Puppe ins Wasser geworfen oder ver-
brannt ; manchmal machte sich aber die Jugend auch den
Spaß, das Bild über die Gemeindegrenze auf das Gebiet
der Nnchbargemeiude zu werfen, was jedoch den Nachbaren
gewöhnlich nicht angenehm war, fo daß es oft zu Zank
und Streit, ja felbst zu Schlägereien kam. Die Puppe
heißt „der Tod" und diese Feier „den Tod austreiben"
(vynaseni Morany). Die Bedeutung der Feier er-
klären die dabei gesungenen Lieder selbst am besten. Die
Cechen singen, wenn die Puppe ins Wasser geworfen wird:
„der Tod (smrt) schwimmt auf dem Wasser — das neue
Jahr kommt zu uns"; bei der Rückkehr in das Dorf hin-
gegen heißt es ausdrücklich: „den Tod haben wir aus dem
Dorfe getragen, das neue Jahr tragen wir ins Dorf".
Auf den Todtenstein bei Görlitz, welcher in heidnischen
Zeiten als Opferstätte gedient hatte, zogen noch hu Anfange
des 18. Jahrhunderts zur Zeit des Frühlingsanfangs die
Leute aus der Umgebung; nach Sonnenuntergang zündeten
sie Strohfackelu an und zogen mit dem Gesänge: „Den
Tod haben wir ausgetrieben, den Sommer bringen wir
wieder" ins ThaN).
Ein ähnlicher Gebrauch besteht noch jetzt bei den Slo-
venen in Krain, wo allerdings der Gedanke an das Tod-
austreiben verloren gegangen ist, dafür aber verbrennt man
noch jetzt den Fasching (pust). Am Faschingdienstag Abends
nach Sonnenuntergang holt die Jugend alte abgebrauchte
Reisigbesen, tränkt sie wohl auch mit Pech, zieht ins Freie,
zündet sie an, schwingt sie durch die Luft, schreit und singt
dazu, um den bösen Fasching zu vertreiben. Die Erinne-
ruug an den alten Frühlingsbrauch ist dabei gauz verloren
gegangen. Wie weit jedoch dieser Brauch verbreitet war,
beweisen die Ueberreste desselben, die wir auch bei deu Süd-
slaven finden. In Altserbien z. B. wird Anfangs Mai
eine Puppe aus Reisig oder Stroh, die Maja, ins Wasser
geworfen, Kinder schlagen dabei auf hölzernes und eisernes
Geschirr, waschen sich darauf und fingen Lieder, in denen sie
den Einzug des Heiligen Jeremias, dessen Fest auf den
I.Mai fällt, feiern und den Wunsch ausdrücken, alleSchlan-
gen mögen ins Meer ziehen. In Macedonien, Thessalien,
Albanien, Thracien und theilweise auch in Bulgarien brin-
gen die Frauen schon vor Sonnenaufgang Wasser von sieben
verschiedenen Quellen, reinigen das Hans uud die Kinder
lärmen auf verschiedeuem Geschirr und singen vom Heiligen
Jeremias 2). Dieser Lärm wie auch besonders das Knal-
len mit Peitschen und das Glockengeläute vertreibt die bö-
sen Geister; deshalb siuden wir auch bei den Kaschnben in
der Nähe von Danzig noch denselben Brauch zu Neu-
jähr. Am Sylvesterabend nach Sonnenuntergang versain-
meln sich die Kinder des Dorfes, bewaffnet mit Kuhglocken,
Ratschen, Kesseln, Pfannen und Anderm, in den Gassen,
machen eiuen Heidenlärm und schreien, so viel sie können,
um den Tod (das alte Jahr) zu vertreiben, wobei ihnen die
erwachsenen Knechte durch Knallen mit Peitschen helfen.
Das giebt ein wunderliches Bild, denn je größer der Lärm,
denken sie, desto fruchtbarer wird das neue Jahr sein. Da
schreit z. B. ein Gänsemädchen aus vollem Halse nach
1) Vergl. über das Todaustreiben: Usener, Italische Mythen,
Rhein.Museum, XXX (1875). „Globus" XXX (1876), S. 299.
Grimm, D. M. 4. Ausgabe, II, S. 639 sf. Afanasjev^III,
p. 691 seq.
2) Milojeviö, Pesme i obicaji ukupnog naroda srbskog.
Belgrad 1869, p. 171. Vergl. jedoch Uber Milojevio: Krek,
Einleitung I, 320.
328 Fr. Hub ad: Die Frü
vielen Hühnchen, Enten, Gänsen und viel Getreide, daneben
ein Hirtenbube uach vielen Kälbern, Fullen, viel Getreide.
In den Gärten zieht die wilde Jagd um die Obstbäume
und ruft Obstsegen herbei^).
Den Ursprung des Todaustreibens wollen einige in
Polen gefunden haben, wo im Jahre 966 am vierten Sonn-
tage in der Fastenzeit der Fürst Meöislav zum Christenthum
übertrat und alle Götzenbilder ins Wasser werfen oder ver-
brennen ließ. Nach Dlugosz, welcher diese Nachricht über-
liefert hat, soll Meöislav zur Erinnerung daran den Brauch
des Todaustreibens eingeführt haben, um sein Volk daran
zu erinnern, daß die Götzendiener des Todes schuldig seien.
Die Strohpuppe sollte ihre alten Göttinnen Marzana und
Ziewouia, denen sie früher Frühlings- und Erntefeste gefeiert
hatten, darstellen. Doch ist der Ursprung des Brauches
jedenfalls viel älter, deuu wir finden ihn schon bei alten
Völkern; so warfen in Rom die Vestalinnen am 15. Mai
von der Pfahlbrücke vierundzwanzig aus Binsen verfertigte
Puppen in den Tiber; der „Mamurins Vetnrins", den man
in Rom vor den Jdns des März in der Gestalt eines in
Häute gekleideten Mannes mit weißen Stäben durch die
Straßen peitschte, ist auch uichts anderes als das Bild des
alten Jahres, und schon Corssen hat nachgewiesen, daß die
Anna Pereuna, deren Fest auf die Jdus des März fiel
und mit Gelagen gefeiert wurde, nur das alte Jahr be-
deute; auch bei dieser Feier wurde, wie Useuer nachgewiesen
hat, ein Bild der Anna ins Wasser geworfen.
Aber auch die von Dlngosz erwähnte Marzana ist keine
Erntegottheit, sondern eine Gottheit des Todes; dies bewei-
sen, abgesehen von der Etymologie, schon Namen, welche in
den bei der Feier gesungenen Liedern vorkommen, Matena,
Morena, an deren Stelle in Lechischen Liedern auch Smrto-
leuka und Smrt (der Tod) selbst tritt.
Aehuliche Haudluugen finden wir übrigens noch in die-
fem Jahrhundert und in manchen Gegenden noch vor Kur-
zem in Rußland 3)
Der Gebrauch des Todaustrageus findet sich noch im
Gubermum Kalnga, wo man die Strohpuppe auf einer
Stange herumträgt und Abends verbrennt; im Gnbernimn
von Orlovsk besteht dieselbe Feier; die Mädchen ziehen um
Mitternacht ins Freie und schlagen mit Besen uud Feuer-
hakeu in die Luft, um die bösen Geister zu vertreiben, wie
früher die Lhhauer bei Begräbnissen mit Messern in die
Luft hieben, um denselben Zweck zu erfüllen 3).
Ein ähnlicher Gebrauch findet sich in anderer Form noch
bei den Slovenen und Kroaten. Zn Mitfasten, erzählen
die Bauern noch heutzutage, wurde ein altes Weib um Mit-
tag entzweigesägt. Ist jetzt anch dies nur zu eiuem Mär-
cheu zusammengeschrumpft, so scheint es doch in früheren
Zeiten an einer Puppe wirklich vollzogen worden zu sein.
In Spanien und Italien hat sich dagegen dies fast bis in
unser Jahrhundert erhalten. In hellen Scharen liefen die
Kinder z. B. in Barcelona durch die Stadt; die einen trugen
Jahrbücher f. slav. Sit., Kunst und Wissenschaft, v. Jor-
dan II (1848), 25.
2) S. „Globus" XXXIII, S. 317.
3) Afanasjev III, 703.
Imgsfeier der ©laben.
Sägen, andere Holzklötze und noch andere sammelten Gaben;
dazu saugen sie ein Lied, daß sie das älteste Weib suchten,
nm es entzwei zu sägen. In italienischen Städten und
Dörfern veranstaltete dagegen die hoffnungsvolle Straßen-
jngend die sogenannte „Scampanata", d. h. sie lärmte
herum, zerbrach alte Töpfe, läutete mit alten Glocken, schrie
und lärmte, soviel sie konnte. Daraufmachte sie ausLappeu
eine Puppe, welche sie das älteste Weib der Stadt oder des
Dorfes nannte uud zersägte sie (segare la vecchia)x). Ju
Rußland dagegen tragen die Kleinrussen zur Zeit des Früh-
liugsempsanges eine weibliche Puppe (Mara) durch die
Gassen uud Felder und verbrennen sie auf einer Anhöhe,
während gesungen und die Vesna gerufen wird; in manchen
Gegenden des Reiches tragen die Bauern am Abend des
letzten Faschingstages Strohbünde ins Freie, thürmen sie auf
und verbrennen unter Gesang und Geschrei den Fasching,
oder errichten einen Scheiterhaufen, um darauf den Eisberg,
auf welchem fie sich im Winter unterhalten hatten, zu ver-
brennen 2).
Die Vorstellung des Winters und Sommers als feindlicher
Wesen führte aber auch dazu, dieselben im Kampfe um die
Herrschaft darzustellen. Um der Frende über das Wieder-
erwachen det*Natur Ausdruck zu geben, wurde dieser Kampf,
in welchem der Winter unterlag, mimisch dargestellt. Ein
förmlicher Kampf findet noch statt ttt Deutschland in den
Rheingegenden, ferner in Schwaben, Bayern, der Schweiz
und überhaupt in den Alpenländern. Zwei Bursche, der
eine als Winter in Stroh oder in Moos eingemummt, der
andere, der Sommer, mit Ephen oder frischem Grün beklei-
det, beide von zahlreichem Gefolge umgeben, treten auf uud
ringen mit einander, bis der Winter zu Bodeu geworfen
wird. Daun wird demselben die Hülle abgerissen, zerstreut
und ein Kranz oder grüner Zweig herumgetragen. Das
Gefolge singt Lieder dazu, Preist den Sieger und verhöhnt
den Besiegtem
Ja, ja, ja, der Sommertag ist da!
Er kratzt dem Winter die Augen aus
Und jagt den Bauern zur Stube hinaus.
So und ähnlich lauten die Gesänge, welche die Feier
begleiten.
Ob dieser Brauch bei den Slaven je in weiterm Um-
fange bestanden, wissen wir nicht zu sageu, jedenfalls stimmt
er aber mit dem Todaustreiben ganz gut. Etwas Aehuliches
findet sich jedoch in einigen Guberuien Rußlands. Am
Samstag in der Butterwoche (Fasching) errichtet man ans
dem Eisfelde eines Flusses oder sonst wo eine Schneeburg.
Die Anwesenden bewaffnen sich mit Stöcken, Besen und
Schneeballen und theilen sich in zwei Parteien. Die eine
vertheidigt die Burg, die andere greift sie an. Nach langem
Kampfe siegen die Angreifer und zerstören die Burg des
Winters, deren Kommandant vormals sogar in einem der
Eislöcher gebadet wurde3).
J) Linhardt, Versuch einer Geschichte von Krain. Nürn-
berg 1796. 2, 274. Anton, Versuch über die Slaven, 2, 66.
Usener, a. a. £>., S. 193.
2) Afanasjev III, 697.
3) Ibidem III, 697.
Sp. Gopöevie: Skizzen aus Oberalbamen.
329
Skizzen aus
Von Spir
T i r
Es giebt keinen größern Contrast, als zwischen Du-
razzo und Tirana, der unstreitig schönsten Stadt Ober-
albaniens. Allerdings sind die Straßen von Tirana auch
schmutzig, indeß rieseln durch dieselben zwei schmale Bäche,
welche den Unrath wegschwemmen, und dieser Uebelstand
wird durch die herrliche Lage der Stadt hinreichend auf-
gewogen.
Man hat, sehr mit Unrecht, Albanien mit der Schweiz
verglichen; in Tirana könnte man sich indeß doch in ein
Alpenthal versetzt glauben. Die weitausgedehnte Ebene
ist rings von hohen Bergen eingeschlossen, die allerdings mit
den Schweizer Riesen keinen Vergleich aushalten und denen
auch die Gletscher fehlen, welche aber durch ihre prächtige
Farbenstimmung, wie durch ihre romantische Gruppiruug das
trunkene Auge zu fesseln wissen. Ein Beherrscher Albaniens
sollte seine Residenz in keiner andern Stadt aufschlagen.
Die prächtigsten Höhen bilden die östliche und uörd-
liche Einfassung der Mulde, in deren Mitte die Stadt ge-
baut ist. Gerade im Osten erhebt sich der (nach der öfter-
reichischen Karte) 1207 m hohe Briskes, dessen Kamm
gegen Nordwesten zum 1546 m hohen Dajti (Malj Dal-
tit) ansteigt, der seinerseits durch ein tief einschneidendes
Thal vom Brarit oder PjeZit (1412 m) getrennt ist.
Diese drei Berge fallen sanft gegen die Stadt ab und feuden
zahlreiche Bäche in das Thal hinab. Im Sonnenschein
nehmen sie sich prächtig aus. Der Kamm ist größtenteils
kahl und von rothem Gestein; der mittlere Abhang prangt
im herrlichsten grünen Waldschmuck und der Fuß ist mit
wogenden gelben Feldern und braunen Aeckern bedeckt.
Zahlreiche Dörfer gucken allenthalben hervor und liefern
den Beweis, daß der große Kessel von Tirana dicht be-
völkert ist.
Im Süden wird dieser Kessel durch die halbmondförmige
Grabe kette gebildet, deren höchste Spitze (725 m) gerade
im Süden der Stadt liegt. Diese Abhänge sind bei Wei-
tem weniger anmuthig und auch nicht so fruchtbar und be-
völkert als die östlichen. Uebrigens ist ein großer Theil
derselben durch ein Vorgebirge verdeckt, das sich unmittelbar
im Süden der Stadt isolirt erhebt und ebenfalls durch seine
Farbenstimmung zu den Reizen der Umgebung beiträgt.
Im Westen wird der Kessel durch den Barges (487 in)
abgeschlossen, der auf der Tirana-Seite theils Wiesen und
Viehweiden, theils Steinwüsten enthält und in seiner Zer-
rissenheit einen hübschen Anblick bietet. Im Norden wird
die Aussicht auf Kruja durch mehrere vorliegende Fels-
partim verdeckt, deren theilweife grüner Ueberzug von rothem
Gestein matt absticht. Die Mulde selbst besteht weit und
breit aus saftigen Wiesen, wohlgepflegten Gärten und gut
bestellten Feldern.
Wenn man von Durazzo oder Kruja herankommt, kann
man sich von der bedeutenden Ausdehnung der Stadt keinen
Anmerkung: S u. s spr. sch; z spr. als weiches s; Dz
spr. Dfch.
Globus XXXVIII. Nr. 21.
beralbanien.
Gopöevie.
n a.
Begriff machen. Man sieht vorerst nur eine kleine Zahl
Häuser, über deren Dächer mehrere Minarets in bunter
Malerei emporragen. Aber sobald man die Stadt betreten,
bekommt man eine Idee von ihrem Umfange. Ich irrte oft
stundenlang durch die Gassen ohne das Ende zu finden.
Freilich passirte mir in 8kodra dasselbe, und ohne die
Uebersicht, welche ich vom Rosafa aus über diese Stadt gehabt,
hätte ich deren Bevölkerung auch irriger Weise doppelt so
hoch angeschlagen, als sie in Wirklichkeit ist. Hätte ich über
Tirana einen solchen Ueberblick gehabt, wäre es mir viel-
leicht auch kleiner vorgekommen; allein ein solcher Punkt
fehlte und ich muß mich mit der Mittheilung begnügen,
daß die Bevölkerung der Stadt die Zahl von 22 000 See-
len nicht übersteige. Darunter sollen sich 40 katholische
Familien mit 250 bis 300 und 200 griechische mit 1300
bis 1500 Köpfen befinden, außerdem einige Hundert Zi-
geuuer, fo daß sich die mohammedanische Bevölkerung auf
20 000 Seelen beliefe.
Die Straßen von Tirana sind außerordentlich belebt
und der bedeutende Bazar kann sich fast mit jenem von
gkodra messen. Auffallend war mir, daß so viele Moham-
medanerinnen auf den Straßen hockten und verschiedene
Waareu feilboten. Die Bäche in den Gassen machen aller-
dings einen sonderbaren Eindruck, und ihr schwarzes Was-
ser trägt auch nicht zur Verschönerung bei, aber da die
Straßen im Allgemeinen breiter und mit netten Häusern
eingefaßt sind, erhöhen sie nur das Originelle der ganzen
Stadt. Zu diesem tragen auch die vielen buntbemalten Mo-
scheen bei, welche nicht so geschmacklos bekleckst sind, wie jene von
Lkodra, auch reiner gehalten werden. Inmitten der Stadt
gewahrte ich viele Gärten, welche natürlich auch dazu beitra-
gen, diese umfangreicher zu machen. Das Hans des Kai-
makams ist mit einer Mauer umgeben und enthält einen
geräumigen Audienzfaal.
Die Bevölkerung schien mir nicht fanatisch zu sein.
Die Frauen tragen sich wie in Südalbanien, ebenso die
mohammedanischen Männer, d. h. die Fustauella ist all-
gemein. Die Katholiken tragen nicht die Kaufmanns-
tracht von Kkodra und Les, sondern ein türkisches
Kostüm, wie es auch in Kleinasien getragen wird: rothe
Aermeljacke, beinahe von maurischem Schnitte, Gürtel,
D^amadan, weite bis an die Knie reichende blaue oder
schwarze Pumphosen und Strümpfe. Viele Griechinnen sah
ich in derselben Tracht, welche ich im Innern von Griechen-
land gefunden: rothe, runde Aermeljacke, rothes Mützchen
mit langer Goldquaste und gesticktes, seitwärts etwas ge-
schlitztes Kleid. Ich glaube mich auch zu erinnern, daß die
Christinnen von Tirana ebenfalls den Schleier (Jafchmack)
trugen.
Seit 1856 besteht in Tirana eine kleine katholische Kirche,
auf Kosten des Kaisers von Oesterreich erbaut, der überhaupt
dort sehr in Ansehen steht. Neben der Kirche befindet sich
42
330 Prof. Dr. Th. Fischer: Palmenkultur und Brun
das Pfarrhaus, welches die Schule enthält und von zwei
Weltpriestern bewohnt ist. Ich verdanke diesen meine Be-
Herbergung und alle erhaltenen Auskünfte. Der Pfarrer Don
Brignaj war ein sehr gebildeter Mann, gleich seinem
Cooperator von derPropoganda in Ron: erzogen, aber
Albanese von Geburt. Seine reichhaltige Bibliothek enthielt
manche sehr interessante Werke. Der Cooperator leitete
die Schule, in welcher ich etwa zwanzig oder mehr Schüler
fand, die in italienischer Sprache Unterricht erhielten.
Die ganze Bevölkerung machte auf mich den vortheil-
haftesten Eindruck. Welch ein Unterschied zwischen ihr und
dem ekelhaften Lumpenpack von Lkodra! Zur Steuer
der Wahrheit muß ich allerdings erwähnen, daß es auch in
Tirana sehr „ländlich sittlich" zu sein scheint, da ich außer
den Zigeunern auch türkische „Heilige" splitternackt in den
Straßen promeuireu sah.
In der Geschichte hat Tirana keine so bedeutende Rolle
gespielt als andere oberalbanesische Städte. Nach Hahn
soll die Stadt erst um 1600 gegründet worden fein*), und
er erzählt ihren Ursprung folgendermaßen:
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts lebte in Albanien
ein unbemittelter Bey, Namens Sulejman, dessen ganze
Dienerschaft aus einem jungen Manne bestand. Diesem
träumte einst, daß sich der Mond auf seine Schultern senkte
und sein glänzendes Licht weithin strahlte. Sulejman Bey, dem
er diesen Traum erzählte, rieth ihm, sich in der Welt sein
Glück zu sucheu, da ihm eiue große Zukunft bevorstände.
So geschah es auch.
Nach vielen Jahren erhielt Sulejman Bey vom Groß-
i) Historisch erwiesen existirte jedoch schon zu Zeiten Skan-
derbeg's eine Stadt Tirana, welche von Barletius als
„major" bezeichnet wird und sonnt auch ein „minor" voraus-
setzen läßt.
nbohrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara.
vesir den Befehl, nach Konstantinopel zu kommen. Dort
angelangt staunte er nicht wenig, als er in dem Sadr-Afam
seinen ehemaligen Diener erkannte, der also wirklich sein
Glück gemacht. Da es ihm vom Großvesir freigestellt
wurde, sich eiue Gnade zu erbitten, verlangte und erhielt
Sulejman Bey das Sandschak Ochrida. Auf seinen
Jagden kam er auch einmal nach Tirana, damals ein Dorf
von 15 Häuser«. Die Gegend gefiel ihm so ausnehmend,
daß er eine Moschee und einen Bazar dastlbst- baute und
nach seinem Tode dort begraben zu werden wünschte, was
auch geschah.
Sein letzter Nachkomme, Hadschi Etem Bey, wurde
von dem mächtigen Bey von Kruja vertrieben und irrte
Jahre lang als Bettelderwisch durch Anatolien. Ende der
zwanziger Jahre kehrte er nach Albanien zurück und wurde
von Mustafa Pascha in feinen alten Besitz von Tirana
eingesetzt. Da er dem Pascha treu blieb, wurde er vou Me-
he med Neschid Pascha nach Gefangennahme Mustafa Pa-
schas (1832) abgesetzt uud flüchtete sich nach Elbassan.
Doch versöhnte er sich später mit seinem Feinde und gab
ihm seine Tochter zur Frau. Von ihr stammen die rei-
chen Beys von Tirana ab, deren einer (Achmed Bey)
Mndir dieser Stadt war.
Aus der Zeit der Fehde zwischen Tirana und Kruja
erzählt man sich, daß heimlich viele Krujauer auf den Tira-
naer Bazar kamen. Um sie zu erkennen, zeigte man ihnen
einen Holzbalken und fragte sie, was das sei. Antworteten
sie nun „trani", wurden sie sofort niedergestochen, weil die
Tiranaer „trau" sagen.
Ueber Tirana geht folgendes Sprichwort: „Wer 40
Oke Tiranaer Wasser trinkt, wird ein Knabenliebhaber,
wer 40 Oke Scutariuer Wasser trinkt, ein schlechter Kerl"
(oder Raufbold).
Palmenkultur und Brunnenbohrungen der Franzosen in
der Algerischen Sahara.
Von Prof. Dr. Th. Fischer.
Es ist eine unleugbare Thatsache, daß die Kolonisation
Algeriens Seitens der Franzosen sehr langsam fortgeschritten
ist uud daß dabei unglaubliche Fehler begangen worden find,
allerdings zum Theil durch Hineinziehen der Kolonie in die
politischen Beweguugeu des Mutterlandes. Bis heute ist
es eigentlich nicht gelungen, die große Masse der Franzosen
für Algerien zu erwärmen, noch weniger eine irgendwie ins
Gewicht fallende Auswanderung dorthin ins Leben zu rufen.
Der Franzose wandert eben nicht aus, am wenigsten der
Landmann. Nach fünfzigjähriger Herrschaft der Franzosen
in Algerien sind dort erst wenig über 300 000 Europäer
angesiedelt, von denen genau die Hälfte keine Franzosen
sind, trotz aller denkbaren Vergünstigungen, welche ihnen
von der Regierung geboten wurden. Erst seit allerneue-
ster Zeit, seit 1866, namentlich aber seit dem letzten großen
Aufstande von 1871, ist man energischer an die Kolonisa-
tion und friedliche Eroberung des Landes gegangen und sind
mit derselben gewaltige, die Zukunft sichernde Fortschritte
gemacht worden, erst jetzt kann man mit Sicherheit voraus-
sagen, daß Algerien einmal eine Machtverstärkung Frank-
reichs sein wird. Kulturarbeiten jeder Art, welche allüberall
dringend uöthig waren, sind seitdem in größerm Maßstabe
vorgenommen worden, es sind Häfen gebaut worden, Eisen-
bahnen und Straßen, es sind Flüsse regnlirt und Sümpfe
ausgetrocknet worden. Vor allen Dingen aber sind in den
verschiedensten Gegenden des Landes, das sich in drei natür-
tief)e nach Boden, Klima und Produkten scharf unterschiedene
Abtheilungen gliedert, die mediterrane Abdachung, das Tell
der Araber, das Hochland uud die Algerische Sahara groß-
artige Arbeiten zur Bewässerung weiter Landstriche ausge-
führt worden, sei es Bewässerung das ganze Jahr hindurch,
sei es in der regenlosen Hälfte des Jahres. Selbst in dem
an Niederschlägen noch ziemlich reichen Tell ist künstliche
Bewässerung hier und da sogar für Getreidebau uöthig, auf
dem Hochlande, das den Charakter der Steppe trügt, ist die
Wasserarmnth noch größer und ist künstliche Bewässerung
nur an wenigen Punkten möglich, es wird immer im Wesent-
lichen nur Halsagras produeiren oder als Viehweide dienen.
Die Algerische Sahara dagegen bringt nur im Winter und
bis in den Frühling hinein, wo es am südlichen Abfall des
Hochlands noch etwas regnet, dürftige Vegetation hervor,
intensivere Ausnutzung des Bodens ist dort völlig an natür-
Prof. Dr. Th. Fischer: Palmenkultur und Brunner
liche oder künstliche Brunnen und damit mögliche Bewässe-
rung gebunden. Dort hangt alles davon ab, ob die Brun-
nen unterhalten werden, Ausdehnung der bebauten Fläche
und damit Zunahme der Bevölkerung und wachsender Wohl-
stand derselben ist nur möglich durch Vermehrung des ver-
fügbaren Wasservorraths. Dort kann man sich die Herzen
der Eingeborenen erobern durch Erschließung neuer Wasser-
vorräthe, dort schreitet in der That die Eroberung wirksamer
vorwärts, wenn sie mit dem Brunnenbohrer unternommen
wird, als mit dem Schwert in der Hand. Man baut nun
wohl auch in diesen bewässerbaren Strichen des Wüsten-
gebiets, den Oasen, Getreide und Gemüse, man zieht auch
südliche Fruchtbäume, Orangen, Feigen, Aprikosen und der-
gleichen, aber all dies nur in geringer Ausdehnung und zum
Theil nur unter dem Schutze, welchen das säuselnde Dach
der Kronen edler Dattelpalmen gegen die sengenden Strah-
len der Sonne gewährt. Die Dattelpalme ist das wichtigste
Erzeuguiß der Oasen, von ihr allein hängt die Existenz der
Oasenbewohner ab, neben ihr fällt selbst der Ertrag der
Viehzucht der wandernden Stämme wenig ins Gewicht.
Das Vorhandensein unterirdischer Wasservorräthe und deren
Erschließung ist daher identisch mit der Kultur der Dattel-
palme und deren Ausdehnung. Von oberirdisch fließenden
Gewässern ist in der Algerischen Sahara kaum die Rede,
nur nach heftigen Regengüssen im Winter und Frühling
füllen sich die Wasserbetten vorübergehend, und selbst die zahl-
reichen größeren und kleineren Salzwasserpfannen, die
Schotts, vertrocknen im Sommer fast völlig. In der Tiese
ist aber an sehr vielen Punkten das ganze Jahr Wasser zum
Theil in ungeheuren Mengen vorhanden, auch außerhalb
der meist trocknen Flußbetten.
Diese unterirdischen Wasservorräthe sind natürlich atmo-
spärischen Ursprungs, es sind die Wassermengen, welche in
den vorhergehende» Wintern und Frühlingen zum geringem
Theil an dem Orte selbst, zum größern an der saharischen
Abdachung des Atlassystems oder auch auf dem uoch von
keinem Europäer betretenen Hochlande von Ahaggar und
seiner Umgebung mitten in der Sahara gefallen sind. Diese
Regenwasser werden von dem lockern Sandboden rasch aus-
gesogen oder fließen dort, wo nackter Felsboden ansteht, rasch
ab und sammeln sich in den Wasserbetten, wo sie bald in
die Tiefe hinabsinken und, von den darüber gelagerten Sand-
Massen gegen Verdunstung geschützt, unterirdisch auf einer
undurchlässigen (meist thonigen) Bodenschicht der Neigung
derselben folgend weiter fließen. Je tiefer nun diese Boden-
schicht liegt, die zu durchstoßen und damit dem Wasser einen
Abfluß in noch größere Tiefen zu öffnen man sich wohl
hüten muß, in um so größerer Tiefe ist Wasser zu finden,
je näher sie der Oberfläche liegt, in um so geringerer. In
vielen Gegenden kann man die fanfte Neigung derselben ge-
nau nach den Tiefen berechnen, in welchen man Wasser findet.
Nicht selten treten die unterirdischen Wasser ganz zu Tage
als natürliche Brunnen oder kleine Seen, namentlich in den
Betten der Wadis, wenn festes Gestein gangförmig dieselben
quer durchsetzt und dadurch das Wasser aufstaut und empor-
zusteigen zwingt. Wie weit auf diese Weise die unterirdi-
scheu Ströme fließen und wie rasch, wo sie sich in unter-
oder oberirdischen Becken sammeln, das hängt von dem
Relief des Landes ab. Während z. B. im Departement
Oran entsprechend der sanften Abdachung des Hochlandes
gegen die Sahara hin die Grundwasser sich weit vom Ge-
birge entfernen, ohne daß sich ein größeres unterirdisches
Stromsystem bilden kann, in Folge wovon dort sich nur
wenige kleine Oasen unmittelbar am Gebirge finden, fam-
meln sich die weiter östlich fallenden Meteorwasser in der
tiefen Einsenkuug, welche sich wie ein Graben vor dem
ihrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara. 331
Festungswalle des Atlas-Hochlands nach Osten bis nahe an
die innerste Einbuchtung der kleinen Syrte zieht. Und zu
ihnen kommen noch weit von Süden her die jedenfalls ge-
ringen Reste der Niederschlagsmengen der Hochländer der
innern Sahara, welche in dem breiten Wadi Jgharghar und
dem Wadi Mia bis nahe an den Wall des Atlas mehr als
100 Meilen weit fließen. So ist denn jener Graben, in
welchem sich von zwei Seiten die Gewässer sammeln, von
einer Reihe salziger Wasserbecken ausgefüllt, die auch im
Sommer nicht ganz verdunsten. Es sind dies die großen
Schotts, deren Boden, zum Theil auch ihr Spiegel, unter
dem Meeresniveau liegt, eine Thatsache, welche das bekannte
Projekt wachgerufen hat durch einen Kanal bei Gabes das
Wasser des Mittelmeeres in diese Depression zu lenken und
ein inner-algerisches Meer zu schaffen. Ist nun auch kaum
zu erwarten, daß dieses Projekt, dessen Nutzen Unbefangene
selbst unter den Franzosen schwer einsehen wollen, jemals
ausgeführt werden wird, so hat dasselbe doch zu einer sorg-
fältigen Erforschung jener so lange unbekannt gebliebenen
Gegenden geführt, was die geographische Wissenschaft mit
ebenso großem Danke aufnimmt, wie die eben jetzt von den
Franzosen mit so großem Eiser betriebenen für lange Zeit
kaum weniger aussichtsvollen Forschungen in der Sahara
behufs Anlegung einer Eisenbahn von Algerien nach dem
Senegal, dem Niger, dem Tsad-See und womöglich noch
einige Stationen weiter. Wir finden daher in der nähern
wie in der ferner» Umgebung dieser Schotts überall große
unterirdische Wasservorräthe und in Folge dessen zahlreiche
Palmen-Oasen und Oasen-Gruppen. Im Kleinen wieder-
holt sich das auch auf dem Hochlande, wenigstens dem Theile,
welcher' die geringste Meereshöhe hat, dem Hodna-Becken.
Die wichtigsten dieser Oasengruppen sind die der Ziban,
des Wad Rirh, des Wad Sus und weiter ab die der Beni
Mzab (auf tunesischem Gebiet die des Belad-el-Dscherid,
des Dattellandes im engern Sinne, und die von Nefzaua).
Ju größerer oder geringerer Entfernung von einander, durch
vegetationslose oder vegetationsarme, aus Sand oder festem
Gestein bestehende Strecken von einander getrennt, liegen die
grünen Dattel-Oasen in der gelblichen Wüste, den Flecken auf
dem Fell eines Panthers gleich, um uns eines treffenden
Ausdrucks Strabon's zu bedienen. Namentlich lebhaft em-
pfängt man diesen Eindruck, wenn man vom Hochlande durch
einen der wenigen schwierigen Pässe, etwa die Schlucht von
Alkantara, herabsteigt und nun die große Palmen-Oase von
Alkantara, weiterhin die von Biskra und andere der Oasen
der Ziban als dunkele Flecken auf dem hellen Grunde der
lichtübergofsenen Wüste vor uns liegen. Der unvermittelte
Kontrast zwischen der nackten Wüste und dem Palmenwalde,
auf dessen Grunde Weizen, Gerste, Baumwolle oder Luzerne
einen grünen Teppich bildet, ist ein wunderbarer; die Sonnen-
strahlen, welche das grüngelbe Fiederdach durchdringen und
den niederen Gewächsen noch hinreichend Licht und Wärme
bringen, verleihen dem Palmenhaine den Charakter des War-
men, des Sonnigen; an seinem Saume lagert sich der er-
müdete sonnenverbrannte Wüstenreisende, aber nur das ge-
heimnißvolle Rauschen der beständig auch vom leisesten
Luftzuge bewegten langen Fiederblätter erinnert ihn an fei-
nen heimischen Tannenwald, die erquickende Kühle sehlt in
der Algerischen Sahara wenigstens immer, wenn auch nicht
in den dichteren, überreich bewässerten Oasen des arabischen
Oman. Anch nicht wie eine Mauer tritt der Palmenhain dem
Nahenden entgegen, die schlanken Stämme stehen weit aus-
einander, tief dringt das Auge in ihn ein, erst im Hinter-
gründe bildet sich eine geschlossene Wand. In der algeri-
schen Sahara sind die Oasen meist von Erdwällen, zum
Theil des Schutzes, zum Theil der Bewässerung wegen, um-
42*
332 Prof. Dr. Th. Fischer: Palmenkultur und Brun?
schlössen, so daß die Vertheidignng einer solchen Oase sehr
erleichtert wird, selbst gegen überlegene europäische Waffen,
wie dies die Franzosen z. B. 1849 bei der Eroberung der
Ziban-Oase Saatscha erfahren haben.
Eigenthümlich, von allen anderen Oasen abweichend ist
die Palmenkultur im Wad Snf. Dort werden die Palmen
auf dem Grunde eiues einem umgekehrten Kegel ähnlichen
etwa 8 m tiefen Loches gepflanzt, rings von SanddUueu
umgeben, welche man durch Pallisadeu aus Palmblättern
auf ihrem Kamme fest macht. Diese Vertiefungen, deren
Anlage und Verteidigung gegen den sie beständig mit Sand
überschüttenden Wind viel Mühe kostet, werden Ritan ge-
nannt. Sie reichen bis nahe an die Wasser führende Boden-
fchicht, in welche die Palmen gepflanzt werden. Senkt sich
das Grundwasser, so daß die Wurzeln dasselbe nicht mehr
erreichen und die Palme zu verkümmern beginnt, so wird
dieselbe mit Stricken an die nächsten derartig festgebunden,
daß sie nicht umfallen kann, die Bodenschicht unter den Wur-
zeln wird entfernt und der Baum somit in eine tiefere
Schicht gebracht, wo er das Grundwasser wieder erreicht.
In diesen Trichtern nimmt die zugleich mit Kameelmist ge-
düngte Dattelpalme eine ganz abweichende Gestalt an, sie
ist nicht schlank wie anderwärts, sondern hat einen kurzen,
starken, oft meterdicken Stamm, der am untern Ende noch
mehr verdickt nur wenige Meter hoch wird, ähnlich den mas-
figeu Säulen ägyptischer Tempel, und eine mächtige Krone
mit 5 m langen Blättern hat. Gegen Wind geschützt und
durch Rückstrahlung von den geneigten Sandwänden um so
intersiverer Hitze ausgesetzt, reifen hier die herrlichsten Dat-
teln, fleischig, ölig und außerordentlich zuckerhaltig. Zugleich
wird in diesen Trichtern unter künstlicher Bewässerung aus
6 in tiefen Brunnen Gemüse gebaut, das einzige Erzeuguiß
dieser Oasen neben den Datteln, die also hier Alles sind.
Diese Art der Palmenkultur dürfte aber außer im Kleinen
in der tunesischen Oase El Getar nirgends wiederkehren,
da sie aus den örtlichen Verhältnissen hervorgegangen ist
und wahrscheinlich diese Form angenommen hat dadurch,
daß die Dünen gegen die ursprünglich auf der Oberfläche
gepflanzten Palmen vorrückten und dieselben, wie man es
ja auch anderwärts in vernachlässigten Oasen beobachten
kann, zu verschütten drohten. Dies verhinderten die Be-
wohner, indem sie rings um den Stamm den Sand ent-
fernten, woraus sich dann dies Trichtersystem entwickelt hat.
In den Ziban-Oasen ist jeder der regelmäßig gepflanz-
ten und frei von Wurzelschößlingen wie von trockenen Blät-
tern gehaltenen Bäume von einem rnnden kleinen Becken
umgeben, das mit dem nächsten durch einen Kanal in Ver-
biudung steht, so daß sämmtliche Palmen bewässert werden
können. Das Wasser wird seltener durch Menschenhände,
meist durch Kameele oder Esel vermittelst meist sehr primi-
tiver Schöpfwerke aus den oft sehr tiefen Brunnen in Sam-
melbafsins gehoben, aus welchen es dann in die einzelnen
Kanäle vertheilt wird. Gewöhnlich werden die Palmen das
ganze Jahr bewässert, am meisten aber im Frühling vor der
Blüthe und im Sommer vor dem Reifen der Früchte; man
hat auch beobachtet, daß die am häufigsten bewässerten am
frühesten blühen. Aus 100 Kubikmeter berechnet man den
Wasserbedarf einer Palme im Sommer. Ob das Wasser
aber süß oder brackig ist, ist nicht von Bedeutung, ja es
scheint fast, daß der Baum, wenn er mit Brackwasser be-
wässert wird, bessere Früchte liefert. Die herrlichen Palmen
des Wad Rirh werden mit einem Wasser bewässert, das bei
einer Mittlern Temperatur von 24» C., etwas mehr als die
mittlere Jahrestemperatur der Luft, auf 1 Liter 1 bis 3
Gramm schwefelsaures Natron, 1 bis 2 Gramm schwefel-
nbohrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara. -
sauren Kalk, ferner etwas Chlornatrium, Chlormagnesium
und kohlensauren Kalk enthält, also nothwendig als Trink-
Wasser abführend wirken muß. Jedenfalls sind die auf be-
sonders fettem Boden auf mit schlammigem Nilwasser be-
wässerten Bäumen gewachsenen Datteln Aegyptens weniger
gut, als die der Oasen, obwohl die Bäume selbst sehr viel
schöner sind. Selbst Bewässerung mit warmem Brackwasser
wie in der Ziban-Oase Chetma schadet nicht. Wie das
Wasferbedürfniß, so ist auch das Wärmebedürfniß der Dattel-
Palme sehr groß, wenigstens in der Zeit zwischen der Blüthe
und Reife der Frucht. Mau hat berechnet, daß eine Wärme-
summe von 5100° C. nöthig ist in den acht Monaten von
Ende März bis Anfang November, damit sie ihre Früchte
vollkommen reife, und nur Temperaturen über 18» C. kom-
men dem Baume zu statten. Bei geringerer Wärme er-
reichen die Früchte geringere Fülle, sind herber und haben
geringem Gehalt an Stärkemehl und Zucker, ihr Nährwerth
ist also ein geringerer. Wichtig ist dabei, daß die Luft
einen hohen Grad von Trockenheit hat, wie er der Wüsten-
luft eigen ist, es ist daher erwünscht, wenn es während dieser
acht Monate nicht regnet. Allerdings geräth der Weizen
besser, wenn es im April und Oktober regnet, aber man
zieht es vor, daß es nicht regnet, weil die Datteln dann um
so besser gedeihen, und man gegen Datteln Getreide aus
dem Tell beziehen kann. Denn während eine gute Dattel-
ernte alle Bedürfnisse der Oasenbewohner für das ganze
Jahr zu decken vermag, vermag das auch die beste Getreide-
ernte nicht für fechs Monate. Namentlich sind Regen im
September sehr unerwünscht, weil sie die Datteln faulen
machen. Man hat sogar beobachtet, daß einzelne Thäler
der saharischen Abdachung des Hochlandes in sehr viel be-
trächtlicherer Meereshöhe vortreffliche Datteln hervorbringen,
wenn sie sich nach Süden öffnen und den trockenen, heißen
Wüstenwinden direkten Zugang gewähren, als andere tiefer
gelegene, aber gegen die Wüste abgeschlossene. Die Dattel-
knltur im Hodnabecken bei Bu Saada ist eben darauf zurück
zu führen, daß dort die Gebirgskette, welche von der Sahara
scheidet, sich bedeutend senkt, so daß die Wüste ihren Ein-
flnß geltend machen kann. Dieser Mangel an genügender
Lufttrockenheit ist es, welcher am algerischen Mittelmeerufer
wohl die Dattelpalme gedeihen, aber keine süßen völlig reifen
Früchte hervorbringen läßt, nicht die Winterkälte, denn die
Palme erträgt ohne Schaden mehrere Grad unter Null,
wenn diese Kälte nicht anhält und in die Blüthezeit fällt.
Nicht felten hat man in den algerischen Oasen die Kronen
der Palmen unter einer Last von Schnee zu Boden gebeugt
gesehen, was am Mittelmeerufer nie oder höchst felten vor-
kommen könnte. Aus demselben Grunde gedeiht die Dattel-
Palme jenfeit der Sahara nicht mehr, denn auch dort ist
namentlich zur Zeit der Fruchtreife mitten in der tropischen
Regenzeit die Luft sehr feucht und die Datteln faulen oder
werden nicht reif und schmackhaft. Mit Recht sagt daher
der Araber in seiner blumenreichen Sprache, dieser König
der Oasen taucht seine Füße in Wasser, sein Haupt in das
Feuer des Himmels. In Folge der beständigen Bewässe-
rnng im heißen Sommer ist aber der Aufenthalt in den
meisten Oasen im Sommer gefährlich, die Bewohner wer-
den dann gewöhnlich vom Fieber befallen.
Da die algerischen Palmen-Oasen an der Polargrenze
der Dattelpalme als Fruchtbaum liegen, die den 35. Grad
nördlicher Breite nicht überschreitet, so liegen sie alle in ge-
ringer Meereshöhe, 60 bis 150 in, höher, 300 bis 500 in,
die der Beni Mzab. Nur einzelne kleinere Oasen liegen
im besondern Schutz der Berge in sehr viel größeren Meeres-
höhen, die von El Abiod sogar in 361m Höhe, und bei
Sidi Makhluf findet noch Dattelpalmenkultur bei 920 in
Prof. Dr. Th. Fischer: Palmenkultur und Brunner
statt, Höhen, in denen sie sonst nur viel weiter südlich im
innern Arabien und in Beludschistan möglich ist.
Weniger wichtig ist die Bodenbeschasfenheit. Die
Dattelpalme gedeiht in den Ziban-Oasen auf kalkigem und
gypsigem Thon- und Sandboden gleich gut und trägt gleich
gute Früchte, mag derselbe mit Salz imprcignirt sein oder
nicht. Doch zieht dieselbe einen lockern, neu gebildeten sandi-
gen Boden vor, ja man hat Dattelpalmen vortrefflich gedeihen
sehen auf einem Boden, der bis 30 Proc. aus Kieselsand,
13 Proc. aus schwefelsaurem, 7 Proc. aus kohlensaurem
Kalk bestand. Die Fortpflanzung geschieht fast überall
durch junge Schößlinge, die sich am untern Stammende der
Palmen anzusetzen pflegen, da man aus diese Weise am sicher-
sten die Varietät fortzupflanzen und am frühesten Früchte
zu erzielen vermag. Schon nach fünf Jahren pflegen diese
Bäume Früchte zu geben, in bedeutenderer Menge freilich
erst in 10 bis 15 Jahren, und zu vollem Ertrage gelan-
gen sie erst nach circa 30 Jahren; im Allgemeinen tritt erst
nach 8 Jahren Besteuerung ein. Die Fortpflanzung durch
Kerne giebt meist weniger gute Varietäten und später trag-
fähige Bäume, sie setzt auch der Gefahr aus, daß man jähre-
lang männliche Palmen in größerer Zahl pflegt, als zur künst-
lichen Befruchtung der weiblichen nöthig ist. Der Baum wächst
langsam, erreicht aber eine Höhe von 15 bis 25 m; er trägt
60 bis 70 Jahre, selten aber läßt man ihn älter werden
als 80 Jahre, obwohl er 200 Jahre alt werden kann. Die
künstliche Befruchtung wird zur Zeit der Blüthe im April
seit den ältesten Zeiten in gleicher Weise vorgenommen wie
noch heute, indem man Theile der sich früher entwickelnden
männlichen Blüthe in die künstlich geöffnete Blumenscheide
der weiblichen Blüthentraube hineinsteckt, so daß die Be-
staubung eintritt. Ueberläßt man die Befruchtung der
Natur, der Bewegung der Luft, so ist dieselbe unvollkom-
mener und die Datteln werden weniger gut, wie sich dies
namentlich bei Cairo während der Bonaparte'fchen Expedi-
tion ausfallend zeigte, wo in Folge des Krieges die Befrnch-
tung nicht hatte ausgeführt werden können und in Folge
dessen auch die Dattelernte fast völlig mißrieth. Wie bei
allen Kulturbäumen, so unterscheidet man auch bei deu Pal-
men nach den Früchten zahlreiche Varietäten, in den Ziban-
Oasen nicht weniger als 75. Die Dattelernte findet in
der Algerischen Sahara gewöhnlich im Oktober und No-
vember statt und ein vollentwickelter Baum giebt bis 150
Kilo Datteln. Auf einen Hektar Land, der ungefähr 100
Dattelpalmen enthält, rechnet man im Mittel 5000 bis
7000 Kilo Datteln, welche an Ort und Stelle einen Werth
von 1500 Francs uud mehr haben. Einzelne Bäume
haben einen Ertrag von 30, 40, auch 50 Francs. Wie
fast überall, so werden auch in Algerien die einzelnen
Bäume besteuert, je nach Lage und Güte der Früchte mit
50 Centimes bis 1 Franc jährlich. Die algerischen Dat-
teln werden meist im Lande selbst aufgezehrt, nur ein klei-
ner Theil, namentlich von altersher die des Wad Suf, geht
über Tunesien und als tunesische Waare nach Europa, von
denen die sogenannten Königsdatteln vorzugsweise nach Ber-
lin ausgeführt werden. Im Frühjahr uud im Herbst rufen
die Datteln einen lebhaften Binnenhandel hervor, indem
im Juni, zur Zeit der Weizenernte im Tell, Karawanen
aus den Sahara-Oasen Datteln bringen und gegen das
doppelte Quantum Weizen umtauschen, während umge-
kehrt sechs Monate später im November in den Oasen
Datteln den halben Werth des Weizens haben. Sorgfältig
getrocknete Datteln kann man lange aufbewahren, nament-
lich die höheren Varietäten, unter denen in den Ziban-
Oasen die Licht-Dattel (Deglet Nur) die gesuchteste ist,
während die sogenannte Kameeltreiber-Dattel (Deglet bu
)hrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara. 333
Sekhraja) besonders als Proviant für Wüstenreisen dient.
