ZEITSCHRIFT
FÜR
ETHNOLOGIE
der Deutschen Gesellschaft
für Völkerkunde und der
Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte
Band 114
DIETRICH REIMER VERLAG BERLIN
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© Dietrich Reimer Verlag 1989, ISSN 0044-2666
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Inhalt
Antweiler, Christoph: Eibl-Eibesfeldts Thesen zu einer multiethnischen Gesellschaft:
Ein Kommentar .................................................... 21
Betzig, Laura; Harrigan, Alisa; Türke, Paul: Childcare on Ifaluk .................. 161
Fischer, Hans: Ethnologie als Allerweltswissenschaft........................... 27
Hauser-Schäublin, Brigitta: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation and the ways
in which it has affected the understanding (or misunderstanding) of how other cultures
conceive phenomena respecting life, life-giving, the creation of individuals, and their
interrelatedness..................................................... 179
Jçdrej, M. C.: A note on ash symbolism in Africa .............................. Ill
Krasberg, Ulrike: Autopsie des Integrationsprozesses einer Forscherin in einem griechi-
schen Dorf ......................................................... 89
Lang, Hartmut: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?............ 39
Müller, Ernst Wilhelm: Wilhelm Emil Mühlmann f. 1. 10. 1904 Düsseldorf-11. 5. 1988
Wiesbaden ........................................................ 1
Pfeffer, Georg: Sir Edmund Leachf. 1910-1989 ............................... 17
Raum, Johannes W: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emer-
gence of states: The case of the Zulu reconsidered yet again ..................... 125
Renner, Erich: Yequana oder das verlorene Glück. Untersuchungen zu einem pädago-
gisch-anthropologischen Bestseller und seiner aktuellen Diskussion.............. 205
Ryffel-Gericke, Christiane: Vom Gewinn und Verlust von Freiheit. Aspekte der Arbeits-
teilung bei den Tuareg ................................................ 139
Schweizer, Thomas: Prozeßanalyse in der Ethnologie: Eine Exploration von Verfahren
undProblemen..................................................... 55
Stagi, Justin: Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay oder das Dilemma des Ethnogra-
phen in einer vorkolonialen Situation ..................................... 195
Wirsing, Rolf: Die Konzeptualisierung von Galtons Problem im interkulturellen Ver-
gleich: Forschungsgeschichte und neuere Lösungsansätze ..................... 75
Riese, Berthold: Laufende Forschungen..........................................................................223
Buchbesprechungen :
Anders, F.; Jansen, M.: Schrift und Buch im Alten Mexiko (Berthold Riese) ....................275
Betzig, L.; Borgerhoff Mulder, M.; Türke, P. (eds.): Human reproductive behaviour
(Christoph Antweiler)................................................................................................277
Bricker, V. R.: A grammar of Mayan hieroglyphs (Martha Zapata) ..................................280
Codex Zouche-Nutall (Ulrich Köhler)............................................................................284
Dürr, M.: Morphologie, Syntax und Textstrukturen des (Maya-)Quiche des Popol Vuh
(R. dcRidder)............................................................................................................286
Feil, D. K. : The evolution of Highland Papua New Guinea societies (Peter Hanser)..........289
Fox, J. A. : Maya postclassic state formation (Andreas Koechert)......................................292
Fuchs, S.: The Korkus of the Vindhya Hills (Lukas Werth)..............................................293
Helbling, J.: Theorie der Wildbeutergesellschaft (Peter Bretschneider)............................294
Hellmuth, N. M. : Monster und Menschen in der Maya-Kunst (Berthold Riese)................296
Herda, E. A.: A reconstruction of the evolutionary model in sociocultural anthropology
(Christoph Antweiler)......:..................................................................................299
Junge, P.; Heidtmann, F.: Wie finde ich ethnologische Literatur (Frauke J. Riese)............300
Klockmann, T.: Günther Tessmann: König im weißen Fleck (Günther Schlee) ................305
Kuntz, A.; Pfleiderer, B. (Hg.): Fremdheit und Migration (Thomas Helmig)....................307
Lévi-Strauss, C.: Die eifersüchtige Töpferin (Heike Behrend)..........................................308
Moermann, M.: Talking culture (Jutta Daszenies) ..........................................................310
Piischel, E.: Die Menstruation und ihre Tabus (Judith Schlehe)........................................311
Reimann, H. (Hg.): Soziologie und Ethnologie (Berthold Riese)......................................313
Rössler, M.: Die soziale Realität des Rituals (Danker H. Schaareman)..............................315
Wilhelm Emil Mühlmann f
1. 10. 1904 Düsseldorf - 11. 5. 1988 Wiesbaden
Ernst Wilhelm Müller
Johannes-Gutenberg-Universität, Institut für Ethnologie und Afrika-Studien, Postfach 3980, D-6500
Mainz, Deutschland
Abstract.Wilhelm Emil Mühlmann tought ethnology and sociology in Berlin, Mainz and Heidelberg,
where he retired in 1970. His great achievements were a stupendous number of publications, books, articles
and reviews; the founding of an Institute of Sociology and Ethnology at the University of Heidelberg,
which was the first to unite these disciplines under one roof; the formation of a considerable number of qua-
lified students, attracted by his combination of these two disciplines with reservations as to political issues;
the introduction of (European) literature into the orbit of ethnology. Although he was sceptical of racial
issues in some papers up to 1937, he later on published some unwarrantable phrases under the impact of
Nazism, for which he was seriously criticised in a German weekly in 1963.
Am 11. Mai 1988 starb überraschend Wilhelm Emil Mühlmann in einem Wiesbadener
Krankenhaus, in das er zwei Tage vorher eingeliefert worden war. Das Ende kam so
plötzlich, daß er die angefangene Reinschrift eines letzten Aufsatzes noch in der
Schreibmaschine hinterließ.
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 1-15
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Studium und Lebensweg
Wilhelm Emil Mühlmann war nach Habilitation 1938 in Berlin bis zum Kriegsende
dort Privatdozent, dann 1950 bis 1960 an der Universität Mainz, zuerst außerplanmä-
ßiger Professor für Soziologie und Völkerpsychologie, ab 1957 Ordinarius für Ethno-
logie und Soziologie, 1960 bis 1970 in Heidelberg ordentlicher Professor für Soziolo-
gie und Ethnologie, seit 1970 dort Emeritus. In seinem Vortrag zum Symposium aus
Anlaß seines 80. Geburtstags gab er an, erst mit 56, bei der Berufung nach Heidelberg,
sich „wissenschaftlich freigeschwommen" zu haben, und sprach von seiner verzöger-
ten akademischen Karriere. Dies stimmt aber nicht ganz.
Mühlmann wechselte während seines Studiums das Fach, in Freiburg studierte er
Anthropologie und Humangenetik bei Eugen Fischer, daneben Philosophie bei Ed-
mund Husserl. Später hörte er vor allem in Berlin bei Thurnwald und Vierkandt Eth-
nologie und Soziologie. Dieser Studienwechsel kam einem Doppelstudium gleich, was
die zahlreichen anthropologischen Veröffentlichungen 1928-1932 zeigen. Die breite
wissenschaftliche Ausbildung hinterließ bleibende Eindrücke. Schon 1931 wurde er
Redakteur der Zeitschrift „Sociologus", obwohl die Promotion erst 1932 erfolgte. Da-
mit zeigt sich, daß Mühlmann, wenn seine Entwicklung auch lange dauerte, doch sehr
früh erste wissenschaftliche Anerkennung gewann.
Die anthropologische Ausbildung bei Fischer, das theoretische und methodische
Rüstzeug von Husserl und die - Ethnologie und Soziologie sinnvoll verbindende -
Lehre bei Thurnwald und Vierkandt waren, zusammen mit einer beneidenswerten all-
gemeinen Bildung und Belesenheit, die Grundlagen für seinen wissenschaftlichen Er-
folg.
Drei Leistungen kann Mühlmann für sich verbuchen: seine Publikationen, das In-
stitut für Soziologie und Ethnologie in Heidelberg und seine Lehre, die sich in seinem
Einfluß auf zahlreiche Schüler und Schülersschüler auswirkte.
Mühlmanns Laufbahn war stark durch die allgemeinen Verhältnisse der Zeit be-
stimmt. Nachdem eine Habilitation in Hamburg wegen politischer UnZuverlässigkeit
gescheitert war, habilitierte er sich nach Parteieintritt 1938 in Berlin. In der Zwischen-
zeit nahm er in Hamburg, Breslau und Berlin museale Aufgaben wahr, für seine ethno-
logische Ausbildung hat er viel davon profitiert; nur die, die Mühlmann nicht näher
kannten, hielten ihn für einen in den Bereichen des materiellen Kulturbesitzes nicht
gut informieren Ethnologen.
Nach der Habilitation blieb Mühlmann bis Kriegsende als Privatdozent in Berlin;
eine Professur erhielt er nicht. Kurz vor Kriegsende flüchtete er aus Berlin nach Wies-
baden, um sich mit seiner Frau in deren Heimatstadt ein neues Domizil einzurichten.
Von hier aus erhielt er 1950 eine Diätendozentur mit dem Titel eines Professors an der
neu gegründeten Universität Mainz. Mühlmann begann schnell einen interessierten
und qualifizierten Hörerkreis zu gewinnen. Nach dem Tode von Adolf Friedrich auf
einer Expedition 1956 berief man ihn 1957 auf eine ordentliche Professur für Ethnolo-
gie mit der zusätzlichen Venia für Soziologie. Die kurze Zeit, die er das Mainzer Insti-
Ernst Wilhelm Müller: Wilhelm Emil Mühlmann f
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tut leitete, war eine Glanzzeit dieser Einrichtung, wenn man sich auch fragt, warum
Mühlmann in Mainz nicht gleich eine Entwicklung eingeleitet hat wie 1960 in Heidel-
berg. Trotzdem kann heute Mainz als das Institut gelten, das die wissenschaftliche
Konzeption des Verstorbenen am ehesten weiterführt.
Besonders beachtenswert waren in den Mainzer Jahren die Treffen der von Mühl-
mann geleiteten Sektion Ethnosoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Viele der dort gehaltenen Vorträge wurden veröffentlicht. Teilnehmer waren vor al-
lem jüngere Ethnologen, von denen mehrere später Professuren erlangten (Hans Fi-
scher, Lorenz G. Löffler, Ernst W. Müller, Wolfgang Rudolph, Erhard Schlesier, Rü-
diger Schott, Carl A. Schmitz). Die Arbeitsgruppe vereinte entsprechend einer der
wichtigsten Forderungen Mühlmanns ethnologisches und soziologisches Denken
miteinander.
Mühlmann erhielt 1960 einen Ruf nach Heidelberg, wo das Institut für Zeitungs-
wissenschaften nach dem Tod seines Leiters, des Soziologieprofessors Hans Eckardt,
in eine soziologische Lehr- und Forschungsstätte umzuwandeln war. Damals war
Mühlmann 55. Ich erinnere mich noch genau an seine Worte neuneinhalb Jahre später,
bei Überreichung der Festschrift zum 65. Geburtstag. Er sagte damals - und wieder-
holte es beim Vortrag zu seinem 80. Geburtstag mit anderen Worten —, daß es für ihn
ein besonderes Glück gewesen sei, in diesem Alter noch einmal eine Chance des Neu-
beginns zu haben.
Das Institut wurde von Mühlmann als Institut für Soziologie und Ethnologie
praktisch neu gegründet. Damit wurde das Fach Ethnologie dort eingeführt. Die orga-
nisatorische Zusammenfassung von Soziologie und Ethnologie war für Deutschland
neu; durch sie hat Mühlmann das notwendige und fruchtbare Zusammenwirken die-
ser beiden Disziplinen in einmaliger Weise gefördert. Das Institut nahm einen schnel-
len Aufstieg, der sich in der Zahl der Studenten und Mitarbeiter ausdrückte. Ein neues
Ordinariat (Ernst Topitsch) kam dazu, und Habilitionen von Mühlmanns Mitarbei-
tern folgten, wodurch das Lehrangebot erweitert werden konnte. Später wurde noch
eine dritte Abteilung - für Kommunikationswissenschaft - eingerichtet, um die alte
publizistische Tradition fortzusetzen. Auch nach den Erweiterungen blieb W. E.
Mühlmann Mittelpunkt dieses Instituts. Die ganze Konzeption ist nicht nur sein Ver-
dienst, sie ist zugleich eine Institutionalisierung seiner wissenschaftlichen Arbeit, er
war Organisator, wirklicher Leiter und Seele des Instituts mit schnell wachsender Stu-
dentenzahl. Mühlmanns Prestige und Qualität als Lehrer zogen auch hier viele Stu-
denten an, und Heidelberg war bald den alten ethnologischen Einrichtungen ebenbür-
tig. Typisch dafür ist, daß Valjavec (1984: 447) Heidelberg, dessen ethnologische Aus-
bildungstradition erst 1960 begann, mit Hamburg und Frankfurt zu den traditionellen
Ausbildungsplätzen rechnete, während so alte und traditionsreiche Einrichungen wie
Göttingen und Köln für ihn unter „ferner liefen" rangierten. Dies zeigt - ein Ethno-
loge würde es „Rückprojizieren der gegenwärtigen Situation in die Urzeit" nennen -,
welches Ansehen Mühlmanns Heidelberger Institut bei der jüngeren Ethnologenge-
neration hatte.
4
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Es muß für ihn schmerzlich gewesen sein, daß dieser Geist der Interdisziplinari-
tät nach seinem Weggang so schnell aufgegeben wurde. Eine lange Vakanz und Stel-
lenstreichungen machten seinen früheren Mitarbeitern deutlich, daß ein multidiszi-
plinäres Institut nicht mehr möglich war. Trotzdem bleibt sicherlich bei ihnen, ich
möchte mich hier ausdrücklich einschließen, ein Unbehagen und auch ein schlechtes
Gewissen, nicht zur Rückkehr nach Heidelberg bereit gewesen zu sein. Sie haben
aber viel von seiner früheren Arbeit weitergeführt - in Augsburg vor allem die Sizi-
lienforschung, in Mainz die institutionelle Verbindung von Ethnologie und Sozio-
logie.
Werk1
In seinen frühen Veröffentlichungen herrschten rein anthropologische Themen vor,
die er später nicht mehr aufgriff. Doch ist anthropologisches Denken in viele seiner
Arbeiten eingegangen.
Mit seiner Dissertation traten zwei Themen in den Vordergrund: die Ethnologie
Polynesiens und die Struktur der Organisationsformen im Wandel, bei denen sich sa-
krale und säkulare Ideen und Zielsetzungen verbinden. Beide Themen haben Mühl-
mann sein ganzes Leben nicht losgelassen. Sie haben in vielen Arbeiten ihre Fortset-
zung gefunden, vor allem mit der Reihe „Studien zur Soziologie der Revolution", die
durch sein Werk „Chiliasmus und Nativismus" (1961) eingeleitet wurde. Gerade hier
kam die ganze Breite seines Wissens zum Tragen.
War seine Dissertation in gekürzter Form 1932 im „Internationalen Archiv" er-
schienen, so begannen ab 1936 die großen Buchveröffentlichungen, die Miihlmann
zum produktivsten der deutschen Ethnologen seiner Zeit machten. 1936 erschien
seine „Rassen- und Völkerkunde", 1938 die „Methodik der Völkerkunde", zu der das
Einleitungskapitel (1937b) zum von Preuss herausgegebenen „Lehrbuch der Völker-
kunde" die Vorarbeit war. 1940 kam das vor dem Krieg geschriebene „Krieg und Frie-
den" heraus, 1945 „Die Völker der Erde" (1944 a) und „Assimilation, Umvolkung,
Volkwerdung" (1944 b). Alle fünf Bücher zeigen Mühlmann in seiner breiten Bildung,
seinem Wissen in Anthropologie, Ethnologie und Geschichte. Die historische Dimen-
sion der Ethnologie ist bei Mühlmann, der als Funktionalist und damit als A-, ja Anti-
historiker verschrien war, besser aufgehoben als bei manchem der Kulturkreis-An-
hänger jener Zeit. Dies zeigt sich nicht nur in seinen Materialarbeiten von 1936 bis
1945, sondern auch in der Methodik, in der er schrieb (1938 a: 163)\ Funktion bedeutet
Veränderung. Veränderung aber ist Geschichte.
Im Gegensatz zur Meinung des Verstorbenen halte ich diese „Methodik" von 1938
neben einigen Veröffentlichungen der späteren Zeit für sein bedeutendstes Werk.
' Für zusätzliche Literaturangaben danke ich Frau Ute Michel, Hamburg.
Ernst Wilhelm Müller: Wilhelm Emil Mühlmann f
5
Zwar ist sein Kulturkonzept - vor allem im Vergleich zu seinen späteren Arbeiten -
wenig entwickelt, doch ist der phänomenologische Ansatz, den er von seiner Studien-
zeit bei Husserl mitgemacht hatte, und die Darstellung des Funktionalismus als einer
historischen Theorie (im Gegensatz zu Radcliffe-Brown und Malinowski, aber in
Ubereinstimmung mit Sirokogorov und wohl auch mit Thurnwald) epochemachend.
Mühlmann nennt Sirokogorov den konsequentesten Funktionalisten. Husserls Phä-
nomenologie unter direkter Bezugnahme als richtungsweisend für das eigene Arbeiten
herauszustellen war zu einer Zeit, als Husserl durch den nationalsozialistischen Anti-
semitismus zur Unperson geworden war, ein deutliches Zeichen. Doch mit diesem
Thema müssen wir uns noch später beschäftigen. Vor allem ist Mühlmanns Position
zu einer Theorie des Ethnos, die, wenn auch noch nicht ausgereift, mir am überzeu-
gendsten und fruchtbarsten erscheint. Ich glaube, daß diese „Methodik" auch heute,
50 Jahre nach ihrem Erscheinen, für jeden Ethnologen lesenswert ist.
Um Mühlmanns Bedeutung für uns heute darzustellen, möchte ich aus seinen spä-
teren Arbeiten einige auswählen, Aufsätze, die nach den Sammelbänden „Homo
Creator" (1962) und „Rassen, Ethnien, Kulturen" (1964) erschienen sind, und die bei-
den letzten Bücher.
Mühlmann selbst hat in der Diskussion beim Symposium in Augsburg zu seinem
80. Geburtstag „Die Mauer im Nebel" als einen seiner wichtigen, aber wenig beachte-
ten Artikel bezeichnet (Mühlmann 1974). Ein weiterer Artikel, der damals von vielen
Seiten erwähnt wurde, stammt von 1975 und befaßt sich mit den Beziehungen zwi-
schen Soziologie und Ethnologie. Außerdem soll über seine Bücher zur Literaturso-
ziologie gesprochen werden.
„Die Mauer im Nebel" behandelt ein schon früher, mindestens seit Malthus be-
kanntes Problem, das heute ganz andere Dimensionen angenommen hat. Mühlmann
unterscheidet drei Phasen im Bevölkerungsverhalten: eine mit nahezu stationärer Be-
völkerung, was er auf hohe Kindersterblichkeit zurückführt; eine zweite, bei der
durch zivilisatorische Lebenserleichterungen, Hygiene im weitesten Sinne, die Kin-
dersterblichkeit zurückgeht, ohne daß das Fortpflanzungsverhalten geändert wird; in
der dritten Phase wird durch Kleinhaltung der Kinderzahl das Bevölkerungswachs-
tum gestoppt. Ich bin nicht ganz sicher, ob die Kausalitäten bei den drei Phasen voll-
ständig gesehen werden, auch in Phase 1 gibt es vermutlich Fortpflanzungsregelung
(Löffler 1979: 142f.). Fragen der Alterssicherung nach Auflösung der Solidarität der
größeren Verwandtschaftsgruppen durch die Mobilität im Zuge der Industrialisierung
sind in Phase 2 wichtiger (Schopenhauer in Mühlmanns Zitat hat sich wohl mittler-
weile als ganz falsch herausgestellt) als die wachsende Hygiene, aber Mühlmann bringt
im folgenden diese Argumente teilweise selbst und geht darüber hinaus. Er schließt an
die Überlegungen eines Teams vom Massachusetts Institute of Technology an. Seine
Schilderungen sind heute aktueller denn je. Das Problem von Übervölkerung, Ero-
sion, Konsumsteigerung und Aggression ist selten so früh klar gesehen, zumal Mühl-
mann darauf hinweist, daß er dies schon 1967 vorgetragen hat. Vielleicht hätte noch
deutlicher gezeigt werden können, daß die Länder der dritten Phase (= Industrielän-
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
der) an Mehrkonsum mehr als wettmachen, was die der zweiten Phase an Bevölke-
rungswachstum der Erde zumuten (wobei noch zu bedenken ist, daß die Industrie-
länder diese Wachstumsphase schon hinter sich haben). Strahm weist zur gleichen
Zeit wie Miihlmann darauf hin, daß ein Amerikaner so viel fossile Energie ver-
braucht und die Erde ebenso belastet wie zwei Bundesdeutsche oder 60 Inder oder
1100 Rwander (1975/80: 10f.). Darüber hinaus wäre zu bedenken, daß die Bevölke-
rungsvermehrung in den Ländern, die Miihlmann der zweiten Phase zurechnet, auch
rational ist, wie u. a. Löffler gezeigt hat ( 1979: 141-162; s. a. Müller 1979: 139). Irra-
tional ist die Vermehrung nur im Weltmaßstab gesehen, aber ebenso irrational ist
auch Konsumsteigerung einschl. des „Konsumterrors" in den Ländern der dritten
Phase. Miihlmann kritisiert die Optimisten, die größere Bevölkerungsmöglichkeiten
errechnen, ohne die menschlichen Unzulänglichkeiten, Umweltzerstörung, politi-
sche Probleme, Verschwendung auf der einen Seite gegen Hunger auf der anderen in
die Rechnung einzubeziehen.
Es erscheint mir symptomatisch, daß diese Einsichten von einem Wissenschaftler
stammen, der Soziologie und Ethnologie zusammen vertritt und von seinem anthro-
pologischen Studium her auf Bevölkerungsprobleme vorgebildet war. So ist es nicht
verwunderlich, daß Mühlmann auf diese Probleme einging und sie in zwei Vorträgen
1967 und 1971, im Vorwort zur Dissertation seines Schülers Schwägler (Miihlmann
1970) und in einem besonderen Artikel behandelte. Der Aufsatz demonstriert deut-
lich, welche Leistungen die Kombination dieser beiden Disziplinen für das Verständ-
nis der gegenwärtigen Weltgesellschaft erbringen kann.
Miihlmann hat diese Möglichkeiten in einem längeren Aufsatz 1975 herausgearbei-
tet. Nicht ohne Grund wurde diese Veröffentlichung deshalb beim genannten Sympo-
sium am häufigsten zitiert. Mühlmann bezeichnet sich hier als Schüler Thurnwalds
und Vierkandts, der beiden deutschen Wissenschaftler, die als erste Soziologie und
Ethnologie in ihrer Lehre und Forschung vereinten.
Miihlmann hebt hervor, daß die Ethnologie vor der Soziologie die größere An-
schaulichkeit und Erfiilltheit voraus hat. Ähnliches sagt König (1984: 27), der sich
nicht auf Miihlmann beruft, sondern vor allem auf Kurt H. Wolff (1968; 1981), doch
dürfte Miihlmann eine besonders klar gefaßte Darstellung des Problems geliefert ha-
ben. Ohne sie hätten meine beiden Artikel (1984,1986) nicht geschrieben werden kön-
nen. Miihlmanns Arbeit über das Verhältnis von Soziologie und Ethnologie sollte zur
Pflichtlektüre für jeden Ethnologen, aber auch jeden Soziologen gemacht werden. Ein
Argument erscheint mir dabei besonders bemerkenswert: Mühlmann empfiehlt als für
das in der Ethnologie unersetzliche Verfahren der „geistigen Erarbeitung" von Typen
die Intuition (1975: 87) und wendet sich damit gegen ein Verfahren, das mit immer
größerer Präzision immer zuverlässigere Aussagen über immer unwichtigere Daten
mit immer kleiner werdender Gültigkeit gestattet.
Miihlmann steht damit gegen den herrschenden Trend in den Sozialwissenschaften
zu statistischen Verfahren, verlangt aber, daß derjenige, der intuitiv Typen erfassen
will, die empirischen Daten in Breite und Fülle parat hat (1975: 87). Nach dem Tode
Ernst Wilhelm Müller: Wilhelm Emil Mühlmannf
7
von Mühlmann dürfte es kaum noch Ethnologen in Deutschland geben, von denen
dies gesagt werden kann.
Das zeigt sich ganz besonders in einer Richtung Miihlmannschen Arbeitens, die
die letzten Jahre seines Lebens kennzeichnet. Mühlmann hatte schon 1947 eine kultur-
anthropologische Arbeit über Don Quichote veröffentlicht (1947b), 1973 kam eine
Arbeit über Tradition und Revolution in der Literatur hinzu, die auch in Englisch er-
schien. Aber erst 1981 und 1984 kamen die beiden Bücher heraus, die Miihlmann als
den großen Überschreiter der Disziplingrenzen auswiesen. Ich kann die Bedeutung
der beiden Arbeiten nicht besser darstellen als durch Paraphrasierung dessen, was der
bedeutende Literatursoziologe und Mühlmannschüler H. N. Fügen dazu sagte (1986:
133-142). Fügen versucht anhand der Mühlmannschen Arbeiten den Unterschied
zwischen einer wertregulierenden Literaturkunde und einer soziokulturellen Litera-
turwissenschaft aufzuzeigen und findet - durch Beispiele belegt - in Mühlmanns Li-
teraturanthropologie alle Interpretationsebenen, die in einer Literaturwissenschaft
enthalten sein sollten, meist aber nur zum Teil - und dann implicite - enthalten sind.
Er demonstriert dies an dem Kapitel über Cervantes' „Don Quichote" in den „Pfaden
in die Weltliteratur" (1984). Fügen findet die „vermeintlich extrasoziale Ebene" des
aus sich schaffenden Individuums in einem Zitat über Cervantes (1984: 49), man
könnte ebensogut eine Stelle über v. Droste-Hiilshoff (Mühlmann 1981:198 f.) nen-
nen. Es zeigt sich bei beiden Stellen deutlich, wie richtig es ist, daß Fügen dem „extra-
sozial" ein „vermeintlich" vorsetzt. Auf der zweiten Ebene der unmittelbar gegebenen
Realität und deren Widerspiegelung nennt Fügen die Interpretation des Entschlusses
von Don Alfonso Quichano, als irrender Ritter Don Quichote in die Welt zu ziehen
(1984: 50). Auch hier gibt es bei v. Droste-FIiilshoff Parallelen, die reale Situation der
Spökenkieker im Münsterland oder der latente Antisemitismus, der in der „Judenbu-
che" die Grundlage bildet (Mühlmann 1981: 198 ff, 214). Es würde zu weit gehen, dies
für alle Ebenen auszuführen, es ist aber klar zu sehen, daß Mühlmann in diesen Bü-
chern Pionierarbeit geleistet hat (Fügen 1986: 139). Fügen macht noch ein Problem
deutlich: Mühlmann argumentiert einerseits mit dem, was man normalerweise als eth-
nologisch bezeichnet, z. B. mit der schamanistischen Grundhaltung von Annette v.
Droste-Hiilshoff, aber dann ist sein eigentliches Material, das er interpretiert, Litera-
tur, deutsche, amerikanische und spanische sowie germanische und griechische My-
thologie. Dies zu bewältigen erfordert einerseits eine ungeheure Belesenheit, andrer-
seits sprengt es die Grenzen der traditionellen Ethnologie in doppelter Hinsicht. Ein-
mal galt Literatur früher nicht als Stoff der Ethnologie (höchstens orale Traditionen),
zweitens ist der früher übliche regionale Rahmen überschritten. Fügen löst dieses
Problem dadurch, daß er das ganze Unternehmen Mühlmanns , Anthropologie' nennt,
im Sinne dessen, was Mühlmann selbst umfassende Kulturanthropologie genannt hat
(1952; 1956). Das ist eine Möglichkeit, Fügen erklärt es so, daß der Ethnologie die
Rolle der historischen Kasuistik zukomme, wobei das Fach in dieser Funktion aber
gelegentlich durch die deutsche Literaturgeschichte und Volkskunde vertreten
wird.
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Das könnte man so stehen lassen, doch scheint mir alles, was Fügen weiter aus-
führt, in eine andere Richtung zu weisen: Mühlmann ethnologisiert deutsche (u. a.)
Literatur, wenn er z. B. A. v. Droste-Hiilshoff als Schamanin darstellt (Miihlmann
1981: 198-218; Fügen 1986: 140). Diese Verfremdung als Mittel der Ethnologie war
Miihlmann immer wichtig. Ob man aber eine Untersuchung allgemein menschlicher
Konstanten, Aussagen genereller Art über menschliche Kultur und Kulturenfähigkeit
als Anthropologie oder Ethnologie bezeichnet, erscheint mir als sekundäre Frage:
Menschen erleben und leben Kultur in Ethnien gegliedert, die zusammenfassende
Kulturkunde kann ihren Namen sowohl vom Menschen wie von den Ethnien bezie-
hen. Natürlich bedeutet das eine Ausweitung der Ethnologie, sie ist einerseits umfas-
sende Kulturwissenschaft und gleichzeitig teilweise ihr eigener Materiallieferant. Die
Art, wie Mühlmann z. B. das Material „Droste" angeht, zeigt, daß auch hier die Er-
gebnisse einer anderen Disziplin nicht einfach übernommen werden.
Seine terminologische Position dazu ist nicht einheitlich, der Gedanke einer Eth-
nologie als umfassende Kulturwissenschaft taucht erstmalig in der „Methodik"
(1938a) auf. Mühlmann hat damals (1938a: 227ff., 243), wie ich auch im Symposiums-
band ausgeführt habe (1986: 122, s. a. 1984: 38ff.), Ethnologie als die Wissenschaft
von den (und zwar allen) Völkern bezeichnet. Er (1938 a: 228) sieht dabei die europäi-
schen Nationalitäten-Untersuchungen von Steinmetz als Teil der Ethnologie an. Die-
sen weiten Rahmen von Ethnologie hat Miihlmann zwar später z. T. aufgegeben, aber
ich meine, daß beide Bände zur Literatur die alte Auffassung wieder bestätigen.
Mit diesen Arbeiten hat der Verstorbene ein neues Feld eröffnet. Sicherlich fehlt
bei dem ungeheuren Stoff noch eine weitere tiefere Durchdringung: fast jedes Kapitel
der Bücher über den weiblichen Schamanismus und über die Pfade in der Weltliteratur
wäre eine ethnologische Dissertation wert. Für die Einleitung dieser Entwicklung
schulden wir ihm Dank, ebenso für die engagierende Lehre in Mainz und Heidelberg.
Politik
De mortuis nil nisi bene: Doch wäre eine Würdigung Miihlmanns unvollständig, ohne
auf die Angriffe gegen ihn in der „Zeit" 19632 und die dahinterstehenden Fakten einzu-
gehen. Fischer hat (1988: 31) festgestellt, daß wir uns mit der Aufarbeitung der Ver-
gangenheit unserer Disziplin erst zu beschäftigen beginnen, wenn die Betroffenen alle
tot sind. Das trifft zwar nicht ganz zu, aber seine Bemerkung, daß dies ein Kompli-
ment nur für unsere Höflichkeit sei, ist sicher richtig.
Miihlmann ist - vor allem im Rahmen einer Diskussion, die in der Zeitung „Die
Zeit" begann (Ben-gravriêl 1963) - vorgeworfen worden, in der Zeit des Nationalso-
zialismus rassistische Ideen vertreten zu haben. Mehrere Ethnologen haben in letzter
2 Frau Schwidetzky hat (1987: V) einen Zusammenhang zwischen der Studentenbewegung 1968 und den
Angriffen gegen Miihlmann gesehen. Die Angriffe gingen dem Studentenprotest aber um fünf Jahre voraus.
Ernst Wilhelm Müller: Wilhelm Emil Mühlmannf
9
Zeit zu Ethnologie und Nationalsozialismus Stellung genommen (Fischer 1988;
Hauschild 1987; Sigrist 1985; Michel Ms.; Sikora Ms.), einige auch speziell zu Mühl-
mann, doch ist das Thema, vor allem mit seiner Einordnung in den Biologismus der
Zeit, noch längst nicht abgeschlossen. Eindeutig sind bei Mühlmann zwei Strömungen
festzustellen. 1936 kritisierte er in einem Vortrag vernichtend die naiven Vorstellun-
gen von Fritz Lenz über intellektuelle und seelische Unterschiede zwischen den Ras-
sen (1937a). Die Ausführungen waren so, daß ich selbst, als ich zu Beginn meines
Anthropologiestudiums 1948/49 rassistische Ideen vorgetragen bekam3, die denen
von Lenz ähnelten, Mühlmanns Argumente von 1936 zur Verstärkung meiner Kritik
hervorragend hätte gebrauchen können. Beschämend ist, daß sich ein in anderer Be-
ziehung so qualifizierter Wissenschaftler wie Lenz so gefährlich und unwissenschaft-
lich äußern konnte. Da Mühlmann gleichzeitig auch den Hamburger Anthropologen
Scheidt angriff, ist es nicht verwunderlich, daß sein erster Habilitationsversuch in
Hamburg wegen politischer Unzuverlässigkeit scheiterte. Ähnliche Formulierungen
wie in diesem Vortrag finden sich in seinen anderen Arbeiten aus der Mitte der 30er
Jahre.
Daneben gibt es schon 1928 einen Aufsatz zur Rassenpsychologie. Damals stand
Mühlmann wohl noch mehr unter dem Einfluß seines anthropologischen Lehrers Eu-
gen Fischer. Gegen die leichtsinnigen und gefährlichen Äußerungen andrer Autoren
der Zeit hebt sich auch dieser Beitrag von Mühlmann positiv ab. Er weist auf die unab-
hängige Vererbung verschiedener Merkmale hin, ein Gesichtspunkt, der die ganze da-
malige Rassenideologie erledigen mußte. Er kritisiert Clauß, ist aber gegenüber man-
chen Theorien leichtgläubig. So akzeptiert er, wie fast alle Ethnologen jener Zeit die
ursprüngliche Einheit von Rasse, Sprache, Raum und Kultur (dies tut auch Kern
1927). Er geht davon aus, daß die nordische Rasse Schöpferin der indogermanischen
Sprache und Kulturen sei. Im übrigen referiert er, teils zustimmend, teils neutral, Au-
toren wie Fritz Lenz und Fritz Kern, die vor 1933 Ideen vertraten, die auf die spätere
Entwicklung hinwiesen. Natürlich ist dies alles nicht mit jener Verachtung Andersras-
siger vorgetragen, die wir aus der NS-Zeit kennen. Mühlmann ist auch teilweise skep-
tisch über die Erklärungsmodelle, die er referiert, aber nicht grundsätzlich ablehnt.
Vor allem ist ihm hoch anzurechnen, daß er damals - kaum 24 Jahre alt - vor prakti-
schen Anwendungen warnt. In den Jahren um den Parteieintritt nach der gescheiterten
Habilitation folgt eine Auseinandersetzung im Archiv für Anthropologie (1938 b) und
in der Zeitschrift für Ethnologie, die u. a. an Mühlmanns Beitrag im „Lehrbuch der
Völkerkunde" (1937 b) ansetzen. Mühlmann wird hier wegen der Nähe seiner Auffas-
sungen zu Malinowski, dem „Feind des nationalsozialistischen Deutschlands", ange-
griffen. Vor allem Krickebergs Attacken (1937, 1938), sind eines der unangenehmsten
Kapitel der Geschichte der deutschen Ethnologie.
Was 1963 am meisten kritisiert wurde, waren Äußerungen Mühlmanns in seiner
3 Es versteht sich, daß mein verehrter anthropologischer Lehrer, F. Falkenburger, mit diesen rassistischen
Ideen nichts zu tun hatte.
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
„Rassen- und Völkerkunde" (1936) und in „Krieg und Frieden" (1940). Der strenge
Chronist Sigrist erwähnt „schreckliche Tiraden". Im selben Absatz sagt er ausdrück-
lich, daß Mühlmann kein Nazi war, daß er sich nicht in die vulgären Niederungen der
Nazi-Ideologie ziehen ließ, aber daß er in seinem Bemühen um kritischen Umgang mit
Rassenideologien gescheitert sei (Sigrist 1985: 89). Die Situation ist zwiespältig. Einer-
seits ist Mühlmann ein eindeutiger Kritiker von Grundlagen des Rassismus. Als Bei-
spiel mag dafür eine Eintragung in seinem Tagebuch dienen. Unter dem 12. 10. 1932
zitiert er (1947a: 20) einen Satz aus der Rede von Franz Boas zu seinem 50jährigen
Doktorjubiläum in Kiel. Boas weist darauf hin, daß die individuellen Unterschiede in-
nerhalb einer Rasse größer seien als die Unterschiede zwischen den Durchschnitten
zweier Rassen, und Mühlmann kommentiert das so, daß dieser Satz die landläufigen
Rassentheorien aus den Angeln hebt. Unabhängig von der Frage der angezweifelten
Zuverlässigkeit des Tagebuchs ist dieser Hinweis bemerkenswert. Dagegen steht spä-
ter, daß Miihlmann (1944 b: 62) die unsinnige These von Meinhof (1938) über die Ent-
stehung der Bantusprachen akzeptiert. Diese rassistische These geht von der Annahme
aus, daß die Bantusprachen mit ihrer vielbewunderten logischen Grammatik von den
„äthiopiden" Hirtenkriegern geschaffen wurden, von denen die „negriden" Hackbau-
ern die Sprache übernommen hätten - unfähig zu ihrer Erfindung und selbst dazu, sie
ihren Prinzipien gemäß zu verwenden. Hier schlägt bei Meinhof ebenso wie bei Miihl-
mann elitäres Denken in Rassismus um. In der Afrikanistik hat die Idee von Meinhof
trotz des großen Namens ihres Urhebers nie Fuß gefaßt, heute spricht niemand mehr
davon. Hatte Mühlmann sie 1944 als Hypothese angesehen, so hat er sie in den 60er
Jahren (persönliches Gespräch) offensichtlich noch akzeptiert.
Zu den weiteren Widersprüchen wäre zu zählen, daß sich in der Ansicht Mühl-
manns nach dem Kriege die Differenzen zwischen den Ethnien, die er, wenn auch ge-
legentlich mit Anführungszeichen, „Naturvölker" nennt, und uns im Verhältnis zu
1938 vergrößert haben. Selbst 1944 (1944a: 10) hatte er das Wort noch als entbehrlich
bezeichnet (gleichzeitig [1944b: 10J in einer sonst sehr lesenswerten Passage wieder
gebraucht). Das ominöse Wort „völkisch", das andere Ethnologen noch lange, auch in
der absurden Verbindung „naturvölkisch" verwendeten, hat er korrekterweise schon
1944 durch „volklich" ersetzt (1944 a: 10). Dies ist zu einer Zeit bemerkenswert, in der
die ideologische Neubildung auf ,,-isch" allgemein so hoch im Kurs stand.
Ich glaube, daß die Widersprüche in Mühlmanns Werken nur aus einer genauen
Analyse der Zeit zu erklären sind, in denen er seine intellektuelle Formung erhielt: un-
eingeschränkter Glaube an die Überlegenheit der Europäer - im Kolonialismus
scheinbar bestätigt-, romantische völkische Ideologie gegen das westeuropäische Na-
tionsdenken, beides verbunden mit jenen Gefühlen des Zurückgesetztseins der Deut-
schen in Europa, das für das 19. Jh. von Alfred Meyer (1952) beschrieben wurde und
nach dem Vertrag von Versailles neue Nahrung erhielt. Manche der z. T. hier geschil-
derten Ansätze Mühlmanns hätten in eine ganz andere Richtung führen können, als
die, die er damals eingeschlagen hat.
Diese Zeit zu verstehen (was nicht jede Entschuldigung einschließt), verlangt, sich
Ernst Wilhelm Müller: Wilhelm Emil Mühlmannf
11
intensiv in das Schrifttum jener Jahre einzuarbeiten. Mir scheint für vieles Edgar J.
Jung symptomatisch. Er war eindeutig kein Nazi, was schon dadurch dokumentiert
wird, daß ihn Hitler anläßlich der Niederschlagung des angeblichen Röhmputsches
(mit dem er ja nun wirklich nichts zu tun hatte) gleich mitermorden ließ. Bekannt ist,
daß er (wenn es das Wort auch noch nicht gab) Ghostwriter von v. Papens Marburger
Rede von 1934 war; Mühlmann offenbart in seinem Tagebuch Sympathien für v. Pa-
pen (1947a: 22, Eintrag v. 26. 11. 1932). Jungs Schriften zeigen deutlich eine völkisch-
elitäre Einstellung. Man kann Parallelen zwischen Mühlmanns Tagebuchaufzeich-
nungen v. 26. 11. 1932 (1947a: 22f.) und Jungs Zukunftsaussichten für den NS-Staat
(1933: 91 f.) sehen. Beide Perspektiven wurden durch die Geschichte widerlegt.
„Mühlmann konnte", so schreibt Sigrist (1985: 89 f.) „den Panzer der Selbstrecht-
fertigung nicht aufbrechen. " Das ist sicher nicht ganz unrichtig, doch hat er - in einem
Interview mit Redakteuren der Heidelberger Studentenzeitung - davon gesprochen,
daß er, es drehte sich um „Krieg und Frieden" (1940), in politicis danebengehauen
hätte (Figge u. Wolff 1963: VIII).
Schluß
Der Nachruf wäre unvollständig, wenn auf dieses Problem nicht zumindest hingewie-
sen worden wäre. Die Widersprüchlichkeiten und das Verhältnis von Rassismus und
Ethnologie können hier nicht intensiver angegangen werden. Eine genaue Untersu-
chung von Zeitgeist und Wissenschaft in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, wie sie für
seinen Bereich der Medizinhistoriker Gunter Mann geleistet hat (Mann 1975, 1977,
1983,1988) steht für die Ethnologie noch aus. Sie würde tiefe Einsichten in ein schwie-
riges politisches Problem der Deutschen aufzeigen, das - im Gegensatz zu der Mei-
nung von Sigrist (1985: 88) - wohl nicht auf das Bildungsbürgertum beschränkt ist.
Sigrist hat aber sicher recht, wenn er die große Bedeutung des von Mühlmann gegrün-
deten Heidelberger Instituts für das Entstehen einer sozialwissenschaftlichen Ethno-
logie im Nachkriegsdeutschland hervorhebt. Dies ist ein bleibendes Verdienst des
Verstorbenen. Viele seiner Schüler haben von ihm große Anregung erfahren, gerade
auch in Auseinandersetzung mit ihm. Seine vorzeitige Emeritierung 1970 wurde von
Vertretern einer besonders kritischen Studentengeneration wohl zuerst begrüßt, dann
aber bald in der Erkenntnis bedauert, einen bedeutenden Lehrer verloren zu haben.
Mühlmann hat direkt und indirekt viele jüngere Ethnologen und damit die Ethnologie
in diesem Land entscheidend geprägt. Einige Studenten, die aus Mühlmanns Heidel-
berger Schule kamen, haben auch außerhalb des Fachs große Anerkennung gefunden.
Mühlmanns große Leistungen auf der einen Seite, seine politischen Unzulänglich-
keiten auf der anderen, könnten uns Anlaß geben, auch über uns selbst nachzudenken.
12
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
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him to appear as a successful reformer of King's College in Cambridge, as a renowned teacher in Cambridge
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ceive endless typologies of sub- and superclasses. "Society" for Leach "is not an assemblage of things but an
assemblage of variables" (1961 b: 7). His Jinghpaw Kinship Terminology (1945) demonstrates how a seemin-
gly complicated terminological scheme is based on simple logical regularities, once the ethnographer has
overcome the conceptional limits of his own culture. Thus Leach offers 'structural analyses' long before
'structuralism' is invented. In all ethnography, he corrected the cavalier fashion of some authors and the ob-
session with details among others, his subject being the operational principles of society. Thus Leach has al-
ways seen himself as a functionalist.
Am 6. Januar 1989 starb Edmund Leach nach langer Krankheit. Er war ein leiden-
schaftlicher Ethnologe. In der Generation, die den Kirchenvätern Radcliffe-Brown
und Malinowski folgte, nahm er gegenüber den großen ,Erben' der britischen Sozial-
anthropologie (Fortes, Firth und Evans-Pritchard) die Rolle eines jüngeren Bruders
ein, der als Ketzer gelten wollte. Er haßte Hofschranzen, lag im Streit mit allen, und
alle respektierten ihn.
Leach war erstaunlich vielseitig. Diesseits des Kanals kennen wenige seine hoch-
schulpolitischen Leistungen und Erfolge in Cambridge, wo er als Provost des renom-
mierten King's College endlich die Zulassung von Frauen und manche andere überfäl-
lige Reform gegen große Widerstände durchsetzte. Seine Feldforschung begann 1938
in Kurdistan, aber da ihn der Krieg dann nach Burma verschlug, wurde er der moderne
Ethnograph der Kachin. Später folgten längere detailfreudige Arbeiten in Sarawak und
der Trockenzone Sri Lankas. Als Lehrer an der London School of Economics und in
Cambridge förderte er Schüler wie Fredrik Barth, J. A. Barnes und Stanley Tambiah,
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 17-20
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
18
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
um nur einige wenige zu nennen und so auch die Breite seiner Interessen zu illustrie-
ren. Aber erst 1972 verlieh man ihm eine persönliche Professur, nicht etwa einen or-
dentlichen Lehrstuhl.
Leach war ungewöhnlich gebildet. Er empfing seine ethnologische Ausbildung bei
Malinowski, Fortes und Firth, aber die theoretischen Anregungen seiner Arbeit ka-
men aus der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften, in denen er seinen ersten
Studienabschluß erworben hatte. Vielleicht hat er gerade wegen dieser Basis gegen den
„bogus" einer ,naturwissenschaftlichen' Ethnologie polemisiert, also gegen jenen Jar-
gon, der zu Beginn seiner Karriere von Radcliffe-Brown und später von Marvin Harris
in Umlauf gesetzt wurde. Leach publizierte viel, und da er nie langweilig war, wurde er
mehr als andere gelesen.
In den Political Systems of Highland Burma (1954) bietet er an der Stelle seiner
konventionellen Dissertation (1945) eine Attacke auf das ethnologische Dogma, ein
Stamm sei ein isoliert zu analysierendes Gemeinwesen, denn seine ,Stämme' sind un-
entwirrbar vermengt wie fast alle ,Stämme' in den verschiedensten Erdteilen. Es ist
auch nicht sicher, daß sie entweder durch Zentralinstanzen regiert werden, oder eine
mehr oder weniger regulierte Anarchie der Segmente genießen, wie uns die African
Political Systems glauben machen wollen, sondern die Verhältnisse sind wechselhaft
zwischen diesen Extremen. Sie lassen sich auch nicht unabhängig von den Eingriffen
der Kolonialmächte und Missionare darstellen, also Faktoren, die der radikale Leach
mit Boshaftigkeiten überhäuft, als solche Ketzerein noch kostspielige Auswirkungen
haben. Auch Pul Eliya (1961 a) ist ein Akt der Rebellion. Gegen die herrschende Mei-
nung sieht Leach im Verwandtschaftssystem nicht einen separaten Bereich, sondern
ein Idiom, mit dessen Hilfe die Lankaner ihre Vorstellungen von Bodenrechten und
Bewässerung artikulieren, so wie die Kachin, die alten Israeliten und viele andere mit
dieser ,Sprache' politische Machtverhältnisse ausdrücken. Eine universale (nicht ^ti-
sche') Basis von Verwandtschaft mag oder mag nicht bestehen. Ist sie universal gleich-
artig, wird sie für Ethnologen uninteressant.
Zu dem gleichen Ergebnis führen die klassischen Übungen, Typologien von De-
szendenzordnungen zu entwerfen. In seiner peinlichsten ,Nestbeschmutzung' ver-
gleicht Leach Ende der fünfziger Jahre die damals dominierenden strukturalen Funk-
tionalisten mit Schmetterlingssammlern, die statt vergleichender Verallgemeinerun-
gen ad infinitum neue Systeme von Klassen und Unterklassen entwerfen, ohne die
Operationsprinzipien der untersuchten Ordnungen zu beachten. Das Ergebnis dieser
Klassifizierung von Deszendenzsystemen ist voraussehbar: „Ultimately every known
society can be discriminated in this way as a sub-type distinct from any other"
(1963b: 3).
Gegen diese Inventarisierung als Wissenschaft setzt Leach einen grundsätzlichen
neuen Anfang, ein Rethinking Anthropology. Auch wenn er die funktionale Interde-
pendenz der einzelnen Verhaltensregelmäßigkeiten eines Systems keinesfalls leugnet,
sucht er andere, mathematische Funktionen und ihre Verallgemeinerung. Zu diesem
Zweck isoliert er zunächst einen kleinen Teilbereich aufeinander bezogener Fakten,
Georg Pfeffer: Sir Edmund Leach f
19
die Prinzipien des sozialen Mechanismus ausdrücken, z. B. die Filiationsbeziehungen.
Egos Verhältnis zur Seite des Vaters (q) und zu der der Mutter (p) wird nicht für sich
bewertet, sondern die beiden Bindungen werden in Relation zueinander gestellt, so
daß diese Formel p/q im Vergleich bei Trobriandern, Kachin, Tallensi und Tikopia ge-
sehen werden kann. Als Generalisierung ergibt sich dann die fundamentale ideologi-
sche Opposition von Verhältnissen der Inkorporation (durch die ,Wir-Gruppe') und
Verhältnissen der Allianz (gegenüber anderen Gruppen dieser Art), die symbolisch als
solche der gemeinsamen Substanz (etwa des Blutes) oder des metaphysischen Einflus-
ses von den Betroffenen unterschieden werden.
Mit diesem reduktionistischen Überdenken der Relationen überwindet Leach un-
seren individualpsychologischen Ethnozentrismus, der sich z. B. über alltagssprachli-
che Begriffe wie ,Eltern', ,Familie' oder ,Heirat' immer wieder in die ethnologische
Theorie einschleicht: „Considered mathematically society is not an assemblage of
things but an assemblage of variables" (1961 b: 7). Der Ethnograph Leach sieht deshalb
auch im einheimischen Begriffspaar may utdama (und analogen Kategorien in vielen
anderen Gesellschaften) nicht Zeichen reziproker Beziehungen zwischen individuel-
len Eltern und Kindern, sondern solche für anhaltende Allianz zwischen Gruppen:
„We anthropologists... must... realize that the English language patterns of thought
are not necessary model for the whole human society" (1961 b: 27). Die von Leach de-
nunzierte sprachliche Voreingenommenheit bezieht sich insbesondere auf Radcliffe-
Browns Extensionismus oder „a regrettable convention among anthropologists..., to
translate classificatory kinship categories by the closest equivalent relative in the Eng-
lish language scheme" (1962: 153).
Während eines Forschungsjahres in Palo Alto lernt Leach 1961 Roman Jakobson
und dessen strukturale Linguistik kennen. Unter diesem Einfluß entstehen dann in
den nächsten Jahrzehnten ,strukturalistische' Analysen (z. B. von biblischen Mythen)
und die ausführliche, oft heftige Kritik am Werk des Claude Lévi-Strauss, die diesen
im angelsächsischen Rahmen bekannt macht. Die Rezeption führt auch zu einer wun-
derbaren Verbindung der großen französischen (und Prager) Ideen mit der ethnogra-
phischen Genauigkeit und der nüchternen, nachvollziehbaren Darstellungsform der
britischen Autoren. Allerdings sieht sich Leach im Lager des ,Strukturalismus' lange
vor der Erfindung dieses Wortes (Kuper 1986: 380).
