Prof. Dr. C. Keller: Figuren d. ausgesl orbenen Ur (Bos primigenius Boj.) aus vor homerischer Zeit. 343
zwingenden Schlüsse, dafs die Goldbecher auf griechi- Auffassung in die Sprache der Haustiergeschichte, so stellt
schem Boden angefertigt wurden. der vorhomerische Künstler hier alle Phasen der Haus-
Sehen wir uns die Tierfiguren näher an, so erkennen tierwerdung in chronologischer Reihenfolge zusammen:
wir auf dem ersten Becher als fein ausgeführtes Bas- Jagd — Gefangennahme — Zähmung — Domestikation,
relief eine Jagdscene mit drei Wildochsen. In einem Die Idee ist mit vieler Feinheit durchgeführt und
Engpafs ist ein aus derben Stricken geflochtenes Netz beweist, dafs der Künstler die ungeheure Wirtschaft -
an zwei Olivenbäumen befestigt; Jäger sind bestrebt, liehe Bedeutung dieses Kulturschrittes geistig erfafst
die Wildochsen diesem Netze zuzujagen; ein Tier ver- hatte. Die Sache beweist aber noch mehr,
wickelt sich in demselben; zusammengeknäuelt und G. Perrot bemerkt, dafs Homer nirgends etwas
schnaubend versucht es umsonst, sich aus dem Garne von wilden Rindern erwähne und erklärt sich dies so,
zu befreien. Ein zweiter Wildstier setzt mit gewaltigem dafs die Bevölkerung bereits so stark angewachsen und
Satze über seinen gefangenen Genossen hinweg, während civilisiert geworden sei, dafs auf dem Boden Griechen-
der dritte Kehrt macht, einen Jäger zu Boden rennt, lands die Wildochsen ausgerottet waren. Bedenkt
den zweiten aber an sein rechtes Horn spiefst und empor- man, wie rasch vor unseren Augen wilde Tiere der
wirft (Fig. 1). Kultur weichen müssen (z. B. der amerikanische Bison),
Auf dem zweiten Becher erscheint ein Wildochse be- so wird man nur beistimmen können,
reits gefangen (Fig. 3). Eine kräftige Männergestalt hat Da ferner, wie der gleiche Autor bemerkt, die'phö-
ihn mit einem starken Stricke am linken Hinterbeine ge- nicischen Metallarbeiter Wildochsen niemals darstellten,
fesselt. Unwillig erhebt das Tier den Kopf und giebt und man in Ägypten die Rinder nie anders als im zahmen
Goldbecher von Vaphio. Nach einer Zeichnung von Defrasse.
Laute des Mifsbehagens von sich, was, ähnlich wie im
alten Ägypten, hier durch die herausgereckte Zunge an
gedeutet wird. Dann folgen zwei Tiere, welche sich
gemütlich zu unterhalten scheinen, zuletzt ein grasender
Stier in ruhiger Haltung, infolge der reichen Nahrung
eine auffallende Körperfülle erkennen lassend.
Der Gedanke des Künstlers ist vollkommen durch
sichtig und für die Haustiergeschichte ungemein inter
essant.
G. Per rot hat sich darüber in der erwähnten Arbeit
in sehr zutreffender Weise verbreitet: „La pensee de
l’artiste est assez clairement exprimée dans ces deux
tableaux, pour qu’il ne soit pas difficile d en saisir le
sens. Celui que nous avons décrit le premier représente
la chasse au taureau sauvage, et le second montre
la bête farouche déjà vaincue et domestiqué .... Ce
sont bien là, comme on là reconnu tout d abord, deux
pendants. D’un vase à l’autre, la même thème se
développe en deux parties dont le contraste est d un
heureux effet: nous avons ici l'exposition et là le dé
nouement du drame. “
Übersetzen wir diese ebenso geistreiche wie wahre
Zustande kannte, so müssen wir unbedingt annehmen,
dafs es sich nur um e u r o p ä i s c h e Wildrinder handeln
kann, welche deüKünstler auf dem ersten Gefäfse dar
gestellt hat.
Da Europa noch in viel späterer Zeit zwei Wild
rinder besafs, kann es sich hier nur um den Wisent
oder um den Ur handeln. Der Wisent bleibt aus
geschlossen , da schon die Beschaffenheit des Gehörns,
welches auf beiden Bechern mit wirklicher Meisterschaft
dargestellt ist, sofort auf die richtige Spur führt. Es
kann sich bei dem Becher von Vaphio nur um
den wilden Bos primigenius handeln.
Ich habe jene Figuren im Gehörn genau mit einem
Schädelstücke des diluvialen Ur verglichen, welches sich
in den Zürcherischen Sammlungen befindet, die Richtung
des Gehörns zeigt die schönste Übereinstimmung, es
wendet sich, obwohl im Gesamthabitus leierartig, erst
nach aufsen, dann nach oben und vorn, die Spitzen
streben zuletzt aufwärts. Die bedeutende Gröfse der
Hörner ist an den gejagten Tieren recht genau dar
gestellt, bei den zahmen Stücken — hier spricht sich
wiederum die feine Beobachtungsgabe des griechischen