Die weichen Datteln kann man nur in Schläuchen uud
Gefäßen aufbewahren, wo man sie preßt und möglichst vor
Luftzutritt schützt, um Schimmel und Gährung zu verhiu-
dern.
Ein großer Theil der Dattelernte wird frisch gegessen;
ausgepreßt geben sie einen Sirup und aus den getrockneten
kann man eine Art Mehl und daraus einen Teig bereiten,
in der verschiedensten Weise kann man sie zu allen Speisen
verwenden. Beim Trocknen fließt Dattelhonig ab und de-
stillirt geben sie einen freilich sehr thenren Alkohol. Die
Krone und die zarten Herzblätter geben den sogenannten
kastanienähnlich schmeckenden Palmenkohl, den man natür-
lich nur von ohnedies absterbenden, etwa umgestürzten
Bäumen gewinnt.
Alle Theile der Dattelpalme werden von dem Oasen-
bewohuer, der sonst kein Holz und keiue Faser weiter zur Ver-
fügung hat, benutzt. Das faserige Holz ist sehr Widerstands-
fähig, ja einzelne Varietäten nehmen Politur an. Das Holz
brennt langsam mit geringer Flamme, aber großer Wärme-
entwickelnng. Die Fiederblätter und Fasern werden in ver-
schiedenster Weise benutzt. Die Kerne dienen sogar noch als
Kameelsutter. Namentlich wird auch aus dem zuckerigen
Safte des Baumes, der bald in Gährung übergeht, eine
Art Wein gewonnen. In den Oasen des Wad Rirh hat
man ein eigenthümliches Verfahren, aus der Krone große
Mengen Wein zu gewinnen, ohne daß der Banm daran
zu Grunde geht. Der Baum genügt fomit fast allen Be-
dürfnissen des Wüstenbewohners, nur eiu wenig Brod
und noch weniger Fleisch vervollständigt seine Nahrung, die
überwiegend aus Datteln, aber doch nur ausnahmsweise
monatelang nur aus Datteln besteht. Und da die Dattelpalme
nicht allein gedeiht, wo keine andere Pflanze fortkommt, in
reinem Sande und von brackigem Wasser bewässert, sondern
auch erst den Anbau anderer möglich macht, so ist an ihre
Pflege das größte Interesse des Oasenbewohners geknüpft.
Die Zahl der Dattelpalmen vermehren heißt daher die
Bewohnbarkeit der Wüste steigern. Ersteres käAn aber nur
durch Eröffnung neuer Brunnen geschehen. In den Oasen
der Ziban war dies an vielen Punkten keine schwierige
Aufgabe. Dort giebt es artesische Brunnen, welche nur
1 Va bis 2 m tief sind. Sie durchbohren eine Schicht gyp-
sigen Gesteins und eine nur wenige Centimeter mächtige
Kalksteinschicht, unter welcher sich Wasser in einer Schicht
thonigen Sandes findet. In der Oase von Aiu-ben-chelil
in der Provinz Oran findet sich Wasser ganz nahe der
Oberfläche unter einer ganz dünnen Kalksteinschicht. Sehr
viel tiefer liegt die Wasser führende Schicht im Wad Rirh,
im Mittel 60 bis 80 m tief, ebenfalls bedeckt von einer
dünnen Kalksteinschicht. Dort haben seit den ältesten Zeiten
die Eingeborenen artesische Brunnen gegraben, freilich unter-
unsäglicher Mühe und Gefahr, da es ihnen durchaus an
Hülfsmitteln fehlte. Dort war es aber auch, wo zuerst
die Idee an die Franzosen herantrat, mit den Hülssmitteln
europäischer Technik einzugreifen. Nach dem Verfahren
der Eingeborenen wurden die Brunnen in ihrem obern
Theil mit Palmstämmen ausgelegt, sobald aber die Wasser-
führende Schicht erreicht war, konnte die Arbeit nur noch
durch Taucher, wozu man Neger verwendete, fortgesetzt wer-
den, die nur sehr geringe Sandmengen bei dem jedesma-
ligen Tauchen zu entfernen vermochten, so daß die Arbeit
sehr langsam vorrückte, oft Verschüttungen vorkamen und
Wiederherstellung verfallener Brunnen fast unmöglich war.
Vor der französischen Okkupation waren sehr viele Brunnen
versandet und die Oase sehr zurückgegangen, hier konnte
also großer Segen gestiftet werden. Interessant ist beson-
334 ' Aus allen
ders die Entdeckung, daß in den Brunnen des Wad Rirh,
sowohl iu den unterirdischen wie den oberirdischen Wasser-
behälteru ein kleiner den Barschen ähnlicher Fisch, Glyphi-
sodon Zillii, in großer Menge lebt, der oft bei Bohrung
der Brunnen von dem nach Durchbohrung der Kalkschicht
aufsprudelnden Wasser mit an die Oberfläche gerissen wird,
aber auch in einigen kleinen Seen, welche mit den unter-
irdischen Wasserbecken in Verbindung stehen, z. B. dem
sogenannten Meer von Urlana, bei der gleichnamigen Oase
und in Merdschaja bei Tnggurt vorkommt.
Die ersten Bohrungen begannen im Wad Rirh im
Jahre 1856, namentlich auf Betreiben des General Des-
vaux. Der Eindruck, welchen die im Vergleich zu ihrem
Verfahren so leicht erbohrten gewaltigen Wassermassen auf
die Eingeborenen machten, war ein tiefer. Bei nicht
wenigen Brunnen war der Druck der Wassermassen so
groß, daß sie überströmten, sobald die Kalkschicht durchbohrt
war, einzelne wallten sogar fontainenartig auf. Das.Was-
fer ist meist trinkbar, zuweilen aber stark brackig, zur Be-
Wässerung der Dattelpalme aber stets geeignet. Zuweilen
erreichte man schon bei 29 m Tiefe Wasser, einmal jedoch
auch erst bei 214 m, im Mittel jedoch bei 50 bis 150 in.
Ein Brunnen gab als Minimum nur 3 Liter in der Mi-
nute, ein anderer jedoch 4800 Liter. Nach dem Bericht
des hochverdienten leitenden Ingenieur Jus waren von 1856
bis 1879 im Departement Constantine allein 447 Bohrun-
gen vorgenommen worden, davon sehr viele auf Kosten der
Bewohner, von einer Tiefe von im Ganzen 20 km, welche
153 758 Liter Wasser in der Minute lieferten, also ein Qnan-
tum, das dem Bedarf von etwa einer Million Bewohner genix-
gen würde. Dazu kommen noch zahlreiche Bohrungen in den
anderen Departements. Am erfolgreichsten sind die Boh-
rungen im Wad Rirh, so daß diese Oaseugruppe seit dem
Jahre 1856 sich ganz außerordentlich gehoben hat und als
ein Beispiel gelten kann, welch hoher Entwickelung selbst
das Wilstengebiet Algeriens noch fähig ist. Dieselbe zählte
1856 in 31 Oasen 25 von 6772 Menschen bewohnte
Orte, 359 300 Palmen und 40 000 andere Fruchtbäume
bewässert von 282 artesischen Brunnen und 21 natürlichen
Quellen, welche zusammen 52 767 Liter Wasser in der
Minute gabeu. Es kam so 0,146 Liter aus jede Dattel-
palme iu der Minute. Man schätzte den Werth der Bäume
Erdtheilen.
und der Brunnen auf 1 654000 Francs. Im Jahre 1879
war die Zahl der Oasen auf 37, die der bewohnten Orte
auf 26, die der Bewohner auf 12 827, die der Dattelpal-
men auf 517 563 und der übrigen Fruchtbäume auf 90 000
gestiegen. Bewässert werden diese Anlagen von 434 von
den Eingeborenen, 59 von den Franzosen angelegten arte-
sischen Brunnen und 16 natürlichen Quellen, welche 164 078
Liter in der Minnte geben, so daß auf eine Dattelpalme
jetzt 0,317 Liter in der Minute kommt. Die 59 artesischen
Brunnen der Franzosen geben aber allein 99 830 Liter.
Der Werth der Dattelpalmen wird jetzt ans 4 127 018, der
der ganzen Oase auf 5 505 018 Francs geschätzt. Vollen
Ertrag geben 430 500 Dattelpalmen, was, wenn man jeden
Baum nur zu 15 Kilo rechnet, 6 457 500 Kilo giebt, in
vier Jahren, wenn die jungen Pflanzungen rragen werden,
werden es 7 700 000 Kilo sein. Dazu kommt noch die
ebenfalls bedeutend fortgeschrittene Getreidekultur.
Wir sehen also, daß sich in 23 Jahren, allerdings mit
unter dem Einfluß der friedlicheren Verhältnisse, wesentlich
aber durch Vermehrung und Sicherung der vorhandenen
Wasservorräthe, die Einwohnerzahl der Oasengruppe, wel-
che der Verarmung und Verödung verfallen schien, ver-
doppelt, der Werth der Palmenpflanzungen, obwohl die Zahl
der tragfähigen Bäume sich nur um 60 000 vermehrt hat,
sowie der Brunnen mehr als verdreifacht hat. Der Wohl-
stand der Bewohner ist demnach bedeutend gestiegen. Wir
sehen aber zugleich auch, wie viel ergiebiger die von den Fran-
zosen gebohrten Brunnen sind.
Die Gesammtzahl der ertragsfähigen Dattelpalmen im
östlichen Theil der Algerischen Sahara schätzt man auf
1700 000, ihren Ertrag auf 400 000 Centner Datteln im
Jahr. Dazu kommen noch die im westlichen Theil, welche
sich noch einer genauen Schätzung entziehen, sowie die jun-
gen Pflanzungen. Trotz der bedeutenden Entwickelung,
welche die Palmenkultur in dieser kurzen Zeit allein im
Wad Rirh genommen hat, ist dieselbe selbst dort noch lange
nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt, denn allein die Boh-
rungen der Campagne 1878 bis 1879 haben Wasservor-
räthe für weitere 30 000 zu pflanzende Palmen geliefert.
Aehnlich, wenn auch weniger rasch, entwickeln sich die übri-
gen Oasen, und die Vollendung der Verkehrswege wird
ihren Datteln bessern Absatz und höhern Werth verleihen.
Aus allen
Europa.
— Ende Oktober hat sich auf Veranlassung des Herrn
I. I. Kettler im Großherzogthum Baden eine Geographische
Gesellschaft gebildet, welche als ihren Zweck „Förderung
geographischer Forschungen und Verbreitung geographischer
Resultate im Allgemeinen, und besonders in Bezug auf
badische Landeskunde" bezeichnet.
— Der ehemalige Lauf der Mulde. Die That-
sache, daß norddeutsche Flüsse in verhältnißmäßig neuen
Zeiträumen beträchtliche Verlegungen ihres Flußbettes vorge-
nommeu und namentlich ihren Unterlauf ganz verändert
haben, ist bereits von G irard in Halle hervorgehoben wor-
den. Jedoch gebührt dem besten Kenner des norddeutschen
Flachbaues, G. Bereudt, das Verdienst, gezeigt zu haben,
daß Weichsel, Oder und Elbe früher ein einheitliches Fluß-
system bildeten, das „ostwestliche Urstromsystem" Norddeutsch-
crdtheilen.
lands, welches die vereinten Gewässer dieses ganzen Gebie-
tes in Form eines mächtigen Stromes, dessen Lauf der
heutigen Unterelbe entsprach, der Nordsee zuführte (Ztschrft.
d. deutschen Geolog. Ges. 1879, 13).
Damit nun, daß die Richtung jenes norddeutschen
Stromsystems eine mehr westliche war, stimmt die Lage des
jetzt von der königlich sächsischen Landesnntersnchnng nachge-
wiesenen alten Muldenlaufes überein. Wie Prof. H. Cred-
ner kürzlich in der naturforschenden Gesellschaft zu Leipzig
mittheilte, haben die verschiedenen Bohrungen und Unter-
snchuugen über den geologischen Untergrund Leipzigs ergeben,
daß das Diluvium daselbst nicht zu der Gruppe der nordi-
schen Diluvialkiese zu rechnen ist, welche durch Aufarbeitung
und Separation des Geschiebelehms von Seiten der Schmelz-
Wasser des skandinavischen Eises erzeugt wurden, sondern aus
einheimischen und zwar von Süden und Osten stammen-
den Materialien zusammengesetzt sind. Granulit, Quarz-
Aus allen Erdth eilen.
335
Porphyr, Porphyrit, Porphyrtuffe, Phylitquarze u. s. w.
lassen sich an verschiedenen Stellen in den sandigen Diluvial-
kiesen Leipzigs nachweisen. Prof. Credner schließt nun:
„Die Heimath dieser sämmtlichen einheimischen Geschiebe ist
das sächsische Mittelgebirge (Grannlitgebirge) und dessen
Nachbarschaft, also das Flußgebiet der Mulde. Die oben
aus der Umgebung Leipzigs beschriebenen schotterigen Kiese
verriethen sich deshalb bereits durch ihre petrographische Zu-
sammensetzung als Anschwemmnngs- und Absatzprodukte,
kurz als Schotter der Mulde, welche somit einst ihren
Lauf über Leipzig genommen haben mnß. Durch die im
Auftrage der geologischen Landesanstalt von den Herren
Dr. Penck und Sauer zwischen dem jetzigen Mnldenthale
und Leipzig vorgenommenen geologischen Speeialnntersuchuu-
gen ist nun coustatirt worden, daß früher die Gewässer
der Mulde (ganz oder theilweise?) von Grimma aus, statt
wie heute nach Norden, vielmehr in fast westlicher Richtung
über Naunhof und Beucha nach Leipzig flössen. Hier ver-
einigten sich dieselben mit denen der damaligen Pleiße, die
ihre Schotter hoch über ihrem jetzigen Niveau zur Ablage-
rung brachte. Die trotz' ihrer Breite von mehreren Kilo-
metern fast vollkommen horizontale Niederung zwischen Groß-
Steinberg und Pomsen, Ammelshain und Fuchshain und
nördlich von Beucha repräsentirt das alte Flußbett der
Mulde, welche sich von hier aus auf einem noch nicht im
Detail verfolgten Wege nach Leipzig wendete. Bis zu einer
Tiefe von mehr als 15 Metern besteht diese weite zum Theil
sumpfige Niederung aus deu charakteristischen Porphyr- und
granulitreichen Schottern der damaligen Mulde. Die Parthe,
welche heute diese Aue durchfließt, hat sich weder diese Thal-
Niederung eingeschnitten noch dieselbe mit jenen massenhaften
Schotterablagerungen ausgepflastert, sie hat das bereits
fertige Thal vorgefunden, hat es benutzt, ist ihm gefolgt und
hat sich ihr im Verhältuiß zur Breite der Aue verschwindend
schmales Bett erodirt."
— Die statistische Monatsschrift der k. k. statistischen
Centralkommission zu Wien (VI, Heft 1, S. 40) enthält fol-
gende Angaben über die Nationalitäten in der Do-
b r n d s ch a.
Bezirk Bezirk
Tnltscha Küstendsche Summa
Rumänen..... 22 000 8 977 30 977
Bulgaren ..... 21861 6 854 28715
Russen ...... 16 420 — 16 420
Griechen...... 2 865 300 3 165
Deutsche...... 2 471 — 2 471
Tataren ...... 2 945 3 595 6 540
Osmanen..... 6 049 10 444 16 493
Inden....... 1000 51 1051
Armenier ..... 788 15 803
Sonstige...... 303 308
~~ Summa 76 707 30 236 1U6 943
— Den „Times" wird Ende Oktober aus Odessa ge-
schrieben: Mehr als einmal berichtete in der letzten Zeit die
ausläudische Presse, daß Rußland anfange, Getreide zu
importiren.' Jetzt fängt es aber, wie es scheint, an auch
Wolle, bisher eines seiner Hauptausfuhrprodukte, einzu-
führen; denn hier ist das Schiff „Alba" von Port Eliza-
beth in der Kap-Kolonie mit 915 Ballen jenes Artikels für
einen Moskauer Kaufmann eingetroffen. Die Wolle geht
per Bahn über Charkow, wo sie gewaschen wird, an ihren
Bestimmungsort. Derselbe Kaufherr erwartet binnen Kur-
zem weitere 1500 Ballen vom Kaplande. Es ist erwähnens-
Werth, daß dies nicht nur der erste derartige Import, nach
Südrußland wenigstens, ist, sondern daß auch zum ersten
Male ein Schiff ans Südafrika nach Odessa befrachtet wor-
den ist.
— Wie die „Rnßk. Wjed." mitthellen, waren am 3.
(15.) September einige Mitglieder der wissenschaftlichen Ex-
pedition, welche das Murmanische Küstengebiet erforscht
hat, in Archangelsk. Von ihnen ist der Professor Bogda-
now die Murmauische Küste entlang bis Vadsö in Nor-
wegen gelangt, der Geologe Kndrjawtzew war von Kan-
dalaschka bis Kola gegangen; die Uebrigen hatten die Flora
und Fauna des Oeeans und des Küstenstriches zwischen dem
Weißen Meere und der Insel Kildin (unweit östlich der Bucht
von Kola) untersucht. Bogdauow uud seine Gefährten haben
sich nicht aus bloß naturwissenschaftliche Untersuchungen be-
schränkt, sondern auch die ökonomische Lage der Bevölkerung
der Küstenstriche studirt und Bogdanow wandte besondere
Aufmerksamkeit der Frage zu über den Einfluß des Wal-
fischsauges auf die Entwickelnng der Fischerei-Gewerbe.
— Ueber die Wiederbewaldungsarbeiten in Ruß-
l and von 1874 bis 1880 meldet der „Reg.-Anz.": In den
Gouvernements Woronefh, Jekaterinodar, Kursk, Poltawa,
Rjazan, Saratow, Tambow, Tula und Cherfon seit 1874,
in Bessarabien, Kiew, Podolien, Penza uud Charkow seit
1875 sind bis jetzt 10669 Deßjatinen (— 1,09 ha) Landes
neu mit Wald besetzt und 3632 Deßjatinen zur Aufforstung
vorbereitet. Verausgabt sind dafür 387 147 Rubel, also im
Mittel auf die Deßjatiue 35,30 Rubel.
Afrika.
— Im Mailänder „Esploratore" veröffentlicht Kapitän
Camp er io feine „Gita nella Tripolitana", welche eine
Menge Aufschlüsse über den Handel zwischen Tripolis und
dem Sudan enthält. Besonders interessant ist das Jtine-
rar einer Karawane, die, von einem der ersten Kanflente
von Tripoli, Mnhammed Zammit, ausgerüstet, aus der von
Rohlss vorgeschlagenen Route von Bengazi nach Wadai ge-
langte. 58 Tage erforderte der Marsch, aber mit Aufent-
halten, die stellenweise verschiedene Monate dauerten, wurde
auf Hin- und Herreise beinahe ein Jahr verwendet. Zwan-
zig Tage wurden bis Knfra, dem äußersten von Rohlss er-
reichten Punkte, gebraucht; nach 18tägigem Wüstenmarsche
erreichte man ein Negerdorf in Aaganga (wohl Nachtigal's
Wadjanga), wo Datteln uud Vegetabilieu reichlich, Holz
aber knapp war. Hier eröffnete sich eine gastlichere Gegend,
wenn auch bis Aradha ohne Dörfer. Aradha, 16 Tagemär-
fche südlich von Aaganga, 3 nördlich von Wara gelegen, be-
steht aus Hütten und zählt 35 000 Einwohner, von denen
die Männer nackt gehen und nur die Frauen ein Band
um die Hüften tragen; Rinder und Schafe sind in Menge
vorhanden, Baumwolle wächst wild und im Winter fällt
reichlicher Regen; auf dem alle 14 Tage abgehaltenen Skla-
venmarkte werden Männer mit 20, Weiber mit 50 bis 150
Thalern bezahlt; Straußfedern wurden der Rotolo (= i/2 kg)
zn 15 Thalern verkauft. Auch in Wara, mit einer Neger-
bevölkernng von 10 000 Einwohnern, blüht der Sklavenhan-
del. Abeschr, die jetzige Hauptstadt von Wadai, ist bedeuten-
der als alle bisher genannten Orte; es zählt außer vielen
großen Gebäuden allein 40 Moscheen; der Centner Elfen-
bein wurde hier mit 140 Thalern verkauft.
Der Führer dieser Karawane, Hadsch Mohammed, war
im Jahre 1878 in Bornu gewesen und traf dort Nachtigal's
piemontesischeu Diener, Ginseppe Valpredo, mitten in seinem
Harem und einer zahlreichen Nachkommenschaft; er genießt
noch das Vertrauen des Sultans und hat das Amt, dessen
Uhren und europäische Feuerwaffen in Ordnung zu halten.
Im Verlaufe seines höchst interessanten Berichtes sagt Cam-
perio: „Tripoli mit Bengazi ist das am schlechtesten ver-
waltete Wilajet des türkischen Reiches; aber in nicht allzu
langer Zeit wird der Tag kommen, wo so viel Niedertracht
zur Ehre der Civilisation aufhören muß."
— Die Lage Aegyptens wird in einer Korrefpon-
denz der „Times" (Cairo, 18. Oktober) als eine augenblick-
lich befriedigende geschildert. In die Finanzen ist durch
den vereinte« Einfluß von Frankreich und England Ord-
336 ' Aus allen
nung gebracht worden, und zwei gute Ernten hinter einan-
der haben die finanzielle Umkehr wesentlich erleichtert. Zu
bedenken ist dabei nur, daß von der Einigkeit jener beiden
Mächte die Verbesserung der Finanzen und der Regieruugs-
weise überhaupt abhängt, uud daß eiu schlechter Nil-Stand
auch eine schlechte Ernte im Gefolge hat. In diesem Jahre
erreichte der Strom nicht dieselbe Höhe, wie im vorigen, sie
kann aber immer noch nicht schlecht genannt werden. Oben-
drein will man sich in Aegypten immer noch nicht zum
Düngen der Felder verstehen, weil sich dasselbe nicht ren-
tiren soll; allein die Baumwolle erschöpft das Land zu sehr,
und die reichen Erträge einzelner gedüngter Felder, die
Mißernten auf uugedüugten beweisen, wie nothwendig die
Düngung dort ist. Auch sonst ist Mancherlei besser gewor-
den.- das Heer ist verringert worden, und die Fellahen wer-
den nicht mehr zu Tausenden nutzlos ausgehoben. Zwar
werden sie noch zu gewissen öffentlichen Arbeiten angehalten,
aber sie brauchen doch nicht mehr Bewässerungsgräben für
reiche Paschas herzustellen; sie sind zwar noch immer schwer
besteuert, aber der Grundzins wird gerecht und ordnnngs-
mäßig erhoben, die Bauern können allen Ansprüchen genü-
gen und behalten noch übrig. Auch die Kaufleute machen
Geschäfte, wenn sie auch nicht mehr Produkte und selbst
Ländereien von den unterdrückten Fellahen unter dem wah-
ren Werthe kaufen können. Nur die Bankiers leiden, weil
das Volk kein Geld braucht, und der Zinsfuß von 2 Proe.
monatlich auf 6 bis 7 Proe. jährlich herabgegangen ist.
In Aegypten ist eine Volkszählung angeordnet und
eine Kommission ernannt worden um die Ausführung der-
selben einzuleiten. Rohe Schätzungen sind wiederholt vor-
genommen worden, aber eine genaue Statistik existirt nicht.
In einem Berichte des Finanzministers aus dem Jahre
1863 wurde die Bevölkerung auf 5 200 000 angegeben, und
soll seitdem auf 5 500 000 angewachsen sein. Unter Moham-
med Ali belief sie sich nur auf 2^ Millionen, wenn nicht
darunter. Unter den Pharaonen soll sie über 7 Millio-
nen betragen haben, und Lane in „Modern Egyptians" be-
hauptet, daß das Land, wenn gut bewässert, selbst 8 Millio-
neu ernähren könnte. Jedenfalls steht so viel fest, daß es
bei besserer Bewirthschastung und wissenschaftlicher Bewäs-
ferung bedeutend mehr Menschen als jetzt zu fassen im
Stande ist. _
Arktisches Gebiet.
— Der New-Aork-Herald vom 24. Sept. u. ff. veröffent-
licht längere Berichte über die am 19. Juni 1873 im
„Gothen" unter dem Marinelieutenant Schwatka und
dem Walfänger B arry als Steuermann von New-Iork aus
nach King-Williams-Land abgesandte Expedition. Die Be-
richte rühren von einem Berichterstatter jenes Weltblattes
her, welcher die Reise mitmachte. Zweck der Expedition
war die Auffindung und Sammlung solcher Dokumente, wie
Franklin und seine Leute sie auf ihrer unglücklichen Polar-
reise im „Erebns" und „Terror" etwa hinterlassen hatten
uud die sich nach den an Barry durch Eskimos gemachten
Angaben dort noch vorfinden sollten. Schwatka sollte durch
die Hudsonsstraße und den Foxkanal zur Repulsebai segeln
und von dort aus seine Nachforschungen beginnen. Seine
Vorräthe auf der Depot-Jusel lassend, unternahm er im
Frühjahr 1879 eine Schlittenfahrt nach King-Williams-Land,
von welcher er erst nach 11 Monaten und 4 Tagen zu sei-
nem Standquartier zurückkehrte. Der Zweck der Reise ist
in der Hauptsache verfehlt. Von den Büchern und Anfzeich-
nungen, welche die Eingeborenen in einer verschlossenen
Blechkiste fanden, ist nichts mehr vorhanden. Die für diese
Leute vollkommen werthlosen Gegenstände sind längst von
Erdtheilen.
Wind und Wetter zerstört worden. Auch die Uhren, Ketten,
Ringe und sonstige Habe, welche an den Todten gefunden
wurde, sind unwiederbringlich verloren. Eine von Schwatka
ausgesetzte bedeutende Belohnung spornte zwar die Eskimos
zu eifrigem Nachsuchen an, ergab aber keine Resultate. Auch
von den Uhren, Ketten und Ringen, welche die Eskimo mit
den Leichen vorfanden, war nichts mehr da. Diese für die
Eingeborenen gänzlich werthlosen Gegenstände wurden den
Kindern derselben eingehändigt und sind nun längst ver-
schwnnden. Nur eine 70jährige Frau fand sich vor, welche
die Leute Franklins lebend gesehen hatte, wie sie im äußer-
sten Elend ihr Boot über das zerbröckelnde Eis der Simpson-
straße schleppten. Dann trafen andere das Boot in einer
Bucht der Adelaide-Halbinsel mit einigen wenigen todten
Insassen, rings um das Boot herum Schädel, im Boote sel-
ber einen Kasten mit menschlichen Gebeinen, die zersägt und
zerschnitten waren und deutliche Spuren an sich trugen, daß
quälender Hunger die Unglücklichen zum Kannibalismus ge-
trieben hatte. Hier fand man auch im Boote jene Kiste mit
dem nun leider verlorenen werthvollen Inhalt. Das Ske-
lett eines Mannes entdeckte man 9 km weiter landeinwärts.
Menscbliche Gebeine aber fanden sich weithin an der nn-
wirthlichen Küste verstreut, vermutlich von wilden Thieren
umhergeschleppt. Auch Gräber, kenntlich durch Steinhaufen,
welche die Ueberlebenden über ihnen errichteten, wurden hier
und dort aufgefunden, alle aber mit Ausnahme eines ein-
zigen ihres Inhaltes beraubt, und auch dieses eine enthielt
nur einen Schädel und wenige Knochen nebst einer silbernen
Medaille. Und an dieser vermochte man diese Reste als die
des Lieutenants John Irving zu erkennen. Man hat die
verstreuten Gebeine gesammelt und bestattet, die des Liente-
nants Irving aber nahm man hinweg, um sie an anderer
Stelle zu begraben. Außerdem sind Theile des Bootes, der
Schlitten, auf welchem man dasselbe über das Eis zog, und
das zugehörige Tau als Reliquien nach New-Aork gebracht
worden.
Die Mitglieder der Expedition sind sämmtlich wohlbe-
halten auf dem ihnen nachgesandten Schiffe „George and
Mary" zurückgekehrt. Es war reichlich für sie gesorgt wor-
den. Auf ihrer Schlittenreise litten sie aber zuweilen großen
Mangel an Lebensmitteln. Eine Zeitlang war Renthier-
fleisch und Talg ihre Hauptnahrung, später mußten die Ra-
tiouen auf ein Viertelpfund Walroß- oder Seehundsfleisch
beschränkt werden, noch später hatte man nur das dicke be-
haarte Fell des Walroß, das „Kau", zu verschlingen. Ein
paar Tage fehlte selbst diese Nahrung nnd da das Wetter
weder Jagen noch Reisen erlaubte, so brachten die Reisenden
den größten Theil dieser Zeit in ihren Decken zu, um sich
warm zu erhalten. Die Eskimos waren durchaus freund-
lich und, wo sie Lebensmittel besaßen, überaus gastfrei, nur
einer ihrer Medieinmänner versuchte einmal seine Stammes-
ungehörigen gegen die Weißen aufzureizen, deren Messer und
Büchsen man sich gern bemächtigt hätte. Glücklicherweise
für beide Theile blieben seine Anschläge ohne Gehör; ebenso
leicht wurde man mit den zuweilen ziemlich lästigen Wölfen
fertig. Unter der Kälte und Rauheit des Wetters hatten
die Eskimos selber sehr zu leiden, weil es ihnen die Jagd
erschwerte, so daß sie den empfindlichsten Mangel litten.
Am 3. Januar 1880, am kältesten Tage, zeigte das Thermo-
meter — 39,5° Celsius; während dieses Tages stieg es nicht
über — 38,5^. An 27 Tagen war die durchschnittliche Tem-
peratnr — 33,3« E. Allerdings sind diese Temperaturgrade
bei Weitem nicht so niedrig als die von Rae (— 45,6 C.)
und Keine (— 56,5° C.) beobachteten oder die von Rares
unter 82v flßrdl. Br. im Jahre 1876 gemessenen, nämlich
' — 58,8^ E. im März 1876. E. Jung.
Inhalt: Panama und Darieu. IV. (Mit sechs Abbildungen.) — Fr. Hnbad: Die Frühlingsfeier der Sla-
ven. II. — Spiridion Gopöeviö: Skizzen aus Oberalbanien. II. Tirana. — Prof. Dr. Th. Fischer: Palmenkultur
und Brunnenbohrungen der Franzosen in der Algerischen Sahara. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Afrika. — Ark-
tisches Gebiet. — (Schluß der Redaction 7. November 1880.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu zwei Beilagen: 1. Literarischer Anzeiger. — 3. Prospekt des Bankhauses Valentin u. Comp, in Hamburg.
%
Band XXXVIII
lit besonderer Herückslrktigung äer AntKroVologie unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
m r r . • Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 £ n
-OXClUn | u)lDctQ ZUM Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
Panama u n d D a r i e n.
Nach dem Französischen des Schiffslieutenants A. Reclus.
Y.
Die Häuser von La Palma liegen in einer Schlucht
des Bergzuges Cerro de la Puntita, welcher den Tuyra
zwingt, einen großen Bogen nach Norden zu beschreiben, um
sich in den Golf San Miguel zu ergießen. Da die Thal-
senkung nicht groß genug ist, alle Häuser des Dorfes zu
fassen, und die Küste steil abfällt, so hat man eine Anzahl
Hütten auf Pfählen im Wasser errichtet, welche bei Fluth
nur mittels Booten Verbindung mit dem Lande haben.
Einige senores haben indessen einen Erddamm oder eine
Laufbrücke in gleicher Höhe mit dem Fußboden ihrer Woh-
nungen hergestellt.
Am Landeplatze wurde Reclus von Sr. Gregorio Santa-
Maria, dessen Bekanntschaft er in Pinogana gemacht hatte,
empfangen, in dessen Hanse einquartiert und zum Speisen
zu einem andern Einwohner La Palma's, dem Sr. Frede-
rico de los Rios, geführt. Derselbe empfing ihn mit jener
vollendeten spanischen Höflichkeit, welche allen Südamerika-
nern, gleichviel von welcher Race und Hautfarbe, eigen ist;
sein stark gebräuntes Gesicht war das eines schönen, intelli-
genten, leidenschaftlichen Europäers. Gregorio Santa-Ma-
ria war etwa 40 Jahre älter und vollständig afrikanischen
Ursprungs, höchstwahrscheinlich von einem Fulah- (Fellata-)
Stamme. Sem ovales Gesicht hatte scharf markirte, fehr
regelmäßige Züge; man konnte sich kein ehrenwertheres, an-
genehmeres Antlitz vorstellen, als dieses ganz schwarze mit
den schneeweißen Haupthaaren und Backenbärten. Das
Essen war für Danen reichlich und gewählt; interessant war
besonders die Menge von Stoffen, welche das Brot ersetzen
Globus xxxvni. Nr. 22.
mußten: gekochter und auf Feuer scharf gebackener Reis, grüne
in der Asche gekochte Bananen, süße Pataten, Uamswurzel und
riesige Maniok von köstlichem Geschmacke. Als Getränk
nur Wasser; zum Nachtisch schlechte Früchte, denen man den
Mangel au darauf verwendeter Kultur und Arbeit anmerkte,
und eine Tasse ungezuckerter Chokolade. Die Köchin, welche
dies ganze Mahl bereitet hatte, war die „querida" des
Sr. Frederico de los Rios, eiu großes schönes Mädchen von
13 Jahren in voller Blüthe, eine Zamba (Mischling von
Neger und Indianer). Ihre reizenden sanften Augeu, der
zutrauliche kindliche Ausdruck ihres Gesichts, ihr prachtvolles
in zwei dicke Zöpse geflochtenes schwarzes Haar entschädig-
ten für die vorspringenden Backen und das breite Gesicht,
die sie von ihren indianischen Borfahren ererbt, für den gro-
ßen Mund, die dicken Lippen und die platte Nase, welche
das afrikanische Blut iu ihren Adern verriethen. Bemer-
kenswerth war die - feine Hand, die vollendete Form der
Schultern und Arme; ihre Haut hatte die warme Farbe des
Indianers bewahrt, die Rußschwärze des Negers indessen
verloren, ein Ton, der dem Auge ausnehmend gefällt. Wie
alle Zambas in dem gleichen Alter nahm fie an Körperfülle
zu, was ihr vortrefflich stand; mit 20 Jahren aber werden
sie schon unangenehm dick und mit 25 sind sie so fett, daß
sie allen Reiz verlieren. Ihre Arme sind dann wie Schin-
ken, von der Brust und Schulternbreite ganz zu schweigen.
In Danen gehört eine regelrechte Ehe fast zu den un-
bekannten Dingen. Darum fiud aber die Sitten keineswegs
schlechter, als anderswo: Eintracht, wechselseitige Treue und
43
338
Panama und Danen.
Kindesliebe sind Tugenden, die man fast überall antrifft,
wenigstens bei der seßhaften Bevölkerung, den „hijos del
pais". Anders steht es freilich mit der slottireuden, welche einst
durch die hohen Kautschukpreise in das Land gezogen worden
ist. Zumeist ist das der Auswurf von Panama und Car-
tagena, dem es an Trunksucht, Faulheit und Sittenlosigkeit
kein anderer znvorthnt. Doch sind die Leute weder brutal
noch stehlen sie. Unter dieser Gesellschaft haben die Bund-
nisse meist nur kurze Dauer; je nach Gelegenheit und Laune
wandert das Weib mit all ihren Kindern aus der Stroh-
Hütte des einen in die des andern, vertauscht den Cartageuer
mit einen Panameno. Solche Launen treten gewöhnlich zu
Tage, wenn eine Expedition beim Kantschuksammeln Glück
gehabt hat, und dabei wird meist derjenige bevorzugt, wel-
cher den größten Ballen jenes Produktes sein eigen nennt.
Man darf diesen Mangel an Ehen, welche durch Gesetz
oder Religion geweiht wurden, nicht dem Fehlen moralischen
Gefühls oder einer instinktiven Abneigung gegen die Fesseln
der Ehe zur Last legen, wenn auch der Neger in der That
Kontrakte nicht liebt und solchen Aufschüben, wie sie bei uns
der Gründung einer Familie vorausgehen, durchaus abhold
ist. Es liegen da andere Gründe vor. Civilrechtlich ist
eine Ehe ohne Werth, weil es kaum ein Eigenthum giebt:
die Immobilien bestehen aus Strohhütten und die Mobilien
sind von der denkbar rohesten und einfachsten Art. Der
Grund und Boden gehört dem, welcher ihn okkupirt; findet
jemand ein StUck Land, das ihm zusagt, so rodet er es,
pflanzt und erntet, ohne daß ein anderer auch nur ein nomi*
nelles Recht auf das Land geltend macht. Bon Mitgift,
Leibgedinge oder Testament ist keine Rede. Was jemand
hinterläßt, fällt naturgemäß an diejenige Frau, mit welcher
er zusammen lebte, und an seine Kinder; an Streitigkeiten
ist bei dem geringen Werthe der Erbschaft nicht zu denken.
Im Nothfalle sind der Alkade oder einige Freunde bereit,
die Sache zu schlichten.
Und was eine kirchliche Ehe anlangt, so hat das Land
seit etwa einem Jahrhunderte keine richtigen Priester gehabt.
Der einzige Kultus, welchen die Einheimischen ausüben, be-
steht darin, daß sie die großen Feste in Orgien verwandeln,
einige Gebete hermurmeln, an gefährlichen Stellen ein Kreuz
schlagen und in ihrer Hütte kleine Abbilder Johannes des
Täufers, des H. Antonius und der Jungfrau Maria haben,
welche sie vor Krankheiten bewahren und ihnen zu verlorenen
Gegenständen wieder verhelfen müssen.
La Palma. (Nach einer Photographie.)
Auf Einladung seiner Wirthe bestieg Reclus mit ihnen
den Hügel über dem Dorfe und freute sich der prächtigen
Aussicht über die Berge, den mächtigen Bogen des Tuyra
und dessen malerische Ufer. Dort oben fand er ein neues
Beispiel von der Lässigkeit der Einheimischen. Auf Wunsch
des Bischofs wurde auf dem Hügel eine Kapelle gebaut;
aber es fehlt an Geld und der Bau fchreitet nicht vorwärts.
Nun steigen von Zeit zu Zeit Leute, die nichts zu thun ha-
ben, hiuaus und legen Hand ans Werk, freilich nur fo lange,
bis sie anfangen zu schwitzen; mitunter erfaßt auch der heilige
Eifer das ganze Dorf: dann ebenen die einen den Boden,
andere fällen Bäume im Walde, Hymnen ertönen, alles ist
in Aufregung — da plötzlich halten die faulsten inne, an-
dere ahmen ihnen nach, bis zuletzt auch die eifrigsten ablassen.
Noch ein, zwei Tage voll Enthusiasmus hätten hingereicht,
das Terrain zu ebenen, Zimmerholz zur Genüge heranzu-
schassen, die Pfosten auszustellen n. s. w. Nun aber bleibt
alles liegen, und beim nächsten Anfalle von Arbeitsdrang
muß die Hälfte des bereits Geleisteten nochmals gethan
werden.
Sobald der Fluthmesser ausgestellt und dessen Beobach-
tung durch Lenoan in Gang gebracht worden war, entschloß
sich Reclus zu einer hydrographischen Untersuchung der bei-
den Mündungsarme des Tuyra, der Boca Chica und Boca
Grande, wobei ihn seine beiden Wirthe und zwei andere
Männer von La Palma, alle der Gegend kundig, begleiteten.
Zuerst besuchte man einen kleinen, in die Boca Chica mün-
denden Bach, der nach Angabe der Herren ein prachtvoller
Platz zum Ankern und Wassereinnehmen für eine ganze
Flotte sein sollte. Diese Farbigen aber vereinen die Groß-
sprecherei des Spaniers mit der Prahlerei des Negers: der
herrliche Hafen mit dem perennirenden Bache war nur eine
sumpfige Uferstrecke mit einer wasserlosen Schlucht. Dann
fuhren sie hinüber zur Insel San Carlos, welche im Berein
mit zahllosen, prachtvoll bewaldeten Felsinseln und Rissen
die beiden Mündungsarme von einander trennt, und weiter
in die Boca Grande. Der Tuyra ist dort ebenso breit, wie
vor La Palma, und die Landschaft vielleicht noch schöner,
aber von einigen fernen Schoonern oder Canoas abgesehen
diente der prachtvolle Wasserspiegel nur Haisischen zum
Tummelplatz. Im Geiste sah ihn Reclus schon mit reich
beladenen Dampfern und Segelschiffen aus aller Herren
Länder bevölkert; er glaubte noch „an die 60 m hohe Wasser-
scheide (auf dem Isthmus), deren Existenz Herr de Lacharme
verkündet hatte."
Nach Abschluß seiner Beobachtungen fuhr Reclus wie-
Panama
bcritm nach Chepigana hinauf und fand dort eine Einladung
Wyse's, möglichst bald in Paya, einem Dorfe an dem gleich-
namigen Zuflüsse des Tuyra (in 79° 40' westl. L. Paris,
70 54' nördl. Br., s. die Karte S. 307), zu ihm zu stoßen.
Er überließ also die Beobachtungen Herrn Balfour und trat
am folgenden Morgen mit der Fluth die Fahrt an. Jen-
seit Pinogana hatte er eine traurige Begegnung. Eine Pi-
roge kam den Fluß herab, in welcher er zu seiner Freude
Die querida
platze von Pinogana, einer einsamen Lichtung im weiten
Urwalde.
Voll Traurigkeit setzte Reclus seine Fahrt fort. Ober- '
halb Pinogana verliert die Gegend ihr einförmiges Aussehen,
die Ufer werden höher, der Wald mannigfaltiger, als weiter
unten; er wird nicht mehr von Lianen erstickt und weist
Lichtungen auf. Dann erreicht man die Biegung Rumpio,
wo die Wirkung der Fluth ihr Ende erreicht. Weiterhin
ändert der Fluß seiueu Charakter vollständig: sein Wasser
b Danen. 339
das Expeditionsmitglied Musso erkannte; als aber beide
Boote sich einander näher gekommen waren, rief ihm jener
zu: „Bixio ift tobt!" Auf einer Hängematte lag seine Leiche
am Boden der Piroge. An den Ufern des Cups hatte der
kräftige, frische Mann einen ganzen Tag lang gejagt, mehr-
fach bis zum Halse im Wasser watend, ohne sich die Mühe
zu geben, die Kleider zu wechseln. Eine Lungenentzündung
hatte ihn getödtet, und nun ruht er auf dem Begräbniß-
ihrer Küche.
wird klar, sein Bett schmaler, stellenweise sogar ganz eng,
und die Vegetation wird eine andere, als sie bisher ans nie-
drigem feuchtem Boden war. Qnippos mit mehr als 100
Fuß hohem Stamme und mächtigem Laubdache treten auf,
rothe Feigen und der unvergleichliche „espave", die schönste
und größte Pflanze des Landes, deren kurzer, dicker, bücke-
lichter, mit Höhlungen versehener Stamm fast unter den
darauf wuchernden Orchideen verschwindet. Lange gerade
Flußstrecken, calles (Straßen) genannt, wechseln mit Strom-
43*
340
Panama und Danen.
schnellen, wo der Fluß eine Biegung macht oder durch Inseln
eingeengt wird. Am Fuße der schäumenden Schnellen haben
sich tiese Becken ausgehöhlt, „charcos" genannt, in denen
die Krokodile mit Vorliebe Hausen. Jetzt, wo die Fluth
nicht mehr half, ging es nur langsam vorwärts, und es war
ein hartes Stück Arbeit, im Wasser zu stehen und die schwere
Piroge über die Stromschnellen hinauf zu ziehen. Zahlreich
zeigten sich jetzt Vögel, blau uud gelbe Aras, unermeßliche
Scharen grün und gelber Papageien, welche sich Abends
und Morgens mit betäubendem Geschrei in die Lust erhoben,
schwarzgelbe urupendulos oder Beutelstaare, deren Schrei
dem Lachen des Polichiuell zum Verwechseln ähnlich ist, und
Tausende von Fliegenvögeln und Kolibris. So bald sich
der Abend naht, hallt der Wald wieder von dem Locken der
Nebhühner, dem Glucken der Truthühner, dem Schwirren
der Millionen von Insekten und den alles übertönenden
langgehaltenen Klagen der Henlassen.
Am Morgen des dritten Tages begegnete Reclus seinem
Chef, dem Lieutenant Wyse, der in einem so kleinen Boote
saß, daß er nur ein paar Zwiebäcke und einige Tafeln Cho-
kolade mit sich führte. Unermüdlich strebte er seinem Ziele
nach, ohne auf Hunger, Durst und Ermüdung irgend welche
Rücksicht zu nehmen. Damals hatte er schon die Wasser-
scheide des Isthmus besucht und den Paß Tihulo zwischen
den Flüssen Paya und Caquirri entdeckt und beabsichtigte
jetzt, den Capeti so weit wie möglich hinauszufahren und zu
Fuß nach Paya zu gelangen, um zu sehen, ob nicht vielleicht
einer der zahlreichen Flüsse, die er auf dieser Wanderung
überschreiten mußte, einen bessern Weg abgäbe als der Rio
Paya.
Immer häufiger und immer schwieriger wurden die
Stromschnellen, immer langsamer die Fahrt. Bei der Mün-
dnng des Rio Pncro hatte sich der Tuyra sogar eine Art
Canon durch den Kalkstein gegraben, der zwar tief, aber nur
etwa 30 m breit war, so daß sich die Aeste der Bäume hü-
ben und drüben berührten und sogenannte „pasos de mo-
nos" oder Affenbrücken bildeten. Die stets feuchten Felsen
sind mit zarten Pflanzen bedeckt; Schmarotzerpflanzen kom-
Begegnung mit Kautschuksammlern.
men hier nicht mehr vor; aber der Wald ist nicht minder
schön, als zuvor. Ab und zn fährt das Boot bei Pracht-
voll grünen Schlangen vorbei, welche, mit der Schwanzspitze
um einen überhangenden Zweig gewickelt, mit Fischen bc-
schästigt sind.
Am Morgen des vierten Tages passirte man eine Strom-
schnelle, welche am Abend zuvor Halt geboteu hatte, und traf
jenfeit derselbe» die Ingenieure Brooks und Bandonin mit
Sondiruugeu beschäftigt an. Später wurde eine Schnelle
erreicht, deren Ueberwindnng unmöglich erschien. Ebeu hatte
Reelns Befehl ertheilt, das Lager für die Nacht auszuschla-
gen, als er eine Anzahl kleiner Kautschukballen im Wasser
herabtreiben sah, denen bald eine Piroge voll caucheros
folgte. Da die Leute drei Tage lang nichts gegessen hatten,
gab ihnen Reclns Reis und sie zeigten ihm dafür die Mündung
des Rio Paya, welche er bei Anbruch der Nacht erreichte.
Am folgenden Tage fuhr er dieseu tiefen, aber schmalen
Strom bis zur gleichuamigen Mission hinauf, welche auf
einer fast kreisförmigen vom Flusse gebildeten Halbinsel steht.
In dem Pneblo Paya wohnen Indianer, deren Hütten
anscheinend regellos zerstreut sich erheben. Dieselben sind
größer uud besser, als diejenigen der Neger in Daricn, und
haben ein oberes Stockwerk, aber an den Giebelseiten reicht
die Wand nicht bis an das Dach. Unten befindet sich die
Vorrathskammer und die Küche, oben die Wohnräume; der
Bambusußbodeu liegt etwa 8 Fuß über der Erde. Am
Dache sind allerlei Zaubermittel sowie Kopse vom Tufau
aufgehäugt; letztere zeigen die Anzahl von Todesfällen an,
welche seit Erbauuug des Hauses in der Familie vorgekom-
men sind. Die Männer tragen jetzt Hosen und Hemde von
amerikanischem Baumwollstoffe und haben von ihrer alten
malerischen Tracht aus bunten Vogelfedern nur einen Kopf-
putz aus Lianenfasern und Urupendulos- und Arassedern sich
bewahrt, den sie obendrein nur zu großen Festtagen und
Saufereien anlegen. Für gewöhnlich begnügen sie sich mit
einer dreifarbigen Binde, liga genannt, welche nebst einem
Kamme das lange schwarzbraune um den Kops gewickelte
Haar festhält. Die Frauen tragen keinen andern Schniuck,
als ein häßliches blaues Hemde, das bis zu den Knien herab-
reicht und mit gelben und rothen Mustern gesäumt ist, dazu
viele Halsketten aus Glasperlen und breite Bänder dersel-
ben Art um Arme und Beine. Die Haare lassen sie lang
Panama und Danen.