Seine Jingbpaw Kinship Terminology (1945) entsteht nämlich bereits 1943 in Cal-
cutta, also Jahre vor den maßgeblichen Les Structures Elémentaires de la Parenté
(1949). In diesem kurzen, noch ungut von Malinowskis biographischer Methode' be-
lasteten Artikel zeigt der Ethnograph der Kachin, wie die dem Feldforscher unent-
wirrbar kompliziert erscheinende Verwandtschaftsterminologie logisch einfach ge-
staltet ist, sobald er seine kulturspezifischen Prämissen überwindet. Gegenüber kol-
lektiven Ordnungskriterien sind individuelle Terme sekundär. Als Ganzes ist die
Terminologie ein logischer Bezugsrahmen, an dem die Jinghpaw ihr alltäglich immer
wieder abweichendes Verhalten orientieren. Weil die formale Rigidität des Systems in
der Praxis nicht durchzuhalten ist, reflektiert es nicht tatsächliches Verhalten, wie u. a.
20
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
von Radcliffe-Brown postuliert. Als idealisierte Form der Sozialordnung muß die
Terminologie deshalb unabhängig vom manifesten Verhalten untersucht werden. Sie
erklärt sich nicht aus ihm.
Im persönlichen und im hochschulpolitischen Bereich kann der Querdenker
Leach nicht anders als in der Wissenschaft auftreten. Die großen Gründer der Sozial-
anthropologie waren fast ausschließlich soziale Randseiter, die, aus der Unterschicht
oder dem Ausland kommend, die altehrwürdigen britischen Hochschultraditionen
achteten und unbeeinflußt ließen. Dagegen kam Leach aus einem alteingesessenen, rei-
chen, gebildeten Elternhaus, das ihm das Selbstbewußtsein gab, den ,Oxbridge'-Muff
unnachsichtig zu bekämpfen. Er kannte die Institutionen, die er abschaffen wollte
(siehe 1984). Leach akzeptierte auch nicht die von seinem Lehrer Fortes (im Anschluß
an Radcliffe-Brown) ausgearbeiteten Strukturen der „homogenen" Gesellschaft, weil
er eine solche Ordnung lange genug selbst erfahren hatte. Aus dem gleichen Grund
verhöhnte er Lévi-Strauss' unseriösen Umgang mit ethnographischen Fakten. Aber
auch die ethnographische Detailhuberei seines Lehrers Firth lehnte er wie dessen Kon-
zept einer ,social organization' ab, weil er die Vielzahl der Fakten auf wenige, verglei-
chend zu analysierende Relationen reduzieren wollte, wie ein Ingenieur, der die Ein-
zelteile der Maschinen beachtet, aber an den Operationsprinzipien tüftelt. Leach hat
sich deshalb immer als Funktionalist bezeichnet.
Literatur
Kuper, A. 1986: An Interview with Edmund Leach. Current Anthropology 4/27.
Leach, E. R. 1945: Jinghpaw Kinship Terminology. Journal of the Royal Anthropological Institute 75.
Leach, E. R. 1954: Political Systems of Highland Burma. London: The Athlone Press.
Leach, E. R. 1961 a: Pul Eliya. A Village in Ceylon: A Study of Land Tenure and Kinshi. Cambridge: Cam-
bridge University Press.
Leach, E. R. 1961b: Rethinking Anthropology. London: The Athlone Press.
Leach, E. R. 1962: The Determinants of Differential Cross-Cousin Marriage. Man 62, 238, 153.
Leach, R. E. 1984: Glimpses of the Unmentionable in the History of British Social Anthropology. Annual
Review of Anthropology 13:1—12.
Lévi-Strauss, C. 1949: Les Structures Elémentaires de la Parenté. Paris: Presses Universitaire de France.
Eibl-Eibesfeldts Thesen
zu einer multiethnischen Gesellschaft:
Ein Kommentar
Christoph Antweiler
Institut für Völkerkunde, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-5000 Köln 41, Deutschland
Der Humanethologe Irenaus Eibl-Eibesfeldt argumentiert an öffentlich wirksamer
Stelle immer wieder gegen eine multiethnische Gesellschaft (z. B. schon 1982, vgl. En-
geln 1988). Zuletzt präsentierte er seine Thesen - sozusagen zur vorweihnachtlichen
Besinnung - unter dem Titel „Chancen einer multiethnischen Gesellschaft aus der
Sicht eines Ethologen" in der „Welt am Sonntag". Ihm geht es um die Problematik ei-
ner ethnisch gemischten Gesellschaft im allgemeinen und um die Bundesrepublik
Deutschland als Einwanderungsland im besonderen. Er argumentiert dabei vor allem
mit Überlegungen und Befunden der Humanethologie, also der vergleichenden Erfor-
schung menschlichen Verhaltens.
Eibl-Eibesfeldts negative Einschätzung der Chancen einer multiethnischen Ge-
sellschaft läßt sich auf folgenden zweiteiligen Nenner bringen:
- Eine tiefliegende Fremdenfurcht des Menschen läßt das Zusammenleben einander
fremder Menschen in einer multiethnischen Gesellschaft als unrealistisch erscheinen.
- Falls eine solche ethnisch gemischte Gesellschaft trotzdem politisch durchgesetzt
würde, hätte sie negative Folgen: Uberbevölkerung und Umweltzerstörung. Vor
allem drohe aber eine „genetische Verdrängung des Gastvolkes".
Eibl-Eibesfeldt verwendet in seinen Thesen folgende Argumentationsmittel:
- einzelne ausgewählte Aussagen, die wissenschaftlich gut fundiert, wenn auch bei
vielen Kulturwissenschaftlern unpopulär sind; diese verquickt er mit
- wissenschaftlich kaum abgesicherten Einzelbehauptungen und
- Argumentationssprüngen zwischen verschiedenen Ebenen des Gesamtproblems
der Fremdenreaktion.
- Außerdem vermischt er diese genannten Argumentationsmittel.
Schließlich läßt er sich zu „naturalistischen Fehlschlüssen" vom Sein auf das Sollen
verleiten.
Ich halte es aus zwei Gründen für wichtig, auf seine Argumentation einzugehen: er-
stens werden Eibl-Eibesfeldts immer wieder an markanten Stellen veröffentlichte
Thesen aufgrund seiner Bekanntheit als Wissenschaftler in der jetzt besonders aktuel-
len öffentlichen Diskussion um eine multiethnische bzw. multikulturelle Gesellschaft
begierig aufgenommen.
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 21—26
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
22
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Zweitens ist eine biokulturelle Sichtweise an und für sich unumgänglich für eine
moderne Wissenschaft vom Menschen; dies sei gegen viele vorschnelle Kritiken der
Humanethologie und der Humansoziobiologie von seiten der Kulturwissenschaften
gesagt. Erst eine solche Perspektive kann sozialwissenschaftliche Erklärungen
menschlichen Handelns und menschlicher Einstellungen um fehlende grundlegende
Aspekte ergänzen. Die Sozialwissenschaften allein können z. B. nicht zureichend er-
klären, warum Menschen überhaupt, d. h. abgesehen von der jeweiligen Situation, so
stark zu Vorurteilen gegen Fremde und Fremdes neigen. Eine solche umfassende Sicht
der Dinge wird durch oberflächliche Anwendungen oder gar tendenziöse politische
Uminterpretationen leicht diskreditiert, sie hat es in unserer aufgesplitterten Wissen-
schaftslandschaft ohnehin nicht leicht.
Ich werde Eibl-Eibesfeldts Thesen an einigen Stellen mit Ausführungen des Wis-
senschaftsjournalisten Dieter E. Zimmer kontrastieren, weil dieser zwar grundsätzlich
eine ähnliche Sicht wie Eibl-Eibesfeldt vertritt, aber zeigt, daß es beim Argumentieren,
auch im Rahmen eines Zeitungsartikels, differenzierter und vorsichtiger geht. Zimmer
(1989, 1980) beurteilt z. B. den Forschungsstand zur Frage genetischer Tendenzen der
Fremdenangst beim Menschen resümierend so: „Bisher hat keine Forschung stattge-
funden, die das Problem frontal anpackte und wirklich starke Argumente hätte brin-
gen können; direkte Experimente sind auch kaum möglich. Das empirische Funda-
ment ist also dünn. Es sind nur einige Indizien zur Hand." Und weiter: „Aber ich halte
die Beweislage für viel zu unsicher, um starke politische Konsequenzen darauf zu
bauen." (1989) Gerade das tut aber Eibl-Eibesfeldt.
Eibl-Eibesfeldt stellt grundlegend fest, daß Lebewesen sich tendenziell so verhal-
ten, daß sie die Verbreitung ihrer Gene fördern. Das ist nach gegenwärtigem For-
schungsstand der Evolutionsbiologie ein gut fundierter Befund. Unbegründet dage-
gen ist sein Übergang von der individuellen Verhaltensneigung auf die Ebene ethni-
scher Minderheiten innerhalb von Nationalstaaten und schließlich ganzer Nationen.
Die soziobiologische Argumentation gilt nämlich zunächst nur für Kleingruppen.
Eibl-Eibesfeldt schreibt, daß „... auch wir Menschen mit uns angeborenen, unser Ver-
halten mitbestimmenden Anpassungen im Wahrnehmungsbereich, der Motorik, dem
Antriebsbereich und Lernbereich, ausgerüstet sind". Dies trifft auch für einige soziale
Verhaltensweisen zu, obwohl viele kulturalistische Kritiker — und vielleicht letztlich
wir alle - das nicht wahrhaben wollen. Eine der wichtigen Entdeckungen Eibl-Eibes-
feldts war dabei das bei vielen Menschengruppen verbreitete und auch bei Taubblin-
den zu beobachtende „Fremdeln" bei Kleinkindern. Es tritt etwa zwischen dem 6. und
dem 36. Lebensmonat auf.
Es ist jedoch verfehlt, wenn Eibl-Eibesfeldt dieses eine von ihm immer wieder be-
mühte Beispiel vererbter sozial bedeutsamer Verhaltensweisen, mit jeglichem frem-
denfeindlichen und -scheuen Verhalten von Erwachsenen, ja sogar zwischen Men-
schengruppen gleichzusetzen. Zimmer (1989) dagegen schreibt: „Die Fremdenfurcht
beim Erwachsenen aber ist mit dem Fremdeln des Säuglings in keiner Weise erklärt.
(...) Zwischen ihm und der späteren Fremdenfurcht ist keinerlei Kontinuität nachge-
Christoph Antweiler: Eibl-Eibesfeldts Thesen zu einer multiethnischen Gesellschaft
23
wiesen worden, und auch aus allgemeinen Gründen muß sie keineswegs bestehen:
Manche genetische Programmierung ist nur für einen bestimmten Lebensabschnitt
sinnvoll und gültig." Man wisse noch nicht einmal, ob es eine Kontinuität im Indivi-
duum gibt; es sei noch nicht einmal nachgewiesen, daß stark fremdelnde Säuglinge
später häufiger fremdenscheu sind.
Man muß sehr viel deutlicher, als Eibl-Eibesfeldt dies tut, zwischen genetisch fest
programmierten Verhaltensweisen, wie offenbar dem Fremdeln, und andererseits ge-
netisch nur razibedingten Einstellungs- und Verhaltenstendenzen unterscheiden.
Letztere bestimmen das durchschnittliche Verhalten, wenn der Mensch nicht mit
Wille und Ratio dagegen „anarbeitet". Eine dieser Tendenzen ist sicherlich auch der
allgemein menschliche Hang zu kognitiven Vereinfachungen. Diese sind als Kategori-
sierungen im Zusammenspiel mit Bewertungen anderer Menschen so folgenreich im
Ethnozentrismus und besonders in Rassismus.
Vereinfacht gesagt ist die Situation also folgende: wenn ich mein Verhalten nicht
irgendwelchen normativen Maximen anpasse, neige ich als Mensch sicherlich zu vor-
urteilsvollem, nepotistischem (Verwandten förderndem), ethnozentrischem und ras-
sistischem Verhalten, aber es besteht kein wie immer gearteter Zwang dazu. Die nor-
mativen Maximen hierfür sind nicht wissenschaftlich, sondern nur religiös und poli-
tisch zu bestimmen. Statt diesbezügliche kulturwissenschaftliche Erklärungen um
eine evolutionsbiologische zu ergänzen, verabsolutiert Eibl-Eibesfeldt eine mit einem
einzigen Beispiel, dem Fremdeln, illustrierte Verhaltenstendenz und übergeht die
Notwendigkeit der Erklärung spezifischer Inhalte und Opfer von Vorurteilen.
Eibl-Eibesfeldt betont ausschließlich die gruppenstärkenden Funktionen von
Gruppengrenzen — als stärkende Identität nach innen und Ressourcen sichernde
Feindschaft nach außen. Die Ethnologie bzw. Kulturanthropologie könnte ihn dage-
gen aus ihren interkulturell vergleichenden Untersuchungen darüber belehren, daß
Gruppengrenzen zwar die Erhaltung der Gruppen fördern, diese aber auch durch ge-
sellschaftliche Entscheidungen veränderbar sind.
Ohne argumentativen oder faktischen Nachweis behauptet Eibl-Eibesfeldt in der
»Welt am Sonntag'' schlichtweg: „Die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen
führte dazu, daß wir Menschen über die längste Zeit der Geschichte in relativ geschlos-
senen Kleinverbänden lebten, in denen jeder jeden kannte und damit eine Beziehung
der Vertrautheit herrschte." Woher weiß er dies? Woher weiß er, was Ursache, was
Wirkung war? Die Befunde der kulturvergleichenden Ethnologie und der Prähistorie
weisen darauf hin, daß dabei eher die Verfügbarkeit von Nahrung über große Spannen
der Geschichte hinweg eine Rolle spielte. Es ist klarzustellen, daß man über die Wir-
kung „der Angst des Menschen vor dem Mitmenschen" in der Frühgeschichte fast
überhaupt nichts wissenschaftlich weiß.
Eibl-Eibesfeldt unterscheidet nicht zwischen allgemeinen Verhaltenstendenzen
einerseits und konkreten Vorurteilen über, Ängsten vor und Diskriminierungen ge-
genüber bestimmten fremden Gruppen andererseits. Er übergeht die Notwendigkeit,
Erklärungen für z. B. spezifische Vorurteile bzw. Diskriminierungsinhalte und -opfer
Zu suchen.
24
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Es müßte auch erst einmal geklärt werden, inwieweit Fremdenangst, Rassismus
und Ethnozentrismus oder gar Nationalismus gleichartige Phänomene sind. Das ist
nicht nur für Eibl-Eibesfeldts Thesen ein Problem, sondern für soziobiologische Er-
klärungen in diesem Feld insgesamt. Deutlich wird das bei einem Blick in einen neue-
ren Sammelband, der soziobiologische Erklärungen dieser Phänomene vereinigt
(Reynolds u. a. 1987). Wissenschaftlich redlich wäre es also, für jeden Typ und jeden
Aspekt von Fremdenfurcht zu untersuchen, was neben der grundlegenden Verhal-
tens- bzw. Einstellungsneigung (beides übrigens von Eibl-Eibesfeldt ebenfalls ständig
vermengt) an kultur- und situationsspezifischen Faktoren hereinspielt. Für die grund-
legenden Neigungen müßte Eibl-Eibesfeldt sich stärker in der Kognitions- und So-
zialpsychologie umsehen. Für die speziellen Faktoren müßte Eibl-Eibesfeldt außer-
dem mehr kulturvergleichende Befunde heranziehen als nur seine eigenen! Es fehlt bei
ihm jeglicher Hinweis auf Befunde der interkulturell vergleichenden Erforschung von
Konflikten und ihren Lösungen.
Im Hinblick auf praktische Konsequenzen schreibt Zimmer: „Offenbar ist ja nicht
jeder, nicht jede Gruppe in gleichem Maße xenophobisch; da käme alles darauf an, zu
wissen, wie diese Unterschiede zustande kommen. Der Mensch hat viele Neigungen,
darunter sicher auch angeborene, und einige davon müßten mit dem Fremdensyndrom
interferieren ' (1989, Hervorhebung des Autors). Zimmer nennt als Beispiele das von
Sozialpsychologen nachgewiesene Streben nach gedanklicher Harmonie (Verminde-
rung kognitiver Dissonanz) und die Neigung zur Mehrheitsmeinung... und die
könnte ja schließlich auch Fremden und Fremdem gewogen sein!
Eibl-Eibesfeldt geht ohne deutlichen Hinweis von den Ursachen von Fremden-
feindlichkeit über zu einer ganz anderen Frage: den von ihm befürchteten Konsequen-
zen der Etablierung einer multiethnischen Gesellschaft. Er weist hier vor allem auf ge-
netische Konsequenzen der Einwanderung von fremden Gruppen in eine Gesellschaft
hin, nennt aber auch Umweltvergiftung und Uberbevölkerung. Er befürchtet eine
Verdrängung der von ihm so genannten autochthonen Bevölkerung durch einwan-
dernde Ausländer: „Bei unterschiedlichen Vermehrungsraten kann es ferner zu einem
raschen Anwachsen des Gastvolkes kommen, was einen gesellschaftlichen Verdrän-
gungsprozeß einleiten kann." Dabei nimmt er unausgesprochen an, daß sog. „Gast-
völker" bzw. „autochthone Bevölkerungen" jeweils in irgendeiner Weise genetisch
einheitlich sind. Richtig ist aber vielmehr nach dem heutigen Forschungsstand der mo-
dernen biologischen Anthropologie, daß selbst zwischen den klassischen sog. „Groß-
rassen" (bzw. „Rassenkreisen") der genetische Unterschied nur (je nach Klassifika-
tion) etwa 15% ausmacht (z.B. Nelson & Jurmain 1982:203) und die Verschiedenar-
tigkeit innerhalb der „Rassen" in mancher Hinsicht größer als zwischen ihnen ist; daß
jedes „Volk" also genetisch äußerst heterogen ist.
Aber Eibl-Eibesfeldt geht noch weiter: er behauptet, daß Politiker gegen das ihnen
aufgetragene Mandat, die Interessen ihres Volkes wahrzunehmen, verstoßen, wenn sie
durch „Verordnung einer multikulturellen Gesellschaft" der „genetischen Verdrän-
gung" nicht vorbeugen. Diejenigen Interessen, die unsere Volksvertreter vertreten
Christoph Antweiler: Eibl-Eibesfeldts Thesen zu einer multiethnischen Gesellschaft
25
und die sie vom Volk per Wahl oder über Gesetzesauftrag überantwortet bekommen,
sind jedoch nicht per se die genetischen Interessen im Sinne der Fortpflanzung. Hier
setzt Eibl-Eibesfeldt „Volk" mit Biopopulation gleich, einer Größe, die in unserer
Verfassung m. W. gar nicht vorkommt. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß Eibl-Ei-
besfeldt von multi ethnischer statt multi kultureller Gesellschaft redet; er verbindet da-
mit die Vorstellung einer kulturell und genetisch geschlossenen Gruppe.
Hier zieht Eibl-Eibesfeldt dann einen fatalen naturalistischen Fehlschluß. Von der
Feststellung des Seins, nämlich der Fortpflanzungstendenz des Individuums in der
Evolution, schließt er auf das Sollen, nämlich dem politischen Ziel der Fortpflanzung
der „autochthonen Bevölkerung". Aber seine politischen Ambitionen überlisten den
Wissenschaftler Eibl-Eibesfeldt sogar noch im Kern seiner argumentativen Basis:
Korrekterweise geht es nämlich selbst nach der soziobiologischen Argumentation
eben um Gen- und nicht (bzw. nur in Ausnahmen) um Individuen- oder Gruppen-
überleben. Wissenschaftliche Reaktionen aus soziobiologischer Perspektive auf seine
„Biologie des menschlichen Verhaltens" zeigen, daß Eibl-Eibesfeldt die soziobiologi-
sche Argumentation nicht konsequent vertritt.
Eibl-Eibesfeldt verbindet die oben angesprochene spekulative Erklärung kulturel-
ler Abgrenzung mit dem positiv wertenden Hinweis: „Wir verdanken diesem Prozeß
die Vielfalt der Kulturen und Rassen, ..." Dies klingt versöhnlich, ebenso wie seine
Bemerkung, erst eine „gewisse Abschottung" Europas ermögliche humanes Leben bei
uns und damit humanitäre Hilfe für andere Länder (vgl. auch seine „Chancen der
Freundlichkeit", 1990). Ich unterstelle Eibl-Eibesfeldt weder Ausländerfeindlichkeit
noch Rassismus; meine Kritik ist nicht ad personam. Sie richtet sich überhaupt nicht
pauschal gegen den ganzen Erklärungsansatz wie leider so viele bisherige. Aber er muß
wissen, daß vieles, was er sagt, wissenschaftlichen Befunden und Methoden nicht
standhält oder bestenfalls Spekulation ist. Er aber präsentiert diese Spekulationen den
Lesern der „Welt am Sonntag" als fundierte Erkenntnis.
Die „Welt am Sonntag" führt den Autor dann auch mit dem gesamten Repertoire
wissenschaftlicher Reputation ein: „international anerkannt", „Mitarbeiter von Pro-
fessor Lorenz", „Bestseller", „machte sich einen Namen", „bemerkenswerte These".
Dies stützt als Autoritätsargument die Argumentation für den unbewanderten Le-
ser... oder den wissenschaftliche Rückendeckung suchenden Verwender. Zimmer
(1989) weist deutlich darauf hin, wie vermutlich Eibl-Eibesfeldts persönliche Thesen
zur Fremdenangst unter dem Etikett „Schon die Verhaltensforscher sagen uns..." als
Argument für eine Begrenzung des Zuzugs von Ausländern von Ernst Albrecht im
Landtag verwendet wurden. Nur wegen dieser Nutzung der wissenschaftlichen Repu-
tation sei folgendes abschließend angemerkt: Eibl-Eibesfeldt ist weltweit bekannt,
aber eben längst nicht „international anerkannt" im Sinne von unumstritten. Dies
schmälert natürlich nicht seine, z. T. grundlegenden, Beiträge auf dem Gebiet der Hu-
manethologie. Es läßt aber vorsichtig werden gegenüber einigen seiner weitreichenden
Aussagen.
Prinzipiell abzulehnen ist seine kryptische Vermengung von Fakten und Spekula-
26
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
tionen, die Vermischung von Ebenen und seine Übergriffe in Fragen, die nicht vom
wissenschaftlichen Katheder, sondern nur gesellschaftspolitisch zu entscheiden sind.
Literatur
Eibl-Eibesfeldt, I., 1982: Die Angst vor den Menschen. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 149 vom 3./4. 7. 1982.
Eibl-Eibesfeldt, I., 1989: Chancen einer multiethnischen Gesellschaft aus der Sicht eines Ethologen. In:
Welt am Sonntag, Nr. 50 vom 10. 12. 1989, S.31.
Eibl-Eibesfeldt, I.: 1990: Chancen der Freundlichkeit. In: Natur Nr. 1:70/71.
Engeln, H., 1988: Manch Gutes neben vielem Schiefen (Rez. von Eibl-Eibesfeldt: Der Mensch - Das ris-
kierte Wesen, Piper, München 1988). In: Die Zeit, Nr. 50 vom 9. 12. 1988.
Nelson, H., Jurmain, R., 1982: Introduction to Physical Anthropology. St. Paul/MN: West Publishing
Company.
Reynolds, V., Falgar, V., Vine, I. (eds), 1987: The Sociobiology of Ethnocentrism. Evolutionary Dimen-
sions of Xenophobia, Discrimination, Racism and Nationalism. London, Sydney: Croom Helm.
Zimmer, D. E., 1980: Woher kommt unser Mißtrauen gegen Fremde? In: Die Zeit, Nr. 52 vom 19.12. 1980,
S. 14.
Zimmer, D. E., 1989: Können Gene hassen? In: Die Zeit, Nr. 14 vom 31. 3. 1989, S.58.
Ethnologie als Allerweltswissenschaft1
Hans Fischer
Institut für Ethnologie der Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 64a, D-2000 Hamburg 13,
Deutschland
Abstract: It is argued that there is a weak delimitation of academic ethnology from nonscientific publica-
tions, a tendency in the discipline to popularize before and instead of doing science, and that this has to do,
among other reasons, with the non-existence of a scientific language. The objects, problems and methods of
ethnology have become so extended and all-encompassing, that because of wide differences in interest, com-
munication and discussion in the (German-speaking) scientific community are rarely possible. Training is
unstandardized and nearly arbitrary. The image of the discipline in public as something everybody could do,
has consequences for the application of results, occupational chances, and financial support. It is proposed,
on the one hand, to concentrate undergraduate training on fewer central areas of the discipline, and on the
other hand to develop research foci for every department. In this way several ethnologists would cooperate
in research, instead of everybody having his/her own and different area of interest, with nearly no contact,
discussion, and criticism.
1 Ausgang: „Allerweltswissenschaft"
Hinige Voraussetzungen müssen vor der Beschäftigung mit dem eigentlichen Thema
deutlich gemacht werden:
- Zum ersten: Wenn ich im folgenden kritisch zu Aspekten der Ethnologie Stellung
nehme, so beziehe ich meine Person in diese Kritik mit ein, da ich seit jetzt 33 Jahren
nach der Promotion in diesem Fach tätig bin.
~ Zum zweiten: Ich befasse mich mit der deutschsprachigen Ethnologie und lasse die
Situation in anderen Ländern unberücksichtigt. Ubereinstimmungen sind aber un-
verkennbar.
~ Zum dritten: Es ist möglich, daß die Darstellung durch die Situation des Faches in
Hamburg beeinflußt wurde und damit einem lokalen Bias unterliegt.
~ Darüber hinaus aber sind die angesprochenen Probleme absichtlich zugespitzt und
vergröbert, um sie zu verdeutlichen. Wenn ich in dieser Weise Tendenzen verallge-
meinernd hervorhebe, ist mir bewußt, daß sie nicht für alle Institute und Kollegen
gelten.
- Und schließlich: Es geht mir nicht um Kritik an sich, sondern um Vorschläge für die
Richtung von Veränderungen. Der Rahmen, in dem alles folgende steht, ist das Bild
unserer Disziplin in der Öffentlichkeit, daraus abzuleitende Konsequenzen für Ein-
fluß- und Wirkungsmöglichkeiten, für Berufschancen des wissenschaftlichen
Vortrag, gehalten bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in Marburg, vom 1. bis 6.
Oktober 1989.
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 27-37
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Nachwuchses, schließlich die innerdisziplinäre Organisation und Kommunikation,
und letztlich die universitäre Ausbildung.
Zu erläutern ist noch der für diesen Beitrag gewählte Titel: Er geht zurück auf ein Ge-
spräch mit einem der Vizepräsidenten der Universität Hamburg vor einigen Semestern
über die unhaltbare personelle und finanzielle Situation der Ethnologie an dieser
Hochschule. Schon im Hinausgehen sagte er ganz nebenbei, die Völkerkunde sei ja
wohl inzwischen eine Allerweltswissenschaft geworden. Wie immer er das gemeint
haben mag, diese Formulierung von der „Allerweltswissenschaft" ist zweifellos von
einer Art, daß man gezwungen ist, darüber nachzudenken, was sie wohl bedeuten
könnte. Mehr noch, ob sie vielleicht das Bild unserer Disziplin von außen wiedergibt
und eventuell sogar eine Berechtigung hat. Was alles kann damit gemeint sein? - Daß
es sich um eine derzeit gängige Wissenschaft handle — daß sie heute beinahe jeder (aber
jedenfalls zu viele) studiere - daß jeder sie studieren könne, weil es keine besonderen
Fähigkeiten oder Voraussetzungen dafür gibt — daß sie eben deshalb auch jedem leicht
verständlich ist und sich jeder „Völkerkundler" nennen kann - daß sie sich mit allem
und jedem beschäftigt und keine spezifischen Probleme, Methoden oder Ergebnisse
hat, die nicht andere auch haben. - Wie auch immer die Formulierung von der „Aller-
weltswissenschaft" aufzufassen ist, keine Deutung scheint so recht positiv zu verste-
hen. Und jede hat einen peinlichen Geruch von Wahrheit an sich. Ich werde mich im
folgenden mit einigen der angeführten Aspekte etwas genauer beschäftigen.
2 Völkerkundler kann jeder sein
Am Hamburger Institut für Ethnologie werden jedes Semester in einem Anfängerkurs
Fragebögen verteilt, die unter anderem die Frage enthalten: »Können Sie einen Völ-
kerkundler mit Namen nennen?«, wobei von den Angehörigen des Instituts abgese-
hen werden soll.1 Im letzten Semester 2 erschienen in den Antworten nach den ge-
wöhnlichen Spitzen-Positionen Margaret Mead, Claude Lévi-Strauss und Bronislaw
Malinowski wie ebenfalls üblich die Namen Karl May, Heinrich Harrer, Rolf Italiaan-
der, Hubert Fichte und neuerdings auch Rüdiger Nehberg. Aus vorhergehenden Se-
mestern ließe sich diese Liste mit Sven Hedin, Robert Louis Stevenson, Erich Scheur-
mann, C. W. Ceram oder Carlos Castañeda verlängern. Ich belasse es bei den zunächst
Genannten, verzichte allerdings auf Karl May als möglichen Witz, obgleich vermut-
lich kein Autor mehr Studenten zur Völkerkunde gebracht hat als er3.
1 Hans Fischer: Studienanfänger in Hamburg: Ergebnisse von Befragungen. In: Zeitschrift für Ethnologie
110, 1985: 177-206.
2 SS 1989.
3 Zu Heinrich Harrer etwa seine Bücher „Sieben Jahre in Tibet" (Frankfurt, Berlin, Wien 1966), „Die Göt-
ter sollen siegen" (Berlin, Frankfurt, Wien 1968), „Huka-Huka" (Berlin, Frankfurt, Wien 1968), „Ich
komme aus der Steinzeit" (Frankfurt 1978; zuerst 1976); „Die letzten Fünfhundert" (Frankfurt, Berlin,
Wien 1983; zuerst 1977).
Hans Fischer: Ethnologie als Allerweltswissenschaft
29
Was bedeuten diese Nennungen bei Studienanfängern? Nicht alle der Angeführten
beharren - wie Rolf Italiaander etwa - selbst darauf, Völkerkundler zu sein. Sie wer-
den aber offenbar von außen als Angehörige dieses Faches verstanden. Mehr noch : Sie
sind bekannter als unbestrittene Ethnologen und prägen damit vermutlich das Bild der
Ethnologie in der Öffentlichkeit viel stärker als dies Ethnologen selbst tun. Dabei sol-
len die Qualifikationen der Genannten als Reiseschriftsteller oder Bergsteiger, Dichter
oder Überlebenskünstler, Humanisten oder Literaten nicht bezweifelt werden. Im
Falle Heinrich Harrer ist auch die Qualität der ethnographischen Informationen eini-
ger seiner Bücher kaum bestritten.
Der offenbaren Wirkung nach außen, in die Öffentlichkeit, steht das Fehlen von
Auseinandersetzungen innerhalb bzw. vonseiten des Faches gegenüber. Vermutlich
werden die Bücher der Genannten innerfachlich auch kaum oder nur von jeweiligen
Regionalfachleuten gelesen: Italiaander von Afrikanisten, Harrer von Asien-Speziali-
sten, Hubert Fichte von Kennern afroamerikanischer Religionen und Nehberg von
denen, die gern Regenwürmer essen. Bei der Uberfülle fachinterner Literatur ist ver-
ständlich, daß man die Ränder des Faches nicht auch noch zur Kenntnis nehmen kann.
Tatsächlich müssen wir aber wohl vermuten, daß die Bedeutung dieser „Figuren" für
unser Fach erheblich ist. Daß vielleicht mehr Menschen Italiaanders „Museum Rade"
als Ausflugsziel kennen als das Hamburgische Museum für Völkerkunde. Ich sage
deutlich „vermuten", denn empirische Nachfragen über das Bild der Ethnologie in der
Öffentlichkeit wurden noch nicht einmal ernsthaft versucht4.
Die Auseinandersetzung wäre aber nicht nur wegen des „Image" der Disziplin in
der Gesellschaft von erheblicher Bedeutung. Sie führt auch zu dem zentralen Problem,
was denn nun - im Gegensatz zu den Büchern der Genannten - Ethnologie eigentlich
ist, was den „Kern" des Faches in Gegenüberstellung zu den Werken solcher „Randfi-
guren" ausmacht. Auch Italiaander, Harrer, Fichte oder Nehberg schreiben über
fremde Völker und werden offensichtlich deshalb als „Völkerkundler" verstanden.
Wi r müssen also annehmen, daß der Gegenstand im öffentlichen Verständnis das Fach
definiert. Der Gegenstand des Diskurses also - welcher auch immer das ein mag -,
nicht die Art des Diskurses. Und über fremde Völker schreiben kann zweifellos jeder:
Jeder Tourist und jeder Journalist, der Entwicklungshelfer und der Missionar. Die
Zu Rolf Italiaander seine Bücher „Heißes Land Niugini" (Erlangen 1974), „Bücherrevision" (Hamburg
1977), „Schwarze Weisheiten" (Düsseldorf 1978), „Die Südsee, auch eine Herausforderung" (Düsseldorf
1979); von ihm herausgegeben „Die Herausforderung des Islam" (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1965),
»Rassenkonflikte in der Welt" (Frankfurt 1966); Sekundärliteratur etwa „Unterwegs mit Rolf Italiaander"
(Hamburg 1963), Klaus Peter Dencker, „Als Mensch unter Menschen" (Hamburg 1965), P. G. Fried, Hrsg.,
»Die Welt des Rolf Italiaander" (Hamburg 1973).
Zu Hubert Fichte seine Bücher „Xango" (Frankfurt 1984; zuerst 1976), „Petersilie" (Frankfurt 1984; zuerst
1980), „Wolli Indienfahrer" (Frankfurt 1978) und Thomas Beckmann, Hrsg., „Hubert Fichte. Materialien
zu Leben und Werk" (Frankfurt 1985).
Zu Rüdiger Nehberg seine Bücher „Die Wüste Danakil" (Hamburg 1979) und „Yanonámi" (Hamburg
1983).
4 Nur in Anfängen in diese Richtung: Hans Fischer: Völkerkunde. Ein Bild der Nachbarn. In: ZfE 95,1970:
30
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Frage ist also, ob Ethnologie mehr ist als „Völkerkunde" im Sinne freundlicher, en-
gagierter oder spannender Beschreibung. Ob es etwas gibt, das darin Wissenschaft
ausmacht oder ob sich jeder „Völkerkundler" nennen kann, weil es sich eben um eine
Allerweltswissenschaft handelt.
Die Ansicht scheint verbreitet, daß „das doch jeder kann". Es gibt einige Hinweise
auf solche Einstellungen auch innerhalb des Faches. So scheint es immer üblicher zu
werden, daß sich jeder Ethnologiestudent als „Ethnologe" bezeichnet. Ein Treffen
von Studentinnen der Ethnologie ist dann ein „Ethnologinnen-Treff". Auf andere Be-
reiche angewandt bedeutet das: ein Medizinstudent ist Arzt, ein Schusterlehrling
Schuster, wer hundert Takte Italienisch kann, ist Caruso. Bescheidenheit ist keine Zier
und es kommt offenbar nicht so genau darauf an. Nun könnten uns ein paar Angeber
gleichgültig sein. In solchen Dingen drückt sich ja sogar eine gewisse Wertschätzung
des Faches aus. Aber in der Beliebigkeit der Zuordnung und Benennung werden auch
Geringschätzung von Ausbildung und Qualifikation (und dem Nachweis der Qualifi-
kation) deutlich, und wir müssen uns über die Konsequenzen im klaren sein. Dazu
noch ein Beispiel aus einer Nachbardisziplin: Als an der Universität Hamburg durch
die gedrosselte Lehrerausbildung vor ein paar Jahren einige Professoren der Erzie-
hungswissenschaft sich nicht mehr ausgelastet fühlten, schlug ein Lehrstuhlinhaber
vor, ihn samt Ausstattung zur Völkerkunde zu verlagern. Daß er selbst nie auch nur im
Nebenfach Ethnologie studiert hatte, nun aber Studenten in dieser Disziplin hätte
prüfen dürfen, fand er nicht weiter bedenklich. Er hatte sich doch schon mit Völker-
kunde „beschäftigt".
3 Allerweltssprache
Eines der Merkmale einer Allerweltswissenschaft ist eine Allerweltssprache. Das be-
deutet: Die wissenschaftliche Fachsprache unterscheidet sich nicht oder kaum von der
Umgangssprache. Nun dürfte das von der Mehrheit der einer wissenschaftlichen Ge-
meinschaft nicht Angehörenden eher als positiv verstanden werden. Es ist eine der Li-
tanei-artig wiederholten Forderungen von Nichtwissenschaftlern und Studenten, daß
Wissenschaft nicht schwer verständlich sein dürfe und Wissenschaftler sich gefälligst
ihnen verständlich zu machen hätten. Das klingt zunächst einleuchtend. Wir wissen
sehr genau, daß Wissenschaftssprache zum Jargon, etwa zum „Soziologen-Chine-
sisch", verkommen kann und daß andererseits mancher Wissenschaftler sich schwer
damit tut, sich umgangssprachlich verständlich auszudrücken - deshalb ja der Erfolg
der Reiseschriftsteller und Schreiber von Beruf. Die Forderung enthält aber ein grund-
legendes Unverständnis von Sprache und Wissenschaft.
Sprache dient der Kommunikation innerhalb bestimmter Gemeinschaften. Jeder
Fremde ebenso wie der Nachwuchs muß die Sprache lernen. Dasselbe gilt für wissen-
schaftliche Gemeinschaften. Auch sie entwickeln eigene Sprachen, die sich von natür-
lichen Sprachen dadurch unterscheiden, daß sie sich nicht historisch und teils zufällig
Hans Fischer: Ethnologie als Allerweltswissenschaft
31
über lange Zeit entwickelt haben, sondern künstlich und systematisch für bestimmte
Aufgaben „gemacht" worden sind oder sein sollten. Aufgabe von Wissenschafts-
sprachen ist es, schnellen und vor allem eindeutigen Informationsaustausch zu ermög-
lichen. Eine wissenschaftliche Disziplin, die sich in ihrer Kommunikation der natürli-
chen, also der Umgangssprache bedient, kann damit der Forderung nach Eindeutig-
keit und Ökonomie gar nicht nachkommen, sie kann im Grunde nicht Wissenschaft
sein.
Die angebliche Schwerverständlichkeit ethnologischer Publikationen dürfte aller-
dings selten tatsächlich Wissenschaftssprache betreffen, denn man kann unseren Ver-
öffentlichungen eher zu viel Leichtigkeit als Schwerverständlichkeit durch Präzision,
Knappheit und Fachterminologie vorwerfen. Die Nähe und der Versuch der Konkur-
renz zum Essay, zum Reisebericht, zur schönen Literatur ist häufig unverkennbar.
Der Literat, der Schriftsteller, scheint eher Modell für ethnologische Publikationen als
der Naturwissenschaftler, dem es gelingt, einen Sachverhalt auf die kürzest mögliche
und nötige Form, letztlich vielleicht eine Formel, zu bringen5.
Woher diese Situation? Sicherlich zum einen, weil das Fach in einer Tradition
steht, in der Reisebeschreibungen und Belletristik eine ganz erhebliche Rolle spielen.
Wir haben Teile dieser Tradition mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen
gemein. Es gibt zum anderen aber Gründe, warum diese Tradition nicht abgebrochen
ist.
Von Bedeutung war vermutlich die geringe personelle Größe des Faches. Wo nur
hundert Personen innerhalb einer Disziplin arbeiten - selbst wenn es heute zweihun-
dert sind -, da gibt es ganz praktische Publikationsprobleme. Die Monographie eines
Stammes in Neuguinea fand und findet schon innerhalb der Ethnologie Interesse nur
bei einem kleinen Teil der wenigen Fachgenossen. Eine Auflage von fünfhundert Ex-
emplaren ließ sich bereits nicht mehr verkaufen (und läßt sich auch heute noch nicht
verkaufen), was bedeutet, daß versucht wird, einen breiteren Leserkreis zu finden.
Und für den ist - zumindest von der Absicht her - eine andere, eine nichtwissenschaft-
liche Sprache notwendig. Verkäuflichkeit, finanzielle Interessen des Verlegers, aber
auch das Interesse jedes Wissenschaftlers, nicht nur für Bibliotheken zu schreiben,
treffen hier zusammen.
Dabei sei noch erwähnt, daß im Fach das Märchen weitergereicht wird, wer popu-
lär schreibe, erwerbe sich damit einen schlechten Ruf unter Kollegen. Eine einfache
Durchsicht jedes Bücherschrankes widerlegt das: Thurnwald und Trimborn, Frobe-
nius und Lips, Plischke und Termer, Krickeberg und Nevermann6- es gibt kaum einen
Zu Wissenschaftssprache siehe vor allem die beiden von Theo Bungarten herausgegebenen Sammelbände:
»Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription." München
1981; „Wissenschaftssprache und Gesellschaft. Aspekte der wissenschaftlichen Kommunikation und des
Wissenstransfers in der heutigen Zeit." Hamburg 1986.
Die Grenze zwischen populär und wissenschaftlich „gemeinten" Publikationen ist nicht immer leicht zu
z'ehen. Oft geht das nur aus den Vorworten oder Einleitungen der betreffenden Veröffentlichungen selbst
hervor. Deshalb wird auf eben solche Absichtserklärungen der Verfasser im folgenden jeweils hingewiesen :
32
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
anerkannten Ethnologen der letzten Generation, der nicht ausdrücklich Populäres ge-
schrieben hat. Darunter hat der jeweilige Ruf nicht gelitten und tut es auch heute nicht.
Worum es geht, ist die Entwicklung des notwendigen Bewußtseins von den Unter-
schieden zwischen innerwissenschaftlicher und populärer oder didaktischer Literatur.
Wir dürfen nicht den zweiten Schritt - den der Popularisierung oder Vermittlung -
zum ersten machen wollen. Mit dem Versuch, ständig populär zu sein, geraten wir
über den Rand der Wissenschaft und lassen damit selbst die Grenzen zu Nichtwissen-
schaft, und dem was halt jeder kann, verfließen.
4 „Allerweltswissenschaft" als Antiwissenschaft
Nun ist die Nennung von Karl May oder Erich Scheurmann oder Carlos Castañeda als
„Völkerkundler" wohl nicht nur Unkenntnis von Studienanfängern, sondern auch
Ausdruck einer modischen Einstellung zu Wissenschaft. Wir wissen alle, daß ein er-
heblicher Teil der Studierenden zur Ethnologie kommt, eben weil dies keines der so
schrecklich wissenschaftlichen Fächer ist. Wir bekommen ganz sicher mehr als einen
fairen Anteil von der irrationalistischen Welle ab. Die Vorstellung vom „besseren Wil-
den" mit dem „Papalagi", Mythos als andere Form der Welterkenntnis, Mystik nach
indischer Art, indianische Schamanen - für das alles ist die Ethnologie Steinbruch und
Spielwiese.
Wodurch unterscheidet sich denn nun eigentlich ein Ethnologe vom Reiseschrift-
steller, Ethnographie von Dichtung, ein Besuch bei den Wilden von einer Feldfor-
schung? Daß „Feldforschung" derzeit auch unter konjunkturellen Blähungen leidet
und jede freundliche Unterhaltung zur Feldforschung hochgejubelt wird, sei nur ne-
benbei bemerkt. Neben der Tendenz, alles, was sich mit Völkern beschäftigt, als Völ-
kerkunde zu verstehen und froh zu sein, wenn es möglichst wenig „wissenschaftlich"
ist, findet sich die extremere Tendenz, „Wissenschaft" als schmutziges Wort aufzufas-
sen und zu betonen, daß es ja eigentlich bessere Methoden der Welterkenntnis gebe,
die man in die Disziplin einführen wolle, etwa Intuition, Gefühl, Empfindsamkeit,
Versenkung, Dichtung. Leo Frobenius läßt grüßen und die ganze irrationalistische
und antirationale Tradition.
Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich gibt es andere Wege der
Welterkenntnis als Wissenschaft. Und wer einen anderen Weg beschreiten will, der
Richard Thurnwald: Der Mensch geringer Naturbeherrschung. Berlin 1950 (p. 10); Hermann Trimborn:
Die indianischen Hochkulturen des alten Amerika. Göttingen, Heidelberg 1963 (p. V); Leo Frobenius: Völ-
kerkunde in Charakterbildern des Lebens, Treibens und Denkens der Wilden und der reiferen Menschheit.
Hannover 1902 (p. VII); Julius Lips: Vom Ursprung der Dinge. Leipzig 1951 (p. 7); Hans Plischke: Die
Völker Europas und das Zeitalter der Entdeckungen. Göttingen 1943 (p. 3); Franz Termer: Alvar Nunez
Cabeca de Vaca. Schiffbrüche. Stuttgart 1925. (p. V); Walter Krickeberg: Altmexikanische Kulturen. Berlin
1965 (p.9); Hans Nevermann: Kulis und Kanaken. Braunschweig 1942 (p. 7).
Hans Fischer: Ethnologie als Allerweltswissenschaft
33
möge ihn gehen. Und man möge die neue Un-, Nicht-, Über- oder Gegenwissenschaft
zur Unterscheidung mit einem netten neuen Namen benennen: Ethnognosie oder Völ-
kerfreundschaft, Ethnopoesie oder Anthropophilie oder ähnlich. Vielleicht sollten wir
das Wort „Völkerkunde" dann auch den Hobby- und Überzeugungs-Beschäftigungen
und der Öffentlichkeitarbeit der Museen überlassen und die wissenschaftliche Diszi-
plin eben „Ethnologie" nennen. Keine Heilung durch Terminologie, wie Kurt Tu-
cholsky einmal gemeint hat, aber doch eine deutliche Abgrenzung. Und wir werden
vielleicht alle deutlicher machen müssen, daß eben nicht jede Beschäftigung mit frem-
den Völkern Ethnologie und daß Ethnologie Wissenschaft und was Wissenschaft ist.
5 Wir machen alles
»Allerweltswissenschaft" heißt aber wohl auch und vor allem, daß es kaum noch etwas
gibt, was im Rahmen dieser Disziplin nicht behandelt wird : Keine Region dieser Erde,
kein Typus von Gesellschaften, Völkern oder Institutionen, kein Bereich - von Wirt-
schaftstheorien bis zu bemalten Ostereiern, vom badischen Fuchsbandwurm bis zum
Mogeln in japanischen Eisenbahnen, - kein Problem, keine Methode, kein theoreti-
scher Ansatz. Irgendwie läßt sich alles mit „Kultur" oder „Gesellschaft", „Völkern"
oder „Sitten und Gebräuchen" in Zusammenhang bringen. Und am liebsten würden
manche dazu vielleicht noch die Volkskunde und die Soziologie und ein paar sonstige
Fächer vereinnahmen. Eine Art von wissenschaftsorganisatorischem Größenwahn,
der die selbstverständlichen Möglichkeiten des „alles geht" in der Forschung mit not-
wendig pragmatischer Organisation von Ausbildung, Kommunikation und For-
schungsförderung verwechselt.
Wenn diese zunächst von Primärerfahrungen ausgehende Behauptung vom „wir
machen alles" zutrifft, dann sind zwei Konsequenzen sehr leicht abzuleiten: Entweder
jeder Angehörige dieser zahlenmäßig kleinen wissenschaftlichen Gemeinschaft be-
schäftigt sich mit etwas anderem als sein Kollege. Dann kann und wird er dessen Ver-
öffentlichungen kaum noch lesen, und es sind weder Zusammenarbeit und Ergän-
zung, noch Kontrolle und Krtitik möglich. Wir wissen schon seit Jahrzehnten, daß im
empirischen Bereich das „Mein-Stamm-Syndrom" für Ethnologen typisch ist. - Oder
jeder betätigt sich als Dünnbrettbohrer auf jedem Feld des unbegrenzten Faches. Bei-
des würde das Ende dieses Faches als ernstzunehmende wissenschaftliche Disziplin
bedeuten. Ich gehe dabei davon aus, daß wissenschaftliche Kommunikation zunächst
regional ist (am selben Ort, im gleichsprachlichen Umfeld) und erst im zweiten Schritt
international.
Deshalb noch einige Überlegungen zum Sinn der Aufteilung wissenschaftlicher
Tätigkeit auf Einzelwissenschaften: Historisch gesehen wurden wissenschaftliche
Disziplinen nicht geplant und logisch abgegrenzt begründet. Sie entstanden aus dem
Interesse einzelner, mit anderen zu kommunizieren, sich auszutauschen, zu kritisie-
ren, weiterzuentwickeln. Wenn eine Disziplin sich institutionalisiert hat, ordnen sich
34
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Späterkommende ihr zu, die ihre Interessen in dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft
behandelt und vertreten finden. Historisch geworden und veränderlich sind also die
Abgrenzungen der Disziplinen. Die Existenz wissenschaftlicher Teilfächer ist aber
wesentlicher Bestandteil des Wissenschaftsprozesses. Weil Kontakt, Auseinanderset-
zung und Neuformulierung ebenso Grundbedingungen sind wie die Begrenztheit in-
dividueller Fähigkeiten und Möglichkeiten. Jeder einzelne kann nur ein begrenztes
Feld überblicken und nur in einem begrenzten Feld kommunizieren.
Wissenschaftliche Disziplinen werden am sinnvollsten als wissenschaftliche Ge-
meinschaften mit gemeinsamem Paradigma im Sinne Thomas Kuhns7 verstanden. Die
Auseinandersetzung muß also immer wieder um diese beiden Fragen stattfinden: Ob
eine Gemeinschaft noch funktioniert und ob es ein gemeinsames Paradigma gibt. Ist
das in dem einen oder anderen Punkt nicht mehr der Fall, muß eine Disziplin sich
selbst neu bestimmen und eventuell aufteilen. So wie die Ethnologie im 18. Jahrhun-
dert aus der Geographie entstanden ist. So wie das Fach Altamerikanistik aus der Eth-
nologie entstand und zum selbständigen Promotionsfach wurde. Möglicherweise sind
derzeit noch weitere Regionalfächer in der Ethnologie enthalten - von Pazifikstudien
bis Lateinamerikakunde - die sich in ähnlicher Weise entwickeln sollten.
6 Was können Ethnologen eigentlich?
Der Anlaß für die vorgetragenen Überlegungen war zunächst die Nennung von
„Randfiguren" der Völkerkunde durch Studienanfänger in Hamburg. Es gibt noch ei-
nen zweiten Anlaß. Im vorigen Jahr habe ich unter dem Titel „Wege zum Beruf" einen
Sammelband herausgegeben mit Beiträgen von meist jüngeren Kolleginnen und Kolle-
gen, die nach einem Ethnologiestudium in die unterschiedlichsten Berufe gegangen
sind: In die Entwicklungshilfe, den Medienbereich, Erwachsenenbildung, Biblio-
thekswesen oder in die Selbständigkeit.
Obgleich die Beitragenden ausdrücklich gebeten worden waren, doch auch dar-
über zu schreiben, was sie aus ihrer ethnologischen Ausbildung in ihrem derzeitigen
Beruf brauchen können, kamen hierzu fast keine Angaben. Zwar wurden allgemein-
wissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten angeführt wie Breite der Allgemeinbil-
dung, Arbeitsdisziplin, die Fähigkeit klar zu formulieren, sich schnell Informationen
zu verschaffen oder in neue Bereiche einzuarbeiten, die Beherrschung wissenschaftli-
cher Arbeitstechniken bis zum Umgang mit Karteien und EDV. Andererseits dann
sehr Spezifisches wie bestimmte Sprachkenntnisse, Landeskenntnisse und schließlich
Wissen aus Nebenfächern, vor allem den weniger üblichen wie Jura, Volkswirtschaft
oder Naturwissenschaften8.
7 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 25.
Frankfurt a. M. 1967 (zuerst 1962).