341
wachsen und schneiden nur die über der Stirn kurz ab, wie
neuerdings auch die europäischen Damen. Kinder unter
15 Jahren entzücken durch ihre regelmäßige Gestalt uud ihr
mildes, gutes, kluges Gesicht. Traditionen giebt es nicht;
der Stamm ist ein vereinzeltes Iteberbleibsel eines einst mäch-
tigen Volkes, welches durch seine Kämpfe mit Spaniern,
Flibustiern und Negern ans wenige Dorfschaften zusammen-
geschmolzen ist. Diese Indianer gehören zum Cnna-Volke,
wie auch die Stämme am obern Chucunaque und am At-
lantischen Ocean. Auf Befragen nennen sie sich selbst
d. i. Menschen, zum Unterschiede von den anderen
Stämmen in Danen, den Do-Indianern, aber Ti. Beide
Worte bedeuten in den betreffenden Sprachen „Fluß". Die
Ti sind klein und untersetzt und werden frühzeitig dick; die
Do dagegen sind groß und wohlgestaltet und bewahren ihre
schönen Formen bis in ein hohes Alter.
Wahrscheinlich haben sie Polygamie; die häufigsten Ver-
bindnngen finden zwischen Brüdern und Schwestern statt.
Für gewöhnlich sind sie mürrisch und schweigsam; nur
wenn sie trunken sind, kommen sie aus ihrer melancholischen
Stimmung heraus, werden dann aber zänkisch und gransam.
Dabei sind sie faul und unvorsichtig. Ihre einzige Beschäs-
tignug ist Jagd und Fischfang; an Waffen haben sie Flin-
ten und Bogen, sowie Blasrohre für die Kinder. Die Bo-
gen verschwinden zusehends; vergiftete Pfeile kennen sie nicht.
Der Pueblo Paya. (Nach einer Photographie.)
Sic haben Angelhaken, fischen aber meistens mit dem Speere.
Der Feldbau bleibt den Frauen überlassen.
In jedem Jndiauerdorse (rancheria) ist der Kazike die
erste Persönlichkeit; nach ihm kommt der Isis oder Medizin-
mann. Beide Funktionen werden öfters, wie in Paya, von
einer und derselben Persönlichkeit ausgeübt. Dem Lele koinmt
es zu, gelegentlich eines Festes oder einer Jagd die Götter
günstig zu stimmen; er zieht sich dann am Abende vorher
in ein Zimmer ohne Dach auf einer Terrasse, carro genannt,
zurück uud treibt die Nacht über seine Beschwörungen, die
er mit Geschrei und Nachahmung von Thierstimmen unter-
mischt. Je genauer letztere ausfallen, je mehr er singt uud
heult, um so größer ist sein Ruf. Bei großen Jagden dient
der Lele als Lockvogel für Vögel und großes Wild. Sein
Einfluß ist groß und hält dem des Kaziken die Wage; wäh-
rend letzterer im Dorfe selbst die einzige Autorität ist, wird
der Lele bei Palavern höher geachtet.
Gegen die Urtheilssprüche dieser beiden giebt es keine
Berufung; eine Garantie(?) für ihre Unparteilichkeit liegt
darin, daß sie selbst ihr Urtheil ausführen müssen. So
war der Kazike von Paya vor mehreren Jahren, als er noch
Lele war, in diese Nothwendigkeit versetzt worden. Eine
nahe Verwandte von ihm, wenn nicht gar seine Schwester,
hatte angeblich in Folge eines Traumes den Todestag ihres
Mannes vorausgesagt, uud das war eiugetroffeu. Sofort
wurde sie vom Volke als Zauberin bezeichnet und von den
beiden Würdenträgern zum Tode verurtheilt. Allerdings
wurde sie beschuldigt, mit Gift nachgeholfen zu haben, daß
ihre Prophezeiung eintraf. Am nächsten Tage begaben sich
ganz früh der Kazike und der Lele mit der Verurtheilteu in
Die geologische Expedition
den Wald; erstAbends kamen sie zurück, diesmal nur zu Zweien,
die Haare geschoren und den Körper schwarz bemalt, und
zeigten dem Stamme zum Beweise, daß sie ihrer Pflicht ge-
nügt, eine Hand voll Asche.
Der dritte Würdenträger ist der camotura oder Musiker,
der nicht weniger intelligent und gewitzigt sein darf und das
Dorf in Abwesenheit jener beiden regiert. Bei Festen muß
er auf dem camo, einer Rohrflöte von ziemlich unangeneh-
mein Tone, spielen; auf seine einförmigen Weisen folgen
klagende Gesänge, durch welche dem Volke die Rathschläge
des Lele mitgetheilt werden. Der Lieblingstanz der In-
dianer ist der guayacan, wobei Männer und Frauen einen
zum Zerawschan- Gletscher. 343
großen Kreis um deu in der Mitte sitzenden camotura bil-
den. Alle stampfen zweimal hestig auf, machen zwei Schritte
vorwärts, lassen sich los, dann umschlingen sich die einzelnen
Paare und drehen sich schnell nach dem Tempo des Camo.
Der vierte Beamte, der urunia, übt die Krieger und befeh-
ligt sie im Kampse; es ist das möglichst der stärkste Mann
des Stammes.
Ihre Jagden, die mehrere Tage dauern, werden oft ge-
meinsam unter Leitung des Kaziken und des Lele unternom-
men; erlegt werden Wildschweine, Pekaris, Tapire, Hirsche,
Jgnanas, schwarze Affen und Rebhühner, welche dort die
Größe unserer Haushühner erreichen.
Die geologische Expedition
Ueber Zweck uud Ziele dieser im „Globus" XXXVIII,
Nro. 10 bereits kurz erwähnten Expedition veröffentlicht
Oschanin in der „Tnrkest. Ztg." vom 19. (31.) August
1880 eine längere Abhandlung, der nachstehende Mitthei-
lungen entnommen sind:
Die Expedition der Herren Mnschketow und D. L.
Iwanow ist der erste Versuch zur genauen Erforschung
eines innerasiatischen Gletschers und verspricht als solcher
werthvolle Beiträge zu liefern zur Lösung mancher wissen-
schaftlicher Fragen.
Der Oberlauf des Zerawschan liegt in dem Thale,
welches die Gebirgskette von Tnrkestan im Norden, die von
Hissar im Süden begrenzt. Den östlichsten Winkel dieses
Thales füllt ein mächtiger Gletscher, dem der Zerawschan
entspringt. Alle bisherigen Karten von Tnrkestan verlegen
an das obere Ende des Gletschers denGebirgsknotenKok-su,
von dem die Bergketten von Turkestan und Hissar nach We-
sten auslaufen, die Alai-Kette nach Osten. Kein Europäer
aber hat bis jetzt diesen Gebirgsknoten gesehen, der ihm nächst-
gelegene Paß von Tarak aus Ferghana über den Alai nach
Karategin ist bis jetzt nur gerüchtweise bekannt. Die Isländer-
kul-Expedition des Generals Abramow 1870 sah nur das
unterste Ende des Gletschers; die politischen Verhältnisse
am obern Zerawschan machten damals jede genauere Er-
forschnng unmöglich, das Fehlen von Führern und allen
Hülssmitteln zu Gletscherwanderungen zwang die Mitglieder
der Expedition, sich mit einem Blick auf denselben von den
umgebenden Höhen aus zu begnügen. Schon dieser Blick
aber zeigte, daß man es mit einem Gletscher erster Klasse
zu thuu habe, dem in Turkestan nur die Gletscher am Mas-
siv des Ak-fchirjak und der Fedtschenko-Gletscher am Ober-
lause des Sel-su zu vergleichen sind. Die Länge des Ze-
rawschan-Gletschers wird auf 20 bis 30 Werst geschätzt;
die Untersuchung wird die Möglichkeit geben, eine so bemer-
kenswerthe Oertlichkeit genau in die Karten einzutragen;
die übrigen Fragen, mit denen die Expedition sich zu be-
schästigen hat, sind folgende:
1. Das Klima Mittelasiens nimmt, wie man glaubt,
an Trockenheit zu. Einst (geologisch gesprochen) als die
aralo-kaspische Niederung noch vom Meere bedeckt war
und mit dem Ocean in Verbindung stand, war die Menge
der Niederschläge viel größer als jetzt. Die Austrocknung,
welche mit der Umwandlung des aralo-kaspischen Bassins
in ein Binnenmeer begann, hatte die Bildung kulturloser
Steppen und Wüsten zur Folge, und sie macht im Westen
der russischen Besitzungen noch immer weitere Fortschritte, wie
zum Zerawschan-Gletscher.
die stete Abnahme des Aral-See zeigt. Die Expedition soll
feststellen, ob diese Anstrocknuug auch in dem gebirgigen
Theil von Turkestan wahrzunehmen ist, was ebenso für die
Wissenschaft als für die Verwaltung Interesse hat. Wenn
die Menge der Niederschläge auch im Gebirge abnimmt,
so muß der Wasservorrath in den Flüssen sich vermindern.
Im größten Theile Mittelasiens hängt aber die Kultur
lediglich von künstlicher Bewässerung ab; eine Verminderung
der Niederschläge muß zur Folge haben, daß auch die jetzt
noch vorhandenen Oasen mit der Zeit zu Steppen werden
und nur eine Nomadenbevölkerung erhalten können; dann
ist jeder Gedanke an eine Kolonisation von Turkestan durch
russische Einwanderung unmöglich und auch die Ansiedelung
der vorhandenen Nomaden nicht einmal wünscheqswerth.
Die Gletscherbeobachtung muß diese Frage lösen helfen;
bei fehlendem Niederschlag geht der Gletscher zurück, bei
Zunahme der Niederschläge muß er vorrücken. Der Zeraw-
schan-Gletscher liegt dem Steppengebiet ziemlich nahe, das
Zurückgehen muß hier schärfer bemerkbar sein als bei deu
Gletschern des Mschirjak und am obern Sel-su, die inmit-
ten ausgedehnter Hochgebirgslandschaften liegen.
2. Die Erhebung am Thiönschan dauert, wie man
meint, noch immer fort. Namentlich Sjewertzow verthei-
digt diese Ansicht auf Grund der Erfahrungen feiner Pa-
mir-Reife; Mufchketow, der 1879 den Mittlern und untern
Lauf des Amu-Darja besuchte, hat aber dort nirgends eine
Spur von einer Erhebung gefunden. Die Untersuchung des
Zerawschan-Gletschers, der so zu sagen in der Ueberganszone
liegt, zwischen dem Steppen- und Hochgebirgs-Plateau, dem
der Amu entspringt, wird auch nach dieser Richtung von
Interesse sein.
3. Die Expedition wird die Struktur des Gletscher-
eis es studireu, und wenn sie Abweichungen gegen das
wohlbekannte Gefüge des Eises der westeuropäischen Glet-
scher ergeben sollte, deren äußere Ursachen festzustellen
suchen.
4. Die bis jetzt bekannten Gletscher des Thiön-
schan-Systems sind fast alle zweiseitig, d. h. sie hän-
gen oben auf dem Kamme zusammen und senken
sich nach verschiedenen Seiten des Abhanges hinab. In
den Alpen sind die Gletscher durch bloß mit Schnee bedeckte
Felskämme getrennt. Aber die bis jetzt (von Muschketow
in Ferghana, von Iwanow im Ala-tau) besuchten Gletscher
sind auch nur klein; es bleibt festzustellen, ob die Verbin-
dnng des Gletschereises auch bei Gletschern erster Klasse,
wie der von Zerawschan, zutrifft.
344 Die geologische Expedition
3. Eine genaue Erforschung des Zerawschan-Thales
oberhalb Obburdan muß Ausschluß gebe» Uber die Verhält-
nisse der Eiszeit in Turkestan; eme für die geologische Ge-
schichte Jnnerasiens besonders wichtige, bisher aber noch ganz
streitige Frage.
6. Schließlich wird die Expedition den Bau des Gebirgs-
stocks studiren, von dem die Bergketten von Turkestan, His-
sar und Alai auslaufen.
Die Expedition besteht aus den Herren Mnfchketow,
Iwanow und dem Topographen Petrow, der den Gletscher
und auch die Wege zwischen Ura-tjube und Obburdan auf-
nimmt; es scheint, daß man auf den bisherigen Karten
den Gebirgszug von Turkestan zu weit nach SUdcn verlegt
hatte. Der von der Expedition eingeschlagene Weg ist fol-
gender: Ueber Chodfchent nach Ura-tjube, dann mit Saum-
thieren über den Autschi-Paß nach Obburdan und von
da am Zerawschan aufwärts zum Fuße des Gletschers.
Diese Route ist ein Umweg, aber die weiter östlich liegen-
den Pässe von Chodschent nach Matsch sind namentlich
beim Aufstieg uach Norden für Saumthiere fast unzugäug-
lich. Vom Fnße des Gletschers an wird die Expedition
zu Fuße fortgesetzt, doch werden zwei Schlitten und Vor-
räthe auf 10 Tage mitgenommen.
Nachtrag. Wie der „Rufs. Juv." vom 17. (29.)
Oktober meldet, hat in der Sitzung der geographischen Ge-
sellschast vom 14. (26.) Oktober Prof. Mnfchketow selbst
über die Expedition vorläufige Mittheilungen gemacht.
Danach begann der Aufstieg am 13. (25.) August. Die
Einwohner zunächst dem Gletscher, die Galtschen, sind
ein ganz besonderer, noch wenig bekannter, auf niedrigster
Stufe stehender Volksstamm x). Es hielt schwer unter ihnen
Träger zu bekommen, denn es besteht die Legende, auf der
Paßhöhe des Gletschers ständen zwei Säulen, denen man
nicht nahen dürfe, und die jeden, der vorübergeht, erdrücken.
Die Karawane bestand aus 32 Mann, 10 Ziegen zur
Nahrung, 10 Hunden. Am ersten Tage legte man 4 Werst
zurück, die Nacht verging gnt. Am folgenden Tage kam
man in das Reich des ewigen Eises; die zweite Nacht ward
auf dem Eise zugebracht. Die Temperatur wechselte
von -f 40° C. bei Tage bis — 8° C. bei Nacht. Am
vierten Tage erreichte man die Paßhöhe. Der Gletscher
bildet ein Viereck von 24 WerstLänge und nur 2y2 Werst
Breite; an ihn stoßen sechs Gletscher des tnrkestanischen
Gebirgskammes, von denen jeder einzelne größer ist als die
Alpengletscher. Die Wanderung war nicht beschwerlich,
nur die sehr verdünnte Luft verursachte Athmungsbeschwerden
und Schmerz in den Gelenken. Der Abstieg auf der
andern Seite war viel mühsamer; man traf viele Spal-
ten und mußte förmliche Brücken bauen. Am 19. (31.)
August kam die Expedition wieder im Thale an, Prof.
Mnfchketow reiste dann sofort nach Taschkent ab.
-i-
* *
Die Turkest. Ztg. vom 26. Aug. (7. Sept.) veröfsent-
licht ferner vier Telegramme, welche Mnfchketow während
seiner Expedition auf dem Zerawschan-Gletscher
nach Taschkent geschickt hatte. Dieselben enthalten folgende
noch nicht anderweitig mitgetheilte Nachrichten über Verlauf
und Ergebnisse der Expedition:
Muschketow ging von Ura-tjube nach Obburdan im
Zerawschan-Thale über den sehr beschwerlichen Autschi-
Paß (11 800 Fuß hoch), dann im Thale des Matschi
(Oberlaus des Zerawschan?) zum Gletscher. Dabei wurde
i) Bergt. Globus XXXII, S. 266.
zum Zerawschan-Gletscher.
1. die Zusammensetzung der turkestanifchen Gebirgskette
studirt, 2. die geologische Selbständigkeit dieser Kette und
der Kette von Hissar festgestellt; beide sind durch Kreide-
ablageruugeu getrennt, die bis zum Dorfe Pa st ig au rei-
cheu; 3. wurde das Vorhandensein von Gletscherspnren
nachgewiesen, die bis zum Dorfe Diminar nahe bei
Paliorak, in 8000 Fuß Meereshöhe, sich erstrecken; dort
liegt nämlich eine scharf markirte alte Endmoräne. Zum
Aufstieg auf den Gletscher am 13. (25.) August wurden
20 Mensche», 10 Hunde und 8 Ziegen mitgenommen, der
Rest der Karawane ward über denPaß Jangi-sabak nach
Tscharkn (am Jsfara) dirigirt. Ueber die Seitengletscher,
wie den Roma-Gletscher^), gehen nämlich die Eingebore-
nen, über den Hauptgletscher bis jetzt uoch nicht. Auf
diesem selbst galt es in 5 oder 6 Tagen die Winterstation
Zardala am Soch zu erreichen.
Der Weg am 25. durch die spitzwinkligen Schollen,
welche die Oberfläche am untern Ende des Gletschers be-
deckten, war äußerst mühselig; man traf viele Längenspalten,
auch steile Vorspränge und schwer zu passireude Uneben-
heiten. Die petrographische Zusammensetzung der Morä-
nen ist sehr wechselvoll. Auf der zurückgelegten Strecke
(4 Werst) wurden vier Seitengletscher angetroffen, der größte
hatte die Richtung auf die Jsfara. Am solgeudeu
Tage ging der Marsch auf der linken Seite des Hauptglet-
schers aufwärts; er war trotz dichtgefäeter Steine bequemer,
weil der Gletscher gleichmäßig fiel und die Moränen in
Längsreihen sich deutlich markirten. Die Moränen der
linken Seite bestehen aus Kalkschiefer, welchen die Seiten-
gletscher, die von der Hissarkette einmünden, heranführen, die
der rechten Seite aus Granit vou der turkestauischeu Kette, die
Mittelmoränen sind gemischter Struktur. Am 26. August
wurden 9 Werst zurückgelegt und auf der linken Seite drei
neue Gletscher angetroffen, deren größten und eigenthümlich-
sten man Achuu nannte; diesem gegenüber mündet auch von
rechts ein großer Gletscher, der mit einem derJsfara-Gletscher
zusammenhängen soll. Man übernachtete an der Mün-
duug des Achun-Gletschers in 10500 Fuß Höhe bei
— 4° C. Am 15. (27.) August ward die gestellte Auf-
gäbe gelöst, die Höhe des Zerawschan-Gletschers erreicht
und das Verhältniß der turkestan ischen zur Alai-Kette be-
stimmt. Aus der Paßhöhe liegt eiu au 5 Werst weites
Schneefeld, die Höhe beträgt 13 800, die der umgebenden
Piks nach vorläufiger Berechnung 18 000 bis 19 000
Fuß. Die der Paßhöhe naheliegenden Felsen zeigen dent-
liche Gletschersurcheu, Schlisse :c.
Die Nacht wurde in Gletscherspalten auf der Seite
nach Zardala bei einer Temperatur von 0° C. zugebracht.
Der Abstieg von der Höhe nach Zardala war äußerst
beschwerlich. Als Resultat ergab sich: Der Zerawschan-
Gletscher ist 24 Werst lang und hängt mit denen von Zar-
dala (Quellgebiet des Soch) zusammen; letztere sind etwa
4 Werst lang. Mit den Gletschern des Jsfara besteht ein Zu-
sammenhang nur durch einige Seitenabzweiguugen; eine Ver-
bindung mit dem Schnrowski-Gletscher ist nicht vorhanden.
Außer den geologischen Beobachtungen auf dem Gletscher
ist eine Aufnahme gemacht und sind viele Zeichnungen
angefertigt worden. Die Rückkehr erfolgte am Soch ab-
wärts; während der ganzen Gletscherwanderung war kein
Unfall zu beklagen.
r) Roma oder Daschti-Roma, Schlucht, die sich von der
Turkestan-Kette zum Matschithale niedersenkt; sie mündet am
Fuße des Zerawschan-Gletschers; ein Gletscher füllt die Schlucht,
ein Fußweg führt in ihr nach Woruch, Jsfara und Kokand.
Sp. Gopöevie: Skizzen aus Oberalbanien.
345
Skizzen aus
Von Spir
K r
Dies ist der albanesische Name für die hochberühmte
Stadt, deren Namen wir Kroja zu schreiben Pflegen, wäh-
rend die Türken sie Ak-Hissar, „weiße Beste", nennen. Am
malerischesten nimmt sie sich aus, wenn man sie aus der
Ebene von weitem sieht, etwa zwischen Drven und Larnsk
(Laruschk). Sie präsentirt sich dann auf dem Abhang eines
steilen Gebirges, Sara-Saduk genannt (dessen höchste
Spitze, Malj Kruese, „Berg von Kruja", 1005 m hoch
ansteigt), etwa in der Weise wie Antivari vom Hafen aus
gesehen. Der Kamm des Sara-Saduk fällt an der West-
seite schroff wie eine natürliche Mauer auf 604 m herab.
Bon da an flacht er sich sachte und terrassenförmig bis in
die Ebene ab. In der erwähnten Höhe von 604 in liegt
die Stadt Kruja auf einem schiefen Plateau, mit dem
Rücken an die senkrechte Mauer des Sara-Saduk gelehnt.
Den Mittelpunkt der Stadt bildet die ehemalige Fe-
stung, deren Mauern auf Befehl des Seriaskers Mehe-
med Nefchid Pascha 1832 geschleift wurden. Sie bietet
ein so altertümliches Aussehen, daß ich sie sast in Verdacht
habe, noch ans den Zeiten Skanderbeg's zu stammen.
Diese Exfestnng hat 80 Häuser mit etwa 500 Eiuwoh-
nern. Erwähnenswerthe Bauten sind nur die beiden Mo-
scheen, deren eine ein Minaret besitzt, und das Seraj, wel-
ches jetzt in Ruinen liegt, aber einst prächtig gewesen sein
muß.
Von der alten Festung führt die lange, enge Bazar-
straße mit ihren alterthümlichen Buden in die Neustadt,
deren 700 Häuser aus Baumgruppen hervorragen und mit
ihren weißen Mauern von dem röthlich-granen Gestein des
Felsens abstechen. Auf der höchsten westlichen Felsenspitze
ragt der Thurm der Stadtuhr als einzige Erinnerung an
die venezianische Okkupation hervor. Nicht weit davon
soll der Palast Skanderbeg's gestanden haben, doch forschte
ich vergebens nach Spuren desselben.
Die ganze Stadt mag 5000 bis 5500 Einwohner zäh-
len. Ihren Namen verdankt sie mehreren ergiebigen Quel-
len (Krua, im Albanesischen „Quelle"), welche sich heute noch
in ihrem Bereiche vorfinden. In kirchlicher Beziehung bil-
bete Kruja früher ein Bisthum. Man kennt 14 Bischöfe;
der letzte ist von 1674. Heute ist es nicht einmal Pfarre.
Barletins behauptet, Kruja sei 1366 von Karl
Thopia gegründet worden, wahrscheinlich meint er aber
damit bloß ihre Festungswerke, denn die Stadt wird schon
1254 vonAkropolita als Besitzung desHerrn Gnlamos
von Albanon erwähnt. Ferner existiren zwei neapolitani-
sche Urkunden, aus denen ersichtlich ist, daß Kruja zeitwei-
lig neapolitanische Besatzung gehabt hat. 1277 wird näm-
lich dem damaligen Statthalter von Durazzo, Je au de
Vaubecourt, befohlen, „Castrum Croy" zu schützen, und
dieselbe Aufforderung wird zwei Jahre später dem Kapitän
von Durazzo, Giovanni Scotto, zu Theil. Aus einem
Dokumente von 1294 ersehen wir, daß sich „Romanus
episcopns Crohensis" zu seiner Kirche nach Kruja begab.
Die Neubefestigung der Stadt durch Karl Thopia 1366
Globus xxxviii. Nr. 22.
beralbanien.
Gopoevw.
u j a.
konnte deren Eroberung durch die drei Brüder Balsio'
(Balschitsch), Fürsten von Zeta, nicht hindern. Doch ver-
trugen sie sich später mit Thopia, denn 1394 ist Kruja
urkundlich im Besitze des Marko Barbarigo, eines
Schwiegersohnes Thopia's. Er cedirt es urkundlich an
Venedig, übergiebt es jedoch noch im selben Jahre den
Türken. Daß Skanderbeg's Vater niemals Kruja be-
sesseu, ist jetzt durch die von Pros. Hopf entdeckten Urkun-
den festgestellt. Seine Ansprüche auf die Stadt begrün-
deten sich darauf, daß Helena Thopia seine Großmutter
gewesen, daher er Kruja als ihr Erbtheil beanspruchte. Diese
Ansprüche kosteten schon seinem Großvater, Constantin
Kastriota, das Leben, indem ihn die Venezianer (in deren
Besitz Kruja 1402 gewesen zu sein scheint) im genannten Jahre
deshalb hinrichteten. Doch schon im nächsten Jahre gelang es
dem Grafen Niketas (Schwiegersohn der Späth a), sich mit
Hülfe der Partei des Enthaupteten Krnjas zu bemächtigen.
Er wußte sich mit Venedig auszugleichen, dessen Oberhoheit
er gegen Subvention anerkannte, und starb 1415, eben als
die Türken Kruja zum zweiten Male nahmen. Ska nd er-
beg zwang bekanntlich den Rejs Efendi des Sultans zum
Unterfertigen eines Befehls, durch welchen er zum Gouver-
neur von Kruja ernannt wurde, und erdolchte dann den
Schreiber. 1443 kam er mit 300 Begleitern nach Kruja,
wurde anstandslos eingelassen, ermordete hierauf die ganze
türkische Besatzung und rief die Albanesen zum Aufstand,
indem er gleichzeitig zum Christenthum übertrat. Bon den
verschiedenen albanesischen Despoten zu ihrem Feldhaupt-
mann ernannt, schlug er in Kruja seine Residenz auf.
1450 wurde diese Festung von Sultan Mnrad II. mit
160 000 Mann eingeschlossen und aus 10 Riesenkanonen
beschossen. Kruja wurde von Brana-Conte mit 2000
Mann vertheidigt, während Skanderbeg mit 9000 Mann
das offene Feld hielt und die türkische Armee fortwährend
belästigte. Unter jenen Truppen befanden sich 2000 Mon-
tenegriner unter ihrem Fürsten Stefan Crnojevio
(Tzrnoj ew itsch). Vom 5.April bis Mitte Oktober währte
die Belagerung ohne Erfolg.
1464 erschien Sultan Moh ammed II. mit 200000
Mann vor Kruja, konnte es jedoch auch nicht nehmen. Er-
zog daher wieder ab und ließ bloß 79 000 Mann unterBa-
laban Pascha zurück. Skanderbeg, der nur 12 000 Mann
gehabt hatte, wartete das Eintreffen von 13 000 Marten
ab (darunter einige Tausend Montenegriner unter Ivan-
beg) und vernichtete dann das türkische Belagerungsheer.
Im nächsten Jahre erschien der Sultan nochmals vor Kruja,
sah sich aber nach sechsmonatlicher Belagerung wieder zum
Rückzug geuöthigt.
Nach dem Tode Skanderbeg's (1467) besetzten die Ve-
nezianer Kruja und hielten es bis 1473. Im Jahre 1477
wurde es nämlich von Mohammed II. mit 350 000 Mann
belagert. Victurio hatte nur eine schwache venezianische
und albanesische Besatzung zur Verteidigung. France sco
Contarini eilte mit 2500Mann aus demEpirus zum Ent-
44
346 • Fr. Hubad: Die Frühlingsfeier der Slaven.
satz herbei und ebenso Fürst Nikolaus vonDnkad^in (Du- aber sah sich die Stadt nach 13monatlicher Belagerung am
kadschin) mit 8000 albanesischen Bogenschützen. Der gleich- 15. Juni 1473 zur Kapitulation auf freien Abzug gezwun-
zeitige Aussall Victurio's brachte das türkische Heer in Un- gen. Trotzdem wurde die Besatzung sammt der Bevölke-
ordnung und ohne die Treulosigkeit der DukadZin wäre rung niedergemetzelt. Seither ist Krnja türkisch geblieben,
vielleicht ein vollständiger Sieg erfochten worden. So
Die Frühlingsf
Von Fr. Hubad, Gyn
Sind zwar bei den Slaven die Gebräuche, welche aus
den Kampf zwischen Sommer und Winter hindeuten, nur
in geringer Anzahl vertreten, so finden wir diesen Grund-
gedanken desto häufiger in den Volksmärchen erhalten, welche
von der wunderschönen Jungfrau erzählen, die ein Jüngling
nach Vollführung verschiedener Thaten aus der Macht eines
Zauberers befreit und dann heirathet. So findet in dem
vechischen Märchen: „Der Lange, der Breite und der Scharf-
äugige" i) der Königssohn, da er auf den Wunsch seines
Vaters sich eine Braut wählen soll, in dem Thurme eine
kleine eiserne Thür und öffnet dieselbe mit einem goldenen
Schlüssel. Da war ein großes, rundes Gemach, die Decke
blau wie der Himmel in heiterer Nacht, silberne Sterne
glänzten an ihr; der Fußboden war mit einem grünen Seiden-
teppich überzogen, und rings in der Mauer warm zwölf
hohe Fenster in goldenen Rahmen, und in jedem Fenster
auf krystallenem Glas war eine Jungfrau in Regenbogen-
färben abgebildet, mit einer Königskrone anf dem Haupte;
in jedem Fenster eine andere in anderm Gewand, aber jede
schöner als die andere, so daß der Königssohn ganz geblen-
det war. Da bemerkte der Prinz, daß eins der Fenster mit
einem weißen Vorhang verhüllt sei; er zog denselben weg.
Da war eine Jungsrun in weißem Gewand, mit einem
Silbergürtel gegürtet, mit einer Perlenkrone auf dem Haupte;
sie war die schönste von Allen, aber traurig und bleich, als
ob sie aus dem Grabe gestiegen wäre. Der Königssohn
stand lange vor dem Bilde wie im Traum, und während er
sie so betrachtete, ward ihm weh' ums Herz und er sprach:
„Die will ich und keine Andere!" Und sobald er das Wort
gesprochen, neigte die Jungfrau das Haupt, ward roth wie
eine Rose, und in dem Augenblicke verschwanden die Bilder-
alle. — Aber diese Jungfrau zu erringen ist schwer; in der
Gewalt eines bösen Zauberers sitzt sie in eisernem Schlosse
gefangen; wer es bisher versucht hat, sie zu befreien, ist nie
mehr wiedergekehrt. Der Prinz jedoch will es versuchen
und zieht in die Welt sie zn suchen. Da findet er den Lan-
gen, der sich strecken kann, daß sein Kopf bis zu den Wolken
reicht und er dann meilenlange Schritte macht, den Breiten,
der sich aufblähen und dann so blasen kann, daß er die stärksten
Bäume entwurzelt, und den Scharfäugigen, der überall durch
und durch sieht und mit seinem Blicke selbst Felsen sprengt.
Mit diesen Genossen kommt der Königssohn in das Zauber-
schloß. Der Zauberer erlaubt ihm die Braut fortzuführen,
wenn er sie durch drei Nächte so zu hüten wisse, daß sie ihm
nicht entschlüpft; gelingt ihm dies nicht, so würde er sammt
seinen Dienern zu Stern, wie alle bisherigen Bewerber.
Trotz aller Vorsicht schlafen die vier Wächter ein und des
x) Wenzig, Westslavischer Märchenschatz. Leipzig, 1857,
S. 130.
ier der Slaven.
lsialprofessor in Pettau.
Morgens ist die Jungfrau verschwunden. Der Scharfäugige
entdeckt sie aber; in einem Walde, hundert Meilen vom
Schlosse, steht eine Eiche und als Eichel hängt die Königs-
tochter auf dem Baume; in wenigen Schritten trägt der
Lange ihren Entdecker hin und zurück; der Prinz läßt die
Eichel zu Boden fallen und die Prinzessin steht vor ihm.
In der folgenden Nacht geht es nicht besser, der Scharf-
äugige entdeckt sie aber wieder; zweihundert Meilen vom
Schloß ist ein Berg, in dem Berg ein Felsen und in dem
Felsen ein Edelstein und der Edelstein ist sie; vor seinen
Augen zerspringt der Stein in Stücke und die Jungfrau ist
wiedergefunden. Nach der dritten Nacht liegt sie als golde-
ner Ring in einer Muschel im Schwarzen Meere, dreihundert
Meilen von der Burg. Da trank der Breite so viel von
dem Wasser, daß der Lange die Muschel herauf holen konnte,
und die Proben waren bestanden. Der Zauberer, dem nach
jeder That einer von den drei eisernen Ringen an seiner
Brust geborsten war, flog als Rabe davon, die versteinerten
Ritter erwachten zn neuem Leben und der Prinz feierte
fröhliche Hochzeit.
Die Deutung dieses Märchens, wie der vielen Varia-
tionen desselben Themas, ist leicht gefunden. Der mächtige
Zauberer, d. i. der Herr des siustern Theiles des Jahres,
der Gott des Winters, die Winterszeit, hält in seinem eiser-
nen Schlosse, d. i. unter der Eisrinde, eine schöne Königs-
tochter, die Sommergöttin— die zwölf Fenster unseres Mär-
chens bedeuten ja die zwölf Jahresmonate — gefangen. Der
junge Königssohn, die Frühlingssonne, mit seinen drei Hel-
fern (in dem deutschen Märchen: „Die sechs Diener" der
Brüder Grimm sind ihrer sogar sechs) befreit die Prinzessin
nach einander aus der Luft, der Erde und dem Wasser,
d. i. die Sonne belebt die Elemente zu neuem Leben, und
feiert fröhliche Hochzeit, wie sich nach dem Volksglauben aller
Nationen im Frühjahr der Sonnengott der Erde vermählt
und dieselbe fruchtbar macht.
In den ältesten Zeiten war wohl der Sonnengott (Pe-
run) selbst an der Stelle des Königssohnes im heutigen
Märchen gestanden, in der Folge der Zeit vertraten ihn da-
gegen verschiedene andere Heldengestalten, wie wir sie in den
Dichtungen über Dobrynja Nikitie, mit christlichen An-
schanuugeu durchflochten in den Liedern über Egorij Hrabrij
(Georg der Tapfere), in den klassischen Erzählungen von
Perseus, in den germanischen über Siegfried vorfinden, in
denen häufig an die Stelle des Zauberers der (zwölfköpsige)
Gewitterdrache oder in der christlichen Zeit dessen Substitut,
der Teufel, getreten ist *). Unter dem Einflüsse des Christen-
thums finden wir jetzt an Pernn's Stelle besonders häufig
den Propheten Elias oder selbst die Jungfrau Maria; des-
*) Vergl. Krek, Einleitung I, 232.
Fr. Hub ad: Die Frr
halb heißt der erstere in südslavischen Volksliedern gewöhn-
lich der „Donnerer" (gromovnik)*), während die letztere
die „Feurige" (ognjana) heißt2); bei den Russen dagegen
begegnen wir am häusigsten dem Heil. Georg, welchem nach
serbischen Volksliedern bei der Theiluug der Welt „die
Frühlingsblumen" zu Theil wurden, als Vertreter des Sonnen-
gottes. An den Namen desselben haben sich daher bei den
Russen die meisten Frühlingsmythen geknüpft, wozu die
Legende von seinem Kampfe mit dem Drachen Anhaltspunkte
genug darbot. Von seiner Geburt singt das russische Volks-
liefe, daß er silberne Füße, goldene Arme hatte; sein Kopf
war mit Perlen, der ganze Körper mit Sternen besäet.
Unter Diocletian litt er furchtbare Qualen. Dieser warf
ihn in ein tiefes Verließ, bedeckte dasselbe mit eisernen Plat-
ten, schloß es mit „deutschen" Schlössern, so daß Egorij
weder die „weiße" Welt noch die herrliche Sonne sehen,
weder den Ton einer Glocke noch den Kirchengesang hören
konnte. So lag er volle dreißig Jahre; da kam nach dem
Willen Gottes die Zeit der Befreiung: da fing die glän-
zende Sonne an warm zu scheinen, es erhoben sich gewaltige
Winde, fegten den Sand, welcher Georg's Gefängniß bedeckte,
weg, brachen die „deutschen" Schlösser und warfen die eiser-
nen Platten aus einander. Der Frühling sprengt seine
Bande, und der Sonnengott steht auf in voller Macht und
Herrlichkeit. Egorij wappnet sich, ersaßt die scharfe Lanze,
befreit sein Heldenpserd von den zwölf Ketten, mit denen
dasselbe gebunden war, schwingt sich darauf und macht sich
auf den mühevollen Weg. Der Volksglaube giebt ihm einen
Schimmel, wie denn auch Odin auf eiuem solchen reitet.
Im Sturme sprengt er in die „schlafenden" Wälder; die
Bäume schwanken im Winde, die Aeste fallen im Sturme
zu Boden. Da ruft er: Gehet aus einander durch das
ganze heilige russische Land! Dann reitet er an die tiefen
Meere, an die breiten Flüsse, und heißt sie fließen. Darauf
kommt er zu einer Rinderherde, welche von drei Jungfrauen,
leiblichen Schwestern, gehütet wird. Die Hirtenmädchen
bedeckt Tannenrinde, ihre Haare sind wie dürres Gras, ihre
Stimme eine thierische; sie wollen den Helden verschlingen,
dieser schickt sie aber an den Jordan sich zu baden und zu
kleiden. Darauf verwehrt dem Heiligen ein Rudel Wölfe
den Weg; diese treibt er aber in die „tauben" Steppen und
dunklen Wälder. Zuletzt trifft er auf eine Drachenschaar;
da zückt er fein scharfes Schwert und vernichtet sie. Bis
zur Brust steht er im Blute, stößt seine Lanze in die Erde
und bittet die Mutter Erde, daß sie das Drachenblut in sich
ausnehme. Seine Bitte wird erfüllt und er zieht nun zum
Marniorpalaste Diocletian's, tobtet ihn und zerstört mit sei-
ner Keule den Palast 3).
Aehuliches erzählt eine bulgarische Legende. In alten
Zeiten lebte „ein böses Weib"; dieses nahm ein schmutziges
Tuch und bedeckte damit den Mond, welcher damals noch
niedrig, fast auf der Erde, ging; da hob sich der Mond in
die Höhe, wo er noch jetzt kreist, und fluchte dem Weibe.
In Folge des Fluches wurde die Alte in einen Drachen ver-
wandelt, von welchem das ganze Drachengeschlecht stammt.
Die Ungeheuer richteten viel Ungemach an, verschlangen viele
Menschen, bis der Heil. Georg erschien und die Erde von
ihnen befreite, indem er ihnen mit einem goldenen Stabe
die Köpfe abschlug; aus den Leibern derselben liefen drei
Vergl. Arkiv za povjestnicu jugoslavjensku, von
Ivan Kukuljevic Sakcinski. VII, Agram 1863, p. 221.
2) Vult Stefanovic Karagjic, Srpske narodne pjesme
I, 77; II, 1, 2, 12.
3) Afanasjev I, 699 seq.
Mgsfeier der ©labert. 347
Blutströme, einer für die Ackerleute, der zweite für die Hir-
ten, der dritte für die Winzer x).
Deshalb jagt nach russischem Volksglauben der „sieg-
reiche Georg" (Egorij Pobedonosec), wie nach der Meinung
der Südslaven der Donnerer Elias, im Gewitter unter Don-
ner und Blitz die Teufel vor sich; dabei geräth Elias nach
der Erzählung der Slovenen in Krain so sehr in Eifer, daß
ihn Gott selbst zurückhalten muß, damit er nicht die Erde
vernichte2).
Doch nicht bloß als Drachentödter erscheint der Heil.
Georg; nach dem russischen Volksliede von der „schönen
Elisabeth" befreit er auch die schöne Jungfrau (Vertreterin
der Frühlingsgöttin) aus der Gewalt eines Drachen, wozu
sich auch bei den Bulgaren eine Variante findet, die
G.Rosen in seinen „BulgarischenVolksdichtungen" (Leipzig,
Brockhaus 1879) übersetzt hat.
Die Erklärung dieser Mythen giebt uns ein weißrussi-
sches und ein «echifches Frühlingslied, welches singt: „Georg
steht auf, öffnet die Erde, daß das Gras wachse, grünes
Gras und blaue Veilchen." In einem andern wird der
Todt (Smrtolenka) gefragt, wohin er die (Himmels-) Schlüs-
sel gegeben habe. Dieser antwortet: „Dem Heil. Georg, daß
er das Thor zum Himmel öffne," und ebenso bezeichnend
sagt ein anderes: „Das Veilchen, die Rose können nicht
wachsen, wenn ihnen Peruu (oder Gott der Herr) nicht
hilft"3). Darumfängt der Frühling nach dem Bauernglau-
ben mit dem Georgstage an, deshalb sagen die Russen,
Georg öffne die Erde, bringe Than hervor und gebe den
Gräsern Gedeihen, und glauben die Bulgaren, daß der Heilige
die Aecker begehe und nachsehe, ob das Getreide gedeihe,
während es in großrussischen Dörfern heißt, der Heil. Georg
(am 23. April) beginne die Feldarbeit und beende sie auch
(am 26. November, seinem herbstlichen Feste). An seinem
Frühlingsfeste sprechen in ganz Rußland die Hirten Gebete
über das Vieh und besprengen dasselbe mit Weihwasser; „in
aller Frühe waschen sich die Bauern mit Thau, um stark
und gesund zu sein wie der Georgsthau." Ebenso sammeln
die Serben schon am Vortage Wasser, welches von den
Mühlrädern wegspritzt, legen dann verschiedene Blumen hin-
ein und waschen sich am Morgen des Festes damit, oder
gehen vor Sonnenaufgang baden, wobei sich die Jungen
grüne Zweige um die Lenden winden, ehe sie ins Wasser
springen.
Bei den Uskoken 4) und Slovenen geht in einigen Ge-
genden , so in den Weingebirgen der Kolos, bei Pettan in
Unterstciermark zu dieser Zeit der „Jürek" (Georg) oder
„zeleni Juri" (grüner Georg) herum. Ein vom Kopf bis
zu den Füßen in grüne Zweige gehüllter Bursche zieht von
Haus zu Haus, tanzt vor jedem, während ein Begleiter auf
ciuer Rohrpfeife spielt und ein anderer auf einer kleinen
Trommel trommelt. Ein vierter Juuge sammelt Gabeu.
Dazu wird gesungen; doch sind die alten Lieder verschollen,
bei Tüsser z. B. singen die Bursche ganz prosaisch: „Wir
führen den grünen Georg herum, bitten um Speck und
Eier" 5). Die Bedeutung des Umzuges ist klar; wurde ja
doch in früheren Zeiten der „grüne Georg" nach dem Um-
zuge im Flusse gebadet, wie noch heuzutage bei den Serben
die mit Grün umwundene „Dodola", bei den Bulgaren die
1) Karavelov, Pamjatniki narodnago byta bolgar.
299 seq. Afanasjev II, 535.
2) „Globus" XXXIII,, 140.
3) Hanns, Bajeslovny kalendar slovansky, 137, 165.
Afanasjev I, 705; II, 402.
4) Arkiv za povjestnicu jugoslavensku, VII, 336.
5) Mittheilung des Herrn Bezirksfchulinspektors I. Ranner
in Pettau.
44*
348 Fr. Hubad: Die Frr
„Peperuga", welche herumziehen, um Regen zu erbitten,
mit Wasser begossen werden *).
In einigen Gegenden Rußlands zieht ein mit Zweigen
umwundener Junge, der Fackeln in der Hand und einen
Kuchen aus dem Kopfe trägt, begleitet von Georgslieder sin-
genden Mädchen, dreimal um die besäeten Felder. Nach
dem Umzüge wird ein Feuer angezündet und der Kuchen ver-
theilt.
Als Frühlingsheld wurde Georg auch Beschützer des
Viehs; so sagen die Russen: „Georg läßt die Kühe auf die
Weide." Au seinem Feste treibt man die Herden das erste
Mal zur Weide, die Hirten tragen geweihte Weidenruthen
mit und bitten ihn, daß er die Herden beschütze „in Feld
und Wald, vor Wölfen, Bären und allen anderen Raub-
thieren". Der Austrieb geschieht in aller Frühe, so lange
der Thau noch nicht getrocknet ist, denn dieser hat die Kraft,
den Milchreichthum der Kühe zu vermehren. Deshalb wird
in Norddeutschland beim Austrieb der Leitkuh ein grüner
Zweig an den Schwanz gebunden, daß sie damit den Thau
abstreife.
Aehnliche Gebräuche finden wir auch bei den Südslaven;
überhaupt ist der Georgstag ein Hirtenfest, an welchem die
Hirten mit Kuchen, Eiern, Milch bewirthet und mit Geld
und Leinwand beschenkt werden.
Bei Bulgaren und Serben werden zu diesem Tage in
jedem Hause Lämmer, besonders weiße, geschlachtet. Eine
solche Opferschlachtung beschreibt Afanasjev2). Im Dorfe
Slavini (im Kreise von Pirot) bringen am Georgstage die
Bewohner aus jedem Hause ein Lamm an einen bestimmten
Ort. Die Thiere sind mit Kränzen geschmückt, ihre Augen
verbunden, die Füße gefesselt. Unter verschiedenen Zeremo-
nien legt man sie im Kreise auf den Boden, ein Greis schlachtet
sie dann und läßt das' Blut auf den Rasen fließen. Wei-
ber sammeln das blutige Gras; es bildet eine vortreffliche
Arznei. Die Stricke, mit denen die Lämmer gebunden wa-
ren, werden an Ort und Stelle verbrannt. Jeder Hans-
Herr trägt nun sein Lamm nach Hause, brät es und bringt
es dann mit Brot, Knoblauch und Zwiebeln auf den Berg
des Heil. Georg. Dort weiht der Priester die Thiere und
erhält von jedem ein Viertel. In Serbien trägt man diese
Opferthiere in die Kirche und befestigt ihnen Kerzen auf
dem Kopfe; in Rußland dagegen und in den Karpaten bäckt
man zum Frühlingsaustrieb Gebäck in der Form eines
Widders; der Oberhirt schneidet es in Stücke und bewahrt
eines davon als Arznei für die Schafe. In Lithauen ver-
kauft man an den Kirchen Wachsbilder von Pferden, Kühen,
Schafen, wie in Kram am Tage des Heil. Stefan. Jeder
Käufer trägt sein Thier einige Male um die Kirche oder
um den Altar und legt es zum Schluß als Opfer auf den-
selben.
Als Beschützer der Herden genießt unser Heilige bei den
Slaven hohe Achtung, zu ihm beten sie um Gedeihen für
die Herden und um Segen für die Saaten; so heißt es
z. B. in einer russischen Besprechuugsformel: „Es kommen
uns entgegen der Heil. Großmartyrer Georg und der Heil.
Car Constantin auf weißen Rosien, mit feurigen Schilden
in den Händen und vertreiben alle Zauberer und Hexen,
Diebe und Diebinnen, Wölfe und Wölfinnen." Unter den
Wundern, welche der Heilige gewirkt, erzählen die Russen
auch, daß er einem Ackersmann einen Stier, der durch einen
Fall umgekommen war, wieder erweckte. Im Leben des
heiligen Theodor von Anastasiupolis heißt es, daß der Hei-
lige in seiner Jugend, als er oft zur Nachtzeit aus seinem
„Globus" Bd. XXXIII, S. 139.
2) II, 255.
ilingsfeier der Slaven.
Heimathsdorse in die Stadt gehen mußte, von Georg voi.
den Wölfen, in welche sich böse Geister verwandelt hatten,
um den Knaben zu zerreißen, beschützt wurde *).
Einen Zug aus den Sagen vom Heil. Georg dürfen
wir nicht übergehen, welcher deutlich dafür zeugt, daß er die
Stelle des alten Donnerers Pernn eingenommen hat. Er
erscheint nämlich auch als Beherrscher der Wölfe, welche in
heidnischen Zeiten den Donnergöttern heilig waren. Am
Georgstage reitet der Heilige nach russischem und südslavi-
schem Glauben in den Wald und giebt den Wölfen Anwei-
sung, wovon sie sich nähren sollen; daher sagt ein russisches
Sprichwort: „Was der Wolf zwischen die Zähne bekommt,
das hat ihm Georg gegeben," und bitten die Wölfe im Volks-
Märchen ihn oder den Erlöser um Nahrung. Ein südslavi-
sches Märchen erzählt: Ein Hirt war durstig, er ging
daher durch den Wald zur Ouelle. Da ging er an einer
mächtigen Eiche vorüber und bemerkte, daß der Boden unter
derselben ganz zertreten war. Neugierig stieg er auf den
Baum, um zu sehen, was da vor sich gehe. Da kommt
der Heil. Georg mit seinem Gefolge von Wölfen und
weist ihnen der Reihe nach an, woher sie sich den Fraß
holen sollten. Als alle schon abgefertigt waren, schleppte
sich mühsam noch ein alter, lahmer Wolf herbei, welcher sich ver-
spätet hatte, und fragte, was ihm bestimmt sei. Aus derEiche
sitzt dein Theil, lautete die Antwort des Heiligen. Gleich
darauf zerstreuten sich die Ranbthiere nach allen Richtuu-
gen, um sich ihre Beute zu holen; auch ihr Herr ritt von
dannen. Der alte, lahme Wolf blieb aber unter dem Baume
sitzen und wartete auf seinen Antheil. Da aber der Hirt
sich wohlweislich hütete, herabzusteigen, entfernte sich das
Thier endlich von feinem Platze. Kaum war es aus den
Augen des Belagerten verschwunden, stieg der Hirt vom
Baume und wollte entfliehen; aber der Wolf hatte sich hinter
einem Busch in den Hinterhalt gelegt, sprang hervor und
zerriß den Menschen.
In Kleinrußland heißt deshalb der Wolf der „Hund
des Heil. Georg"; von ihm getödtetes Vieh darf vom Men-
schen nicht gegessen werden, da es Gott selbst den Thie-
ren als Nahrung bestimmt habe. Ueberhaupt ist die sata-
listische Vorstellung weit verbreitet, daß alle menschliche
Vorsicht nicht im Stande sei, etwas vor den Wölfen zu
retten, wenu es ihnen der Heil. Georg bestimmt hat. So
versteckte sich ein Mann, der den Ranbthieren zugesprochen
worden war, auf den Ofen; da verwandelte sich der Wolf,
dessen Beute er werden sollte, in der Nacht, während alles
schlief, in eine Katze und zerriß sein Opser. Ein anderer
begann, als er seine Bestimmung erfahren hatte, mit Auf-
gebot aller seiner Kräfte, die Ranbthiere zu jagen und
zu verfolgen; deren Häute hing er unter dem Dache seines
Hauses auf. Im Laufe einiger Monate hatte er schon Hun-
derte,' unter ihnen auch den, dem er zugewiesen war, er-
schlagen. Doch alles dies half ihm nichts; als seine Zeit
kam, verwandelte sich das Fell in einen Wolf, welcher ihn
in Stücke zerriß 2).
Die Kleinrussen wissen auch von einem eigenen Wolfs-
Hirten, dem Polisun oder Lisovik, zu erzählen. Dieser treibt
seine Herde, wie bei den Slovenen der Teufel die Billiche,
unter Peitschengeknall auf die Weide, besonders dorthin, wo
sich feindliche Heere im Kampfe gegenüber stehen. Häufig
bringt ihn das Märchen auch mit dem Heil. Georg in
Verbindung. So erzählt ein Märchen: Es waren einst
zwei Brüder; der eine war arm, der andere reich und geizig.
Afanasjev I, 709.
2) Yaljavec Narodne pripovjedke u i oko Varaz-
clina, p. 93 seq. Afanasjev I, 709 seq. Arkiv za povj.
jugosl. VII, p. 222, 239.
Fr. Hubad: Die Fi
Da stieg der arme einst auf eine Eiche, um zu erfahren,
was allnächtlich dort Lärm verursache. Um Mitternacht
versammelte sich eine Herde Wölfe unter dem Baume, an
ihrer Spitze kam der Polisnn gezogen; zuletzt kam auch der
Heil. Georg herzugeritten nnd vertheilte Brotlaibe unter
die Thiere. Als alle betheilt waren, blieb dem Heiligen
ein Laib übrig; dieses gab er dem Armen, was ihm Glück
und Segen brachte. Als der reiche Geizhals den Grund
des unerwarteten Wohlstandes seines Bruders erfuhr, stieg
er auch auf den Baum. Diesmal hatte aber der Heilige
ein Brot zu wenig, er wies daher dem letzten Raubthiere
den Geizhals auf dem Baume zu.
Hirten, welche mit diesem bockfüßigen Pan auf gutem
Fuße stehen, brauchen sich um ihre Herden nicht zu kümmern,
der Waldgeist hält statt ihrer das Vieh in Ordnung *).
Wie an allen anderen Festtagen des Jahres finden wir
auch an diesem eine Anzahl abergläubischer Gebräuche, welche
sich hauptsächlich auf die Erhaltung des Viehstandes und,
wie es von einem Frühjahrsfeste leicht begreiflich ist, auch
auf die Erforschung der Zukunft des Menschen, insbeson-
dere des liebenden, beziehen. Bei den Serben und Kroaten
schlägt manche Hausfrau, wenn es nur möglich ist, mit dem
Besen einige Nachbarskühe und dann ihre eigenen auf den
Euter und hofft dadurch, die Milch der fremden Thiere
in ihre zu zaubern. Die Kleinrussen nennen die Milch und
das Schmalz den Thau Gottes; im Kiewer Gnberninm
herrscht der Glaube, daß Hexen die Leiber ihrer Kühe mit
Georgsthau waschen, um sie dadurch milchreich zu machen;
denselben Zweck erreicht man auch, wenn man aus eine Kuh
ein Leinwandstück legt, welches mit Georgsthau befeuch-
tet war2).
Die serbischen Mädchen binden am Vorabend des Festes
mehrere Sträußchen, geben jedem den Namen eines Bur-
scheu, und legen sie um Mitternacht auf das Dach. Das
Bouquet ihres Schatzes zeigt in der Frühe den meisten Thau.
Anderswo binden sie Sträußchen von Alant und sprechen
darüber: Alaut, mein leiblicher Bruder, gieb daß N wie
närrisch mir nachlaufe" ^).
Doch genug davon; eine vollständige Aufzählung ist ja
gar nicht möglich.
Die verschiedenen Frühlingsgebräuche schließen eigent-
lich mit dem Osterfeste, der Siegesseier über die bezwunge-
nen Wintermächte. Ihm geht der Palmsonntag, bei den
Slaven der „Blüthensonntag" 4) genannt, und der „Grün-
donnerstags) voraus. Er selbst heißt der „große Souu-
tag", auch die „große Nacht"«), wie auch die vorhergehen-
den Tage die „großen" heißen. Daß es ein Sonnenfest
war, zeigen deutlich die Namen, von denen besonders
der südrussische und der bulgarische „velik den" (großer
Tag) hervorgehoben zu werden verdient; die Slovenen
backen zu der Zeit Kuchen in der Form eines Rades,
des uralten Sonnensymbols. Bei Slaven und Deutschen
herrscht der Glaube, daß die Sonne an dem Tage vor
Freuden tanze oder dreimal springe; ja bis zum 16. Jahr-
hundert meinten die Russen, daß an diesem Tage die Sonne
nicht untergehe. Die Bauern steigen noch jetzt in den verschie-
3) Afanasjev I, 711.
2) Afanasjev II, 633.
3) „Globus" XXX, S. 93.
4) Cechisch: kvety oder kvStnä nedele, poln. kviaty,
russ. verbnoje voskresenije, Weiden-(Palm-) Ostern; serb.
cvijeti, slovenisch cvetna nedelja.
5) Cechisch zeleny ctortek Vergl. das lat. viridis dies
Jovis und dies viridium.
6) Cechisch velikonoce, slov. velika noc, poln. vielka
noc.
hlingsseier der Slaven. 349
deusten Gegenden auf Thürme oder Hügel, um die Sonne
aufgehen und springen zu sehen; wobei die Russen den Früh-
ling anrufen. Nach dem Volksglauben öffnet sich am ersten
Ostertage der Himmel, und bleibt während der ganzen Fest-
zeit offen; wer in der Zeit stirbt, kommt geraden Weges in
den Himmel. Bei dieser Gelegenheit werden auch die ver-
borgenen Schätze sichtbar und leuchten mit hellem Glänze.
Die Kleinrussen glauben, daß zu dieser Zeit die Heiligen
oder Christus selbst auf der Welt umher gehen, um die
Mildthätigkeit der Menschen zu prüfen, die Guten zu beloh-
nen und die Bösen zu bestrafen *).
Auf den Sieg der Sonne und auf das Wiedererwachen
der Natur weisen auch alle Gebräuche, von den gefärbten
Eiern bis zu der kirchlichen Feier der Auferstehung des Herrn.
* *
Ehe wir diese kurze Darstellung der Frlihlingsgebränche
schließen, müssen wir noch der Todtenfeier gedenken, welche
die Slaven orientalischen Bekenntnisses während dieser Zeit
begehen. Auch die Seelen der Verstorbenen schlafen während
des Winters, glauben die Russen, und erzählen in ihren Mär-
chen von einem Reiche, wo im Winter alle Leute sterben
und im Frühjahr am Georgstage wieder erwachen. Nach
einem andern weit verbreiteten Volksglauben leiden die See-
len im Winter Kälte, die Finsterniß ängstigt und Kummer
drückt sie, deshalb entzünden die Bauern am Vorabend der
Geburt des Herrn und der Taufe desselben im Hofe Stroh-
feuer, damit sich die Seelen der verstorbenen Eltern daran
wärmen können.
Zu derselben Zeit, in welcher das Todaustragen gefeiert
wird, beginnen mit der erwachenden Natur auch die Seelen
ein neues Leben, darum beginnen die Slaven im Anfange
des März auch die Gräber zu besuchen. Vor Sonnen-
ansgang des ersten Tages in diesem Monate besuchen die
Lansitzcr Wenden, Cechen, Polen nud andere mit Fackeln
die Gräber ihrer Lieben, stellen Speisen für deren Seelen
hin und beten für deren Frieden. Nach dem russischen
Stoglav zündeten auch die Bauern am Morgen des Don-
nerstags der siebenten Fastenwoche Strohfeuer an und riefen die
Todten an. Anfangs April grämen sich die Seelen um ihr
früheres Leben, deshalb gehen alte Leute auf das Grab
ihrer Eltern, um deren Seelen zu trösten.- „O Sonne, helle
Sonne," klagt nach Afanasjev ein alter Mann, „geh' auf,
geh' auf von Mitternacht; beleuchte mit frohem Strahl alle
Grabhügelchen, daß unsere Todten nicht im Dunkel zu sitzen
brauchen, nicht gramvoll ihr Leben zubringen. Und du,
Mond, du Mond, du heller, geh' auf, geh' auf von Abend,
beleuchte mit frohem Glanz die Grabhügelchen, daß den
Todten im Dunkel das Herz nicht bricht, daß sie sich nicht
im Dunkel nach der weißen Welt grämen und nicht in
Finsterniß brennende Thränen um ihre lieben Kinder ver-
gießen. Wind, ungestümer Wind, wehe, wehe von Mitter-
nacht, bringe unseren Seligen die fröhliche Botschaft, daß
alle ihre Nachkommen sich in Gram nach ihnen sehnen."
Die Feier der Auferstehung des Erlösers stimmt auch
hierin sehr gut zu dem Volksglauben ; zu der Zeit ist der
Himmel offen, daher kommen auch die Seelen der Verstor-
benen wieder auf die Welt, wandeln unter den Lebenden,
essen, trinken und freuen sich mit ihnen, bis sie nach dem
Schluß der heiligen Zeit wieder in den Himmel eingehen.
Daher begeben sich die Russen und auch die Südslaven mit
rothen Eiern auf die Gräber, um auch die Verstorbenen
mit dem unter Lebenden üblichen Spruche „Christus ist
erstanden" (Hristos voskrese) zu begrüßen; darauf läßt
i) Afanasjev III, 701 seq.
350 Aus allen
man die Eier vom Grabhügel herabrollen und vergräbt sie
an der Stelle, wo sie liegen bleiben. Bei den Katholiken
sind diese Gebräuche größtentheils verschwunden, da die
Kirche den Gedächtnißtag der Todten in den Herbst verlegt
hat, welcher allerdings als die Zeit des Beginns des Todes-
schlafes in der Natur dafür vorzüglich geeignet ist. Bei
den Sloveuen z. B. haben sich jedoch Kinderspiele erhalten,
deren Ursprung vielleicht iu dem oben angeführten Gebrauche
zu fucheu ist. Zu Ostern lassen nämlich die Kinder
gefärbte Eier von einem kleinen Erdhügel oder von einer
aus zwei Ruthen gebildeten schiefen Ebene herabrollen;
derjenige, dessen Ei von dem seines Nachfolgers getroffen
wird, muß es dem Mitspieler abtreten.
Die rothen Eierschalen werfen die Kleinrussen ins Was-
ser, daß sie, auf demselben bis insTodtenreich schwimmend,
den Seelen die Nachricht von der Auferstehung Christi
bringen sollen x).
Am Ostermontag besuchen auch die Slaveu der Bal-
kanhalbinsel die Gräber, um Kerzen auf denselben anznzün-
Vergl. dazu und zu dem Vorhergehenden: Afanasjev III,
p. 288 seq.
Erdtheilen.
den und von den Popen Gebete hersagen zu lassen. Die Rn-
theuen feiern die „Hahntky", die im Absingen von Liedern
und Spielen, z. B. Bauen von lebenden Pyramiden, beste-
hen; die Prager zieheu zum Friedhofe nach Emaus, welcher
früher bezeichnend genug „na Morani" hieß; die Serben
ziehen aber auch am Montag nach dem ersten Sonntage
nach Ostern auf die Friedhöfe, schmücken die Gräber, zün-
den Kerzen au, beschenken sich gegenseitig mit gefärbten
Eiern, beten und feiern zuletzt ein Verbrüderungsfest. Die
Jugend flicht Kränze und küßt sich durch dieselbe»; dadurch
werden zwei Jüugliuge für ein Jahr zu Bundesbrüdern
(pobratim) und die Mädchen zu Freundinnen (druga)1).
Diese gedrängte Darstellung mag einen dürftigen lieber-
blick geben über die Reichhaltigkeit der bei den Slaven noch
existirenden, für die vergleichende Mythenforschung höchst
wichtigen Volksgebräuche und Traditionen, denen der be-
rühmte Verfasser der „Thiere in der indoge^nanischen
Mythologie", Angelo de Guberuatis, den Ehrenplatz nach
den Veden zuweist.
i) Vuk Stefanovic Karaenic Zivot i obicaii, p. 27. Ha-
nusv o. c. 128 seq.
A u s allen
Europa.
— Zur rascheru Herstellung einer systematischen Be-
Wässerung in den Steppen-Gouvernements soll der
„Mosk. Wjed." zufolge von 1881 ab das Studium von
Klima, Boden- und hydrographischen Verhältnissen der einer
Bewässerung bedürfenden Gegenden mit vermehrten Kräften
gefördert werden. Für 1881 sind Nivellements in den Bas-
sins der Gewässer der Gouvernements Jekaterinoslaw, Eher-
son, Tanrien und Woronesh nebst einschläglicheu Schürfun-
gen und Tiefbohrungen in Aussicht genommen, um die Tiefe
der wasserhaltigen Bodenschichten, die Lage der Quellen und
die Durchlässigkeit der Bodenarten festzustellen.
— Zum dritten Male veröffentlicht Prof. Heinrich
Kiepert die Generalkarte der europäischen Türkei, deren
geographische Gestaltung wohl wenige besser kennen, wie er.
1853 erschien die erste, 1870 die zweite Ausgabe, beide, auch
die letztere, noch mit großen Lücken und Unsicherheiten. Auf
der neuesten dritten Bearbeitung (Neue General-Karte
der Unter-Donau- und Balkan-Länder, 1:1 500 000,
Berlin, D. Reimer 1880) sind dieselbe« fast durchweg ver-
schwuuden Dank besonders dem thätigen Eingreifen des öfter-
reichischen und russischen Generalstabes und den Aufnahmen
der internationalen Grenzkommissionen, von welchen auf
S. 102 dieses Bandes die Rede war, ferner eines Lejean,
Kanitz und de Gubernatis. In Einzelheiten werden ohne Zwei-
fel die Aufnahmen der Russen (s. „Globus" XXXVII, S.343)
und künftige Specialstudien noch vielerlei Neues bringen;
aber im Großen und Ganzen, kann man sagen, ist uns die
geographische Gestaltung der Balkanländer jetzt bekannt, eigent-
liche „Entdeckungen" sind dort nicht mehr zu machen, an dem
Kartenbilde, wie es nun vor uus liegt, läßt sich nicht mehr
viel rütteln. Die „Generalkarte" ist auch die erste, welche die
politische Neugestaltung der Halbinsel, die Grenzen von Ser-
bien, Bulgarien und Ostrumelieu, nach den osficiellen Quel-
leu vorführt; ihrem iuuern Werths und ihrer Wissenschaft-
lichen Zuverlässigkeit entspricht die klare und elegante Litho-
graphie und sonstige Ausstattung. Je gedankenloser die
Mehrzahl der heutigen Karten nach bewährten Mustern
Erdtheilen.
„bearbeitet und gezeichnet" wird, um so mehr dürfen wir
auf eiue Arbeit hinweisen, deren Autor durch Erschließe«
neuer Quellen, durch Beherrschung des ganzen weitschichtigen
Materials und durch wissenschaftliche Verwerthnng desselbe«
immer wieder beweist, daß es in der Kartographie nicht
allein auf das Zeichnen ankommt, sondern weit mehr auf
ei« gründliches Studium.
Asien.
— M. 2 ort et, Dekan der medicinischen Faknltät von
Lyon, über dessen erste syrische Reise der „Globus" iu Bd.
XXXVIII, Nro. 7 ff. berichtete, hat im Mai 1880 den See
von Tiberias zoologisch untersucht. Nach ihm liegt der-
selbe 212 m (192 m nach H. Kiepert) unter dem Mitteländi-
sehen Meere, mit welchem er nach gewissen Anzeichen einst
in gleicher Niveauhöhe stand, ja vielleicht durch die Ebeue
Esdrelon zusammenhing. Seine größte Tiefe beträgt 250 in.
Lortet glaubt, daß sein jetzt nur sehr schwach salziges Wasser
früher viel salzhaltiger gewesen ist; mit Rücksicht hierauf war
eine Untersuchung der Fauna von besonderm Interesse. Er
erlangte mindestens ein Dutzend Arten von Fischen, darunter
mehrere neue Formen sowie auch einige neue Mollusken.
Von letzteren hatten Melanopsis uud Melania ein marines
Aussehen und scheinen auf den Uebergang von salzigem zu
süßem Wasser hinzudeuten. Außerdem enthält der See noch
einige Krabben und von niederen Thieren nur Diatomeen
uud Foraminiseren in dem sehr feinen Schlamme vulkanischen
Ursprungs, welcher den Boden bedeckt.
— In Petersburg ist ein Telegramm des Obersten
Prschewalski, datirt Urga 1. November, eingetroffen,
wonach derselbe im Frühling und Sommer dieses Jahres
einen Theil des obern Hoang-ho-Gebietes und den See
Knkn-nor aufgenommen hat und dann durch Mascha« nach
Urga gegangen ist. Im Ganzen hat er während seiner Reise
7200 Werst zurückgelegt und werthvolle wissenschaftliche Re-
fultate erzielt.
— In „Nature" (23. September 1880) berechnet der
Schiffsarzt H. B. Guppy nach eigenen Beobachtungen,
welche er ein ganzes Jahr hindurch in Hankau angestellt
Aus allen
hat, die Wassermenge, welche derJang-tfe-kiang in jeder
Sekunde ins Meer wälzt, zu 770000 Kubikfuß, die Masse
der mitgeführten Sedimente in Hankau zu 172 Kubikfuß
per Sekunde und zu 6 428 853 255 Kubikfuß jährlich an der
Mündung. Dadurch wird das Gebiet des Stromes (zu
650 000 engl. Qnadratmiles angenommen) in 3707 Jahren
um 1 Fuß erniedrigt. Für den Hoaug-ho liegen folgende
Angaben von Sir George Staunton aus dem Jahre 1792
vor: Wassermenge in der Sekunde 116 000 Kubikfuß; Menge
der mitgeführten Sedimente im Jahre 17 520 000000 Kubik-
fuß. Am Pei-Ho beobachtete Guppy von December 1873
bis März 1879 und fand: Wafsermenge in der Sekunde
7700 Kubikfuß; Menge der mitgeführten Sedimente im
Jahre 80 000 000 Kubikfuß. Diese Sedimente werden nach
roher Berechnung hinreichen, um in 36 000 Jahren die Meer-
bnsen von Petschili und Liau-tuug und das Gelbe Meer
nördlich von 29° nördl. Br. und westlich von 126° westl. L.
Greenw. auszufüllen. — Gegen diefe Zahlen erhebt Dr.
A. W o e i k o f, der bekannte Petersburger Meteorologe, Ein-
sprnch (Nature 4. November 1880), weil das Jahr 1877, in
welchem Guppy den Jang-tse-kiang beobachtete, ein aus-
nahmsweise trockenes gewesen ist, und weil in die Monate
December bis März, während deren er am Pei-Ho seine
Messungen anstellte, gerade der niedrige Wasserstand fällt.
Die Menge der mitgeführten Gewässer und Sedimente sei
bei beiden Strömen weit bedeutender, und es dürften schon
28 000 Jahre hinreichen, um die oben bezeichneten Theile
des Oeeans in Land umzuwandeln.
Afrika.
— Die Reisenden der Afrikanischen Gesellschaft in
Deutschland, die Herreu von Schöler, Dr. Böhm,
Dr. Kayser und Reichert, sind Anfang August 1880
von Bagamoyo auf der Zauzibar-Küste aufgebrochen, uuge-
fähr gleichzeitig mit Kapitän Ramaeckers (Chef der vierten
belgischen Expedition s. „Globus" XXXVIII, S. 80), und
ihre letzten Nachrichten gehen bis Anfang September, wo sie
in der wüsten Grenzgegend des Distriktes Ugogo, die sie
mit Ramaeckers gemeinsam durchreisen werden, augekom-
men waren. Sie haben hier und da arg von Fieber und
Dysenterie gelitten, am meisten die Herren Dr. Kayser und
Reichert. Die große Anzahl der Expeditionen, welche sich
von Zauzibar aus ins Innere begeben, haben dort die Preise
der Ausrüstungsgegenstände, Träger und Eskorte-Mauuschaf-
ten um mehr als das Dreifache gegen früher in die Höhe
getrieben, fo daß die von der Afrikanischen Gesellschaft ur-
sprünglich zur Ausführung der Unternehmung in Aussicht
genommene Summe beträchtlich hat erhöht werden müssen.
Dazu haben die letzten Expeditionen, mit Rücksicht darauf,
daß die früheren oft schon im Beginne durch Desertionen
der Begleitmannschaften in Frage gestellt wurden, ihre Ueber-
führnng an den Ort ihrer Bestimmuug in Entreprise ge-
geben. Wenn die Unternehmer auch Sicherheit gegen das
Desertiren der Leute und in gewisser Ausdehnung auch ge-
gen Kriegs- uud Feuersgefahr übernehmen, für die Füh-
rung der Karawane sorgen und die lästigen Verhandlungen
mit den Häuptlinge» über den Wegzoll führen, so müssen
sie bei dem gewagten Geschäfte doch auf einen großen Nutzen
Anspruch machen und verthenern dadurch die Uuteruehmuu-
gen erheblich.
— Um Stanley's große Entdeckungsfahrt quer durch
Afrika weiteren Kreisen zu vermitteln, hat der Gymnasial-
direktor B. Bolz dieselbe in kürzerer Form bearbeitet (Henry
M. Stanley's Reise durch den dunklen Welttheil. Nach
Stauley's Berichten für weitere Kreise bearbeitet von Dr.
Berthold Bolz. Leipzig, F. A. Brockhaus 1881). Das Buch
schließt sich dem Originale möglichst an, hat aber statt der
Form des Tagebuchs die der objektiven Erzählung gewählt
uud versucht dabei, die oft dramatische Lebendigkeit der Dar-
stellung festzuhalten. Ohne Zweifel wird diese billigere Aus-
Erdtheilen. 351
gäbe in größere Kreise dringen, als die große zweibändige
Uebersetznng des Originals, und dort der Afrikaforschung
neue Freunde gewinnen.
— Aus Rubaga, der Hauptstadt von Uganda, am
Victoria Nyanza, sind Nachrichten über die französische
katholische Mission eingetroffen, denen zufolge König
Mtefa seine Feindseligkeiten eingestellt hat und die Patres
sich wohl befinden. Nach ihrer Gewohnheit haben sie, ob-
gleich kaum der Sprache kundig, sofort mit Taufen begonnen
und ein Waisenhaus eingerichtet, in welchem sie Kinder er-
ziehen, die sie von der Sklaverei loskaufen und so zu ihrem
Eigenthum inachen. Der König erlaubt ihnen nicht, die
Hauptstadt zu verlassen, und setzt ebenso wie die Vornehmen
ihren Bitten, die Vielweiberei aufzugeben, beharrlichen
Widerstand entgegen. Eine zweite Priesterkarawane, welche
ein Mitglied bei einem nächtlichen Angriff verloren hat, ist
im Süden des Sees angelangt und bereit übergesetzt zu
werden und eine besondere Mission in Uwaia, ebenfalls
im Gebiete Mtefa's, einzurichten; eine dritte ist von Algier
aufgebrochen mit der Absicht, auf diesem Wege bis zum See
vorzudringen. Auch die römisch-katholische Mission am Tau-
ganjika-See erfreut sich der schönsten Blüthe. Eine andere
ist nach Owampo-Land in Südafrika, südlich vom Flusse
Euueue, welches uuter englischem Schutze steht, gezogen.
Endlich hat sich eine am Zambesi in dem Matabele-Gebiet
niedergelassen, die von Grahamstowu ihren Ausweg geuom-
men hatte. Die Anstrengungen der römischen Kirche, ihrer-
seits an der Eivilisation Afrikas mitzuarbeiten, sind lobens-
Werth und werden, wenn ihnen genügende Unterstützung zu
Theil wird, eine Fülle von geographischen und ethnologischen
Kenntnissen zu Tage bringen. (Athenäum 2. Oktober.)
— Die „London Missionary Society" veröffentlicht in
der November-Nummer ihres „Chrouicle" einen ausführ-
licheu Bericht des Dr. Southou über eine Zusammenkunft,
welche derselbe wegen der Ermordung der Herren Carter
und Cadenhead (s. oben S. 255) mit Mirambo gehabt hat.
Anscheinend hat dieser Häuptling keinen direkten Antheil an
der unheilvollen That gehabt. Dem Diener Kapitän Car-
ter's, Mohammed, ist es geglückt, die Tagebücher beider Er-
schlagenen sowie die wichtigsten Manuskripte uud Briefe Car-
ter's zu retten.
— Gerhard Rohlfs und Dr. Stecker haben ihre
Reise nach Abessinien angetreten und befanden sich zu An-
fang November auf der Seefahrt nach Massanah.
— Von der italienischen Expedition in Schoa
wird gemeldet, daß es dem Reisenden der Mailänder geo-
graphisch-kommerciellen Asrika-Gesellschast G. Bianchi gelun-
gen ist, die Freilassung des seit Jahresfrist in Tschalla ge-
fangen gehaltenen Reisenden Eecchi zu erlangen (vergl.
„Globus" XXXVIII, S. 94).
— Der „Vossischen Zeitung" wird aus Kairo, 28. Ok-
tober, geschrieben: Es sind vor einigen Tagen Briefe des
Dr. Junker aus dem Njamnjam-Lande angelangt,
welche, da sie den Weg über Schakka und Kordofan nehmen
mußten, infolge der Flnßverstopfnng am obern Nil drei
Monate bis Udeo (?) unterwegs blieben. Ein Brief,
datirt vom 7. Mai aus Dem-Bekir in Dar Fertit, bietet
interessante Einzelheiten über Jnnker's Zusammentreffen
mit Noruma, einem der mächtigsten Häuptlinge der Njam-
njam und der ägyptischen Regierung ergeben. Junker's
Expedition hatte diesen Gewalthaber beunruhigt, und er war
ihm entgegengezogen, um sich über die Person des Rei-
senden und die von ihm verfolgten Zwecke zu vergewissern.
Vollkommen beruhigt und als sein bester Freund ist dann
Noruma von Dr. Junker geschieden, um in seinem Lande
alles für sein Kommen in Bereitschaft zu setzen. Gessi Pa-
scha, der ägyptische Gouverneur der Bahr-el-Ghazal-Provinz,
hat dann noch einen Brief Dr. Jnnker's vom 11. Juni
aus dem Lande des Solongo (Unterhäuptling unter Noruma,
6 Grad nördl. Br.) erhalten, nnd weitere mittelbare Nach-
352
Aus allen Erdtheilen.
richten von dem Reisenden sind durch von dorther znrückkeh-
rertde Eingeborene aus Ndornma's Residenz selbst (ungefähr
6^/2 Grad nördl. Br.) Ende Juli bei Gessi eingetroffen. Die-
sen Infolge hatte Dr. Junker bei dem genannten Njamnjam-
Fürsten seine Quartiere bezogen. So sehen wir denn, Dank
der Fürsorge Gessi's, den wackern Reisenden wohlbehalten
mit allen seinen Schätzen und in der besten Verfassung bereits
tief im Innern gänzlich unerforschter Gebiete. Auf dem wei-
teru Wege nach Süden wird der Reisende das Gebiet des
Häuptlings Mbio zu durchziehen haben, der mit Ndornma
in Fehde liegt, so daß Dr. Junker infolge dessen vielleicht
auf Hindernisse stoßen wird. Allein die Erfahrung und
Rüstigkeit des Mannes, der nun ein klimatisch durchaus ge-
fahrloses Gebiet betreten hat, werden ihn schon über alle
Schwierigkeiten hinwegbringen. Auch zeigt der Humor sei-
ner Briefe, daß er sich in den besten Verhältnissen befindet.
Von geographischer Wichtigkeit ist die Nachricht, daß Dr.
Junker im Süden Dar Fertits auf Leute gestoßen ist, die
ihm klar und deutlich von einem Lande mit mohammeda-
nischen Einwohnern, Adamaua, zu berichten wußten, und
von einem großen Flusse (dem Schari), welchen sie auf dem
Wege dahin, weit im Westen, überschritten hatten. Wenn
kein unvorhergesehenes Unglück dazwischen tritt, so kann
man sich in nächster Zeit die wichtigsten Ergebnisse von die-
scr so wohlvorbereiteten und energisch ins Werk gesetzten
Unternehmung versprechen.
— Immer zahlreicher werden die Reisen französischer
Offiziere und Privatleute iu dem Gebiete zwischen Senegal
und Niger; immer deutlicher wird das Bestreben Frank-
reichs, seine Macht dort weiter auszudehnen, Befestigungen
anzulegen, Vorstudien für Eisenbahnen zu machen n. s. w.
Beweis dafür ist die Unterstützung der Reisen Soleillet's
(welcher in diesem Sommer einen neuen Versuch gemacht
hat, Timbuktu zu erreichen, aber schon nach 50 Wegstunden
durch kriegerische Verhältnisse zur Umkehr bestimmt wurde),
ferner die große Expedition unter Galliern (s. oben S. 240)
und die Erbauung eines Forts in Bafnlabe (s. „Globus"
XXXVII, S. 238), wodurch die französische Grenze um circa
200 km vorgeschoben wurde. Weitere Maßregeln sind jetzt
in der Ausführung begriffen: am 5. Oktober hat sich auf
Veranlassung des Marineministeriums unter dem Befehl des
Artillerie - Schwadronschefs Borguis-Desbordes eine
Expedition in Bordeaux nach St. Louis eingeschifft, welche
zugleich militärische und politische Zwecke verfolgt. Die-
selbe besteht aus einer topographischen Abtheilung von sie-
ben Offizieren unter dem Schwadronschef im Generalstabe
Derrien, einer „Compagnie auxiliarie d'ouvriers d'ar-
tillerie" mit vier Offizieren, und einem Stabe des obersten
Chefs von zwei Offizieren, dazu zwei Kompagnien Marine-
Infanterie und vier Kompagnien Senegal-Schützen, zusam-
meu über 700 Manu. Diese ansehnliche Macht ist bestimmt,
eine Anzahl kleiner Forts zwischen Senegal und Niger zu
errichten und zu besetzen und die Arbeiten der Astronomen,
Geodäten und Topographen zu schützen. Letztere haben einen
Strich Landes zwischen Bafnlabe am Senegal und den Städ-
ten Dina nnd Bamaku am Niger aufzunehmen, wenn
möglich sogar zu triaugulireu und die beste Route für eine
dort zu erbauende Eisenbahn zu bestimme». Befestigun-
gen sollen errichtet werden in Bafnlabe (am Zusammenflusse
des Bafing und Bakhoy), Fangalle (am Zusammenflusse der
beiden Quellen des Bakhoy), Goniaknri, Kita und Bangassi,
alle im Gebiete von Stämmen, die sich freiwillig unter
Frankreichs Protektorat gestellt haben.
— Eine ofsicielle Depesche aus St. Louis vom 10. No-
vember 1380 meldet, daß Dr. O. Lenz am 2. d. M. von
Timbuktu in Medina am Senegal angekommen ist.
Arktisches Gebiet.
— Die Nordpolarfahrt des Dampfers „Gulnare",
welchen Kapitän Howgate unter Befehl des Lieutenants
Doane abgesandt hatte (s. „Globus" XXXVIII, S. 255), ist
für dieses Jahr mißglückt. Howgate hatte im vergangenen
Jahre den Dampfer von 140 Tons in England bauen und
denselben in Amerika für die Eisschifffahrt verstärken lassen,
um in der Lady-Franklin-Bucht (im Smith-Sunde unter
circa 81" nördl. Br.) bei dem dort entdeckten Kohlenlager
eine Station zu errichten. Die „Gnlnare" verließ am 30.
Juli St. John auf Neufundland, hatte dann bis zum
8. August, wo sie Disko in Grönland erreichte, fast nnans-
gesetzt mit schweren Stürmen zu kämpfen, wurde dabei arg
beschädigt und mußte, ohne den 70. Breitegrad überschritten
zu haben, nach Neufundland zurückkehren. Zwei Mitglieder
der Expedition, Clay und der Franzose Pavy, sind in
Rittenbank in Grönland zurückgeblieben, um dort zu über-
wintern und naturwissenschaftliche Studien zu machen.
— Der „Vossischen Zeitung" wird aus Kopenhagen vom
9. November geschrieben: Die wissenschaftliche Expe-
dition nach Grönland, welche im vorigen Jahre uuter
Leitung des Premierlieutenauts Hammer und desKandi-
daten Steenstrup von hier abging (vergl. „Globus" XXXVI,
S. 336), ist am Sonnabend nach einer sehr gefahrvollen
Ueberreise wieder wohlbehalten zurückgekehrt. Die Expedition
hat im vorigen Winter wissenschaftliche Untersuchungen über
das Vorwärtsschreiten des Festlandeises bei den Eisfjorden
Omenak und Jakobshavn angestellt und sich Kenntniß über
die Bildung der Eisberge daselbst zu erwerben versucht.
Im Laufe dieses Sommers sind bisher unbekannte Fjorde
vermessen und von dem westlichen Theil der großen Insel
Disko ist eine Karte aufgenommen worden. Am Sonntag
traf auch die zweite Expedition, welche in diesem Früh-
jähre unter Führung des Premierlieutenants G.Holm nach
Grönland abging (s. „Globus" XXXVIIl, S. 48), mit dem
Dampfschiff „Fox" hier wieder ein. Es waren dieser Expe-
dition zwei Aufgaben gestellt, nämlich theils mehrere der
großen Ruinen zu untersuchen, die sich in dem _ Distrikte
Juliauehaab vorfinden, theils Aufklärungen über die Bevöl-
kernng und die Verhältnisse an der Ostküste von Grönland
zu sammeln. Diese Untersuchungen sollen zunächst zur Vor-
bcreituug einer beabsichtigten größern Expedition nach dem
südlichen Theil dieser Küste dienen. Dem vorläufigen Be-
richte, den G. Holm der Kommission für die Untersuchungen
in Grönland erstattet hat, entnehme ich Folgendes: Außer
den wohlbekannten und gut erhaltenen Ruinen bei Kakortak,
Jgaliko nnd Kagsiarsnk im Jgalikosjord hat die Expedition
bei Segsardlugtok in demselben Fjord und im Norder-Ser-
milikfjord, gerade gegenüber von Kagsiarsnk im Tnmugdtiar-
sikfjord, eine Reihe von vorzüglich gebauten und erhaltenen
Ruinen entdeckt. Auch am innern Theil des Amitsuarsuk-
sees und im Kordtortohthale wurde eine große Zahl von
Ruinen gefunden, die jedenfalls seit mehr als 100 Jahren
nicht besucht und daher den Grönländern ganz unbekannt
waren. Von acht Ruinengruppen sind Situationspläne und
Zeichnungen aufgenommen worden; auf einzelnen Stellen,
besonders bei Kagsiarsnk im Jgalikosjord, sind auch Aus-
grabuugeu vorgenommen worden, bei welchen Bruchstücke
von Schüsseln und Schalen, Ringe, Senksteine zu Lachsnetzen,
wovon einzelne mit einfachen Ornamenten, Mahlsteine, ein
Sarg und Leichenkleider gefunden wurden. Das Wetter ist
den ganzen Sommer hindurch sehr ungünstig gewesen, mit
beständigem Regen und Nebel; Leute, welche seit vielen Iah-
ren dort an der Küste wohnhaft sind, haben noch nie einen
so regenvollen Sommer erlebt.
Inhalt: Panama und Danen. V. (Mit fünf Abbildungen.) — Die geologische Expedition zum Zerawschau-Glet-
scher. — Sp. Gopeevio: Skizzen aus Oberalbanien. III. Krnja. — Fr. Hub ad: Die Frühlingsfeier der Slaven. III.
(Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Arktisches Gebiet. — (Schluß der Redaction 16. No-
vember 1380.)
Redacteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. 38. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage, betreffend Ankündigung von: „Der Rhein". Geschichte und Sagen seiner Burgen, Abteien,
Klöster und Städte von W. O. v. Horn. Verlag von Julius Niedner in Wiesbaden. — Ferner als Beilage ein
Literarischer Anzeiger.
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Band XXXVIII.
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Dr. Richard Kiepert»
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Panama und Darien.
Nach dem Französischen des Schiffslieutenants A. Reclus.
VI.
In Paya bewohnte die Expedition das Haus des Ka-
ziken und das seines Sohnes Mono („der Asse")- Kaum
war Reclns dort angelangt, als die in Panama gemietheten
Neger eine höhere Bezahlung verlangten oder sofort abzu-
reisen drohten. Wyse nahm sie beim Worte, da er nicht
mehr soviel Leute brauchte als anfangs, und schickte sie heim.
So wenig sie auch getaugt hatten, so verlangsamte ihre
Abreise doch die Arbeiten der Kommission, und Wyse mußte
seine geplante Reise nach den Mündungen des Atrato, wo-
bei ihn Reelus begleiten sollte, um acht Tage aufschieben.
Die Zwischenzeit wurde mit kleineren Ausslügen, darunter
einer Aufnahme des Flusses Cus, ausgefüllt, und am 22.
Januar aufgebrochen. Da bis zum Flusse Caquirri alles
Gepäck auf Menschenrücken getragen werden mußte, so war
dasselbe auf ein Minimum reducirt worden, und die beiden
Offiziere, die einzigen Weißen der ganzen Reisegesellschaft,
nahmen nur gerade genug mit, um nicht Hungers zu ster-
ben und nicht auf der nackten Erde schlafen zu müssen.
Ihre Begleiter waren der oben erwähnte Mono, der als
Führer diente, Evaristo, der gewöhnliche Gefährte und Ver-
tranensmann Wyse's, und zwei Caucheros von Pinogana,
Mischlinge von einer Negerin und einem Indianer — die
parallele Kreuzung ist, nebenbei bemerkt, hier sehr selten,
weil die Indianerinnen die Neger oder guacas, wie sie sie
nennen, aufs Tiefste verachten. Für diefe fechs Personen
wurden im Ganzen 120 Pfund mitgenommen, von denen
Evaristo mehr als die Hälfte schleppte, während Mono in
seiner Häuptlingswürde sich nur zum Tragen eines Jnstru-
mentes und einer Flinte bequemte.
Globus XXXVIII. Nr. 23.
Der Pfad der Eingeborenen, der auch hier, wie so viel-
fach in Südamerika, den stolzen Namen „camino real" füh-
rend , Paya mit der „embalsadera" des Cucarica oder
Caquirri (Ort, wo der Fluß für eine Piroge schiffbar
wird) verbindet, überschreitet die Kammhöhe der Eordillera
in einem Passe, der zwar höher ist, als der von Tihnle, aber
auch bequemer. Denn beim Tihule kommt man gerade auf
einen Fall des Rio Nabulquia von vollen 30 m Höhe hin-
aus, uud man kann diesen Abstnrz nur passiren, indem man
sich an den Lianen und hervorstehenden Wurzeln der Fels-
wand hinabläßt und dann im Flußbette selbst bis an die
Brust im Wasser weiter watet. Ans dem andern Wege
geht es bis zur Wasserscheide wechselnd steil bergab und
bergauf. Von dem Gipfel einer Loma, welche Wyse behufs
seiner Aufnahme hatte abholzen lassen, genossen die beiden
Wanderer einen prächtigen Blick aus die majestätischen Cor-
dilleren. Von der Wasserscheide an ging es dann sanft
hinab zum Rio Tulegua; Dank dem herrschenden Nord-
winde war die Temperatur frisch und sehr angenehm. Die
Vegetation war wegen der größern Feuchtigkeit weit üppiger
und großartiger, als im Thale des Paya, und riesige Quippos,
welche Reclus seit dem Tnyra nicht gesehen hatte, krönten wie-
der die Höhen. Am Nachmittage erreichten sie den Tulegua
und mußten in dem felsigen glitschigen Bette dieses Baches
noch zwei Stunden abwärts waten, ehe sie den Caquirri
unterhalb einer Stromschnelle erreichten. In einem ver-
lassenen Rancho wurde übernachtet. Am nächsten Morgen
fuhren sie in einer Piroge den Caquirri, einen der hübsche-
sten Flüsse, die Reclus unter den Tropen kennen gelernt
45
354 Panama
hat, hinab. Es wechseln in seinem Laufe Stromschnel-
len und tiefe Strecken ruhigen klaren Wassers; Helico-
nien, Bromelien und prachtvolle Blattpflanzen bedecken
seine Ufer, nnd die Bäume des Waldes, von keinen Schling-
pflanzen erdrückt, entfalten sich in ihrer vollen Kraft, so daß
nur hier und da ein Sonnenstrahl ihr dichtes Laub durch-
dringt. Man hätte sich anf einen Fluß in gemäßigten Zo-
nen versetzt glauben können, wären nicht die nackten schwar-
id Danen.
zen Gestalten und der Indianer Mono dagewesen, der vorn
im Boote sitzend zuweilen einen Fisch mit seinem Speere
erbeutete. Der Wald, welcher am Paya still und tobt ist,
zeigt hier mehr Leben: man sieht Affen, Truthühner und
Papageien. Allmälig wird der Fluß breiter, die Strom«
schnellen seltener und weniger gefährlich, die glatten Strecken
des Wasserlauses länger, und es treten wieder Alligatoren
auf. Gegen Abend wurde auf einer Sandbank das Lager-
Fahrt auf dem i
aufgeschlagen und die Jagdbeute Mono's verzehrt, darunter
ein Affe, der den Europäern nicht gerade schlecht schmeckte,
aber wegeu der grünlichen Farbe der Haut und seiner
menschenähnlichen Gliedmaßen doch etwas Widerwillen ein-
flößte. Zum Schlafen ließen die Moskitos die Reifenden
nicht kommen, trotz der Moskitonetze und eines dickqualmen-
den Feuers.
Weiter hinab wird der Fluß gelblich von Farbe und
zunehmend schmaler; fortgeschwemmte Baumstämme werden
häusiger und hindern mehr und mehr die Fahrt. Schließ-
lich stößt man auf „Palissaden", Anhäufungen von Stäm-
men von 100 in Länge und 8 bis 10 in Höhe über dem
Wasserspiegel, über welche die Piroge hiuweggezogen werden
muß — oder, wenn das Hinderniß zn steil ist, stößt man
das Boot ins Wasser hinunter, fängt es jenseits wieder auf,
schöpft es aus und beladet es von Neuem. Zuletzt erreichte
mau flaches, sumpfiges Laud und hohen, finstern, stillen
Wald, zwischen dessen Bäumen das Boot geräuschlos stromab
356 ' Panama
glitt; man näherte sich den unermeßlichen Sümpfen, welche
der Atrato an seinem Mündungsdelta bildet. Stetig zwei-
gen sich nach rechts und links Kanäle ab, so daß der Fluß
immer schmaler wird und nur einige Ceutimeter Tiefe be-
hält. Das Boot gleitet über Schlamm dahin, bleibt auch
oft darin stecken oder an Wurzeln und Zweigen hängen, so
daß Insekten und scheußliche Spinnen in Masse bei dem
Versuche, es loszumachen, herabregnen. Ein nur mit Pan-
gamoas-Palmen bewachsener Sumpf bildete den Beschluß
dieses abscheulichen Waldes. Der Stiel dieser Musacee ragt
kaum über den Wasserspiegel hervor, und unmittelbar über
demselben breitet sich das riesige Blattbüschel aus; die lan-
tb Darien.
gen abgestorbenen Wedel liegen quer über dem Strome, den
seit langer Zeit kein Boot befahren hat, so daß sich die Rei-
senden mit dem Machete Bahn brechen müssen. Plötzlich
hört auch diese Scenerie auf: eine vollständige Ebene tritt
an ihre Stelle und nur im fernsten Hintergrunde erheben
sich einige bläuliche Berge. Auf 60 Kilometer weit ist zur
Rechten und Linken alles überschwemmt, dabei aber so dicht
mit Kraut, Schilf und kleinen Manglebäumen bewachsen,
daß eine platt aufs Wasser gelegte Rnderstange einen Men-
schen zu tragen vermag und alles Rudern ein Ende hat.