8 Hans Fischer: Wege zum Beruf. Möglichkeiten für Kultur- und Sozialwissenschaftler. 21 Beiträge. Berlin
1988. Siehe bes. p. 19f.
Hans Fischer: Ethnologie als Allerweltswissenschaft
35
Das macht den Eindruck, als brauchte man spezifisch Ethnologisches nicht oder
als wisse man eigentlich nicht so recht, was spezifisch ethnologisch ist. Mehr als die
vereinzelten Angaben „Berücksichtigung des jeweiligen kulturellen Kontextes" und
»,Fähigkeit zu interkultureller Kommunikation" wurde kaum angeführt. Das ist
selbstverständlich nicht die Schuld der Autoren, sondern ist wohl Spiegelbild der tat-
sächlichen Betonungen während des Studiums und in der Disziplin insgesamt. Und
wenn schon unsere eigenen jungen Kollegen nichts spezifisch Ethnologisches aus ihrer
Ausbildung erinnern - wie sollen dann Arbeitgeber, Politiker, Institutionen der Ent-
wicklungshilfe, nicht zuletzt auch Einrichtungen der Forschungsförderung eine Vor-
stellung von den Möglichkeiten dieser Disziplin haben?
Die Frage ist also: Was können Ethnologen eigentlich? Und zwar nicht jeweils ein-
zelne, sondern alle aufgrund ihrer Ausbildung. Was unterscheidet sie dabei von ande-
ren Fächern? Was haben sie Eigenes zu bieten über Regionalkenntnisse, Allgemeinbil-
dung und wissenschaftliche Arbeitstechniken hinaus? Das Bild des Faches in der
Öffentlichkeit ist entscheidend für Möglichkeiten der Anwendung und für die Förde-
rung, ist aber schon vorher prägend auch für Interesse und Auswahl der Studierenden.
Es ist offensichtlich, daß das derzeitige (vermutete) „Image" nicht zufällig und unge-
rechtfertigt ist, sondern durchaus die Situation der Disziplin als wissenschaftliche Ge-
meinschaft und in der Ausbildung widerspiegelt.
Noch eine Bemerkung hierzu: Natürlich ist in der Forschung Grenzüberschrei-
tung zwischen Disziplinen nicht negativ, sondern gehört zum normalen Ablauf von
Wissenschaft. Es ist gleichgültig, ob ich eine Forschungsarbeit der Ethnologie oder
Soziologie, der Volkskunde oder Völkerkunde zurechne, ob eine Fragestellung oder
Methode in dem einen oder anderen Fach entwickelt wurde und mit welchen anderen
Wissenschaftlern ich zusammenarbeite. Entscheidend ist ausschließlich, ob ich ein
Problem erkenne und richtig löse. Es sind neben den für Forschung notwendigen In-
formations- und Kommunikationsaufgaben, Fragen der Förderung und Finanzie-
rung, dann in erster Linie die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und
Berufsfragen, die die klare Be- und Abgrenzung von Disziplinen notwendig machen.
Wer alles machen will, ist letztlich für nichts mehr zuständig. Wer dasselbe macht wie
alle anderen, ist eigentlich überflüssig.
7 Folgerungen: Beschränkung und Konzentration
F>ie Entwicklungen in der Ethnologie, die ich unter dem Schlagwort von der „Aller-
weltswissenschaft" zu verdeutlichen versucht habe, betreffen, stichwortartig zusam-
mengefaßt:
die schwache Abgrenzung gegenüber Nichtwissenschaft und fehlende Auseinan-
dersetzung mit einer populären „Völkerkunde" - mit Konsequenzen für das Bild
des Faches in der Öffentlichkeit;
die Tendenz zur Popularisierung vor und oft anstelle exakter Wissenschaftssprache;
36
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
- die Ausweitung von Gegenstand, Problemen und Methoden der wissenschaftlichen
Disziplin bis zur Unüberblickbarkeit und der Unmöglichkeit wissenschaftlicher
Kommunikation und Auseinandersetzung;
- die Uneinheitlichkeit und teils Beliebigkeit der universitären Ausbildung mit nega-
tiven Konsequenzen für Berufsbilder und Berufschancen.
Vorschläge für mögliche Richtungen der Veränderung will ich hier nur noch skizzie-
ren. Sie lassen sich unter den beiden Stichwörtern „Beschränkung" und „Konzentra-
tion" zusammenfassen und betreffen im wesentlichen die Universitäts-Ausbildung
und die Ausrichtung der Institute.
(1) Die wissenschaftliche Gemeinschaft wird sich dem Problem der zentralen In-
halte des Faches und damit seiner Selbstbestimmung zuwenden müssen, einem
Thema, das sie seit der ersten Tagung der Gesellschaft für Völkerkunde 1929 in Leip-
zig9 - also vor genau 60 Jahren - vernachlässigt hat. Nazizeit und Zweiter Weltkrieg,
Dekolonialisierung und Nord-Süd-Problematik sind darüber hinweggegangen
ebenso wie die gewaltige Zunahme der Studentenzahlen und die institutionelle und
personelle Ausweitung der Ethnologie. Diese notwendige Selbstbesinnung und
Selbstbeschränkung sind Voraussetzung für sinnvolle Ausbildung und Klarheit über
die Möglichkeiten der Ethnologie nach außen.
(2) Die Universitätsausbildung - im Grundstudium oder sogar bis zum Magister -
wird sich auf diese zentralen und für alle gleichen Bereiche konzentrieren müssen, um
zum einen klarzustellen, „was Ethnologen eigentlich können", und um zum anderen
aufeinander aufbauenden Unterricht und schon auf dieser Ebene Zusammenarbeit
und Kritik überhaupt zu ermöglichen. Das bedeutet auch den Versuch der Abstim-
mung und Übereinstimmung zwischen den Instituten und den bewußten Verzicht auf
„alles und jedes" nach dem Lustprinzip. Auf die didaktischen Chancen, Möglichkei-
ten für gemeinsame Unterrichtsvorlagen, Zeiteinsparung für die Lehrenden, da nicht
jeder einzelne alles neu entwickeln muß, will ich nur hinweisen. Die Gründung einer
Hochschul-Arbeitsgruppe wäre nach vielen Jahren des Verzichts wohl ein erster
Schritt.
(3) Statt des Versuches, an jedem Institut alles und jedes zu forschen und zu leh-
ren, sollten Institute bewußt eingeschränkte Forschungsschwerpunkte entwickeln.
In diese Richtung gehen mit regionalen Ausrichtungen schon jetzt etwa Heidel-
berg, Bonn oder Bayreuth. Es sind hier aber nicht nur regionale, sondern auch sach-
oder problemorientierte Schwerpunktbildungen gemeint. Das würde bedeuten, daß
die angestellten Wissenschaftler an einem Institut nicht mehr jeweils ganz Unter-
schiedliches vertreten, sondern durch größtenteils übereinstimmende Arbeitsgebiete
wissenschaftlich kommunizieren, kooperieren und sich gegenseitig kontrollieren und
kritisieren können. Die Konsequenzen wären vor allem im Bereich der Personalpoli-
9 Tagungsberichte der Gesellschaft für Völkerkunde. Herausgegeben vom Vorstand. Bericht über die I. Ta-
gung 1929 in Leipzig. Leipzig 1930. Teil I: „Völkerkunde als selbständige Wissenschaft (Aufgaben und We-
sen der Völkerkunde)".
Hans Fischer: Ethnologie als Allerweltswissenschaft
37
tik erheblich. Und hier sind mir die oft opportunistischen Begründungsprobleme bei
Stellen durchaus bewußt.
(4) Forschungsschwerpunkte, die zeitlich unbegrenzt und nicht etwa als For-
schungsprojekte gemeint sind, hätten Konsequenzen für die Ausbildung in dreierlei
Hinsicht. Zum ersten: Oberhalb des allen gemeinsamen Grundstudiums wäre die
Ausbildung exemplarisch statt wie bisher fast beliebig. Zum zweiten: Der ständige
Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre wäre wiederhergestellt; gelehrt wird,
was auch geforscht wird. Zum dritten: Die Studierenden würden von vornherein am
Forschungsprozeß beteiligt. Anstelle von Trockenübungen wäre die aufgewandte
Leistung, etwa für Abschlußarbeiten, direkt im Forschungszusammenhang nutzbar.
(5) Solche Forschungsschwerpunkte von Instituten würden nicht nur bessere
Kooperation und damit Forschung und den Zusammenhang zwischen Forschung und
Lehre ergeben, sondern auch ein Mehr an Professionalisierung und ein deutlicheres
Bild von den Kompetenzen und Leistungen des Faches in der Öffentlichkeit.
Was ist der Gegenstand
der Verwandtschaftsethnologie?
Hartmut Lang
Institut für Völkerkunde, Universität Köln, Albertus-Magnus-Platz, D-5000 Köln 41, Deutschland
Abstract.The concept of kinship has been controversial for a long time. The genealogical concept is rejected
by those who favor the social category view; for others kinship is nothing but a fiction of anthropology. The
controversy is still alive, since many of the questions involved are undecidable, even though apparently no
one is able to dispense with the genealogical concept of kinship altogether. The main reason for this situation
seems to be a lack of procedures that can provide clear evidence. Two types of procedures are proposed : pro-
cedures that elucidate the cognitive realm, and procedures that take the dynamic properties of kinship into
account.
1 Einleitung
Die Verwandtschaftsethnologie gehört zu den Kerngebieten der Ethnologie. In kaum
einer Kulturbeschreibung fehlt sie. Darüber hinaus ist sie eines der ältesten konti-
nuierlich bearbeiteten Gebiete des Faches, und sie teilt ihren Gegenstand nicht mit an-
deren Fächern, wie das etwa bei der Religionsethnologie oder der Wirtschaftsethnolo-
gie der Fall ist.
Was allerdings ihr Gegenstand ist, darüber wird gestritten. Die Debatte zieht sich
nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert hin (R. H. Barnes 1986: 231). Ein Ende ist
nicht in Sicht. Das letzte größere Gefecht wurde 1986 in Current Anthropology
(Hirschfeld 1986) ausgetragen, in dem sich die Hauptexponenten der meisten Positio-
nen zu Wort meldeten.
Wer die Debatten um den Verwandtschaftsbegriff verfolgt, wird feststellen, daß sie
kaum je die Konsensbildung gefördert haben. Im Gegenteil! Sie haben ein verwirren-
des Geflecht von Positionen, Beispielen, Argumenten geschaffen, das über Halden
von Literatur verstreut ist. Dem Anfänger erscheint das Ganze als undurchdringliches
Dickicht. Und auch der Fortgeschrittene findet sich nur unter großen Mühen zurecht.
Die Debatten sind darüber hinaus immer wieder mit ätzender Schärfe geführt wor-
den. Mancher scheint dabei persönliche Verletzungen davongetragen zu haben. Und
nicht zuletzt geht von diesen Debatten eine merkwürdige Suggestion aus, die eine neu-
rale Beurteilung, ohne Partei zu ergreifen, sehr schwer macht. Selbst jüngere Ethno-
logen, die sich bewußt vorgenommen haben, neutral zu bleiben, gelingt es nur be-
lch danke S. Fülleborn (Hamburg) und T. Helmig (Köln) für Anregung und Kritik.
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 39-54
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
40
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
grenzt, sich dieser Suggestion zu entziehen. Mit seltener Offenheit gestehen das Bar-
nard und Good (1984), zwei britische Ethnologen, in einem verwandtschaftsethnolo-
gischen Lehrbuch ein. In der Einleitung ihres Buches erklären sie, sie beabsichtigten
eine unparteiische Darstellung des Stoffes, frei von Polemik (Barnard & Good 1984:
14). Später gestehen sie dann ein, in einigen Passagen, die übrigens bestimmte Thesen
von Lévi-Strauss behandeln, nun doch polemisch und tendentiös geworden zu sein.
Das Eingeständnis schließen sie mit dem Stoßseufzer, daß es „alas" noch keinen allge-
meinen Konsens über diese Dinge gäbe (Barnard & Good 1984: 95).
Der Streit um den Verwandtschaftsbegriff präsentiert sich in aller Regel als Kampf
zwischen bestimmten Positionen oder Richtungen. Da gibt es z. B. die „Formalisten",
die im Streit liegen mit den Anhängern der „symbolischen" Richtung, deren Unterab-
teilungen sich ihrerseits wieder befehden. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe
man hier keine andere Wahl, als die einzelnen Richtungen oder Positionen möglichst
klar herauszuarbeiten und dann eine begründete Entscheidung zu treffen für eine der
Richtungen.
Es scheint aber auch anders zu gehen. Die Alternative besteht darin, nicht Richtun-
gen oder Positionen en bloc zu behandeln, sondern en détail, d. h. von Teilproblemen
auszugehen. Das hat Vorteile: Statt mit sehr vielen Drachen gleichzeitig kämpfen zu
müssen, kann man es sich aussuchen, mit wie vielen und welchen man sich anlegt; die
Chance, von den Schwierigkeiten nicht überwältigt zu werden, wird so größer. Dieser
Weg sei hier beschritten. Die Positionen werden im folgenden nur eine untergeordnete
Rolle spielen; hauptsächlich werden sie Gliederungszwecken dienen. Selbstverständ-
lich können die Teilprobleme nicht vollständig abgehandelt werden. Das Ziel ist viel-
mehr wesentliche Teilprobleme vorzustellen und so klar wie möglich auf der avisier-
ten Reflexionsebene herauszuarbeiten; wesentlich seien dabei solche Probleme ge-
nannt, von deren Lösung nachweisbar die Beantwortung der Ausgangsfrage abhängt.
Auf die Ebene der Sprache gehoben wird aus der Ausgangsfrage die Frage nach
dem Verwandtschaftsbegriff. Der Streit um den Verwandtschaftsbegriff berührt alle
drei Bereiche, in die die Verwandtschaftsethnologie traditionellerweise untergliedert
wird: die Verwandtschaftsterminologien wie die Deszendenz und, unter bestimmten
Aspekten, die Heirat (Barnard & Good 1984: 15). Wir haben bei der Problemauswahl
darauf geachtet, daß alle drei Bereiche in Erscheinung treten. Angemerkt sei noch:
Wenn wir mehr als einen der drei Bereiche ansprechen wollen, werden wir gelegent-
lich von Verwandtschaftssystemen sprechen.
2 Der genealogische Verwandtschaftsbegriff
Zunächst sei der genealogische Verwandtschaftsbegriff vorgestellt. Er ist der am wei-
testen verbreitete Verwandtschaftsbegriff. Das kann man behaupten, weil er von fast
allen Ethnologen benutzt wird, die Verwandtschaftsethnologie nicht als Spezialgebiet
haben.
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
41
Den Kern des Begriffs bilden die Eltern-Kind-Beziehung und Kombinationen sol-
cher Beziehungen. Die Eltern-Kind-Beziehung wird dann weiter qualifiziert mit dem
Attribut kulturell definierte Eltern-Kind-Beziehung. Damit wird der Verwandt-
schaftsbegriff an die kulturspezifischen Fortpflanzungstheorien angepaßt. Bekannt-
lich können in manchen Kulturen mehrere Mütter an der Entstehung eines Kindes
mitwirken (Jigalong, Australien, Tonkinson 1978: 84, 90 n. 14), in anderen mehrere
Väter (Apachen, Opler 1965: 149), und es gibt noch weitere Theoriearten, die mit der
modernen westlichen biologischen Fortpflanzungstheorie unverträglich sind. Die
Qualifizierung schließt explizit ein Primat dieser Prokreationstheorie aus (Keesing
1975: 150; Scheffler & Lounsbury 1971: 37f.).
Schließlich wird noch gelegentlich das Merkmal der Unauflöslichkeit der Bezie-
hung explizit in die Definition aufgenommen (Scheffler & Lounsbury 1971: 38). Ex-
plizit negiert findet man das Merkmal u. W. nie. Unauflöslich soll heißen: Menschen
können die Verwandtschaftsbeziehungen nicht auflösen, beenden.
Dieser genealogische Verwandtschaftsbegriff führt, angewendet auf Verwandt-
schaftsterminologien, schnell zu einer Schwierigkeit. Sie rührt von der Eigenschaft
vieler Verwandtschaftsterme her, polysem zu sein; d. h. die betreffenden Terme haben
mehrere miteinander verbundene Bedeutungen. Ein Beispiel möge der Gebrauch des
Wortes Großmutter in den folgenden beiden Sätzen liefern:
- Ich habe meine Großmutter nicht gekannt.
- Sie sah aus wie ihre eigene Großmutter.
Im ersten Satz wird Großmutter offenbar im verwandtschaftlichen Sinn verstanden.
Im zweiten Satz wird man eher einen nicht-verwandtschaftlichen Sinn im Vorder-
grund stehen sehen. Daß hier eine Schwierigkeit vorliegt, wird von allen Richtungen
anerkannt, die die Tatsache akzeptieren, daß Verwandtschaftsterminologien auch ein
linguistisches Problem darstellen. Die Kontroverse entzündet sich nun an einer mehr-
teiligen These. Sie besagt, (1) der verwandtschaftliche Sinn der Termini sei genealo-
gisch zu verstehen, und (2) dieser genealogische Sinn sei der primäre bzw. privilegierte
Sinn, und (3) das könne man bei allen gut dokumentierten Verwandtschaftsterminolo-
gie nachweisen. Allen drei Teilthesen liegt also der genealogische Verwandtschafts-
begriff zugrunde. Wer diesen Verwandtschaftsbegriff ablehnt, wird demnach auch die
These insgesamt verwerfen.
Die Teilthesen können aber auch in autonome Fragen umgewandelt werden, und
lauten dann: (1') Wie wird der verwandtschaftliche Sinn des Wortes verstanden? (2')
Ist der verwandtschaftliche Sinn des Wortes der primäre? Wenn diese Fragen für eine
ausreichende Zahl von Kulturen beantwortet sind, kann man an die Beantwortung der
Frage gehen: (3') Wie sieht die Verteilung der Antworten zu den Fragen 1' und 2' auf
diese Kulturen aus.
Diese Fragenserie ist offenkundig unvollständig. In der Sprache der Testtheorie
formuliert, bezieht sie sich nämlich ausschließlich auf die Alternativhypothesen und
!gnoriert die dazugehörigen Nullhypothesen. So setzt etwa Frage 2' voraus, daß es
eine privilegierte Bedeutung gibt; naheliegenderweise wäre aber zunächst zu klären,
42
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
ob es überhaupt eine privilegierte Bedeutung gibt. Ersichtlich müßte auch die erste
Frage ein derartiges Komplement erhalten. Sie stellt die generelle Nullhypothese dar.
Sollte sie sich bestätigen, wäre die Verwandtschaftsethnologie ein reines Hirngespinst
der Ethnologen.
Darüberhinaus fehlt die Frage nach den geeigneten Tests, nach den Prozeduren,
die eine möglichst allerseits akzeptierte Antwort auf die jeweilige Frage liefern kön-
nen. Offenkundig erübrigt sich eine Debatte um den Verwandtschaftsbegriff und
seine mögliche Privilegiertheit, solange über die Beantwortungsprozeduren kein Kon-
sens besteht.
Ein Beispiel mag das illustrieren: Die Befürworter des genealogischen Verwandt-
schaftsbegriffs bestimmen die Privilegiertheit der (genealogischen) verwandtschaftli-
chen Bedeutung über das Erweitern und Abstreichen von Merkmalen. Auf diese
Weise kann in westlichen Kulturen die nichtverwandtschaftliche Bedeutung von
,Großmutter' mit den Merkmalen alte Frau, weißes Haar, Brille aus der genealogischen
(Elters Mutter) abgeleitet werden. Privilegiert heißt die verwandtschaftliche Bedeu-
tung nun deshalb, weil aus eben dieser Bedeutung mit der angegebenen Prozedur die
nichtverwandtschaftliche ableitbar sein soll, nicht aber umgekehrt die verwandt-
schaftliche Bedeutung aus der nichtverwandtschaftlichen (Scheffler & Lounsbury
1971: 10; Scheffler 1986: 234).
Es lassen sich auch andere Prozeduren denken: Landau hat z. B. Versuchsperso-
nen - es handelte sich um Angehörige der Mittelschicht von New Jersey — Bilder von
Personen vorgelegt, die verwandtschaftlich zu deuten waren (1982: 50 ff.). Hätte nun
die große Mehrheit eher eine nicht genealogische Bedeutung ihren Bilddeutungen zu-
grunde gelegt (was auf die erwachsenen Versuchspersonen nicht zutrifft; Landau
1982: 57), ließe sich auch diese Bedeutung privilegiert nennen.
Damit könnte ein und dieselbe Bedeutung eines Terms zugleich privilegiert und
nicht-privilegiert sein. Eine Kontroverse muß sich dementsprechend auf die geeignete
Prozedur beziehen, wenn sich der Streit nicht um den banalen Punkt drehen soll, wie
die Resultate benannt werden sollen.
Für die westlichen Kulturen wird im übrigen - jedenfalls bei Erwachsenen — ein
solcher genealogischer Bedeutungskern, ob privilegiert oder nicht, von den meisten
Verwandtschaftsethnologen anerkannt. Welchen Erkenntniswert das Wortverständ-
nis von Kindern in diesem Zusammenhang hat, sollte selbstverständlich genauso ex-
plizit gezeigt werden, wie man das im Fall der Fortpflanzungsvorstellungen von Kin-
dern erwarten würde.
3 Die Alternative: Soziale Kategorien
Die Debatte um den Verwandtschaftsbegriff würde nicht so heftig geführt, wenn als
Alternative zum genealogischen Verwandtschaftsbegriff nur seine Negation zur Ver-
fügung stünde, wenn nur die Eignung des Begriffes bestritten, nicht aber ein Ersatz
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
43
zur Verfügung stünde. Es gibt eine derartige positive Alternative. Sie läuft meist unter
dem Namen ,soziale Kategorie'.
Primär solle man, so argumentieren die Vertreter dieser Position, in einem Ver-
wandtschaftsterm eine soziale Kategorie sehen und nicht von vorne herein seinem Be-
deutungsfeld das genealogische Raster aufprägen. In harter Gangart lautet der Ein-
wand dieser Richtung gegen den genealogischen Verwandtschaftsbegriff, er stelle eine
»kulturspezifische Fixierung" westlicher Ethnologen dar, die den Blick „auf fremde
Ordnungsmöglichkeiten" behindere (Pfeffer 1985: 54).
Die Position der,sozialen Kategorie' läßt sich mit einer Reihe von empirischen Be-
funden abstützen, die in der Tat zumindest auf den ersten Blick nicht mit dem genealo-
gischen Verwandtschaftsbegriff zu vereinbaren sind. Hier sei kurz einer dieser Be-
funde vorgestellt. Er bezieht sich auf die Maravar Tamilen in Südindien. Im Sinn des
genealogischen Verwandtschaftsbegriffs könnte man einen verwandtschaftlichen
Aspekt der Maravar-Kultur so beschreiben. Bei den Maravar gibt es eine Norm (Lang
et al. 1981: 145), nach der ein Mann seine Kreuzbase heiraten muß (Good 1981: 115).
Sieht man sich das Heiratsverhalten der Maravar an, wird man eine größere Menge
von Fällen vorfinden, die durchaus mit der genealogischen Deutung verträglich sind
(Good 1980: 484, 1981: 122). Es gibt aber auch Fälle, die mit dieser Deutung nicht in
Einklang zu stehen scheinen; z. B. dieser Fall : Bei den Maravar heiraten sich durchaus
auch Paare, zwischen denen vor der Heirat keinerlei nachweisbare Verwandtschafts-
beziehungen existierten. Das sieht nach einem Verstoß gegen die Norm aus. Wie aber
gehen die Maravar damit um? Wenn eine solche Heirat zustande kommt, dann benen-
nen sich die Heiratspartner und deren jeweilige Verwandte so, als hätte eine normkon-
forme Heirat stattgefunden (Good 1981: 126). So vorzugehen, verträgt sich nun in der
lat nicht mit unserem Konzept von Norm.
Die Schwierigkeiten sollen aber alsbald verschwinden, wenn man den Fall als An-
wendung einer sozialen Kategorie deutet. Was wir zunächst Kreuzbase genannt ha-
ben, ist dann eine Kategorie, die Frauen bezeichnet, mit denen eine Heiratsbeziehung
besteht oder bestehen könnte. Die Verwandtschaftstermini sagen in dieser Deutung
eher etwas über Heiratsbeziehungen als über genealogische Beziehungen aus. Darüber
hinaus haben wir es nun nicht mehr mit einer Norm, sondern mit den Anwendungsre-
geln für eine Kategorie zu tun. Nicht wie sich Menschen verhalten sollen, sondern wie
(soziale) Verhältnisse zu benennen sind, wird geregelt.
Hier stoßen wir auf das Phänomen der Auflösung eines Gegensatzes von Sein
und Sollen. Die Ethnologie kennt es in vielerlei Varianten. Sehr plastisch und unmit-
telbar einsichtig tritt das Phänomen und sämtliche Lösungsmöglichkeiten, die dem
Renschen hier zur Verfügung stehen, im Fall der Inkongruenz von relativem Alter
und Kategorie vor Augen (Needham 1974, Kap. 2). Diese Inkongruenz liegt z. B.
vor, wenn ein Neffe seinen Onkel zur Taufe trägt. In den meisten, wenn nicht allen
Kulturen soll der Jüngere dem Älteren mit Achtung gegenüber treten. Woran aber
s°ll sich nun das Verhalten des Neffen orientieren, am relativen Alter oder an der
Kategorie?
44
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Dieses Inkongruenz-Phänomen kommt in sehr verschiedenen Kulturen vor. Es
gibt offenbar insgesamt nur drei Möglichkeiten, das Problem zu lösen: Der Neffe
orientiert sich an der Kategorie und tritt ihm, auch wenn er noch in den Windeln
liegt, achtungsvoll gegenüber, oder er orientiert sich am relativen Alter. Die dritte
Möglichkeit besteht in der Umbenennung: Der Onkel heißt künftig Neffe, und der
Neffe Onkel. Auch von ciieser Möglichkeit machen Kulturen Gebrauch (cf. Beispiel-
sammlung von Needham 1974: 75-77). Eben dieses dritte Lösungsmuster, das Um-
benennen, wird als signifikantes Indiz für das Vorliegen einer sozialen Kategorie an-
gesehen.
So formuliert, mag ein Ansatzpunkt für einen Streit noch nicht auszumachen sein.
Auch wenn man sich ansieht, wie die Verwandtschaftsterminologien von den Anhän-
gern der Position der sozialen Kategorie erhoben und beschrieben werden, läßt sich
noch kein Grund zum Streit erkennen. Denn dabei steht, soweit wir sehen, regelmäßig
ebenfalls das genealogische Raster am Ausgangspunkt der Analyse (Barnard & Good
1984: 17ff., 41 f.).
Damit ist zwar eine solide Verankerung dieser Position im genealogischen Ver-
wandtschaftsbegriff erreicht. Die Bedeutung des Ankers wird aber trotzdem als mar-
ginal angesehen. Vertreter der Position betonen, so vorzugehen habe allein praktische
und konventionelle Gründe (Good 1981: 112). Für die Ermittlung der sozialen Kate-
gorien selbst sei das Raster irrelevant, denn es gebe weder die realen oder auch nur
wichtigsten Bedeutungen der Verwandtschaftsterme wieder (Good 1981 : 111). Trotz-
dem ist auch für diese Position der genealogische Verwandtschaftsbegriff zumindest
als Ausgangspunkt der Untersuchung unverzichtbar.
Was die Vertreter der Sozialen-Kategorie-Position vor sich zu sehen glauben, soll
ein Kategoriensystem eigener Art sein. Es gibt nicht in erster Linie genealogische Ver-
hältnisse sondern Ordnungsprinzipien der sozialen Welt wieder. Nach dieser Auffas-
sung lautet die Leitfrage nicht: Wie ist das terminologische System von seinem genea-
logischen Kern aus gesehen beschaffen? sondern: Welche sozialen Ordnungsprinzi-
pien lassen sich in den Termen und deren Bedeutungen erkennen? Aus dieser Perspek-
tive betrachtet, spiegelt das terminologische System der Maravar Tamilen eine elemen-
tare Austauschbeziehung wieder.
Solche Ordnungsprinzipien werden oft,Sozialstruktur' genannt. Gemeint ist aber
damit offenkundig nicht die Sozialstruktur schlechthin. Es geht vielmehr allein um
solche Strukturen, die sich zu Verwandtschaftsterminologien in ein Ableitungsver-
hältnis bringen lassen, wobei die Terminologien u. W. immer zumindest auch gene-
alogische Referenten besitzen müssen. Diese Uberschneidung kann aber die Gegen-
sätze zwischen den beiden Positionen erkennbar nicht aufheben.
Dem genealogischen steht also das sozialstrukturelle Verständnis von Verwandt-
schaft gegenüber. Die Verfechter der beiden Positionen halten den Gegensatz für un-
versöhnlich (Scheffler 1971: 231). Aber ist er das tatsächlich auch, schließen sich die
beiden Positionen tatsächlich aus? Könnten sie einander nicht sogar ergänzen? Auf der
Reflexionsebene, auf der wir uns bislang bewegt haben, ist die Frage offenbar nicht zu
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
45
entscheiden. Ohne zu wissen, wie die beiden Positionen zu ihren Resultaten gekom-
men sind, ohne Kenntnis der Forschungsprozeduren, ist die Frage offenbar noch nicht
einmal diskutierbar.
4 Die Prozeduren
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, Prozeduren zu formulieren, mit denen die auf-
geworfenen Fragen beantwortet werden können. Sie lassen sich in drei Gruppen auf-
teilen. Sie seien hier analytische und kognitv-empirische Prozeduren genannt. Die
dritte Gruppe der Prozeduren nutzt die dynamischen Eigenschaften der Verwandt-
schaftssysteme. Sie sollen im folgenden der Kürze halber und faute de mieux Dyna-
mik-Prozeduren heißen.
Eine analytische Prozedur wird von den Befürwortern des genealogischen Ver-
wandtschaftsbegriffs angeboten. Sie besteht darin, Ableitungsverhältnisse zu unter-
suchen. Am Fall der Bedeutung des Wortes Großmutter haben wir oben auf ein der-
artiges Ableitungsverhältnis hingewiesen: Die nicht genealogische Bedeutung soll
sich aus der genealogischen ableiten lassen, aber nicht umgekehrt. Für die Umbenen-
nung im Fall der Inkongruenz soll ebenfalls ein derartiges Ableitungsverhältnis der
Begriffe vor und nach der Umbenennung zu ermitteln sein. Und auch die Maravar-
schen ,Kreuzbasen' würden sich die Vertreter dieser Position so zu behandeln zu-
trauen.
Die Sozial-Kategorie-Fraktion läßt sich dadurch aber offenbar nicht beeindruk-
ken; die ablehnenden Urteile reichen bis hin zu "simply... uninteresting" (Kaplan
1984: 135). Sie verfügt ebenfalls über analytische Prozeduren, die ebenfalls ein Ablei-
tungsverhältnis begründen sollen, und zwar ein Ableitungsverhältnis zwischen So-
zialstruktur und terminologischem System. Die Resultate dieser Prozeduren überzeu-
gen umgekehrt die Vertreter der genealogischen Position nicht.
Den analytischen Prozeduren beider Fraktionen ist folgendes gemeinsam: In bei-
den Fällen werden als Komponenten Typen von Terminologien und soziale Organisa-
tionsformen resp. Sätze von Regeln einander gegenübergestellt. Und in beiden Fällen
wird zwischen Organisationsform/Regeln und Terminologietyp ein Ableitungsver-
hältnis hergestellt. Welchen Erkenntnisstatus haben nun die beiden Komponenten
und welcher Art ist das Ableitungsverhältnis?
Empirisch belegt sind durchgängig die Terminologien. Die Organisationsformen/
Regeln hingegen sind das nicht, sie sind vielmehr in der Regel erschlossen und haben in
ihrer Verbindung zum Terminologietyp keinen empirischen Erkenntnisstatus. Das
Ableitungsverhältnis selbst hat die logische Struktur einer Implikation: D. h. korrekt
ist nur der Ubergang von den Organisationsformen/Regeln zum Terminologietyp;
die Umkehrung trifft nicht zu, d. h. eine Äquivalenz liegt nicht vor.
Eine Äquivalenz läge vor, wenn nachgewiesen wäre, daß nur eine Organisations-
form, ein Satz von Regeln für einen bestimmten Terminologietyp in Frage kommt. Ei-
46
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
nen Nachweis gibt es unseres Wissens bislang in keinem Fall; nicht einmal Vorüberle-
gungen dazu konnten wir finden. Nur wenn sämtliche in Frage kommenden Organi-
sationsformen und Regelsätze bekannt wären, ließe sich eine Äquivalenz, wenn auch
von recht geringem Informationsgehalt rechtfertigen.1 Die Komponenten sind also in
ihrem Erkenntnisstatus asymmetrisch (empirisch vs. nichtempirisch), und die Bezie-
hung zwischen ihnen ist nur von der Art einer Implikation. Beides zusammen sorgt
dafür, daß man von den analytischen Prozeduren alleine (vorläufig?) keine Auskunft
über den angemessenen Verwandtschaftsbegriff erwarten kann.
Es ist nun naheliegend, die analytischen Prozeduren empirisch abzustützen, d. h.
die bisher nur analytisch gewonnene Komponente und zwar deren kognitive Seite em-
pirisch zu sichern. Denn letzten Endes ist es das zentrale Anliegen aller Richtungen,
die kognitive Validität ihrer Konstrukte. Auch wenn man das den Vertretern der ge-
nealogischen Position gerne abspricht, geht es auch ihnen um die gedankliche Welt der
untersuchten Kultur und nicht um ein rein formales Spiel mit Klassifikationssystemen
als ,Glasperlen'.
Man müßte also versuchen, von den Mitgliedern der jeweiligen Untersuchungs-
kultur selbst die nötigen Auskünfte zu erlangen. Dagegen haben die Verfechter der
genealogischen Position eingewandt, das setze eine Kompetenz auf Seiten der Infor-
manten voraus, die es nicht geben könne. Genausowenig könne man den naiven
Sprecher einer Sprache nach der Grammatik fragen (Scheffler & Lounsbury 1971:
141).
Der Einwand ist plausibel. Aber vielleicht bietet die Wirklichkeit doch Anhalts-
punkte für einen empirischen Zugriff. Daß hier ungenutzte Möglichkeiten vorliegen
können, ist im Zusammenhang mit der sogenannten extensionistischen Hypothese
zum Vorschein gekommen. Es schien auch hier und zwar aus den selben Gründen un-
möglich, sie kognitiv-empirisch anzugehen. Wie die Arbeiten von Noricks zeigen,
gibt es offenbar doch einen gangbaren Weg, die Hypothese empirisch zu überprüfen.
Noricks Resultate (1985, 1987) sprechen übrigens deutlich für die extensionistische
Hypothese.
Die Befürworter der Sozialen-Kategorie-Position sehen analoge Schwierigkeiten.
Für sie ist die soziale Struktur einer Kultur etwas, was ihren Mitgliedern verborgen
sein kann. Die Struktur ist dann zwar im Denken und (u. U.) im Handeln der Kultur-
mitglieder enthalten; sie ist ihnen aber nicht „bewußt", (cf. Lévi-Strauss 1958: 308ff.).
Theorien, die mit dem Begriff des Unbewußten arbeiten, sind aber fundamental gegen
1 T stehe für terminologischen Systemtyp, Mi für eine bestimmte Organisationsform resp. einen bestimm-
ten Satz von Regeln. Die analytischen Prozeduren liefern nun (vorläufig jedenfalls) die Implikation: Mi —»
T. Sollten sämtliche Organisationsformen bzw. Regelsätze bekannt sein, die den Systemtyp T implizieren,
könnten diese Organisationsformen bzw. Regelsätze zu einer Klasse MM zusammengefaßt werden. Damit
wäre die Äquivalenzbeziehung MM T gerechtfertigt. Ihr Informationsgehalt ist deswegen schwach, weil
die Aussage nur Auskunft darüber gibt, daß, wenn T in einer Kultur vorliegt, irgendein Regelsatz, irgend-
eine Organisationsform aus MM ebenfalls vorliegen wird, es aber offenbleibt, welche der möglichen Alter-
nativen zu erwarten ist.
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
47
ihre Widerlegung immunisiert - und damit von unbestimmbarem Erkenntnisstatus -
solange sie sich nicht empirisch absichern lassen. Es ist also dringend geboten, auch
hier nach einer kognitiven Prozedur zu suchen.
Nun könnte man versuchen, den verwendeten Verwandtschaftsbegriff auch direkt
kognitiv-empirisch zu fassen. Schneider ist sogar der Auffassung, nur so könne man
die Frage grundsätzlich klären. Er schlägt vor, in möglichst vielen Kulturen das ge-
samte Bedeutungsspektrum der verwandtschaftlichen Terminologie zu ermitteln
(1986: 235). Damit stellt er der Verwandtschaftsethnologie aber eine offenkundig un-
lösbare Aufgabe. Es ist ein hoffnungsloses Ziel, alles wissen zu wollen, wenn man
nicht weiß, was ,alles' heißt, noch wie,alles' zu erheben ist. Ein bescheideneres, durch-
aus realisierbares und zweckdienliches Ziel wäre, empirisch zu ermitteln, ob über-
haupt in der Untersuchungskultur und dann unter welchen Umständen ein genealogi-
scher Verwandtschaftsbegriff verwendet wird. Eine solche Prozedur setzt sorgfältige
Erwägungen über Zahl und Art der notwendigen Informanten voraus. Sie müßte auch
fordern, daß der Kontext genau beschrieben wird, in dem die Informanten ihre Aus-
künfte geben. Eine analoge Prozedur ließe sich für die Position der sozialen Kategorie
entwickeln. Gedient wäre beiden Positionen mit beiden Prozeduren.
Die dritte Prozedurart, die Dynamik-Prozedur, stellt den denkbar härtesten Test
dar, und würde die klarste Antwort auf die Frage nach dem Verwandtschaftsbegriff
geben. Aber sie ist auch die aufwendigste und schwierigste. Sie erkennt in den Ver-
wandtschaftssystemen dynamische Gebilde, die sich mit der Zeit ändern, dabei von
bestimmten Kräften geformt werden und selbst wiederum formend wirken. Das wird
von keiner Richtung bestritten. Wer nun zeigen kann, daß sein Verwandtschaftsbe-
griff bei der Erklärung der Dynamik besseres leistet als die anderen, hätte die Argu-
mente auf seiner Seite.
Die Schwierigkeiten dieser Prozedurart seien am Beispiel der sogenannten dravidi-
schen Terminologien demonstriert. Diesen Terminologietyp führen die Vertreter der
Sozialen-Kategorie-Positon auf die Struktur einer symmetrischen Allianz (direkter
Austausch) zurück. Die Struktur ist eine Abstraktion, die verschiedene Repräsentatio-
nen auf der Ebene der sozialen Organisation hat, so (bilaterale) Kreuzbasenheirat und
duale Organisationsformen wie Moitiés, 2-Sektionen-Systeme.
Der Dissens beginnt schon auf der Ebene der analytischen Prozeduren. Das Pro-
blem betrifft die Frage, wie bei dualer Organisationsform Männer und Frauen ihren
gemeinsamen Nachwuchs nennen bzw. klassifizieren. Scheffler meint, sie sollten un-
terschiedliche Bezeichnungen verwenden, täten es aber nicht (1971: 233). Die Gegen-
position argumentiert, die Inkonsistenz sei keineswegs notwendig (Kaplan 1984: 151,
n- 2; Hornborg 1988: 272), und außerdem werde der Geschlechtsunterschied doch
mitunter berücksichtigt (Hornborg 1988: 272).
Darüberhinaus kann man offenkundig direkt studieren, ob die Kulturen mit
Kreuzbasenheirat (resp. dualer Organisation) auch jeweils eine dravidische Termino-
logie aufweisen. Wie sich zeigte, gibt es keinen Zusammenhang dieser Art (Scheffler
1971). Trotzdem gilt manchen diese Zusammenhangsbehauptung nicht als widerlegt
Ì Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
/vi- .^V- c^J
4? v" (Tr^mrfann 1981: 161). Und es gibt auch in der Tat ein schwerwiegendes Argument,
^ Beweiskraft dieses interkulturellen Vergleichs unterminiert: Das Argument
^ ■■ ^cier Ungleichzeitigkeit.
Wenn Terminologien sich langsamer wandeln sollten als die dazugehörigen Hei-
ratsregeln, dann könnten die widerlegenden Fälle, die der interkulturelle Vergleich zu-
tage gefördert hat, eben solche hinter den veränderten Verhältnissen herhinkende Ter-
minologien darstellen, d. h. Terminologien, die sich noch nicht an die neuen Verhält-
nisse angepaßt haben (cf. Trautmann ibid. loc.).
Das Argument der Ungleichzeitigkeit kann gewiß als billiges Immunisierungsma-
növer gegen jede Widerlegung eingesetzt werden. Aber es weist auf Denkmögliches
hin, und prinzipiell ist das Argument auch empirisch zugänglich.
Es gibt Kulturen mit tief in die Vergangenheit reichenden schriftlichen Quellen,
die Veränderung im Verwandtschaftssystem erlebt und aufgezeichnet haben. Aber
hier stößt der Ethnologe in der Regel an die Grenzen seiner Fachkompetenz. Ohne
Mitwirkung von Historikern, Philologen und Sprachwissenschaftlern wird hier selten
etwas auszurichten sein. Das schafft Schwierigkeiten, aber sie sind offensichtlich nicht
unüberwindlich.
Wo es an historischen Daten mangelt, steht darüber hinaus die Möglichkeit offen,
Querschnittsdaten diachron zu deuten. Dabei werden Kulturen, die ungefähr gleich-
zeitig untersucht wurden, in der Analyse so angeordnet, als ob sie die Entwicklungsse-
quenz einer einzelnen Kultur darstellten (Hornborgs Versuch 1988: 29f., 42). Das
Prinzip kann durchaus wieder mit der Methode des interkulturellen Vergleichs, aber
auch mit dem Regionalvergleich (Schweizer 89: 41 Iff.) realisiert werden. Heuristisch
scheint dabei der Regionalvergleich2 ertragreicher zu sein; die härteren Prüfbedingun-
gen bietet der interkulturelle Vergleich.
5 Deszendenz
Von den drei traditionellen Bereichen der Verwandtschaftsethnologie haben wir bis-
lang den Bereich der Deszendenz noch nicht angesprochen. Welcher Verwandt-
schaftsbegriff wird in diesem Bereich angewendet? Wir gehen im folgenden von dem
zentralen Begriff dieses Bereichs, von den Deszendensgruppen aus. Wir verwenden
ihn aber ohne Rückgriff auf die Funktionsweisen wie korporativ oder komplementär
opponierend, die man zeitweilig definitorisch an den Deszendenzgruppenbegriff ge-
koppelt hat. Lange Zeit ist diesem Konzept der genealogische Verwandtschaftsbegriff
zugrunde gelegt worden. Danach wäre eine Deszendenzgruppe eine Gruppe, deren
Mitgliedschaft sich durch eine ununterbrochene Kette von (kulturell definierten) El-
tern-Kind-Beziehungen bestimmt wird, die von einem gemeinsamen Vorfahren, wel-
chen Geschlechts auch immer, ausgeht.
2 Von diesem Typ ist die Studie von Hornborg.
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
49
Mit diesem Begriff schien man bei der Beschreibung von Kulturen gut zu fahren,
bis die Verwandtschaftsethnologen begannen, die tatsächliche Mitgliedschaft in Des-
zendenzgruppen zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, daß ein größerer Teil der
Mitglieder keine regelkonforme Abstammung vom Gründer der Gruppe aufwiesen
(Langness 1964: 166, McArthur 1967: 284).
Hinzu kamen Aussagen über das Rekrutierungsprinzip aus den Untersuchungs-
kulturen selbst. So hat J. A. Barnes (1967: 40) die Aufmerksamkeit auf die Aussage der
Mae-Enga über männliche Clanmitglieder, die nicht in väterlicher Linie vom Clan-
gründer abstammten, gelenkt. Nach Meggitt (1965: 32) bestehen die Mae-Enga dar-
auf, daß zumindest ein Teil dieser genealogischen „Irrläufer" reguläre Clanmitglieder
seien. Sie argumentieren: Es seien Agnaten, weil sie ihr Land rechtmäßig von ihrem
Vater ererbt hätten.3
Eine gesicherte Basis für die Deutung der Textstelle (siehe Fußnote 3) gibt es nicht.
Im Kontext der zitierten Stelle findet man nur vage und sehr allgemeine Auskünfte
über den Gesprächszusammenhang, in dem die Aussage entstanden ist; nicht einmal
wer die Aussage gemacht hat, wie oft Meggitt auf derartige Aussagen gestoßen ist, ist
£u erfahren, noch wie die emische Konzeption von „Agnat" lautet.
Eine Aussage, so schwach in einen Gesprächszusammenhang eingebunden wie
diese, lädt zu unterschiedlichen Deutungen ein. Und die gibt es denn auch. Für Meg-
gitt zeigt die Aussage, daß die Mae-Enga ihre "land rights in terms of agnation" formu-
lieren (32). Barnes hingegen meint, die Stelle drücke genau das Gegenteil aus. Für ihn
besagt die Aussage, daß nicht Deszendenz die Mitgliedschaft bestimmt, sondern das
Recht auf Land (Barnes 1967: 40).
Beide Autoren sind der Ansicht, die Aussage gebe die allgemeine Rekrutierungsre-
gel der Mae-Enga wieder. Genauso gut könnte hier aber eine Ausnahmeregel formu-
liert worden sein. Dann würde sie nur mitteilen, unter welchen Bedingungen ein
^icht-Agnat in einen Agnaten umgewandelt werden kann. Es könnte sich hier damit
erneut um ein Verfahren handeln, mit dem ein aufgetretener Gegensatz von Sollen und
Sein wieder aus der Welt geschafft wird.
Nach Barnes' Deutung hingegen müßte es entweder Deszendenzgruppen geben,
°hne ein deszendenzgemäßes Rekrutierungsprinzip, oder aber man müßte den Mae-
knga überhaupt Deszendenzgruppen absprechen (vgl. dazu auch Scheffler 1986a:
^43). Ersteres ersetzt nur eine Schwierigkeit durch die andere. Gegen letzteres spricht
eine ganze Reihe von Indizien, die durchaus ein genealogisch gefaßtes Deszendenz-
Pnnzip bei den Mae-Enga nahelegen. So bezeichnen die Mae-Enga die Organisations-
einheit ,Clan' mit dem Ausdruck ,Linie von Männern, die von einem Penis (dem des
This conversion is rationalised in terms of the typical case of the quasi-agnate whose father's father joined
c clan parish as an affine. He inherits clan land, or more accurately patrilineage land, from his father, the
'lepliew of the patrilineage, who in turn inherited cultivation rights from a mother's brother or mother's
Tl r. The quasi-agnate and true agnates of this patrilineage now share patrimonial land with equal validity.
erefore, according to the Mae, the quasi-agnate must be an agnate. This reasoning indicates how expli-
Clte'y they ph rase land rights in terms of agnation" (Meggitt 1965:32).
50
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Clangründers) gezeugt wurden' (Meggitt 1965: 8). Die aufgezeichneten Genealogien
zeigen, daß regelwidrige Mitgliedschaft mit zunehmendem genealogischen Abstand
von der Gegenwart in regelkonforme umgewandelt werden.
Der Fall ist nicht entscheidbar. Erneut fehlen klare Belege. Wie sich daran zeigt,
werden im Deszendenzgruppenbereich ebenfalls präzise kognitiv-empirische Proze-
duren benötigt, sorgt auch in diesem Bereich das Fehlen solcher Prozeduren und da-
mit auch ausreichender Daten für die Unentscheidbarkeit der Streitfragen.
Darüberhinaus scheinen auch analytische Prozeduren im Bereich der Deszendenz
konzipierbar. Mit solchen Prozeduren sollte sich prüfen lassen, ob es Ableitungsver-
hältnisse zwischen Deszendenzprinzip und den Abweichungen vom Deszendenz-
prinzip gibt. Auf Ansätze zu einer derartigen Prozedur hat Ganzer (1988) in seiner
Studie über Barths Basseri Ethnographie hingewiesen. Barth hat versucht, die Deszen-
denzgruppen der Basseri als Nebenprodukt der nutzenorientierten Handlungen indi-
vidueller Akteure darzustellen. Wie Ganzer zeigt, ist Barths Versuch mißlungen, wi-
derspricht Barth seiner Deutung mit den eigenen Daten. Ganzers klare Analyse würde
einen guten Ausgangspunkt abgeben für die datennahe Untersuchung der Frage, ob
Barths Idee grundsätzlich nicht durchführbar ist. Die analytischen Prozeduren müs-
sen keineswegs notwendig im Bereich der Deszendenzgruppen zu dem Dilemma füh-
ren, dem wir im Bereich der Terminologien begegnet sind.
Selbstverständlich sind auch Deszendenzgruppen dynamische Gebilde, und es
sind auch in dieser Hinsicht wieder entsprechende Prozeduren denkbar. Erneut be-
gegnen wir dem Problem der Ungleichzeitigkeit. So ist unbestritten der Krieg eine der
Kräfte, die gestaltend auf die Ausformung der Deszendenzgruppen wirkt. Die ethno-
graphischen Untersuchungen fanden aber meist nach der Pazifizierung statt. Schriftli-
che Quellen, die über längere Zeiträume hinweg die Entwicklung von Deszendenz-
gruppen dokumentieren, sind weitaus seltener als das bei Verwandtschaftsterminolo-
gien der Fall ist. Als Ersatz bietet sich hier das Instrument der Computersimulation an,
mit dem sich langfristige Prozesse quasi-experimentell untersuchen lassen.
6 Die generelle Nullhypothese
Die generelle Nullhypothese verficht seit langem mit Verve und immer wieder D.
Schneider. In seinem Buch " A critique of kinship" findet er für diese Nullhyothese die
Formulierung, Verwandtschaft ("kinship") sei ein "artifact of the anthropologists'
analytic apparatus" (Schneider 1984: VII).
Das Verfahren, mit dem er seine Uberzeugung untermauert, besteht im wesentli-
chen darin, bestimmte definierende Merkmale des genealogischen Verwandtschafts-
begriffs herauszugreifen und zu zeigen, daß dieses Merkmal auf einer der Yap-Inseln,
deren Kultur er selbst untersucht hat, nicht greift. Die wissenschaftshistorischen Ex-
kurse des Buches sind im anstehenden Zusammenhang argumentativ irrelevant.
Zwei Beispiele dazu. Im ersten greift Schneider das Merkmal der Unauflöslichkeit
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
51
der Verwandtschaftsbeziehung auf und attackiert es. Es geht um die Vater-Sohn-Be-
ziehung auf Yap. In „konventioneller" Weise würde man diese Beziehung so beschrei-
ben. Der Vater besitzt das Land. Der Sohn hat dem Vater gehorsam zu sein; er ist für
die Bearbeitung des Landes zuständig, hat den Vater im Alter zu versorgen und erbt
schließlich das Land. Nach Schneider ist diese Beschreibung weitgehend unkorrekt.
Die Vater-Sohn-Beziehung steht und fällt damit, daß der Sohn die Pflichten gegenüber
seinem Vater erfüllt. Kommt der Sohn seinen Pflichten nicht nach, dann kann der Va-
ter dem Sohn alle Ansprüche auf das Land aberkennen. Die Vater-Sohn-Beziehung
wird beendet. Auf Yap soll das mit der Redewendung ausgedrückt werden: Der Sohn
wird „weggeworfen" ("thrown away"). An die Stelle des weggeworfenen Sohnes tritt
ein anderer, der nun Sohn genannt wird (Schneider 1984: 73).
Wie grundsätzlich anders auf Yap das Konzept Sohn gefaßt wird, geht nach
Schneider auch aus folgendem hervor. Wenn der Vater alt und gebrechlich geworden
ist und auf die Pflege des Sohnes angewiesen ist, dann wird der alte Mann mit dem Yap
Wort für Sohn bezeichnet. Nach dem genealogischen Verwandtschaftsbegriff sind
Verwandtschaftsbeziehungen unaufhebbar. Auf Yap hingegen, können sie offensicht-
lich aufgehoben, beendet werden. Die Vater-Sohn-Beziehung beruht nach dem genea-
logischen Verwandtschaftsbegriff auf dem Sein, es ist eine Beziehung, die völlig unab-
hängig davon ist, wie Vater und Sohn miteinander umgehen. Anders auf Yap. Wie
beide miteinander umgehen, das Tun bestimmt die Beziehung (Schneider 1984: 72).