Unglaublich reich ist hier das Thierleben, zahllos die Scha-
ren von Vögeln jeder Größe, Manatis (Seekühe) und Kai-
Schiffslieutenant L. N. B. V
mans. Spät erst, um 8 Uhr Abends, erreichte man die
Loma de Cristal, den letzten Ansläuser eines Cordilleren-
Spornes und neben der weiter abwärts gelegenen Loma
Vieja (s. die Karte S. 307) die eiuzige trockene und feste
Stelle weit und breit; dort erfreuten sich die Reisenden
einer ziemlich ruhigen Nacht, weil ein Feuer die Moskitos
fern hielt, an welchem zwei Manati-Jäger ihre in lange
Streifen zerschnittene Beute trockneten. Mühsam ging es
am folgenden Morgen dnrch die dichte schwimmende Vege-
tation vorwärts, bis der gelbe, von Palmen eingefaßte
Atrato erreicht war, der an dieser Stelle, bei derEinmün-
duug des Caquirri, mehr als 600 m breit ist und von dem
Nordwinde zu schäumenden Wellen aufgerührt wurde. Hier-
durch füllte sich die Piroge mit Wasser und die Leute ver-
e. (Nach einer Photographie.)
weigerten die Weiterfahrt. Zum Glücke war ein Boot mit
Fischern in der Nähe, deren einer eine große barquetona
besaß, welche gerade nach Pisisi am Ostnser des Golfes
von Uraba unterwegs war. Gegen mäßiges Entgelt fanden
die Reisenden Unterkunft und Passage auf derselben und
konnten sich nun von der anstrengenden viertägigen Boot-
fahrt erholen, wo sie mit gekreuzten Beinen und ohne sich
anlehnen zu können unbeweglich hatten sitzen müssen, um
ihre Nußschale nicht zum Kentern zu bringen. Langsam
ging es freilich vorwärts; keine Hand legte sich an die Ru-
der und mitunter war der Nordwind stärker als die Strö-
mung, so daß das Fahrzeug z. B. an der Gabelung des
Atrato-Deltas einen halben Tag aufgehalten wurde.
Ein illustrirtes Werk über Skandinavien und Großbritannien.
357
Ein illustrirtes Werk über Ska
Unter den Prachtwerken für den diesjährigen Weihnachts-
tisch verheißt das unten mit vollem Titel angeführte, von
welchem die erste Lieferung vorliegt, ein hervorragend inter-
essantes und werthvolles zu werden. Zwar nicht so sehr
durch den textlichen Inhalt, welcher bei solchen Büchern
naturgemäß nicht die Hauptrolle spielen kann, wenn anch
die Verlagsbuchhandlung Sorge getragen hat, „daß jedes
einzelne Gebiet zu schildern kundigen Männern obliege,
deren literarisches Ansehen und längerer Aufenthalt an Ort
und Stelle dafür bürgt, daß dies Jllustratiouswerk größten
Stils kein bloßes „Bilderbuch" werde." Der Hauptreiz
und der Hauptvorzug der „Nordlandfahrten" besteht aber
doch in mehreren Hundert uns verheißenen Holzschnitten nach
Originalzeichnungen, welche von hervorragenden Künstlern
an Ort und Stelle eigens für dies Werk aufgenommen
worden sind. (Auf denen der ersten Lieferung begegnet uns
meist Whymper's wohlbekannter Name.) Wir erhalten da-
mit eine Fülle neuer Anschauungen, wie sie uns das bloße
schildernde Wort oder die Karte nie ersetzen können. Denn
nur die Illustration vermag dort einzutreten, wo letzteren
beiden die Kraft versagt, richtige Vorstellungen im Geiste
des Lesenden und Lernenden zu erwecken, eine Erkenntniß,
welche in letzter Zeit sich mehr und mehr Bahn bricht, wie
eine Anzahl neuerer geographischer Lehrbücher, allen voran
dasjenige von Elises Reclus, beweist. Der (unseres Wis-
sens nicht große) Schatz vorhandener guter Abbildungen ans
Skandinavien und Großbritannien wird durch das in Rede
stehende Werk einen ganz bedeutenden Zuwachs erhalten,
und es wird in Zukunft leicht fein, sich von wichtigen Ge-
bieten jener Länder eine Anschauung zu verschaffen, wie sie
sonst nur eigenes Reifen zn vermitteln im Stande ist.
Indem wir der Verlagsbuchhandlung auch hier unfern
Dank für Überlassung zweier der großartigsten norwegischen
Landschastsbilder aussprechen, welche besser als viele Worte
für den Werth der Publikation zeugen, lassen wir die Be-
schreibung derselben als Probe des begleitenden Textes folgen.
*
* *
„Wie Norwegen überhaupt, so ist der Hardangerfjord
ganz besonders die Heimath der großen Katarakte, die sich hier
vornehmlich durch ihren Wasserreichthum auszeichnen: die
weiten Hochebenen, in welche der Fjord sich einzwängt,
begünstigen die Bildung größerer Gewässer, und sie geben
der ernsten, schweigsamen Landschaft überall ein freudig
sprudelndes Leben. Ueberhaupt aber zeigt die Natur des
Hardanger nicht die harte düstere Strenge wie z. B. der
nördlichere, gewaltigere Sognefjord, feine stille Größe ist ge-
paart mit mildernder Anmuth. Die Berge zwar zeigen auch
hier nicht die schön geschwungenen, phantasievollen Formen
der Schweizer Gipfel, man sieht mehr mauerartige, geschlos-
sene Wände mit breitem obern Rand, denn es sind nur
die schroff abfallenden Kanten der großen Hochebenen; über-
Nordlandfahrten. Malerische Wanderungen durch
Norwegen und Schweden, Irland, Schottland, England und
Wales. Mit besonderer Berücksichtigung von Sage und Ge-
schichte, Literatur und Kunst. Herausgegeben von Prof. Dr.
A. Brennecke, Francis Broemel, Dr. Hans Hoffmann, R. Over-
länder, Ioh. Proelß, Dr. Adolf Rosenberg, Hugo «scheu!,e,
H. von Wobeser. Leipzig, F. Hirt und Sohn. 18 bis 24 mo-
natliche Lieferungen ä 2 M.
ldinavien lind Großbritannien').
all aber, wo die Abhänge weniger jäh sind, haben sie sich
geschmückt mit leuchtendem Grün; bald steigen dunkle, stolze
Tannenwälder hoch hinaus, bis die eisig unerbittliche Natur
ihrem kühnen Streben ein gebieterisches Halt zuruft, bald
spiegeln sich lichtgrüne Wiesen, mit Obstbäumen und Men-
schenwohnungen vertraulich besetzt, in der schönen, klaren
Fluth. Unvergleichlich klar ist diese Fluth: in einer Tiefe
von mehr als hundert Fuß erkennt man noch deutlich den
steinigen Meeresboden. Den ganzen Tag führt man so in
Gemächlichkeit dahin wie auf einer ununterbrochenen Kette
der herrlichsten Alpenseen. Der innerste, östliche Winkel
des Hardanger führt den besondern Namen Oifjord, und
hier Verlaffen wir bei der Station Vik das Schiff, um eines
der glänzendsten Kunststücke der norwegischen Natur, den
landeinwärts gelegenen, vielberühmten Vöringfos, aufzu-
fuchen und zu bewundern. Wir gelangen zunächst nach kur-
zer Wanderung an den Oifjordsee, über den uns ein Boot
setzt, denn für einen Pfad lassen die steilen, kahlen Berge
keinen Raum. Weiter führt uns ein Fußweg durch eiue
wüste Schucht oder eigentlich nur einen schmalen Riß im
schroffen Felsen, bis wir an den Fuß des Kataraktes gelau-
gen, der sich mit mächtiger Wasserfülle aus einer senkrechten
Höhe von fast 150 Metern in einen erschreckend wilden,
finstern Schlund niederstürzt und wie in verzweifelter Angst,
der grauenhaften Enge zu entrinnen, sich als zitternde Dampf-
faule wieder emporbäumt zu dem schmalen Streifen blauen
Himmels, der über die dunklen Felswände herabscheint. An
wilder Furchtbarkeit des Falles selbst wie der ihn umgeben-
den Felskoulissen hat der Vöringfos selbst im Norden schwer-
lich seines Gleichen, das ohrenbetäubende Tosen der sausen-
den Wassermassen in der engen Schlucht vereinigt sich mit
dem Anblick der wüthend bewegten, kolossalen Schaumpyra-
mide zu einem wahrhaft erschütternden, im Anfang fast allzu
schreckhaften Eindruck.
Nördlich vom Hardanger schneidet der Sognefjord
fünfundzwanzig Meilen tief in das Land. Die kürzeste
Verbindung zwischen beiden Gewässern bildet der Weg von
Eide über Vossevaugen, eine gute Karrioltagereise von etwa
elf deutschen Meilen, landschaftlich sehr schön und von wunder-
barer Mannigfaltigkeit. „Hehre Alpenfcenerien mit fchnee-
gekrönten Bergen und rauhen Schluchten, still freundliche
Thäler, wie sie Thüringen schmücken, kahle, steinige Hochebe-
nen, klare Seen, ungezählte schäumende Wasserfälle, stille
Tannenwälder, wenige arme Menschenwohnungen — im
buntesten Wechsel zieht es vorüber, bergauf und bergab. —
Wer in der Frühe von Eide am Gravenfjord aufgebro-
chen ist, wird doch nicht vor Abend die letzte Station des
Binnenlandes, Stall)eim, erreichen: diese Stunde aber
ist in der That die alleruuglücklichste für den vollen Eindruck
der hier beginnenden, über die Maßen großartigen Scenerie.
Stalheim selbst ist eine Gruppe unsäglich elender Hütten,
hochgelegen, unfruchtbar, und fern vom nährenden Wasser:
man begreift kaum, wovon diese Menschen leben, sie sehen
aber auch wahrlich nicht nach einem behaglichen Genuß des
Daseins aus.
Von der Station bis zur Kante einer jäh abstürzenden
Bergwand ist nur ein ganz kurzes Stück Weges. Man
mag hier immerhin auf das Außerordentlichste schon vorbe-
reitet sein, dennoch ist die Ueberraschnng des Plötzlichen Blickes
358
Ein illustrirtes Werk über Skandinavien und Großbritannien.
in die jähe finstere Tiefe des furcht-
bar wilden Närödals unvermittelt
und absolut überwältigend. Das ist
eine Natur, wie die aufgeregteste
Phantasie sie sich im hohen Norden
vorstellt, das ist eine Natur, wie sie
die Einbildungskraft der alten Nor-
männer befruchten mußte, um jene
Sagen und Lieder der Edda mit ihrer
Riesenhaftigkeit, ihrer trotzigen Un-
geheuerlichkeit zn gestalten.
Eine wunderbar gewnndene, für das Auge fast unbegreifliche
Kunststraße, die Stalheimsklev, die etwa au dem Schweizer
Gemmipaß ein Seitenstück hat, führt von der steilen Höhe rasch
zur tiefen Thalsohle, zn jeder Seite des Herabsteigenden schießt
ein tosender, prachtvoller Katarakt in den Abgrund, der Stalheims-
fos und der Salveklevfos, eine schöne, wild lebendige Staffage des
majestätisch ernsten Bildes. Unten vom Grunde der engen
Schlucht, die das Wasser der beiden Fälle vereinigt in lärmendem
Lauf durchschäumt, steigen nackte Felswände siebenhundert Meter-
hoch kolossal, senkrecht empor, scheinbar nach vornüber geneigt,
als drohten sie, schwarze, wilde, gespenstige Niesen, dem er-
Der Vöringfos.
360 SP. Gopeevio: S
bcirmlichen Menschenkinde da unten Tod und Verderben.
Die dämmernde Nacht, sonst so licht und herrlich, hier wird
sie fast unheimlich und beängstigend, ihre tieferen Schatten
steigern das finster großartige Bild der schroffen, enggeschlos-
fenen Felsenmauern ins Dämonische. Immer näher, immer
drohender scheinen diese aneinander zu rücken: und daß ihr
Drohen wirklich kein völlig leeres ist, zeigen die Spuren
ganz frischer Verheerungen der Sturzbäche, welche hier und
dort wüste Steinmafsen als wilde Grüße der oberen Regio-
nen mit heruntergerissen und wirr über den gebahnten Weg
bis in den Strom geschleudert haben. Knirschend und pol-
ternd fährt der Karren über das rauhe Geröll hinweg; auf
Minuten verschwindet Alles dem Auge in dem schwarzen
Schatten dichter Erlengebüsche, welche die Straße begleiten
und zuweilen gänzlich überdecken, um so furchtbarer tritt
dann plötzlich wieder das große Bild hervor. Aus der
Felsemnasse löst sich der abenteuerliche Berg Jordalsnnten,
ein fast isolirter, mächtig steiler, runder Kegel, wie ein nor-
discher Recke unnahbar und finster. Leicht mag den Wan-
zen aus Oberalbanien.
derer hier ein phantastisches Grauen überkommen in der
schauerlichen Größe dieser Landschaft; das Raufchen des
Stromes und der zahllosen unsichtbaren Sturzbäche scheint
anzuschwellen wie das Donnern des empörten Meeres, die
Felswände zu wachsen in dem grauen Schleier der Mitter-
nacht: da thnn sich abermals die überhängenden Erlenzweige
auseinander, und hoch über den schwarzen Mauern erblickt
man wie einen tröstlichen Morgengruß die herrlich leuchten-
den Schneefelder der fernen, schon von ahnungsvollem Roth
umstrahlten Bergzinnen.
Wir erreichen das Oertchen Gndvangen und damit wie-
der die Salzfluth, den Näröfjord, einen südlichen Zweig des
Sognefjords. Die Landschaft von Gudvangen ist noch ganz
verwandt derjenigen des innern Närödals, aber doch nicht
mehr fo schauerlich düster trotz gleiche^ Höhe und Schroff-
heit der Berge, der ruhige Wasserspiegel mildert die Ein-
drücke und auch die menschlichen Wohnstätten tragen ein
wenig dazu bei, so ärmlich sie sind."
Skizzen aus
Von Spir
Le» (Lesch
Mag man sich dieser Stadt von Norden oder Süden
nähern, immer wird sie, resp. ihre Citadelle, schon von fern
einen malerischen Anblick gewähren. Von der Stadt selbst
wird man anfangs freilich wenig sehen. Um ein Gesammt-
bild derselben zu erhalten, muß man den gegenüberliegenden
Felsen zwischen Rnmeka und dem Antonskloster besteigen.
Man braucht sich dann blos zu wenden, um auch das Meer
in der Ferne zu erblicken.
Ich habe Les von allen drei Seiten gesehen, und jedes-
mal bot es mir ein anderes Bild. Das erstemal kam ich
von Kruja. Ich sah vor mir den Ausläufer eines hohen
Gebirges, des Malj Veles. Er besteht aus zwei Kup-
Pen. Die rechte gleicht einem Zuckerhut und trägt ein mo-
hammedanifches Kloster (Tekks), von dem sie auch den Na-
men hat. Die linke Kuppe erhebt sich nahe dem Drin
und hat einen abgeplatteten Gipfel, der von der Citadelle
gekrönt ist. An seinem Fuße, links, zwischen Berg und
Fluß befindet sich der Bazar. Bevor ich in diesen einritt,
gewahrte ich zur Rechten die Zigeunerstadt. Jenseits des
Drin leuchteten die Kirche und das Kloster S. Antonio
herüber, das den Fluß einschließende Schilf und Gebüfch
schloß die riesige Ebene links ab.
Anders zeigte sich LeZ, als ich von Lkodra kam. Links
verschloß mir die halbmondförmige Bergkette Tra^anj-
Kalmeti-Malj Veles jede Aussicht auf das Innere
Miredita's. Die Gegend bis an den Fuß dieser Bergkette be-
stand aus einer riesigen, äußerst anmnthigen und srucht-
baren Ebene, auf welcher sich zahlreiche Dörfer erhoben,
die bischöfliche Residenz Kalmeti in der Mitte. Rechts
zog sich das schilfbewachsene mit Alleen und Hecken um-
säumte Drin-Ufer dahin, vor mir tauchte die Citadelle von
der nördlichen, weniger imposanten Seite ans. Am Fuße
des Berges, mehr nach links zu, entdeckte ich die versteckten
Häuser der eigentlichen Stadt. Da ich mich auf der Flucht
beralbanien.
Gopöevic:.
Aleffio).
befand und nicht viel Zeit zu landschaftlichen Studien hatte,
hielt ich diese Neustadt für ein entfernteres Dorf, obwohl ich
vor drei Monaten daselbst übernachtet hatte. Meinen Irr-
thnm wurde ich erst gewahr, als ich aus dem dritten Punkte
angekommen war, dem Felsen, westlich von Le« (Lesch),
am andern Drin-Ufer und die Stadt fachte.
Meine Blicke fanden zwar den kleinen Bazar, die Vor-
stadt, das Zigeunerdorf und selbstverständlich die Citadelle,
aber die Stadt konnte ich nicht entdecken. Erst aus mein
Befragen theilte mir nlein Führer mit, daß ich von diesem
Punkte aus die Neustadt nicht sehen könne, da sie hinter
dem Citadellenberge versteckt liege; ich hätte sie jedoch eine
Viertelstunde vorher gesehen.
Die Zigeunervorstadt umfaßt etwa 29 elende Strohhütten
und beherbergt gegen 200 Insassen, sämmtlich Schmiede.
Sie liegt am südlichen Fuße des 407 in hohen Tekke-Berges.
Der Bazar, den man zunächst betritt, bildet eine einzige
lange Straße, welche etwa 80 Buden enthält. Mir kam
deren Inhalt ärmlicher vor als in den anderen albane-
fischen Bazars, und auch die Zahl der Käufer schien mir
sehr bescheiden zu sein. Die Manufakturen und Kolonial-
waaren werden von Lkodra bezogen und zur See blos
Salz eingeführt. Der Drin ist nämlich für Fahrzeuge von
30 bis 40 Tonnen bis Les schiffbar. Die Ausfuhr be-
schränkt sich auf Mais, Sumach, Fustelholz (Scodano, Färbe-
holz), Bau- und Brennholz. An Sonntagen soll der Bazar
belebter sein, da dann Markttag ist und besonders viele
Mirediten den Platz besuchen. Diese bringen auch Vieh,
Felle, Wolle, Hanf, Flachs, Wachs und Häute von Bären,
Füchfen und Hasen zum Verkauf. Die Kaufleute von
Lkodra und Dnrazzo schiffen das Erstandene auf den
Flußfahrzeugen nach Medna ein, wo bereits größere
Schiffe zur Weiterverfrachtung harren.
Sp. Gopeevio.-
An den Bazar stößt die Altstadt an, welche eine An-
sammlung elender verfallener Baracken ist und kaum 200
Einwohner beherbergen mag. Wenn ich nicht irre, wird
sie als „varos" bezeichnet und von den anderen Stadt-
theileu unterschieden. Die Straßen sind eng, schmutzig und
kothig, wie in allen türkischen Städten.
Außerhalb des VaroZ befindet sich die Neustadt, woselbst
alle Kaufleute und halbwegs anständigen Leute wohnen.
Sie besteht aus etwa 300 Häusern, welche sich alle gleichen.
Jedes ist einstöckig, von hohen Mauern umgeben und von
dem Nachbarhause isolirt. Viele enthalten auch Gärten,
Höfe, sogar Quellen. Bon Obstbäumen umgeben und ziem-
lich rein gehalten, machen sie einen angenehmem Eindruck
als die anderen albanesischen Dörfer. Da der größte Theil
der Bewohner Mohammedaner sind, dürfen wir uns nicht
wundern, mehrere kleine Moscheen zu erblicken. Die ganze
Stadt mag etwa 2000 Einwohner zählen, von denen ein
schwaches Drittel Katholiken. Wenn Hecquard der Stadt
3500 Einwohner giebt, so kommt dies daher, daß er die
Dörfer Merkinje mit 1100 und Kalmeti mit 1000
mitzählt.
Die vier eben beschriebenen Stadttheile gruppiren sich
alle um die Felsenkuppc, welche die Citadelle trägt. Diese
liegt jetzt in Ruinen und entbehrt auch des militärischen
Werth es, da man von der östlichen Höhe in sie hineinsehen
kann. Zur Zeit der glatten Geschütze hatte dies allerdings
keinen Nachtheil. Der Hügel ist 530 Fuß hoch und trug
einstens das berühmte Akrolissos. Die Mauern der Cita-
delle sind im Innern so kunstfertig gebaut, daß man Mühe
hat, die Fugen der einzelnen Steine zu erkennen. Die änße-
ren Mauern scheinen noch gut erhalten zu sein. Sie bestehen
aus einem von runden und viereckigen Thürmen slankirten
Walle. Der Haupteingang besteht aus einer Reihe Hohl-
gänge und wird von zwei viereckigen Thürmchen vertheidigt.
Im Innern der Citadelle stehen noch drei Häuser, welche der
Besatzung Unterkunft gewähren, die sich einst ans 20 Mann
belief, jetzt aber auf vier Infanteristen und zwei Artilleristen
reduzirt wurde. Da die Bestückung aus drei alten Feld-
gefchützen besteht, kommt auf jedes derselben eine Bedienung
von zwei Mann.
Außer diesen Häusern giebt es noch eine wohlerhaltene
Cisterne und verschiedene alterthümliche Mauerreste im In-
nern der Citadelle. Auf dem einzig noch vom alten Pa-
laste übrig gebliebenen Mauerbogen gewahrt man noch drei
Schilde von Marmor. Der eine zeigt uns das mexika-
nische Wappen, einen Adler mit einer Schlange, welches
übrigens auch' jenes des Skanderbeg gewesen sein soll.
Aus dem zweiten sehen wir einen kletternden Löwen, das
dritte enthält eine männliche und eine weibliche Gestalt,
beide mit Heiligenschein und durch das Doppelkreuz von
einander getrennt.
Les ist Hauptort der gleichnamigen Diöcese, doch re-
sidirt der Bischof in dem nahen Kalmeti, wo er von feinem
Nachbar, dem Bischof von Zadrima (Sappa), der in
Nertsati wohnt, keine drei Stunden weit entfernt ist.
Früher besaß Les fünf Kirchen. Die Kathedrale war dem
Heil. Nikolaus geweiht und foll in ihr Skanderbeg begra-
ben worden fein. Die Türken durchwühlten fein Grab
und zerstückelten seinen Leichnaui, um die einzelnen Glieder
als Amulete zu tragen. Die Kathedrale verwandelten sie
in eine Moschee; da jedoch der einstürzende Thurm drei
Derwische tödtete (und einer andern Tradition zufolge drei
Muefins während des Betens vom Minaret stürzten), ver-
ließen die abergläubischen Türken die Moschee, und heute zei-
gen bloß noch wenige Steine die Stelle an, welche sie einst
inne hatte. Von den anderen Kirchen sind zwei spurlos
Globus XXXVIII. Nr. 23.
Skizzen aus Oberalbanien. 361
verschwunden, die Georgs- und Sebastian-Kirche dagegen in
Moscheen verwandelt.
Les, dessen Name zugleich die albauesische Uebersetzuug
von „Alexander" ist, hat natürlich diesen Namen nicht
von dem Heiligen bekommen, da es schon im Alter-
thum Lissas hieß^). Den illyrischen Königen wurde es
von Philipp dem Macedomer entrissen; aber unter
Gentius kam es wieder an Jllyrien und wurde sogar Re-
sidenz. Nach dem Fall dieses Königs (163 v. Chr.) bc-
mächtigten sich die Römer der Stadt; bei der Theilnng
des Reiches kam sie zur östlichen Hälfte. Im Mittelalter
wechselte es, gleich den anderen albanesischen Städten, mehr-
mals seinen Herrn, bis es endlich 1386 venezianisch wurde.
1443 wurde daselbst die große Versammlung aller albane-
sischen Despoten abgehalten, auf welcher man Skanderbeg
zum Feldhauptmann der vereinigten Streitkräfte ernannte.
Während seines Zwistes mit den Venezianern belagerte er
Les (1448) und gab es erst nach dem Frieden zurück.
1467 starb er daselbst. 1478 wurde es vom Sultan
Mohammed II. erobert und die Kirchen in Moscheen ver-
wandelt. 1501 bemächtigten sich jedoch neuerdings die
Venezianer dieser Stadt, doch verlangte Sultan Bajasid fünf
Jahre später deren Rückstellung und, da die Venezianer
wegen Alessio nicht nochmals einen Krieg führen wollten,
gaben sie nach. Allein sie nahmen vorher alle Einwohner
sammt deren ganzen Besitz mit sich und zerstörten die Festungs-
werke.
Es muß bemerkt werden, daß damals wohl die Festung
Akrolissos an der Stelle der heutigen Citadelle stand, daß
aber die Stadt Alessio sich in einem jetzt nicht mehr vor-
handenen Delta der Drin-Mündung befand. Offen-
bar ist die alte Stadt durch Anschwemmungen gänzlich be-
deckt worden; möglicher Weise stand sie dort, wo ich auf
dem Wege uach Medua eine ungeheure Lagune passirte,
über welche eine endlose Holzbrücke führte.
1570 machte noch der venezianische Graf von Dnrazzo
einen Versuch Les wegzunehmen, doch erreichte er nur die
Verbrennung einer Vorstadt. Seither ist Les unangesoch-
ten im Besitz der Türken geblieben, welche daselbst einen
Mudir und einen Kadi unterhalten.
V.
Drivasto.
In der Lustlinie zwölf Kilometer nordöstlich von Lkodra,
von wo sie zu Pferd in anderthalb bis zwei Stunden erreich-
bar siud, liegen die Ruinen des einst hochberühmten Dri-
v asto. Es war langeZeit ein Hauptort Oberalbaniens und
Sitz von Bischöfen, deren man bis 1336 nicht weniger als
35 zählt. 1332 nennt es der französische Mönch Bro-
card als eine der sechs von „Lateinern", d. i. Katholiken,
bewohnten Städte. Farlati spricht von einem unter den
„Instrumenta miscellanea" des geheimen Vatikanischen Ar-
chivs existirenden Diplom des Kaisers Isaak Angelos, wel-
ches Michael Angelos und seinem Sohne Andreas,
„Herzögen von Drivasto", den Titel von „Grafen von Pas-
trovie (Paschtrovitsch) verleiht und ihnen die Privilegien,
Rechte und Würden bestätigt, die Kaiser Leo I. der Fami-
Die auf Diodor's Erzählung beruhende gewöhnliche
Angabe, wonach Lissos zum erstenmal 385 v. Chr. als
syrakusische Kolonie des altern Dionysios genannt werden soll,
ist jetzt nach besserer Lesart bei dem griechischen Historiker
dahin zu berichtigen, daß in jener Stelle von der Insel Jssa
(jetzt Lissa) die Rede ist. Red.
46
362 SP. Gopoevio: Ski
lie Angelo verliehen. Darüber sagt der Kaiser wörtlich:
„Wie wir wissen haben die Angeli Drivasto gegründet und
dort erbaut, wo es jetzt steht, und auf ihre Kosten die Ka-
thedrale sowie die Häuser der Canonici errichtet und mit
allem Röthigen versorgt."
Nach Du Cange war zur Zeit des letzten serbischen
Nemanja (Uros) ein Andreas, welcher von einer be-
rühmten spanischen Familie abstammte, Herzog von
Drivasto. Er starb 1366 und ließ sein Reich seinem Sohne.
Vergleicht man mit dieser Angabe die Behauptung des
Barletius, der Herzog von Drivasto habe (1443) Pe-
ter Hispanus geheißen, so könnte man sie für richtig hal-
ten. Doch geht aus den vom Professor Hopf entdeckten
Aufzeichnungen des Despoten Musaki hervor, daß des
Herzogs Name Peter Spanos gelautet habe. Nun be-
beutet aber Spanos im Neugriechischen einen bartlosen
Menschen nnd dient als solcher Ausdruck häufig anstatt
eines Familiennamens; man könnte also leicht beide Anga-
ben mitsammen vereinigen, wenn nicht der ausfallende Un-
terschied im Vornamen läge. Hecquard erzählt nämlich
(ohne die Quelle zu nennen), daß der Herzog Andreas
Angelo von Drivasto,Abkömmling der byzantinischen Kai-
ser, 1440 sich freiwillig unter venezianische Oberhoheit ge-
stellt habe. Acht Jahre später, während Paulus Angelus
Bischof von Durazzo war, schlug Andrea Angelo den Angriff
Hamsa's auf Drivasto ab. Letzterer, Nesse Skauderbeg's,
war nämlich von diesem mit dem Kommando von Barlese
betraut worden, hatte jedoch eigenmächtig Drivasto angegrif-
fen. Der Herzog machte einen unerwarteten Ausfall,
brachte die Albanefen in Verwirrung und zersprengte sie
vollständig. Hamsa rächte sich dafür, indem er die Vor-
städte verbrannte und das Land verwüstete.
Der Angriff Hamsa's ist allerdings historisch erwiesen,
dagegen reimt sich mit Hecquard's Angaben weder Dr. Jire-
eek's Behauptung, Drivasto sei 1396 venezianisch ge-
worden, noch des Despoten Musaki Erzählung, Peter Spa-
nvs habe vier Söhne gehabt, Alexias, Bo^idar, Uros
uud Mirko, von denen der erste nach Jireeek 1467 Her-
zog von Drivasto war. (Auffallend sind die rein serbi-
schen Namen der vier Söhne.)
Den Fall Drivastos erzählt Barletius (Zeitgenosse) auf
folgende Weise: „Die Leute von Drivasto waren tapfer und
ausdauernd. Während die Türken Scntari belagerten,
machten sie fortwährend Ausfälle, bei Nacht um das Lager
zu überfallen, bei Tage um Pferde und Lastthiere zu erbeu-
teu. Der Sultan, hiervon in Kenntniß gesetzt, benutzte einen
Augenblick, da eben die Besatzung auf einer Razzia begrif-
fen war, um dem Seriasker von Anatolien zu befehlen, er
solle am 3. August 1477 Drivasto einschließen. (Mit
dieser Jahreszahl stimmt obigen Angabe nicht überein,
denn Scntari wurde erst am 8. Juni 1478 eingeschlossen.
Entweder soll es also heißen 3. August 1478, oder die
Erstürmung von Drivasto fand vor der Belagerung von
Scntari statt. Ich halte ersteres für richtiger.)
„Der Seriasker that, wie ihm befohlen und griff die
schwächste Seite der bloß von Greisen verteidigten Wälle
an. Nach 16 Tagen waren sie zerstört und der Sultan
kam in eigener Person heran. Am 1. September um 4
Uhr Morgens stürmten die Barbaren auf ein Zeichen des
Sultans von allen Seiten gegen die Stadt und bemächtigten
sich derselben. Die überdies noch durch Pest decimirten Be-
lagerten vertheidigten sich hartnäckig und fielen bis anf den
letzten Mann. Dreihundert Einwohner, welche gefangen
en aus Oberalbanien.
worden, wurden am 4. September angesichts der Wälle von
Scntari enthauptet."
Das Geschlecht der Herzöge von Drivasto scheint erst
1698 ausgestorben zu sein.
Diesen historischen Exkurs vorausgeschickt wird man
es begreiflich finden, daß ich mir zweimal die Mühe nahm.
Drivasto zu besuchen. Von Lkodra reitet man in einer
halben Stunde über die Ebene Pusca 8 toj nach der
9 km entfernten Kiri-Brücke. Von hier ist Drivasto
in der Luftlinie bloß 3 Km entfernt, doch wird der Weg
so felsig und schlecht, beschreibt auch, den Windungen des
Kiri folgend, so viele Krümmungen, daß man über eine
volle Stunde bis zum Dorfe Dristi braucht, welches
sich an Stelle der einstigen Stadt erhebt.
Das Kiri-Thal ist reizend, wenn auch weniger großartig
als das Rydal-Thal in Wales, an welches es mich stellen-
weise erinnerte. Drivasto erhebt sich auf einem ifolirten
Bergkegel, dessen eine Seite durch den Kiri, die andere durch
den Dristi-Bach eingeschlossen wird, während die dritte
Seite dnrch einen Sattel mit dem sacht ansteigenden Cn-
kali (Tznkali) verbunden ist.
Wir überschritten den Bach, hinter welchem sofort der
Aufstieg mittels mehrerer Serpentinen beginnt. Nach
ungefähr 10 Minuten paffirteu wir die Ruinen eines Thür-
mes, welcher offenbar die Aufgabe hatte, den Zugang der
Stadt zu vertheidigen. Er ist, gleich dem Heidelberger
Thurm, in zwei Theile geborsten, deren eine Hälfte sich dem
Wege zu neigt. Nach weiteren 10 Minuten Steigens erreich-
ten wir die Ruinen der ehemaligen Stadtmauern, deren
Thor noch ziemlich gut erhalten ist. Bor demselben steht
ein mächtiger Baum, vor dem eine Art Bastion Gelegen-
heit giebt, einen herrlichen Ausblick über das ganze Kiri-
Thal zu genießen.
Durch das Thor schreitend gelangt man unmittelbar in
das Dorf DriZti, welches etwa 80 Häuser mit 500 Ein-
wohnern zählt und auf einer großen Terrasse des Felsenberges
steht. Vom Dorfe aus steigt man noch mindestens zwanzig
Minuten über Felstrümmer und Klüfte den ungemein steilen
Berg hinan, bis man den Gipfel erreicht. Die ganze Be-
steignng ist sehr beschwerlich und stellenweise sogar gefähr-
lich, da es keinen Weg giebt.
Der Gipfel besteht aus einem Hochplateau, welches einst
die Burg trug, aber nicht sehr umfangreich ist. Der Rand
desselben ist mit den Ruinen der alten Mauern und Thürme
eingefaßt, das Innere jedoch mit Felstrümmern aller Art
erfüllt.
Herrlich ist die Aussicht, welche man von den Ruinen
aus genießt. Das ganze Kiri-Thal liegt in seiner roman-
tischen Farbenpracht zu unseren Füßen. Der blinkende Fluß
windet sich gleich einem Silberfaden durch die zerklüfteten
Felsen. Dort am Ende der weiten Ebene zeigt sich das
anmuthige gkodra mit seinen aus den grünen Gärten sich
scharf abzeichnenden rothen Dächern. Das Kastell bildet
die imposante Hinterdekoration. Der blaue See mit dem
rückwärts emporsteigenden Tarabo« ergänzt das Bild.
Im Südosten gewahren wir das Temali-Gebirge mit
seinen versteckten Dörfern, im Nordosten den Cukali
mit einer kleinen Kirche auf halber Höhe. Endlich drüben
am andern Ufer des in N.-W. in einer tiefen Schlucht flie-
ßenden Kiri den an 5000 Fuß hohen Maranaj, den ich
auch bestiegen habe. Wer nach Lkodra kommt, sollte nicht
vergessen Drivasto zu besuchen!
E. Dannert: Sitten und Gebrauche der Ovaherero bei Geburten.
363
Sitten und Gebräuche der Ovaherero bei Geburten.
Vou Missionar E. Dannert.
Bei einfachen Geburten.
Wie mehr oder weniger alle Menschenkinder, so freuen
sich auch die Ovaherero Uber die glückliche Geburt eines
Kindes. Für gewöhnlich wird die Geburt eines Knaben
als ein erfreulicheres Ereigniß begrüßt, als die eines Mäd-
chens. Sind jedoch schon mehrere Knaben vorhanden, so
sehnt sich auch wohl ein Omuherero nach einem Töchterlein,
wo hingegen andererseits, wenn ihm schon zwei bis drei Mäd-
chen geschenkt sind, und das vierte Kind wieder eins ist, der
Vater wohl bitterböse werden kann; denn gar keinen Sohn
zu haben, empfindet er gewissermaßen als eine Schande.
Beim Eintritt einer Geburt verläßt der Mann seine
Frau und sein Hans und sncht wohl die übrigen Männer
der Werst auf. So wartet er draußen, bis die Frau, welche
Hebammendienst verrichtete, die glückliche Geburt ankündigt.
Ist das Neugeborene ein Knabe, dann ruft sie in die Werft
hinein: okauta; worauf der Vater zum Zeichen seiner Freude
mit „ti" antwortet. Ist es ein Mädchen, dann ruft sie:
okaseu, was mit „ee" erwidert wird. Okauta heißt klei-
ner Bogen, und der Gebrauch dieses Wortes bei dieser Ge-
legeuheit soll sagen: der Neugeborene wird einst die Werft
vertheidigen helfen, d. h. es ist ein Knabe. Okaseu ist eine
sehr kleine Zwiebel, und bildet eine beliebte Feldkost. Das
Wort hier gebraucht soll sagen: das Neugeborene wird später
Zwiebel suchen müssen. Denn das Suchen der Feldkost ist
Arbeit der Frauen.
Gehört das neugeborene Kind zur Familie, resp. zum
oruzo des Häuptlings, so wird für die Wöchnerin von den
Frauen der Werft in aller Eile eine Hütte neben dem ot-
yizero (heil. Haufe) hergerichtet, und muß J6et der Geburt
eines Knaben dieses Haus nach Süden, und bei der eines
Mädchens nach Norden neben dem Otyizero oder Häupt-
lingshaus gemacht werden. Dieses Haus heißt ondyno
yomunari, Haus der Wöchnerin. Es darf nicht, wie sonst
bei den Hütten der Ovaherero geschieht, mit Kuhmist bewor-
sen werden, sondern wird einfach mit Gras, Büschen, Baum-
rinde, Fellen n. s. w. bedeckt. Diese Hütte der Wöchnerin
ist heilig, wie auch die Wöchnerin selbst (u zera). Die
Männer dürfen deshalb die Wöchnerin auch nicht eher sehen,
bis bei beut Kinde der Nabel abgestorben ist, sonst werden
sie Schwächlinge, und wenn sie später yumbana, d. h. mit
Speer und Bogen kriegen, dann werden sie geschossen.
Das Hans der Wöchnerin hat zwei Thüren, die eine
geht zum okuruo (heil. Feuer), welches sich stets vom HäuPt-
lingshanse aus nach Westen befindet, während die andere
an der entgegengesetzten Seite ihrer Hütte liegt. Diese
Thüren sind aber nur Löcher ohue Verschluß, und außer die-
sen beiden großen hat das Hans noch eine Unzahl kleinerer
Löcher, so daß der Wind völlig freien Spielraum hat, ein
Beispiel, wie wenig die Ovaherero von Gesundheitspstege
verstehen. Die Wöchnerin wird so bald wie möglich in das
für sie hergerichtete Hans gebracht, meist schon nach 2 bis
3 Stunden. Sie muß dabei zur hintern Thür, d. h. zu der
vom heil. Feuer abgekehrten hinein gehen, wie sie überhaupt
auch später nur diese Hintere Thür zum Ein- und Ausgehen
benutzen darf. Ja bis der Nabel des Kindes abgefallen ist,
darf sie zur vorderu Thür nicht einmal heraus sehen. In
diesem Hanse nun bleibt die Wöchnerin etwa vier Wochen;
doch kann sie, wenn sie eine arme Frau ist, die keine Die-
ner hat, durch welche sie ihr Haus versorgen lassen kann,
schon früher diese Hütte wieder verlassen, jedenfalls aber
nicht, bevor der Nabel des Kindes abgefallen ist.
Um einen weitern von der Wöchnerin zu beobachtenden
Gebrauch verständlich machen zu können, ist es nöthig, noch
einige Bemerkungen voraus zu schicken.
Die Ovaherero lassen ihre Milch in Kalabassen gähren.
Die einzelnen derselben haben ihre besonderen Namen, wie
Okaheugua, Otyipangu, Omuaha zc. Die einzelnen Kühe,
deren Milch in diese Kalabassen gegossen wird, führen den-
selben Namen. Wenn die Milch gegohren, wird sie zum
Trinken in hölzerne Eimer geschüttet. Wer aber Milch
trinken will, hat dieselbe erst zum Häuptling zu bringen, der
sie makerat, d. h. er kostet ein wenig davon und giebt sie zu-
rück, darnach erst darf dieselbe getrunken werden. Was die-
ses makeran für einen Zweck hat, läßt sich schwer sagen.
Befindet sich nun eine Wöchnerin auf der Werft, so
muß diese, bis der Nabel des Kindes abgefallen ist, die ge-
gohrene Milch (omayere) an Stelle des Häuptlings make-
ran (kosten, vielleicht weihen). Doch müssen auch dann
noch die Milcheimer zuerst zum Häuptliug gebracht werden,
da dieser die Milch vorher tovat, d. h. er steckt den rechten
Zeigefinger in die Milch und führt ihn dann zurück zur
Halsgrube. Darnach wird die Milch zur Wöchnerin ge-
bracht, welche sie makerat. Die von der Wöchnerin ge-
brauchte Milch wird aber, nachdem des Kindes Nabel abge-
fallen, vom Häuptliug stets nur getovat, selbst wenn die-
selbe vier Wochen und noch länger in ihrer eventuellen
Wochenstube bleiben sollte.
Gleich am Tage der Geburt wird ein Stück Vieh ge-
schlachtet, welches je nach den Vermögensverhältnissen des
Vaters ein Schaf oder ein Ochse ist. Der Hals, die langen
Rippen mit dem betreffenden Rückentheil ist für die Männer,
doch dürfen auch Frauen, aber nicht die Wöchnerin davon
essen. Von dem übrigen Fleisch dürfen Männer nicht efsen.
Das Fleisch für die Wöchnerin heißt ongarangandye. Die
Brust und ein Oberschenkelknochen wird weggesetzt, bis der
Nabel des Kindes abgefallen ist. Bis zu diesem Zeitpunkte
darf auch das Fleisch für die Wöchnerin nur an der hintern
Thür ihrer Hütte gekocht werden. Gleich mit dem ersten
Fleisch, welches gekocht wird, muß eine Kniescheibe (ombum-
buangoro) mit einem daran sitzenden Stück Fleisch in den
Topf gethan werden. Die Wöchnerin darf aber dieses Fleisch
nicht essen, sondern muß es in ihrer Schüssel unberührt
liegen lassen, bis der Nabel des Kindes abgefallen, dann
darf es von Jedermann gegessen werden. Wenn die Wöch-
nerin auch hauptsächlich nur Fleischbrühe trinkt, so darf die
Fleischschüssel doch nicht leer werden (tyi zera = ist heilig).
Ebenso inuß sie auch stets omayere in dem neben ihr stehen-
den Milcheimer (elioro) haben.
Von dem zunächst für die Wöchnerin gekochten Fleisch
werden einige ganz kleine Stückchen abgepflückt und der
Wöchnerin gegeben, welche fie dadurch weiht, daß sie sie an-
haucht nnd dann dem neugeborenen Kinde die Zehen damit
berührt. Diese Stückchen Fleisch heißen ondendura und
werden nach der Weihnng bis zum Abend weggesetzt. Ist
4G*
m
364 E. Dannert: Sitten und Gebr
nun das neugeborene Kindlein ein Knabe, so werden diese
ondendura nach Sonnenuntergang einem beliebigen kleinen
Mädchen zu essen gegeben. War das Neugeborene ein
Mädchen, dann muß ein Knabe diese Fleischstückchen ver-
zehren. lieber die Bedeutung dieser Sitte scheint man sich
nicht mehr klar zu sein, denn wenn die einen angeben, daß
dies deshalb geschehen, damit der nächste Sprößling nicht
wieder von demselben Geschlechte sei, wie der letztgeborene,
so erklären Andere: davon wissen wir nichts.
Wenn nun der Nabel des Kindes abgefallen ist, so wird
er in den ondyatu onene yomapando gethan. Dies ist
ein großer Fellsack, den der Häuptling in seinem heiligen'
Hause aufbewahrt, in welchem er alle heiligen Gegenstände
verbirgt. So kommt z. B. bei der Geburt eines Kindes
anßer dem Nabel auch noch die oben erwähnte Kniescheibe
hinein, da sie in diesem Falle anch heilig ist. Den Namen
yomapando hat der Sack von einem Riemen, der sich eben-
falls in demselben befindet und in welchem das Familien-
Haupt bei der Geburt eines Kindes ein epando (Knoten)
macht. Interessant ist, daß wenn von den Kindern eins
zum Christenthum Ubertritt, der bei seiner Geburt in den
Riemen geschlagene Knoten wieder aufgelöst, es also quasi
vom Heidenthum entbunden wird.
Bon dem Zeitpunkte an, wo der Nabel des Kindes ab-
gefallen ist, wird auch das Feuer von der hintern Thür an
die vordere, d. h. uach dem Okuruo zu verlegt. Das erste,
was dann gekocht wird, ist die oben erwähnte Brust und der
Oberschenkel, die man bis jetzt aufbewahrt hatte. Dann
darf auch der glückliche Familienvater kommen uud seine
Frau uud den neugeborenen Sprößling sehen, doch darf er
auch jetzt das Haus der Omunari noch nicht betreten. Er
makerat, resp. weiht jetzt auch das Fleisch der Brust und
des Oberschenkels, indem er Wasser in den Mund nimmt,
dieses auf das Fleisch spritzt, und dann ein Stückchen abbeißt.
Dabei spricht er folgende Worte: mba koaterua omundu
omurumendu (oder omukazendu) monganda indyi, in-
dyi mua mbandye, nga kare naua, ai yanda ko; d. h. mir
ist ein Mensch geboren, Knabe (oder Mädchen) in diesem
Dorfe, welches ihr (Ahnen, Vorfahren) mir gegeben. Es
gehe ihm (ihr) gut. Es (das Dorf) vergehe nie.
Die Frau bleibt nun noch je nach Bedürfniß längere
oder kürzere Zeit in ihrem provisorischen Hanse, und so lange
bleibt auch das Kind namenlos. Wenn dann die Wochen-
zeit um ist, geht sie zum ersten Male zur vordern Thür
heraus, uud zwar um ihr Kind znr Namengebnng zum hei-
ligeu Feuer zu tragen. Dieses sitzt in einem an den Rüden
gebundenen Felle. Auf diesem Wege folgt ihr das omuatye
ondangere, d. h. die älteste nnverheirathete Tochter des
Häuptlings, welche das heil. Feuer zu unterhalten hat, denn
dieses darf nie ausgehen. Dieses Priestermädchen oder Ve-
statin, wenn man sie so nennen will, besprengt auf dem
Wege zuui Okuruo den Rücken der Mutter uud das Kind
mit Wasser, welches sie in einer Schüssel trägt. Am Okuruo
angekommen, läßt sich die Wöchnerin auf eine ausgebreitete
Ochfenhant nieder. Dann nimmt sie ihr Kind vom Rücken
und setzt es auf das rechte Knie. Der Häuptling und die
übrigen Männer haben sich schon vorher versammelt. Er-
sterer nimmt dann aus einer neben ihm stehenden Schüssel
einen Mund voll Wasser und spritzt dieses über den Leib
der Mutter und des Kindes. Seine Ahnen anredend spricht
er dann: Euch ist ein Kind geboren in eurem Dorf, dieses
möge nie vergehen. Daraus löffelt er etwas Fett aus einem
neben ihm stehenden Gefäß, fpuckt dazu und salbt sich damit
seine Hände. Ist dies geschehen, dann nimmt er abermals
Fett und einen Schluck Wasser, reibt zunächst das Fett in
den Händen, spritzt das im Munde gehaltene Wasser dazu
lche der Ovaherero bei Geburten.
und beschmiert resp. salbt damit die Wöchnerin. Hierbei
muß er die Arme kreuzen, so daß er mit seiner rechten Hand
die rechte, und mit der linken die linke Seite der Frau be-
streicht. Dieselbe Ceremonie wird dann in derselben Weise
an dem Kinde vollzogen, wobei der Häuptling das Kind auf
seine Knie legt. Hieraus nimmt er das Kind aus seine
Arme und nachdem er mit seiner Stirn die Stirn des
Kindes berührt, welche Handlung sie Okukunga nennen,
giebt er dem Kinde den Namen. Die anwesenden Männer
wiederholen darauf dieses Okukunga, und nennen dabei
jedesmal den Namen, welchen der Vater dem Kinde gegeben
oder sie sügen selbst noch einen neuen hinzu. So kann man
eine und dieselbe Person oft mit fünf bis fechs verschiedenen
Namen rufen hören. Diese Namen werden in der Regel
von einer vor, bei oder nach der Geburt sich zugetragenen
Begebenheit hergeleitet. So hieß ein jetzt Gideon getaufter
früher Kambaudaudumbn, d. h. im ondumbu (farbigen
Kleid), weil er nach der Geburt zuerst in ein solches gekleidet
worden. Em jetziger Hosea hieß früher Kamombumbi,
d. h. er ist im Mist. Das Kind war nämlich gleich nach
der Geburt in die Hürde getragen und dort mit Mist zuge-
deckt worden; ein Gebrauch durch den die Ovaherero ihre
Kinder vor dem Tode schützen. Dem Vater des Hosea wa-
ren nämlich vor diesem drei Kinder nach der Reihe gestorben.