Man könnte dazu einwenden, es handle sich hier nur um ein Beschreibungspro-
blem. Dabei heben wir aber die definierenden Merkmale des genealogischen Ver-
wandtschaftsbegriffs auf. Wozu ist ein Verwandtschaftsbegriff gut, der bei der Be-
schreibung fremder Verhältnisse demontiert werden muß. Auf Yap jedenfalls fehlt der
Gegenstand zum Begriff.
Das ist Schneiders These. Aber wie steht es mit ihrer Begründung? Auch hier
taucht die Prozedurfrage wieder auf. Daß ein Vater seinen Sohn „wegwirft", d. h.
nicht mehr zu den Verwandten rechnet, ist für die Verwandtschaftsethnologie nicht
neu. Diese Erscheinung kommt in zahlreichen historisch unverbundenen Kulturen
vor, und zwar ohne daß man deswegen Anlaß hätte, zugleich auch die genealogische
Basis des Verwandtschaftsbegriffs der betreffenden Kultur in Frage zu stellen (Rhein-
land: Fenner 1984: 44; China: Anonymus 1975: 297; Mahria Nord-Sudan: Feldfor-
schung des Autors). Wesentlich ist, wie häufig sie vorkommt, wie sie von der Kultur
aufgenommen wird. Welche Daten, wie erhoben, liegen Schneiders Aussage zu-
grunde? Diese Fragen bleiben unbeantwortet.
Im zweiten Beispiel geht es um die genealogische Basis des Deszendenzgruppen-
begriffs. In ,konventioneller' Beschreibung dargestellt, gibt es auf der Yap-Insel patrili-
neare Abstammungsgruppen. Jede Gruppe besitzt Land, auf dem sie wohnt und das
sie bebaut. Diese Abstammungsgruppen tragen die Bezeichnung „Tabinau". Diese
Darstellung ist nach Schneider (1984: 11) wiederum grundlegend falsch, denn Tabinau
darf keineswegs mit Abstammungsgruppe gleichgesetzt werden. Eines der Argu-
niente, die Schneider gegen die Gleichsetzung anführt, ist dies: Auf der Insel werden
52
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
zur Tabinau auch Frauen gerechnet, die in die betreffende Tabinau eingeheiratet ha-
ben, die vor der Heirat also noch nicht zur Tabinau gehört haben. Nun muß man zuge-
ben, daß man in einer Abstammungsgruppe per definitionem nicht durch Heirat Mit-
glied werden kann. Zugleich könnte man aber auch einwenden, Schneiders Argument
sei etwas spitzfindig. Denn man kann diesen Unterschied ohne weiteres durch ent-
sprechende Formulierungen deutlich machen. Z. B. so wir wir es eben getan haben.
Damit will sich Schneider nicht zufrieden geben. Er argumentiert: Was auf der Yap-
Insel als Einheit gesehen wird, zerhacken wir mit dieser Beschreibung in zwei Einhei-
ten. Wir stecken also eine fremde Kultur in die Zwangsjacke unserer vorgefertigten
Kategorien (Schneider 1984: 7Of.).
Auch hier fehlt jeder Hinweis, wie Schneider zu seinen Daten gekommen ist. Und
er weckt zudem Zweifel an seinem Argument; denn an anderer Stelle sagt er, eingehei-
ratete Frauen verlören im Gegensatz zu ausgeheirateten Töchtern und Schwestern
"immeditately and automatically" ihre Tabinau-Mitgliedschaft, wenn sie weggingen
("leave") (Schneider 1984: 11). Danach wäre die Mitgliedschaft von eingeheirateten
Frauen wohl doch nicht von genau der gleichen Art wie die Mitgliedschaft von gebür-
tigen und das wären genealogische Tabinau-Mitglieder.
So vorzugehen, wie Schneider es tut, hat dementsprechend nur den Wert, die Null-
hypothese zu illustrieren. Sie bestätigen kann man damit offenbar nicht. Aber immer-
hin erinnert Schneider an die Denkmöglichkeit der generellen Nullhypothese.
7 Resümee
Die Ausgangsfrage lautete: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
Eine konsensfähige Antwort gibt es auf die Frage vorläufig offenbar nicht. Mehr als
ein halbes Jahrhundert Streit hat an diesem Resultat nichts ändern können. Wie un-
fruchtbar der Streit geblieben ist, zeigt auch deutlich die Forschungspraxis in der Ver-
wandtschaftsethnologie, wo nach wie vor selbst fervente Gegner des genealogischen
Verwandtschaftsbegriffs nicht vollständig auf diesen Begriff verzichten können. Das
gilt übrigens auch für Schneider. Zum Test lese man in seiner „Critique" (1984) die
nicht-konventionelle Beschreibung von Yap (Part I, 3) vor der ,konventionellen'
(Part I, 2).
Wie ist dieses Resultat zu erklären? Wir haben folgende Gründe dargelegt: Man
hat bislang in der Debatte zu global angesetzt, vielleicht, weil in der Ethnologie Ideen,
die „großen" Fragen, die „großen" Entwürfe zu hoch bewertet werden und auf die
Gewinnung tragfähiger Resultate zu wenig Wert gelegt wird. Jedenfalls sind bislang
deutlich die Teilfragen vernachlässigt worden, aus denen sich die Ausgangsfrage zu-
sammensetzt. Der zentralen These dieses Artikels zufolge setzt aber die Beantwortung
der Teilfragen explizit und präzise beschriebene Prozeduren voraus, denen die Be-
schaffung der „Beweismittel" zu gehorchen hat. Der Datenmangel, auf den wir oben
mehrfach gestoßen sind, ist mitverursacht vom Fehlen solcher Prozeduren.
Hartmut Lang: Was ist der Gegenstand der Verwandtschaftsethnologie?
53
Insgesamt haben wir drei Gruppen von Prozeduren angesprochen. Die analyti-
schen Prozeduren werden im Bereich der Verwandtschaftsterminologien bevorzugt
angewandt. Dort mindern aber zwei Schwächen den Wert ihres Beitrags zur Beant-
wortung der Ausgangsfrage: die Asymmetrie des Erkenntnisstatus ihrer Komponen-
ten und die Implikationsbeziehung zwischen den Komponenten. Diese Schwächen
scheinen sich, zumindest vorläufig, im Rahmen dieses Prozedurtyps nicht beheben zu
lassen.
Mit den kognitiv-empirischen Prozeduren könnte hier voraussichtlich ein Aus-
gleich geschaffen werden. Darüber hinaus könnte und sollte dieser Prozedurtyp aber
auch direkt zur Beantwortung der Ausgangsfrage eingesetzt werden. Bei vielen von
der Verwandtschaftsethnologie bearbeiteten Kulturen wird diese Prozedurart aller-
dings zu spät kommen, weil sie unwiederbringlich verschwunden sind.
Von allen drei Arten die höchsten Ansprüche stellen die Dynamik-Prozeduren,
auch deswegen, weil sie teilweise auf die Mitwirkung anderer als ethnologischer Dis-
ziplinen angewiesen sind. Der Aufwand dürfte sich lohnen; denn von den Dynamik-
Prozeduren ist die überzeugendste Antwort auf die Ausgangsfrage zu erwarten.
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Prozeßanalyse in der Ethnologie:
Eine Exploration von Verfahren und Problemen
Thomas Schweizer
Völkerkundliches Institut, Universität Tübingen, Schloß, D-7400 Tübingen, Deutschland
Abstract.This paper assesses procedures and problems of process analysis in cultural anthropology. In the
outset a discrepancy between methodological statements on the value of process analysis and the lack of
methodological scrutiny on actual procedures as well as empirical studies of processes is noted. As Dörner's
experimental studies (1989) demonstrate, it is not enough to rely on common sense as there exist human co-
gnitive deficiencies associated with the dissection of pattern in complex systems and across time. Having
delineated the main dimensions of process analysis (length of time, units of observation, type of data) the
following procedures are discussed: event analysis, restudies, biographies (including histories of social col-
lectives), regional as well as cross - cultural process analysis and lastly, simulation studies of change. These
procedures are each shown to provide unique insight into change. Their methodological problems are not
unsurmountable. In particular regional - cross-cultural and simulation studies of change entail the potential
to assess systematically the causes, patterns and consequences of change in human cultures. Thus, in addi-
tion to descriptive studies of "continuity and change", cultural anthropology should embark on empirical
explanations of change validated by help of these procedures of process analysis.
Einleitung: Die Kluft zwischen Wünschbarkeit und Realisierbarkeit ethnologi-
scher Prozeßanalysen
In der Ethnologie herrscht große Einigkeit darüber, daß Prozeßanalysen statischen
Strukturanalysen in ihrem Erkenntniswert überlegen sind. Während Querschnittsstu-
dien lediglich über den Zustand eines sozialen Systems zu einem Zeitpunkt informie-
ren, erfassen Längsschnittuntersuchungen zeitliche Verläufe und damit den dynami-
schen Aspekt der erforschten Realität. Da die Prozeßanalyse die soziale Wirklichkeit
als eine Folge von Zuständen abbildet, enthält sie demgemäß auch Aussagen über die
einzelnen Zustände und ist darum informativer als die bloße Strukturanalyse des Sy-
stemszustands zu einem Zeitpunkt, die die Entfaltung des Systems im Zeitablauf offen
läßt. Soweit der grundsätzliche Vorteil der Prozeßanalyse.1
Ich habe im vorstehenden Abschnitt das synchrone/diachrone Fachvokabular va-
riiert, werde aber im folgenden den Terminus „Prozeßanalyse" zur einheitlichen Be-
zeichnung aller Verfahren wählen, die soziale Phänomene in ihrem zeitlichen Ablauf
erforschen. Die Untersuchung eines Zeitpunkts nenne ich „Zustandsanalyse". In der
Tradition der britischen Social Anthropology wird die Zustandsanalyse mit der Struk-
turanalyse gleichgesetzt. Diese terminologische Gleichsetzung erscheint mir ungün-
stig, weil sie verwischt, daß in der Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften der
Hartmut Lang (Köln) und Joachim Görlich (Tübingen) danke ich für Kommentare.
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 55-74
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
56
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Terminus „Struktur" zur übergreifenden Bezeichnung des Beziehungsgeflechts zwi-
schen Einheiten eines Systems reserviert ist. Eine solche Strukturanalyse kann auch
dynamisch, also als Prozeßanalyse, betrieben werden. In dieser Forschungstradition
finden sich Hinweise und Vorbilder zur Konstruktion formaler Prozeßmodelle, die
die Prozeßanalyse präzisieren. Da ich hieran anknüpfen möchte, orientiere ich mich
an dieser weiterführenden Perspektive.
Daß das Prozeßdenken in der neueren Ethnologie gegenüber der Zustandsanalyse
an Bedeutung gewonnen hat, mögen - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die fol-
genden Belege aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern des Fachs illustrieren: In einem
einflußreichen Theorieüberblick gelangt Ortner (1984: 158f.) zum Schluß, daß neben
dem Interesse an Praxis - dem Umgang der Akteure mit vorgefundenen Symbolen und
Traditionen — die Zuwendung zur Geschichte das herausragende Thema der neueren
ethnologischen Theoriediskussion darstelle (S. 158): "Around this term [history] clu-
sters notions of time, process, duration, reproduction, change, development, evolu-
tion, transformation..." (vgl. Vincent 1986 sowie Cohn 1987 zur Konkretisierung
dieses Forschungstrends). In der Wirtschaftsethnologie dokumentiert das Interesse an
Entscheidungstheorien, aber auch an der Transformation vor-moderner Wirtschafts-
formen im kolonialen oder post-kolonialen Kontext eine Prozeßperspektive (Barlett
1980, Flart 1982, Maclachlan 1987). In der politischen Ethnologie findet sich eine Ab-
kehr von der statischen, strukturfunktionalistischen Institutionenanalyse hin zur syn-
chronen Untersuchung politischer Prozesse (Lewellen 1983: 11-12, Kap. 6). Die
Netzwerkanalyse problematisiert gleichfalls die starre, gruppengebundene Sichtweise
der älteren Sozialethnologie und richtet den Blick zusätzlich auf das schwach institu-
tionalisierte Handeln von Individuen, um auf diese Weise zu erkennen, wie sich so-
ziale Regeln im Zeitablauf verändern und herausbilden (Schweizer 1989a: 5-7, 12-3;
Görlich 1989). In Kulturwandelstudien versteht es sich von selbst, daß Prozesse zu be-
obachten sind (Moore 1986: 320ff., 1987). Hierbei interessiert vor allem das Wechsel-
spiel zwischen lokalen Verhältnissen und ihrem globalen Umfeld und den sich daraus
ergebenden Veränderungen. In der kognitiven und symbolischen Ethnologie geht es
unter dem Aspekt der Weitergabe und der Neuschaffung kulturellen Wissens (Doug-
herty 1985: 8), aber auch der Umsetzung des Wissens in Handlungssituationen ("per-
formance", s. Hutchins 1982) um implizite oder explizite Analysen kognitiver Pro-
zesse. Der Symbolethnologe Wagner (1981) stellt den prozessualen Aspekt der Erfin-
dung von Kultur ins Zentrum seiner Kulturtheorie.
Wer sich nun jenseits der Programmatik über die tatsächlichen Verfahren der Pro-
zeßanalyse und exemplarische Anwendungen dieser Methoden in der Ethnologie
informieren möchte, wird allerdings enttäuscht werden: Ganz im Gegensatz zur dia-
chronen Rhethorik des Fachs gibt es meines Wissens weder eine Systematik der ver-
schiedenen Verfahren und ihrer Probleme noch eine größere Zahl gelungener empiri-
scher Anwendungen des (mittel- oder längerfristigen) Prozeßdenkens. Offenbar ist
die von vielen akzeptierte Leitidee von der Vorteilhaftigkeit der Prozeßanalyse zwar
gut zu denken, aber empirisch schwierig umzusetzen. Das liegt zum Teil an fachspezi-
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
57
fischen Problemen der Datengewinnung: Feldforschungsuntersuchungen sind Zu-
standsanalysen par excellence. Es ist schwierig, die detaillierten Befunde aus dem eth-
nographischen Präsens mit historischen Daten so zu verknüpfen, daß mittel- oder län-
gerfristige Prozeßanalysen über mehrere Zustände des Systems ermöglicht werden.
Im Regelfall wird die Feldforschungs-Mikrostudie lediglich in einen historischen und
regionalen Kontext eingebunden. Selten finden sich darüber hinaus historische Daten
solcher Dichte und Qualität, die die Rekonstruktion früherer Systemzustände auf der
Mikroebene erlauben würden.
Neben diesem fachspezifischen Grund gibt es noch eine andere, generelle Ursache
für die Schwierigkeiten mit der Prozeßanalyse. Der kognitive Psychologe Dörner
(1989) hat in einer Serie von Experimenten erhärtet, daß Menschen allgemein Pro-
bleme mit der gedanklichen Durchdringung komplexer Systeme haben und daß diese
Schwierigkeiten sich noch erhöhen, wenn es um die Erkenntnis von „Zeitgestalten"
geht (Dörner 1989: Kap. 6). Dörner kennzeichnet die Eigenschaften komplexer Sy-
steme wie folgt (1989: 58-9).
„Die Systeme bestanden jeweils aus sehr vielen Variablen, die „vernetzt" sind, da
sie sich untereinander mehr oder minder stark beeinflussen; dies macht ihre Kom-
plexität aus. Weiterhin sind die Systeme intransparent, zumindest teilweise; man
sieht nicht alles, was man sehen will. Und schließlich entwickeln sich die Systeme
von selber weiter; sie weisen Eigendynamik auf. Hinzu kommt, daß die Akteure
(also die Versuchspersonen) keine vollständigen Kenntnisse aller Systemeigen-
schaften besaßen, ja sogar darüber falsche Annahmen hatten. Komplexität, In-
transparenz, Dynamik, Vernetztheit und Unvollständigkeit oder Falschheit der
Kenntnisse über das jeweilige System: dies sind die allgemeinen Merkmale der
Handlungssituationen beim Umgang mit solchen Systemen."
Dörners Charakteristik bezieht sich auf komplexe Handlungssituationen, die er in sei-
ften Experimenten modellhaft nachbildet und durch Versuchspersonen in der Rolle
yon Planern beeinflussen läßt. Zweifelsfrei weisen viele Gegenstände, die die Ethnolo-
gie untersucht, die typischen Merkmale komplexer Systeme auf. Nicht von ungefähr
Modelliert Dörner in einigen Experimenten die lokale Situation in Entwicklungslän-
dern („Tanaland" als bekanntestes Beispiel, nämlich ein gedachtes Agrar- und Her-
denhaltungssystem in Ostafrika, s. Dörner 1989: Kap. 2). Der Ethnologie dürfte es
nicht schwerfallen, diese Systemmodelle durch die Hinzunahme weiterer Variablen
und Vernetzungen realitätsnaher und darum noch komplexer zu gestalten (einführend
2ur ethnologischen Systemanalyse s. Lang 1981,1988). Die „Planer" in Dörners Expe-
umenten hatten bereits im Umgang mit den einfacheren, dennoch hinreichend kom-
plexen Systemen Mühe, Fehlentwicklungen und Katastrophen abzuwenden. In der
ethnologischen Grundlagenforschung geht es „nur" um die gedankliche Durchdrin-
gung realer komplexer Systeme; in der angewandten Forschung (action anthropology,
Entwicklungshilfe, Sozialarbeit) würden zu den Erkenntnis- noch die speziellen Pla-
nungsschwierigkeiten hinzutreten (Dörner 1989: Kap. 7). Einige der im Umgang mit
komplexen Systemen entstehenden Probleme sind die folgenden: Handlungsziele
58
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
bleiben ungeklärt und widersprüchliche Zielanforderungen werden übersehen. Ne-
ben- und Fernwirkungen von Handlungen werden nicht antizipiert. Vernetzte Ge-
schehnisse werden auf eine „zentrale" Ursache reduziert, was einem isolierenden und
dadurch fehlerhaften Ursache-Wirkungs-Denken Vorschub leistet (Dörner 1989:
288-307). Im Zusammenhang mit der ohnehin schwierigen Erkenntnis von Zeitabläu-
fen nennt Dörner (Kap. 6) als typische Fehler: die Unterschätzung exponentieller
Wachstumsprozesse; die „Momentanextrapolation" (S. 160), hierbei „wird ein augen-
blicklich sinnfälliger Trend mehr oder minder linear und ,monoton', das heißt ohne
Richtungsänderung fortgeschrieben." „Die Festlegung auf linear - monotone Ent-
wicklungen erzeugt die Gefahr, daß Richtungs- und Geschwindigkeitsänderungen
von Entwicklungen nicht antizipiert werden. Eine weitere, oft beobachtbare Tendenz
bei den Prognosen ist die Zentralideetendenz... Sie besteht darin, daß ein Faktor zum
eigentlich bestimmenden gemacht und der Rest des Weltgeschehens auf ihn bezogen
wird." Auch tritt der Fehler auf, daß der momentane Zustand zur Leitlinie des Den-
kens und Handelns wird und darüber die Ablauf Charakteristik des Prozesses überse-
hen wird (S. 227f.), die dem Gesamtverlauf unterliegt.
Wer nun meint, die Ethnologie sei gegen diese Denkfehler immun, sei an die De-
batte über die Folgen der „grünen Revolution" in der 3. Welt erinnert. Es ging hier in
sozialwissenschaftlichen, auch ethnologischen Evaluationsstudien um die Einschät-
zung der Veränderungen, die in den 70er Jahren durch die Einführung von Hocher-
tragssorten, Kunstdünger und Pestiziden in Agrarwirtschaften der 3. Welt ausgelöst
wurden. Typischerweise wurden in diesen Studien Nah Wirkungen (Ungleichheit im
Zugang zu den neuen Inputs in der Frühphase dieser geplanten Veränderungen) von
Fernwirkungen (mittelfristiger Einkommenszuwachs bei allen Beteiligten) nicht un-
terschieden. Entsprechend unerwartet war für viele Beobachter das spätere Ergebnis.
Sie hatten eine Polarisierung der Landbevölkerung in reiche Großgrundbesitzer und
landlose Arme erwartet, doch statt dessen stellten sich vielerorts nach Anfangsschwie-
rigkeiten verbesserte Einkommens- und Beschäftigungsbedingungen auch für die land-
arme Bevölkerung heraus. Geblendet von den aktuellen Veränderungen übersah man
die Anknüpfung der momentanen Wandlungen an frühere kommerzielle Entwicklun-
gen und vergaß z. B. die demographische Entwicklung als Hintergrundfaktor. Anstatt
lokal differenzierte Prozeßmodelle zu entwickeln, erwarteten viele Forscher, daß die
„grüne Revolution" ungeachtet lokal unterschiedlicher Bedingungen überall zu dem-
selben Ergebnis führen würde, was gleichfalls nicht der Fall war (vgl. Pearse 1980 als
frühe Gesamtdarstellung; zur Exemplifizierung der Veränderungen im javanischen
Reisanbau Schweizer 1987,1989b, Manning 1988; Chambers 1984 vermittelt eine gute
Gesamteinschätzung der Fehler in der Debatte über die „grüne Revolution").
Wenn die Erkenntnis von Zeitverläufen noch schwieriger ist als ohnehin die Ana-
lyse komplexer Systeme, dann ist es um so wichtiger, sich über die Verfahren der Pro-
zeßanalyse und ihre spezifischen Probleme Klarheit zu verschaffen. Dies ist auch der
Lösungsweg, den Dörner (1989: Kap. 8) vorschlägt: nicht „neues Denken" tut not,
sondern Verfeinerung des gesunden Menschenverstands. Training der Denkfähigkeit
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
59
im Umgang mit komplexen Systemen und Fehlerkorrektur erhöhen nachweislich die
Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit (S. 295 ff.). In der Ethnologie gibt es zudem ne-
ben älteren, bewährten Verfahren methodische Neuansätze in der interkulturell ver-
gleichenden Prozeßanalyse, die für sich eine Besprechung lohnen. In dieser For-
schungsnotiz möchte ich daher einen Uberblick über verschiedene Verfahren der eth-
nologischen Prozeßanalyse bieten und einige ihrer Probleme verdeutlichen. Die Dar-
stellung der Verfahren ebenso wie der Probleme ist nicht erschöpfend, sondern exem-
plarisch gemeint. Auch gibt es wesentlich mehr empirische Beispiele als die hier zur Il-
lustration erwähnten. Mein Beitrag versteht sich folglich als Anstoß zu einer weiteren
Diskussion über die ethnologische Prozeßanalyse. Es ist meine Überzeugung, daß
Klarheit über die Verfahren und ihre Probleme eine notwendige Vorbedingung für
den Aufbau theoretisch und empirisch begründeter Erklärungen von Prozessen dar-
stellt. Dies ist das Fernziel, das die Vorarbeit an den Verfahren der Datensammlung
und -analyse letztlich begründet.
Dimensionen der Prozeßanalyse
In diesem Teil möchte ich eine Reihe von begrifflichen Dimensionen erörtern, die eine
genauere Fassung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Verfahren
erlauben.
Die Dimension 1) bezieht sich auf die Länge der Zeit, die in einer Prozeßanalyse
erfaßt wird. Aus erhebungspraktischen Gründen wähle ich die normale Verweildauer
im Feld (1 Jahr) als Zeitmaß. Kurze Prozesse wären einzelne Ereignisse von einer
Dauer deutlich unter einem Jahr, die man folglich in einer Feldforschung mehrfach
und abgeschlossen betrachten kann (sofern sie nicht seltene Ereignisse sind). Ein Pro-
zeß mittlerer Länge dauert etwa ein Jahr, wäre also mit einem Gesamtertrag einer
l eldforschung identisch. Längere Prozesse übersteigen die Verweildauer im Feld und
können nur als Koppelung mehrerer Feldforschungen oder durch genuin historische
^erfahren dokumentiert werden.
Die Dimension 2) behandelt die Art und Menge der sozialen Einheiten, die in einer
^rozeßanalyse untersucht werden: Handelt es sich um Individuen oder um soziale
Kollektive; um eine Untersuchungseinheit oder mehrere?
Die Dimension 3) spezifiziert die Datenart in einer Prozeßanalyse: sind die zu-
grundeliegenden Informationen qualitativ oder quantitativ (metrisch, Verbreitungs-
daten); repräsentieren sie die Selbstsicht der Akteure (emische Daten) oder die (eti-
Sche) Außensicht des (der) wissenschaftlichen Beobachters (Beobachterin)?
Die Dimension 4) beinhaltet die Menge der Beobachtungspunkte im Zeitablauf:
werden minimal zwei Zustände oder mehrere Zeitpunkte erfaßt? Diese Dimension ist
nicht identisch mit der dritten, weil die dritte nach der Datenart pro Zustand, nicht je-
doch wie hier nach der Häufigkeit der beobachteten Zustände fragt.
Die Dimension 5) bezieht sich auf die Auswertungsform einer Prozeßanalyse : wer-
60
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
den die Ausgangsdaten formal oder nicht-formal ausgewertet? Auch diese Dimension
ist von der dritten verschieden; denn qualitative Eingabeinformationen können eben-
falls in formalen Modellen abgebildet werden. Wie Hage und Harary (1983) zeigen,
bietet die mathematische Graphenanalyse hervorragende Möglichkeiten zur Reprä-
sentation qualitativer Zusammenhänge. Für die Prozeßanalyse sind vor allem die Aus-
sagen über Balance, Transformation und strukturelle Dualität nützlich (S. 44-53, ins-
gesamt Kap. 3 u. 6), weil sie qualitative Entwicklungstendenzen präzisieren.
Diese Kriterien spannen nun einen „Eigenschaftsraum" auf, in dem verschiedene
Verfahren der Prozeßanalyse durch ihre jeweils typische Kombination von Dimensio-
nen oder herausragende Bedeutung bestimmter Dimensionen unterscheidbar werden.
Ein Durchspielen aller möglichen Kombinationen ist allerdings überflüssig, weil nur
einige Kombinationen sinnvolle Verfahren ergeben. Statt dessen bespreche ich im fol-
genden Teil der Reihe nach die Hauptverfahren der Prozeßanalyse in der Ethnologie.
Verfahren der ethnologischen Prozeßanalyse und ihre Probleme
Das allgemeinste Verfahren der Prozeßanalyse in der Ethnologie ist die Rekonstruk-
tion der historischen Entwicklung gesamter Ethnien oder Regionen auf der Grundlage
oraler Quellen und historischer Dokumente. Dies ist das Hauptarbeitsfeld der histori-
schen Ethnologie und muß hier nicht eigens vorgestellt werden (einführend Haber-
land 1988, Schlee 1989 als Beispiel). Auch die Rekonstruktion historischer Ereignisse
auf der Basis schriftlicher Quellen oder mündlicher Uberlieferungen möchte ich nicht
speziell behandeln, weil deren Ergebnisse prinzipiell ebensolche Zustandsbeschrei-
bungen liefern wie insgesamt betrachtet eine Feldforschung (als thematisch speziali-
sierte etwa einjährige Fallstudie einer lokalen Gemeinschaft). Der bedeutsamste Un-
terschied liegt im erfaßten Zeitpunkt, nämlich im einen Fall der Bezug auf Ereignisse
der Vergangenheit, im andern Fall die Erfassung von Ereignissen aus der Gegenwart
oder, besser, dem ethnographischen Präsens: der Gegenwart der Feldforschung, die
zum Zeitpunkt der Ergebnispräsentation meist schon der Vergangenheit angehört.
Bezugspunkt meiner Darstellung ist in der Regel die Feldforschungsuntersuchung
und die Frage, wie eine solche Studie für Prozeßanalysen nutzbar gemacht werden
kann. Einige der methodologischen Überlegungen (z. B. zur Ereignisanalyse) sind je-
doch gleichfalls und unmittelbar auf historische Rekonstruktionen übertragbar.
1 Ereignisanalyse
Hier werden kürzere Prozesse („Ereignisse") untersucht, die in einem sozialen Kol-
lektiv auftreten. Das Ereignis kann an einzelnen Untersuchungspersonen verankert
sein, die Bezugspunkte der Analyse darstellen. Am Beispiel dieser Akteure und/oder
bestimmter Ereignisse werden typische Handlungsabläufe und Konfliktlinien im un-
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
61
tersuchten Kollektiv dargestellt. Neben den Hauptakteuren wird das soziale Umfeld
mit in die Betrachtung aufgenommen. Ereignisdaten sind in der Regel qualitativ, etisch
und werden nicht-formal als „Geschichten" ausgewertet. Zu unterscheiden ist bei den
Beobachtungspunkten, ob eine Abfolge von Ereignissen geschildert wird oder ob die
Ereignisse unverbunden sind. Wenn es sich um Ereignisketten handelt, liegt eine Pro-
zeßanalyse über eine mittlere oder längere Dauer vor. Dies ist der Fall der "extended
case method", die sich über einen gesamten Feldforschungszeitraum oder darüber
hinaus hinziehen kann. Im Fall unverbundener Ereignisse (in der Literatur auch „Si-
tuationsanalyse" genannt) werden ausschließlich kürzere Abläufe erfaßt. Beide Typen
von Ereignisanalysen gehen zurück auf die britische Netzwerkanalyse („Manchester-
Schule", Mitchell 1983, Schweizer 1989a: 6-7, 12; Rössler 1987 und Moore 1986 sind
neuere empirische Anwendungen).
Ein erstes Problem der Ereignisanalyse besteht darin, daß das Fallmaterial nur
dann aussagekräftig ist, wenn es in einen ausreichenden interpretativen Hintergrund
gestellt wird. Diese Auskünfte über die kulturellen Rahmenbedingungen gründen in
der Gesamterfahrung der Feldforschung oder historischen Analyse, sie ergeben sich
nicht allein (zumindest nicht für den Leser) aus der Schilderung der Ereignisse. Ereig-
nisse für sich enthalten so viele und diffuse Bezüge, daß hieraus im Extrem keine klare
Botschaft erwächst (Beispiel zu schwacher Integration zwischen Leitthema und Ereig-
nissen sind m. E. die Fallsammlungen von Berndt 1962 und Siegel 1986). Ein zweites
Problem betrifft die Auswahl der Ereignisse. Man könnte einmal den Repräsenta-
tionsgesichtspunkt beachten: solche Ereignisse werden dargestellt, die häufig vor-
kommen oder charakteristische Handlungsabläufe aufzeigen. Ergänzend zu dieser
Orientierung an der zentralen Tendenz der Ereignisse können explizit abweichende
Ereignisse in die Betrachtung aufgenommen werden, um auf diese Weise neben der
Hauptweise des Handelns auch Minderheitenverhalten und damit die Bandbreite des
Handelns im untersuchten Kollektiv zu veranschaulichen (diese Strategie unterliegt
den Fallbeispielen in Schweizer 1989b). Ein gänzlich anderer Auswahlgesichtspunkt
wird von Mitchell (1983) vertreten. Er nimmt zu Recht an, daß viele ethnographische
Geschichten bestimmte theoretische Zusammenhänge oder Generalisierungen veran-
schaulichen sollen. Er schlägt deswegen vor, die Fälle konterintuitiv auszuwählen.
Der Leser erwartet in einem solchen Extremfall das Gegenteil, wird daher von der be-
richteten Geschichte überrascht. Ein Beispiel: Nach Kenntnis der Literatur über die
»grüne Revolution" wird es niemanden verwundern, daß Bauern mit großem Landbe-
sitz kommerziell denken und handeln. Auch erwartet man, daß sich Kleinbauern sub-
sistenz- und gemeinschaftsorientiert verhalten. Aufgrund meiner Feldforschung in ei-
nem javanischen Dorf hatte ich jedoch den Eindruck gewonnen, daß das kommerzielle
Denken und Handeln alle Akteure im Bereich des Reisanbaus erfaßt hatte. Daher
schilderte ich in einem Aufsatz, der diesem Thema gewidmet ist, nicht das Beispiel ei-
nes kommerziellen Großbauernhaushalts, sondern einer sehr traditionellen Kleinbau-
ernfamilie, die jedoch im Reisanbau - im Gegensatz zu den Erwartungen der meisten
Leser(innen) - „kapitalistischer Logik" folgt (Schweizer 1989c: 293 ff.). Nicht die Re-
62
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
präsentativität, z. B. die Illustration einer zentralen Tendenz, sondern die Möglich-
keit, eine theoretische Pointe zu verdeutlichen, wird hier zum Auswahlprinzip erho-
ben. Ein drittes Auswahlprinzip schlägt Moore vor (1987: 730). Ihr geht es spezifisch
um die Aussagekraft von Ereignissen für künftige Veränderungen in der untersuchten
Kultur. Man solle die Ereignisse nach ihrer diagnostischen Rolle für Kulturwandel
auswählen (S. 730):
"First, of course, events that are in no sense staged for the sake of the anthropolo-
gist are to be preferred, together with local commentaries on them... And, second,
the kind of event that should be privileged is one that reveals ongoing contests and
conflicts and competitions and the efforts to prevent, suppress, or repress these. Of
course, the field-worker cannot always know in advance what event - contexts will
carry this burden of historical meaning. Yet there are certain kinds of incidents,
one might call them "diagnostic events", which have a strong likelihood of expo-
sing such information. Thus, for example, the transfer or acquisition of major
items of property can be considered a likely "diagnostic event". ...This kind of
event is a telling historical sign visible in fieldwork. Quickly one must try to find
out how often it is happening and what people are saying about it."
Die Auswahlproblematik stellt sich vor allem für unverbundene Ereignisse, von denen
mehrere während einer Feldforschung beobachtet und in den Feldnotizen festgehalten
wurden. Moores Auswahlkriterium verdeutlicht, daß man selbst einzelne Ereignisse
als Anzeichen von künftigen Veränderungen interpretieren kann (vgl. als Anwendung
dieser Technik Moore 1986). Sie verweist im Zitat auch auf die Möglichkeit, die Ereig-
nisdaten numerisch auszuwerten. Welches Auswahlprinzip man nun befolgt, hängt
von der vorherrschenden Fragestellung ab. Ist diese überwiegend deskriptiv, so wähle
man die Darstellung von zentralen Tendenzen und Abweichungen; konterintuitive
Ereignisse verdeutlichen theoretische Zusammenhänge; diagnostische Ereignisse
kündigen künftigen Wandel an. Je nach Umfang der Darstellung können auch meh-
rere Auswahlprinzipien befolgt werden.
Ereignisketten wird man während einer Feldphase seltener erfassen können und
daher im Regelfall über weniger Auswahlmöglichkeiten und Fälle verfügen. Da ver-
bundene Ereignisse jedoch unmittelbaren Aufschluß über Veränderungen im Zeitab-
lauf geben, ist es bedauerlich, daß dieses Verfahren der Ereignisanalyse in der heutigen
Ethnologie so selten genutzt wird (Moore 1986: Kap. 9 enthält die Chronik der Ereig-
nisse in einer lineage der Chagga und ist ein hervorragendes Beispiel für die Aussage-
kraft von Ereignisketten). Sollte dies mit dem Dörnerschen Befund über die Schwie-
rigkeit der Erkenntnis von Zeitgestalten zusammenhängen? In Nachbardisziplinen ist
jedenfalls das Interesse an der Ereignisanalyse neuerwacht (Laumann u. Knoke 1987:
18 ff., Kap. 9-11, Laumann 1989, Coleman 1989). Da diese Entwicklung die vielen Fä-
chern gemeinsamen Teilgebiete der Netzwerk- und Prozeßanalyse betrifft, könnte
dies auch in der Ethnologie die Rückbesinnung auf diese Forschungstechnik verstär-
ken (zur Ereignisanalyse in formalen Netzwerkstudien Schweizer 1989d).
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
63
2 Lebensgeschichten von Individuen oder Kollektiven
Befaßte sich die Ereignisanalyse mit kurzen Verläufen, so behandeln die hier unter
dem Begriff Lebensgeschichte (im weitesten Sinne, aber ohne organismische Analo-
gie) zusammengefaßten Verfahren Prozesse mittlerer oder langer Dauer. „Lebensge-
schichten" beschreiben den Entwicklungspfad einzelner Individuen oder Kollektive.
Je nach Art der Untersuchungseinheiten ergeben sich (Auto-)Biographien von Perso-
nen, Analysen von Haushaltsentwicklungen (Netting et al. 1984, v. a. Carter 1984),
Familiengeschichten (Lomnitz und Pérez-Lizaur 1987), Unternehmensgeschichten
(verschiedene Beiträge in Strickon et al. 1979, Greenfield und Strickon 1986) und Pro-
zeßanalysen anderer Organisationen (z. B. Verwandtschaftsgruppen, Parteien, Kir-
chen, Freundeskreise, dazu Werbner 1989). Erfahrungsgemäß gilt: je detaillierter die
berichteten Daten sind (Biographien), je größer und komplexer ein Kollektiv ist, desto
geringer ist die Zahl der untersuchten Einheiten (z. B. eine Person, eine Familie, ein
Unternehmen). Je komplexer der Gegenstand ist, desto eher werden sowohl qualita-
tive als auch quantitative Daten in der Lebensgeschichte verwendet. In Biographien
bemühen sich Ethnographen in der Regel auch um die Erfassung der Selbtsicht der un-
tersuchten Person. Bei den Lebensgeschichten der Kollektive sind Innenbeschreibun-
gen seltener, obwohl mit Familien- und Firmenchroniken häufig Selbstzeugnisse
greifbar sind, die die Außensicht ergänzen. Lebensgeschichten geben implizit oder ex-
plizit (z. B. Haushaltszyklen) Auskunft über mehrere Zeitpunkte im Beobachtungs-
Zeitraum. Formale Auswertungen der lebensgeschichtlichen Daten kommen gleich-
falls vor.
Vor allem die autobiographischen Berichte sind mit Problemen der Datenpräsen-
tation behaftet (Werner und Schopefle 1987:1,124-39). Diese sind nicht unüberwind-
bar, werden aber in vielen Anwendungen übersehen. Der Vorteil einer Autobiogra-
phie besteht idealiter darin, daß ein Akteur selbst die Zeiteinschnitte setzt und die ihm
(ihr) wichtig erscheinenden Themen anspricht. Werden jedoch Fragen als Stimuli vor-
gegeben, die Antworten umgestellt und unter Kapitelüberschriften des Ethnographen
neu zusammengefügt, so geht diese authentische Information verloren. Genau diesen
Mängeln unterliegt die weitverbreitete Autobiographie der !Kung-Frau Nisa durch
Shostak (1982). In jede m Fall sind Eingriffe und Umstellungen kenntlich zu machen
und die Informantenaussagen von den Ethnographenaussagen deutlich zu trennen,
^ie Lebensgeschichten von Kollektiven kommen noch so spärlich vor, daß mir die Su-
che nach Schwachstellen und Korrekturvorschlägen verfrüht erscheint (dies betrifft
nicht die synchronen Haushaltsanalysen für die Sanjek 1982 gewichtige Verbesse-
rungsvorschläge entworfen hat). Einen besonderen Wert gewinnen diese Prozeßana-
'ysen, wenn es gelingt, ökonomische, politische oder andere Ereignisse in der Gesamt-
gesellschaft aus der betrachteten Zeitspanne mit lebensgeschichtlichen Ereignissen zu
Verbinden (als Beispiele s. Lomnitz und Pérez-Lizaur 1987 über eine mexikanische
Unternehmerfamilie, auch Moore 1986: Kap. 10, die die „Lebensgeschichte" einer
^envandtschaftsorganisation mit regionalen und nationalen Ereignissen Kenias ver-
64
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
3 Wiederholungsstudien
Dieser Untersuchungstyp besteht aus dem Vergleich von mindestens zwei Zustands-
beschreibungen über dasselbe Kollektiv zu unterschiedlichen Beobachtungszeitpunk-
ten. Das Kollektiv ist meist die gesamte lokale Gemeinschaft, die zu einem früheren
Zeitpunkt den Gegenstand einer Feldforschung bildete und die nach einer längeren
Zeitspanne erneut untersucht wird. Dieser Vergleich soll explizit das Ausmaß kultu-
rellen Wandels feststellen. Die Daten können qualitativ oder quantitativ, mit einem
unterschiedlichen Gewicht emischer Daten erhoben und mit oder ohne formale Ver-
fahren ausgewertet werden (Foster et al. 1979 als Fallsammlung). Genügend bekannt
sind die spektakulären Fälle von Widersprüchen zwischen der Ursprungs- und der
Wiederholungsstudie (Tepoztlán, Samoa). Hinweisen möchte ich allerdings darauf,
daß dies nicht der übliche Fall zu sein braucht. Spätere Studien können ältere auch
grundsätzlich oder partiell bestätigen, Unvollständiges ergänzen und durch höhere
Differenziertheit das Vorwissen vertiefen. Dies scheint z. B. bei Weiners Wiederho-
lungsstudie der Trobriand-Inseln zum Vergleich zu Malinowskis erster Ethnographie
der Fall zu sein (zusammenfassend Weiner 1988: bes. Kap. 1).
Ein Problem bei Wiederholungsstudien ist die latent konservative Orientierung an
der Vorstudie. Die Wahrnehmung richtet sich zunächst auf die Themen, Aussagen
und Informanten von früher. Es wird festgestellt, welcher Wandel sich in diesem Be-
zugsrahmen ereignet hat. Völlig neue Phänomene und neue Akteure geraten u. U. zu
wenig in das Blickfeld. Deutlich wird dies bei quantitativ orientierten Wiederholungs-
studien: Epstein (1973) untersuchte nach einer Zeitspanne von 15 Jahren noch einmal
die von ihr intensiv erforschten beiden Dörfer in Südindien. Da sie unter Zeitdruck
stand, geriet sie in das Dilemma (a) die alten Informanten aus der vor 15 Jahren reprä-
sentativen Stichprobe aufzusuchen, was für die Untersuchung des Wandels vorteilhaft
war oder (b) eine neue Stichprobe zu ziehen, die zwar die Dorfsituation nach 15 Jahren
korrekt abbildete (was die frühere Stichprobe für die spätere Zeit nicht tat, weil sie jün-
gere Leute und Hinzugezogene untererfaßte), aber partiell die Vertrautheit mit den al-
ten Informanten geopfert hätte. Sie entschied sich mit leichter Korrektur für die nicht-
repräsentative Alternative (a) (1973: 23). Wie man in Wiederholungsstudien einerseits
Kontinuität der Stichprobe sichern und andererseits ein genügendes Maß an Reprä-
sentativität für die späteren Zeitpunkte erreichen kann, ist ein offenes, für die Praxis
von Wiederholungsstudien gewichtiges Auswahlproblem. In jedem Fall sollte Moores
oben zitierter Hinweis auf die explizite Suche nach Ereignissen, die modernen Wandel
indizieren und diagnostizieren, auch in Wiederholungsstudien beherzigt werden, um
dem Wahrnehmungs-Konservatismus gegenzuwirken.
Grundsätzlich ist es jedoch für die Analyse von Prozessen höchst aufschlußreich,
wenn die Ergebnisse aus rezenten Feldforschungen mit früheren Feldstudien, histori-
schen Berichten oder anderen sozioökonomischen Zustandsbeschreibungen vergli-
chen werden. Da heutzutage in fast allen Weltgegenden einige Mikrostudien vorlie-
gen, sollte man bei der Auswahl von Feldforschungslokalitäten dem Gesichtspunkt
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
65
der Anknüpfung an frühere Beschreibungen stärkeres Gewicht einräumen. Wenn die
Feldregion festliegt, ist es sicherlich - öfter als bis jetzt praktiziert wird - möglich, eine
schon früher untersuchte Gemeinschaft auszuwählen (als gelungenes Beispiel einer
solchen Anknüpfung s. Hüsken 1989).
In der Ökonomie werden Prozesse vielfach durch Pfeildiagramme repräsentiert,
worauf u. a. Boudon (1976) verweist (vgl. Davis 1985). Diese Darstellung und das zu-
grunde liegende formale Modell verdeutlichen die kausalen Abhängigkeiten zwischen
den betrachteten Variablen und die Entwicklung eines Systems im Zeitablauf. Das
Pfeildiagramm eignet sich besonders für die Wiedergabe von Wandlungsprozessen aus
Wiederholungsstudien (ist aber in ethnologischen Studien meines Wissens noch nicht
verwandt worden). In Abb. 1 habe ich ein solches Diagramm für einen aus der Ethno-
logie und anderen Sozialwissenschaften bekannten Zusammenhang erstellt.
Bei uns und auch in vielen Ländern der 3. Welt verändert die Schulbildung die Be-
rufstätigkeit: je höher die Schulbildung, desto eher werden nicht-agrarische Berufe er-
griffen. Dies ist ein Befund, der Entwicklungstendenzen im ländlichen Java entspricht
(vgl. Schweizer 1989b: 440 f. für das von mir untersuchte javanische Dorf). Nach einer
Auskunft von Hartmut Lang leitet auf analoge Weise der Schulbesuch der Kinder eine
Abkehr von der nomadischen Wirtschaftsweise und eine Zuwendung zu „seßhaften"
berufen bei der von ihm untersuchten Gemeinschaft von Hirtennomaden im Nord-
Sudan ein. Im Schema präsentiert die Variable S die (höhere) Schulbildung und B die
(nicht-agrarische) Berufstätigkeit in einer lokalen Gemeinschaft. Die Subskripte 0, 1,
2>... indizieren die unterschiedlichen Beobachtungszeitpunkte. Dies könnten
Schnitte von einer Generation zur nächsten oder auch kürzere Zeitspannen sein. Die
Kausalstruktur in diesem Schema besagt nun einmal, daß die Schulbildung zu einem
ersten Zeitpunkt die nicht-agrarische Berufstätigkeit zu einem zweiten Zeitpunkt be-
dingt (je mehr Bewohner die höhere Schule besuchen, desto mehr Bewohner ergreifen
später nicht-agrarische Berufe); weiter gilt, daß nicht-agrarische Berufstätigkeit zu ei-
nem ersten Zeitpunkt den höheren Schulbesuch zum späteren Zeitpunkt beeinflußt (je
mehr Leute außerhalb der Landwirtschaft arbeiten, desto mehr Leute schicken später
*L
'nre Kinder auf höhere Schulen). Die Abhängigkeit der Werte jeder Variablen zu ei-
nern späteren Zeitpunkt von ihren Werten zu einem früheren Zeitpunkt drückt die Be-
harrungskraft oder Trägheit kultureller Prozesse aus (wenn die Eltern die höhere
Schule besuchten, dann tendenziell auch die Kinder; wenn die Eltern außerhalb der
Landwirtschaft arbeiten, dann tendenziell auch die Kinder). Hat man quantitative Zu-
standsdaten erhoben, so kann man dieses Diagramm in ein formales Kausalmodell
übersetzen und präzise die Stärke der verschiedenen Effekte für sich und in ihrem Zu-
66
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
sammenspiel miteinander untersuchen. In einem solchen Modell lassen sich auch In-
stabilitäten erkennen und Strukturbrüche analytisch durchschaubar machen. Die Mo-
dellbildung ist nicht auf die Erfassung linearer Variablenzusammenhänge beschränkt.
In einer qualitativen Wiederholungsstudie liefert ein solches Diagramm zumindest
eine gute Denkhilfe zur Betrachtung der Verflechtung der Variablen im Zeitablauf.
Selbstverständlich kann die Betrachtung auf mehr als nur zwei Variablen ausgedehnt
werden (für das javanische Beispiel s. die Darlegung weiterer Vernetzungen in Schwei-
zer 1989b: 440ff.). An dieser Stelle wollte ich mit dem Hinweis auf diese formalen
Hilfsmittel lediglich andeuten, wie man die Prozeßbetrachtung in Wiederholungsstu-
dien vertiefen kann.
4 Regionale und interkulturell vergleichende Prozeßanalysen
Beide hier zusammengefaßten Typen der Prozeßanalyse verbindet ein gemeinsames
thematisches Interesse an den Wandlungen in lokalen Gemeinschaften der 3. Welt, die
im kolonialen oder postkolonialen Rahmen durch die marktwirtschaftliche Durch-
dringung dieser Einheiten ausgelöst wurden, (a) Regionale Prozeßanalysen untersu-
chen diese Veränderungen innerhalb eines begrenzten Areals und in zeitlicher Tiefe,
während (b) interkulturell vergleichende Prozeßanalysen eine weltweite Auswahl lo-
kaler Gemeinschaften in kürzerer Zeittiefe erforschen. Beide Verfahren wollen auf
diese Weise universelle, regional- oder zeittypische Tendenzen des Wandels auf der
lokalen Ebene erkennen.
Es gibt daneben eine zunehmende Zahl von Lokal- und Regionalstudien, die die
lokalen Zustände gleichfalls als (Teil-)Reaktion auf diese langfristigen Prozesse inner-
halb einer Region, des nationalen oder internationalen Rahmens deuten (z. B. Taussig
1980 und die bei Vincent 1986 aufgeführten Studien; in abgeschwächtem Sinn z. B.
auch Schweizer 1989b). Diese Fallstudie betrachte ich jedoch nicht als Prozeß-, son-
dern als Zustandsanalysen, wenn der im Schwerpunkt untersuchte lokale oder regio-
nale Ausschnitt nur zu einem Zeitpunkt erfaßt wird. Werden hingegen in einer solchen
Querschnittsstudie einzelne Ereignisse in ihrem Ablauf analysiert, so handelt es sich
um eine Analyse kurzer Prozesse (s. o. unter 1). Wenn weiter mehrere Zustände für
den Lokalfall dokumentiert werden, so fällt dies unter den prozeßanalytischen Typus
2 der Wiederholungsstudie. Werden auf der regionalen Ebene mehrere Zeitpunkte er-
faßt, so handelt es sich um eine regionale Prozeßanalyse. Die pure Koppelung einer hi-
storischen Kontextbetrachtung mit einer lokalen oder regionalen Zustandsbeschrei-
bung qualifiziert jedoch keine Prozeßanalyse, selbst wenn dieses Vorgehen der isolie-
renden Betrachtung eines lokalen oder regionalen Falls ohne Kontextbezug vorzuzie-
hen ist.
Die neueren regional und interkulturell vergleichenden Prozeßanalysen stehen
häufig im Zusammenhang mit Überlegungen zum Begriff des (modernen) Weltsystems
(Wallerstein 1973 als Schöpfer, Wolf 1982 als erste ethnologische Umsetzung der
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
67
Weltsystemanalyse). Unter „Weltsystem" ist ein Netz von Produktions- und Aus-
tauschbeziehungen zu verstehen, das ökonomisch autonom ist, d. h. „eine Welt für
sich" bildet (Braudel 1985: 74 ff.). In einem solchen Weltsystem sind verschiedene Zo-
nen nach dem Ausmaß des verfügbaren Kapitals, der Arbeitsorganisation, des techni-
schen Wissens, der Lebensstile und des politischen Einflusses unterscheidbar: das
Zentrum als hochentwickelte Kernregion, die Peripherie als Reservoir für Rohstoffe
und billige Arbeitskräfte, die Semiperipherie als vermittelnde Pufferregion. Das „mo-
derne Weltsystem" gründet auf marktwirtschaftlicher Organisation und hat globale
Ausdehnung erreicht. Es erzielt eine ökonomische, aber keine politische Integration
der beteiligten Einheiten (anders als die politisch integrierten „Weltreiche", die frühen
Weltsysteme). Das moderne Weltsystem bindet in den (semi-)peripheren Regionen
auch nicht-kapitalistische Produktionsformen als Zulieferer von Rohstoffen oder
Halbfertigprodukten, aber auch wegen billiger Arbeitskraft in den ökonomischen Ge-
samtzusammenhang ein. Regionale und interkulturell vergleichende Prozeßanalysen
in der Ethnologie studieren die Veränderungsprozesse, die sich auf der lokalen Ebene
aus dieser Einbeziehung ergeben haben. Sie fügen sich damit ein in die aktuelle Dis-
kussion über die Weltsystemtheorie: diese enthält neben heuristisch fruchtbaren auch
vage, empirisch ungeprüfte und falsche Aussagen, die es durch strenge Tests zu erken-
nen gilt. Auch fehlt die lokale Ebene in der ursprünglichen Formulierung der Theorie
bei Wallerstein (1973), die die Ethnologie idealerweise ergänzen kann (zum Diskus-
sionsstand Schmidt und Wittek 1989). Allerdings sind die regionale und die interkul-
turell vergleichende Prozeßanalyse nicht notwendigerweise mit der Weltsystemana-
lyse als theoretischem Hintergrund verbunden, sondern sie stellen generelle ethnolo-
gische Verfahren der Prozeßanalyse dar, die ich nun im einzelnen vorstelle.
4.1 Regionale Prozeßanalysen
Untersucht werden mehrere Untereinheiten, lokale Gemeinschaften oder andere In-
stitutionen innerhalb einer Region übr eine längere Zeitdauer. Die Daten sind in der
Regel gemischt qualitativ und quantitativ, ebenso die Auswertung teils formal, teils
nicht-formal. Die chronologische Zeit wird meist in historischen Sequenzen unterteilt
und innerhalb jeder Sequenz dann der Zustand der Untereinheiten beleuchtet. Smiths
Studie der Entwicklung West Guatemalas (1985) ist ein Beispiel dieses Verfahrens. Sie
kritisiert an der Weltsystemanalyse die Vernachlässigung lokaler Faktoren und
möchte nachweisen, wie erst im Zusammenspiel lokaler Bedingungen und globaler
Einwirkungen der heutige Zustand in der Region entstanden ist. Sie unterteilt die Zeit
von der Kolonisierung bis heute nach ökonomischen und politischen Kriterien und
betrachtet in diesem Rahmen die Interaktion zwischen verschiedenen indianischen
und Ladino-Teilgruppen. Nicht allein die „Erfordernisse der kapitalistischen Produk-
tionsweise", sondern auch lokale Faktoren - indianischer Widerstand und Arbeitsver-
weigerung - bestimmen die Entwicklung des Plantagenbaus und die ökonomische so-
68
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
wie politische Krise in der Gegenwart. Kellys Untersuchung (1985) der territorialen
Eroberungen der Nuer in Zentralafrika im 19. Jh. ist ebenfalls eine regionale Prozeß-
analyse, die allerdings nicht die Weltsystemtheorie zum Bezugspunkt hat, sondern in-
terne Faktoren der Nuer-Gesellschaft (Weidebedarf für die Herden zur Aufrechter-
haltung des Tauschkomplexes als Expansionsgrund) einer synchronen Betrachtung
unterzieht.
4.2 Interkulturell vergleichende Prozeßanalysen
Der interkulturelle Vergleich wurde bislang auf der Basis einer weltweiten Stichprobe
von Zustandsbeschreibungen durchgeführt. Die Einbettung der Fälle in ihr weiteres
Umfeld blieb außer Betracht: „ Previous cross-cultural researchers coded variables as
if the cultures were frozen in an autonomous ethnographic present" (White und
Moore 1988: 2). Einzelfallstudien hoben demgegenüber die Tatsache des kulturellen
Wandels und die gravierenden Einflüsse des weiteren Kontextes hervor. Wolfs histori-
scher Syntheseversuch (1982), eine Prozeßanalyse mehrerer Regionen, zeigte an die-
sen Beispielen auf, wie stark Regionen und lokale Gemeinschaften der 3. Welt von ko-
lonialen Rahmenbedingungen verändert wurden. Burton, White und ihre Mitarbeiter
Bradley, Brudner-White und Moore untersuchen nun als erste für eine interkulturell
vergleichende Stichprobe systematisch den Einfluß des modernen Weltsystems auf lo-
kale Gemeinschaften. Ihre noch nicht abgeschlossene interkulturell vergleichende
Prozeßanalyse umfaßt etwas mehr als 50 lokale Gemeinschaften des Standard Cross-
Cultural Sample. Mit neuen Kodes erheben White et al. einmal die ökonomischen und
politischen Verflechtungen dieser lokalen Gemeinschaften in die Außenwelt und so-
dann die Veränderungen, die in diesen Fällen in den letzten 100 Jahren vor dem jewei-
ligen ethnographischen Präsens durch den „Weltsystem-Kontakt" ausgelöst wurden.
Die mittlere Beobachtungszeit liegt im Standard Cross-Cultural Sample im Jahre
1860, also recht früh. Die Daten über die Weltsystem-Einbettung dieser Fälle wurden
vorhandenen Monographien und Regionalstudien entnommenen und quantitativ aus-
gewertet. Da diese Historisierung des interkulturellen Vergleichs sehr neuartig ist und
die aus diesem Projekt hervorgehenden Ergebnisse bisher noch nicht veröffentlicht
wurden, stelle ich hier kurz einige inhaltliche Ergebnisse vor (nach White et al. 1987,
1988, Bradley et al. 1988).
Deutlich wird aus den ersten Befunden einmal, daß die von der Ethnologie tradi-
tionell untersuchten Lokalgemeinschaften der 3. Welt bereits in diesem frühen Zeitho-
rizont stark in die Außenwelt eingebunden waren. Drei Kodes über die Außenwelt-
Einbettung habe ich in Tabelle 1 zusammengestellt.
Es zeigt sich, daß die überwiegende Mehrzahl der Fälle Handelskontakte aufweist;
die Hälfte der Fälle stellt Agrarprodukte für den Export her; über die Hälfte der Ge-
meinschaften sind durch Zwangsarbeit oder Lohnarbeit mit dem weiteren Wirt-
schaftssystem verbunden. Die Untersuchung belegt sodann das große Ausmaß der
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
69
Tabelle 1: Einbindung lokaler Gemeinschaften in ihren weiteren ökonomischen Kontext (Daten für eine
Teilmenge des Standard Cross - Cultural Sample entnommen aus White et al. 1987: "World - Systems and
Local Cultures", Irvine).
Kode Fallzahl
a) Handel und Märkte
keine Verbindung zur Weltwirtschaft 0
marginal zur Weltwirtschaft 1
Nicht-spezialisierte Handels „partner"
(Missionare, Siedler; nicht-professionelle Händler) vorhanden 4
kein Marktort, aber Besuch von Händlern, die Rohstoffe aufkaufen 23
Marktorte und Marktmechanismus für Rohstoffe institutionalisiert 21
Gruppe nimmt Zwischenposition in einem Handelsnetz ein oder sonst
Handel zentral wichtig 6
Gesamt 55
b) Verkauf von Agrarprodukten
Anbau fehlt oder unwichtig 17
Anbau nur für den Eigenbedarf 7
^erkauf von Subsistenzprodukten, jedoch unbedeutend 4
Verkauf von Subsistenzprodukten, bedeutend 6
Cash crop vorhanden, jedoch unbedeutend 5
Cash crop-Verkauf bedeutend 9
Teilpacht-Systeme (z. B. im Plantagenbau) 5
Gesamt 53
c) Außenbezogene Arbeitsverhältnisse
keine Lohnarbeit, keine Zwangsarbeit, keine Arbeitsmigration 13
Lohnarbeit vorhanden, doch mit Gütern bezahlt oder auf lokalen
Dienstleistungssektor beschränkt 8
Zwangsarbeit, lokal beschränkt (Sklaverei, Feudalsystem) 2
Zwangsarbeit, extern gesteuert 4
Sporadische Lohnarbeit (Geldlohn) 11
Regelmäßige Lohnarbeit vorhanden 12
Gesamt 50
von außen induzierten Wandlungen für die lokalen Lebensverhältnisse (Bradley et al.
1988): In 80% der Gemeinschaften kam es in den letzten 100 Jahren vor dem Beobach-
tungszeitraum zu ökonomischen Veränderungen. Ein deutliches Muster ist erkenn-
bar: Für die vor 1918 untersuchten Gesellschaften ist der tiefgreifende Wandel der Le-
bensweise, der Verlust der herkömmlichen Subsistenzbasis und die Veränderung der
Siedlungsweise typisch (Beispiel: Wildbeuter-, Hirtengesellschaften). Nach 1918 sind
agrarische Intensivierung und Expansion, Anbau neuer Agrarprodukte und der An-
stieg der Lohnarbeit die bestimmenden Wandlungstendenzen. Dieses Muster ist nach
Kegionen unterschiedlich ausgeprägt. Das Gesamtergebnis ist, daß es empirisch falsch
lst, die Lokalkulturen der 3. Welt selbst in früherer Zeit als statisch und unbeeinflußt
von der Außenwelt darzustellen. Dies ist für Einzelfälle bereits bekannt. Die interkul-
turell vergleichende Prozeßanalyse von White et al. hat nun den systematischen Be-
Weis dafür erbracht, daß Wandlungen und Außenprägungen den Normalzustand in
den von der Ethnologie traditionellerweise untersuchten Lokalkulturen bilden.
70
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Ein Grundproblem teilen die regionale und die interkulturell vergleichende Pro-
zeßanalyse mit allen Vergleichsstudien: Je mehr Fälle verglichen werden, desto beob-
achtungsferner und darum abstrakter werden die Analysen. Die unmittelbare ethno-
graphische Plausibilität und Evidenz, die eine Feldforschungsstudie aufweist, geht in
diesen Betrachtungen verloren. Im Falle einer Synthese wie der von Wolf (1982), die
Daten aus verschiedenen Zeiten und Räumen integriert, ist eine fundierte Kontrolle
der disparaten Interpretationen in der Regel nicht mehr von einzelnen Forschern(in-
nen), sondern nur noch arbeitsteilig erreichbar. Eine interkulturell vergleichende Pro-
zeßanalyse ist gleichfalls nur im Team durchführbar und selbst unter diesen Bedingun-
gen sehr aufwendig. Andererseits sind Generalisierungen aus Einzelfällen häufig un-
begründet und die Plausibilität des Befunds erweist sich als trügerisch. Regionale und
interkulturelle Vergleiche sind daher zur Feststellung von weltweit, regional oder zeit-
lich gültigen Zusammenhängen unverzichtbar. So ist es sicher keine originelle, aber
eine rational begründete Einsicht, daß die verschiedenen Verfahren unterschiedliche
Stärken und Schwächen aufweisen und sie sich daher gegenseitig ergänzen: (1) Die re-
gionale Prozeßanalyse greift zeitlich tiefer und argumentiert aus einem ethnogra-
phisch homogeneren Milieu als der interkulturelle Vergleich. Das erlaubt genauere
Einblicke in kausale Abläufe. (2) Die interkulturell vergleichende Prozeßanalyse ist
demgegenüber das beste Verfahren zur Überwindung räumlicher Generalisierungs-
schranken, die den Regionalanalysen inhärent sind. (3) Beide Verfahren profitieren ge-
meinsam von den Detailkenntnissen und kausalen Mikroeinsichten der Lokalstudien,
seien diese synchron oder diachron angelegt. (4) Lokale Mikrostudien wiederum er-
fahren Hinweise auf erklärungsmächtige Variablen und typische Abläufe aus den erst-
genannten Verfahren (so wäre es z. B. nützlich, die in der interkulturell vergleichen-
den Prozeßanalyse von White et al. erkannten Verläufe an Einzelfällen im Detail zu
untersuchen). Daher sollten in einer arbeitsteiligen Forschungsgemeinschaft alle diese
Verfahren zum gemeinsamen Erkenntnisgewinn angewandt werden.
5 Simulationsstudien des Wandels
Simulationsstudien sind ein Typ der formalen Modellbildung, der für die Analyse von
Prozessen aus ethnologischer Sicht besonders vielversprechend ist (s. als Anwendun-
gen Foin u. Davis 1987, Lang 1989; zu anderen Modellen der formalen Prozeßanalyse
s. White 1973; Anknüpfungsmöglichkeiten bieten auch die dynamischen Modelle in
der Spieltheorie, s. dazu Görlich 1989, Axelrod 1984). Ausgangspunkt von Simula-
tionsstudien sind Daten über den Zustand der Variablen eines Systems und ihrer Ver-
änderungsregeln. In der Realität ist es vielfach schwierig, diese Systeme über einen
längeren Zeitverlauf direkt zu beobachten. In der Simulation werden zunächst die em-
pirischen Daten über den Zustand und die Veränderungsregeln des Systems in ein for-
males Modell übertragen. Dann wird in diesem Modell verfolgt, wie sich der Zustand
des Systems ändert, wenn sich die einzelnen Variablen ihren Regeln folgend im Zeitab-
lauf wandeln. Seltene Ereignisse (z. B. Katastrophen, Krisen) kann man ebenfalls im
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
71
Modellauf auftreten lassen, um ihren Einfluß auf das mittel- und langfristige Verhalten
des Systems zu studieren. Auch die Regeln können variiert und dann in ihren unter-
schiedlichen Konsequenzen verfolgt werden. Simulationen werden daher in diesen
Anwendungen als empirisch begründete und logisch präzise Gedankenexperimente
eingesetzt, die uns „spielerisch" einen Einblick in Prozesse verschaffen, die wir in der
Realität gar nicht oder nur über sehr lange Zeit erfassen könnten.
Mit Simulationsstudien lassen sich folglich mittlere und vor allem langfristige Pro-
zesse der formalen Analyse erschließen. Diese Prozesse betreffen soziale Kollektive.
Die Eingabedaten liegen teils quantitativ (z. B. demographische Daten), teils qualitativ
vor (z. B. Heiratsregeln oder Normen der Kooperation). Eine Zustandsbeschreibung
reicht zwar als empirische Grundinformation aus, aber für die Validierung eines Simu-
lationsmodells sind weitere Zustandsbeschreibungen des Systems günstiger.
Rappaports Zustandsbeschreibung (1968) der Tsembaga im Hochland von Papua
Neuguinea ist eine Feldstudie, die die System- und Prozeßanalyse in der Ethnologie in
besonderem Maße befruchtet hat. Er beschreibt in dieser Monographie die Interaktion
zwischen der Gesellschaft der Tsembaga, die von Brandrodungsbau leben, ihrer
Schweinehaltung und dem rituell gesteuerten Krieg mit Nachbargruppen. Rappaport
vermutete, daß das Ritual und der Krieg einen Gleichgewichtszustand zwischen der
menschlichen Population, der Schweinepopulation und der Ressourcennutzung her-
stellen. Dies sind die mittel- und langfristigen Konsequenzen, die er aus seiner Fallstu-
die deduziert hat. Folgestudien haben seine Interpretation verfeinert und revidiert. Es
gibt jedoch keine Prozeßdaten über dieses System, da die lokale Kriegstätigkeit von
der australischen Administration und dem späteren Staat Papua-Neuguinea schon vor
dem ethnographischen Präsens unterbunden wurde. Foin und Davis (1987) haben nun
auf der Grundlage der empirischen Zustandsdaten das Tsembaga-System in einem Si-
mulationsmodell nachgebildet. Dieses Modell gestattet eine Uberprüfung der ver-
schiedenen Interpretationen aus der Literatur über die zeitliche Entwicklung des Sy-
stems und eine genauere Fassung verschiedener Gleichgewichtsbegriffe. So gelingt
z. B. der präzise Nachweis, daß entgegen Rappaports Erwartungen und trotz der An-
strengungen der Tsembaga-Akteure mit ihrem rituellen Zyklus ein Gleichgewicht
herzustellen, das Gesamtsystem instabil ist. Das lokale und auch das regionale System
pendeln sich keineswegs zyklisch auf bestimmten Gleichgewichtspunkten ein.
Simulationsstudien sind mit modelltechnischen Problemen behaftet, die in der zi-
tierten Literatur besprochen werden und für die es Lösungen gibt. Simulationsstudien
Zwingen uns dazu, implizite Annahmen über Zeitabläufe bei den Festlegungen der
Veränderungsregeln von Variablen explizit zu machen. Sie sind zwar kein Ersatz für
die zuvor besprochenen empirischen Prozeßanalysen. Aber sie liefern uns die genaue,
quasi-experimentelle Uberprüfung unserer häufig falschen intuitiven Auffassungen
über langfristige Prozesse in komplexen Systemen (vgl. oben Dörners Befunde über
die Probleme, Zeitgestalten zu erfassen. Dörner gewinnt seine experimentellen Ergeb-
nisse ebenfalls mit dem Mittel der Computersimulation).
72
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Ausblick
Cohn (1987: 73) nennt als Aufgabe der Ethnohistorie: "Historical Anthropology then
will be the delineation of cultures, the location of these in historical time through the
study of events which affect and transform structure, and the explanation of the conse-
quences of these transformations." Meine Sichtung von Verfahren der ethnologischen
Prozeßanalyse und ihrer Probleme erbrachte das Ergebnis, daß es eine Reihe von Ver-
fahren gibt, die sich auf die eine oder andere Weise zur Lösung dieser Aufgabe anbie-
ten und deren Methodenprobleme nicht unüberwindlich erscheinen. Die Ethnologie
sollte daher von der Programmatik der Prozeßanalyse stärker zur empirischen An-
wendung der verschiedenen Verfahren übergehen. Nach meinem Uberblick kommen
hierbei zunächst (1) Verfahren infrage, die ohne besondere Kosten und Mühen in
Feldforschungsuntersuchungen integrierbar sind und diese Zustandsbeschreibungen
um eine Prozeßsicht erweitern. Dies gilt für Ereignisanalysen, vor allem verbundener
Ereignisse, und für Wiederholungsstudien, die entstehen, wenn eine heutige Feldfor-
schung gezielt an ältere Zustandsbeschreibungen historischer oder ethnographischer
Art anknüpft. Demgegenüber stehen (2) spezielle Verfahren der Prozeßanalyse, die
aufwendiger durchzuführen sind, dafür aber reichhaltige und/oder kontrollierte Ein-
sichten in Prozesse eröffnen: Lebensgeschichten von Individuen und Kollektiven, re-
gionale und interkulturell vergleichende Prozeßanalysen sowie Simulationsstudien
des Wandels. Die Simulationsstudien sind als Erkenntnismittel in der ethnologischen
Prozeßanalyse besonders wichtig, weil sie sich nicht vom Momentzustand eines Sy-
stems oder seinen kurzen Verläufen blenden lassen (ein typisches Problem der Fehl-
diagnose bei komplexen Systemen), sondern seine Ablaufcharakteristik ins Zentrum
der Untersuchung rücken.
Seit langer Zeit erforscht die Ethnologie den Kulturwandel in Gemeinschaften der
3. Welt. Das Ergebnis dieser Studien ist recht uniform: Es erbringt den Nachweis von
- teils, teils/mehr oder weniger- Kontinuität und Wandel (z. B. Rössler 1987, Schwei-
zer 1987, Peletz 1988). Als Beschreibungen von Prozessen und ihren Folgen sind diese
empirischen Ergebnisse wertvoll. In theoretischer Hinsicht bleiben diese Befunde von
Kontinuität und Wandel jedoch meist unbefriedigend. Sie sagen wenig aus über die
Richtung und die Ursachen der Veränderungen und die Zusammenhänge zwischen
den Wandlungen in unterschiedlichen Teilbereichen der menschlichen Kultur. Es sind
diese erklärungsheischenden Fragen, die vor allem von regionalen und interkulturell
vergleichenden Prozeßanalysen, aber auch den Simulationsstudien des Wandels er-
forscht werden. Diese Analysen erzielen systematische und kontrollierte Auskunft
über Zusammenhänge zwischen Prozessen, ihren Verläufen und Folgen. Durch die
Anwendung dieser letztgenannten Verfahren der Prozeßanalyse ist letztlich der Auf-
bau empirisch begründeter und theoretisch gehaltvoller Erklärungen des Wandels auf
der lokalen Mikro-, der regionalen Mittel- als auch der globalen Makroebene zu erhof-
fen. Mit den Verfahren der Prozeßanalyse zusammengenommen, können zudem die
Daten erhoben und analysiert werden, die eine strenge Prüfung der Leistungskraft
Thomas Schweizer: Prozeßanalyse in der Ethnologie
73
neuerer echt-evolutionärer Theorien des Wandels (Axelrod 1984, Antweiler 1988,
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Die Konzeptualisierung von Galtons Problem
im interkulturellen Vergleich:
Forschungsgeschichte und neuere Lösungsansätze
Rolf Wirsing
Institut für Ethnologie, Universität Hamburg, Rothenbaumchaussee 64a, 2000 Hamburg 13, Deutschland
Abstract.The conceptualization of Gabon's problem in cross-cultural studies : history and recent solutions.
Galton's problem is the problem of interdependence between cultural units and their traits in a cross-cultu-
ral study due to diffusion. Depending on how the problem has been conceptualized, one can discern at least
four types of procedures or "solutions" to control for diffusional effects. Galton's problem has first been
seen as the problem of statistical independence between nearest sample neighbors, second as an undue dupli-
cation of cases, third as a chance to differentiate functional from non-functional trait combinations, and
fourth as a rival explanation that has to be considered within an explicit statistical model.
Einleitung
Galtons Problem verdankt seine Entstehung der Präsentation des ersten statistisch
durchgeführten interkulturellen Vergleichs durch Sir Edward Tylor vor 100 Jahren in
London. Während einer Tagung des Royal Anthropological Institute in London im
Jahre 1888 stellte Tylor (1889: 245) bivariate Korrelationen, oder Adhäsionen wie er
sie nannte, zwischen ausgewählten Merkmalen der von ihm untersuchten Kulturen
vor. Von diesen Korrelationen wollte er auf weltweit gültige Gesetzmäßigkeiten
schließen. In der darauffolgenden Diskussion machte der bekannte Statistiker Sir
Francis Galton die folgende Bemerkung, die als Galtons Problem in die ethnologische
Literatur einging (Tylor 1889: 270):
It would be extremely desireable for the sake of those who wish to study the evi-
dence for Dr. Tylor's conclusions that full information should be given as to the
degree to which the customs of the tribes and races compared are independent. It
might be that some of the tribes had derived from a common source, so that they
were duplicate copies of the same original.
Francis Galtons Einwand bezieht sich auf die Tatsache, daß die uns heute bekann-
ten Kulturen die Endprodukte sowohl evolutionistischer als auch diffusionaler Pro-
zesse aus gemeinsamen Wurzeln sind. Benachbarte oder historisch verwandte Kultu-
len, die als Untersuchungseinheiten für die Durchführung eines interkulturellen Ver-
gleichs ausgesucht wurden, können einen noch nicht lange zurückliegenden gemeinsa-
men Ursprung haben oder viele Kulturgüter miteinander ausgetauscht haben. Solche
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 75-87
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
76
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Prozesse lassen Ähnlichkeit zwischen den untersuchten Kulturen erwarten und ver-
stoßen somit gegen die der Korrelationsanalyse zugrundeliegenden Annahme der Un-
abhängigkeit zwischen den Untersuchungseinheiten.
Das Problem der Abhängigkeit der Untersuchungseinheiten ist nicht nur auf die
Ethnologie beschränkt. Politologen sprechen vom sog. „context effect", wenn sich
z. B. die untersuchten Individuen in ihrer politischen Meinung beeinflußt haben und
somit nicht mehr als „statistisch unabhängig" betrachtet werden können. Auch die
Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, daß beim Vergleich ökonomischer Para-
meter aus sukzessiven Zeitepochen Abhängigkeit und somit zeitliche Autokorrelation
die Regel ist (Dow u. a. 1982: 169).
Galtons Kritik blieb lange unbeantwortet, meines Wissens gab es vor 1961 in der
Völkerkunde kein formal anerkanntes Verfahren, Galtons Problem zu umgehen oder
zu lösen. Ab 1961 bis 1984 erschienen dann in schneller Folge mehrere Vorschläge, die
als „solutions to Galtons problem" (Naroll 1961 verwandte als erster diesen Begriff) in
die ausschließlich englischsprachige Literatur eingingen. Viele der frühen Verfahren
verdienen es meiner Meinung nach nicht, „Lösungen", sondern höchstens „Diskus-
sionen" genannt zu werden. Im allgemeinen hat sich die Konzeptualisierung des Pro-
blems mehr und mehr der statistischen Sprache bedient, entsprechend hat die Komple-
xität der Lösungen zugenommen. Die zuletzt vorgeschlagene Lösung von Dow u. a.
(1984) wird wohl kaum von einem durchschnittlichen Ethnologen ohne Kenntnis von
Statistik zu verstehen und nicht ohne den Zugang zu Computern anzuwenden sein.
Die Vielzahl der Lösungsansätze hat ihren Ursprung in der unterschiedlichen
Konzeptualisierung des Problems, aber auch in der oft unkritischen Anwendung der
für die Konzeptualisierung nicht immer passenden statistischen Verfahren. Die Frage,
die ich mir in diesem Aufsatz stelle, ist daher, in welcher Form Galtons Problem bisher
konzeptualisiert wurde und inwieweit diese Konzeptualisierungen und die dafür ein-
gesetzten statistischen Verfahren dem Problem als angemessen gelten können.
Narolls Typologie bivariater Beziehungen
Eine Idee, die das Denken über Galtons Problem und seine Lösungen stark beeinflußt
hat, ist Narolls (1961: 225, s. a. 1964, 1965, 1970) Klassifikation bivariater Beziehun-
gen. Sie nimmt an, daß im interkulturellen Vergleich zwei Prozesse zu interkultureller
Variation und Kovariation von kulturellen Merkmalen führen können: funktional-
kausale und geschichtliche Abhängigkeit zwischen Merkmalen. Zwei Merkmale sind
funktional miteinander verknüpft, wenn das Vorhandensein des einen Merkmals vom
Auftreten des anderen abhängig ist: sie sind geschichtlich miteinander verknüpft,
wenn ihr gemeinsames Auftreten vorrangig auf Diffusion und gemeinsame Abstam-
mung von der gleichen Protokultur zurückzuführen ist. Je nach der Bedeutung, die
diese beiden Prozesse für das gemeinsame Auftreten von zwei kulturellen Merkmalen
haben, lassen sich drei Klassen bivariater Beziehungen unterscheiden: (a) hyperdiffu-
Rolf Wirsing: Die Konzeptualisierung von Galtons Problem
77
sionale Beziehungen, die nur Diffusion und nicht Funktion reflektieren, (b) undiffu-
sionale Beziehungen, die nur Funktion und nicht Diffusion reflektieren und (c) semi-
diffusionale Beziehungen, die sowohl das Resultat von Funktion als auch von Diffu-
sion sind. Im interkulturellen Vergleich sind nur undiffusionale oder semidiffusionale
Beziehungen von Interesse, die es durch bestimmte Verfahren zu identifizieren und
von hyperdiffusionalen Beziehungen zu unterscheiden gilt.
Prozesse, die zu Ähnlichkeiten zwischen Kulturen führen
Ethnologen sind sich weitgehend in zwei Punkten einig: erstens in dem Verständnis
der Prozesse, die zu Ähnlichkeit zwischen Kulturen führen, und zweitens in der An-
gabe empirisch faßbarer Indikatoren, die auf solche Prozesse hinweisen. Galton hatte
einen den Ethnologen bekannten Prozeß angesprochen, nämlich die gemeinsame Ab-
stammung und anschließende Auseinanderentwicklung immer noch geographisch be-
nachbarter, aber nicht mehr identischer Kulturen. Ethnologen kennen jedoch noch
mindestens drei weitere Prozesse, die Ähnlichkeiten zwischen Kulturen erklären kön-
nen (Driver 1973: 157): 1. Die Abspaltung einer oder mehrerer Untergruppen von der
Gesamtgruppe und ihre Emigration in eine geographisch weit entfernte Region; 2. die
Diffusion bzw. der gegenseitige Austausch von Kulturgütern zwischen geographisch
benachbarten, aber politisch autonomen Kulturen, unabhängig davon, ob sie eine glei-
che Abstammung haben oder nicht, und 3. die Akkulturation, eine Sonderform der
Diffusion, in der Kulturgüter fast ausschließlich von einer wirtschaftlich oder poli-
tisch dominanten Gruppe zu einer von ihr politisch oder wirtschaftlich abhängigen
Gruppe weitergegeben werden.
Da die o. g. Prozesse für eine Vielzahl von Kulturen nicht direkt, sondern nur ihre
Konsequenzen, nämlich Ähnlichkeit zwischen den Kulturen, beobachtet werden
können, müssen empirisch faßbare Indikatoren gefunden werden, die auf diese Pro-
zesse hinweisen. Die zwei wichtigsten Indikatoren sind geographische Nähe und die
Zugehörigkeit zur gleichen Sprachfamilie. Kulturelle Ähnlichkeit zwischen geogra-
phisch benachbarten Kulturen (im Sample oder in der Grundgesamtheit) deutet vor-
rangig auf Diffusion, die zwischen Kulturen der gleichen Sprachfamilie auf gemein-
same Abstammung von der gleichen Protokultur hin.
Für das Verständnis der Lösungen von Galtons Problem ist es nun wichtig zu wis-
sen, daß in der Regel nur der erste Indikator, nämlich geographische Nähe — und somit
die Diffusion als wichtigster Prozeß — berücksichtigt wird. Außerdem wird in den
meisten Lösungen die Diffusion der Einfachheit halber nur als ein unidirektionaler
und nicht-reziproker Prozeß behandelt. So nehmen die meisten Lösungen an, daß
Diffusion nur in eine Richtung entlang arbiträrer „diffusion arcs" (Naroll 1961, 1964),
d- h. Diffusionsbögen verläuft; und daß mit geographischer Nähe keine absolute, son-
dern relative Nähe gemeint ist. Z. B. verlangt der Linked Pair Test (Naroll 1964), daß
Zuerst alle Kulturen der Stichprobe in ca. 15 Grad breite, von Norden nach Süden,
78 Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
dann wieder nach Norden usw. (oder von Westen nach Osten usw.) verlaufende Dif-
fusionsbögen in eine Weltkarte eingetragen werden. Er kann dabei nur die mögliche
Diffusion berücksichtigen, die von einer Gesellschaft i zu einer unmittelbar im Süden
(oder je nach Konvention, im Norden, Osten oder Westen) und auf dem gleichen Dif-
fusionsbogen gelegenen Gesellschaft i+1, und von dieser zu der weiter im Süden gele-
genen Gesellschaft i+2 usw. stattgefunden haben könnte. Dabei ist es oft gleichgültig,
ob die so bestimmten benachbarten Gesellschaften i, i+1, i+2 usw. nur wenige oder
Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind.
Vier Typen der Konzeptualisierung von Galtons Problem können nach meinen
Recherchen unterschieden werden : erstens als die statistische Abhängigkeit von Fällen
innerhalb des Samples, zweitens als eine ungebührliche Duplizierung dieser Fälle,
drittens als eine Gelegenheit, funktionale Beziehungen von nicht-funktionalen Bezie-
hungen zu unterscheiden, und viertens als ein im theoretischen Modell zu berücksich-
tigender, rivalisierender Prozeß. Auf diese vier Typen werde ich nun im einzelnen ein-
gehen.
Galtons Problem als räumliche Autokorrelation
Der erste Typ nimmt Galton beim Wort: demnach kann Diffusion zu einer unerlaub-
ten statistischen Abhängigkeit zwischen den Gesellschaften des Samples bzw. zwi-
schen den Untersuchungsvariablen benachbarter Gesellschaften führen, die es nun
nachzuweisen gilt. Der erste Schritt zur Lösung eines so verstandenen Problems ist es,
zuerst einmal zu testen, ob eine solche Abhängigkeit nach der Ziehung des Samples
überhaupt vorhanden ist oder nicht. Sollte nämlich Unabhängigkeit bestehen, dann
besteht auch nicht Galtons Problem. Ein solches Verfahren ist meist nur der erste
Schritt in fast allen bisher vorgeschlagenen Lösungen. Während jedoch Lösungen des
ersten Typs selbst nach erwiesener geographischer Abhängigkeit nach diesem Schritt
haltmachen und in diesem Fall das Problem als ungelöst betrachten, schlagen die der
anderen Typen ein weiteres Vorgehen vor.
Ein Verfahren des ersten Typs stellt die von Naroll im Jahre 1964 vorgestellte
„Linked Pair Method" dar. Sie geht von der bereits oben beschriebenen Anordnung
der Gesellschaften des Samples in Diffusionsbögen aus und berechnet dann für jede
Variable einen räumlichen Autokorrelationskoeffizienten (Tabelle 1). Dieser Koeffi-
zient ist ein Maß der geographischen Ähnlichkeit, die sich zwischen benachbarten
Kulturen für jeweils nur eine Variable beobachten läßt.
Wenn nur eine oder keine der beiden Variablen einer zu testenden bivariaten Be-
ziehung positiv autokorrelliert, d. h. geographische Ähnlichkeit zeigt, oder eine oder
beide Variablen negative Autokorrelationskoeffizienten aufweisen, kann nach Naroll
geschlossen werden, daß keine Hyperdiffusion vorliegen kann. Galtons Problem
braucht dann nicht mehr berücksichtigt zu werden. Sollten jedoch beide Variablen po-
sitiv autokorrellieren, ist zu befürchten, daß die zu testende Beziehung zwischen den
Rolf Wirsing: Die Konzeptualisierung von Galtons Problem 79
Tabelle 1: Die Berechnung des räumlichen Autokorrelationskoeffizienten der Variable X.
r(X¡X¡ + l)
wobei:
r = je nach Meßniveau der zu autokorrelierenden Variable X der Produktmomentkorrelationskoef-
fizient, Gamma oder Phi (für die Berechnung dieser Koeffizienten siehe gängige Statistikbü-
cher).
(XiXi+1) Paare der aus i = 1 bis N gebildeten, auf einem Diffusionsbogen angeordneten N Untersu-
chungseinheiten des Samples, wobei:
Xi = die Merkmalsausprägung der Variable in der Untersuchungseinheit i
Xi + 1 = die Merkmalsausprägung der Variable in der auf dem Diffusionsbogen unmittelbar benachbar-
ten Untersuchungseinheit i+ 1.
Variablen nicht funktional, sondern das Resultat geschichtlicher Prozesse, d. h. hy-
perdiffusional sein kann. Welcher Art die Beziehung tatsächlich ist, kann nach Naroll
mit dieser einfachen Methode nicht entschieden werden.
Galtons Problem als ungebührliche Duplikation von Fällen
Die Verfahren des zweiten Typs greifen einen weiteren Einwand Galtons auf: dem-
nach kann Diffusion innerhalb der Gesellschaften des Samples zu einer Duplikation
und somit zu einer ungebührlichen Erhöhung der Fälle im Sample führen. Eine solche
Redundanz könne nach der Meinung einiger Forscher eine inadäquate Erhöhung des
Korrelations- bzw. Regressionskoeffizienten (Strauss und Orans 1977) und nach der
Meinung anderer eine Verringerung der Varianz (Simonton 1976) und somit fälschli-
che Verwerfung der Nullhypothese zur Folge haben. Die einfachste Lösung eines so
verstandenen Problems ist es, die Zahl möglicher kultureller Duplikate schon im De-
sign der Studie gering zu halten. Eine solche Lösung sucht, wie Witkowski (n. d.: 1)
einmal bemerkte, nach dem „perfekten" Sample. Das heißt, die Stichprobengröße
^vird gering gehalten (Naroll 1970c: 902), ein nach geographischen Regionen geschich-
tetes Sample wird gezogen (Naroll 1963:1059,1970c: 899) und Narolls (1971: 95, 100)
Vorschlag der „double language boundary" wird angewendet. Mit letzterem soll ver-
hindert werden, daß zwei oder mehr Untersuchungseinheiten im Sample der gleichen
Sprachgruppe, also möglicherweise der gleichen Protokultur angehören.
Neben dieser Suche nach dem perfekten Sample gibt es noch formale Lösungsan-
satze, die entweder auf die gesamte operable Grundgesamtheit oder auf die Stichprobe
angewandt werden. Sie verlangen, ähnlich wie alle anderen formalen Methoden, daß
Zuerst die geographische Verteilung der Gesellschaften der Grundgesamtheit oder des
^amples, einschließlich die der Codes der zu untersuchenden Variablen bestimmt
"^ird. Wie bereits ausgeführt, werden die Gesellschaften dazu meist auf sog. Diffu-
sionsbogen angeordnet. Das Ziel dieser Verfahren ist es, geographische Strips, Regio-
nen oder nur Paare von benachbarten Gesellschaften, die für die Untersuchungsva-
riablen identische Codes besitzen, zu identifizieren. Das weitere Vorgehen ist dann je
nach Lösungsvorschlag sehr unterschiedlich (siehe dazu den „Bimodal Sift Test" von
80
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Naroll 1961, den „Interval Sift Test" von Naroll und D'Andrade 1963 und den „Suc-
cessive Pairs Test" von Murdock und White 1969). Ein von mir vorgeschlagenes Ver-
fahren dieses Typs (z. B. die „Cluster Sift Method", Wirsing 1974: 207) verlangt, daß
zuerst regionale Cluster aller Gesellschaften der Grundgesamtheit bestimmt werden,
und zwar derart, daß alle Gesellschaften eines Clusters geographisch benachbart sind
(d. h. weniger als 200 Meilen auseinanderliegen), zur gleichen Sprachfamilie gehören,
im gleichen Zeitraum untersucht wurden und identische Codes für zwei oder mehr
Untersuchungsvariablen besitzen. Erst dann kann nur je eine Gesellschaft aus jedem
Cluster gezogen und fortgefahren werden, als wäre das Sample eine von den Einflüssen
der Diffusion bereinigte Stichprobe. Ich stehe heute diesem Verfahren etwas skeptisch
gegenüber, da es erstens sehr unwirtschaftlich ist (alle Gesellschaften der Stichprobe
müssen zuerst verkodet und ihre gegenseitigen Entfernungen berechnet werden) und
zweitens zu einem Sample führt, das zu stärkeren Unterschieden zwischen Untersu-
chungseinheiten führt, als eine geographische Zufallsverteilung erwarten ließe.
Eine neuere Methode des gleichen Typs wie die von Strauss und Orans im Jahre
1977 vorgestellte „Cluster Reduction Method" erstellt zuerst Paare von benachbarten
Gesellschaften, bestimmt die beobachtete Anzahl aller Paarkombinationen, berechnet
dann die Anzahl eines jeden Paartyps, die unter einer geographischen Zufallsvertei-
lung zu erwarten gewesen wäre, und reduziert dann das Sample auf die zuletztge-
nannte Anzahl von erwarteten Paaren. Nach dieser Prozedur wird der Korrelations-
koeffizient, der nun frei vom Einfluß der Diffusion sein soll, und das Signifikanzni-
veau neu berechnet.
Die oben vorgestellten Verfahren des zweiten Typs beruhen auf der wahrscheinlich
unberechtigten Furcht, daß eine ungebührliche Duplikation der Fälle den Korre-
lations- bzw. Regressionskoeffizienten als zu hoch schätzen würde. Simonton (1976)
zitiert ein Textbuch aus dem Bereich der Ökonometrie, aus dem er entnimmt, daß bei
autokorrellierten Daten nicht der Korrelationskoeffizient, sondern nur das Signifi-
kanzniveau irrtümlich geschätzt werde. Sein Vorschlag zur Lösung, die er die „Orcutt-
James Solution" nennt, akzeptiert deshalb den Korrelationskoeffizienten eines gleich-
wie gearteten Zufallssamples als einen guten Schätzwert, berechnet aber eine sog. „ef-
fektive Samplegröße", die bei gegenseitiger Abhängigkeit der Untersuchungseinheiten
immer kleiner als die tatsächliche Samplegröße ist. Diese neuberechnete effektive Sam-
plegröße wird dann zur Bestimmung des „wahren" Signifikanzniveaus herangezogen.
Galtons Problem als hyperdiffusionale Beziehung
Der dritte Typ, so wie er in Narolls „Cluster Test" zu erkennen ist, führt eine weitere,
von Naroll (1961: 222, 229) implizit als Gesetz proklamierte Idee ein. Letztere, bis
heute noch unüberprüfte Idee besagt, daß zwei kulturelle Merkmale, die funktional-
kausal zusammenhängen, d. h. in einer gesetzmäßigen Beziehung zueinander stehen,
sich leichter geographisch verbreiten als Merkmalspaare, die nicht funktional zusam-
Rolf Wirsing: Die Konzeptualisierung von Galtons Problem
81
menhängen. Zwei in einer Gesellschaft gesetzmäßig miteinander verbundene Eigen-
schaften bezeichnet Naroll als „Hit", alle anderen Eigenschaftskombinationen als
„Miss". Eine Beziehung ist semidiffusional und somit funktional, wenn eine eventuell
statfindende Diffusion die Hits mehr als die Misses begünstigt: sie ist hyperdiffusional
und nicht funktional, wenn Hits und Misses gleichermaßen gut diffundieren. So müß-
ten z. B. die beiden kulturellen Merkmale: nämlich patrilokale Residenz nach der Hei-
rat und das Vorhandensein patrilinearer Abstammungsgruppen, von denen in der Völ-
kerkunde angenommen wird, daß zwischen ihnen eine gesetzmäßige Beziehung be-
steht, sich leichter gemeinsam verbreiten als z. B. die Merkmalskombination matrilo-
kale Residenz und patrilineale Abstammung. Für Naroll wird mit dem Nachweis der
leichteren Verbreitung der vermeintlich funktionalen Merkmalskombination nicht
nur Galtons Problem gelöst, sondern gleichzeitig auch unsere Annahme von der ge-
setzmäßigen Beziehung zwischen den Merkmalen bzw. Variablen gefestigt.
So plausibel Narolls Idee auch klingen mag, ihre unüberprüfte Übernahme führte
bald zu unfruchtbaren Diskussionen. Es war nur eine Frage derZeit, bis Zucker (1976)
mit Hilfe seines „Standardized Diffusion Test" den bisher als gesetzmäßig vermuteten
Zusammenhang von Patnlokalität und Patrilinealität als hyperdiffusional, also als das
Ergebnis historischer Zufälle bezeichnete. Er hatte in einem Sample von 205 Gesell-
schaften gefunden, daß die Hits, nämlich das gemeinsame Auftreten von patrilokaler
Residenz und patnlinealer Abstammungsgruppen, gleich gut wie die Misses, d. h. wie
jede andere Kombination von Residenz und Linealität diffundieren. Ich hatte bereits
zwei Jahre früher (Wirsing 1974: 199) mit einem von Zucker leicht unterschiedlichen
Ansatz, den sog. Matrixmethoden, einen vergleichbaren Befund für die Beziehung
Zwischen Matrilokalität und Matnlinealität festgestellt. Während Zucker an der Ge-
setzmäßigkeit der von ihm getesteten Beziehung zweifelte, zweifelte ich an der Gültig-
keit von Narolls Idee. Narolls Idee schien mir einfach noch zu wenig theoretisch ent-
wickelt und empirisch gefestigt: außerdem waren mir keine anderen Studien bekannt,
die die Gesetzmäßigkeit der bestehenden Muster von Residenz und Linealität in Frage
gestellt hätten.
Galtons Problem als Störvariable im statistischen Modell
Der vierte Typ der Konzeptualisierung sieht Galtons Problem nicht nur als das Pro-
blem der statistischen Abhängigkeit zwischen den Untersuchungseinheiten benach-
barter Fälle des Samples, sondern auch als das Problem, wie der Diffusionsprozeß als
konkurrierender Einfluß bzw. Drittvariable auf die zu testende Beziehung gemessen
und berücksichtigt werden kann. Galtons Problem wird dann im statistischen Sinne
Zu einem Problem der Modellspezifikation. Das Modell gilt dabei als korrekt spezifi-
ziert, wenn die aus dem Modell ableitbaren Gleichungen annähernd den Prozessen
entsprechen, die die Daten der Realität generiert haben könnten.
Eine Weiterentwicklung von Narolls Linked Pair Method (Naroll 1970 b: 986) ar-
82
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
beitet dabei mit einem Modell der Realität, das aus drei Variablen besteht: der unab-
hängigen Variablen, der zu erklärenden abhängigen Variablen und einer Störvariablen.
Die Störvariable stellt das Sammelbecken aller eventuell vorhandenen diffusionalen
Prozesse dar. Galtons Problem ist für Naroll gelöst, wenn der Einfluß der Störvaria-
blen auf die Korrelation zwischen unabhängiger und abhängiger Variable statistisch
eliminiert werden kann. Als ein dafür angemessenes Verfahren stellt er sich die Be-
rechnung von einfachen partiellen Korrelationen vor, die seiner Meinung nach zu ei-
nem von Diffusion bereinigten Korrelationskoeffizienten führen. Ein Beispiel von der
Notwendigkeit dieses Verfahrens bezog er (persönliches Gespräch) aus Textors (1967)
„Cross-Cultural Summary", einer Veröffentlichung aller statistisch signifikanten bi-
variaten Korrelationen damals bestehender vorverkodeter Variablen auf gesamtgesell-
schaftlicher Ebene. Dort wird z. B. eine schwache, aber dennoch statistisch signifi-
kante Korrelation zwischen Metallverarbeitung (FC 71) und dem hohen Auftreten
von nur Mutter-Kind-Haushalten (FC 314) berichtet. Da diese beiden Merkmale fast
nur in Afrika und hauptsächlich mit der Niger-Congo Sprachfamilie (FC 17) assozi-
iert sind, wurden bivariate Korrelationen zwischen dieser Sprachfamilie und den bei-
den zuerst genannten Merkmalen berechnet. Diese Korrelationen waren beide höher
als die zwischen Metallverarbeitung und Mutter-Kind-Haushalten. Wird nun eine
partielle Korrelation zwischen den beiden zuletztgenannten Merkmalen unter Kon-
stanthaltung der Drittvariablen, d. h. der Sprachfamilie berechnet, schwindet die Kor-
relation zwischen Metallverarbeitung und Mutter-Kind-FIaushalten auf Null. Der
Wert der partiellen Korrelation wird interpretiert als der Wert der „wahren" Bezie-
hung zwischen diesen beiden Variablen, nachdem der Einfluß der Diffusion - in die-
sem Fall der Angehörigkeit zur gleichen Sprachfamilie - kontrolliert worden ist.
Im obigen Beispiel stellte die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachfamilie die
Kontroll- oder Drittvariable dar. Für praktische Zwecke schlug Naroll (1970: 986)
nun vor, den Einfluß der auf dem Diffusionsbogen nächstgelegenen Gesellschaft als
Drittvariable zu nehmen. Er stellte sich das so vor: Nehmen wir an, wir wollen den in-
terkulturellen Zusammenhang zwischen den Variablen A und B untersuchen. Der
„unbereinigte" Korrelationskoeffizient nullter Ordnung ist rAB. Der mögliche Einfluß
der Diffusion ist in diesem Koeffizienten noch nicht eliminiert. Wir erstellen nun die
Diffusionsbogen und berechnen die Autokorrelationen r^Ai Ai+1) und r(Bi B;+1). Diese
stellen den direkten, als Diffusion verstandenen Einfluß einer jeden Variablen auf die
gleiche Variable in der benachbarten Gesellschaft dar. Die Variablen der benachbarten
Gesellschaft, nämlich Ai+1 und Bi+1, werden somit zu Kontrollvanablen. Naroll
übersah dabei (Wirsing 1974:85, 1975:144), daß ein solches Verfahren nicht eine, son-
dern zwei Kontrollvariablen, also ein Modell mit vier Variablen ergibt. Deshalb sind
partielle Korrelationen erster Ordnung, wie Naroll irrtümlich vorschlägt, nicht ange-
bracht, sondern eher partielle Korrelationen zweiter Ordnung, wenn der Einfluß der
Diffusion auf die Korrelation nullter Ordnung kontrolliert werden soll.
Die Berechnung von einfachen oder partiellen Korrelations- oder Regressionsko-
effizienten setzt voraus, daß das statistische Modell, das zur Erklärung der abhängigen
Rolf Wirsing: Die Konzeptualisierung von Gal tons Problem
83
Variablen konstruiert wird, vollständig bestimmt ist. Dies bedeutet, daß in dem Fall,
in dem die unabhängigen Variablen nicht die ganze Varianz der abhängigen Variablen
erklären und eine unerklärte Restvarianz zurücklassen, eine sog. Residualvariable ins
Modell einzuführen ist. Außerdem wird angenommen, daß die Varianz dieses unbe-
kannten Restes normalverteilt und unabhängig ist. Da aber die Restvarianz ein Sam-
melbecken all jener funktional-kausalen Faktoren darstellt, die in der Theorie unbe-
rücksichtigt geblieben sind, kann nicht angenommen werden, daß diese Faktoren
nicht diffundieren, d. h. daß ihre Varianz nicht unabhängig ist.
Der Begriff der Restvarianz kann am besten am Regressionsmodell demonstriert
werden. Ein einfacher und linearer, als gesetzmäßig verstandener Zusammenhang
zwischen der zu erklärenden und somit abhängigen Variablen Y und der unabhängi-
gen, nämlich zur Erklärung eingesetzten Variablen X wird im Regressionsmodell
durch die folgende Gleichung beschrieben (s. Tabelle 2):
Tabelle 2: Das normale Regressionsmodell ohne jede Autokorrelation.
Y, = a + ßX; + U¡
Wobei:
a = eine Konstante, sie wird in Tabelle 3 gleich 0 gesetzt
ß = der Regressionskoeffizient oder die Steigung der durch die Gleichung beschriebenen Geraden: hat
die gleiche Bedeutung wie der Korrelationskoeffizient im Sinne der Stärke und Richtung des Zusam-
menhangs zweier Variablen
U = die Residualvariable, unabhängig und normalverteilt.
Wenn Grund zur Annahme besteht, daß bekannte Faktoren doch einen systemati-
schen Einfluß auf X und/oder Y haben sollten, müssen sie gemessen und explizit ins
Regressionsmodell eingeführt werden. Diffusion stellt so eine der uns bekannten
Kräfte dar. Wird Diffusion z. B. nur als der Einfluß der Variablen Xj und Yl der Ge-
sellschaft i auf die Variablen X1+1 und Yi+1 der auf Diffusionsbogen nächstgelegenen
Gesellschaft am Punkt i+1 verstanden, dann käme ein wie in Tabelle 3 vorgestelltes
Modell in Frage.
Auch in diesem Modell ist die Annahme zu machen, daß die Residualvariablen U
und V keinen systematischen Fehler darstellen. Nur unter dieser Annahme stellt der
von mir vorgeschlagene partielle Korrelationskoeffizient zweiter Ordnung (Wirsing
1975: 143), der diesem Modell zugrunde liegt, einen effizienten (d. h. unverfälschten)
Schätzwert des standardisierten Regressionskoeffizienten dar.
Loftin und Ward (1981: 106 ff.) waren die ersten Ethnologen, die darauf hingewie-
sen haben, daß Residualvariablen sehr wohl auch voneinander abhängig, d. h. auto-
korreliert sein und zudem noch einen systematischen Einfluß auf sowohl die unabhän-
gige als auch abhängige Variable ausüben können. Sie schlagen vor, verschiedene Re-
gressionsmodelle unter Berücksichtigung der autokorrelativen Effekte zu konstruie-
ren (als Beispiel eines der von ihnen untersuchten Modelle, siehe Tabelle 3) und zu
testen, wohl in der Annahme, dabei das „wahre" Modell identifizieren zu können, das
die Daten generiert haben könnte. Dieser Ansatz kompliziert allerdings die rechneri-
84 Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Tabelle 3: Ein Regressionsmodell, in dem sowohl die abhängige als auch die unabhängige Variable
autokorrelieren.
Y, = ßX, + gYi+1 + U,
X; = dXi + i + V,
wobei:
Y; = der Wert der abhängigen Variable der Gesellschaft i
Yi + 1 = der Wert der abhängigen Variable der Gesellschaft i+1: d.h. der auf dem Diffusionsbogen
nächstgelegenen Gesellschaft
Xj, X¡+1 = der Wert der unabhängigen Variablen der Gesellschaft i bzw. i + 1
ß = der Regressionskoeffizient (s.a. Tabelle 1)
. g = der Autokorrelationskoeffizient (auch ein Regressionskoeffizient) der Variable Y
d = der Autokorrelationskoeffizient der Variable X
U, V = Residualvariablen (normalverteilt und unabhängig)
(Vgl. auch Modell 5 von Loftin und Ward 1981: 128).
sehe Lösung von Galtons Problem beachtlich, da nur die korrekte Identifizierung des
wahren Modells, in der außerdem alle Residualvariablen nicht mehr autokorreliert
sein dürfen, uns weiterhelfen kann.