Nach der Namengebung wird dann noch ein junges
Rind zum Okuruo gebracht und dessen Stirn mit der des
Kindes in Berührung gebracht. Durch diese Handlung ist
er zu einem Omuherero, resp. zu einem Nomaden gemacht.
Das Rind ist dann Eigenthum des Kindes. Wenn diese
Ceremonie vollbracht ist, kehrt die Mutter zu ihrem eigent-
lichen Wohnhanse zurück. Das für die Wochenzeit herge-
richtete Haus wird dem Verfalle überlassen. Es darf nicht
abgebrochen, noch das Holz desselben verbrannt werden, da
es, wie schon bemerkt, heilig ist.
Zum Schluß noch die Bemerkung, daß es einige Otuzo,
d. h. durch gewisse Speisegesetze verbundene Familien giebt,
die in einigen Punkten von den im Gegenwärtigen beschrie-
denen Regeln abweichen, und daß die bei einer Zwillings-
geburt beobachteten Gebräuche von den obigen total verschie-
den sind.
Bei einer Zwillingsgeburt.
Eine Zwillingsgeburt ist das größte und glücklichste Er-
eiguiß, das einem sterblichen Omuherero begegnen kann. Sie
verschafft ihm Rechte, die einestheils kein anderes Erden-
kind erreichen kann, und die anderntheils nur durch die
Erstgeburt erlangt werden. Und nicht nur der Vater, fon-
dern auch das Kind, insofern es ein Knabe und als Zwil-
ling geboren ist, erlangt durch seine Geburt Vorzüge, die
ihm auf keinem andern Wege zu Theil werden können.
Vom Augenblick der Geburt an ist das Elternpaar heilig,
ve zera, ein Wort, mit dem ein Begriff verbunden ist, der
zwischen dem klassischen und theologischen Begriff die Mitte
halten mag. Als solche, die ve zera sind, dürfen sie bis zu
einem gewissen Zeitpunkt mit Niemanden sprechen, und auch
von Niemand angesprochen werden. Eben so darf Niemand
wagen, irgend welche Regel in Bezug auf die Eltern der
Zwillinge zu umgehen oder eine Pflicht zu versäumen, wenn er
sein Leben lieb hat. Jeder, der in dieser Beziehung sich etwas
zu Schulden kommen läßt, ma huhua, d. h. er wird bezan-
bert und sein Tod ist gewiß. Er wird bewirkt durch die
Furcht vor dem begangenen Verbrechen; und ein derartiges
unsühnbares ist jede Vernachlässigung der boirangera (reli-
giösen Gebräuche).
Wie bereits früher bemerkt, verläßt beim Eintritt einer
E. Dannert: Sitten und Geb:
Geburt der Mann seine Frau uud hält sich bei anderen
Leuten auf, wie denn überhaupt nur Frauen bei einer Ge-
burt anwesend sein dürfen. Sind nun mehrere Frauen
im Hause einer omupanduke (Gebärenden), so verlassen
diese, sobald sie erfahren, daß eine Zwillingsgeburt statt-
findet, die Hütte, ohne daß sie jedoch ein Wort sprechen dür-
fen. Bloß zwei bleiben zur nöthigen Dienstleistung bei der
Kreisenden zurück. Ist die Geburt erfolgt, so macht eine
davon dieselbe bekannt, aber nicht dem Vater oder sonst Je-
manden, denn Niemand darf angesprochen werden, sondern
dem Felde. Je nach dem Geschlecht der Kinder ruft sie:
kuti, kuti! okauta avevari; oder: okaseu avevari; oder:
okauta nokaseu; d. h. „Feld, Feld! ein Böglein beide;"
oder: „ein Zwiebelchen beide;" oder: „Böglein uud Zwie-
belchen." Sobald der Vater dies hört, steht er auf und
verläßt das Dorf, ohne daß er jedoch ein Wort sagen dürfte.
Zwei Männer, welche von diesem Augenblicke an seine
Diener werden, begleiten ihn. Wo sich in einer Entfernung
von 100 oder 200 Schritten eiue passende Stelle findet, läßt
er von diesen eine ondanda (Lagerstätte) zurecht machen,
um die nächste Zeit dort zu wohnen. Waren gerade fremde
Männer im Dorfe anwesend, als die Geburt der Zwillinge
ausgerufen wurde, so erheben sich diese sofort und kehren zu
deu Ihrigen zurück. Die Wöchnerin mit den beiden Kiud-
lein, ebenfalls von zwei Dienerinnen begleitet, folgt ihrem
Manu anf dem Fuße nach, gleichviel ob es Winter oder
Sommer, Regen oder Sonnenschein ist. Ihr Bleiben im
Dorfe würde dieses bezaubern. Vorhandene ältere Kinder
werden wo möglich zurückgehalten, folgen sie aber den Eltern,
dann dürfen sie auch nicht vor diesen zurückkehren. Diese
ganze, in der ondanda versammelte uud gewöhnlich aus
acht Personen bestehende Gesellschaft, sowie jedes einzelne
Glied derselben führt nun den Namen epaha (Zwilling).
Nur mit den hier Versammelten dürfen die Eltern ungehin-
dert sprechen und verkehren. In den ondancla werden Mann
und Frau von ihren Dienern entkleidet, und alles Schmuckes
eutledigt. So viel die Eile zuläßt, wird der Mutter alles
abgenommen, während sie noch im Hause war. Geschieht
das Entkleiden nicht so rasch wie möglich, so kommt der
Tod über sie. In der ondanda empfangen sie dann zu
ihrer Bedeckung ein paar werthlose Felle, so daß sie dann
in Bezug auf Kleidung verkommener aussehen als Diener.
Auf die Frage, was diese Ceremonie veranlaßt habe, erhält
man zur Autwort: das sind ovirangera (religiöse Gebräuche)
der Ovaherero.
Ist das Zwillingspaar des Morgens geboren, so wird
vom Dorfe dem Vater ein Rind zum Schlachten gesandt, dies
dürfen die Leute aber nicht in die ondanda bringen, sondern
müssen es in einiger Entfernung vou derselben anbinden,
wobei sie aber kein Wort sprechen dürfen. Dann kom-
men die Männer vom epaha und holen und erwürgen es,
denn Blut dürfen die Ovaherero überhaupt nur in Einem
Falle vergießen. Sind die Kinder des Abends geboren, so
wird wohl nur ein Stück Kleinvieh gesandt uud damit in
derselben Weise verfahren wie mit dem Rind. Ein epaha
(das Wort hier auf die ganze in der ondanda versammelte
Gesellschaft bezogen) darf überhaupt nur Fleisch essen; Milch
(omayere) ist für sie ye zera (verboten, heilig). Selbst-
verständlich sind die beiden Säuglinge von dieser Regel aus-
geschlossen. Für sie wird von dem Dorfe Milch gesandt.
Auch diese darf nicht in die ondanda gebracht werden, fon-
dern vom epaha wird in einiger Entfernung ein Gefäß
hingestellt, in dieses wird die Milch gegossen, wobei jedoch
der Ueberbringer kein Wort sprechen darf. Ist dieser zurück-
gekehrt, so wird vom epaha die Milch für die Kindlein
geholt.
.tche der Ovaherero bei Geburten. 365
Ehe die Leute in der ondanda von dem Fleisch essen,
muß jeder erst makera (schmecken, versuchen; auch ein re-
ligiöser Gebranch); dem Kindlein wird aber zu diesem
Zwecke das Fleisch nicht an den Mund, sondern an die
Zehen gehalten. Falls vom Dorfe einmal nicht rechtzeitig
Fleisch gesandt wird, dann ruft der Vater: kuti, kuti! tu
nondyara. Feld, Feld! wir habeu Hunger; worauf sofort
ein Stück Vieh geschickt wird. Gefällt es dem Manne,
aus einer an seinem ondanda vorbeiziehenden Herde eilt
Stück Vieh zu schlachten, dann kauu er das getrost thuu.
Wäre der Eigeuthümer auch sein bitterster Feind, er wird
es nicht wagen auch nur deu Mund aufzuthun.
Wenn die Nabelschnüre der Kinder abgefallen sind, dann
werden sie zunächst aufbewahrt, und uach der Rückkehr zum
Dorfe in den Ondyatu yomupandu (Geburtssack) gethan,
worüber bereits berichtet.
Gleich nach der Geburt der Zwillinge werden Boten
ausgesandt, um sämmtliche Stammesangehörigen zusammen-
zurufen. Da muß jeder, vom ältesten Greise bis zum
kleinsten Kinde, erscheinen, wenn sie auch noch so weit woh-
nen und wenn jener wie dieses auch getragen werden müßte.
Aber nicht nur Leute, auch alles Vieh, groß und klein, muß
nach dem Dorfe kommen, wo die Zwillinge geboren sind.
Wer nicht erscheint, wird bezaubert (ma huhna) und muß
deshalb sterben. Ist der Stamm groß, so kann man bei
solcher Gelegenheit das Feld wohl Stnnden weit mit Och-
sen und Schafen bedeckt sehen.
Sobald Menschen und Vieh versammelt sind, wird dies
dem epaha mit den Worten bekannt gemacht: Kuti, kuti! ve
ya, va ongara; Feld, Feld! sie sind gekommen, sie sind ver-
sammelt. Dann erst darf er seinen ondanda verlassen. Um den
Leuten im Dorfe seine Ankunft anzuzeigen, bläst er aus einem
Springbockhorn. Im Dorfe heißt es dann: da kommt der
epaha; auf! daß wir ihn kehren; uud daraus gehen sie
ihm scheinbar wie Feinde entgegen, nehmen trockenen Mist,
Erdschollen, dürres Holz :c. und werfen damit auf die An-
kommenden, doch ohne sie zu treffen, wozu die Frauen ein
entsetzliches Klagegeheul anstimmen; mave ondoro*).
Das alles geschieht aber nur zum Schein. So kommt deuu
das ganze epaha zum Dorfe und läßt sich auf der Nord-
feite des im otyizero stehenden Hauses nieder. Dann kommt
jeder Anwesende vom Aeltesten bis zum Jüngsten herbei
um geweiht zu werden. Zunächst bringen sie ein Opfer,
welches für Männer, Jünglinge und Knaben in zwei Eisen-
perlen, welche dem Manne epaha, und für Frauen und
Mädchen in zwei oinitoinde besteht; kleiner, knopfartig geruu-
deter Stücken Straußeierschalen von x/2 Zoll Durchmesser,
die zu Schmuck verwandt werden; diese empfängt die Frau.
Perlen und oinitoinhe werden in einen bereit gestellten
oruako, eine ans Wurzelfasern geflochtene große Schüssel,
gelegt, um später als Schmuck am eignen Körper getragen
zu werden. Das männliche Geschlecht wird vom Vater,
das weibliche von der Mutter der Zwillinge geweiht. Dies
geschieht, indem sie ein wenig gepulverte Wurzel vom
Omunyoze-Baum, welche schon vorher bereitet wurde, aus
eine Sandale legen, davon zwischen die Fingerspitzen neh-
men und damit dem zu Weihenden die linke Stirnseite uud
den linken Arm bestreichen und ihm den Rest auf die
Brust werfen. Diefe Handlung heißt okukuma. Bei
dem Manne werden vorher auch noch dessen Waffen geweiht.
Sämmtliche Waffen müffen dann aber zurückgelassen wer-
i) Ondoro machen nur die Frauen der Ovaherero, indem sie
mit ziemlich hoher Stimme ururururururu e u ururu e u
schreien. Die Töne stoßen sie kurz und scharf hervor und das
e u etwa noch fünf Töne höher, als das urururu.
366 Aus allen
den und den Tag über an dem heiligen Hause zusammen-
gestellt bleiben.
Die elften der Frauen, welche geweiht wurden, bauen nun
für das epaha eine Hütte, ganz gleich der für eine omuari ge-
bauten, wie sie früher beschrieben. Jedoch wird das Haus für
ein epaha, nicht neben dem heiligen Hause, sondern weiter
rechts ab, nahe an der Dornhecke, gebaut. Ebenso ergreifen
einige von den zuerst geweihten Männern schon einen Och-
sen, um ihn zu schlachten, denn ehe dies geschehen, darf das
Vieh nicht auf die Weide gehen. Inzwischen ist die Wei-
hung vollendet, und das Fleisch des geschlachteten Ochsen wird
dann neben dem heiligen Hanse auf einen Ast (otyihuno)
niedergelegt. Zunächst muß dann einer der beiden Vorder-
schenke! gekocht werden, und wenn das Fleisch gar ist, wer-
den sämmtliche Leute zusammengerufen, um zu makera
(schmecken, prüfen). Dieses okumakera geschieht wieder
in der Reihenfolge, daß zuerst der Vater, dann die Mutter
ein Stückchen Fleisch nehmen, dann wird solches den beiden
Kindern an die Zehen gehalten (was aber nicht okumakera,
sondern okutova heißt), woraus dauu alle Stammesange-
hörigen makera können. Die im Dorf wohnenden Skla-
ven können nicht makera. Ist diese Ceremonie abgemacht,
dann wird das übrige Fleisch zu der für das epaha erbau-
ten Hütte gebracht, in welche es nun einzieht.
In den folgenden Tagen hält dann das epaha einen
Umzug im Dorfe, indem es täglich 2 oder 3 Häuser be-
sucht. Es geht dabei genau wieder so zu, wie am ersten
Tage, als es nach dem Dorfe zurückkehrte. Sie legen sich
an der rechten Seite des Hauses nieder, wo dann wieder
bei jedem einzelnen Hanse alle im Dorfe Anwesenden sich
versammeln, jedesmal die erwähnten Opfer bringen, und
jedesmal wieder ein Stück Vieh erwürgt wird, wovon
dann wieder ein Vorderschenkel gekocht wird, und das
Fleisch umhergegeben wird, um zu makera, und das übrige
Fleisch zum Hause des epaha gebracht wird. Wenn schließ-
lich des Fleisches zu viel wird, dann sagt der Vater: es ist
Fleisch genug, bringt mir das Vieh lebendig, welches er
dann seiner Herde beifügt. Doch wird jedem lebendig ge-
brachten Stück Vieh ein Ohr halb abgeschnitten, welches
dann an Stelle des Borderschenkels in der Asche geröstet
und zum Zwecke des okumakera den zum Fest Versammel-
ten an die Zähne gehalten wird. Diese Ohrläppchen wer-
den dann aufbewahrt, und später auf einen dünnen Riemen
gereiht und damit die Milchkalabasse des Vaters der Zwil-
linge geschmückt. Nach seinem Tode kann nur einsr der
Zwillinge diese Kalabasse erben.
Nachdem nun diese Ceremonien im eignen Dorfe und
unter denen, welche zum oruzo des Vaters gehören, abgemacht
sind, hält das epaha einen Umzug im Lande und zwar noch
in der alten Tracht, die es gleich nach der Geburt der Kin-
der angelegt. Ist der Vater ein beherzter resp. unverschäm-
Erdtheilen.
ter Mensch (ependa), dann geht er kein Dorf vorbei, mag
es auch einem fremden Manne angehören und ihm ganz
unbekannt sein. In jedem Dorfe, welches er besucht, wer-
den ganz die oben beschriebenen Ceremonien wiederholt.
Kein Häuptling wird wagen, ihn zurückzuweisen, da dies
sein Tod wäre. Hört ein Häuptling, der gerade kein Vieh
bei sich hat, daß ein epaha kommt, so läßt er demselben
wohl zurufen: Feld, Feld, warte ein wenig und komm dann,
ich habe jetzt kein Vieh hier; aber er wird nicht versuchen,
ihn von seinem Dorfe abzuhalten, und wenn es ihm feine
beste Milchkuh kosten sollte. Ein solcher Umzug dauert zu-
weilen länger als ein Jahr, und da das epaha sich meist
lebendiges Vieh schenken läßt, so kommt es gewöhnlich reich
zurück. Die Diener, welche die Eisenperlen und omitornbe
tragen, haben znletzt eine ganze Last. Wenn dann schließ-
lich das epaha von seinem Umzug nach dem eignen Dorfe
zurückkehrt, werden die beiden Zwillinge zum Zwecke der
Namengebnng zum okuruo gebracht, und da finden dann
ganz dieselben Ceremonien statt, wie sie bereits bei einer
Einzelgeburt mitgetheilt sind. Von dem Zeitpunkte an ist
das epaha wieder gemein (ra hahuruka), es wird nicht mehr
gefürchtet. Vater und Mutter verlieren dann auch den
Titel epaha, erstem wird dann omupandye, letztere oyam-
bari genannt, die Kinder natürlich bleiben omapaha, dann
werden auch die alten Lumpen abgelegt und ordentliche Klei-
der angezogen und mit den gesammelten Perlen und omi-
tornbe der Körper in allerlei Weise geschmückt.
Jeder omupandye (Vater von Zwillingen) Hat das
Recht, als Stellvertreter des Dorfhäuptlings in dessen prie-
sterlichen Funktionen zu handeln, auch wenn er der jüngste
Sohn oder Vetter wäre. Ist der Häuptling nicht gegenwär-
tig, dann kann ein omupandye z. B. einen Kranken ent-
zaubern, die omayere makeran, je. Auch das Zwillings-
kind hat schon alle priesterlichen Vorrechte. Für einen
Zwillingsknaben giebt es kein verbotenes Fleisch, keine verbo-
tene Milch, auch wird Niemand wagen, einen epaha zu
verfluchen. Sollte Jemand gar ein epaha tobten, so wird
des Mörders ganzes Dorf vom Erdboden vertilgt. Als
Zwillingsknabe erbt er beim Ableben des Häuptlings die
Priesterwürde, wenn auch etil älterer Bruder dem Vater als
Besitzer des Dorses folgt, fo wird es doch nach dem Namen
des mit der priesterlichen Würde bekleideten jüngern Zwil-
lingsbruders genannt.
Erfolgt eine Zwillingsgeburt kurz nach dem Tode eines
Mannes, der zum oruzo oöerondakuo des Vaters gehört, ehe
uoch die ovirangera für den Todten vollbracht sind, dann
ist sie nicht heilig (ka ri zera). Einige otuzo, wie oun-
guendyandye, ounguenyuva, ombongoro, machen, wie
die Ovaherero das ausdrücken, kein epaha.
Bon einer Drillingsgeburt Hat keiner der bis jetzt ge-
fragten Ovaherero je etwas gehört.
Aus allen
Europa.
— Finnischen Blättern zufolge hat Finnland im Jahre
1380 ausgeführt 43 532000 Knbiksuß Holz, 316403 Tonnen
Roggen und Hafer (145153 Tonnen mehr als 1379) und
3357 Pferde (gegen 1372 im Jahre 1379).
— Dem „Bereg" zufolge werden im laufenden Jahre
im Po laß 210 Werst neuer Kanäle fertig gestellt und sind
x r d t h e i l e n.
dann am Jahresschluß im Ganzen 1150 Werst Kanäle vor-
Händen. Die Entwässerungsarbeiten sind damit für eine
Fläche von einer Million Dessjatinen ausgeführt. Der Er-
trag der auf Staatsdomänen entwässerten Sümpfe steigt mit
jedem Jahre; für die Domäne Wasiljewitzkaja z. B. von
150 Rubel im Jahre 1373 jetzt auf 6000 Rubel an Pacht
und 2000 Rubel für Holzflößerei auf den Kanälen. — Für
1881 ist die Trockenlegung von weiteren 700 000 Dessjatinen
Aus allen
zwischen Dnjeper, Pripet und Berezina und die Reinigung
von Flußläufen und Kanalisationen in einer Länge von 203
Werst geplant.
— Wenn wir in dem eben erschienenen Buche von
Mrs. Anuie Brass ey x), „Sonnenschein und Sturm im
Osten" (Leipzig, F. Hirt u. Sohn, 1331) einige Abschnitte
als besonders interessant bezeichnen sollen, so sind es die-
jenigen, welche von den vornehmen Kreisen Konstantinopels,
den Harems, vom Sultan und den Prinzessinnen, mit wel-
chen Mrs. Brassey verkehrt, und den Veränderungen han-
deln, welche in dieser Stadt in Folge des letzten Russen-
krieges eingetreten sind. Hier bringt die weitgereiste Ver-
fasserin Neues, was anderswo gelesen zu haben wir uns nicht
entsinnen. Das reich illustrirte Buch schildert zwei Uacht-
fahrten im Mittelländischen Meere, die erste vom Jahre 1374,
die zweite, welche bis nach Cypern ausgedehnt wurde, vom
Jahre 1373. Beide Male wnrde unter anderen Konstantinopel
besucht, welches in diesen vier Jahren unsagbar an Pracht
und Glanz verloren hat; nur der Schlamm, der Schmutz
und das Elend haben sich verzehnfacht. So ließen sich
manche von den Freunden der Verfasserin vor derselben ver-
leugnen, um dieselbe nicht ihre nunmehrige Dürftigkeit sehen
zu lassen. Indessen „die Selbstverleugnung und Aufopfe-
rung, deren die türkischen Damen vom höchsten Rang fähig
sind, bewährte sich in diesem Falle auf das Glänzendste.
Ueberall, wo mau unsere Besuche annahm, machten wir die
Bemerkung, wie sehr der Hausstand eingeschränkt worden:
Dienstboten, Pferde und Wagen, alles ist dürftiger, denn
ehemals. Die schönen mit Rubinen und Brillanten besetzten
Kaffeetassen sind verschwunden, die früheren Besitzerinnen
derselben aber haben den vollen Liebreiz, das Einnehmende
ihres Wesens bewahrt und nirgends hörten wir auch nur
die leiseste Klage aussprechen." Ebenso hatten die Bazars
ihren früheren Glanz eingebüßt, den Bezistan ausgenommen,
wo große Versteigerungen abgehalten wurden, bei welchen
der schlechten Zeiten wegen häufig die unschätzbarsten Kost-
barkeiten zu wahren Spottpreisen verschleudert wurden.
„Die Bazars selbst sind malerisch, schmutzig und dunkel wie
sonst, aber alles, was ehemals dem Bild Glanz und Leben
verlieh, ist verschwunden. Man erblickt nicht mehr prächtige,
von weißen Rossen gezogene Wagen, um welche Eunuchen,
Sklaven und Soldaten einen dichten Schirm bilden und auf
deren feideuschwellenden Polstern geheimnißvolle Schöne sich
wiegen; auch keine jener eleganten Equipagen, deren Jnnerm
zarte Fraueugestalten entsteigen, umhüllt von Seide uud
Atlas, strahlend von Juwelen nnd die funkelnden Augen
nur unvollständig vom Jaschmak und dem Feridschi verhüllt.
All dieser Glanz, alle Herrlichkeit dahin — zerstoben! nur
hier und da sieht man jetzt einfach, sogar ärmlich gekleidete
Frauenerscheinungen, welche, eilig dahinhuscheud, ihre kleinen
Einkäufe besorgen."
Einige unter den 15 auf Cypern bezüglichen Bildern
sind von besonderem Interesse, ebenso die Tundschabrücke
mit Adrianopel (S. 232).
Afrika.
— Die „London Mission ary Society" hat eine neue
Expedition, bestehend aus den Geistlichen A. I. Wookey uud
D. Williams und dem Dr. Palmer, nach dem Tangan-
jika abgeschickt. Dieselbe verließ Zanzibar am 14. Juni, die
Ostküste Afrikas eine Woche später. Am 14. Juli traf sie
mit ihren 309 Trägern (pagazi) in Mpwapwa ein, wo sie
bei den Agenten der Chnrch Missionary Society freundliche
Aufnahme fand. — Von letzterer Gesellschaft sind zwei neue
Sendboten, der Rev.P. O'Flaherty und Mr. E. Stokes,
seit dem 9. August 1330 nach Uganda unterwegs; in ihrer
x) Der Verfasserin der früher von uns angezeigten „Segel-
fahrt um die Welt", von welcher unlängst eine nur unbedeutend
gekürzte billige Ausgabe zu 6,60 Mark erschienen ist.
Erdtheilen. 367
Gesellschaft befinden sich jene drei Waganda-Hänptlinge,
welche Mtesa an die Königin Victoria abgeschickt hatte.
Nach dreiwöchentlicher Reise ist O'Flaherty erkrankt nnd
konnte einstweilen den Marsch nicht fortsetzen. — In Ugand a
selbst hat sich die Lage der englischen Missionäre etwas ge-
bessert. Einer derselben, Rev, Litchfield, hatte versucht,
nordwärts bis Lado vorzudringen, um den Dr. Emin Effeudi
zu treffe« und wegen seiner mangelhaften Gesundheit zu
kousultireu. Aber es gelang ihm nicht, Lado zu erreichen:
Kabbarega, der König von Unjoro, welcher nach dem Abzüge
der Aegypter Mruli und andere Posten besetzt hat, ließ ihn
nicht durch. So trat dann Litchfield die Reise über den
Victoria-See nnd nach Mpwapwa an, um den dort wohnen-
den Dr. Baxter zu befragen. In gerader Entfernung
gemessen sind diese beiden nächsten europäischen Aerzte etwa
200 deutsche Meilen von einander entfernt.
— Ein französischer Reisender, M. Lecart, welcher am
Niger sich aufhält, schreibt aus Kuudian (Gangaran),
25. Juli, daß er eine neue Sorte Weinstock, die von
großem ökonomischen Werthe sein könnte, entdeckt habe,
iseine Frucht soll vorzüglich und reichlich vorhanden sein,
der Anbau sehr leicht, die Wurzeln knollig und perennirend,
die Zweige einjährig. Lecart hat die großen Trauben selbst
eine Woche lang gegessen und sie vortrefflich gesunden; er
meint, man solle den Anbau der Pflanze in allen wein-
bauenden Gegenden als vielleicht wirksames Mittel gegen
die Reblaus versuchen. Er hat Saineu heimgeschickt, um
damit Experimente in Frankreich nnd Algerien vorzunehmen,
und wird Exemplare der Pflanze in allen Entwickelnngs-
stadien mitbringen. („Nature.")
— Graf d e S em ells, welcher im vergangenen Sommer
mit seinem Dampfer „Adamaua" auf dem untern Bennö
zwischen Lokodscha und Loko Handelsgeschäfte betrieben hat
(vergl. Globus XXXVII, S. 144), ist aus der Rückfahrt
nach Europa in Madeira gestorben.
— Die „Mail" vom 20. Okt. d. I. theilt als Ergebniß
der Untersuchungen des französischen Gelehrten und Reisen-
den Dr. Quiutiu über die anthropologischen Ver-
Hältnisse des Sudan mit, daß derselbe zwischen
Senegal und Niger vier Negerracen mit ebensoviel ver-
schiedenen Sprachen unterscheidet. Die Bevölkerungen des
Sudau habeu sich zwar so mit einauder vermischt, daß die
ursprünglichen Typen allmälig verschwunden sind nnd die
einzelnen Stämme aus ihren zahlreichen Wanderungen sogar
ihre angestammte Sprache vergessen haben; unmöglich wäre
es daher oft, sie zu unterscheiden, wenn man nicht durch all
diese zahllosen Mischungen und Zertrennnngen hindurch einem
sichern, bisher uoch gar nicht beobachteten Führer folgen
könnte: der Kenntniß ihrer Trennung in Familien. Dieser
wichtige Umstand zeigt sofort, daß diese Racen durchaus
nicht die unterste Stufe der Eivilisatiou einnehmen. Die
Ulns oder Anloss sind, wenn nicht zu stark mit anderen
Racen gemischt, ziemlich leicht, bei längerer Kreuzung jedoch
oft recht schwer unter den übrigen Sndan-Negern kenntlich.
Es existirt im Sudan eine kupferfarbige Klasse, die Torodos,
welche alle Reisende« zu den Penls gerechnet haben, und
doch haben diese, obgleich Jahrhunderte hiudurch mit anderen
Negern gemischt, nicht ihre ursprüngliche Nationalität ver-
gessen und tragen heute uoch Aulof-Familiennamen: Lis,
Dias, Eauu, Foll, Ndragul u. s. w. Die Peuls unter-
scheiden sich von anderen Racen durch zartere uud regel-
mäßigere Züge, schlankere Extremitäten und weniger ge-
Musettes Haar, nnd doch bilden, bei starker Mischung, ihre
Familiennamen die einzigen Merkmale, deren vornehmste
die Violos, Drachites, Eolte sind. Ihre frühere Macht ist
seit dem 13. Jahrhundert bedeutend verfallen, doch haben
sie sich durch Kreuzung seit den letzten Jahrzehnten wieder
zu einer hervorragenden Stellnng in einigen westlichen
Königreichen emporgeschwungen. Wenige Neger haben den
Scharfsinn der Reisenden so augestrengt wie die Suui-Ukss
368
Aus allen Erdtheilen.
am obern Senegal; während man sie bis jetzt gewöhnlich
zu den Moli-Ukss rechnete, zählt sie Onintin unter die
Surbois, und zwar, weil sie einen Dialekt derselben Sprache
reden und dieselben Familiennamen tragen wie diese. Die
Suui-Ukes, welche im 14. Jahrhundert nach Westafrika
wanderten, sind am Senegal unter dem Namen Seracollets
(„weiße Männer") bekannt, ein Beweis dafür, daß sie bei
ihrer Ankunft daselbst ihrer Hautfarbe wegen von den an-
deren Negern unterschieden wurden. Die vierte Race, welche
nach ihren verschiedenen Wohnsitzen Mandings, Moli-Ukss,
Uakires, Uangaras genannt wird, und die in größter Anzahl
zwischen Senegal und Niger sitzt, ähnelt mehr als irgend
eine andere im Sudan den Negern der Aeqnatorialgegenden
Afrikas. Nach Quintin würde das französische Projekt der
Senegal-Niger-Bahn die größten Schwierigkeiten und den
heftigsten Widerstand im Gebiete der Bamanas finden. Im
Uebrigen prophezeiet er Frankreich durch dieses Unternehmen
im Verein mit der Trans-Sahara-Bahn die Herrschaft über
ganz Nord-Afrika und die Regeneration dieses riesigen
Gebietes.
Südamerika.
— Dr. Estanislao Zeballos, Gründer und Präsident
des „Jnstituto Geograsico Argeutiuo", berichtet, daß er tut
Februar 1880 von einer Forschungsreise in den argen-
tinischen Pampas nach Buenos Ayres zurückgekehrt ist
uud über dieselbe ein Werk unter der Presse hat. Während
der drei Monate, die er auf diese oft gefahrdrohende Unter-
nehmung verwendet hat, legte er 900 Miles zurück und
entdeckte zahlreiche neue Flüsse, Berge, Seen u. s. w., wo-
durch die Karte der Argentinischen Republik zwischen 35°
und 40° südl. Br. und 61° 40' uud 69° 40' westl. L. ein
ganz anderes Ansehen bekommen wird. Dr. Zeballos hat
viel Photographie, auch für die Naturwissenschaften manches
Neue gesammelt. Die Pampas, sagt er, sind dort keines-
wegs eine solche unermeßliche, ebene Fläche, wie sie ge-
wöhnlich geschildert werden, weisen vielmehr majestätische
Seenerien sowie manche unerwartete und interessante Züge auf.
— Mr. Charles Wiener, französischer Vieekonsnl
in Gnayaqnil (Ecuador) hat im Auftrage seiues auswärti-
gen Ministeriums kürzlich eine siebenmonatliche Reise quer
durch Südamerika, von Quito nach Para, ausgeführt, und
dabei den Napo, jenen nördlichen Zufluß des Amazonen -
stromes, ausgenommen und sondirt. Auf der Rückreise will
er den Hnallaga hinauffahren.
Eine Revision des Sargasso-Meeres.
Der Botaniker Dr. Otto Knntze hat kürzlich in Engler's
botanischen Jahrbüchern (1. Bd., 3. Heft, 1880) die 300 bis-
her aufgestellten Arten von Sargassum gesichtet und bei die-
ser Gelegenheit (S. 230 bis 238) das sogenannte Sargasso-
Meer in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen. Da dieses
ein Gegenstand von allgemein geographischem Interesse ist,
so wollen wir hier kurz darüber referiren.
Nachdem schon Linne auf das ungeheuer massenhafte
Vorkommen von schwimmendem Seetang hingewiesen, erhebt
Humboldt das Sargasso-Meer zu einem Axiom. Beide
Gruppen von Seetaug, schreibt er, nehmen sammt dem
Transversalbande eine Oberfläche ein, welche sechs- bis sieben-
mal die von Deutschland übertrifft. Nach dem verdienten
Hydrographen Maury ist das Sargasso-Meer so groß wie
das Mississippi-Thal, und so dicht mitFucus natans bedeckt,
daß dadurch der Lauf der Schiffe gehindert wird. Häckel
in seiner „Schöpfungsgeschichte" erzählt endlich von den kolos-
salen Sargafsowäldern des Atlantischen Oeeans, jenen un-
gehenern Tangbänken, welche einen Flächenraum von 40 000
Quadratmeilen bedecken. So schwillt das Sargasso-Meer
an wie der Pudel im Faust.
Indem nun Knntze die verschiedenen Beobachtungen über
das Sargasso-Meer auf einer Karte eintrügt, findet er, daß
die Angaben darüber sehr verschieden nnd widersprechend
sind; widersprechend vor allem gegen die eingebürgerten An-
gaben von Humboldt's Fucusbänken, die er selber gar nicht
sah, nnd gegen das Maury'sche von den meisten Atlanten
adoptirte Sargasso-Meer. Major Rennell, welcher 1832 (An
Investigation of the currents of the Atlantic Ocean) sich
mit dem Sargasso-Meer beschäftigte, nimmt bloß die große
Humboldt'sche Fncusbank an, streicht aber die kleine und das
von dieser zur großen hinüberführende Transversalband.
Aber auch das Beibehalten der großen Bank ist eine nnbe-
rechtigte Konzession an Humboldt.
Die Naturforscher der Challenger-Expedition sahen „die
ersten Flecken von Golfkraut" erst, als das Maury'sche nicht
existirende Sargasso-Meer schon hinter ihnen lag. Sie haben
letzteres gar nicht gesehen, wiewohl sie die Stelle, wo Hnm-
boldt und Maury es einzeichnen, durchkreuzten. Andere von
Knntze citirte Reisende, welche gleichfalls die in Rede stehende
Meeresregion auf der Fahrt von England nach St. Thomas
kreuzten, fanden höchstens lockere Sargassumstreisen.
In Folge der Anregungen Dr. Kuutze's ist auf der deut-
scheu Seewarte die Sargasso-Meer-Frage untersucht worden
und Kapitän Haltermann schreibt darüber unter anderen
Nachstehendes an Dr. Knntze: „Wenn in Büchern von der
im Sargasso-Meer anzutreffenden gleichmäßig vertheilten
Dichtigkeit oder Bedeckung die Rede ist, so ist das ein Irr-
thnm. Das Kraut treibt fast immer in langen Streifen,
die mehr oder weniger weit von einander entfernt find, mei-
stens jedoch etwa 200 Fuß, und welche sich immer genau
parallel in der Richtung des herrschenden Windes erstrecken.
In den Karten mancher deutschen Atlanten ist die Begren-
znng der sogenannten Sargasso-See ganz falsch angegeben.
Oestlich von 35° westl. L. v. Gr. trifft man höchstens Spn-
rer von Sargassokrant an. Zwischen 20° und 35° uördl. Br.
und zwischen 35° westl. L. und Westindien und Ostrand des
Golfstromes liegt das Gebiet des Sargasso-Meeres. West-
lich vou 40° westl. L. und zwischen 25° und 32° uördl. Br.
treibt es dichter; westlich von 45° westl. L. und in etwa
30° uördl. Br. sieht man dichte Flächen von Sargassokrant,
höchstens jedoch vielleicht 100 Fuß im Durchmesser haltend,
ziemlich häusig treiben. Von einer durch letztere bewirkten
Behinderung der Fahrt eines Schiffes kann natürlich keine
Rede sein."
Auch im Stillen Ocean, zwischen Hawaii und Califor-
uieu, scheint sich das dortige Sargasso-Meer (nach Halter-
mann und Pechnel-Loesche) auf einzelne schwimmende Frag-
mente zu reducireu.
Dr. Kuntze kommt nach seiner verdienstvollen Revision
zu dem Schlüsse, daß man von einem konstanten und be-
stimmten Areal des Sargasso-Meeres, welches vom Strand
abgerissene, absterbende und allmälig untersinkende Fragmente
von Sargassum enthält, nicht reden darf. Ebenso dichte An-
Häufungen, als sie manchmal aus dem „Sargasso-Meer" be-
schrieben werden, findet man auch außerhalb dieses Gebietes.
Inhalt: Panama und Danen. YI. (Mit drei Abbildungen.) — Ein illnstrirtes Werk über Skandinavien und
Großbritannien. (Mit zwei Abbildungen.) — Spiridion Gopöevi6: Skizzen aus Oberalbanien. IV. u. V. (Schluß.) —
E. Dannert: Sitten und Gebräuche der Ovaherero bei Geburten. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Afrika. — Süd-
amerika. — Eine Revision des Sargasso-Meeres. — (Schluß der Redactiou 22. November 1880.)
Nedacteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu drei Beilagen. 1. Ankündigung, betreffend Abonnements-Einladung auf „Das Ausland". Redigirt von
Friedrich von Hellwald in Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart. — 2. Literari-
scher Anzeiger. — 3. Prospect, betreffend „Handbuch der Geographie von Dr. Hermann Adalbert Daniel, Prof. zu
Halle. F. Auflage." Verlag von Fues (R. Reisland) in Leipzig.
lit besonderer Herücksicktigung äer AntlrroVologle unä Gtknologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Band XXXVIII.
Jo 24.
9^raitn frf^VnPt rt Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten i WQO
<j llXUll | U)lUclQ zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. -LooU»
Panama u
Nach dem Französischen des
Der in gleichmäßiger Breite dahiuströmende Atrato ist
überall tief; trotzem aber rannte sich die barquetofia mehr-
mals zwischen Gestrüpp oder Wurzeln sest. Aus dem Caqnirri
konnte man wenigstens noch ab und zu die Ufer erkennen,
hier aber nicht mehr; nur die darauf stehenden Bäume
deuten sie an, aber dieselben sind klein und elend. Stellen-
weise erscheinen sie wie eine scharlachrothe Hecke, so dick sind
sie mit Früchten von dieser Farbe bedeckt. Zwar ist es
gerade die Zeit des niedrigen Wasserstandes; nirgends aber
taucht auch nur ein Fußbreit festen Landes aus der alles
bedeckenden Ueberschwemmung hervor. Erst mehrere Stnn-
den weiter westlich trifft man auf die letzten Ausläufer
der Cordillere, während sich nach Norden und Westen hin
das Zwittergebilde zwischen Land und Meer bis zum Gols
von Uraba hin erstreckt. Affen sind die einzigen Bewoh-
ner dieses Sumpswaldes, welcher mehrere Hundert Quadrat-
kilometer bedeckt. Jede Herde derselben hat ihren eigenen
Wohnsitz und ihre besonderen luftigen Straßen; jeden
Abend kehrt sie zur Nachtruhe auf ihren bestimmten Baum
zurück, und jeden Morgen läßt sie sich von einem andern und
ebenfalls stets demselben zur Tränke hiuab. Wenn man
sie auf ihren Wanderungen beobachtet, begreift man bald,
daß sie nicht dieselben Straßen beim Gehen wie beim Kom-
inen benutzen können: sie lassen sich z. B. von einer bedeu-
teudeu Höhe auf dünne biegsame Aeste und Lianengewirr
hinabfallen, was ihren Sturz mildert. Einer hinter dem
andern marschirend, bedienen sie sich aller vier Hände und
namentlich ihres Greifschwanzes, mit dessen Hülfe sie die
Globus XXXVIII. Nr. 24.
n d D a r i e ii.
Schiffslieutenants A. Reclus.
Schnelligkeit beim Hinunterklettern regnliren oder sich den
nöthigen Schwung geben, um einen entfernten Zweig fassen
zu können, und treten genau in dieselben Stelleu, wie der
Anführer der ganzen Bande.
Der Atrato erreicht noch nicht die Länge der Seine,
wälzt aber wohl zehnmal so viel Wasser zum Meere, welches
er durch dreizehn Mündungen erreicht. Die kürzeste unter
denselben, der caiio Coquito, eine Abzweigung des Bar-
bacoas-Armes, ist zugleich die tiefste und regelmäßigste; sie
ist etwa 30 m breit und hat eine schmale, mit Manglebäu-
men und Palmeu bestandene Schlammzunge in das Meer
hinein vorgeschoben, an deren Ende sich die höchstens 2 ra
tiefe Barre befindet. Diesen Weg nahm das Schiff; 2 bis
3 Stunden später hatte es, da der Wind stärker geworden
war, den Meerbusen gekreuzt, und landete um Mittag bei
Pisisi. Dieses Dorf ist ebenso elend wie diejenigen in
Danen und besteht aus einigen Strohhütten im Hintergrunde
einer kleinen sehr sichern und gut geschützten Bucht. Auch
in Pisisi ist die goldene Zeit des Kautschukhandels vorbei;
jetzt vegetirt es vom Einsammeln der Tagua uud von den
dort anlegenden großen Barken, welche den Handel zwischen
Cartagena und dem Atratothale vermitteln. Der Aufenthalt
hier war nur von kurzer Dauer; am 29. Januar Morgens
fuhren sie, fast ohne jegliche Borräthe für die Rückreise, nach
dem Delta des Atrato zurück uud in denselben hinein, nach-
dem sie die Mündungen, den Anfang des zukünftigen Ka-
nals, genauer untersucht hatten. Ein Brief aus Paya, der
sie an der Loma de Cristal traf, veranlaßte sie, die Rückreise
47
°°Twey
Panama und Danen.
371
zu beschleunigen, weil er die Nachricht von einer schweren
Erkrankung des Mr. Brooks enthielt, und am 2. Februar
erreichten sie ihr Standquartier wieder. Brooks aber war
bereits am 26. Januar an den Folgen einer Dysenterie und
besonders eines Schlangenbisses verschieden.
Da die Studien der Ingenieurbrigaden nachgewiesen
hatten, daß an einen interoceanischen Niveau-Kanal
durch das Paya-Thal nicht zu denken sei, so richtete
Wyse seine Aufmerksamkeit auf die große Terrainsenkung,
welche in nordöstlicher Richtung von Pinogana aus den
Isthmus durchsetzt. Zwar durfte er nicht hoffen, dort mit
einem bloßen Durchstiche fortzukommen; aber vielleicht fand
man einen mäßig breiten Gebirgszug, welcher die Anlegung
eines Tunnels gestattete. Zugleich wollte er den Rio Tu-
pisa erforschen, weil ihm Indianer und Caucheros mitge-
theilt hatten, daß derselbe wenig Gefüll besitze, und daß die
Pässe, die von seinen Quellen nach dem Atlantischen Oceane
hinüberführen, nicht sonderlich hoch seien. Letztere Ausgabe
behielt sich Wyse selbst vor; mit ersterer betraute er Reclus,
welcher nach Pinogana zurückkehrte, um die uöthigen Vor-
bereitungen zu treffen. Seine erste Sorge war, ein „ toldo "
herstellen zu lassen, um Schutz gegen die Moskitos zu
haben. Es ist das ein kleines Kämmerchen aus Gaze, das
an einem Gestelle aus Stricken und Stäbchen hängt, und,
wie es unsere Abbildung zeigt, die Hängematte ganz ein-
schließt; in den von jenen scheußlichen Dipteren Heimgesuch-
ten Gebieten ist man gezwungen, unter dem Schutze eines
solchen toldo zu arbeiten, zu speiseu uud zu schlafen.
Reclus hatte als Gehülfen bei seinen Nivellements den
Ingenieur L a ch a r m e, einen liebenswürdigen, eifrigen Men-
schert, zugewiesen erhalten. Derselbe hatte zuerst vorgeschlagen,
deu Rio Paya für den zu erbauenden Kanal zu benutzen, ohne
die Schwierigkeiten dieses Weges zu kennen, war nun ganz
von diesem Projekte eingenommen und suchte die sich bieten-
den Hindernisse durch unmögliche Lösungen zu beseitigen.
Er war ein kleiner, magerer, schon etwas gekrümmter Mann
Pisisi. (Nach einer Photographie.)
mit langen grauen Haaren, die ihm bis auf die Schultern
herabfielen. Nie trug er einen Hut, fouderu wand stets ein
Taschentuch oder eine indianische ligua um deu Kops, und
bekleidet war er, so lange er in Danen verweilte, nur mit
einem rothen Hemde und Hosen, die mit einem Riemen, an
dem sein Waldmesser und sein Kompaß hing, festgehalten
wurdeu. Damals war er gerade dabei, ein in Californien
erworbenes, ziemlich ansehnliches Vermögen am Rio Sinn
(im colnmbischen Staate Bolivar) zu verlieren; er hatte da-
selbst mehrere Quadratmeilen Landes gekaust und legte sich,
stets mit großem Enthusiasmus, bald auf Pflanzung von
Zuckerrohr, bald aus Viehzucht, bald aus Holzfällen; hatte
auch allerlei Erfindungen gemacht, z. B. die eines Trankes
gegen Schlangenbisse, eines Pulvers zum Blutstillen n. s. w.,
welche zu erproben seine Gefährten glücklicherweise uicht in
die Lage kamen. Aber seine sonstigen Erfahrungen im Ur-
waldleben halfen denselben alle Augenblicke in den verschie-
densten Umständen, und der wunderbare Instinkt, mit wel-
chem er.seine „trochas" (Durchhaue) anzulegen verstand,
vereinfachte Reclus' Arbeiten bedeutend. Vom Rio Sinn
hatte er sechs Leute mitgebracht, welche schon lange in seinen
Diensten standen, willige, nüchterne Männer, welche ganz
allein während der sechs Wochen, welche die Expedition
dauerte, fast die gefammte Arbeit verrichteten. Brauchbar
vor allen waren die beiden Brüder Jose und Antonio, stark
uud tüchtig, gleich geschickt in der Handhabung des Machete
mit der Rechten wie der Linken, und im Stande eine Liane
von der Stärke eines Schenkels mit einem Hiebe zu zer-
hauen. Der eine von ihnen, Antonio, war ernsten Charak-
ters, eine Folge dessen, daß er von der Trunksucht geheilt
worden war, wie Lacharme erzählte. Die Indianer vom
Rio Sinu kennen nämlich ein merkwürdiges Getränk, wel-
ches ein bis zwei Tage lang schreckliche Magenschmerzen
verursacht; die Folge davon ist ein solcher Abschen vor allen
gegohrenen Getränken, daß selbst deren Geruch dem so be-
handelten unerträglich ist.
Am 19. Februar brachen sie auf, Reclus vou vierCau-
cheros begleitet, Lacharme von feinen „monterianos", fuh-
ren den Tuyra bis zur Einmüdung des Aputi hinauf und
richteten dort ihr Lager ein, schlugen dann ihren ersten Pfahl
in den Boden, bestimmten seine Position und verbanden ihn
mit den Ausnahmen Celler's am Tuyra. Am 20. Februar
47*
372
Panama und Danen.
Morgens wurde mit dem Durchhau begonnen; Jofs arbeitete
mit dem machete vorn weg, daß rechts uud links Lianen-
sträucher, Gestrüpp und Baumäste zur Seite flogen, hinter
ihm verbreiterten Antonio und Hipolyto diesen Weg und
ein vierter beseitigte die gefährlichsten „chusos", d. h. die
stehen gebliebenen und durch den nahezu vertikalen Hieb des
Meffers scharf zugespitzten Zweige, welche einen hinfallenden
Menschen schwer, ja tödtlich verletzen können. Wenn der
solchergestalt durch das undurchdringliche Unterholz geschla-
gene Tunnel eine Thalsenkung, eine Hügelspitze oder
Terrainunebenheit, welche die Vifirlinie unterbrach, er-
reicht hatte, wurde ein Pfahl aufgepflanzt, und dessen Ab-
stand von dem vorhergehenden durch Lacharme gemessen,
während Reclns mit zwei Leuten folgte und die Linie nivel-
lirte. Anfangs konnte er mit seinen Vordermännern glei-
chen Schritt halten, allein vom dritten Tage an wurde der
Boden sehr wellig und es traten kleine Hügel mit steilen
Abhängen auf, so daß Reclns zwischen je zwei Pfählen bis
zu zehn Stationen machen mußte. Nach Ablauf einer
Woche hatte Lacharme einen Vorsprung von etwa einem star-
ken Arbeitstage; an einem solchen rückte die „trocha" je
nach dem Vorherrschen der einen oder der andern Pflanze
um 800 bis 2000 m vor. Bambus, Lianen und nament-
lich pitas oder wilde Ananas hielten die Arbeit sehr auf;
letztere, mit giftigen Stacheln bewehrte Pflanzen, wider-
stehen dein Hiebe des Machete und müssen dicht Uber dein
Erdboden abgesägt werden. In solcher Weise wurde von
Morgens 8 Uhr bis Abends 5 Uhr gearbeitet; dieje-
nigen Leute, welche nicht bei der trocha beschäftigt waren,
mußten die Lebensmittel vorwärts schaffen, das Lager für
die Nacht herrichten und die einfachen Mahlzeiten berei-
ten, wobei es darauf ankam, eine Stelle zu wählen, wo
Wasser nahe, Ameisennester und große abgestorbene Bäume,
welche ein plötzlich^ losbrechender Sturm leicht zu Boden
schmettern kann, aber fern sind. An Wild bot der Urwald
nichts, von einigen Truthühnern abgesehen; sonst aber be-
Ein Toldo.
gegneten die beiden Europäer weder wilden Schweinen, noch
Hirschen, noch Tapiren, nicht einmal den gefräßigen Pekaris,
welche doch sonst in Danen häufig uud in großen Trupps
vorkommen. Nm: am zweiten Tage hatte Reclns Gelegen-
heit, eine Familie schwarzer Pumas, die sehr selteu sind, zu
sehen; aber sie waren verschwunden, ehe ihm der Diener die
Flinte reichen konnte.
Dem gegenüber, was er später am Mamoui und Tiati
wahrnahm, fand er hier sehr wenig Schlangen, welche auch
während der trockenen Jahreszeit stets in ihren Löchern blei-
ben sollen. Sie werden auch soust wenig gefürchtet, da sie
nicht ungereizt angreifen; zudem besitzt jeder Pueblo seine
Zauberer männlichen uud weiblichen Geschlechtes, welche
helfen. Die Caucheros preisen dagegen zahlreiche Gegen-
gifte an, vor allen oracioncita (Gebetchen) zum Heil. Joseph.
Nicht alle diese Gebete haben gleiche Kraft; das beste, wel-
ches nur wenige privilegirte Menschen besitzen, stammt aus
dem alten Kloster in Guatemala, welches auch soust uoch
höchst wirksame Gebetsmittelchen verkauft hat, gegen das
Fieber, gegen Schiffbruch, für Frauen in Kiudesnöthen :c.
Uud dabei braucht man das Gebet gar nicht auszuspre-
chen oder es auswendig zu wissen, es genügt schon, es ge-
schrieben bei sich zu tragen.
Gefürchteter aber als Alligatoren, Tiger, Schlangen
und selbst als Mnskitos ist die Geißel der „garapates".
Der Reiz, welchen die Bisse dieser Arachniden und das heroi-
sche Mittel, sie zu entfernen und, wenn möglich, zu tobten,
erzeugt, wird sehr bald unerträglich; wo sie vorkommen,
ist der Körper des Reisenden schon nach einigen Tagen mit
Wunden bedeckt. Zu Aufaug dieser Reise waren sie sehr
selten; nur etwa eiu Dutzend kamen vor und wurden, so-
bald sie ihre Anwesenheit verrietheu, sofort zwischen den
Fingernägeln zerdrückt. Sie siud platt wie Wanzen, und
ihre acht Beine sind mit so scharfen Häkchen bewehrt, daß
man'beim Losmachen der Thiere oft ein Stück Haut mit
herausreißt. Der Saugrüssel bleibt im Fleische stecken und
erzeugt eiu kleines Geschwür, das erst uach Verlaus eiuer
Woche vernarbt. Im Walde am Apnti waren sie aber in
solchen Massen, daß, wenn die Reisenden nur kurze Zeit in
den von ihnen bevorzugten Büschen verweilten, ihre weißen
Hosen gauz braun von lauter Garapates aussahen. Sic
saugen sich besonders an deu Zehen und Kniekehlen fest.
Panama i
Reclus hat vier Sorten dieser abscheulichen Thiere ken-
nen gelernt. Die „panckas" oder „barberos", von der
Größe des Nagels am kleinen Finger, sind die bösartigsten,
dafür aber auch am leichtesten zu finden. Am häufigsten
kommen die braunen „joaleros" vor; fast mikroskopisch
sind die schwarzen „curcus" und die Hellrothen „colo-
radillos"; letztere sind so beweglich, daß man sie trotz ihrer
Kleinheit sofort gewahr wird und mit einem Fingerdrucke
ihren Wanderungen ein Ende machen kann. Gräßlich ist
das Jucken und Kratzen, welches sie dem von zwölsstündiger
Arbeit ermüdeten Reisenden in seiner Hängematte verur-
sachen; er mag noch so große Willenskraft besitzen, er bringt
es nicht über sich, still zu liegen, sondern kratzt und schabt
sich mit seinen Nägeln blutig. Das einzige Mittel etwas
Ruhe zu bekommen ist, sich mit Spiritus zu bestreichen,
in welchem man Tabak hat weichen lassen.
Am 28. war Lacharme bereits 10 Stunden weit vor-
aus und hatte einen ziemlich hohen Kamm mit weiter Aus-
sicht erreicht, den er abholzen ließ. Nun erblickte man in
der Ferne die blane Cordillere, weiter vorn eine tiefe Ein-
senknng, welche säst genau in der von Reclus eingeschlagenen
Richtung bis zu den Bergen verlief, und in einer Entfernung
von etwa 10 km einen sehr niedrigen Paß, welcher dieses Thal
abschloß; diese Entdeckung gab ihnen neuen Muth, und sie mo-
dificirten danach ihren Plan. Am nächsten Tage überschritten
sie den Cnbibele, einen reizenden Bach zwischen wilden
Bananen, an dessen Ufer ein wunderbar kühler Platz zum
Lager hergerichtet wurde. Indessen wurde hier die Plage
der garapates so groß, daß Reclus sich schließlich nur mit
der größten Mühe bis zum Rio Tesca, 6 km vom Cnbibele
entfernt, schleppen konnte und am 7. März gezwungen war,
in seiner Hängematte zu bleiben und M. Lacharme die Ar-
beit allem fortsetzen zu lassen. Der Plan, noch vor Eintritt
der Regenzeit den Atlantischen Ocean zu erreichen, mußte
aufgegeben werden.
Durch seinen Krankenwärter Merced ließ Reclus zu-
nächst eiue von garapates freie Stelle aufsuchen und dort-
hin sein Lager verlegen. Sie lag am Ufer des Rio und
war von wilden Bananen beschattet; ein Stuhl stand da
und ein Tisch, wie in einem Arbeitszimmer, unter einem
Rancho war die Häugematte so. aufgehängt, daß der Kranke
fast wie in einem Bette liegen konnte, und dicht dabei plät-
scherte der hier ziemlich stark strömende Tesca über Kiesel
hinweg. Seine Zeit benutzte er, feilte früheren Beobachtun-
gen sowie diejenigen, deren Elemente ihm Lacharme alle zwei
Tage zuschickte, zu berechnen. Letzterer war jetzt in eine so
rauhe und schluchtenreiche Gegend gelangt, daß seine treuen
„monterianos" sich zu beklagen anfingen. Bei seinen Ar-
b Darien. 373
betten empsing Reclus allerlei Besuche, angenehme und
lästige: riesige, mit einem grauen, seidenartigen Flaume be-
deckte, orangegelb gefleckte oder ganz schwarze Spinnen,
mata-tigre genannt, deren Biß tödtlich sein soll; große
Schmetterlinge mit schwarzen, himmelblau schillernden Flü-
geln, Rüsselkäfer, deren Rüssel oft länger war, als ihr gan-
zer übriger Körper; Hymenopteren von jeder Größe und
Farbe; mächtige schwarze Ameisen, deren Biß Arm oder
Bein zwei volle Stunden lang lähmt. Aber auch Kolibris
kamen herbei und saßen lange auf einem und demselben
Blatte, um die Bewegungen des fremden Gastes zu beob-
achten; prächtige Tukane nisteten auf einem nahen Baume;
flammend rothe Spechte hämmerten an den weißstämmigen
Algarobes herum, und Eidechsen von allerhand Arten mach-
ten sich dort zu schassen.
Am 12. März sandte Lieutenant Wyse, welcher nach
dein Bergkuoten Pirri gereist war, um die alten Gold-
minen von Cana aufzufinden, einen Boten, um Nachricht
von Reclus zu erhalten. Dieser schlug ihm vor, die trocha
aufzugeben und dafür im Thale des Rio Chico ein Nivelle-
ment auszuführen, was Wyse auch billigte. Am 15. traf er
1. 2. 3.
Garapates. 1. Männchen von oben. 2. Männchen von unten.
3. Weibchen. 4. Weibchen nach dem Saugen, von oben.
5. Weibchen nach dem Saugen, von unten.
selbst ein, und da sich Reclus wohler fühlte, so konnte er
ihn drei Tage lang aus einer Tour den Rio Chico aufwärts
bis zur Müuduug des Porcona begleiten; dort stießen sie
auf Lacharme und dessen Leute, die seit 24 Stunden nichts
gegessen hatten und vollständig erschöpft waren. Vom 15.
bis 18. März operirten sie beständig im Flusse selbst, dessen
Wasser ihnen mitunter bis über die Hüften ging. In Folge
dessen verschlimmerten sich die Wunden an Reclus' Beinen
und er mußte nach Pinogana zurückkehren. Wyse und La-
charme legte» nun eine andere trocha seist der Cordillere
parallel an und erhielten so die Höhe des Thalwegs verschie-
dener Nebenflüsse des Rio Chico und Rio Tupisa; letztern
selbst erreichten sie am 28. März in einer Höhe von nur
31 m und in einer Entfernung von 18 Meilen von der
Bai Gandi des Atlantischen Oceans. Diese geringe Höhe
schien eine günstige Lösung des Problems zu versprechen;
allein inzwischen war die Regenzeit herangekommen, und oben-
drein trat dieselbe diesmal früher ein als gewöhnlich, so daß
es nutzlos gewesen wäre, die Erforschung dieses Thales und
einen neuen Durchhau bis zum Oceau erst noch zu begiu-
nen. Fast das gesammte Personal der Expedition, selbst
Lacharme, der alte Waldläufer, erklärte sich durch die gehab-
ten Anstrengungen für erschöpft. Deuuoch unternahm Wyse
noch vor der Rückreise die Erforschung des Rio Tnqüesa,
Reclus' Arbeitsplatz.
kleine Geschenke gemacht worden. Alle Dorfkinder hatten schiffte sich die ganze Mission auf dem Packetboote „La Mar-
ein Exemplar des berüchtigten „(Erven" und freuten sich ttnique" nach Europa ein. Aber nur wenige Tage, ehe
dieser „Musik", wie die Straßenjungen von Paris oder sie es erreichte, hatte sie den Schmerz, eines.ihrer Mitglie-
Berlin. Am 13. reiste Reclus nach Panama, und am 21. der, den jungen Guido Musso, an Dysenterie zu verlieren.
374 Richard Andree: Die
des dritten von den großen linken Zuflüssen des Chucuna-
que, fand aber, daß dessen Thal viel weniger günstig sei, als
diejenigen des Tnpisa und Tiati. Gleichzeitig damit wurde
der Tupisa bis zu dem Punkte, wo ihn der Durchhau traf,
von Sosa, Ingenieur des Staates Panama, Musso und
Reclus, der inzwischen sich etwas erholt hatte, vermessen
Verbreitung der Albinos.
und uivellirt, was bis zum 11. April dauerte. Dadurch
wurden die beiden Linien, welche man näher studirt hatte,
mit einander verbunden und die Höhe und Lage aller beob-
achteten Punkte genau fixirt.
Schon vorher war die Station in Pinogana aufgegeben,
der ^überflüssige Proviant vertheilt und den Einwohnern
Die Verbreitu
Von Nicha
In einem Buche, „Die Arier", welches 1878 in Jena
erschien, hat Th. Poesche die sehr gewagte Ansicht auf-
gestellt, daß die Arier, worunter er die blonden dolicho-
kephalen Völker der ehemaligen kaukasischen Rasse versteht,
aus Albinos hervorgegangen seien, die etwa in den Rokitno-
sümpfen am Pripet ausbleichten. Die aktivste und tüchtigste
aller Rassen erhielt also zu Urvätern ein pathologisches
Produkt, schwächliche, schlecht seheude Menschen, die genug
g der Albinos.
> Andree.
zu thnn haben, um ihre individuelle Erhaltung zu besorgen
und schwerlich eine tüchtige Rasse herausgebildet haben
werden. Durch diese wunderliche Aufstellung ist die Auf-
merksamkeit wieder mehr auf die Albinos gelenkt worden,
von denen bekannt ist, daß sie nicht bloß unter den Euro-
päern, sondern auch unter anderen Völkern vorkommen.
Eine Zusammenstellung darüber, wie ich sie im Nachstehen-
den versuche, mag daher von Interesse sein; sie wird auch
Richard Andree: Die
gewiß die Meinung befestigen helfen, daß derartige krank-
hafte Ausnahmegeschöpfe nicht zur Bildung einer Rasse ge-
eignet erscheinen.
Sü d se e. Ein kleiner Albino auf der Fidschi-Insel
Kandavn, den Dr. Buchner sah, hatte rosenfarbige Haut,
blonde Haare, bläuliche Augen mit entzündeten Lidern und
fkrophulös gedunsene Lippen. Seine Kameraden nannten
ihn Papalang lailai — kleiner Europäer J).
„Auf den Neu-Hebrideu sind mehrfach Albinos, männ-
liche und weibliche, meistens mit krankhaften rothen Augen"
gefunden worden 2).
Bei den Melanesien: des Neu-Britannia-Archipels wies
v. Schleinitz Albinos mit fleischfarbener Haut, gelbröth-
lichem Haar und hellen Augen nach 3). Es find wohl die-
selben Albino von Neu-Jrland, die Strauch als von ziemlich
heller schmutzig-weißer Hautfarbe und bläulicher Iris fchil-
dert. Die Farbe des Haares schien hellröthlich zu sein,
doch läßt sich darüber nichts Bestimmtes angeben, da das-
selbe durch Färben verändert sein kann^). Daran schließen
wir, was der französische Schisfsarzt V. de Nochas über
die Albinos von Neu - Caledonien bemerkt. Er fah dort
fünf Fälle, von denen einer eine Frau betraf. Diese Leute
waren nicht gänzlich farblos; ihre Haare erschienen flachs-
färben und feiner als diejenigen normaler Individuen.
Die Iris war schön blau. Die Haut ist von weißer Fär-
bnng und mit Flecken wie Sommersprossen bedeckt. Oft,
doch nicht immer, zeigen diese Individuen eine Art Ich-
thyosis. Diese Albinos können vortrefflich sehen und er-
tragen das Sonnenlicht sehr gut; sie stehen in Bezug auf
Intelligenz hinter ihren Landsleuten nicht zurück und die
von ihnen erzeugten Kinder sind normal schwarz 5). Da-
nach handelt es sich hier wohl um einen Niedern Grad
von Albinismus und ähnlich ist wohl der folgende Fall
zu beurtheilen, den A. B. Meyer im Arfak- Gebirge
(N.-W. Neu-Guinea) fah. Er betraf eiu sechzehnjähriges
gut gewachsenes und ausgebildetes Mädchen. Die Hant
war rosa weiß, wie die einer Europäerin, aber mit vielen
hellgelben Pigmentslecken (Sommersprossen) behaftet. Die
Haare röthlich blond, die Iris blau und starker Nystag-
mus vorhanden. Sie beugte nach Art der Albinos den
Kopf stets herunter und beschattete die Augen. Es machte
ans Meyer einen durchaus eigenthümlichen und nicht an-
genehmen Eindruck, ein junges ausgewachsenes Mädchen
mit der Farbe der Europäerin ganz nackt, nur die Scham-
theile eben bedeckt, umherlaufen zu sehen. Die vollbusige
Schöne war in der Blüte ihrer Jugend und stark um-
worden von Freiern, hatte aber bis dahin alle Anerbietnn-
gen ausgeschlagen; man schien den starken Kontrast ihrer
Hautfärbung mit der eigenen zu lieben und sie mit keiner-
lei Abneigung zu betrachten 6).
Meyer fügt hinzu, daß der Vater des Mädchens ein
echter Arfak-Papua war, der noch einen Albino-Sohn hatte.
„Es dürften diese Fälle von Albinismus in dem Heirathen
innerhalb der Familie oder des engern Stammes ihren
Grund haben, jedenfalls sind sie fetten, denn nirgendwo auf
Nen-Guinea sah ich welche."
M. Büchner, Reise durch den Stillen Ocean. Breslau
1378, 306.
2) M. Eckardt, Der Archipel der Neu-Hebriden. Ham-
bürg 1377, 14.
3) Zeitschrist der Ges. für Erdkunde zu Berlin 1877, 249.
4) Zeitschrist für Ethnologie 1877, 93.
5) Bull. Soc. d'Anthropol. I, 402 (1860); II, 49 (1861).
6) A. B. Meyer, Anthropol^ Mittheil. über die Papuas
von Neu-Guinea. Wien 1874 (Separatabdruck aus Mittheil.
Anthropol. Ges.), 15.
Verbreitung der Albinos. 375
Unter den Papuas der Ostspitze Neu-Guineas sah
Stone Albinos „mit Hautfarbe so weiß wie Europäer" x).
Unter den Motu, wie es scheint einem polynesischen
(nicht Papua-) Stamme an der Ostspitze Neu-Guineas,
saud W. I. Turner zwei Albinos, einen Mann nnd einen
Knaben. Es waren typische Exemplare mit hellem Haar,
blöden Angen nnd schwärcnbedeckter Haut. Sic waren wie
die übrigen Eingeborenen nackt und zeigten einen seltsamen
Gegensatz zu ihren kupferbrauueu Genossen2).
Auf Tahiti wies zuerst Cook Albinos nach. Er schreibt
darüber: „Während nnferm Aufenthalte in dieser Insel
sahen wir ohugesähr fünf oder sechs Personen, deren Haut
todtensarbig und so weiß war, als bei Pferden die Nase
eines Schimmels ist; ihre Haare, der Bart, die Augen-
brauen und Augenlider, alles war weiß; die Augen selbst
aber roth und schwach, so daß diese Leute alle sehr kurz-
sichtig sind. Ihre Haut war schuppig und mit einer Art
weißer Milchhaare bedeckt. Wir saudeu aber, daß uiemals
zwo von diesen Personen zu einer nnd eben derselben Fa-
mitte gehörten, und schlössen daraus, daß sie nicht eine eigene
besondere Art von Menschen, sondern nur uuglückliche cin-
zelue Personen waren, deren äußerlicher Unterschied von
anderen die Würknng einer Krankheit sein muß" 3).
Asien. Unter den malayischen Völkern sehten die
Albinos keineswegs. A. B. Meyer traf öfter solche unter
den Alsuren der Minahafsa in Nordcelebes^).
Albinos mit rothem Haare, weißer Körperfarbe und
rothen Augen sind häufig auf der Insel Nias bei Sumatra.
Man glaubt, daß der Teufel sie mit Erdenweibern erzeugt
habe und nennt sie darum auch Teufelskinder (Onom-Bela).
Sie sind der Spiclball für Jung und Alt und müssen um
eine Frau zu bekommen, mehr als andere dafür bezahlen.
Eine Albino wird dagegen nie zur Frau begehrt °).
Der französische Missionar Hngon sah unter den Bah-
nars, einem „wilden" Stamme im Innern Cochinchinas,
einen Albino. Dieser hatte weiße Haare nnd weißlich-
rosige Haut. Die Iris hat der Pater uicht geprüft. Der
Mann schämte sich seiner Anomalie, zeigte sich wenig,
wurde aber nicht schlecht behandelt und auch nicht aber-
gläubig betrachtet e).
Die Hindu - Albinos hat Dnbois folgendermaßen be-
schrieben: „Es ist nichts Seltenes unter den Hindus eine
Klasse von Menschen zu finden, die mit einer viel weißern
Haut geboren worden sind, als die der Europäer. Doch
kann man leicht bemerken, daß dieses keine natürliche Farbe
ist, weil ihr Haar ebenso weiß ist, als ihre Hant; und in
der Regel ist ihr ganzes Aussehe« unnatürlich. Sie haben
die Eigenthümlichkeit, daß sie das helle Tageslicht nicht er-
tragen können. So lange die Sonne scheint, können sie
keinen Gegenstand mit Festigkeit ansehen nnd während dieser
ganzen Zeit halten sie ihre Augenlider geschlossen, so daß
dadurch offenbar alles Sehen gehindert wird. Dagegen
haben sie die Fähigkeit fast jeden Gegenstand im Duukeln zu
sehen. Von den Europäern in Indien werden diese Jndi-
vidnen Tschakrelas genannt. Von den Hindns werden sie
mit Abscheu betrachtet und ihre Körper wie die von Per-
soitcn, welche an Hautkrankheiten leiden, auf einen Dünger-
hänfen geworfen oder wildenThieren znrBeute gelassen"').
1) Journ. Roy. Geogr. Soc. 1876, 45.
2) Journ. Anthropol. Jnstit. VII, 474.
3) I. I. Hawkesworlh, Geschichte der neuesten Reisen um
die Welt. Deutsch. Berlin 1775, III, 485.
4) Anthropol. Mittheil, über die Papuns. Wien 1874, 16.
5) 0. Rosenberg, Der Malayische Archipel. Leipzig 1878,
145 155
°) Revue d'Anthropologie 1878, 632.
7) Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts I, 269.
376 Richard Andree: Die
Amerika. Ueber die Albinos oder Blafards von
Darien schreibt Wafer: „Diese Personen sind weiß nnd
kommen unter beiden Geschlechtern vor, doch sind ihrer nur
wenige im Vergleiche mit den kupferfarbigen, etwa nur eine
auf 200 oder 300. Sie unterscheiden sich von den übri-
gen Individuen vorzüglich in der Farbe, wiewohl nicht
hierin allein. Ihre Haut ist nicht von einem solchen
Weiß, wie die bei sehr weißen Europäern, die einen röth-
lichen Teint oder eine sanguinische Complexion haben; auch
gleicht sie nicht derjenigen der Blasseren unter uns, sondern
ist vielmehr milchweiß, Heller als die Farbe irgend eines
Europäers und der eines weißen Pferdes sehr ähnlich.
„Eine fernere Merkwürdigkeit an ihnen ist, daß ein
zarter, kurzer milchweißer Flaum ihren ganzen Körper mehr
oder weniger bedeckt. Doch steht dieser Flaum nicht so
dicht, vorzüglich an den Wangen und der Stirn, daß nicht
die Haut deutlich darunter vorsähe. Ihre Augenbrauen
sind gleichfalls milchweiß, ihr Kopfhaar ist ebenso gefärbt
und durchaus sehr zart, gegeu sechs oder acht Zoll laug
und leicht gelockt.
„Sie sind nicht so dick, als die übrigen Indianer und
ihre Augenlider schließen und öffnen sich in einem Oblon-
gum, dessen Ecken nach abwärts stehen, so daß sie einen
Bogen oder Halbmond bilden, mit den Spitzen nach unten.
Deswegen, weil sie in einer Nacht mit Mondschein sehr
deutlich sehen, pflegten wir sie Mondängige zu nennen.
Denn sie sehen beim Sonnenschein nicht gut, indem sie am
hellsten Tage halbblind sind. Ihre Augen sind schwach und
laufen voll Wasser, wenn die Sonne auf sie scheint, so daß
sie beim Tage es vermeiden auszugehen, außer wenn es
ein wolkiger dunkler Tag ist. Ueberdies sind sie mit den
anderen verglichen schwächlich und nicht sehr geschickt zum
Jagen und anderen anstrengenden Beschäftigungen, auch
haben sie keine sehr große Freude au dergleichen. Aber
wiewohl sie am Tage so unbeholfen und träge sind, sind
sie doch, wenn Mondscheinnächte kommen, voller Leben und
Thätigkeit, rennen in den Wäldern herum und springen
umher wie wilde Böcke; sie laufen beim Mondlicht, selbst
im Duukel uud Schatten der Wälder, ebenso schnell als
die anderen Indianer bei Tag; denn sie sind ebenso behend
als diese, jedoch nicht ebenso stark uud frisch. Die kupfer-
farbigen Indianer scheinen sie nicht ebenso hoch zn stellen
als die von ihrer eigenen Complexion, indem sie dieselben
für monströse Wesen ansehen. Sie bilden keine besondere
Rasse für sich, sondern es wird dann und wann einer von
kupferfarbigen Eltern geboren; ich sah welche von dieser
Gattung, die jünger als ein Jahr waren" x).
Neuerdings bestätigt Dr. Cnllen das Vorkommen von
Albinos aus dein Isthmus von Darien. Auf Pedron-
Island bei Cap San Blas sah er drei Kinder von den-
selben Eltern stammend und unter jenen zwei Albinos.
Sie hatten sehr weiße Haut, weißes Haar und weiße Augen-
Wimpern, litten an mangelhafter Sehkraft und hatten kein
Pigment in den Augen. Einen Augenblick der Sonne ans-
gesetzt röthete sich ihre Haut und wurde so schmerzhaft, daß,
sie genöthigt waren in ihre Hütte zurückzulaufen2).
Daß unter den brasilianischen Indianern Albinos vor-
kommen erwähnt v. Martius^); daß sie äußerst selten unter
deu Coroados am Rio Npoto in Brasilien seien, bemerken
v. Spix und v. Martins^) und unter den Pneblo-Jndia-
nern Neu-Mexikos sind sie von verschiedenen Beobachtern
1) Wafer's Account of the Isthmus of Darien 1699
citirt in Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts I, 267.
2) Transact. Ethnol. Soc. New Series IV, 266.
3) Zur Ethnographie Amerikas, 633.
4) Reise in Brasilien I, 376.
Verbreitung der Albinos.
geschildert worden, als weiße Leute mit hellem Haar und
blauen oder röthlichen Augen *).
Afrika. Die abnorme Stellung, welche Albinos unter
den Negern einnehmen, erkennt man aus der Schilderung,
welche Bastian giebt, als er einen solchen „Dondo" bei Quin-
sembo in Kongo antraf: „Solcher werden vielfach von den
Fürsten, besonders an der Küste, gehalten, als ein ihnen
Einfluß über die Europäer gewährender Fetisch. Ueberall
haben sie das Recht, sich zuzueignen, was ihnen beliebt, und
der Eigenthümer, weit entfernt Einspruch zu erheben, fühlt
sich dadurch ebenso geehrt, wie der fromme Hindu, wenn
ihm Siwas Ochse aus dem Markte von Benares seine
Körbe ausfrißt. Auch ixt Loango wird diese Menschenklasse
selbst mehr als die Gangas geachtet und die Haare der-
selben werden thener als Reliquien verkauft" 2).
Auf Fernando Po sah Güßfeldt einen Albinoknaben,
„der doppelt abstoßend erschien, weil er völlig unbekleidet
war und unter ganz hübschen schwarzen Wäscherinnen um-
herspielte. Der gelblich - weiße, schmutzige Teint, das fast
ebenso erscheinende Wollhaar, die gekniffenen, krankhaften
Augen ließen dieses von schwarzen Eltern abstammende
Wesen wie einen Aussätzigen erscheinen"
Eine Kassernalbino, ein 16 jähriges von normalen
Eltern abstammendes Mädchen, beschrieb Bnrchell. Die
Farbe ihrer Haut war die der hellsten Europäerin oder
vielmehr, sagt er, sie war mehr blaßroth und weißer. Ihr
Haar hatte dieselbe wollige Natur, wie das ihrer Lands-
männinnen, aber es war von besonders blasser Farbe und
näherte sich sehr dem Hellblonden. Ihre Züge jedoch waren
die einer reinen Kafferin^).
Dem französischen Reisenden Mollien wurde zu Puku
bei Timbo in der Nähe der Senegalquellen ein Albino-
Mädchen vorgeführt, welches er folgendermaßen schildert:
Sie hatte weder Augenbrauen noch Augenwimpern und schien
daher von den Sonnenstrahlen besonders viel zu leiden; ihre
Hautfarbe war kreideweiß, ihr Haar sowie ihre Physiognomie
dagegen negerartig; sie hatte einen sehr langsamen Gang;
überhaupt verkündigte ihr ganzes Aeußere ein schwaches,
leidendes Wesen, daher ich nicht wenig erstaunt war zn
hören, daß die Neger dergleichen Mädchen heirathen nnd
daß diese keineswegs unfruchtbar zu sein pflegen. Man
versicherte mich, daß wenn sie mit Männern von ihrer Farbe
in eine eheliche Verbindung träten, die darin erzeugten Kin-
der ebenfalls weiß wären. Der Anblick des unglücklichen
Geschöpfes, welches man mir vorstellte, erregte bei mir ein
Gefühl des Mitleids, welches die Zuschauer für Abscheu
hielte». „Wenn Du," sagte einer dieser Neger, „für Wesen
Deiner Art Abscheu empfindest, so darfst Du Dich auch nicht
wundern, wenn Deine Farbe uns mißfällt" 5).
In Brasilien werden die dort häufig vorkommenden
Neger-Albinos „Afsas" genannt, v. Tschndi sah ein zwölf-
bis vierzehnjähriges derartiges Mädchen mit gelblich-weißem
Wollhaare und käseweißer Hautfarbe. Die Bindehaut der
Augen war nicht geröthet, fondern hatte den bei den
Negern gewöhnlichen etwas gelblichen Teint. Die Pupille
war stark erweitert, aber das Mädchen versicherte nicht an
Lichtscheu zu leiden^).
x) H. II. Bancroft, The native Races of the Pacific
States I, 350.
2) A. Bastian, Ein Besuch in San Salvador, 34.
Die Loango - Expedition. Leipzig 1879, I, 27.
4) Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts, I, 278.
5) G. Mollien, Reise in das Innere von Afrika. Weimar
1820, 279.
c) I. I. v. Tschudi, Reise durch Sudamerika, III, 93.
Sp. Gopeevio: Stobra,
Der König von Aschanti hielt sich im Beginne unseres
Jahrhunderts „beinahe 100 Neger von verschiedenen Farben,
durch alle Schattirnngen von dnnkel- und blaßroth bis zu
weiß. Sie wurden von Staatswegen gehalten, waren aber
fast immer ekelhafte, kranke ausgemergelte Geschöpfe. Wenn
sie gingen, so schlotterte ihre Haut gewöhnlich und ihre
Augen blinzelten im Lichte, als könnten sie es nicht er-
tragen" *).
An der Mündung des Kalabarflusses in Westafrika
liegt Parrot Island, wo die Einwohner von Duketown
einen brutalen abergläubig-religiösen Brauch vollführen.
Wenn nämlich wenig europäische Handelsschisse vorhanden
sind oder gauz fehlen, so opfern sie auf dieser Insel ein
Albinokind dem Gotte des Weißen Mannes, weil die Insel
in dem Meere liegt, über welches die Europäer zu ihnen
kommen2).
In Unyoro in Centralasrika ist nach Dr. Schnitzler das
Vorkommen von Albinos, die von schwarzen Eltern stammen,
dnrchans nicht selten. „Doch ist von ihrem Zusammen-
hange mit Heirathen unter Blutsverwandten keinerlei Rede;
Brüder heirathen in Unyoro ihre Schwestern ohne Albinos
zu zeugen. Letztere selbst gelten als Unglücksbringer und
sind nicht als vollbürtig anerkannt" 3).
Eine Anzahl interessanter Fälle von Albinismus beob-
achtete an der äquatorialen Westküste Afrikas der frauzö-
fische Marinearzt Dr. Louis Vincent. Der vollständige
Albinismus, sagt er, sei ziemlich hänsig an der Westküste;
wenn die Fälle jedoch nur verhältnißmäßig selten bekannt
würden, so läge dies daran, daß jene Fetischanbeter die
Geburt eines Albinolindes für unheilvoll hielten und das-
selbe unweigerlich tödteten. „Die vier Fälle, über welche ich
berichte, sind Kinder derselben Familie und es ist nur den
Rathschlägen sowie der sorgfältigen Aufsicht der Missionäre
zu verdanken, daß sie dem traurigen Loose, welches ihrer
wartete, entschlüpfen konnten. Vater und Mutter gehören
zum Stanime der Bengas, welche meist Fischer find, die
am Cap Esteiras leben, welches den südlichen Vorsprnng
der Bai von Corisco bildet, nicht fern von der Clara-
Spitze, welche im Norden das Aestuarium des Gabon be-
grenzt.
„Eine genaue Untersuchuug der Elteru zeigte mir bei
ihnen keine Spnr von Albinismus. Ihre Haut ist völlig
und gleichmäßig schwarz, entsprechend den Nummern 41
und 42 der Farbenskala der Södels d'Anthropologie. Der
Vater, Etienne Mabouga, ist 35 bis 38 Jahre alt, die
Mutter 30 bis 32. Der Gesichtswinkel des Mannes ist
Bowdich, Mission nach Ashantee. Weimar 1829, 391.
2) Th. Hutchinson, Impressions of Western Africa.
London 1858, 112.
3) Emin Bey (Schnitzler) in Petermann's Mitthl. 1879, 229.
, das Herz Oberalbamens. 377
76 Grad; seine Physiognomie intelligent; seine wolligen
Haare sind sehr schwarz; seine Backen mit einem schwarzen
Barte umrahmt. Die Mutter ist gut gewachsen, ihr
Becken normal. Sie hat zehn Kinder gehabt, die alle in
normaler Zeit nnd in folgender Ordnung geboren sind:
1. Schwangerschaft: ein lebender Albinoknabe.
2. „ schwarze Zwillingsmädchen; todt.
3. „ lebendes Albinomädchen.
4. „ todtes schwarzes Mädchen.
5. „ lebendes schwarzes Mädchen.
6. „ lebendes Albinomädchen.
7. „ lebendes schwarzes Mädchen.
8. „ todtes schwarzes Mädchen.
9. „ lebender Albinoknabe.
Die Abwechselung ist hier ausfallend; betrachtet man
die Tabelle, so findet man, daß jeder Albino von dem an-
dern durch zwei schwarze Mädchen getrennt ist und daß das
erste und letzte Kind Albinos sind. Ich habe die sechs leben-
den Kinder untersucht, von denen zwei normal schwarz und
ohne besondere Abzeichen und vier vollständige Albinos sind.
„Paul Mabouga, das älteste dieser Kinder, ist 1856
geboren und steht jetzt (1872) in seinem sechszehnten Jahre.
Er ist in der katholischen Mission erzogen, kann lesen und
schreiben, spricht leidlich französisch und steht in Bezug auf
Intelligenz keineswegs den übrigen Gabonesen nach. Sein
Gesichtswinkel ist 76 Grad, wie der seines Vaters. Sein
Schädel ist ausgesprochen dolichokephal; seine Kiefern zeigen
starken Prognathismns; seine Lippen sind dick und groß,
die Nase dick und abgeplattet. Die kurzen Haare sind
wollig und von schwefelgelber Farbe. Augenbrauen und
Wimpern sind wenig entwickelt und zeigen dieselbe Farbe.
Die Haut bei alleu diesen Albinos ist rosenfarbig; aber
statt glatt und gleichmäßig wie bei den Europäern zu sein,
ist sie runzlig nnd voller kleiner Sprünge am ganzen Kör-
per, ja sie zeigt sogar Schuppen wie bei Psoriasis oder
Ichthyosis. Ihre Augen enthalten nur wenig oder keinen
Farbstoff, denn die Membranen der Iris haben eine blau-
rosige (bleue rosee) Farbe und die Pupillen sind rubin-
roth. Das in dieser äquatorialen Gegend so blendende
Sonnenlicht stört sie ungemein und ist die Ursache, daß sie
am Tage schlecht gehen nnd nur mit gesenktem Kopfe. Oft
sieht man sie den Unterarm oder die Hand über die Augen
halten, welche stark thränen."
„Ich habe oft Fälle von partiellem Albinismus bei
Gabonesen, Pahuins, Bnlns und den Krumen beobachtet;
allein alle diese Leute zeigten nur größere oder kleinere
Partien des Körpers entfärbt, nnd niemals die ganze Haut-
Oberfläche. Diese Albinos müssen daher der Kategorie der
scheckigen Neger zugewiesen werden" x).
^Bulletins de la societe d'Anthropologie 1872, p. 516.
Clodra, das Herz Oberalbaniens.
Von Spiridion Gopoevio.
Von den beiden Scntari ist Scutari in Anatolien (türk.
Ueschküdür) unbedingt das größere nnd schönere, aber von
Sentari in Albanien (türk. Jskenderje) wird es an Berühmt-
heit und Jnteressantheit übertrossen. Besonders als Sitz
der nordalbanesischen Liga ist letzteres neuerdings auch dem
Globus XXXVIII. Nr. 24.
großen Publikum bekannt geworden. Die Serben nennen
die Stadt Skadar, ihr eigentlicher albanesischer Name ist
jedoch Lkodra (Schkodra).
Wenn man sich ihr von Süden nähert, präfentirt sich
das Kastell von seiner malerischesten Seite; es verdeckt jedoch
48
I
378 Sp. Gopvevio: Lkodra
die eigentliche Stadt, so daß man bloß die beiden Vorstädte
Bac-elek (Batschelek) und Tabaki sowie das Ende des
Bazars gewahrt. Kommt man auf der Straße von Anti-
vari heran, so kann man zwar den Bazar und die Südseite
des Kastells, jenseits der Bojana auch Bavelek erblicken, aber
die Stadt selbst bleibt noch immer unserm Auge verborgen.
Hat man sich in Rijeka oder Vir eingeschifft und segelt über
den See in die Bojana, um Kkodra zu Wasser zu erreichen,
so ist man auch uicht besser daran; man hat den ganzen
Bazar vor sich, dessen Hintergrund der „Teps" (Hügel) bil-
det; rechts zeigt sich die Rückseite des Kastells, aber die
Stadt bleibt noch immer unsichtbar. Aber auch, wenn man
von Norden kommt, ist man sehr enttäuscht. Lkodra liegt
nämlich in der Ebene, die Häuser sind theilweise hinter Bän-
men versteckt und so kommt es, daß man auf den ersten An-
blick glauben könnte, ein rumänisches Dorf vor sich zu haben.
Um ein übersichtliches und genaues Bild der ganzen
Stadt zu erlangen, empfiehlt es sich daher, entweder das
Kastell, oder den Teps, oder, wenn der Bali dies uicht ge-
statten sollte, den Tarabos (Tarabosch) zu besteigen. Auch
vom Gipfel des gegen 20 Kilometer weit entfernten Mara-
naj i) kann man mit Hülfe eines guteu Fernrohres einen
schönen Ueberblick gewinnen, doch ist eine so mühselige Be-
steigung (ich verwandte 191/2 Stunden darauf) nicht Jeder-
manns Sache. Wählen wir daher das Kastell zu unserm
Observatorium. Als ich Scutari zum ersten Male betrat,
brauchte ich nicht weniger als drei Viertelstunden, um von
der Kiri-Brücke durch den Bazar und die Stadt in mein
Quartier zu gelangen; was war natürlicher, als daß ich
von der Größe der Stadt eine hohe Meinung bekam und
Hecqnard's Angabe, gkodra besitze gegen 40 000 Einwohner,
noch für zu niedrig gegriffen hielt. Erst als ich vom Teps
aus die ganze Stadt mit allen ihren Quartieren zu meinen
Füßen liegen sah, gewann ich die Ueberzengung, daß die
Stärke ihrer Bevölkerung die Ziffer von 25 000 Seelen
schwerlich übersteige. In der That gab man mir die Zahl
der Häuser aus 3500 an, davon 2500 mohammedanische
mit 16 000 Einwohnern, 900 katholische mit 7500 und
120 griechische mit 900 Seelen. Dazu noch etwa 100 Zi-
genner gerechnet, würde sich also die Einwohnerzahl auf
24 500 stellen.
Bon dem Kastell aus gesehen giebt uns Stadt und Um-
gebuug eine herrliche Augenweide. Blicken wir nach Nor-
den, so liegt die Stadt zu unseren Füßen. Aus frischem
Grün tauchen unzählige rothe Dächer hervor, aber nicht
schön aneinandergereiht, sondern zerstreut, gleich wie in den
meisten Dörfern des Orients. Bloß die Hauptstraßen sind
regelrecht gebaut; alle Seitengassen werden größtenteils
durch Mauern gebildet, welche Gärten einschließen, in deren
Mitte sich das eigentliche Wohnhaus erhebt. Die Eiser-
sucht der Mohammedaner wie der Katholiken ist nämlich
nicht geringer als jene der Türken, uuc> so kommt es, daß
die meisten in dem Abschließen und Jsoliren des Hauses
ein Mittel gegen nachbarliche Neugierde suchen.
Die Häuser der Stadt sind in einer weiten Fläche zerstreut
und verlieren sich in der Mitte der Ebene. Vom See ist
die Stadt zwei Kilometer weit entfernt. Einzelne Minarete
ragen aus der Masse hervor, doch sind sie gleich den Mo-
scheen ziemlich unbedeutend. Gegen Nordosten zu fesselt ein
stattliches Gebäude unsere Blicke; es ist vielleicht das größte,
jedenfalls aber schönste der Stadt — die katholische Kathe-
drale, welche angeblich 2500 Personen fassen kann. In der
Vergl. „Eine Besteigung des Maranai in den albane-
fischen Alpen" „Globus" XXXVI, S. 231.
das Herz Oberalbaniens.
Ferne erheben sich die Berge des Maljsorengebietes, beson-
ders der imposante Maranaj und der Cukali (Zukali).
Gegen Nordwesten schweift das Auge über die uuabfeh-
bare fruchtbare Ebene — im Norden Bajca (Baitza), im
Süden PaZva Stoj (Paschtscha Stoj) genannt — sowie
über den bläulich schimmernden See. Im Westen hemmt
der steil ansteigende uud das Kastell überragende 572 m
hohe Tarabos (Tarabosch) den Blick auf Antivari, das dort
hinter dem Rumija-Gebirge liegt. An feinem Fuße, dicht
unter uns, gewahren wir die neue, sehr lange, hölzerne Joch-
brücke, welche die Bojaua überbrückt, und an deren jenseitigem
Ende die griechische Kapelle San Rocco nebst einigen Hau-
seru steht. Die Bojaua macht nördlich derselben eine recht-
winklige Biegung und entzieht sich dadurch unseren Blicken.
Am Fuße des Rosafa (fo heißt der Berg, welcher das
Kastell trägt) und um denselben herum zieht sich der betrücht-
liche Bazar. Er beginnt dicht an der Mündung des Kiri
in die Bojana und zieht sich dann zwischen dem Rosafa und
einem kleinen Bache nach Norden, bis er fich in die Stadt
verliert.
Wenn wir uns jetzt nach Süden wenden, wechselt die
Scenerie. Die Bojana schlängelt sich silberglitzernd zwi-
schen Büschen und Bäumen um die Absälle des Tarabos
(Tarabosch) uud verliert sich in der Ferne. Nach Ausnahme
des Kiri (und des in diesen mündenden Drinazi \z = toet*
ches s]) bildet sie einen riesigen Sumps mit kleinen Inseln.
Die vielen Fischereien haben diese Versumpfung bewirkt und
nur ein erfahrener Steuermann kann es wagen, fein Fahr-
zeug durch die Kanäle zu führen.
Jenseits der Kiri-Brücke liegt die Vorstadt Baeelek
(Batschelek), ein so elendes schmutziges Nest, daß die Stra-
ßen eines ungarischen Pußta-Dorfes dagegen noch in hol-
ländischer Reinheit erscheinen. Als ich nach der Regenzeit
durch die Hauptstraße ritt, versank mein Pferd bis an die
Knie im Koth. Unberittene hätten nur dann an das Pas-
siren denken können, wenn sie gute Schwimmer waren.
Ueber Baeelek (Batschelek) hinaus erfreut fich das Auge
an dem frischen Grün der Ebene, in deren Mitte sich eine
einsame Felsengruppe erhebt, der Malj Brdiz genannt
(auf der österreichischen Karte ist irrthümlich das Dorf
B rdica Ziper ^Brditza fchiper^ mit diesem Namen bezeich-
net). Gegen Südost zu taucht der Drinazi zwischen Wiesen,
Feldern und Steinwüsten hervor. Bekanntlich hat der Drin
im Winter 1858/1859 bei dem Dorfe Vade die Fesseln
seines bisherigen Bettes gesprengt, sich über die Ebene er-
gössen und endlich im Winter 1860 bis 1861 sich ein
neues Bett gegraben, wodurch der neue Arm bei der Vor-
stadt Tabaki in den Kiri mündet. Der Drin hat dadurch
viel von seinem Wasserreichthnm verloren, doch war er im
Mai 1880 noch immer tief genng, um mich zur Ueberfahrt
in einem hohlen Baumstamme zu zwingen x). Im Juli
dagegen war sein Bett in Folge der langen Hitze so weit
trocken gelegt, daß ich es (an einer andern Stelle) mit dem
Pferde durchwaten konnte.
Zwischen dem Kiri und dem Rosafa sowie dem dessen
Fortsetzung bildenden Hügel liegt die interessante Vorstadt
Tabaki, und zwar an der Stelle, wo vormals (meiner Ueber-
zenguug nach) das venezianische Scutari gestanden, von
dem ich später noch sprechen werde. Die Häuser stehen da mehr
gedrängt beisammen und aus ihrer Mitte ragt eine schöne
Moschee, deren Dach ganz jenen von Stambnl gleicht.
Nach Nordost zu stoßen (wie schon erwähnt) mehrere
*) In zwei hohlen Baumstämmen waren wir unser sechs
Personen und fünf Pferde. Dasselbe war beim Uebersetzen des
Mat der Fall.
1
ms
SP. ©opceöic: Lkodra, das Herz Oberalbaniens.
379
Hügel an das Kastell. Der Rosafa ist von dem nächsten
— kurzweg „Teps", d. i. Hügel, genannt — durch eine
tiefe Einsattelung getrennt, welche mehrere Hauser enthält.
Der Teps dient den türkischen Truppen zum Lagerplatz, in
dessen Mitte sich das große Zelt des Kommandanten bemerk-
bar macht. Der Teps ist durch ein tiefes Thal, welches
durch ein Stadtviertel ausgefüllt ist, vom nächsten etwas
niedrigem Hügel getrennt und ebenso dieser von einem noch
flachern, der sich schließlich iu der Ebene verliert.
Damir haben wir den Anblick Lkodras aus der Vogel-
Perspektive skizzirt. Um die Stadt näher kennen zu lernen,
wollen wir jetzt einen Spaziergang durch dieselbe unterneh-
men und, da wir uns schon auf dem Kastell befinden, mit
diesem gleich den Anfang machen.
Ich hatte keine Gelegenheit die Mauern der Festung
näher zu untersuchen, doch schließe ich aus verschiedenen
Gründen, daß das Fundament derselben römischen Ursprnn-
ges ist, daß die über den Bauhorizont ragenden Untermauern
aus der Zeit der serbischen Herrschast stammen, die Form
und der sonstige Ausbau venezianisch ist und die Türken bloß
die viereckigen Thürme in Bastioueu umgewandelt haben.
Es erscheint unglaublich, daß der militärische Blick der Rö-
mer den Rosafa nicht zur Anlage der Akropolis ausersehen
haben sollte.