Der vorläufig letzte Beitrag zu Galtons Problem stammt von den Ethnologen
Dow, Burton, White u. a. aus dem Jahre 1984. Er macht eine vereinfachende An-
nahme, die die Spezifikation des Modells betrifft, kompliziert aber die rechnerische
Lösung dadurch, indem er den Diffusionsprozeß nicht auf Diffusionsbogen, sondern
in alle Richtungen in Form einer N X N Relationsmatrix aller N Gesellschaften des
Samples berücksichtigt (Tabelle 4).
Tabelle 4: Die N X N Relationsmatrix vier hypothetischer Gesellschaften.
A B C D Summe
1. Pry ors (1976) "diffusion possibility matrix" S
A 0 6 5 3 14
B 6 0 4 4 14
C 5 4 0 2 11
D 3 4 2 0 9
2. Die davon abgeleitete „Relationsmatrix" W
A 0,00 0,43 0,36 0,21 1
B 0,43 0,00 0,29 0,29 1
C 0,45 0,36 0,00 0,18 1
D 0,33 0,44 0,22 0,00 1
Zu 1.
A, B, C, D = vier hypothetische Gesellschaften.
Jede Zelle der Matrix definiert ein Gesellschaftspaar. Jedem Paar wird der Wert S¡j zugewiesen, der etwas
über die Möglichkeit der Diffusion zwischen den beiden Gesellschaften aussagt:
S¡¡ = 5 + 3L,j - 4D,j
Wobei:
L = Zugehörigkeit beider Gesellschaften zur gleichen Sprachfamilie (ja: L¡¡ = 1. nein: L- = 0) und
D = Entfernung (D¡¡) in Meilen/1000
Zu 2.
Jede Zelle der obigen Matrix wurde normalisiert, so daß:
W¡j =S;¡ / Summe aller S¡¡ der Reihe i
(Siehe auch Dow u.a. 1984: 757)
Rolf Wirsing: Die Konzeptualisierung von Galtons Problem
85
Die die Spezifikation des Modells vereinfachende Annahme ist, daß die Abhängigkeit
zwischen den Untersuchungseinheiten nicht zu einer ineffizienten Schätzung der
Korrelations- bzw. Regressionskoeffizienten - wie Loftin und Ward (1981) und an-
dere vor ihnen annahmen -, sondern nur zu einer beachtlichen Unterschätzung ihrer
Varianz (vgl. auch Simonton 1976) und zu autokorrelierten Residualvariablen führt.
Sie schlagen ein „network autocorrelation model" vor (Tabelle 5), ein Regressionsmo-
dell, das unter Berücksichtigung der o. g. Relationsmatrix zu effizienten Schätzwerten
des Regressionskoeffizienten und seines Standardfehlers führen soll. Die Autoren be-
legen ihre Kompetenz in Statistik und Mathematik und untermauern ihre Argumenta-
tion mit empirischen Belegen und Simulationen. Die zur Berechnung der Schätzwerte
des Modells notwendige statistische und mathematische Einsicht und Computer-
Hard- und Software dürften wohl nur wenige Ethnologen besitzen. Es ist deshalb
nicht verwunderlich, daß es nach dieser Veröffentlichung vorerst keine weiteren Dis-
kussionen um Galtons Problem mehr gab.
Tabelle 5: Das Modell der autokorrelierten Residualvariablen ("network autocorrelation model").
Y, = ßXi + U¡
U. = r(Ui ui+1) W„ + V,
Jedes U¡ einer Gesellschaft i ist ein gewichteter Durchschnitt der Einflüsse benachbarter Gesellschaften. Die
Gewichte stellen die Einträge W¡¡ der Reihe i der Relationsmatrix W dar, der dann mit der Autokorrelation r
der Residualvariablen malgenommen wird. V¡ ist der Rest der Residualvariable U (s.a. Dow Burton, White
und Reitz 1984: 758)
Zusammenfassung
Galtons Problem ist in den letzten 100 Jahren unterschiedlich konzeptualisiert und an-
gegangen worden. Es stellt sich in erster Linie als eine durch geschichtliche Prozesse
entstandene Abhängigkeit zwischen Gesellschaften dar. Diese Abhängigkeit ist ein
I'aktum und kollidiert potentiell mit der Forderung nach der Unabhängigkeit aller
Untersuchungseinheiten des Samples in den Korrelations- und Regressionsanalysen
des interkulturellen Vergleichs. Der einfachste Lösungsansatz sieht das Problem ge-
löst, wenn keine positive Autokorrelation der zu untersuchenden Variablen der Ge-
sellschaften der Stichprobe vorliegt. Liegt eine Autokorrelation beider Variablen vor,
bleibt das Problem ungelöst. Weitergehende Lösungsansätze behandeln eine solche
Abhängigkeit als eine lästige Duplizierung von Fällen und schaffen durch stratifizier-
tes Sampling, Sifting und die wiederholte Anwendung von Autokorrelationen eine
»jungfräuliche", d. h. durch Diffusion scheinbar unverdorbene Stichprobe. Andere
^Ösungsansätze akzeptieren das Vorhandensein von Diffusion und verwenden sie, um
Clne Unterscheidung zwischen semidiffusionalen oder hyperdiffusionalen Beziehun-
hen zu treffen. Narolls Annahme, daß sich semidiffusionale Beziehungen besser als
byperdiffusionale Beziehungen verbreiten, ist meiner Meinung nach jedoch nicht
dazu geeignet, die Funktionalität bzw. Gesetzmäßigkeit von bivariaten Beziehungen
86
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
zu testen. Die neuesten, aber auch kompliziertesten Lösungsansätze bauen und testen
Modelle mit Hilfe von partiellen Korrelationen oder Regressionsgleichungen, in der
der diffusionale Prozeß explizit mit berücksichtigt wird. Die neuesten Entwicklungen
dieser Art können Diffusion oder jede Art der historischen Verknüpfung durch sog.
Relationsmatrizen realistisch abbilden und im Modell berücksichtigen.
Partielle Korrelationen höherer Ordnung oder die Verwendung von Regressions-
modellen sind meiner Meinung nach ein Schritt in die richtige Richtung, da sie den
Einfluß der Diffusion explizit mit ins Modell übernehmen. Die von mir früher vorge-
schlagenen partiellen Korrelationen zweiter Ordnung sind dabei nur bei der An-
nahme, daß die Residualvariablen unabhängig voneinander und normalverteilt sind,
gültig. Diese Annahme sollte besser nicht gemacht, sondern empirisch überprüft wer-
den. Das zuletzt vorgestellte Lösungsmodell von Dow u. a. (1984) übernimmt zwar
die autokorrelierten Residualvariablen explizit mit ins Modell, ignoriert aber die Mög-
lichkeit, daß diese sowohl die jeweiligen unabhängigen als auch abhängigen Variablen
und somit den Korrelations- bzw. Regressionskoeffizienten beeinflussen können.
Galtons Problem ist demnach heute zu einem Problem der Modellspezifikation
geworden. Seine Sprache ist die Sprache der Statistik und Matrixalgebra. Es kann nur
dann erfolgreich - und dann nur für jeden konkreten Fall - gelöst werden, wenn das
statistische Modell, das die interkulturellen Daten der Studie generiert haben könnte,
korrekt und ohne unrealistische Annahmen identifiziert werden kann. Dies ist zwar in
den einfachen Fällen möglich, in denen die Realität den Annahmen entspricht, die die
rechnerische Arbeit vereinfachen. Entsprechende Computerprogramme, die von der
von D. R. White (auf Disketten herausgegebenen) Zeitschrift „World Cultures" ange-
kündigt wurden, dürften die Arbeit in Zukunft erleichtern. Sollte sich das Modell aber
in einem konkreten Fall als komplexer herausstellen, als es die rechnerischen Möglich-
keiten und der Aufwand an Mitteln und Zeit erlauben, wird das Problem in diesem
Fall wohl ungelöst bleiben.
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Autopsie des Integrationsprozesses
einer Forscherin in einem griechischen Dorf
Ulrike Krasberg
Kettenhofweg 125, D-6000 Frankfurt am Main 1, Deutschland
Abstract. This essay is about methods in anthropological field-research, especially about the process of the
anthropologist's integration. The author shows that the way an integration is taking place is part of the
whole cultural system and shows cultural traits of the society. Not only the scientist integrates herself but
also the members of the society (in this case women of the neighbourhood of a Greek village) integrate the
stranger. The essay has three parts. Part one reflects on the problems of female anthropologists and (field) re-
search. Part two is a detailed description of the author's process of integration. Part three shows in compari-
son with Ernestine Friedl's field-research in Vasilika (Friedl: Vasilika. A Village in Modern Greece. New
York, 1962) how the way of integration influences the results of field research.
1 Einleitung
Der Aufsatz soll einen Beitrag zu Methoden der empirischen Untersuchung bei frem-
den Kulturen liefern. Er besteht aus drei Teilen, zunächst allgemeinen Reflexionen
über die Thematik „Frau und Forschung", zum zweiten einer reflektiert-beschreiben-
den Darstellung einiger Elemente eines konkreten Integrationsprozesses im Zusam-
menhang mit einem Forschungsvorhaben. Für diesen Teil wurde die Ich-Form in der
Darstellung gewählt, um die Authentizität des Integrationsprozesses zu bewahren,
Wobei aber Orts- und Personennamen anonymisiert wurden. Der dritte Teil stellt den
Versuch dar, in Anlehnung und im Vergleich zu der Arbeitsweise Ernestine Friedls
(Vasilika. A Village in Modern Greece. New York, 1962) die von mir durchgeführte
Form der teilnehmenden Beobachtung bzw. der Integration in einigen wesentlichen
Funkten zu charakterisieren. Ich stütze mich dabei auf die bisher insgesamt etwa ein-
einhalbjährigen Erfahrungen einer Feldforschung in einem griechischen Dorf, die mir
von der DFG ermöglicht wurde und bei der ich meinen im frühen Schulalter stehen-
den Sohn bei mir hatte.
2 Frau und Wissenschaft: Theoretische Überlegungen
^och bis in die dreißiger Jahre wurde von männlichen Ethnologen die Meinung ver-
beten, daß Frauen besser nicht Ethnologie studieren sollten, da sie den Strapazen einer
Feldforschung nicht gewachsen seien. Auch die Existenz von Frauen wie Ruth Bene-
dict, Margaret Mead, Denis Paulme und Marguerite Dupire, um nur vier der verhält-
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 89-109
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
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Zeitschrift für Ethnologie 1 14 (1989)
nismäßig vielen Frauen zu nennen, die Ethnologinnen waren und sind und im Feld ge-
forscht haben, konnte dieses Vorurteil nicht verhindern. Fleute gibt es mehr Ethnolo-
ginnen denn je zuvor in der Geschichte der Ethnologie, und dank ihres Einsatzes hat
sich die Forschung differenziert, hat sich die wissenschaftliche Erkenntnis vertieft um
den „kulturellen Raum der Frau" (Nadig 1986).
Am Integrationsprozeß in die Frauenwelt eines griechischen Dorfes möchte ich
darstellen, daß gerade ein Selbst-Verständnis als Wissenschaftlerin den Zugang zum
Verstehen einer Kultur eröffnen kann und daß dieser „weibliche Blickwinkel", sub-
jektiv von der Forscherin und objektiv aus der Gesellschaft heraus gesehen, ein ethno-
logisches Forschungsinstrumentarium sein kann, um bisher viel zu wenig beachtete
Aspekte einer Kultur erfahrbar zu machen.
Gesellschaftliche Phänomene und menschliche Verhaltensweisen werden erst im
Kontext der Kultur verstehbar (Bateson 1972, 1979; Benedict 1934). Ethnologische
Forschung bedeutet daher, kulturelle Strukturen zu erkennen und zu erfassen.1 Da es
praktisch aber nicht möglich ist, jedes Strukturelement einer Kultur tatsächlich zu er-
forschen, Ethnologen jedoch theoretisch von dem Anspruch der vollständigen Erfas-
sung einer Kultur ausgehen müssen, braucht der Forscher eine Auswahl charakteristi-
scher Daten, die dann als Indikatoren zur Analyse der jeweiligen Kultur taugen (Strek-
ker 1969: 38-41 ).2
Der Prozeß der Feldforschung ist einmal gebunden an die Person des Forschers,
wird aber genauso bestimmt durch die zu erforschende Gesellschaft, denn jede Gesell-
schaft integriert in charakteristischer Weise Fremdes und läßt einen Fremden verschie-
den tief in unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche eindringen. Die Integrationsfä-
higkeit ist mithin von der Flexibilität sozialer Beziehungen und den dominanten Wer-
ten einer Kultur abhängig. Der Integrationsprozeß in die Gesellschaft kann aber nur
dann zum Erkenntnisprozeß für den Forscher werden, wenn er nicht nur aus dem
Blickwinkel des Forschers gesehen wird, sondern auch aus dem der Mitglieder der Ge-
sellschaft. Es ist die Gruppe, die den Forscher integriert (oder auch nicht), ob er es will
(oder es überhaupt mitbekommt) oder nicht.
Stagi schreibt über den Charakter des Forschungsprozesses: Der Forscher
„... macht sich selbst gleichsam zu einer Tabula, auf der die fremde Kultur sich abbil-
den soll, wie sie ist, und verhält sich dabei in mancher Hinsicht wie ein Kind, das seine
eigene Kultur ,erlernt'. Man hat daher die Feldforschung oft mit einer zweiten sozio-
kulturellen Geburt verglichen, und sie hat auch, abgesehen von ihren sonstigen Unbe-
quemlichkeiten und Gefahren, etwas von einem Geburtstrauma an sich... Sie ist eine
1 Clifford Geertz (1987: 98) weist daraufhin, daß kulturelle Muster nicht völlig mit den Formen der sozia-
len Organisation übereinstimmen.
2 denn eine ethno-soziologische Beschreibung, die nach einer Ganzheitserfassung der Gesellschaft
strebt, aber gleichzeitig ihre Daten als ,Indikatoren' eines hypothetischen Beobachtersystems auffaßt, wird
sich ihrer Selektivität bewußt sein, ja gerade diese kritisch hervorheben, und sie wird damit der Gefahr des
,bias' vorbeugen, einer Gefahr, der jede ganzheitliche Beschreibung einer Gesellschaft erliegen muß, die auf
unkritischer Selektivität der Beobachtung und Beschreibung beruht" (Strecker 1969:40).
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
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höchst persönliche Erfahrung, zugleich aber auch eine wissenschaftliche Erhebungs-
technik, die nach objektiv überprüfbaren Ergebnissen strebt. Diese Doppelnatur der
Feldforschung wird durch den Fachterminus teilnehmende Beobachtung' sehr gut
ausgedrückt..." (Stagi 1984: 11). Aber Stagi täuscht sich: Kein erwachsener Mensch
wird in der Feldforschungssituation wieder zum „leeren Wachstäfelchen", bereit, vom
Leben geprägt zu werden; wenn dies so wäre, gäbe es keinen Ethnozentrismus und
keine Vorurteile. Das Gegenteil ist der Fall: Sobald der Forscher in die Fremde „ein-
taucht", türmt sich seine eigene kulturelle Determiniertheit, und dazu gehört auch das
Selbstbild als Mann oder Frau, wie eine Barriere vor ihm auf, und welchem Kulturphä-
nomen er sich auch immer zuwendet, stets trifft er zuerst auf seine eigene verinner-
lichte Kultur. Das Trauma, der Schock, den der Ethnologe im Feld erlebt, ist weniger
auf das Kennenlernen der fremden Kultur zurückzuführen, sondern vielmehr auf die
Konfrontation mit der eigenen Menschlichkeit und der Erkenntnis der Grenzen der
eigenen Kultur.
Fritz Kramer schreibt: „Wir wissen, daß Trobriander, die heute lesen, wie Mali-
nowski das Geschlechtsleben ihrer Großeltern als das der ,Wilden' beschreibt, ihre
Welt darin identifizieren... ; aber unmöglich ist, daß sie oder andere,Wilde' sich in dem
Bild erkennen, das die Ethnographie als das des Wilden im allgemeinen gekennzeich-
net hat. Denn darin vermag allein der Europäer sich und seine Gesellschaft zu entdek-
ken, in verfremdeter, phantastischer Form - als verkehrte Welt" (Kramer 1977: 7).
Kramer spricht hier an, daß - selbst wenn man von der Annahme ausgeht, daß dem
Menschen nichts Menschliches fremd ist - es doch gerade die menschlichen Sehn-
süchte, aber auch Ängste sind, die ein vollständiges Verstehen einer fremden Kultur
Zumindest sehr erschweren. Daß gerade der Antrieb, fremde Lebenszusammenhänge
kennenzulernen, diesen Erkenntnisprozeß verhindern kann.
Eine jede Gesellschaft ist in irgendeiner Form arbeitsteilig organisiert, und jedem
Mitglied fällt zumindest eine Rolle zu, die in der Gruppe konzeptualisiert ist. Der For-
scher wird durch das Zuschreiben einer dieser Rollen integriert. Form und Inhalt die-
ses Integrationsprozesses sind somit für diese Gesellschaft charakteristisch und geben
Einblick in die kulturell bestimmten Strukturen dieser Gesellschaft. Der Forscher
kann versuchen, den Integrationsprozeß je nach eigenem Interesse aktiv zu steuern.
Immer aber hat der Umfang bzw. die Art der Integration Konsequenzen für die Ar-
beit. In Kulturen, in denen die Dualität der Geschlechter in der gesellschaftlichen Or-
ganisation stark ausgeprägt ist, kommt bei der Einordnung der Person des Forschers
seinem Geschlecht eine große Bedeutung zu. Die Wahrnehmung der Bedeutung dieser
Integration war in der Vergangenheit sehr erschwert, da es in der europäisch-abend-
'ändischen Wissenschaft Tradition hat, daß der männliche Erfahrungsbereich, die
männliche Weltsicht, die männliche Interpretation von Mensch und Natur als das Maß
a'ler Dinge gesehen wird.
In der historischen Wissenschaft - und das gilt auch für die Ethnologie - wird, wie
Gisela Bock (1983: 25-26) schreibt „...Geschichte von Männern als Allgemeinge-
schichte definiert... Männer und Frauen wurden auch nicht als dichotomisiert wahr-
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genommen, sondern die Wahrnehmung von Frauen wurde der Wahrnehmung von
Männern subsumiert. ,Geschlechtsspezifisch' wurde deshalb in der Regel ein Verfah-
ren genannt, das auch Frauen, nicht aber eins, das nur Männer behandelte... Frauen in
der Geschichte sichtbar machen heißt, auch Männer in der Geschichte sichtbar ma-
chen."3 Daß die Gesellschaft zugleich männlich und weiblich funktioniert und beide
Aspekte einander bedingen, ist ein Gemeinplatz. Und doch wurde auch in der Ethno-
logie die grundlegende Bedeutung dieses Faktums für die gesellschaftliche Organisa-
tion in der Analyse einer Kultur oft übersehen.
Wenn wir also davon ausgehen, daß Feldforscher früherer Generationen sich der
Bedeutung ihres (meist männlichen) Geschlechts im Prozeß der Forschung nicht be-
wußt waren und sie die Geschlechterdualität, wie sie von der untersuchten Kultur aus-
gedrückt wurde, auch nicht im praktischen Forschungsprozeß in Betracht gezogen
haben, dann müssen wir daraus schließen, daß viele Forschungsergebnisse ein verzerr-
tes Bild ergeben, ein Bild, das außerdem erhebliche Lücken aufzuweisen hat, denn um
die Struktur einer Gesellschaft zeichnen zu können, schien es ausreichend zu sein, sich
auf verbale Informationen von Männern zu stützen, die dann durch mehr oder weni-
ger zufällige Beobachtungen abgesichert wurden und umgekehrt. Frauen wurden in
dieses Modell durchaus mit einbezogen, aber indirekt über Informationen von Män-
nern (Ardener 1972: 138). Das lange Zeit für die Mittelmeerkulturen als dominieren-
der Ausdruck der Kultur angesehene Modell von „Ehre und Schande" (Campbell
1964,1965; Peristiany 1965; Blok 1981, vgl. auch Geertz 1973) ist-so wie es in der Li-
teratur zu finden ist - ein solches Modell der Männerwelt.
Wie schwierig aber offenbar ein positives Selbstbild als „weibliche" Wissenschaft-
lerin sein kann, machte Margaret Mead indirekt deutlich. Mead meint, eine „weiblich
orientierte" Forscherin sei in der Regel auch Ehefrau und Mutter. Diese wäre in der
fremden Kultur zwar an Frauen und Kindern interessiert, aber letztendlich sei sie
nicht wirklich Wissenschaftlerin, sondern primär Ehefrau eines forschenden Ethnolo-
gen zum Beispiel und Mutter seiner Kinder. Auf der anderen Seite gäbe es dann dieje-
nige Forscherin, die in erster Linie für ihre Arbeit lebt, die die gängige, von Männern
aufgestellte Wissenschaft vertritt, an Frauen und Kindern jedoch nicht wirklich inter-
essiert sei (Mead 1970: 323).
Im folgenden geht es darum aufzuzeigen, daß die in unserer Gesellschaft auseinan-
derfallenden Rollen der Frau als Mutter, Ehefrau und Forscherin im Prozeß der Feld-
forschung durchaus zusammengebracht werden können. Indem ich mich als Frau (ge-
3 Georges Devereux sah sich schon in den sechziger Jahren veranlaßt, auf eine simple Tatsache nachdrück-
lich hinzuweisen: „Tatsächlich kann man nicht menschlich sein, ehe man männlich oder weiblich ist; Männ-
lichkeit und Weiblichkeit sind inhärente Konstituentien des Begriffs vom menschlichen Wesen ebenso wie
seine Realität. Es ist überdies wahrscheinlich sogar operational unzulässig zu sagen, daß der Begriff
,menschlich' allgemeiner oder umfassender sei als der Begriff,männlich' oder,weiblich'... Es ist unmöglich,
menschlich zu sein, ohne gleichzeitig auch geschlechtlich zu sein : männlich oder weiblich. Männlichkeit wie
Weiblichkeit setzen implizit auch die Existenz eines anderen Geschlechts voraus und stellen signifikante Re-
aktionen auf dessen Existenz dar" (Devereux 1976: 213).
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
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nauer: als Ehefrau und Mutter), die forscht, in die gesellschaftlichen Zusammenhänge
integriere und integrieren lasse und über diesen Status reflektiere, kann ich mich selbst
als Medium (im Sinne Devereux' 1967: 40—54) in die Forschung einbringen. Darüber
hinaus soll gezeigt werden, daß durch die Integration als Frau die grundlegenden, das
heißt für diese Kultur charakteristischen gesellschaftlichen Strukturen adäquater als
bisher erforscht und dargestellt werden können (vgl. Dubisch 1986). Auch wenn die
vorwiegend im weiblichen Lebensbereich einer Gesellschaft liegende Forschung be-
deutet, einen Schwerpunkt der Arbeit auf das Beobachten und Mitmachen zu legen
(siehe Hauser-Schäublin 1980), so heißt dies aber keinesfalls, auf andere wissenschaft-
liche Instrumentarien wie zum Beispiel die Befragung - in welcher Form auch immer -
zu verzichten, ebensowenig wie die Männer als Informanten und Gesprächspartner
ausgeschlossen werden.
Bevor ich mich dem konkreten Integrations- und Forschungsprozeß in einem be-
stimmten griechischen Dorf zuwende, sollen zunächst einige wesentliche Merkmale
von relativ statischen kohäsiven Lokalgemeinschaften in Südost-Europa zusammen-
getragen werden:
Man geht davon aus, daß die Dorfgemeinschaft in der Regel für die einzelnen Mit-
glieder überschaubar ist. Es existiert ein „Wir-Bewußtsein" in bezug auf das Terrain
des Dorfes (unser Dorf, unsere Felder usw.) und in bezug auf das soziale Gebilde Dorf
(unser Dorf ist konservativ, die im Nachbardorf, das sind Sozialisten!) (Vgl. Geertz
1983: 96-132).
In dieser räumlichen und sozialen Einheit haben die Menschen durch große Nähe
und ein enges Beziehungsgeflecht eine relativ intime Kenntnis voneinander. Die räum-
liche und persönliche Nähe machen eine Etikette im Umgang miteinander nötig.
Durch dieses ritualisierte Verhalten wird für die Personen selbst, aber auch für die üb-
rigen Mitglieder der Gemeinschaft, ein Status in der dörflichen Gesellschaft erkennt-
lich, ein Status, der dem einzelnen je nach seiner Geburt, seiner Position im Lebens-
zyklus und den kurzfristig wechselnden sozialen Zusammenhängen zugeschrieben
wird und der Identität und das Gefühl des sozialen Eingebettetseins hervorbringt
(Gluckman 1962: 32ff.; Douglas 1974, s. a. Geertz 1983: 184-191). Die voneinander
getrennte Männer- und Frauenwelt ist ebenfalls Teil dieser traditionellen Ordnung,
Welche die gelebte gesellschaftliche Moral dieser Gemeinschaft ausdrückt.4 Und diese
gemeinsame Moral wiederum sorgt für die Einhaltung der vorgeschriebenen Verhal-
tensweisen. Der einzelne ist somit eingebettet in eine Ordnung, die einerseits von der
Auseinandersetzung mit der Natur, das heißt materiell bestimmt wird, und anderer-
4 Mary Dougl as beschreibt Gesellschaften, die einen sehr stark ausgeprägten symbolischen Kommunika-
^onszusammenhang haben und deren gesellschaftliches Ordnungssystem von Ritualen bestimmt wird, in-
tern sie Dürkheims Äußerungen zitiert von der Gleichsetzbarkeit der Gesellschaft mit Gott und Gottes mit
der Gesellschaft, von der Gleichsetzung von moralischem Unrecht und von Sünde, von Vergehen gegen die
Religion und Vergehen gegen die Gesellschaft. In solch einer Gesellschaft hat „die Sünde entscheidend we-
niger Gewicht als die Schande, es zählt vor allem die Ehre des einzelnen" (Douglas 1974: 97; vgl. duBoulay
1986, Dubisch 1986, La Fontaine 1972, XVII).
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seits von den notwendigen Belangen der sozialen Einheit der Dorfgemeinschaft
(Gluckman 1962).
Gemeinsam von der Dorfgemeinschaft durchgeführte Zeremonien und Rituale be-
kräftigen und erneuern die Ordnung, mal mehr in bezug auf religiöse Zusammen-
hänge (im Ritual), mal mehr in bezug auf die gesellschaftliche Ordnung (in der Zere-
monie) (La Fontaine 1972: XVIII). Beide werden zu markanten Zeitpunkten im Leben
des einzelnen und des gesellschaftlichen Lebens durchgeführt und haben in der Regel
einen stark integrativen Charakter. Sie können strukturelle Konflikte in der Gemein-
schaft verhüllen, können sie unter Umständen aber auch ausgleichen und ein Gleich-
gewicht verschiedener feindlicher Kräfte wiederherstellen. Denn auch feindlichen Be-
ziehungen ist in der dörflichen Enge nicht auszuweichen (vgl. Strecker 1968).
Alle diese kulturellen Phänomene bilden den Hintergrund, wenn wir uns nun dem
Integrations- und Erkenntnisprozeß in einem konkreten griechischen Dorf zuwen-
den.
3 Integrationsprozeß der Forscherin in unterschiedliche soziale Räume
Das Dorf Kalithea
Kalithea ist ein Bergdorf, auf einer griechischen ost-ägäischen Insel gelegen: Ein Berg-
dorf, dessen Ressourcen seine Bewohner von der Schaf- und Ziegenzucht und von der
Landwirtschaft (vor allem Oliven) fast nicht ernähren können, weshalb seit Genera-
tionen schon die Männer, viele mit ihren Familien, manchmal auch die Frauen alleine,
ins Ausland arbeiten gehen, bis zum Kleinasiatischen Krieg von 1920/21 vorwiegend
in die Türkei. Seit Generationen kehren sie aber auch in dieses Dorf zurück, bauen ihre
Häuser dort und verbessern mit dem Geld aus dem Ausland den kargen Lebensunter-
halt. Die Kinder der Arbeitsmigranten erleben das Dorf als ihre Heimat auch dadurch,
daß sich die Eltern nach der Rückkehr in der Regel den traditionellen gesellschaft-
lichen Lebenszusammenhängen wieder ein- bzw. unterordnen. Diese traditionellen
Lebenszusammenhänge der Dorfgemeinschaft sind immer noch so lebendig und prä-
gen das Leben in einem solchen Maße, daß die Auswirkungen der temporären Arbeits-
migration und der „peripheren" sozioökonomischen Entwicklung im Land selbst in
die Lebenszusammenhänge des Dorfes integriert werden können und bis jetzt nicht
dazu führten, sie zu zerstören (Krasberg 1989). Ein Kulturwandel findet natürlich
statt, aber es sind Veränderungsprozesse, die von den Individuen überschaut werden
können.
Als ich mich entschloß, in diesem Dorf das Haus zu mieten, welches mir angeboten
worden war, tat ich es vor allem deshalb, weil die unmittelbaren Nachbarinnen mich
offen und freundlich bei meinen Besuchen aufgenommen hatten. In den folgenden
Jahren verbrachte ich dann jeweils ein paar Monate im Dorf, um meine Feldforschun-
gen fortzusetzen.
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Das Haus hat mir Nafsika vermietet. Es war ihr Elternhaus, welches sie als Mitgift
(proika) bekommen hatte und das ursprünglich ihre neugegründete Familie beherber-
gen sollte (vgl. Friedl 1967, Krasberg 1980: 48ff., Pavlidis und Hesser 1986). Da sie
aber mit ihrem Mann zusammen nach Deutschland gegangen war und dort genug
Geld beiseite legen konnte, um ein neues Haus zu bauen, hatte sie es nie benutzt. Es
stand also jahrelang leer, bevor sie es mir vermietete. Mein Nachbar gegenüber, An-
dreas, ist der Bruder von Nafsikas Mutter, für die dieses Haus ursprünglich gekauft
worden war, um es ihr als Mitgift mit in die Ehe zu geben. Andreas, sein Vater und
seine Brüder hatten hart arbeiten müssen, um dieses Haus und zwei andere, für die bei-
den anderen Schwestern, kaufen zu können. Einmal, weil die Tradition es so vor-
schreibt, daß die Frauen Haus und Hausstand mit in die Ehe bringen, zum anderen
hatte eine neugegründete Familie ohne diese Mitgift auch tatsächlich keinen Ort zum
Leben gehabt. Andreas hat in diesem Haus also nie gelebt, er zog in das Haus seiner
Frau, gegenüber dem seiner Schwester, aber es ist trotzdem Teil seines Lebens. Inso-
fern ist er an mir, der neuen Hausbewohnerin, besonders interessiert. Diese von An-
fang an engere Verbindung drückt sich auch darin aus, daß Andreas und seine Frau Le-
monia sich mir als Onkel (theios) und Tante (theia) vorstellten, während alle anderen
Nachbarn ihren Vornamen nannten. Zunächst war ich der Meinung, sie hätten diese
Ansprache gewählt, weil Jüngere Ältere meist mit Onkel und Tante anreden. Anfangs
stand diese Bedeutung sicher auch im Vordergrund. Aber im Laufe der Zeit entwik-
kelte sich dann ein Pseudo-Verwandtschaftsverhältnis.
Die Nachbarschaft, zu der ich durch das Haus „gehöre", ist eine derjenigen mit
den wenigsten Konflikten im Dorf. Meine drei unmittelbaren Nachbarinnen sind Le-
monia, die älteste mit Mitte 60, Mirsini, Mitte 40, und Litsa, um die 50 Jahre alt. Mir-
sini ist diejenige unter den dreien, die sich am meisten außerhalb ihres Hauses, das
heißt „im Dorf" aufhält, Neuigkeiten austauscht und Meinungen zusammenträgt. Sie
war es auch, die zum Bürgermeister sich beschweren ging, als der Wasserrohrbruch in
unserer Ecke des Dorfes nicht angemessen schnell repariert wurde. Litsa und Lemonia
dagegen verbringen die Tage mehr oder weniger im Haus. Lemonia und Andreas sind
ein Ehepaar, das den Haushalt sehr partnerschaftlich führt. So kommt es zum Beispiel
durchaus vor, daß Lemonia des Nachmittags gemütlich im Schatten des Pflaumenbau-
mes, der in ihrem Hof steht, eine Tasse Kaffee trinkt, während ihr Mann in einer ande-
rn Ecke des Hofes, mitten in den in der Sonne getrockneten Bohnen auf seinen Fersen
hockt und sie geduldig balstert. Litsa hat noch zwei ältere Brüder, die mit ihren Fami-
hen in Athen leben, aber im Dorf Land und jeweils ein Haus besitzen und jeden Som-
mer ins Dorf kommen. Litsa verwaltet diese Häuser und ist nicht nur symbolisch das
Zentrum der Familie, was besonders deutlich wird, wenn im Sommer sich die ganze
hamilie um sie herum, das heißt in ihrem Hof versammelt.
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Nachbarschaft
Meine ersten Eindrücke vermittelten mir das Dorf als eine in sich geschlossene Gesell-
schaft. Es brauchte zwei Sommer, bis die Männer auf der plateia (Dorfplatz) mich
grüßten, während die Nachbarinnen mich sofort freundlich aufnahmen. Sie zeigten
mir damit schon meinen Platz im Dorf: nämlich in der Frauenwelt, die sich mir zu-
nächst diffus als „mein" Haus und die Nachbarschaft darstellten. Und dort hielt ich
mich auch am meisten auf. Sehr schnell wurde mir deutlich, daß ich nicht nur ein Haus
erworben hatte, sondern zugleich auch einen Platz in der Nachbarschaft, und meine
Nachbarinnen von mir erwarteten, daß ich diesen Platz auch ausfüllte.
Räumlich und sozial Teil der Nachbarschaft zu sein, bedeutet vor allem, nicht iso-
liert zu leben. Weil die Wohnhöfe (avlia) und Häuser aneinandergrenzen und auch die
Gasse Kommunikationsraum ist, bietet das Haus wenig Möglichkeiten, sich zurück-
zuziehen. Es ist kein privates Refugium. Akustisch kann sich im Sommer, wenn sich
das Leben außerhalb der Häuser in den Höfen abspielt, keiner dem anderen entziehen:
zwar kann man in der Unterhaltung flüstern, aber das Schrappen des Besens, wenn der
Hof gefegt wird, oder das Plätschern des Wassers beim Wäschewaschen und andere
Haushaltsaktivitäten sind nicht zu überhören. Das Essen verbreitet beim Kochen sei-
nen Duft über die Nachbarschaft, und jede kann sehen, wenn die andere über die Au-
ßentreppe in die oberen Räume des Hauses (meist Schlafräume) geht, um dort zum
Beispiel sauberzumachen, oder auch, wann die Familie morgens aufsteht.
Ein Tagesrhythmus gegen den Rhythmus der Nachbarschaft ist nur sehr schwer
durchzuhalten. Wenn nicht gerade dringende Hilfe der Frauen in der Landwirtschaft
erforderlich ist, wird des Morgens gefegt, geputzt, Blumen gegossen, gewaschen, ein-
gekauft; die „fliegenden Händler" kommen, um 11 Uhr hat der Bäcker das Brot ge-
backen, es wird gekocht. Alle Höfe sind offen, kurze Informationen werden ge-
tauscht, Haushaltsgeräte geborgt. Jede der Frauen arbeitet für ihren Haushalt, aber im
Grunde genommen arbeiten sie gemeinsam. Zwischen 2 und 3 Uhr wird zu Mittag ge-
gessen; was bis dahin nicht erledigt ist, bleibt liegen bis zum nächsten Tag. Danach ist
Mittagsruhe. Ab halb sechs kommen die Frauen reihum in den einzelnen Wohnhöfen
zusammen und machen textile Handarbeiten, drehen Nudeln, formen Trachana (ein
Teig aus geschrotetem Getreide und saurer Ziegenmilch) und ähnliches, immer ab-
wechselnd nacheinander für die einzelnen Haushalte. So zwischen 10 und 11 Uhr wird
das Abendessen eingenommen, davor und danach sitzen die Nachbarinnen - oft auch
mit den Männern - auf der Gasse zusammen (Siehe Hirschon 1981, 1985).
Die Anteilnahme an meiner Gestaltung des Hauses war sehr intensiv. Die Farb-
wahl der Lacke an Fenstern und Läden wurde diskutiert; als ich endlich Gardinen an
den Fenstern hatte, schienen sie erleichtert zu sein, denn ein Haus ohne Gardinen ist
ärmlich (vgl. Pavlidis/Hesser 1986: 72 f.). Als ich mein „Wohnzimmer" kalkte, meinte
Lemonia, das wäre aber auch nötig gewesen, sie kalke ihr Zimmer jedes Jahr. Ihnen
war danach gelegen, eine „normale" Nachbarin aus mir zu machen. „Normal" bedeu-
tete, daß ich nicht nur für die Ernährung, das Kochen, Waschen und Putzen zuständig
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war, sondern für das ganze Haus und den Haushalt als solchen. Dabei war das Ausse-
hen des Hauses sozusagen meine „Visitenkarte", daran konnten alle anderen meine
Qualitäten als Hausfrau ablesen.
Der Haushalt im Dorf ist die gesellschaftliche Manifestation der Familie. Hier ver-
binden sich die Lebensräume von Mann und Frau, und die gegenseitige Abhängigkeit
der Geschlechter mit ihren jeweils spezifischen Funktionen wird hier deutlich. Das
Ideal der guten Hausfrau ist für viele Frauen auch ein persönliches Ideal, welchem sie
nachstreben. Wenn eine Frau ihre Arbeit gut macht, ist ihr die Anerkennung von ihren
Nachbarinnen und Familienangehörigen ebenso wie auch von den Männern und der
Dorföffentlichkeit sicher. Sie kann durch ihre Fähigkeiten auch das Ansehen ihres
Mannes im Dorf festigen, sein materieller Beitrag für Haus und Haushalt unterstützt
umgekehrt ihr Ansehen. Beide können so eine im Dorf geachtete Familie sein.5
Diesen Status einer Hausfrau konnte ich natürlich nicht erlangen, schon deshalb
nicht, weil die materielle Grundlage meines Lebens außerhalb des Dorfes lag und nicht
durch meine Hausfrauentätigkeit im Dorf gesichert wurde. Trotzdem hatte ich aber
den sozusagen nach außen gerichteten Teil der Verpflichtungen als Hausfrau zu erfül-
len, nämlich die Interaktion mit den Haushalten der Nachbarschaft. Die Binnenstruk-
tur der Nachbarschaft und meine „Rolle" oder besser: meine nachbarschaftlichen
Pflichten wurden mir erstmals an einem Konflikt deutlich, den ich unter den Nachba-
rinnen auslöste. Ich habe mir seinen Verlauf und unsere diesbezüglichen Gespräche
notiert:
Beim Einrichten meiner Küche ist ein großes Stück von einer Kunstmarmorplatte
übriggeblieben. Litsas Bruder Nikos kommt in den Hof und fragt mich, ob vielleicht
Litsa das Stück haben könne, sie könne es in ihrer Küche nämlich noch gut gebrau-
chen. Ich sage ihm, daß ich das Stück nicht mehr brauche, und, wenn Litsa es wolle,
könne sie es haben. Was das Stück denn kosten solle? Ich antworte, daß ich es letztes
Jahr gekauft habe und nicht mehr wisse, was die Platte gekostet habe. Er solle die
blatte mitnehmen, ich würde sie Litsa schenken. Er geht zu Litsa, um zu berichten.
Minuten danach kommt er wieder und trägt die Platte in Litsas Hof. Nach einer Weile
kommt Lemonia und stellt fest: „Er hat ja die Platte mitgenommen!" Ich erkläre: „Ja,
das ist in Ordnung. Litsa möchte sie haben, und ich habe sie ihr geschenkt. Ich brauche
Sle nicht mehr." Lemonia macht ein ärgerliches Gesicht: „Ich hätte sie auch gebrau-
chen können, meine Platte am Spülbecken ist kaputt. Sie hat einen Riß. Wenn ich ge-
wußt hätte, daß du das Stück nicht mehr brauchst und verschenkst..." Ich erkläre
niein Verhalten weiter: „Das tut mir leid! Aber Litsa war schneller. Du hast ja nichts
gesagt, wie konnte ich da wissen, daß du die Platte auch brauchen kannst!" Lemonia
geht wieder, werkelt in ihrem Hof herum. Danach kommt Litsa noch einmal, bringt
mir Gliko (kandierte Früchte). Sie freut sich. Ob ich auch wirklich kein Geld wolle?
baiamone und Stanton definieren einen ländlich-griechischen Haushalt (nikokyrio) als „familienorientier-
tes Wirtschaftsunternehmen mit dem Ziel der Selbstversorgung", ein Unternehmen, an dem Mann und Frau
a'heitsteilig und gleichberechtigt beteiligt sind (1986: 97f.).
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Später kommt Nikos noch einmal mit einem Teller voll gefüllter Auberginen und
Ouzo. „Also, Litsa will die Platte nur geliehen haben, wenn du sie wieder brauchst,
bringt sie sie zurück!" richtet er mir aus. Am nächsten Morgen bringt er die Platte zu-
rück. Er stellt sie vorsichtig auf der Steinbank ab mit der Bemerkung: „Eh, die Platte
ist zu klein. Litsa will sie nicht!" Ich gehe zu Lemonia: „Litsa hat die Platte zurückge-
bracht. Sie ist ihr zu klein." Lemonia staunt: „Was? Sie wußte doch, wie groß sie ist!
Komm, wir gehen mal hin!" An Litsas Hoftor steht Nikos. Lemonia spricht ihn an:
„Warum will Litsa denn die Platte nicht?" „Eh, sie ist zu klein." Mirsini kommt vor-
sichtshalber aus ihrem Hof. „Sie paßt eben nicht in die Ecke am Spülbecken!" Er
wechselt das Thema, fragt Mirsini nach der Höhe ihrer Wasserrechnung. Lemonia
geht zurück in ihren Hof. Am Nachmittag fragt sie mich, ob ich Litsa was gesagt habe.
„Nein, kein Wort, ich habe sie gar nicht mehr gesehen. Aber ich finde, du solltest die
Platte jetzt nehmen, du brauchst sie doch!" „Laß sie stehen, ich hole sie mir irgend-
wann später."
Lemonia war die Alteste der Nachbarschaft, und sie hatte von allen das wenigste
Geld, während Litsa sich kurz vorher ein Bad und eine Käseküche in ihrem Hof hatte
bauen lassen. Wenn jemand ein „Recht" auf die Platte hatte, dann Lemonia. Aber si-
cher wußte auch Litsa nicht, daß Lemonia die Platte wollte, und wenn ich Geld für die
Platte verlangt hätte, hätte Litsa sie behalten und Lemonia sie nicht gewollt. Woher
Litsa erfahren hatte, daß Lemonia die Platte wollte, weiß ich nicht. Jedenfalls hat sie
sich lieber zurückgezogen, die Sache ins Lot gebracht, ohne daß Lemonia darauf po-
chen mußte, daß sie die älteste und am wenigsten vermögende Frau der Nachbarschaft
ist und noch dazu ihr Verhältnis zu mir enger ist als zwischen Litsa und mir. Der Feh-
ler, den ich bei dieser nachbarschaftlichen Interaktion vom Standpunkt der Griechin-
nen gemacht hatte, war folgender: ein Gegenstand wie ein großes Stück Kunstmar-
morplatte hat Wert, und so etwas läßt eine Hausfrau nicht irgendwo herumstehen.
Das heißt, ich hatte die Pflicht, die Platte weiterzugeben, und die nächste Person wäre
Lemonia gewesen, weil sie mit mir am engsten befreundet war, nicht nur meine Nach-
barin. Durch mein Nicht-Reagieren - ich hätte Lemonia auch noch fragen können,
nachdem Litsa ihre Wünsche angemeldet hatte - war ich der Anlaß für die etwas „un-
würdige Rangelei" unter den Frauen, die beiden sehr unangenehm war. Trotz allem, es
gab zwar eine Mißstimmung, aber keinen offenen Streit. Die Angelegenheit wurde so
dezent wie möglich bereinigt. Übrigens hat auch Lemonia die Platte nicht genommen,
sie liegt noch immer in meinem Keller. Nun ist sie aus sozialen Gründen nicht mehr
brauchbar.
In dieser Situation wurde außerdem deutlich, wie die Frauen unter sich die nach-
barschaftlichen Belange regeln und die Männer - in diesem Falle Litsas Bruder - die
Ausführenden für die Frauen sind. Die Männer handeln ihrer Rolle gemäß von der Fa-
milie aus gesehen nach außen - in der Öffentlichkeit -, aber im Kern tun sie, wie hier,
oft das, was die Frauen planen.
Obwohl ich wußte, daß die Zusammensetzung der Nachbarschaft zufällig ist,
wirkten die Frauen der Nachbarschaft lange Zeit auf mich, als wären sie in erster Linie
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Freundinnen, die zusammengezogen sind. Ich notierte Szenen wie die folgende, die
diesen Eindruck der engen Freundschaft erweckten:
Abends auf der Gasse zur Zeit des Nachtessens, so um zehn Uhr herum, sitzt Mir-
sini auf einem der Steine, welche die Männer zum Aufsitzen auf die Mulis benutzten.
Lemonia und ihr Mann Andreas sind zum Essen ins Haus gegangen. Nach einer Weile
hört man jemanden aus dem Haus in den Hof kommen, und dann sagt Lemonia halb-
laut über die Hofmauer hinweg, während sie sich offensichtlich am Wasserhahn im
Hof die Hände wäscht: „Mirsini, die Wassermelonen, die wir gestern beim Georgos
(dem fliegenden Händler) gekauft haben, sind sehr süß!" Mirsini antwortet halblaut:
„Ja, uns haben sie auch gut geschmeckt! Und sie waren wirklich billig." Dann kommt
Lemonia auf die Gasse, setzt sich zu Mirsini, und sie unterhalten sich wie jeden Abend.
Später kommt auch Andreas dazu, nachdem Lemonia ihn gerufen hat.
Was mich verblüffte, war die „Intimität" zwischen den Frauen, Lemonia ißt selbst-
verständlich mit ihrem Mann zu Abend, aber die Genugtuung über ein geglücktes
Abendessen, und seien es nur die süßen Melonen, teilt sie mit der Nachbarin.
Ein wesentlicher Bestandteil der sozialen nachbarschaftlichen Verhaltensweisen
aber sind die — in gewissen Weise — vorstrukturierten Interaktionen, die durch ihre
Symbolisierung soziale nachbarschaftliche Zusammenhänge transparent machen.
Diese Situationen zu erkennen und die mir zugeschriebene Rolle auszuführen, war ein
weiteres Moment von Erkenntnis und Integration. Ich habe mir auch dazu Beispiele
notiert, deren eines ich hier aufführe:
Lemonias Sohn, Schwiegertochter und die beiden Enkelinnen kommen morgens
mit dem Auto nach 16 Stunden Uberfahrt auf der Poseidon aus Athen an. Die Kinder
weinen, Petros hat rotumränderte Augen vor Müdigkeit, die Kleider aller sind ver-
drückt von der Nacht. Mein erster Impuls ist, den Armen, übermüdet von der Reise,
erstmal ihre Ruhe zu gönnen. Mein zweiter Impuls entspringt schon einer Erfahrung
im nachbarschaftlichen Umgang und bringt mich hinein in die Traube der Nachbarn
Zum Begrüßen. Nachdem das Gepäck von allen gemeinsam ausgeladen worden ist,
setzt man sich noch ein Weilchen in den Hof, um zu plaudern. Und in Lemonias Ge-
sicht lese ich: „Na, endlich setzt du dich auch mal dazu und bist nicht so kalt und zu-
rückhaltend!"
Das war eine Situation, in der ich begriff, daß ich dazugehörte und daß auch meine
Anwesenheit als Nachbarin dazu beitrug, den lange abwesend gewesenen Mitgliedern
der Nachbarschaft durch bestimmte alltägliche, aber ritualisierte Gesten ihren Platz
wieder einzuräumen, das heißt der Nachbarschaft und auch ihnen selbst wieder er-
kennbar zu machen, daß sie auch für mich dazugehörten.
Familien
Meine Nachbarinnen waren freundlich zu mir und offen. Dabei zeigten sie aber
gleichzeitig eine Distanziertheit, die mir erst auffiel, als ich sie alle schon näher kannte
100
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
und sich das soziale Gebilde „Nachbarschaft" differenziert hatte. So bedurfte es eines
„Aha"-Erlebnisses, das ich erkannte, daß die Familie - denn jede meiner Nachbarin-
nen hatte ja auch einen Ehemann und Kinder - eine eigene Domäne mit spezifischen
Verhaltensweisen bildete, also keineswegs identisch war mit „Nachbarschaft". Die
spezifische Art, in der die Häuser, das heißt die Wohnhöfe, „öffentlich" zu bestimm-
ten Tageszeiten von jeder Frau betretbar waren, und die soziale Nähe im Umgang mit-
einander ließen mich vergessen, daß es ja auch noch die Familie gab. Dieses Erlebnis
habe ich wie folgt verzeichnet:
Litsas Sohn soll heiraten, eine Achtzehnjährige von der Nachbarinsel. Wochen-
lang wird an den Hochzeitsvorbereitungen gearbeitet. Auch ich soll bei der Herstel-
lung der Speisen für das Fest mithelfen, werde nach meiner Meinung zu den Mustern
auf den Übergardinen gefragt, die Litsa für die neue Wohnung aussucht (eine Eigen-
tumswohnung in der Stadt, die neue Form der „proika" - Mitgift). Auch die abendli-
chen Gespräche auf der Steinbank in der Gasse drehen sich immer wieder um die
Hochzeit. Jedes Detail wird eingehend erörtert. Schließlich begreife ich, daß diese
Hochzeit nicht die Hochzeit von Litsas Sohn und seiner Freundin ist, sondern Litsas
Hochzeit und die der Nachbarschaft und Verwandtschaft. Drei Tage nach der Hoch-
zeit erfahre ich dann zufällig, daß Litsas Schwiegertochter eine Fehlgeburt hat. Lind
daran wird plötzlich deutlich, daß es noch andere soziale Dimensionen als die der
Nachbarschaft gibt. Hier nämlich fängt der private Bereich der Familie an, der nie-
manden etwas angeht, über den möglichst Stillschweigen bewahrt wird, auch wenn die
Nachbarschaft doch weiß, daß Litsas Schwiegertochter vor der Hochzeit schon
schwanger war. Es wird als Tabuthema bei nachbarschaftlichen Gesprächen behan-
delt. Die Gerüchte, das Getuschel im Kreis der Familie über Affären wie diese sind
dadurch freilich nicht aus der Welt zu schaffen. Gerade weil das offene Gespräch in der
Nachbarschaft darüber im Interesse spannungsfreier Nachbarschaftsbeziehungen
vermieden wird, ist Klatsch weit verbreitet. Als Nafsika erfuhr, daß ihre Schwieger-
tochter vor der Hochzeit schwanger geworden war, hat sie es - wie ich später hörte -
ihrem Mann draußen in den Bergen bei den Schafen erzählt, damit die Nachbarschaft
seine Empörung nicht miterleben konnte und die familiale Integrität bewahrt blieb.
Voreheliche Schwangerschaften werden nicht (mehr) (siehe Campbell, 1964: 159) öf-
fentlich sanktioniert, sie sind „nur" der Grund zu heiraten. Heute kann also eine Dorf-
hochzeit, bei der eine große Zahl der Dorfbewohner geladen ist und die nach den tra-
ditionellen Riten und Zeremonien durchgeführt wird, den moralischen Fehltritt vor
der Ehe in den Augen der Dorfgemeinschaft wieder ausgleichen (Krasberg 1989).