Hente ist das Kastell ganz ohne militärischen Werth,
d. h. gegen einen mit moderner Artillerie versehenen
Gegner, denn der jenseits der Bojana liegende Tarabos
(Tarabosch) beherrscht das Kastell und eine dasselbe über-
ragende Bergnase jenes Gebirges erleichtert die Anlage einer
Batterie. Von außen nimmt sich die Festung noch ganz
stattlich aus, im Innern herrscht jedoch gräuliche Zerstörung.
Bekanntlich sind die Türken so indolent, daß sie nicht direkt
bedrohte Festungen uuausgebessert lassen. Seit 1832 ist
auch an dem Kastell Rosafa nichts renovirt worden. Da-
gegen hat 1874 der Blitz das Pulvermagazin in die Luft
gesprengt und dieses die umliegenden Mauern und Gebäude
mitgenommen. In Folge dessen ist das Kastell nur mehr
als Ruine zu betrachten, welche höchstens genügt, die nnrn-
hige aber kanouenlose Stadtbevölkerung im Zaum zu halten.
Daß diese auch wirklich vor der Ruine Respekt hat, konnte
ich ersehen, als ich, meine ganze Beredtsamkeit ausbietend,
die Liga zur Erstürmung des Kastells aufforderte. Obwohl
ich die Wahrscheinlichkeit des Gelingens klar darlegte und
mich erbot den Stnrni selbst zu leiten, fehlte es dem Comits
doch an der nöthigen Konrage. „Es befinden sich dreißig
Kanonen oben!" meinte es bedenklich. (Wie mir ein tür-
kifcher Offizier gestand, sind jedoch höchstens fünfzehn Ge-
schütze brauchbar.)
Der Haupteingang in das Kastell ist gegen den Teps
gerichtet. Oberhalb des Thores, zu welchem ein höchst be-
schwerlicher, gewundener Pfad führt, sieht nian noch heute
den Löwen von San Marco. Im Innern befindet sich
der alte in Ruinen liegende Konak, den früher die Paschas
bewohnten, eine Kaserne und die in eine Moschee nmge-
wandelte ehemalige Garnisonkirche. Dort wo einstens das
Pulvermagazin stand, ist ein riesiges durch die Explosion
in die Erde gerissenes Loch sichtbar. Eine andere Kirche,
resp. deren vier Wände, steht außerhalb des Kastells am
Fuße des Rosasa unweit der Kiri-Brücke. Es war die
Stadtkirche Madonna del Bnono Consiglio (ein neuer Be-
weis für meine Vermuthung, daß die venezianische Stadt
an der Stelle des heutigen Tabaki gelegen war), deren Bild
sich in Rom befindet, wohin es der Sage nach bei der Be-
fetzung der Stadt durch die Türken von Engeln gebracht
worden ist. Hecqnard erzählt auch von mehreren nnterirdi-
fchen Räumen in Rosasa; doch konnte ich darüber nichls
erfahren.
Der albanesischen Sage zufolge soll die Festung durch
einen gewissen Rosa gegründet worden sein. Als der Nord-
thurm mehrmals einstürzte, rieth ein Greis, zur bessern
Haltbarkeit eine Frau einzumauern. Rosa's Schwester Fa,
welche die Arbeiten besichtigte, wurde denn auch ergriffen
und eingemauert. Daher erhielt der Berg den Namen
Rofa-fa.
Wenn wir das Kastell verlassen so führt uns der Weg
in eine Hohlschlucht hinab, in welcher einer der Stadttheile
gkodras liegt. Wenn ich nicht irre, heißt er Ajasma.
Steigen wir auf der andern Seite wieder den Hügel hinan,
so befinden wir uns auf dem Teps, offenbar jenem von dem
venezianischen Chronisten oft genannten Berge San Marco,
welcher während der Belagerung von 1474 durch 8000
Montenegriner besetzt war, deren heldenmüthiger Widerstand
damals die Stadt rettete und den Türken 7000 Mann
kostete. Auf dem Teps waren auch die türkischen Belage-
rungsbatterien aufgefahren, als sich Kara Mahmud ge-
gen die kaiserliche Armee vertheidigte. Heute ist der Teps
nebst den anstoßenden Hügeln von den unter Zelten lagern-
den Truppen okkupirt. Einen erheiternden Eindruck macht
es, die rund um die Hügel aufgestellten Wachposten unter-
riesigen in die Erde gepflanzten — Regenschirmen stehen zu
sehen, wie solche sonst nur bei Hökerinnen gebräuchlich sind.
Zwischen dem Teps und dem nächsten Hügel ist eben-
falls eine starke Einsattelung, welche das Stadtviertel Teps
enthält. Die Häuser desselben liegen ganz anmuthig im
Thale, ziemlich dicht gedrängt und in nicht geringer Zahl.
Auf dem Abfall des Teps gegen den Kiri zu befindet sich
die große Vorstadt Tabaki, welche ihrer Lage halber von
der eigentlichen Stadt ziemlich abgeschlossen ist. Noch heute
herrscht zwischen den Tabakinern und den Scutarioten eine
große Abneigung; beide Theile kommen wenig in Berührung
und früher war die Antipathie so stark, daß lange Jahre
hindurch förmlicher Krieg zwischen beiden bestand, und De-
markationsliuien gezogen wurden, welche die Gegenpartei
nicht ungestraft überschreiten durste.
Meine Gründe für die Behauptung, das venezianische
Scutari sei nicht an Stelle des heutigen Lkodra gestanden,
sondern habe sich zwischen dem Rosafa, Teps und den an-
deren Hügeln einerseits und dem Kiri andererseits befunden,
sind folgende: Wenn es anders wäre, hätte Scutari Ring-
manern, Gräben und Wälle haben müssen, um sich gegen
die nngehenern türkischen Belagerungsarmeen und deren von
beträchtlicher Artillerie unterstützte Angriffe halten zu können.
Diese können aber nicht spurlos verschwunden sein und da
die Stadt nicht erstürmt, sondern laut Friedenstraktat uu-
zerstört übergeben wurde, lag auch für die Türken kein
Grund vor, die Festuugswerke zu schleifen. Ferner hätte
die Besetzung der Hügelkette durch die Montenegriner des
Ivan Crnojevio uumöglich den Fall der Stadt verhindern
können, wenn diese vor dem Teps lag. Uebrigens treffen
auch des Barletius sonst dunkle Worte über die Lage Scu-
taris zu, wenn er sagt: „Ursprünglich lag die Stadt in der
Ebene; nachdem sie aber von den Barbaren zerstört worden,
flüchteten sich die Bewohner in die Festung und bauten sich
später an den Abhängen der Hügel an." Nun konnte
aber die Stadt keine sicherere Lage sinden als mit dem Rücken
an die Berge gelehnt und vor der Front durch den Kiri ge-
schützt. Dieser Umstand erklärt, weshalb wir nicht die ge-
ringste Spur von einer venezianischen Stadtbesestignng sin-
den, und weshalb die Kirche am südlichen Abhang des Rosafa
48*
———
380 SP. Gopöevie: Stobra,
liegt. Jenseits von Tabaki befindet sich das ebenfalls als
Vorstadt geltende kleine Dorf Kuei (Kutschi).
Die Brücke, welche zwischen dem Kastell und Baeelek über
den Kiri führt, befindet sich im jämmerlichsten Zustande.
Bevor wir darüber ritten, ermahnten mich meine Begleiter
abzusteigen, um bei dem sehr möglichen Einsturz der Brücke
besser wegzukommen. Als Fatalist jedoch und an schlechte
Brücken im Orient gewöhnt, blieb ich im Sattel. Daß der
Zustand der Brücke ein unbeschreiblicher war, konnte ich erst
dann würdigen, als ich am jenseitigen Ufer von unten hin-
auf sah. Dann erst ergriff mich Erstaunen, daß die Brücke
nicht schon längst eingestürzt. So etwas läßt sich nicht be-
schreiben; das muß man sehen! Höchst Possirlich ist es,
die Passanten (zwei- und viersüßige) einen förmlichen Eier-
tanz aufführen zu sehen, um den vielen Löchern und fehlen-
den Balken auszuweichen.
Viel besser, weil erst kürzlich an Stelle der 1877 beim
Vordringen der Montenegriner verbrannten Brücke ausge-
führt, ist jene über die Bojana. Neben ihr befindet sich die
Donane und verschiedene Magazine, der gedeckte uud ge-
mauerte große Besestan und die Ausläufer des Bazar.
Wenn man einen türkischen Bazar gesehen hat, so hat
man alle gesehen. Ueberall bleibt die Scenerie dieselbe;
nur daß der eine Bazar größer ist, der andere kleiner, die-
ser mehr, jener weniger kostbaren Inhalt birgt, in dem einen
größeres Gedränge herrscht als in dem ändern. Sonst sindet
man überall dieselbe lauge und schmale, von elenden stinken-
den Buden gebildete Gasse, deren „Pflaster" durch den allent-
halben liegenden Unrath schlüpfrig gemacht ist; ferner die in
den Buden inmitten der aufgeschichteten Waaren hockenden Ver-
käuser, welche, gedankenlos in das Blaue starrend, warten,
bis eilt Käufer kommt; endlich die Tfchibnkdfchis, d. h. die
Pfeifenanzünder, welche, ein glühendes Kohlenbecken am
Arm, mit der Feuerzange unaufhörlich klappernd durch deu
Bazar ziehen.
Im Bazar von Fkodra geht es fo zn wie in jenen an-
derer türkischer Städte. Nur fiel mir etwas auf, was ich
außerhalb Albaniens weder in der europäischen noch asiati-
schen Türkei gefunden, — weibliche Verkäufer, welche vor
den Buden an den Rinnsteinen auf der Erde hockten und
Waaren feilboten. Diese Mohammedanerinnen gehören
offenbar zur ärmsten Klasse, wie schon ihre Kleidung zeigt.
Alle haben das Gesicht mit einem den Jaschmack vertreten-
den undurchsichtigen Tuche verhüllt, das so eng anliegt, daß
sich Nase, Lippen und Kinn deutlich abzeichnen. Wie bekannt,
ist die „partie lionteuse" der Türkin ihr Gesicht; da also
durch den dichten Jaschmack der Moral Genüge geleistet
wird, stößt sich Niemand in Lkodra daran, wenn das sonstige
Kostüm jener Verkäuferinnen, bloß aus Hemd und Unterhose
bestehend, verschiedene nicht geschlossene Schlitze aufweist.
Ländlich, sittlich!
Der Bazar von Lkodra soll 1600 Buden zählen, deren
Bewachung nächtlicherweile einem Kulukdschi-baschi und fünf
Kukuks anvertraut ist. Während meiner Anwesenheit in
Lkodra brannten 300 Buden in einer Nacht nieder.
Vom Bazar gelangt man in die eigentliche Stadt. Auf
der gegen das Kastell zugekehrten Seite ist nur die gemalte
Moschee von Belang — aber nicht etwa, weil sie so schön
bemalt oder ein besonderes Bauwerk, sondern weil sie so
haarsträubend geschmacklos und häßlich bekleckst ist. Der
türkische Friedhof befindet sich nicht weit von ihr uud ist sehr
anspruchslos uud uubedeuteud.
Die Quergasse, welche zur bemalten Moschee führt,
nimmt in dem sogenannten „Centrum" der Stadt ihren
das Herz Oberalbaniens.
Anfang. Das Centrum wird durch das „Saraj" gebildet,
einen großen von niederen Mauern und Wassergräben um-
friedeten Platz, welcher die Negierungsgebäude, Audienz-
gemächer des Pascha, Kasernen und Depots enthält. Dicht
vor einem der drei durch Wachposten besetzten Eingänge bc-
findet sich das Telegraphenamt. Es ist dies eine ärmliche
Baracke, deren Inneres dem Aeußeru entspricht. Der Direk-
tor, Herr Megdanes, ein bulgarischer Grieche, wohnt in
einem stallartigen Verschlag, während seine Leute in einem
kleinen anstoßenden Zimmer bei vier Telegraphenapparaten
sitzen, deren Batterien frei an den Wänden stehen.
Herr Megdanes ist ein verständiger und braver Mann,
der jedoch durch seine übertriebene Aengstlichkeit jeden Kor-
respondenten zur Verzweiflung bringt. Er entging nämlich
in Bulgarien nur mit genauer Noth dem Galgen und feit-
her fürchtet er beständig der Pforte zu mißfallen. Ich be-
kam ihn jedoch trotzdem herum. Da Niemand in Lkodra
Deutsch verstand uud er somit bloß aus Eigennamen und
sonstigen international verständlichen Worten Argwohn schöp-
fen konnte, ersetzte ich alle verfänglichen Worte durch mit der
Redaktion meiner Zeitung verabredete anscheinend harmlose
und so passirtensie als „kommerzielle" oder „meteorologische"
Berichte anstandslos die Censur.
Das Saraj ist der Mittelpunkt der Regierung. Der
Vali (welcher für gewöhnlich in seinem ziemlich einfachen
Konak wohnt) begiebt sich täglich in das Regierungsgebäude
— ein elendes baufälliges Rattenloch — um Audienzen zu
ertheileu uud die laufenden Geschäfte zu erledigen. Die
Soldaten exerciren vor seinen Fenstern uud betrachten mit
heiliger Ehrfurcht mehrere gewöhnliche Omnibusse, welche
die einzigen Wagen Albaniens siud und über deren Ver-
Wendung ich im Unklaren blieb, da erst Fahrstraßen für sie
gebaut werden müßten.
Das Saraj liegt zwischen zwei breiteren uud besser erhal-
tenen Straßen, welche sich hinter dem an das Saraj stoßen-
den „Volksgarten" in dem „Boulevard" von Lkodra ver-
einigen. An der einen Straße liegt das englische, an der
andern das italienische Konsulat. Beide Gebäude haben
modern europäisches Aussehen und sind im Innern sehr
wohnlich eingerichtet, das englische hat auch einen hübschen
Garten.
Dicht daran stößt der schon erwähnte „ V ol ks g a rt en
Dieser wurde von Hussejn Pascha (dem überhaupt die
Stadt viel verdankt) 1878 errichtet und bewegt sich in
den bescheidensten Dimensionen. Inmitten mehrerer ganz
hübscher Anlagen erhebt sich ein Kiöschk (Kiosk), welcher
bei meiner Ankuuft vou einem Kasfeesieder gepachtet
war, der sich jedoch nach der Niedermetzeluug Beöir
Gjo.^a's (als deren Vorwand seine Mißhandlung dienen
mußte) nach Koustautinopel flüchtete, um der Rache der
Verwandten zu eutgehen. Uebrigeus ist der Volksgarten
unbelebt und nur hin uud wieder vou schläfrigen Türken
besucht, wegen des Kassees. Ich betrat ihn nur einmal und
das war damals, als mir meine Freunde ein Abschiedsbaukett
im Garten gaben.
Dem Volksgarten gegenüber steht eine winzige elende
Moschee, wie mau mir sagte, die älteste der Stadt. In
deren Nähe befindet sich eines der beiden Medresse,
welches eine kleine Bibliothek arabischer und persischer
Handschriften besitzen soll uud aus dem gewöhnlich der Lärm
der türkischen Schuljugend dringt. Eine andere Schule, ich
glaube die katholische, steht aus der andern Seite der erwähn-
ten Moschee.
Hinter dem italienischen Konsulat befindet sich die grie-
chische Kirche, ein kleines Gebäude, aber den Bedürfnissen
Sp. (Bopccüic: Sfobra
der Gemeinde genügend, und das Jesuitenkollegium, in
dem es ziemlich bunt zugeht. Beiläufig sei hier erwähnt,
daß Oberalbanien ein zweites Paragnay ist. Wenn man
nicht den unheilvollen Einfluß der Pfaffen (Jesniten, Franzis-
kaner nud Weltpriester) dnrch Vertreibung derselben bald
ausrottet, werden die Albanesen in kürzester Zeit so korrnm-
pirt sein, daß sie für die Civilisation verloren gehen. Die
mohammedanischen Albanesen sind ein bei Weitem
anständigeres nnd achtenswertheres Element, als die ka-
tholischen, die Bergalbanesen allein ausgenommen.
Nicht weit vom Kloster, inmitten eines großen von
Mauern umgebenen Platzes, ragt die stattliche katholische
Kathedrale gegen den Himmel, zwar ohne Thürme, aber von
gefälligen Formen nnd im Innern (wenigstens für Albanien)
prächtig ausgeschmückt. Wie man sagt, soll sie 2500 Per-
sonen fassen, was bei dem Mangel von Bänken wohl mög-
lich ist. Uebrigens ist die Bigotterie der Katholiken so groß,
daß — an Wochentagen leerstehend — an Sonntagen die
Kirche nicht nur überfüllt (rechts die Männer, links die
Weiber), fondern auch der ganze Hof vor der Kirche mit
Knieenden bedeckt ist. Nnr heiratsfähige Mädchen (vom
zwölften Jahr aufwärts) find unsichtbar, da sie entweder
schon beim Morgengranen in die Kirche getrieben werden,
oder diese gar nicht besuchen dürfen.
Nicht weit von der Kirche befindet sich der katholische
Friedhof, welcher bloß drei nennenswerthe Denkmäler und
Gräber besitzt. Das erste ist das Grabmonument Bib
Doda's in Form eines Sarkophags, das zweite jenes der
Tochter des französischen Konsuls, das dritte eine aus Holz
geschnitzte Büste, die Arbeit eines gewöhnlichen albanesischen
Banern. An Knnstwerth nnd Form gleicht zwar diese
Büste immerhin einer neuseeländischen Bildnerarbeit. Das
angebliche Porträt der Begrabenen wird nmsomehr znr lä-
cherlichen Fratze, als der Künstler in die Handflächen der
steif ansgestreckten Anne (die ganze Fignr bekommt dadurch
eine Kreuzform) einen Vogel gesetzt hat, während ein dritter
Knknk auf dem Kopf der Figur sitzt. Aber in Anbetracht
der Person des Bildners muß man diesem trotzdem Talent
zuerkennen.
Dnrch mehrere größtenteils von Katholiken bewohnte
Gassen nnd an dem einfachen Wohnhanfe Prenk Bib
Doda's vorbei kehren wir wieder znm Volksgarten zn-
rück, um unsere Wanderung ans der Hanptstraße, von dort
cm: „Boulevard des Europeens" oder „Linie A-B" ge-
nannt, fortzusetzen.
Rechts erhebt sich hinter mehreren Bäumen das „Hotel
Papaniko", das so elend ist, wie sein Anssehen, aber doch
das einzige, wo man gute Gesellschaft trifft. Dann fallen
uns mehrere modern fränkische Gebäude auf, die mitunter
sogar zweistöckig sind, nnd deren eines das „Hotel Europa" ist.
Wenngleich ich mich daselbst besser aufgehoben fand als in
dem vorerwähnten, kann ich doch Niemanden rathen dort ab-
zusteigen, da derWirthDaragjati ein charakterloser, heim-
tückischer Wicht ist.
Nach einem schwachen Anlans zu einer Allee, wie sich
dies für einen „Boulevard" geziemt, sehen wir rechts das
österreichische Generalkonsulat, ein kleines aber sehr wohn-
lich eingerichtetes Gebände mit großem Garten und Kegel-
bahn. Weiter hinans auf der linken Sei-te präsentirt sich
das stattliche rassische Konsulat, das sich sogar den Luxus
eines Balkons gestattet. Einige Schritte davon befindet
sich ein kleiner Markt; der Boulevard wird von einer Quer-
straße durchschnitten, welche rechts znr Kathedrale, links in
das Türkenviertel führt und durch ein Zaptje - Wachhans
(Karakol) markirt ist.
, das Herz Oberalbaniens. 381
Im Türkenviertel, das einen großen Platz mitMoschec, viele
Gärten nnd Buden enthält nnd einen ganz eigentümlichen
Anblick bietet, verirrte ich mich regelmäßig und hatte dann
Mühe, mit Hülfe meiner mangelhaften Kenntniß des Tür-
kischen und Albanesischen wieder aus dem Labyrinth zu ent*
kommen.
Der Boulevard setzt sieh hinter dem Karakol in einer
schnurgeraden Linie fort; von den Häusern abgesehen, ist dies
der regelmäßigste und schönste Theil der Straße, weil von
europäischen Ingenieuren angelegt. Das Ende des Bon-
levards wird dnrch die Gruppe der sogenannten „drei
Bäume" bezeichnet, von denen jedoch einer fehlt, da er
kürzlich vom Blitze zerschmettert worden ist. In der Nähe
dieser mächtigen Bäume, welche einst von einem Bali ge-
setzt worden sind, gewahrt man eine Cisterne und die Spu-
ren des Zeltlagers der türkischen Bataillone, welche hier
gewöhnlich vor dem Ausmarsch in den Krieg kampiren.
Links yon den drei Bäumen in einiger Entfernung lie-
gen noch zwei kleine Vorstädte von Lkodra, Namens Do-
brec' (Dobretsch) und G0lem. Vor ihnen befindet sich
das Militärspital, aus zwei großeu Gebäuden bestehend,
und eine Kaserne.
Damit hätten wir die ganze Stadt kennen gelernt.
Was deren Bewohner betrifft, fo hat noch Niemand
über diese ein günstiges Urtheil gefällt. Der anständigste
Theil derselben sind die Griechen resp. die orthodoxen Sla-
Ven, welche ihrer Minderzahl wegen gar keine Rolle spielen,
einfach und bescheiden für sich sortvegetiren und sich von
allen politischen und socialen Umtrieben fern halten. Man
kann von ihnen das Gute sagen, daß man nichts Böses
über sie sagen kann.
Nach ihnen kommen die wenigen in 8kodra ansässigen
Maljsoren und Mirediten: ebenfalls ganz verständige Leute,
stolz und tapfer.
Dann müssen die mohammedanischen Albanesen erwähnt
werden, welche (das Gesindel der Jmams, Hodschas, Mol-
lahs, Ulemas und dergleichen abgerechnet) zwar unwissend,
sanatisch und hochmüthig, gegen den Feind auch grausam
sind, aber wenigstens Ehrgefühl, Stolz und Charakter be-
sitzen. Zudem kann man ihnen Tapferkeit nicht ab-
sprechen.
Die wenigen Inden und Zigeuner sind in Lkodra so wie
anderswo. Sie haben überall die gleichen guten und schlechten
Eigenschaften. Dennoch sind sie mir immer noch lieber als
die katholischen Albanesen von Lkodra. Von Tugenden
konnte ich bei diesem unglaublichen Pack nichts gewahr wer-
den — denn ihre von Hecquard lobend anerkannte Reli-
giosität ist bloß Bigotterie und als solche verächtlich —.
Dagegen machte ich die Erfahrung, daß sie (natürlich mit
vielen ehrenhasten Ausnahmen) falsch, hinterlistig, geizig,
habsüchtig, schmutzig, frech und hochmüthig gegen Unterge-
bene, sklavisch kriechend vor Höheren (und als solche werden
alle Mohammedaner angesehen), verleumderisch, klatsch-
süchtig, bigott, unglaublich feig, verrätherifch und ebenso
unwissend als dumm sind. Wer immer so viel mit diesem
Gesindel verkehrt hat und zu Beobachtungen Gelegenheit
hatte, wie ich, wird mir Recht geben und mein vernichten-
des Urtheil begründet sinden. Man lese nach, was der den
katholischen Albanesen doch so sehr gewogene französische
Konsul Hecquard über sie für ein Urtheil fällt! Freilich
entschuldigt er die erbärmliche Niedrigkeit derselben mit dem
Umstände der mehrhundertjährigen türkischen Unterdrückung.
Er mag damit Recht haben; dies ändert jedoch nichts an
der Thatsache, daß sie gegenwärtig so sind. Eine nähere
382 Aus allen
Schilderung der Bevölkerung behalte ich mir für meine eth-
nographischen Studien vor.
Schließen wir diese Skizze mit einem historischen Ueber-
blick der Schicksale Lkodras.
Zum erstenmal wird Lkodra in der Geschichte von Li-
vius erwähnt, welcher erzählt, daß „Scodra" vom letzten
Jllyrier-König Gentins zur Hauptstadt gewählt worden
sei. Derselbe wurde auch hier 168 v.Chr.Geb. vom Prä-
tor Anie ins belagert, zur Ergebung gezwungen und nach
Rom geführt. Seither blieb Scodra römisch, woher es
wohl kommen mag, daß Polybius uud Appianns von dieser
Stadt als von einer „römischen Kolonie" sprechen. Plinius
redet dagegen bloß von einer „Stadt mit römischen BUr-
gern". Nach der Theiluug des römischen Reiches bildete
Scodra den westlichsten Besitz von Byzanz und die Hauptstadt
der Provinz Prävalitauia.
Im fünften Jahrhundert bemächtigte sich der Gothen-
könig Ostroilns der Stadt und schlug daselbst seine Re-
sidenz aus. Sein Nesse Selimir erlangte nach der Ver-
treibung der Gothen von Justiuiau deu Titel eiues Grafeu
von Zeuta.
Nach der serbischen Einwanderung fiel Scodra in der
Mitte des 7. Jahrhunderts in die Hände der Serben. In
der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts residirt der Ser-
benfürst Michael, welcher den Titel „Rex Sclavorum" an-
nahm, und sein Sohn Bodin bereits in Skadar, wie jetzt
Scodra umgetauft wurde. 1368 wurde es von Balsa(Bal-
scha) I. nach seinem Abfall vom serbischen Reiche zur Haupt-
stadt des Fürstenthums Zeta (Montenegro) gewählt.^ Von
den Türken hart bedrängt, verkaufte Gjnragj Balsie 1396
(nach anderen Quellen 1404) die Stadt gegen eine jährliche
Rente von 1009 Dnkaten den Venezianern, welche sich in
deren Besitz bis 1479 behaupteten. Schon 1474 war Su-
leiman Pascha mit 70 000 Mann vor Scutari erschienen
(wie die Stadt von den Venezianern getauft worden) und
Erdtheilen.
hatte es belagert. 2500 Venezianer unter Loredano hiel-
ten die Festung besetzt, 8000 Montenegriner unter ihrem
Fürsten Ivan Crnojevio (Jvanbeg) die anstoßenden
Höhen. Nach furchtbaren Stürmen mußten die Türken
mit einem Verlust vou 7000 Mann abziehen.
Vier Jahre später erschien der Sultan M oh ammed II.
selbst mit 350 000 Mann vor Scutari, dessen Besatzung
bloß aus 1600 Bürgern und Venezianern, 1600 Mon-
tenegrinern uud 250 Weibern unter Fra Bartolomeo,
Nikolaus Moneta und dem Ingenieur Donato be-
stand. Der Sultan ließ auf dem Tarabos 11 riesige
Geschütze gießen, deren Steinkugeln 300 bis 1300 Pfund
wogen, und damit die Stadt beschießen. Die entsetz-
lichsten Stürme endeten mit dem Untergang von 50 000
Türken, und 2534 in einem einzigen Monat geschlenderte
Riesengeschosse konnten den Muth der Vertheidiger nicht bre-
chen. Am 22. Jnli hatten gleichzeitig 150 000 Türken
gestürmt und waren mit Verlust von 12 000Todten zurück-
geworfen worden. Am 18. Juli hatte die Belagerung be-
gönnen, Anfang August zog der Sultan mit Schmach und
Schande ab und ließ bloß 40 000 Reiter unter Achmed
Evrenos Pascha zurück, um die Belagerung, welche jetzt
in eine Blockade verwandelt wurde, fortzusetzen. Nach Ab-
schlnß des Friedens, in welchem Venedig Scutari abtrat,
zog die Besatzung am 25. April 1479 ab, nachdem sie
sich durch Geißeln vor türkischem Verrath gesichert hatte. Sie
zählte noch 180 Montenegriner, 170 Venetiauer und 150
Weiber.
Aus Scutari wurde jetzt Jskauderjs uud blieb es bis
heute. DaS osmanische Element konnte jedoch nicht festen
Fuß fassen und wurde vom albanischen verdrängt. Für
Albaueseu heißt jedoch die Stadt Lkodra und nicht Jskan-
derjs, welcher Name nicht einmal von den dort ansässigen
Türken gebraucht wird. Dies der Grund, weshalb ich mich
hier stets des albanesischen Namens bedient habe.
Aus allen
Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde von
Oscar Peschel.
^Herausgegeben von I. Löwenberg. Leipzig, Duncker und
Hnmblodt, 3 Bde., 1877 bis 1879.)
ET. K. Auch heute noch wird die erneute Erinnerung
an ein seit vergangenem Jahre abgeschlossenes Sammelwerk
nicht zu spät kommen, wie es der Fall wäre, wenn es sich
um Einführung neu ans Licht tretender Arbeiten handelte.
Was aber hier von des ausgezeichneten Gelehrten überaus
fruchtbarer Thätigkeit vorliegt, sind iu Folge seiner andauern-
den Beschäftigung in der periodischen Presse schon längst,
bis zu einem Vierteljahrhundert zurück veröffentlichte kürzere
Artikel (meist in der Angsb. Allg. Ztg. und dem „Ausland"
erschienen), zum Theil auch längere Arbeiten, die schon bei
ihrem ersten Erscheinen auf die wachsende Theiluahme des
größern Publikums an geographischen Stoffen besonders
durch die geschmackvolle Art der Behandlung vortheilhaft
eingewirkt haben. Diese Anziehungskraft wird nun der
nach Beseitigung vieler Artikel von nur vorübergehendem
Interesse noch immer sehr reichhaltige und vielseitige Wieder-
abdruck des bisher Zerstreuten — er begreift noch über das
stark vertretene politische uud nationalökonomische Gebiet hin-
Erdtheilen.
aus selbst eiuzelnes aus dem Felde der bildenden Kunst, der
Poesie und des literarischen Handwerks — ohne Zweifel bei
den immer zahlreicher werdenden Liebhabern dieser Studien,
wie namentlich bei der lernenden Jugend, bewähren: für
letztere namentlich haben auch abgesehen von der stofflichen
Belehrung alle Arbeiten Peschel's formell einen hohen
bildenden Werth und können zur Anschaffung für Schul-
bibliothekeu kaum dringeud genug empfohlen werden.
Raum und Tendenz dieser Zeitschrift erlauben uns hier
selbst aus der geo - ethnographischen Partie nur einiges des
Wichtigsten hervorzuheben. Dem Umfang nnd der Grüud-
lichkeit des Quellenstudiums nach steht voran die 1355 im
Hinblick aus das damals noch in Vorbereitung begriffene
Lesseps'sche Suezkaual-Projekt verfaßte „Haudelsgefchichte
des Rothen Meeres"; eine Arbeit, die allerdings, wenn
der Verfasser sie selbst znr erneuten Publikation hätte brin-
gen sollen, in Folge reichern Zuflusses der historischen Quel-
leu, andererseits aber auch des Zurückbleibens späterer Er-
folge hiuter den vom Verfasser selbst immer uur sehr mäßig
getheilten sanguinischen Erwartungen von der wirklichen
Ausführung des Kanals, erhebliche Umgestaltungen zu ersah-
ren gehabt hätte.
Aus allen
Wie diese Arbeit, so gehört eine längere Reihe kürzerer
Artikel des 1. und 2. Bandes der Geschichte der Geogra-
phie an (auch die die ganze Sammlung eröffnenden über
geographische Mythen des Mittelalters sind dahin zu rech-
nen); also einem Fache, welches Peschel in zwei ausführ-
lichen Werken im Zusammenhange durchgearbeitet hat: sie
bereichern aber die dort gegebenen Darstellungen durch Be-
sprechung neuer Quellenfunde oder literarischer Studien ver-
schiedener Fachgelehrten, deren Resultate, in ihrer Original-
Publikation weitzerstrent, hier vereinigt und in angenehmster
kürzester Form geboten werden; wir möchten darunter na-
mentlich die Besprechungen der Arbeiten F. Knnstmann's,
d'Avezac's und Varnhagen's als höchst lesenswert!) hervor-
heben.
Diesen durchaus auf das Mittelalter bezüglichen Mit-
theiluugeu schließen sich sodann, als der Neuzeit und ihren
gewaltigen Fortschritten auf dem Felde wissenschaftlicher
Methode gewidmete längere Abschnitte diejenigen an, welche
die Namen unserer beiden großen deutschen Erdkuudigeu tra-
gen. Namentlich A. v. Humboldt's unerreichtes Verdienst
in Neubegründung einer ganzen Reihe von Specialgebieten
der Forschung, besonders aber in Zusammenfassung aller
Zweige des Naturwissens zu einer ausschließlich durch ihn
begründeten universellen Kosmographie wird mit wohlthuend-
ster Wärme gezeichnet. Hinter diesem schöpferischen Geiste
tritt, bei aller Anerkennung seiner besondern Weise der Thä-
tigkeit. C. Ritter erheblich zurück, gegen dessen Aecentuirung
einer, nicht in strengem Sinne durchgeführten „vergleichen-
den Methode" Peschel bekanntlich zuerst nicht abzuweisende
Einwürfe erhoben hat, deren Einfluß iu der jüngern Gene-
ration geographischer Schriftsteller unseres Erachtens sich
allzusehr zur Nichtbeachtung von Ritter's wirklichen Ver-
diensten zu steigern scheint.
Die kleineren Aufsätze „zur mathematischen und physi-
schen Geographie" zeigen vielfach, wie auch einem an sich
trockenen Thema durch geschickte Behandlung eine anmutheude
Seite abgewonnen werden kann. Ganz besonders aber ist
es eine Reihe von Artikeln, die scheinbar mehr dem politi-
schen Felde angehörig und zum Zwecke politischer Belehrung
zunächst geschrieben, aber durchaus auf geographischem Bo-
den fußeud, Beachtung verdienen als Zeugnisse für Pefchel's
ungemeinen Scharfblick, insofern die meisten derselben Fra-
gen behandeln, die in der Gegenwart wieder, wie vor einem
und zwei Jahrzehnten, zu brennenden geworden sind. Nur
nebenbei mag es uns gestattet sein, auf ein paar wahre Ka-
binetsstückchen in Handhabung geistvoller Ironie gegenüber
der damaligen Zustimmung halb Europas zu L. Napoleon's
Donqnixoterien in Polen und Mexico aufmerksam zu machen.
Ebenso klar sah Peschel zu einer Zeit, wo anch fast die ge-
fammte deutsche Presse dem Vorgeheu der Westmächte gegen
Rußland zum Schutze der Türkei zujubelte, die Unmöglich-
keit eines wirklichen Erfolges und die Wertlosigkeit der ge-
priesenen Reformprojekte ein; er sieht dainals, als der os-
manische Staat wirklich noch schuldenfrei war, in Folge der
Unverbesserlichkeit der herrschenden Race, unausbleibliche
Verarmung klar voraus; ebeuso prophetisch ist das Wort
(III, S 21) über die bei Gründung des hellenischen Reiches
thörichterweise unterlassene Zulegung von Epirus und Thes-
salien. Auch die Besprechung der schon vor einem Viertel-
jahrhuudert als drohend angesehenen Kollision zwischen briti-
schen und russischen Interessen in Eentralasien kommt durch
klare Darlegung der wirklichen, nicht durch vergrößernde
Brillen betrachteten geographischen und ethnographischen Ver-
Hältnisse zu Resultaten, welche durch die Erfahrungen der
neuesten Zeit einfach bestätigt werden. Die inneren Gefah-
ren der britischen Herrschaft in Indien hat damals kaum
jemand fo geahnt, noch weniger bestimmt ausgesprochen, als
hier Peschel in einem kurz vor dem wirklichen Ausbruch des
Aufstandes (1856) geschriebenen Aufsatz. Mit Recht — was
damals eifrig bestritten wurde — stellt er jenem schwankenden
Erdtheilen. 383
! Aufbau europäischer Gewaltherrschaft gegenüber die Schritt
für Schritt gesicherte Besitzergreifung und Bebauung des
Nordens und der Mitte des Erdtheils durch die Russen und
den daraus für den allgemeinen menschlichen Fortschritt sich
ergebenden Gewinn. Aber er verkennt auch nicht, hierin
weit überlegen den neuerdings von englischer Seite so stark
übertriebenen Befürchtungen, die außerordentlichen Schwie-
rigkeiten jeder weitern Vorwärtsbewegung nach dem Süden
Asiens hin: was Peschel damals über den geringen militä-
rischen Werth der Wüstenstraße Ehiwa, Merw, Herat, über
die Stellung des afghanischen Landes und Volkes und die
immense Wichtigkeit der Position von Kabul und Kandahar
(welche letztere er zu dauernder englischer Besetzung dringend
empfiehlt) für den Schutz Indiens geschrieben hat, ist ebenso
heute der Beherzigung werth geblieben.
Ebenso noch aktuelle Bedeutung, aber für unser eige-
nes Volk beansprucht ein Aufsatz aus dem Jahre 1861
über die „Wanderziele der Deutschen". Die hier ausführlich
dargelegten Gründe, welche gegen eine Auswanderung nach
Ungarn und den anderen Unterdonauländern, Rußland, Al-
gerien, nur bedingt für eine solche nach Costarica und Süd-
Brasilien, dagegen im weitesten Sinne für die Länder anglo-
germanischer Kolonisation von Kanada bis zum Eapland
und Australien, sonst höchstens noch für Süd-Chile sprechen,
haben seitdem nichts an ihrem Gewicht verloren: nur Para-
guay, dessen traurige Schicksale zu jener Zeit freilich Niemand
voraussehen konnte, würde der Autor später selbst aus der
Reihe der zulässigen Wanderziele gestrichen haben.
Eine anmuthige Zugabe, welche auch bei allgemeinem
Inhalt in zahlreichen feinen Bemerkungen den speciell geo-
graphischen Autor überall durchblicken läßt, bilden die
„Ferienreisen" in den Alpen nud Italien. Endlich möchten
wir die Gelegenheit benutzen, anch einen ganz außerhalb
unseres Faches sich bewegenden, aber überaus leseus-
werthen Aufsatz dem Leser zu empfehlen, der ihn um so
leichter übersehen könnte, als er den letzten Platz in der
ganzen Reihe einnimmt und als sein Titel „Zehn Jahre
deutscher Preßfreiheit, 1858" nur unvollständig den Inhalt
andeutet. Es ist eine anziehende Plauderei eines in den ver-
fchiedensten Fächern des Redaktionsgeschäftes Bewanderten,
über die inneren Verhältnisse seines Handwerkes, nicht ansge-
schlössen dessen starke Schattenseiten und ungemein belehrend,
wenn auch vielleicht mitunter abschreckend für eine nach ähn-
lichem literarischen Ruhme begierige Jugend.
Asien.
— Wie M. Ujsalvy aus Omsk berichtet, hat der To-
pograph Chaudaschewski auf Befehl des Generalgonver-
neurs von Westsibirien Koznokow unlängst den Norden
des Gouvernements Tobolsk zwischen Ob, Obischem
Meerbusen nnd Nadym, bisher vollständig unbekanntes Gebiet,
bereist und erforscht. BeidenSamojeden an der Obmündnng
fand er steinerne Idole in Gebrauch, nicht hölzerne, wie
man bisher bei ihnen kennen gelernt hatte. Im Thale des
Nadym fand der Reisende schöne Wälder nördlich von der
Linie, welche man bisher als Polargrenze des Banmwnch-
fes angenommen hatte.
— Nach einer in der Turkest. Ztg. gegebenen, nach
Wolosts geordneten Zusammenstellung, habest die Nomaden
aus 14 Wolosts (Amtsbezirk) dieses Kreises während des
strengen Winters 1879 bis 1830 an Vieh verloren: 49827
Kameele, 43 084 Pferde, 7257 Stück Rindvieh und 482 238
Schafe; ihr Vi eh st and beläuft sich zur Zeit nur auf
42681 Kameele, 17392 Pferde, 9449 Stück Rindvieh, 169214
Schafe. Bei diesem ungeheuer» Verlust an Vieh muß es
fast auffallen, daß der Verlust an Menschen, den die Schnee-
stürme herbeigeführt haben, nur auf 29 Köpfe angegeben
wird. Wie aus einer andern Korrespondenz desselben Blat-
tes hervorgeht, zählen die Nomaden in 20 Wolosts etwa
384
Aus allen Erdtheilen.
100000 Seelen, jeder Wolost etwa 1500 bis 2000 Kibitkeu
mit durchschnittlich 5 Seelen auf die Kibitke.
— Die Turkest. Ztg. veröffentlicht einen Tagesbefehl des
General Kaufmann an die iin Ferghana-Gebiet an der
chinesischen Grenze concentrirten Truppen. Daraus geht
unter anderm hervor, daß ein Detachement aus allen Was-
fen die Sommermonate auf dem Alai in mehr als 11 000
Fuß Meereshöhe zubrachte, und daß die Sappenrabtheilnng
desselben auf dem Wege nach dem Grenzposten Jrkeschtan
und auf dem Wege über den Paß Schart in 12 792 Fuß
Höhe Straßenausbesferungeu, auf ersterm anch einige
Brückenbauten, vorgenommen hat.
— Dtegeologischen Untersuchungen imKankasns
haben in diesem Jahre zur Eutdeckuug ausgedehnter Braun-
steinlagergeführt und zwar im Bassin der Kwirila (Neben-
fluß des Rion) zwischen den Thäleru der Flüsse Dnnta und
Tfchiotura sowie weiter aufwärts an den rechtsseitigen Zu-
flüffen der Kwirila fast bis zu den die Ratscha (das Hoch-
thal des Rion) begrenzenden Höhen, d. h. in einem sehr be-
trächtlichen Theile des Kreises Scharopan. Die größte Ans-
dehnnng haben diese Lager im Thale des Tschiotura bei
Bnnnkanry und Rgani. Nach Aussage der 1830 dorthin
kommandirten Geologen Simonowitsch und Sorokin sind
Braunsteinlager auch an folgenden Stellen aufgedeckt: im
Bassin des untern Laufes des Tzeuis-tzkali, im Bassin
des untern Rion, bei Kntais, bei den Orten Godagani
und Tfchqlas-tawi, an den Flüssen Tscheschnra, Ro-
kiani und Dzerula, in der Umgebung des Dorfes Tfchari
und weiter ostwärts in der Richtung zum Bassin der Tschio-
tnra. Diese ganze Gegend liegt auf dem Südabhange der
Ebene von Kolchis. Noch bemerkenswerther aber, auch für
die Praxis, sind die Resultate der Untersuchungen auf dem
Nordabhange der Ebene von Kolchis. Hier finden sich die
Lager von der Umgegend des Ortes Kwirila an in einem
zusammenhängenden Striche nach Westen nm Kawlity,
Swiri, Obtscha, Bagdad u. s. w. Die Fläche, welche die
Erzlager bedecken, wird auf 1380 Quadratwerst veranschlagt.
(Nach dem Kawkaz.)
— Die feindliche Haltung der Kurden gegen Persien
hat zur Folge gehabt, daß mehrere tausend persische Pil-
g er, die von Mekka zurückkehrten, durch die Unsicherheit des
Gebietes westlich von Kirmanschahan, in Baghdad zurück-
gehalten werden. Die drei letzten Karawanen wurden von
den Kurden bei Kasri-Schirin dicht an der türkisch persischen
Grenze angegriffen und mehr als 600 Pilger getödtet und
verwundet. Die persischen Behörden bezahlen übrigens für
jeden eingelieferten Kurdenkopf eine Summe im Werthe
von circa 80 Mark.
— In der letzten Nummer des „Journal of the Scien-
tific Proceedings of the Royal Dublin Society" giebt
ein Mitglied des Geological Survey of India, Herr
V. Ball, einen Bericht über das Vorkommen von Dia-
manten in Indien. In drei ausgedehnten, weit von
einander entfernten Strichen hat man danach gesucht. Der
südlichste derselben ist lange Zeit mit einem bekannten
und doch falschen Namen benannt worden: in Golkonda
giebt es keine Diamantenminen; dieser Name ging von der
Hauptstadt, von der jetzt nur ein verödetes Fort in der Nähe
von Haiderabad übrig ist, auf ein ganzes Königreich über;
aber die Stadt selbst,- viele Meilen von der nächsten Mine
entfernt, war nur der Markt für die kostbaren Steine. Der
zweite große Strich umfaßt ein riesiges Gebiet zwischen den
Flüssen Mahannnda und Godawari, und der dritte liegt in
Bandelkand, bei dessen Hauptstadt Punnah sich einige der
bedeutendsten Minen erstrecken. Die geologische Aufnahme
hat ergeben, daß in der Windiakette Nord-Jndiens Diamau-
teu vorkommen, und zwar sowohl in deren oberm Theile
im Thonschiefer (Rewah) wie im untern im Sandstein
(Semri). Aus eigener Anschauung beschreibt Ball die Mine
bei Sambalpur, die jetzt keinen Ertrag mehr liefert; hin-
gegen bringen die Minen von Punnah noch heutzutage einen
Jahresertrag von 40000 bis 60 000 Pf. St. In allen drei
Strichen haben Europäer das Graben nach Diamanten ver-
sucht, überall jedoch ohne Erfolg, obgleich durchaus kein
Grund vorliegt, eine Erschöpfung des Bodens anzunehmen.
Wohl aber gehört zur Ausbeute vou Diamantenminen, wo-
bei die Gelegenheit zu Unterschlagungen so ungeheuer leicht
ist, eine große persönliche Arbeitskraft, so daß dieser Weg
seiy Glück zu machen, seltene Zufälle ausgenommen, recht
langsam von Statten geht und nur für solche Männer lohnt,
die, mit langsamem Erträgniß und hartem Leben zufrieden,
eine strenge Bewachung ihrer Arbeiter durchzuführen ver-
stehen, vorausgesetzt, daß sie Kapital genug haben, um es
einige Jahre mit ansehen zu können.
(Mail, 29. September 1330.)
Polargebiete.
— Nach einem Telegramm aus Hakodate vom 12. Ok-
tober wäre dort von Peter-Pauls-Hafen die Nachricht ein-
getroffen, daß die „Jeannette", das Nordpolar-Schiff
des „New Aork Herald", vom Eise durchschnitten und verloren
gegangen sei. Bestätigung bleibt abzuwarten.
— Sir Allen Uonng wird im December mit seiner
Macht England verlassen, die Kanarischen Inseln, Theile der
afrikanischen Westküste, St. Helena und das Kapland besuchen,
um dort Erkundigungen einzuziehen und Vorbereitungen zu
treffen für die von ihm geplante Expedition nach den ant-
arktischen Gebieten. ___
Vermischtes.
— Dr. Oscar Schneider in Dresden hat in seinem
„Typen-Atlas" (Dresden 1831, E. C. Meiuhold u. Söhne),
wie uns scheint, einen praktischen Gedanken vortrefflich ver-
wirklicht. Auf 15 Tafeln werden die hervorragendsten Ty-
pen aus der Menschen-, Thier- und Pflanzenwelt, welche
beim geographischen Unterricht erwähnt werden müssen, dar-
gestellt. Jede Tafel enthält in der linken obern Ecke eine
Kartenskizze des betreffenden Welttheiles, welche durch ein-
gedruckte Ziffern, die denen der Abbildungen entsprechen,
die hauptsächlichsten Fundorte und die ungefähren Verbrei-
tnngsgebiete der dargestellten Objekte angiebt. Die ethno-
graphischen Tafeln, deren Köpfe und Gruppenbilder zumeist
nach sicher beglaubigten Originalphotographien gezeichnet sind,
werden von ethnographischen (oder Sprach-) Karten begleitet,
die zoologischen und botanischen von Skizzen, auf denen Ge-
birgsland und Ebenen unterschieden sind. Die Namen des
Herausgebers, der Fachmänner, die ihn mit Rath unterstütz-
ten, und der ausführenden Künstler bürgen dafür, daß hier
der Jugend — und auch Aeltere dürften beim Benutzen des
Typen-Atlas Belehrung finden — wirklich Zuverlässigere -
boten wird.
Inhalt: Panama und Darien. VII. (Mit fechs Abbildungen.) (Fortsetzung in einer spätern Nummer.) — Richard
Audree: Die Verbreitung der Albinos. — Sp. Gopcevic: Skodra, das Herz Oberalbaniens. — Aus allen Erdtheilen:
Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde von O. Peschel. — Asien. — Polargebiet. — Vermischtes. — (Schluß der
Redaction 1. December 1330.)
Redactcur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage.
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