Ein weiteres Erlebnis, bei dem ich offensichtlich an die soziale Grenze der Familie
stieß, war das folgende: Es ist bei einer Verlobungsfeier, zu der ich eingeladen worden
bin und die nach der offiziellen Verlobungszeremonie (die zunächst getrennt jeweils
im Haus der zukünftigen Ehepartner stattfindet) auf dem Dorfplatz, der Plateia, gefei-
ert wird. Als ich auf die Plateia komme, sind Tische und Stühle schon fast vollständig
besetzt. Schließlich entdecke ich Litsa, die mit ihrem Mann und ihren Brüdern mit Fa-
milie an einem Ende eines langen Tisches sitzt. Ich gehe hin, frage - mehr rhetorisch -,
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
101
ob ich mich dazusetzen könne. In der Annahme, daß sie bereitwillig etwas zusammen-
rücken, drehe ich schon meinen Kopf, um nach einem freien Stuhl Ausschau zu halten.
Aber dann traue ich meinen Ohren nicht, als ich von Litsas älterem Bruder höre
»Nein, du kannst dich nicht zu uns setzen!" Ich bin so verdutzt, daß ich mich auf einen
Stuhl am Nachbartisch fallen lasse, von dem gerade jemand aufgestanden ist. Ich über-
lege, ob ich sie in irgendeiner Form beleidigt habe, komme aber zu dem Schluß, daß sie
als Familie in der Dorföffentlichkeit auftreten, mich also nicht vor aller Augen in ihren
privaten Familienkreis aufnehmen. Hier fängt die Domäne der Familie an, in die ich
nicht gehöre.
Sehr eindringlich erlebte ich die Intimität der Familie noch in einer anderen Situa-
tion mit Litsa. Litsa kannte ich bis dahin als souveräne Hausfrau und tragendes Mit-
glied der Nachbarschaft, eine Frau, deren Kompetenz weder von den Frauen noch von
den Männern angezweifelt wurde und deren Ehemann Sokratis ohne weiteres ihre An-
weisungen akzeptierte. Eines Nachmittags aber, als ich überraschend in ihren Hof
kam, traf ich sie vor ihrem Mann kniend und ihm die Schuhe putzend, die er an den Fü-
ßen hatte, an. Ich war in eine familiale Situation geraten, die uns allen dreien etwas un-
angenehm war. Diese Situation ist sicher nicht als der Beweis zu sehen, daß Litsa ihrem
Mann stets untergeordnet ist. Denn die Unterordnung der Frau unter den Mann ist so-
zusagen eine „offizielle", eine Rollenfestschreibung für Auftritte in der (männlichen)
Öffentlichkeit. Es war an einem Sonntag, und Litsa wollte, da sie als Hausfrau für die
Sauberkeit ihres Mannes zuständig ist und seine sauberen Schuhe ihr gutes Ansehen
bestärken, daß er saubere Schuhe beim Gang ins Kafeneion anhatte. Der Einfachheit
halber putzte sie sie an seinen Füßen. Dieser Umgang miteinander war aber nicht für
die Augen der Nachbarschaft bestimmt und von daher peinlich.
Domänen der Frauen
Es war weniger die eigentliche Hausarbeit, die mir oft Schwierigkeiten bereitete, ob-
wohl das rationierte Wasser, der ständig durch alle Ritzen - und davon gibt es viele -
dringende Staub und die äußerst begrenzte Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen, den
Haushalt sehr arbeitsaufwendig werden ließen, sondern das Koordinieren des Tages-
ablaufs mit den anderen Haushalten, genauer: Einbeziehungen und Ausgrenzungen in
der Nachbarschaft zu lernen. So sind die Höfe zu bestimmten Tageszeiten offen zu-
gänglich, läßt man sich dann nicht blicken, ist man unhöflich. Klopft man aber zur fal-
schen Tageszeit an die Hoftür, kann es peinlich werden, wie das Erlebnis mit Litsa und
'hrem Mann zeigt. Die entsprechende Etikette dazu zu erlernen war Teil meines Inte-
g^tionsprozesses, und mir dies beizubringen war die Integrationsleistung meiner
Nachbarinnen.
Wenn ich zum Beispiel morgens aus meinem Schlafzimmer auf die Terrasse trat,
uni hinunter in die Küche zu gehen, konnte ich Lemonia und Mirsini in ihren Höfen
Sehen und sie mich, aber nie sagten sie mir in dieser Situation „Guten Morgen", denn
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
diese Situation gehört noch zur Domäne Familie. Erst wenn sie mich im Hof hörten,
streckten sie den Kopf zum Hoftor herein. In der warmen Jahreszeit sind die Höfe des
Morgens, wenn die Männer bei den Herden in den Bergen oder an ihren sonstigen Ar-
beitsplätzen sind, Wirtschaftsbereich der Frauen. Alle Haushalte der Nachbarschaft
haben kleine Küchenhäuser im Hof, die mit ihrem offenen Kamin und den verrußten
Decken aussehen wie Werkstätten. Auch der übrige Hof ist funktional nach verschie-
denen Arbeiten eingeteilt. In der einen Ecke trocknen Früchte in der Sonne, in der an-
deren wird Käse gemacht, in der dritten wird die Wäsche gekocht und gewaschen. Jede
Frau arbeitet in ihrem eigenen Wirtschaftsbereich, aber alle machen ihre Pausen zwi-
schendurch zusammen, und jeder der Höfe kann ohne Umstände betreten werden.
Zur Zeit des Mittagessens werden die Hoftore geschlossen, und der Hof wird eine Art
Pufferzone zwischen der Intimität des familialen Essens, das immer im Haus einge-
nommen wird, und der Öffentlichkeit der Gasse draußen. Die Mittagsruhe anschlie-
ßend, die Zeit der familialen Privatheit, breitet sich dann sozusagen auch noch auf die
Gasse hin aus, denn während dieser Zeit läuft niemand draußen herum, und wenn,
dann nur leise mit Rücksicht darauf, daß alle schlafen.
Der Spätnachmittag beginnt damit, daß die Frauen die Stühle in den Hof stellen,
dort einen Kaffee trinken und sich dann allmählich in einem der Höfe versammeln, um
textile Handarbeiten auszuführen oder zum Bearbeiten von Lebensmitteln, zum Bei-
spiel Drehen von Nudeln. Wenn sie so zusammenkommen, sind sie frisch frisiert,
ohne Schürze und tragen oft bessere Schuhe als am Morgen.
Die Frauen erwarteten von mir, daß ich mich dazusetzte, meine Näh-, Strick- und
Handarbeiten erledigte und meine Meinung zu den Geschehnissen des Tages beitrug
bzw. ihnen von Deutschland erzählte. Mirsini erklärte mir einmal, diese spätnachmit-
täglichen Frauenrunden seien das Kafeneion der Frauen. Und in der Tat, der Hof wird
zum Gastraum, es gibt Kaffee und Kekse und, so wie die Männer ihre speziellen Kafe-
neia haben, deren Kundschaft einen großen Teil ihres Netzwerks bildet (Sanders 1962:
211 ff.), so gibt es auch unter den Frauen Gruppen von Nachbarinnen, die sich regel-
mäßig in den Höfen treffen. Sich aus diesen Gruppen auszuschließen ist als ein Ver-
stoß gegen die nachbarschaftliche Etikette zu sehen.
Wenn es dann dunkel wird, ändert sich der soziale Raum der Nachbarschaft noch
einmal: Die Stühle werden auf die Gasse gestellt, und jeder Vorübergehende, ob Mann
oder Frau, kann sich zum Gespräch dazusetzen oder -stellen, und dann ist die Nach-
barschaft nicht mehr allein der Lebensbereich der Frauen, auch die Ehemänner sitzen
dann oft hier statt im Kafeneion.
Diese Abendstunden nutzte ich zum Lesen und Schreiben, aber nur allzuoft riefen
sie nach mir, um von mir unterhalten zu werden, über mein Leben in Deutschland
oder um meine politischen Ansichten zu erfahren, denn daß ich jemand war, die „dia-
vasei poli", das heißt viel las und schrieb, also „gebildet" war, machte mich als Ge-
sprächspartnerin um so spannender, und zwar sowohl für die Männer als auch für die
Frauen. Bei diesen abendlichen Gesprächen hatte aber auch ich die Gelegenheit, Fra-
gen zu stellen, über die Geschichte des Dorfes, ihre Ansichten zu Problemen oder Ta-
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
103
gesereignissen oder was immer mich gerade beschäftigte. Und sowohl Frauen wie
Männer berichteten. Mit den Männern konnte ich außerdem im Kafeneion diskutie-
ren, wenn ich wollte. Bei den Frauen war es schwieriger, ihnen außerhalb der Abend-
stunden Fragen zu stellen: am Vormittag hatten sie zu tun, dann konnte ich sie nur
über ihre aktuellen Arbeiten befragen, und am Spätnachmittag, in der Frauenrunde,
hatten sie ihre Themen, die sie diskutieren wollten.
Kafeneion ah Domäne der Männer
Das Kafeneion hat mehrere Funktionen. Zuallererst ist es der Aufenthaltsraum der
Männer, denn zu Hause gibt es außer dem Platz am Eßtisch und der Hälfte des Ehe-
bettes keinen für den Mann vorgesehenen Raum. So verbringen die Männer die Zeit, in
der sie nicht schlafen, arbeiten oder essen, im Kafeneion. Alte Männer verbringen fast
den ganzen Tag dort. Obwohl das Kafeneion an sich ein geselliger Ort ist, verbreitet es
oft eine Atmosphäre der Langeweile. Eine weitere wichtige Funktion ist die als Büro:
Geschäfte aller Art werden dort abgewickelt und Dorfpolitik betrieben. Darüber hin-
aus ist das Kafeneion aber auch der Ort, an dem Familienfeste gefeiert werden, wie
Hochzeiten und Verlobungen. Auch die Osternacht, die wichtigste Feier im Kirchen-
jahr, wird dort in der Familie gefeiert. Und schließlich ist das Kafeneion der Ort, an
dem Fremde mit dem Dorf in Berührung kommen.
Das Kafeneion ist zwar genuiner Bestandteil der Männerwelt, ist gleichzeitig aber
auch Integrationsinstanz zwischen Individuum bzw. Familie und Dorfgemeinschaft.
Meine erste Konfrontation mit dieser Männerwelt war peinlich, und Andreas war
der Leidtragende. Ich wußte damals noch nicht, daß ich als Frau einem Mann - auch
Wenn er ein Nachbar und bestens vertraut ist - in der Öffentlichkeit und besonders im
K-afeneion distanziert und zurückhaltend begegnen mußte. Ich habe mir darüber fol-
gendes notiert:
Ich sehe Andreas bei einem Gang durchs Dorf im Kafeneion sitzen. Die Wasserlei-
tung zu meinem Haus ist noch nicht verlegt. Bislang hat mir immer Andreas die „kou-
niara", die tönerne Wasserflasche, aufgefüllt. Da ich ihn nicht jedesmal mit dieser Ar-
beit behelligen will, frage ich ihn, wo in seinem Dorf er denn das Wasser zapft: „Der
niedrige Wasserhahn, gleich neben deinem Tor, hat der Trinkwasser?" Andreas starrt
mich an. Ich versuche im Kopf, die Frage anders zu formulieren, aber ehe ich noch ein-
mal ansetzen kann, poltert Andreas los, und gleichzeitig bricht die Männerrunde um
uns herum in schallendes Gelächter aus. Andreas ist empört und gekränkt: zum einen,
daß ich angenommen habe, das Wasser in seinem Hof könne schmutzig sein, und zum
anderen, daß ich das auch noch in aller Öffentlichkeit getan habe. „Wir haben überall
Jrn Dorf Trinkwasser!" klärt mich einer der anderen Männer auf. Ich trage diesen Zwi-
schenfall noch im Gedächtnis, als ich Andreas am nächsten Tag wieder im Kafeneion
Sehe. In der Gewißheit, nett zu ihm zu sein, frage ich ihn anteilnehmend, ob seine
Kopfschmerzen schon besser seien. Er hatte morgens darüber geklagt. An seiner eisi-
104
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
gen Miene, dem noch eisigeren „Danke" und dem verschämten Grinsen der Umsit-
zenden kann ich ablesen, daß auch dieses Gespräch nicht in die Öffentlichkeit gehört.
Ich hatte damals noch nicht begriffen, daß Andreas im Kafeneion eine andere Rolle
spielte als auf der Gasse vor unseren Häusern, daß die Domäne Kafeneion eine andere
war und damit andere Verhaltensweisen verlangte als diejenigen abends auf unserer
Gasse. Im Kafeneion war Andreas der offizielle Vertreter seiner Familie, ein Mann,
der autonom und stark ist, der auf Würde und Ehre achtet und stets Bereitschaft zeigt,
diese zu verteidigen (siehe Campbell 1964: 282ff.).
Teilnahme an der Strukturierung des Alltags durch außer alltäglich e Ereignisse
Als ich zum ersten Mal von Lemonias Familie zu einer Taufe in die Kirche eingeladen
wurde, sagte mir Lemonia zweimal - ganz deutlich ausgesprochen -, ich müßte aber
ein „poly kali forema", ein sehr gutes Kleid, anziehen. Ich zog das beste an, das ich
hatte, aber es erreichte den Standard im Dorf nicht, außerdem fehlte der Gold-
schmuck. Aber ich zeigte Bemühen. Die nächsten Jahre reiste ich dann mit besonderer
Festkleidung ins Dorf.
Die Leute im Dorf kleiden sich nicht ausschließlich nach praktischen Erwägungen
oder persönlichem Stil (Friedl 1970: 213), sondern den gesellschaftlichen Anlässen ge-
mäß. In der Dorfgemeinschaft hat auch die Kleidung Symbolfunktion.6 Sie hat Anteil
an der Strukturierung des Lebens in Alltag und Feiertag, so wie es die Kirchen- und
Familienfeste und die Sonntage vorgeben. Einen Sonn- oder Feiertag im Dorf erkennt
man weniger daran, daß nicht gearbeitet wird, denn die Tiere müssen auch sonntags
versorgt und die Hausarbeit der Frauen erledigt werden. Der Sonntag unterscheidet
sich vom Alltag durch Gottesdienst, festliche Kleidung und gutes Essen.
So wie sich der Hof als Wirtschaftsraum des Nachmittags in eine Gaststube ver-
wandeln kann, kann sich das ganze Haus bei Verlobungen und Hochzeiten in einen
öffentlichen festlichen Raum verwandeln. Dieser Wandel fängt mit einer Reinigung
des ganzen Hauses an. Bei einer Hochzeit wird dann das Haus der jungen Frau mit den
einzelnen Teilen der handgearbeiteten Aussteuer dekoriert. Es werden ferner Dut-
zende von Stühlen alle Wände entlang gestellt, so daß der Charakter eines privaten
Wohnhauses weitgehend verschwindet. Hausfrau und Hausherr sind gemeinsam
Gastgeber einer meist gewaltigen Schar von geladenen Gästen, die sich bei diesem
nicht alltäglichen Ereignis selbstverständlich entsprechend anziehen müssen und sich
auch entsprechend nichtalltäglich verhalten.
Eine sonntäglich wiederkehrende Zeremonie, die den Zeitablauf des sozialen Le-
6 „Zwischen den Ausdrücken der sozialen und der Körperkontrolle (gibt es) immer eine ziemlich enge
Übereinstimmung, erstens, weil der eine symbolische Ausdrucksmodus die dem anderen inhärenten Bedeu-
tungen verstärkt und so die Kommunikation fördert, und zweitens, weil... die Kategorien der gesellschaft-
lichen Erfahrung und der Körperwahrnehmung wechselseitig von einander abgeleitet sind und sich gegen-
seitig stützen" (Douglas 1974: 103).
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
105
bens strukturiert, die getrennte Männer- und Frauenwelt zusammenbringt und den
Familien des Dorfes Gelegenheit gibt, sich darzustellen, ist die „volta". Das „Volta"-
Machen, an dem auch ich gelegentlich teilnehmen mußte, ist das Flanieren am Sonntag
abend auf der glatt asphaltierten Uberlandstraße vor dem Dorf. Dieses Stück Straße
wird an jedem Wochenende für ein paar Stunden zu einem Ort städtischen Nachtle-
bens. Eleganz der Kleider, der Bewegungen und „kultiviertes" Geplauder bestimmen
die Szene. Er hat seinen guten Anzug an, sie das neue Chiffonkleid und die hochhacki-
gen Pumps, das Baby das rosa Rüschenkleid und der Fünfjährige den Kinder-Freizeit-
anzug. Vom Baby auf dem Arm des Vaters bis zum Großvater, von der schicken Bäk-
kersfrau und bis zur Lehrerin ist das Dorf in Bewegung: Man spaziert die Straße
hinauf, hinunter und wieder hinauf. Es werden Höflichkeiten ausgetauscht und Nich-
tigkeiten gesagt. Die Straße ist wie eine Bühne, auf der einzelne und ganze Familien in-
nerhalb einer dorfumspannenden Vorstellung ihren Auftritt haben. Hat sich eine „pa-
rea" gefunden, sei es ein Kreis von Freunden oder Verwandten, sei es die engere Fami-
lie, läßt man sich gemeinsam in einem der Kafeneia am Dorfeingang nieder zu einer
Flasche Wein oder Bier, zu ein paar Ouzos.
Auch die Kirche strukturiert den Alltag durch ihre Nichtalltäglichkeit. In diesem
Sinne sind die sonntäglichen Kirchgänge zu verstehen. Die Kirche, Mittelpunkt des
F)orfes, verschwenderisch und liebevoll geschmückt, ist der Ort, an dem das soziale
Leben der Einwohner des Dorfes, ihre Werte und Normen sich im Ritual verdichten,
wo individuelles Leben in das Leben der Gemeinschaft integriert wird. Dies geschieht
besonders deutlich bei Hochzeiten, Kindtaufen, Beerdigungen.
Meine Nachbarinnen leben mit diesem Rhythmus. Sie fasten, wenn es Zeit zu fa-
sten ist, sie wandern in die Berge, um die Kapellen, die den verschiedenen Heiligen ge-
widmet sind, an deren Namenstag zu schmücken und dort dem Gottesdienst beizu-
wohnen, sie lassen auf der Terrasse ihres Hauses in der Abenddämmerung Weihrauch
yerglühen, um ihr Haus und ihre Familie unter den Schutz der Heiligen zu stellen.
Und auch diese Handlungen bekräftigen ihren Platz in der Gesellschaft. Als ich das er-
ste Mal zu einer Beerdigung mitging, klopfte mir eine Frau aus dem Dorf, die mir
kaum bekannt war, auf die Schulter und sagte: „Jetzt gehörst du zu uns!" (das heißt
zum Dorf).
Die Religion ebenso wie Geburt und Tod sind kulturelle Bereiche, die sich in der
Gesellschaft als vornehmlich zur Frau gehörig darstellen (Danforth 1982, 1986). In-
dem ich mich bereit zeigte, Trauer mitzutragen, integrierte ich mich wiederum in diese
Welt der Frauen und damit in die Dorfgemeinschaft. Gelegentliche Kirchgänge, die
lch unternahm, hatten ähnliche Auswirkungen, was ich an der Art und Weise merkte,
Wie die Frauen mit mir während des Gottesdienstes sprachen, sie mich in einen Wir-
ßezug einschlössen.
106
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
4 Integration und Forschung
Meine Forschungsbedingungen in Kalithea unterscheiden sich insofern von anderen
Forschungssituationen, als ich zunächst nicht mit einer bestimmten Fragestellung und
einem bestimmten Kontingent an Zeit ins Dorf kam, sondern das untersuchen wollte,
was sozusagen „sowieso passiert", nämlich die Integration. Die Nachbarn und Nach-
barinnen lernten mich anfangs nicht als Forscherin kennen, sondern als Frau und
Nachbarin. Und wenn sie danach meine aus meiner ethnologischen Arbeit entstande-
nen Fragen beantworteten, so deshalb, weil sie mich als Nachbarin kannten und sich
eine Meinung über mich gebildet hatten, weil ich dazugehörte. Mein akademischer Be-
ruf war damit nur ein untergeordneter Teil von mir, und sie waren bereit, mir über ihr
Dorf und ihre Kultur zu erzählen, was ich wissen wollte, weil das auch Teil der nach-
barschaftlichen Beziehungen war. Meine Integration in die Frauenwelt war ein Pro-
zeß, den ich wenig selbst steuerte, sondern eher geschehen ließ. Ich versuchte, auf-
merksam zu sein für die Erwartungen, die sie an mich hatten, wobei diese in den sel-
tensten Fällen offen ausgesprochen wurden. Meine Widerstände und inneren Schwie-
rigkeiten, die Erwartungen zu erfüllen, waren mir oft Wegweiser in dem Bemühen, die
gesellschaftlichen Strukturen zu erkennen. Mein Integrations- und Forschungsprozeß
war über weite Strecken hinweg also ein Lernprozeß.
Hauser-Schäublin (1985: 194 f.) schreibt, daß Feldarbeit mit Frauen qualitativ ver-
schieden von solcher mit Männern sei: „Feldarbeit mit Männern läßt sich zu einem be-
achtlichen Teil auf der verbalen Ebene nach dem Frage-Antwort-Schema abwickeln.
Feldarbeit mit Frauen basiert nur zu einem verschwindend kleinen Teil auf mündli-
cher Befragung und auf Interviews... Während viele Ethnographen Informanten in
ihrer eigenen Hütte befragen, muß die Ehtnographin immer am Ort sein, wo sie ihre
Beobachtungen machen kann, also meist mittendrin, niemals auf der Veranda ihrer ei-
genen Hütte." In diesem Sinne war meine Forschung ein „Mittendrin-Sein".
Wenn man heute Ernestine Friedls Bericht über die Zeit ihrer Feldforschung in Va-
silika liest, so erscheint die Forscherin außerordentlich distanziert von Land und Leu-
ten. Sie kommt mit einem Jahresvorrat an Zahnpasta und Perlonstrümpfen ins Dorf,
und sie braucht ihr Auto, um sich vom Ort ihrer Feldforschung immer wieder entfer-
nen zu können, und das nicht nur räumlich. Sie hat zwar eine eigene Wohnung zur
Untermiete bei einer Familie im Dorf, führt aber ihren Haushalt nicht selbst, weil sie
meint, einem ländlich-griechischen Haushalt nicht gewachsen zu sein, und außerdem
erscheint ihr die Hausfrauentätigkeit als unvereinbar mit ihrer Arbeit als Ethnologin
(Friedl 1970: 206-209), eine Haltung, wie sie eher aus dem Selbstbild einer amerikani-
schen Wissenschaftlerin (d. h. einer berufstätigen Frau) hervorgeht als aus den tatsäch-
lichen Umständen ihrer Feldarbeit. Als Frau den Frauenalltag zu erleben, einfach weil
die Forscherin ihren Haushalt so versorgt wie die anderen Frauen um sie herum auch,
kann unter Umständen genauso effektiv sein - was die Ergebnisse anbelangt -, wie mit
dem Schreibblock auf den Knien am Herdfeuer der Nachbarin zu sitzen und sie auszu-
fragen, was sie gerade macht.
Ulrike Krasberg: Autopsie des Integrationsprozesses
107
So wenig wie sich Ernestine Friedl letztendlich auf das Dorf als Wohnsitz einläßt,
so wenig läßt sie sich auch persönlich auf die Frauen und Männer und ihre Lebensum-
stände in dem Dorf ein. Ihr wissenschaftlicher Standort ist sozusagen ein Schweben
über dem Alltagsleben. Dieser Standort hat Konsequenzen in bezug auf die Feldfor-
schung und ihre Ergebnisse. Friedl schreibt von einer Frau, die ihr im Gespräch sagt:
»Mein Mann ist ein höheres Wesen." Friedl schließt daraus auf die volle Unterord-
nung der Frau in dieser Gesellschaft. In einem späteren Aufsatz - 1966 - relativiert sie
dies allerdings. Diese Interpretation ist nur möglich, weil Friedl die Vielschichtigkeit
des gesellschaftlichen Kontextes, in dem diese Aussage steht, nicht beachtet. Friedl
tritt als ausländische Akademikerin auf, die sichtbar eine Städterin ist (Friedl 1970:
211-212) und damit eher der gesellschaftlichen Öffentlichkeit - der Domäne der Män-
ner - angehört. Das Gespräch mit ihr hat dadurch eine quasi „offizielle" Ebene. Die
Bäuerin wird sich deshalb bemühen, das offizielle Ideal der Gesellschaft zu vertreten,
und dieses deckt sich im großen und ganzen mit dem Idealbild der männlichen Öffent-
lichkeit. Hier bewegt sie sich als Frau allerdings auf „schwierigem Terrain", denn die
männliche Öffentlichkeit ist ein Lebensbereich, der nicht der ihre ist, den sie nur mit-
telbar kennt. Das oberste Gebot aber ist hier, das Ansehen ihres Mannes in diesem so-
zialen Bereich nicht zu verletzen, „ihm keine Schande zu machen". Andererseits ist es
ein griechisches Ideal, gebildet zu sein (Herzfeld 1986: 225), dem die Männer in größe-
rem Maße nachkommen als die Frauen. Das bedeutet für die griechische Bäuerin, daß,
^enn sie mit Frau Friedl spricht, es ihr zunächst einmal wichtig ist zu zeigen, daß sie
gebildet ist und sich mit der griechischen Kultur „auskennt". Denn das ist sie sich
selbst, ihrer Familie und ihrem Mann schuldig.
Wenn Friedl also diesen Satz vom „höheren Wesen des Mannes" als Indikator des
griechischen Patriarchats nimmt, so ist das richtig aus den Wertvorstellungen in den
Domänen der Männer heraus. In den Domänen der Frauen dagegen gelten andere : Die
leisten Frauen auf dem Land haben eine sehr starke ökonomische Position. Eine ver-
bale Mitteilung über die Dominanz des Mannes deckt sich hier nicht mit der konkre-
ten Lebenspraxis und hat als ideologische Aussage eine Art Schutzfunktion, stellt
s°rmt Distanz her. Die Aussage ist also nicht falsch, aber sie trifft nicht die konkreten
Lebenszusammenhänge zwischen Mann und Frau, wie sie sich aus dem alltäglichen
Zusammenleben der Geschlechter ergeben (Rosaldo 1974, über offizielle und inoffi-
zielle Macht; Lamphere 1974, über Autorität und Macht).
In der westlichen Welt, aus der auch Ernestine Friedl kommt, neigen Frauen und
besonders Frauen in der Wissenschaft dazu, Werte und Beurteilungskriterien für ihre
Lebenszusammenhänge und für ihre Arbeit aus einer androzentristischen Weltinter-
Pretation ungefragt zu übernehmen. Von daher ist es im Prozeß der Feldforschung für
eme westliche Forscherin nicht ohne weiteres möglich, die Bewertung zu erkennen,
die die zu erforschende Gesellschaft selbst der Tatsache der Dualität der Geschlechter
gibt, und die Art ihrer gesellschaftlichen Ausformung und Manifestation herauszufin-
den. Ein praktischer Weg in der Feldforschung ist sicher der, sich auf die Gesellschaft
und die Menschen dort tatsächlich einzulassen. Das bedeutet aber auch, nicht die
108
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
ganze Gesellschaft im Überblick zu erleben, sondern sich bewußt auf bestimmte ge-
sellschaftliche Zusammenhänge oder kulturelle Räume zu beschränken.
Danksagung
Ich danke Dr. Tirmiziou Diallo für die Diskussionen zu diesem Thema und daß ich an seinen wissenschaftli-
chen Erkenntnissen und seinen Erfahrungen in interkulturellen Verhältnissen teilhaben konnte.
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A note on ash symbolism in Africa
M. C. Jçdrej
University of Edinburgh, Dept. of Social Anthropology, Adam Ferguson Building, George Square, Edin-
burgh EH8 9LL, Scotland
Abstract. Beginning with some observations of the ritual uses of ash among the people dwelling in the In-
gessana Hills in the region of the upper Nile in the Sudan, the article then notes that the use of ash in ritual
techniques is in fact widespread in Africa. The ethnographic reports, however, are deficient as regards ac-
counts of the symbolic motivation but this probably corresponds to a relative absence of any explicit verbal
articulation among the people themselves of the meaning of ash. A comparative examination of the more
detailed reports, rather than indicating as many significances as there are cultures, reveals instead a single in-
tegrated configuration of implicit symbolic dimensions defining the significance of ash.
It is reasonable for the ethnographer to look for guidance about what matters in a
particular culture by considering what excites and interests the people themselves.
However, it has also to be noted that certain cultural features which seem to attract
little explicit interest in any particular society may, nevertheless, be found persisting in
a great number of societies. On such rather different grounds apparently insignificant
elements may also be worthy of attention.
This article is about the symbolic use of ash and it orginates in observations of cer-
tain of the rites of the inhabitants of the Ingessana Hills on the margins of the upper
Nile in the Republic of the Sudan where it was repeatedly explained to me by specta-
tors, participants and ritual experts that the purpose of the rituals, rituals in which ash
^as conspicuous, was the promotion, even sometimes the procurement, of life. Al-
though the people were quite articulate about their intentions and willing to talk about
them no one explained to me in general terms why ash, and not some other material,
was used for these purposes. Perhaps the most telling response to my questioning
came from a man who took some wild honey bees, which had apparently drowned,
from a dish of water. He smiled at my affirmative answer to his question, were the bees
dead, and called for some fine powdery ash from the fire. One by one he took the bees,
tolled them in the ash and within seconds they stirred their wings and flew off. I did
n°t think I could have asked for more.
There are, on the other hand, reports about the use of ash in the ritual techniques of
numerous other people in other parts of Africa and it seems worthwhile, despite cer-
tain difficulties, extending the enquiry to include information from other cultures,
^his article presents the results of such an enquiry.1
' have concentrated on the north east of Africa, especially the upper Nile because of my own interests in
116 area, but I have also referred to reports from eastern and southern Africa. However no ethnological sig-
^eitschrift für Ethnologie 114 (1989) 111-123 © 1989 Dietrich Reimer Verlag
112
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
The investigator faces two difficulties of method. First of all it soon became appa-
rent from the various reports which were consulted that the lack of explicit exegesis of
the meaning and motivation of the use of ash was typical rather than exceptional. In
other words the problem presented by Ingessana ethnography which prompted the
excursion to other cultures seemed to be very general. So although no guidance to, nor
model of, a solution to the original problem was found, nonetheless a possibly impor-
tant general conclusion was drawn. Ash, though of very widespread occurrence as an
element in African ritual techniques is, at least in the ethnographic record, more or less
deficient of explicit symbolism and motivation. Moreover, though there is enough
evidence to claim that the ritual use of ash is widespread, only a few reports have suffi-
cient circumstantial details to be of any value for comparative study. This situation is
in accord with Turner's evaluation of symbols as either dominant or instrumental. The
former are explicitly enunciated and representative of the axiomatic values of the so-
ciety and the latter, a residual category, presumably are not. Indeed they come close to
what seem to be mere superstitions, evidence of psychological universals, and to what
Turner (1967: 32) perceived as the "limits of anthropological competence". To some
extent this study attempts to probe these limits.2
The second and related difficulty concerns the relevance of the wider body of
ethnography. It could be argued that ash in the rituals of the people of the Ingessana
Hills is not the same thing as ash in the rituals of Nilotes, of Oromo, of Zulu and oth-
ers. This may account for the lack of generalizations on the subject in anthropological
writing. Where some attempt is made to explicate indigenous meanings it is limited to
one culture, tentative, usually formal and invariably abstract. Recently, for example,
de Heusch (1985: 9) explains the Nilotic Nuer uses of ash, such as rubbing ash on the
back of a sacrificial victim or the laying of a first born infant in the ashes of the fire in
his father's byre as "solemnly marking an ownership link". Beidelman (1986:141) says
of the usages of Kaguru, a matrilineal Bantu speaking people of eastern Africa,
that "ashes (smeared on a body) convey a sense of the peripheral and transitional, con-
cealing social attributes" which seems to be the opposite of Nuer intentions. In general
ash is, it seems, arbitrarily assigned meanings and functions as the outcome of each
specific historical and cultural context. Hence the pursuit of some common theme or
denomination is apparently frustrated from the outset and comparative study will lead
only to the accumulation of ever more diverse meanings. Yet, as this paper attempts to
show, this is not actually what happens. On the contrary, an examination of the ethno-
graphy which concentrates on concrete details reveals, and increasingly clarifies, an in-
tegrated configuration of symbolic dimensions. There are possibly two closely related
reasons for this. One, already mentioned, relates to the fact that ash as a symbol falls
nificance is to be attached to such selections. Field research (1973) in the Sudan was funded by the Ford
Foundation and the University of Khartoum. Field research in 1985 was supported by the E.S.R.C.,
London.
2 For a recent defense of these limits beyond which anthropologists venture at their peril see Overing (1985).
M.C.Jçdrej: A note on ash symbolism in Africa
113
into Turner's class of instrumental symbols and is therefore prey to what he calls psy-
chological umversals and the second relates to the symbolic association of ash with life
and death.
The rituals observed in the Ingessana Hills have been described here as life promo-
tion rites since this exactly renders the stated intentions of those involved. Such an ex-
plicit purpose confirms the Hocartian view that ritual is undertaken in quest of life.
But Hocart never really examined what the object of the quest might be. To him it was
as obvious as it seemed to be for the people he wrote about. What is sought is freedom
from ill health, lots of babies and plenty to eat and drink. Needham, who has done
more than most to rehabilitate Hocart, seems to agree with this view and he contrasts
the problems and difficulties anthropologists confront in studies of death and remarks
that ' 'in practice the understanding of a concept of life usually does not present to the
ethnographer difficulties comparable to those relating to death" (Needham 1970: 34).
He suggests that this is because we are all alive and therefore have direct and immutable
intellectual access to life while death is the great mystery and essentially unknown and
therefore is the object of peculiarly complex and elaborate symbolic representation
constrained only by the laws of imaginative thought. But is the situation really as
straightforward as this view suggests?
The Hocartian view that life is about personal longevity and continuity through
descendants appeals to the notion that existence should first of all have duration. This
is certainly the case in the Old Testament where frequently the Divine reward for fol-
lowing Divine commands is a long life. The Greeks, on the other hand, felt that dura-
tion in itself was not enough : animal life may simply be for itself but what is human life
for? How are humans to realise their existence? The crucial difference between the
gods and humans is that the life of the deity is always realised but that of humans only
rarely. This is why the gods live at ease but mortals live troubled lives. For pre-Socratic
Greeks a feeling, thinking, and active human being comprised, among other entities, a
thymos located somewhere in the chest and the seat of thought and feeling and an me-
nos the source of a kind of energy. Both of these are destroyed at death but a third com-
ponent, the psyche, was realised. The distinctive feature of thc psyche, and that which
r^arks the contrast with a corpse, is extremely rapid motion. In addition the psyche of
dead heroes, humans who had successfully realised their lives, is represented by a
snake, and in the tomb the spinal marrow was supposed to congeal and transform into
a snake, hence the two snakes on the wand in representations of Hermes. This life-stuff
ls concentrated in the head but is ejaculated via the genitals. Its vital potency is evident
ln the teeth erupting from the head of the snake which Kadmos sowed and from which
sPontaneously sprang forth men (the Spartoi).
Given such a complex of ideas, of which the preceding remarks can only be indica-
te, it cannot be presumed that techniques for the promotion or procurement of life
vvill be immediately self evident. Moreover it is apparent that if death is a mystery and
life and death are inextricably interconnected (life is an abnormal state of death) then
life can hardly be any less difficult. There would seem then to be as much scope for
114
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
imaginations as regards the ideas and values of life as for death and therefore the ritual
use of ash, which figures frequently in such contexts, may also be expected to be deter-
mined as much by the laws of imaginative thought as by each specific historical and
cultural context.
Turning now to the data from Africa, Berglund reports that among Zulu there is
evidence of strong associations between ash, shades (ancestral spirits) and semen.
Berglund (1976: 221) quotes an informant discussing incest between brother and sister
commenting that the brother is "putting male fluid (lit. ash, umlotha ) into his lineage
blood... when he puts umlotha into the blood, he is putting the shades at home, in
their own blood". Berglund (1976: 206) also reports that ashes are infrequently re-
moved from a diviner's house because according to Zulu "if there is no ash then the
shades are not there". A novice diviner rubs herself with ash from time to time while
inducing an agitated quivering movement, a movement which signifies for Zulu the in-
creased activity of the shades in the diviner (Berglund 1976: 152). Besides these re-
marks about ash, the association of the shades or spirits with agitation and rapidity of
movement ("quivering") recalls Onians' remarks concerning Greek notions about the
attributes of the psyche (Onians 1951:195).
According to Beidelman (1986:39), Kaguru make an explicit association between,
on the one hand, the relationship between the hearth stones and the centre pole of a
house and on the other between the vagina and the penis and describes the association
as "symbolic coitus". The expression "making fire" is a euphemism for sexual inter-
course. It is curious that Kaguru do not seem explicitly to equate semen and ash. This
may be because of witchcraft. According to Kaguru "if one sees cats having inter-
course one will die because witches are hovering about to collect what is spilled" (Bei-
delman 1986: 141) in order to prepare concoctions which will confer extraordinary
powers. The most remarkable thing witches are able to do is to fly about at great speed
and a distinctive feature of witches is that they are smeared with ash.
Among the Western Oromo of the Ethiopian highlands occurs the following ritual
at the Masquai Feast which celebrates the Ethiopian New Year. Saplings of the mas-
quai tree are tied together and a fire laid around them. In the morning men and boys re ■
turn to inspect the ashes which, if they are undisturbed, is a propitious sign for the new
year. Then the outstanding men, those with the status "killer", walk around the ashes
pointing their spears towards the unburnt stumps of the masquai trees. As they walk
around they name the animals they have killed and when they do so they make their
spears quiver. At the wedding ceremonial the groom's spear symbolises the penis
while coffee fruits into which his bride's mother inserts his spear symbolise the vagina.
In one of the wedding songs sung by the female friends of the bride she is referred to as
"sheath of spear" (Bartels 1983: 262).
Wendy James has reported that among Uduk, a people who are also on the margins
of the upper Nile basin but to the south of Ingessana and west of Oromo, a woman
who has difficulty conceiving will eat a little ash from her father's hearth. Furthermore
Uduk maintain that the husband's semen makes the child strong and a quite explicit
M. C.Jçdrej: A note on ash symbolism in Africa
115
equation of ash and semen is made when Uduk women who are pregnant eat ash when
their husbands are absent (James 1979:118). When Nuer marry a woman to a ghost the
bride is rubbed with ashes by her dead husband's kinsmen and at the same time they
ask God that she may conceive (Evans-Pritchard 1940: 155).
In these cases a more or less explicit symbolic equation is made between semen and
ash so that the life generating qualities of the one are analogically represented in the
other and there is a corresponding equation between copulation and fire.3 However it
is important to be clear that ash is not a symbol standing for semen or substituting for it
(perhaps because it is held not to be practical to smear bodies with semen). This is evi-
dent from Kaguru images of witches where no such practical consideration has any
bearing, unless the term for ashes is being used here as a euphemism. Even in the Uduk
case it is unlikely that Uduk women eat ash because it "symbolises" the "real thing"
when the latter is unavailable since both semen and ash, though perhaps in different
ways, somehow, according to Uduk, nourish and make strong the foetus. In other
words though the properties of ash and semen are in some sense comparable they are
not the same thing and the sense in which they are comparable must derive from sup-
posed relationships between the processes of which each is a part or product.
The manner in which these processes have been appropriated and represented is
complicated. The evidence from the upper Nile reveals the following general and cha-
racteristic themes. Myths about how humans came to acquire fire are relatively rare in
the upper Nile region and deliberately minimise the significance of the event. For ex-
ample, an Annuak story tells how Dog, a trickster figure, persists in trying to help hu-
mans although his efforts are always misunderstood with calamitous consequences.
Chased and harried by men Dog is sheltered by two women, a mother and daugther,
whom he rewards by giving them fire which he produces by urinating on some grass
(Evans-Pritchard and Beaton 1940). However, consequences of a cosmogonie order
follow from the main use to which women put fire, namely, cooking, and myths about
the separation of heaven and earth, divinity and humanity, following from the culinary
activities of women are common throughout the region. Ingessana, for example, tell
how one day, at the time when the sky was close to the earth, a woman was cooking
and when she came out of her kitchen and stood up the sky dislodged her hair-dressing
°f butter. Annoyed she went back into the kitchen and came out with a utensil4 and
struck the sky a hard blow. So the sky ran off and is now far from earth. Ingessana ri-
tual reverses the mythical events when at calendrical rites (which are the only times
All are brought together in a nice example from classical Rome; according to Plutarch, Romulus and Re-
ndus were conceived as a result of intercourse with a phallus which arose out of the hearth of Tarchetius,
King of Alba.
Among Ingessana the utensil is called kalamse, a kind of large wooden spoon used in cooking. Other Nilo-
tlc versions identify the culinary utensil as a pestle (see Burton 1981: 469). In a Nuer version of the détach-
ant of heaven and earth the last man to make the journey from heaven to earth down the rope which joined
them encountered a woman gathering firewood who invited him back to her village. At first he refused but
Was then drawn by the smell of cooking and while he was eating the woman's brother cut the rope (Evans-
Pritchard 1940: 230).
116
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
women actually wear the extravagant butter hair-dressings) fires are extinguished and
then relit from fires kindled in the "wessuk i tel" (houses of god, though note that the
word tel also means means "sun") which are then temporarily inhabited by the sun-
god. These rites also introduce the time of year of marriage ceremonials and that phase
when the groom has privileged sexual access to his bride under the aegis of the elders in
a specially constructed house which resembles a we i tel.
Zanen and van den Hoek in a brilliant study of Bor Dinka cosmology and sacrifice
have identified a rather different pattern of Nilotic periodicities. They have shown
how the ecological movement of Bor Dinka between wet season villages and dry
season cattle camps is inseparable from a moral economy which is imbued with cos-
mological meaning. The villages are associated with the cycle of human production
and reproduction, with work, hunger and deficiency, with death and birth, all the con-
sequences of a separation of God and mankind, heaven and earth. In the cattle camps
by contrast death has no place. "The distinctive features of the village context, which
are centred around death and procreation, are explicitly absent from the context of
the cattle camp" (Zanen and van den Hoek 1987: 182). Instead, the dominant value of
cattle camp life is a kind of timeless affluence and idleness. There is a sense of complete-
ness and proximity to God which is represented by a tall sacred pole erected in the
camp, conjoining heaven and earth and which is associated with youth, strength, vital-
ity and new generation. In these "sacred" cattle camps the young men like to cover
their bodies with ash (Zanen and van den Hoek 1987; Seligman 1932: 137).
Here then is the outline of a great theme, of a cosmogonie de-coupling and conse-
quent periodic ritual coupling of heaven and earth, echoes of which resonate in the cy-
cle of myths and rituals revolving around death, birth, reproduction, fire, cooking,
periodicity (menstruation) and the beginning of time and which form the context of
meaning in which ash is located.
Given the cosmogonie withdrawal of the celestial from the terrestial and subse-
quent periodic conjunction in ritual institutions it is hardly surprising that atmos-
pheric and physical phenomena such as meteorites should be attributed with pecu-
liarly powerful life promoting power by some Nilotes. One of the Seligmans' Dinka
informants claimed that his elder brother is the son of a meteorite which is in the cus-
tody of his father (Seligman and Seligman 1932: 190) and Evans-Pntchard reports that
Nuer may hang a gourd of ashes described as "meteorite sprite" (bielpam ) or as "ash
sprite" (bielpauka ) or as "fire sprite" (bielmac) in the byre. The owner says it protects
his household and brings them good fortune (Evans-Pritchard 1940: 98). This life en-
hancing virtue of ash would seem to be supposed when Uduk greet a child born after
its older siblings had died, and therefore believed to be especially vulnerable, by
smearing ash on its forehead. And the same quality benefits, perhaps, a Nuer first born
when it is laid in the ashes of the hearth in its father's byre (Evans-Pritchard 1954: 73).
In the examples so far considered ash appears as a kind of life promoting condensate
of the complex totality of the basic figure linking the terrestial and celestial; copulation
and fire; semen and ash. But the figure is intrinsically ambiguous and is accompanied,
M.C.Jçdrej: A note on ash symbolism in Africa
117
as if by a dark shadow, by the negation of life. Oromo are quite explicit about this and
according to Bartels (1983: 271) for Oromo "the act of killing is seen to be identical
with sexual intercourse, especially the first sexual intercourse on the wedding day".
When this aspect becomes dominant the use of ash can be expected to be correspond-
ingly and manifestly associated with the corruption of life and this is evident in Kaguru
images of cannibal witches as night flying and covered with ashes (Beidelman 1986:
141).
Evans-Pritchard does not report what Nuer told him about the meaning of rub-
bing ashes along the back of an animal to be sacrificed or of an animal dedicated to a spi-
rit. His own view is that the act signifies an identification of the sacrificer with the sac-
rificial victim and in support of this interpretation he cites a report by Mary Smith that
she was told by Nuer that the smearing of ashes on the back of the animal was done "to
show God his animal and also so that the bad or evil would go out of them into the ox-
they said it was 'lueli ni tek ' ('life of man for life of beast')" (Evans-Pritchard 1956:280).
But it does not necessarily follow from these remarks by Nuer that "Nuer can be said
to offer up themselves in offering up their cattle in sacrifice" (Evans-Pritchard 1956:
279). It could also be supposed that Nuer seem to be saying precisely the opposite: the
destruction of the victim's life is the fortification of the sacrificer's life. Placing ash on
the animal's back is, as Nuer explicitly state, a technique whereby the corrupting con-
taminants of human life are transferred to the victim and destroyed with it. This rite is
exactly comparable to a rarely performed sacrifice in the Ingessana Hills when a beast
Was taken around the country and people brought ash from their homes to the path
taken by the animal and there threw the ashes on the back of the beast as it passed by on
the way to the central site where is was slaughtered. Ingessana say, like the Nuer, that
the object of the ritual is to get rid of something bad and evil.5 Similarly when Lango,
another Nilotic people, wish to remove desease and evil, ashes from the fireplace are
Put into potsherds and calabashes and are then removed to a river bank or cross roads
(Hayley 1947: 147). Mandari in the upper Nile, at the completion of mourning rites at
the home of the deceased take hearth ashes together with the handles of the grave dig-
gers' hoes and hair from the corpse into the bush and throw them away, apparently to
kill the evil person who caused the death (Buxton 1973: 120). According to Henrietta
Moore, among the Marakwet of Kenya "if a girl wishes to refuse marriage, then she
will cover herself in ash. It is said that this act signifies her desire for the 'death' and or
sterility of the proposed union" (Moore 1986: 117). But just as in the previous ex-
amples where the explicit life enhancing properties of ash seemed to be accompanied
hy an unarticulated sense of death, so in these instances the manifest association of ash
With death and destruction contains a latent life enhancing virtue. As is so often the
The ashes Dinka rub on a sacrificial victim are taken from the sacred ashes upon which oaths are sworn,
k 1e objective here is to clear away an accumulation of forgotten oaths which may now be of no consequence
ut which if left in place may nevertheless be the cause of harm to people and so disrupt now quite harmo-
n,°us relationships (Lienhardt 1961: 273).
118
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
case in ritual techniques, the threat to life is captured and turned in on itself to power
its own destruction and thereby secure the promotion of life.6
It seems that these different and in some ways contrary meanings may manifestly
coexist within the same cultural and social context. Uduk, already noted as using ash as
a life enhancer, sometimes even a generator of human life, also bury someone who has
suffered a violent death "in a shallow grave with white ash" (James 1988: 132). This is
an abnormal burial in other respects but in any case, James explains, for Uduk "death
rites should be done thoroughly... they are afraid of embodied life lingering and re-
turning (and) are in awe, to some extent dread, of 'resurrection'" (James 1988: 133).
Clearly ash is not being used here to promote life, indeed the very opposite would
seem to be the case. Abrahams explicitly drew attention to such contradictions in his
study of Labwor twin rituals in Uganda. Shrines are erected to twins a few months
after their birth. At the ceremony ash is smeared over the participants but especially
the mother. The ash is to secure her continued fertility as well as the fertility of the
land. During the childhood of the twins monthly rituals are carried out where the
father and mother smear each other with ash. Abrahams notes that Labwor have little
exegesis of ash symbolism but he infers that it embodies contrasting symbolic quali-
ties. On the one hand coolness, tranquility, whiteness and emptiness while on the
other, through its association with fire, ash signifies heat, disturbance, redness, and
potency. Abrahams also reports a usage where someone accused of witchcraft may
deny the accusation by taking ashes to the accuser, throwing them down before him
and uttering an oath on the ashes to the effect that if the accusation is well founded then
the ashes will return and kill the accused but if false then the ashes will remain to kill
the accuser. In either event ash will break the corrupted relationship between them by
promoting the life of one and causing the destruction of the other (Abrahams 1972).
Something similar seems to be known to Rek Dinka who hold that a "master of the
fishing spear" has the power to go before a lineage which has offended him where he
will break his spear (symbol of sustaining spiritual power) and scatter ashes from his
hearth (signifying the destruction and dispersal of the lineage). Again one lineage sur-
vives at the expense of the other through the agency, in part, of ash (Lienhardt 1960:
255). Moore (1986: 117) has described how for the Marakwet ash is symbolically asso-
ciated both with a creative fertility and destructive sterility. Among Ingessana a similar
ambivalence is manifest.
Ingessana recognise two kinds of ash, burthu and dulk. The former is used by the
cult group known as semk when it is for example, rubbed on new initiates. It includes
the ashes of the bones of a sacrificed animal. The second kind of ash is taken from the
household fire in the kitchen. It is used to smear the bodies of new initiates of the calk
cult group but it is also rubbed on the bodies of twins and their parents as part of the
6 See Gittens (1987: 96) for an especially dramatic report from the Guinea Coast in the early decades of this
century. Here the embodiment of the life threatening evil, in fact a deformed neonate, was killed and burnt
and the ashes rubbed on the women to protect them from such a birth.
M.C.Jçdrej: A note on ash symbolism in Africa
119
monthly twin ceremonies which are remarkably similar to those described by Abra-
hams for the Labwor. Here an explicit association of the ash with the "souls" or
"shades" of the twins is made and the purpose of the rite according to Ingessana is to
prevent the souls of the twins "running away", that is, the children dying. This also
seems to be indicated in the brief ritual carried out for a neonate when it is introduced
to its "soul" or "shade". On the other hand the use of ash in the disposal of afterbirth
suggests a quite different, even contrary meaning. These proceedings are worth consi-
dering in greater detail. What follows is a description based on observations in the In-
gessana Hills of the rites carried out shortly after the birth of a child.7
Some old women (yok, also mothers-in-law) and a taun (female ritual expert of the
calk group) entered the hut where the young mother had given birth and they all sat
down and chatted with the mother while they admired and handled and passed around
the newborn baby. Another old woman had already put the afterbirth including the
placenta into an old calabash pot and then filled it up with ashes. The women carried
the calabash with the afterbirth suspended from a pole, in fact a yoke which is used by
women to carry water, to a species of fig tree which they circled around before hanging
the calabash from one of the branches. An old calabash from some previous birth in the
neighbourhood was still hanging from the tree but it was ignored. They stood back
and threw a volley of stones at the tree and then turned quickly and danced and ran
singing back to the hut. There they took the baby out into the yard and held it over a
small calabash containing ash, sorghum seeds, an egg and a sprig of a species of cress.
The taun chewed the cress thereby releasing its fragrance and held it under the baby's
nose and then the children present and even the adults were offered it to smell. The
next episode was not witnessed clearly since it took place just inside the doorway while
1 was outside. But it seemed that a short length of rope was tied to the rafters and the
baby held in it while it was swung there for a few moments. Back inside the hut the
baby was rubbed all over with kufu (ground roasted sesame, a foodstuff for special
°ccasions) and thereafter the old women began to disperse.
The short formula for what is going on in these rites is that the afterbirth is covered
With ashes and discarded while the baby is rubbed with food and nurtured. The appa-
rently diverse details are in fact largely repetitive and redundant. Stoning the tree with
the afterbirth suspended from it corresponds to the stoning to death which used to be
me fate of evil doctors (kai) and is still used to drive out of the land evil beings. The old
Woman also avoided handling the calabash containing the afterbirth so that they car-
ried it to the tree slung from a pole and over the shoulders of two of them though it
c°uld of course easily have been carried by hand by one of them. By contrast the baby,
°nly a few hours old, was passed around all of them to fondle, inspect and handle and
lnstead of being hung from a tree out in the wilds is supended from the roof of the
dwelling house. The infant is not only rubbed with life sustaining foodstuff but is
brought into conjunction with objects described as its "shade" or "soul" and made
A detailed account is presented in Jçdrej (1988).
120
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
to inhale the fragrance of one of the items from this collection. But what is particu-
larly relevant is that ash, which substance has just been disposed of along with the af-
terbirth, should also feature among these items. This ambiguity is actually repeated in
the sorghum seeds which are prominent alongside the ash. Here sorghum seed is
clearly auspicious and, moreover, the taun when she enters a homestead on ritual busi-
ness throws handfuls of seed at the doors of the houses in the homestead as a benedic-
tion. Yet sorghum seed is also an agent of illness and death when, as Ingessana say, it is
broadcast around the homestead and implanted into the bodies of people by the ghosts
(;nengk).
Ashes also feature as an auspicious substance at marriage rites. After the bride and
groom have had their head shaved sitting together outside in the yard they are then
made to sit down together inside a hut on the jeza, an especially fine mat associated
with the ancestral spirits which has been brought from the bride's father's house. Their
bodies are rubbed down with ground sesame by the father's sisters of the groom. This
done the old women take the couple's arms and plunge them into a bowl of oil while all
the women present ululate. At the same time a man, described as a "testicle" (cal, a
member of the calk) throws ash into the air over the couple. With the exception of the
crucial explanation that the complex of items which includes ash to which a new born
infant is introduced is its "shade", or "soul", without which it will not thrive but
sicken and die, only generalities to the effect that, for example, rubbing ash on an ini-
tiate into the semk cult makes the person "strong", or that throwing ash into the air
over a bride and groom is "good for them" were offered.
Nevertheless as a result of this excursion to other parts of Africa there is a sense in
which we now have a deeper insight into what is happening in any particular situation
than was peviously the case. How this can be so, the validity of the result, deserves
some further comment.
Ethnography seems to reveal evidence of a correlation between a relative lack of lo-
cal exegetical elaboration as regards a ritual symbol and the extent to which that ritual
symbol is a trans-cultural commonplace so that ritual symbols which are unique to a
particular group or relatively rare are accompanied by a rich and distinguishing corpus
of lore, parts of which, nevertheless, may be more or less esoteric and even the subject
of claims and counter claims by privileged persons and groups among themselves as
well as against the unprivileged. However, what this correlation actually reflects is a
rather difficult question. For example Victor Turner's account of the ritual symbolism
of the mudyi tree for the Ndembu of Zambia refers to the varied and extensive but ap-
parently uncontested interpretations offered by Ndembu themselves, one of whom
even compared it to a national flag. On the other hand ash, which is no less necessary as
a component of several rites, simply means "death" and Turner does not say whether
this meaning was offered to him by a Ndembu or whether he inferred this from cir-
cumstantial evidence. Such differences are recognised by Turner in his evaluation of
symbols as either dominant or instrumental. Such a situation is quite consistent with
the sociological argument that people in general tend to cultivate and defend matters
M.C.Jçdrej: A note on ash symbolism in Africa
121
which at least confer a symbolic distinction upon themselves if not actually sustain or
even further a predominating material interest and therefore are likely to institutiona-
lise a dynamic and inflected body of knowledge relating to such matters, expressed of
course, in a particular language (the only kind of language) but which may even in-
volve archaic or "deep" or otherwise distinctive and restricting speech. On the other
hand that which is a cross cultural commonplace will be taken for granted and must
necessarily remain with a minimum of articulated and explicit lore since this would
tend to particularise what is evidently tending to the universal. The methodological re-
levance of all this is that the research interests of the ethnographer are similarly di-
rected, that is to say, away from the commonplace towards the symbolically explicit
and elaborate. The pursuit of authentic discourse, the essential Ndembu or the
Ndembu in history or whatever, leads the ethnographer to seek out the dominant
symbols and their accompanying body or bodies of knowledge. However, further
knowledge about commonplace ritual symbols is available, both to the ordinary but
curious indigenous participant and to the outside observer, not by seeking out and in-
terrogating uncontaminated representatives of the particular culture, custodians of
lore ("knowledgeable aliens"), since that course actually leads away from the object of
interest, but by, as it were, going against the grain and turning in the opposite direction
to other cultures (knowledgeable aliens in a rather different sense) eventually to re-
turn. The comparative extent to which any particular persons or people generally, in
the society being researched resort to the latter, in one way or another, is, for all the
reasons just given, inevitably muted in ethnography but it may be held that, in general,
they know more about, and have more experience of, neighbouring peoples than does
the temporarily sojourning ethnographer among them.
This whole question is impressively illuminated by Wendy James (1988) in her re-
cent study of Uduk institutions and values. James has described a people who appear
to have controverted the whole argument. Uduk public rhetoric, not to mention levels
°f material conflict, are elaborated around a series of imported exotic religious institu-
tions while the distinctive vernacular cultural elements persist implicitly and are there-
fore uncontested. However, Uduk, like some others in this part of the Sudan have suf-
fered for generations the prédations of powerful and self-confident neighbours (Nuer
and Dinka from the East, Arabs from the North, Berta and Oromo from the West) and
ln this respect their apparently eccentric cultural response is quite comprehensible in
terms of the general sociological argument and their own history. But even at the dee-
per level of implict vernacular, or moral knowledge as James terms it, it seems that
s°me of these vernacular "Uduk" elements extend beyond any particular language
boundary and are shared by several adjacent ethnic groups whose historical experience
ls similar to that of Uduk.
All this is generally accepted as valid with regard to "neighbouring" peoples and
!°rrn the grounds for advocating a restriction on legitimate comparison to "regions" or
fields" but would hardly allow as relevant comparisons between people separated by
b1 eat distances in space (and time?). However, all the reasons, and these are not simple
122
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
arguments about microcosms and macrocosms, for recognising the importance of
more inclusive levels from "the community", through "the society" to "the region" do
not cease suddenly to be relevant at the regional level, however that may be defined.
There are cultural phenomena of very general occurrence. As Ratzel pointed out, "The
Earth is small". But even this position raises all kinds of problems about the historical
persistence of such uninflected vernacular elements of custom from a common origin
over great periods of time. As regards the sub)ect matter of this article, the basic figure,
though often incomplete and sometimes more or sometimes less explicit, involving ash
and semen, copulation and fire, birth and death, heaven and earth, has not been des-
cribed by looking for the common denominator among all the cases considered. On
the contrary what has been explicated have been additional dimensions which, when
considered cumulatively do not, as might be expected, result in an incomprehensible
confusion but a discernable and meaningful structure. It may just be possible that "the
further back we go towards the common and essential conditions of the excercise of all
thought, the truer it is that these conditions take the form of abstract relations" (Lévi-
Strauss 1973: 467).
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Historical concepts and the evolutionary interpretation
of the emergence of states:
The case of the Zulu reconsidered yet again
Johannes W. Raum
Institut für Völkerkunde und Afrikanistik, Ludwig-Maximilians-Universität, Ludwigstraße 27/1,
D-8000 München 22, Germany
Abstract. The kingdom of the Zulu has frequently been quoted as an example of the origin of the state in a
sea of acephalous clans. In this article it is shown that this evolutionary interpretation is based on inadequate
sources written by "border ruffians" and settler historians. The origin and development of the Zulu King-
dom has to be placed in a wider perspective, the parameters of which should be circumscribed by a critical
assessment of the primary and secondary sources available, by an adequate appreciation of long term devel-
opments in southern Africa before the advent of the "White" man and by the placing of events in an appro-
priate frame of reference defined by historical space and time. Then the Zulu may be taken as a highly
enlightening example of the development of "reactive states" in frontier situations.
it is reported that Disraeli once exclaimed when questioned about the Zulu: "... a re-
markable people, they beat our generals, they convert our bishops, and write 'finis' to a
hrench dynasty" (Marks 1967). And today he might have added, "and they confound
our evolutionary anthros" ! For the Zulu have frequently been taken as a typical exam-
ple of state formation or of the origin of the state by ethnologists such as Robert H.
Lowie (1920: 373-376; 1927: 18-19; 1950: 335-336) and Elman R. Service (1975:
105-116), but also by sociologists such as Stuart Romm as recently as 1986. These so-
cial scientists all basically proceed from a premise that is wholly unfounded, namely,
that the Kingdom of the Zulu is a case of indigenous political centralisation that took
place among surrounding more or less acephalous societies and was not the result of
external influence of any sort. In other words, they maintain that the case of the Zulu
can be taken as paradigmatic for the origin and early development of the state among
formerly stateless societies. The question that is to be discussed in this paper, although
n° pretence can be made that a satisfactory answer will be offered, is whether the
emergence of the Zulu Kingdom can in fact be taken as such a model for the origin of
the state.
In order, however, to essay an answer to this question it is necessary first briefly to
delineate the model of Zulu state formation offered by ethnologists and sociologists,
^ome of its main elements are the following: (1) It was an autochthonous development
°1 political centralisation in an area, in which there had previously only been "clans" or
at the very most some totally insignificant chiefdoms. (2) Great innovators such as
l^mgiswayo, chief of the Mthethwa, and Shaka, chief of the Zulu, who - incidentally -
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© 1989 Dietrich Reimer Verlag
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
had both according to oral tradition displaced one of their half-brothers as chiefs, in-
troduced completely new organizational forms of their armed forces such as age-class
regiments as well as hitherto totally unknown fighting techniques and weapons such
as the umkhumbi or semicircular or horns formation and the short stabbing spear.
Fig. 1. Map of southern
Africa.
(3) Prior to the penetration of the interior of southern Africa by Europeans the armies
especially of the Zulu caused havoc and devastation in a wide area of south-eastern
Africa that sent other so-called "tribes" hurtling through vast parts of southern, cen-
tral, and eastern Africa right up to the shores of Lake Victoria. (4) In the new kingdoms
themselves and especially within the Zulu Kingdom terroristic methods of political in-
timidation were applied without which the state in an asyet "primitive community'
would have disintegrated (Walter 1969: 109 f.). Up till fairly recently a similar version
J.W.Raum: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emergence of states
127
of the origin and development of the Zulu kingdom was the accepted one among the
majority of historians (Brookes & Webb 1965: 7-15; Omer-Cooper 1966).
When one asks the question, however, as Julian Cobbing (1988) does in a recent ar-
ticle, where this picture of the origin of the Zulu Kingdom actually originated one is
confronted with the fact that most, if not all of it, originated with the settler historian
George McCall Theal1 (1892-1919) and the rest with that early diligent collector of
oral evidence among the Zulu A. T. Bryant (1929). Now Theal2 in his voluminous pro-
settler interpretation of southern African history based his version of the origin, devel-
opment and subsequent history of the Zulu kingdom on a fairly circumscribed selec-
tion of published sources, most of which were written down long after the actual
events observed or heard of by the authors, who themselves in most cases were what
the historian Eric Walker (1957) aptly termed "border ruffians". Furthermore, these
'border ruffians" had not been present during the reign of Dingiswayo, who was
killed by the henchmen of a rival chieftain or king in 1818, as they only reached Shaka's
royal residence after the latter had already consolidated his rule over the Zulu and had
brought the Mthethwa as well as other chiefdoms under his sway, that is, quite some
time after both these rulers were said to have introduced their revolutionary military
innovations. In other words, as far as these innovations are concerned everybody so
lar has been relying on hearsay evidence ostensibly collected from Shaka and his coun-
sellors by European adventurers, who were living with African wives or concubines as
elephant hunters and ivory traders as well as illicit gun-runners some hundreds of
miles beyond the borders of the British Empire in the twenties and thirties of the last
century. And it seems highly significant that one of these adventurers, Nathaniel
Isaacs, subsequently pursued a career as an illicit slave trader in Sierra Leone (Deve-
neaux 1987). None of them had witnessed the actual introduction of any of the innova-
tions they laid such great weight upon in their journals. Besides, these "border ruf-
fians" were writing for a philanthropic audience in Britain whose governments in
those days eschewed colonial expansion, whereas they themselves fervently hoped for
me annexation of what was one day to become the British Colony of Natal. They
therefore exaggerated the "savagery" and "barbarism" of the Zulu kings in order to
l'or a recent assessment of Theal as a settler historian and of his contributions to "racial myths" vide
Saunders 1988: 9-44.
It would be intriguing to attempt an analytic reconstruction of the sources actually used by Theal. In addi-
tlon to the journals of such adventurers as Fynn (1950) and Isaacs (1936,1937), some of whose writings had a
checkered and at times even mysterious history, and Bird's (1885) patchy compilation of early sources on
he history of Natal, Theal probably made use of the published material on the Zulu by Theophilus Shep-
^tone, who was appointed Diplomatic Agent with the Africans in Natal in 1845 and became the influential
ecretary for Native Affairs in the British colony of Natal in 1859. But, if any one man is responsible for the
^reat-man fairy tails surrounding the careers first of Dingiswayo and then of Shaka it was Shepstone (1875),
ln spite of the fact that he as the son of a missionary in the eastern Cape Colony was fluent in the Nguni lan-
gages and collected an impressive amount of oral evidence on their history from very many Zulu them-
Sc'lves that is housed in the Natal Archives in Pietermaritzburg. However, his version especially of Dingis-
^ayo s arrival and subsequent career among the Mthethwa in 1812 was finally laid to rest by Leonard
"ornpson in 1969, because Shepstone's chronology was all wrong.
128
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
justify annexation. And as for A. T. Bryant's unwieldy and only partially published
collection of oral traditions is concerned, it cannot be taken at face value, but requires
. complete reclassification..." as Shula Marks (1969: 144) pointed out twenty years
ago.
Now, at the latest since 1969, since the publication of the first volume of the Ox-
ford History of South Africa (Wilson & Thompson 1969) there has commenced a re-
writing of southern African history, a rewriting that is gradually according the indi-
genous African societies their rightful place not only in southern African but in world
history as well (Raum 1976). This rewriting is characterized by two elements: firstly,
the introduction of theory, mainly Marxist theory, and secondly, and to my mind
more importantly, by a critical réévaluation of all the available historical evidence in-
cluding not only the well-known sources used hitherto, but also oral tradition as well
as archaeological evidence.3
Now, what in a brief paper like this can we say are some of things that have been
learnt by this reworking of southern African history concerning the origins and devel-
opment of centralized political systems among the southeastern Africans and the Zulu
in particular before they finally came under the colonial rule of Britain in the second
half of the 19th century?
Let us commence with Dingiswayo's and Shaka's military innovations: The
grouping of youths and also young women into age-classes at puberty is such a wide-
spread culture trait in south, central and east Africa (Raum 1968; 1969/1970) that it
cannot be assumed that Dingiswayo actually introduced age-class regiments among
his Mthethwa from scratch. In fact, there is evidence that the Pedi further north al-
ready employed age-class regiments in the late 18th century some time before the reign
of Dingiswayo for more or less the same purposes as he did (Delius 1983; Omer-
Cooper 1987: 53-54). The short stabbing spear also was a weapon used by most of the
hunters and warriors in the southeastern African chiefdoms. It was employed by the
Xhosa4 in their attack on Grahamstown in 18193, for instance, and thus can hardly
have been a novel implement of war introduced by Shaka, although he may well have
improved it and enforced its use in hand-to-hand combat. And the semicircular or
horns battle formation was quite obviously derived from the drives or battues em-
ployed by all African societies when hunting game on a large scale (Raum 1990).
What, however, does seem to have happened and seems to be significant for the
problematic of the origins of states and of the evolution of societies in general is that
3 For critical assessments of the development of South African historiography vide Saunders 1988 and
Marks 1986.
4 For the variety of spears or assegais manufactured by Xhosa smiths cf. Gitywa 1971, who mentions two
types of stabbing spear, one of which was "for use at close quarters", and quotes a number of earlier sources
in addition to the oral information he collected from erstwhile Xhosa smiths.
5 Even if the Xhosa warriors actually broke off the shafts of their assegais during this battle in order to use
them for stabbing as the sources say, though this is hard to believe, they must have been acquainted with the
use of the short stabbing spear in close combat to do this (cf. Peires 1982: 135-139, 143-144).
J.W.Raum: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emergence of states
129
such institutions as age-class regiments were reorganized and then employed for new
purposes such as the manufacturing of products for export to the Portuguese at Dela-
goa Bay (Bird 1885:1: 63; Fynn 1950:10-11), for instance, as well as for elephant hunt-
ing (Bleek 1965: 77-79). And Dingiswayo and later Shaka on a far greater scale seem to
have laid the foundations for a group sentiment one could perhaps call Mthethwa or
Zulu patriotism (Maylam 1986: 28), a sentiment somewhat akin to Prussian or Bava-
rian patriotism for that matter, both of which were, incidentally, being developed in
Europe only slightly earlier, namely, during the 17th and 18th centuries. In other
words both these rulers were not merely simple innovators in acephalous polities in-
troducing some few new forms of military organization and tactics into hitherto
amorphous societies organized in lineage systems, but they seem to have been at-
tempting something like a total reorganization of their whole society using, however,
organizational and technical elements already present in all the cultures of southea-
stern Africa (Maylam 1986: 32).
So the question that really arises is: Why did they do so? Was it simply because two
or three great men came along and changed everything?
Now, in order to answer this question it seems necessary to place the development
of political centralisation among the Mthethwa and Zulu in a wider historical perspec-
tive. First of all, the southeastern peoples with Bantu languages, to whom the
Mthethwa and Zulu belong, were definitely not late comers in this area as the historian
1 heal and the missionary Bryant had adamantly maintained. This myth, incidentally,
has served the descendents of the European settlers well right up until very recently
(Thompson 1985), although Monica Wilson (1959) refuted it in the fifties on the basis
°f her meticulous reading of the available written sources, some of which date back to
as early as the 15th century when the first shipwrecked Portuguese sailors reported on
their overland journeys to Delagoa Bay. On the contrary, according to the latest radio-
carbon dates of archaeological deposits the first food-producers reached the present
day Transvaal and Natal at the latest during the third or fourth century AD and possi-
bly even earlier, that is at about the same time as the Germanic invasions in Europe. It
can hardly be doubted that these food-producers were the ancestors of the Bantu-
speakers in the whole of southern Africa. Again according to the findings of the South
African prehistorians something like a sea-change occured round about 1000 AD that
ln all likelyhood was connected with the mining of copper and gold mostly for export
overseas via Delagoa Bay as well as with the mining and working of iron for the pro-
duction of agricultural implements and weapons for the local populace. The findings at
and around Mapungubwe on the middle reaches of the Limpopo point to an initial
phase of political centralisation at about the same time that the Saxons and Salians were
reigning in the Holy Roman Empire of the German Nation. This process of political
Centrahsation antedates developments in Zimbabwe further north, where state forma-
130
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
tion reached a climax during the 13th, 14th and 15th centuries.6 As Monica Wilson
(1969:150-151) pointed out long ago the Limpopo is navigable in its lower and middle
reaches and, in fact, probably is more easily navigable than the meandering Zambezi
estuary is near the sea. So long-distance trade must have been one reason for this initial
political centralisation (Hall 1987: 88-90) and the extraction of gold with purely indi-
genous techniques for export across the Indian Ocean to countries as far away as
China another (Hall 1987: 96-97,101—102). In fact, southeastern Africa was enmeshed
with the first transoceanic trading network the world has ever seen at least some four
to five hundred years before Bartholomeus Dias' crewmen forced him to turn back
from somewhere beyond present day Port Elizabeth. So, who could be surprised then
that the Zulu word for money, namely imali (Pi. izimali), is in all likelyhood con-
nected with or derived from the Swahili word mali meaning "property, goods, wealth,
riches, possession" (Johnson 1939: 257; cf. Velten 1910: 229; Binns 1925: 132) and
through it may be akin to the Arabic term mal for "property" (Doke & Vilakazi 1964:
479) as the Swahili word definitely is.
Thus, it is at the very latest at this point in time, i. e., around 1000 AD when Wil-
liam the Conqueror invaded England, that the first chiefdoms in the sense that Elman
R. Service (1962:143-177; 1975:15—16) uses the term must have come into existence in
this area and probably very much earlier, although hitherto we have no direct written
evidence for this assertion and we are never ever likely to have any. But all the incon-
trovertible evidence from the reports of Portuguese, Dutch and British shipwrecked
sailors from as early as the middle of the sixteenth century onwards indicates that in
the hinterland of the southeast African coast clans or larger unilineal descent groups of
some kind or another had hardly any corporate political functions and then only
within the political structures of chiefdoms or principalities or perhaps even small
kingdoms at the very latest from about 1500 onward. Indeed, we do not know whether
clans or even lineages ever really were indepedent political units in this region at all
(Wilson 1969: 116-130)! However, quite a number of the sources speak of chiefs, that
is of an inkosi, which is the term applied to a chief, a lord or a king, but not to the head
of a clan or lineage even today (Wilson 1969: 85; Doke & Vilakazi 1964: 405). And it is
significant that this term is etymologically closely connected with the word for the
"first fruits ceremony" that might only be performed by paramount chiefs or kings in
all or most of the Nguni-societies, i. e., those numerous societies neighbouring and
akin to the Zulu. It was employed not only by all known kings of the Zulu, but also by
those of the Swazi and Bhaca, for instance, right up until the twentieth century in order
to ritually legitimize their kingship (Raum 1967). So the implication is that by the time
of the earliest contact with Europeans in the 15th and 16th centuries, chiefdoms seem
to have been well-established already. This convincingly proves that neither Dingis-
wayo nor Shaka some 250 to 300 years later constructed their kingdoms within an
6 For an interesting summary of the findings of the prehistorians vide Hall 1987, but cf. also Phillipson 1977,
1985: 171-186. And for Zimbabwe itself see Summers 1963 and Garlake 1973.
J.W.Raum: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emergence of states
131
amorphous sea of acephalous clans, as Friedrich Engels seems to have believed7, but
within a system of contending chiefdoms or even principalities or small kingdoms
(Maylam 1986: 25-27) that propably had far more in common with the political con-
stellation in Central Europe during the Middle Ages or even in Early Modern Times
than eurocentric historians would like to have us believe.
The basic productive and reproductive units in southeastern Africa during most of
the 19th, and in parts of the country right up until at least the first decades of the 20th
century, were the homesteads of the polygynously and patrilineally extended families.
These could contain up to something like twenty married men, who as a rule, but not
invariably, were agnatically related to one another (Wilson 1969: 116). The heads of
adjacent homesteads were frequently, but also by no means always agnatically related.
What was more important was, that the heads of homesteads were ranked according to
primogeniture and to whether they could trace their patrilineal descent to that of the
chief. But in the last resort it was the homesteads that were and must have been the
basic economic and political buildings blocks of the chiefdoms since time immemorial.
In this respect evolutionary theory has obscured the fact that the chiefdoms in this area
consisted of local groups of homesteads that were by no means necessarilly agnatically
related to one another, but were subordinate to a headmen under the chief. Chiefdoms
in this area can thus be defined as a combination of homesteads whose headmen owed
allegiance to the chief.8
Now it is a fact that, at the time when Dingiswayo and then Shaka first appeared on
the scene, there already existed a number of groupings of such fairly powerful chief-
doms under what might, for lack of a better term, be called paramount chiefs or king-
lets. In fact, Maylam (1986: 25-27) distinguishes no less than four "power blocs" un-
der such paramount chiefs among the northern Nguni, namely, the Ngwane, the
Ndwandwe, the Qwabe and the Mthethwa. At least one of these paramount chiefs,
namely, Zwide of the Ndwandwe must have been as powerful as or even more power-
ful than the Mthethwa paramount as it was he who had Dingiswayo killed and then
contested with Shaka for control of the Mthethwa. His warriors were, however, de-
feated by Shaka, who because of his superior generalship was thus able to extend his
Engels' romanticizing description of the "Gentilverfassung" contains a reference to the Zulu and by impli-
cation to Isandhlwana. However, he apparently imagined that Zulu warriors "... gar keine Dienstzeit haben
und nicht wissen, was Exerzieren ist." Nevertheless, he seems to have known that at least a few of the more
Perspicacious British officers were aware of the fact that a Zulu impi could move as fast or almost as fast as
European cavalry (Engels 1973: 83-84). Seeing his nickname was "der General", one wonders whether he
relight have avoided the initial devastating defeat of Lord Chelmsford's central column had he been in com-
mand.
Still the most useful book when considering the wide range of indigenous political systems in South Africa
from an evolutionary and social anthropological point of view is Isaac Schapera's (1956) classic Government
and Politics in Tribal Societies. It is based not only on a lifetime of fieldwork among the Tswana polities, but
also on a profound knowledge of the relevant written historical sources on South Africa. It is a source of
Wonderment and amazement that this highly informative book, which in a way is cast in an evolutionary
ttiould, is hardly ever quoted by "evolutionary anthros", although Schapera is a "social anthropologist"
himself.
132
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
control not only over the Mthethwa themselves but also over all the other chiefdoms
that had owed allegiance to Dingiswayo (Thompson 1969: 343-344). There were,
however, quite a number of other combinations of chiefdoms under a paramount that
were quite able to maintain their independence over and against the Zulu such as the
Swazi, for instance (Bonner 1983). So the problem remains unsolved: What was the
reason for chiefs or chiefdoms to subordinate themselves to a paramount or king in
southeastern Africa towards the end of the 18th and during the early 19th century?
The answer to this question must be sought in a combination of causal factors that
impinged on the productive and reproductive systems of the chiefdoms concerned.
One of these seems to have been of an ecological nature. Geographers and archaeolo-
gists maintain they can discern a phase of high rainfall and consequent high agricul-
tural productivity towards the end of the eighteenth century that presumably led to a
significant increase in population. When a period of drought set in, however, there oc-
cured an inevitable contest for scarce resources that encouraged political centralisation
around 1800 (Thompson 1990: 81; Guy 1980). Another factor must have been long-
distance trade via Delagoa Bay. And the area between the Pongola and the Tugela, i. e.,
the northern portion of the present day province of Natal, had something to offer,
namely, elephants and their tusks. The "border ruffians", on whose biased reports
many evolutionary anthropologists have hitherto relied for their information on the
Zulu, were elephant hunters and ivory traders (Fynn 1950; Isaacs 1936, 1937). And a
number of studies have shown that Delagoa Bay must have been quite an important
entrepôt for both the export and import of commodities (Smith 1969; Hedges 1978).
But just as important and possibly far more important was the fact that, as Cobbing
(1988) has convincingly shown, the settlers in Cape Colony in the south and the slave
traders9 at Delagoa Bay in the northeast were seeking for forced labour for the farms in
the British colony in the south on the one hand and for slaves for the sugar plantations
in Brazil and elsewhere on the other. In the last resort this was a result of the expansion
of European capitalism over the globe that penetrated into the interior of southern
Africa in the form of settler capitalism (Denoon 1983) from the south and plantation
capitalism from the northeast with their twin cravings for cheap or forced labour. This,
in the last resort, was the prime cause for the destruction and devastation in the interior
that was finally brought to a climax by the socalled Great Trek and not or by no means
only by the socalled Zulu Wars or mfecane10 or difaqane. As a result of the fact that the
societies in southeastern Africa were ineluctably being drawn into the capitalist world
system a number of "reactive states" came into existence among which were both the
Mthethwa and the Zulu. And it is significant, as Julian Cobbing (1988) points out, that
all of these reached their climax not in the twenties and thirties of the last century when
9 Many recent authors have hitherto denied that slave trade was a factor influencing developments among
the northern Nguni. But Macmillan (1963: 36-37) referring to Dr. Philip among others provides definite
proof that the northern Nguni had reason to fear the slave traders based on Delagoa Bay.
10 Cobbing (1988) maintains the term mfecane is a completely artifical word coined by E. A. Walker. This
may be true. But in Xhosa this word does have the meaning "marauder".
J.W.Raum: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emergence of states
133
Shaka and Dingane were ruling north of the Tugela, but in the fifties and sixties when
Mpande and after him Cetshwayo were the rulers of the Zulu Kingdom at the time
when the British Colony of Natal, in which the settler element was predominant, had
become established south of the Tugela.
The conclusion, therefore, that has to be drawn is that the Zulu Kingdom was one
of a number of "reactive states" that in the last resort owe their origin to the expansion
of European capitalism. The societies in this part of Africa as in many other parts of the
world were caught up in a world-wide process of capitalist development. The devel-
opment of political centralisation in these parts of Africa consisted of attempts to cope
with the many and varied challenges both of an economic and political nature that this
crisis posed for these societies. In one respect these societies were perhaps better able
to cope with this crisis than others elsewhere, as they had been enmeshed in the trans-
oceanic trade network that encompassed the Indian Ocean and parts of the western
Pacific seaboard long before Vasco Da Gama doubled the Cape of Good Hope. So
perhaps it is in fact not surprising that Dingiswayo tried to reorganize the forms of
production and military organization within his Mthethwa Kingdom using social and
political institutions he was familiar with and Shaka followed in his footsteps. How-
ever, what seems to be important from an evolutionary point of view regarding the ori-
gin of states or centralized political institutions, is the fact that the leaders of these so-
cieties seem to have employed purely indigenous institutions of social and political or-
ganization as well as a purely indigenous military technology to cope with the pro-
blems European capitalist expansion confronted them with. One exception is perhaps
to be descerned in respect of the economy. In the economic sphere the Zulu as well as
all the other indigenous peoples in southeastern Africa produced quite a respectable
number of individuals, who were fully capable of perceiving the revolutionary effects
°f European capitalist intrusion and of divising effective counter measures by becom-
lng entrepreneurs themselves (Etherington 1978; cf. Lewis 1984). Perhaps, among
°ther things, one should see in Dingiswayo and pobably even Shaka not only success-
^U1 political and military leaders, but also two of the more successful African entrepre-
neurs during the 18th and early 19th century in this part of Africa, comparable to Wal-
denstein, for instance, during the Thirty Years' War, whose regiments and armies can
hardly have been very much larger than theirs and who accumulated wealth as well.
The initial military resistance of the Africans to European expansion in Southern
Africa was impressive and at times even partially successful: the Zulu, for instance,
Caught the central column of the invading British Imperial Army with its pants down
at Isandhlwana in 1879 and annihilated it in a short sharp battle comparable in general-
ship and probably also numbers to Cannae. In fact, probably one of the reasons why
the successor of Dingane Mpande and his son Cetshwayo reinvigorated, maintained
and improved the Zulu military system was their perception of both the Boers in the
^•"ansvaal as well as the Colony of Natal as threats to their independence. But in the
l°ng run they all succumbed to colonial expansion and oppression to a greater or lesser
^egree. One of the main reasons for this was the fact that "we had the maxim gun and
134
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
they had not". All Africans traded for firearms assidiously, but the guns they obtained
were almost invariably of an inferior quality to those used both by the colonial armies
and the settlers as well as the transfrontiersmen (Marks & Atmore 1971).
In the light of this somewhat sketchy attempt to summarize our present knowledge
about the origin of the Zulu Kingdom in the early 19th century, what are the conclu-
sions that may be drawn in respect of evolutionary theory and the emergence of the
state? There seem to be at least three: The first concerns the use of sources. The second
concerns the use of archaeological findings. The third concerns the "phaseological"
location of evolutionary processes in space and time. In conclusion these shall be dis-
cussed in turn.
(1) The discussion of the problem of sources may perhaps best be begun by juxta-
posing two quotations one by an anthropologist the other by an historian. The "evolu-
tionary anthropologist" says that for various reasons : "The rise of the Zulu state is...
the best documented and best analyzed of all the cases of state formation recorded...."
(Service 1975: 104-5). The historian on the other hand laconically states: "Our know-
ledge of the origins of the Zulu kingdom is limited." (Thompson 1969: 336.)n The an-
thropologist quotes one or two secondary sources as well as Bryant and two of the
problematic, but ostensibly primary sources by "border ruffians" referred to above
without any critical comment whatsoever. The historian on the contrary continuously
offers critical comments on the sources he uses both in the text and in the footnotes.
And the curious thing is that the anthropologist apparently was unaware of the text by
the historian published some five to six years before his. Now, nobody can expect that
an evolutionary anthropologist aiming at wide and encompassing generalizations
should have to read all the relevant primary sources available in respect of an ethnogra-
phic case he refers to. But he should make sure of two things. He should try his utmost
to use the best secondary sources available. And he should try to assess at least some ot
the accessible primary sources according to the time honoured criteria used by histo-
rians as well as in the light of what serious historians say about them. Of course, in this
case as in many others, neither the anthropologist nor the historian could evaluate or
use primary sources unavailable when they wrote. And in this respect the Zulu case
may one day in fact become an extremely well documented case of political centrali-
sation on the frontier of European expansion. There is an immense corpus of collected
oral evidence in the form of The James Stuart Archive (Webb & Wright 1976) as well as
the unpublished parts of Bryant's collections that have so far hardly been critically
used or evaluated either by historians or by anthropologists in respect of the question
of the origin of the state. Before this has been done, however, none of the current
theories on the origin of the "Zulu Kingdom" can claim a sufficient empirical basis.
11 Cf. Davenport (1987: 16), another historian, who says in the same connection: "We do not possess the
kind of information about late eighteenth-century African societies which enables us to measure or describe
in detail the actual changes that took place. It is not difficult, when reading the contemporary and some later
historical accounts by European writers, to detect a stereotype mythology, as in the routine descriptions of
Shaka's brutality in the writings of Fynn, ..."
J.W.Raum: Historical concepts and the evolutionary interpretation of the emergence of states
135
(2) In cases like that of the Zulu where the people themselves have left no written
records it should be imperative for any evolutionary anthropologist to make as much
use as possible of the accessible relevant findings of the archaeologists. For some time
already many archaeologists working in southern Africa have been turning their atten-
tion towards the history of the hoe agriculturalists and pastoralists peopling this re-
gion since the first centuries A. D. In fact in 1975 Mgungundlovu, the capitel of Din-
gane the successor to Shaka, was partially excavated (Parkington & Cronin 1979). The
findings of the prehistorians quite definitely show that many centuries of economic,
social and political development tending towards political centralisation went before
the origins of the Zulu kingdom. In fact states or statelike polities had developed on the
middle reaches of the Limpopo around Mapungubwe during the first centuries of the
present millenium already (Hall 1987: 88-90). Thus there had been indigenous precur-
sors of the Zulu Kingdom in the immediate vicinity for at least a few centuries and the
Pedi polity was an immediate forerunner in the 18th century (Delius 1983). So, in the
light of prehistory the origin of the Zulu Kingdom may to a certain extant at least have
been the result of long term developments and not a sudden erruption, especially in re-
spect of the social and political institutions as well as the implements and weapons em-
ployed.
(3) Finally, it seems essential to attempt to locate each and every case study of an
evolutionary process of the origin and development of centralized political systems in
a frame of reference defined by historical space and time before assessing its signifi-
cance for an evolutionary theory. In the case of the Zulu Kingdom the question then
arises: Can developments in the late 18th and early 19th century in areas directly adja-
cent to European trading ports, European settler colonies and European migrant com-
munites be equated with processes of early state formation two to three to four thou-
sand years ago in the Near East? The obvious answer is: No they cannot. However, at
least typologically they can and should be placed in the highly interesting frame of re-
ference of those frontier processes taking place on the fringes of expanding empires all
°ver the world since the development of early states and empires in the Nile valley and
the Near East that are characterized by the development of "reactive states". Then,
perhaps, analogies may be drawn respecting the origins of "secondary states" in the
sense that Morton H. Fried (1967) uses this term. These may afford interesting insights
mto the origin and early development of centralised political systems within frontier
Zones. But in the case of the Zulu Kingdom one should never forget that Shaka was not
°nly compared to but was also a near contemporary of Napoleon I. And Shaka's ne-
phew, the last indepedent Zulu king Cetshwayo, was a contemporary of Disraeli and
I^smarck. And both of them were fully aware of the importance of firearms for fight-
lng wars in a frontier situation in the 19th century.
136
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
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Vom Gewinn und Verlust von Freiheit
Aspekte der Arbeitsteilung bei den Tuareg
Christiane Ryffel-Gericke
Bederstr. 97, CH-8002 Zürich, Schweiz
Abstract.A valid assessment of the cultural mores underlying our society often only becomes possible when
a comparison with another culture is made. By means of a foreign ethnological group - namely the Tuareg —
is shown in the following article how between the members of a society the problem of distributing pro-
ductive and reproductive work was solved and how far this solution was connected with the very privileged
Position of Tuareg women. Moreover, an empirical part describes actual processes of redistribution of work
and their consequences for the social position of Tuareg women is discussed. The changes in progress point
towards an adaption of the way how the male-female relationship in industrial societies have evolved.
Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf zwei soziale Kontexte, nämlich auf die
Schweiz und auf die Tuareg, einer bis anhin in Afrika nomadisierenden Ethnie. Dabei
^verde ich mich - ausgehend von unserer industrialisierten Gesellschaft - insbesondere
toit der Frage nach der Arbeitsteilung bei den Tuareg auseinandersetzen. Ich stelle
diese eine gesellschaftliche Dimension deshalb ins Zentrum, weil sie einerseits als un-
umgängliche Begleiterscheinung gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse gesehen
Verden kann und sie andererseits als eine der zentralen Quellen sozialer Ungleichheit
gilt (Hartfiel 1981, S. 34f.).
1 Zentrale Dimensionen der Arbeitsteilung in Industriegesellschaften
am Beispiel der Schweiz
Auf die Frage, wie die Arbeit aufgeteilt werden soll, die notwendigerweise geleistet
werden muß, wenn eine Gesellschaft überleben will, hat sich in der Schweiz im Verlauf
^er Jahrhunderte eine Antwort herauskristallisiert, die sich entlang zweier Katego-
rien-Paare bewegt, die Gegensätze zu beinhalten scheinen, nämlich: ,Produktions-
Versus Reproduktionsarbeit' und ,Kopf- versus Handarbeit'.
1-1 Produktions- versus Reproduktionsarbeit
dieses erste Kategorien-Paar beinhaltet, daß Menschen Materielles (1. und 2. Sektor)
Und Immaterielles (3. Sektor) produzieren müssen, wenn eine Gesellschaft Bestand
y *
Cltschrift für Ethnologie 114 (1989) 139-160 © 1989 Dietrich Reimer Verlag
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
haben soll. Es beinhaltet aber auch, daß sich der Mensch immer wieder physisch und
psychisch regenerieren muß, um überhaupt produktiv bleiben zu können, und daß die
Versorgung und Sozialisation der jüngsten Generation zu gewährleisten ist, damit die
Weiterführung der produktiven Leistungen für die Gesellschaft als Ganzes gesichert
bleibt. Für das Verhältnis zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit heißt das,
daß die eine ohne die andere in ein Nichts zerfiele oder - positiv formuliert - nur bei-
des zusammen eine Gesellschaft lebensfähig erhält.
In der Schweiz nun variiert die Zuständigkeit für einen der beiden Bereiche - in-
zwischen nicht mehr so sehr ideologisch als vielmehr de facto - je nach Geschlechtszu-
gehörigkeit: Für die Reproduktionsarbeiten wie Kochen, Waschen, Putzen, Pflege der
familiären Beziehungen und der Kinder sind in erster Linie Frauen, für den Erwerb
des Lebensunterhalts via materieller und immaterieller Güterproduktion sind in erster
Linie Männer zuständig, jedenfalls, wenn man als Indikator dafür die systematisch ge-
schlechtsspezifisch variierende Teilhabe an Haus- und Familien- bzw. Berufsarbeit
gelten läßt (Ryffel-Gericke 1983). So läßt sich also festhalten, daß in industrialisierten
Gesellschaften im allgemeinen und in der Schweiz im besonderen die Aufteilung von
Produktions- und Reproduktionsarbeiten mit dem zugeschriebenen - und damit un-
veränderbaren - Merkmal der Geschlechtszugehörigkeit verknüpft ist.1
1.2 Kopf- versus Handarbeit
Auch hier handelt es sich um ein Begriffs-Paar auf einer Skala, bei der der eine Pol ohne
den anderen das Ende einer Gesellschaft bedeuten würde. Auch hier ist die Verant-
wortlichkeit systematisch auf verschiedene soziale Kategorien aufgeteilt: Die körper-
liche Arbeit mit Materialien ist reserviert für Menschen, die über wenig finanzielle und
immaterielle Ressourcen verfügen, bezahlte Arbeit mit Symbolen (Sprache, Schrift,
Zahlen) ist vor allem für die mit vielen materiellen und immateriellen Gütern Ausge-
statteten zugänglich. Da zudem die Leistungen der Kopfarbeiter höher honoriert wer-
den als die der Handarbeiter, findet so eine immer wiederkehrende Perpetuierung der
Sozialschichten statt. Jedenfalls ist allen Mobilitätsideologien zum Trotz die Aussicht,
als Kind aus der Unterschicht zum Kopfarbeiter zu avancieren ebenso gering wie die
Wahrscheinlichkeit als Kind von Kopfarbeitern zum Handarbeiter zu werden. Daraus
läßt sich zusammenfassen, daß die Zuteilung von Kopf- und Handarbeit nach dem
ebenfalls zugeschriebenen Merkmal des Herkunftsstatus - also schichtspezifisch - va-
riiert (Bornschier 1984, S. 659).
1 Im Vergleich zu anderen europäischen Industrieländern ist mit einem Anteil von 33% die Rate Berufstäti-
ger unter den verheirateten Frauen in der Schweiz relativ gering (Bericht der Eidgenössischen Kommission
für Frauenfragen 1987, S. 73 f.).
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
141
1.3 Bedeutung der Arbeitsteilung für die Stellung der Frau
Beide Begriffs-Paare, ,Kopf- versus Handarbeit' und,Produktions- versus Reproduk-
tionsarbeit' verschränken sich nun ineinander, wenn man versucht, die gesellschaftli-
che Stellung von Frauen in der Schweiz zu beschreiben : Da ihre primäre Zuständigkeit
im Reproduktionbereich liegt, sind während und nach der Familienphase in der Regel
die zeitlichen und energetischen Ressourcen zu gering, um den Anschluß an die Kar-
riere im Bereich der Kopfarbeit nicht zu verlieren. So ist es nicht verwunderlich, wenn
berufstätige Frauen vor allem in den unteren Handarbeits- und äußerst selten in den
Spitzenpositionen der Kopfarbeiter des stark ausdifferenzierten 2. und 3. Sektors zu
finden sind.
Da sowohl Reproduktions- als auch Handarbeit gesellschaftlich tief bewertet wer-
den gemessen an der Honorierung dieser Arbeiten, an ihrem Prestige und an den Mög-
lichkeiten der öffentlichen Einflußnahme, die sie beinhalten, ist demzufolge der gesell-
schaftliche Status von Frauen in industrialisierten Gesellschaften als gering zu be-
zeichnen. Ob diese Zusammenhänge wirklich zwingend sind, soll sich nun beim Blick
in eine andere Kultur zeigen.
Bei der Bearbeitung dieser Frage werde ich folgendermaßen vorgehen: Im näch-
sten Abschnitt werden einige historische Prozesse geschildert, soweit sie für die Frage
nach der Arbeitsteilung und der Stellung der Frau bei den Tuareg von Bedeutung sind.
Anschließend werden die zentralen Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld die-
ser Ethnie in Erinnerung gerufen, um dann im vierten Abschnitt einen differenzierten
Blick in die Gegenwart zu werfen.
2 Arbeitsteilung und Stellung der Frau bei den Tuareg
bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Noch heute besteht bei den Tuareg eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Wie bei
uns ist die Frau in erster Linie, ja sogar fast ausschließlich für die Familie zuständig,
und der Mann für die Sicherung der Existenz aller Angehörigen. Nicht anders als in in-
dustrialisierten Gesellschaften wird Kopfarbeit hoch, Handarbeit tief und Hausarbeit
sehr tief bewertet. Trotzdem genoß die Tuareg-Frau bis anhin hohes Ansehen und
verfügte über erhebliche Einflußmöglichkeiten.
Die Frage ist also: Wie hat sich diese Gesellschaft organisiert, daß das, was uns auf
dem Hintergrund unserer eigenen sozialen Realität als Paradox erscheinen muß, über-
haupt entstehen konnte?
142
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
2.1 Historische Prozesse im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
und der Stellung der Frau
Im folgenden werde ich auf drei Besonderheiten in der gesellschaftlichen Entwicklung
der Tuareg eingehen, die alle zusammengenommen schließlich den Schlüssel zum Ver-
ständnis der bis in die jüngste Vergangenheit besonders privilegierten Stellung der
Frau darstellen können. Diese drei Besonderheiten betreffen die Herkunft der Ethnie
und ihre ökonomische Grundlage, das sich herausbildende Schichten- bzw. Kastenge-
fiige und die gesellschaftliche Verteilung der Arbeit.
Da es zur Entwicklung dieser soziostrukturellen Merkmale der Gesellschaft der
Tuareg keine eigenen schriftlichen Zeugnisse gibt, stütze ich mich auf Berichte von
Ethnologen sowie auf die wenigen Arbeiten zeitgenössischer Autoren dieser Kultur
und auf die mündlichen Informationen, die ich während eines mehrmonatigen Auf-
enthalts in Mali in Gesprächen mit Tuareg bekam.
2.1.1 Herkunft und ökonomische Grundlage
Dem Blick in eine fremde Kultur haftet oft etwas Exotisches an. Entsprechend roman-
tisch fällt auch das Bild der Tuareg in Reise- und teilweise auch Forschungsberichten
aus: Sie werden als „Frauen, die auch in der Ehe frei bleiben" (Lhote 1984, S. 187) be-
zeichnet, als die „Ritter der Wüste" (Göttler 1984, S. 81): freiheitsliebend, stolz und
von natürlicher Noblesse - wahrhaft respekteinflößende Eigenschaften, deren Faszi-
nation sich in der Begegnung mit ihnen auch heute noch niemand so leicht entziehen
kann. Dieser Eindruck dürfte allerdings weniger in einer naturgegebenen außerge-
wöhnlichen Charakterstruktur wurzeln als vielmehr in der sozialen Position, die sie
seit Jahrhunderten in ihrem Gesellschaftsgefiige einnehmen. Darauf werde ich später
genauer eingehen.
Über ihren Ursprung gibt es zahlreiche Theorien (N'Diaye 1970). Ob sie Nach-
fahren der Kelten, der Atlanten (ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen des Atlas-
gebirges), der Zenega (einer Berber-Gruppierung) oder Garamanten sind (eine noch
vor Christus in der Wüste jagende Ethnie), bleibt letztlich ein Rätsel. Sie selber nennen
sich ,Imuhar', das heißt,Freie, Unabhängige' (Göttler 1984, S. 81), und führen ihren
Ursprung auf eine Frau namens Tin-Hinan zurück, die im Verlauf ihres Lebens ins
Hoggar-Gebirge des heutigen Algeriens gezogen war2. Dem Glauben an diese Stamm-
Mutter entspricht auch die ursprünglich wahrscheinlich matriarchale Ordnung der
Tuareg (Lhote 1984, S. 36f.). Bei einigen Gruppierungen sind entsprechende Spuren
noch heute zu finden, indem weiterhin Matrilinearität und -lokalität als Ordnungs-
prinzipien bestehen (Soldini 1983, S. 15 f.). Von irgendwoher kommend wanderten sie
also noch vor Christus in den westlichen Sahara-Raum, lebten bis ins 20. Jahrhundert
2 Tin-Hinan bedeutet „celles des tentes", aber auch „femmes libres" (Gast 1986, S. 187).
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
143
von Vieh-, auch Kamelzucht und Karawanenhandel und konnten sich nomadisierend
einen harten, aber weiten Lebensraum erschließen: die Wüste und ihre Randgebiete,
den Sahel. Ihre Ökonomie gründete auf dem Tausch von Naturalien, Vieh und Ge-
brauchsgegenständen, die zusätzliche Einführung von Geld als Tauschmittel wurde
erst mit der Kolonialisierung Anfang dieses Jahrhunderts notwendig.
2.1.2 Herausbildung einer gesellschaftlichen Hierarchie
Wie andere afrikanische Ethnien erbeuteten die Tuareg im Laufe der Zeit in zahlrei-
chen Stammeskämpfen ihre Sklavinnen und Sklaven oder erstanden sie auf dem
Markt: schwarzhäutige Sklavenfamilien einerseits und andererseits der hellhäutige
Adel, zu dem ausschließlich die eingewanderten Tuareg zählten, sollten in Zukunft
eine symbiotische Einheit bilden. Damit waren die Grundelemente ihrer Sozialstruk-
tur gegeben. In der Folge entwickelte sich das Gesellschaftsgefüge aber zu größerer
Komplexität, deren Spuren bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind3.
Gesamthaft läßt sich dieses Sozialgefüge als eine Mischung aus Schichten und Ka-
sten bezeichnen: Bildeten wohl ursprünglich Adel und Sklaven voneinander abge-
schlossene Kasten, so war schließlich trotz der bei den Tuareg herrschenden Endoga-
mie durch Heirat ein sozialer Auf- bzw. Abstieg möglich. In welcher Linie die
Schichtzugehörigkeit weitergegeben wurde, hängt bis in die Gegenwart davon ab, ob
die Gemeinschaft patri- oder matrilinear organisiert ist. Beide Formen sind heute
bei den Tuareg anzutreffen. Unter den Vasallen, die sich als weitere Schicht herausbil-
deten, befanden sich vor allem Abkömmlinge aus Mischehen zwischen Adel und
Sklaven. Zwischen seßhaften Harratin und nomadisierendem Adel gab es - außer der
Ökonomischen - keine Verbindung (Soldini 1983, S. 18 f.). Deswegen können die
Landarbeiter ebenso wie die Schmiede, bei denen auch heute noch strenge Endogamie
herrscht, als ,Kaste' bezeichnet werden.
Tabelle 1.
Adel (ILLELAN):
Krieger
(MUSAR)
Marabuts
(ALFAQUIT, INESLEM)
Schmiede-
Handwerker
und Hand-
Werkerinnen
Rangabstufung
bezüglich Prestige
und Macht
Vasallen (IMRAD)
(INHADAN)
Landarbeiter (HARRATIN)
i
Sklaven/Sklavinnen
(EKLAN)
Je nach Dialekt variieren die Tamaschek-Bezeichnungen.
144
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Typisch für dieses Gesellschaftssystem ist, daß mit Ausnahme der Vasallen jede
Schicht bzw. Kaste aus einer anderen Ethnie gebildet war und daß zwar eine deutliche
Hierarchie bezüglich des sozialen Prestiges bestand, daß aber jede Schicht/Kaste ein
Monopol auf die Erfüllung einer für die Gesamtheit überlebenswichtigen Funktion
besaß: So waren innerhalb des Adels die Krieger verantwortlich für den Schutz aller
gegenüber feindlichen Angriffen, und die Marabuts waren zuständig für die spirituelle
Sorge um die Gemeinschaft. Vasallen und Landarbeiter bildeten die Stützpfeiler der
Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten, die Sklaven schließlich hatten die an-
fallenden manuellen Schwerarbeiten zu verrichten. Dazu kam die Kaste der Schmiede.
Sie waren vermutlich jüdische Einwanderer (Soldini 1983, S. 19), galten von jeher als
frei und schlössen sich manchmal generationenlang, manchmal nur kurzfristig den
gleichen nomadisierenden Adelsfamilien an. Mit dieser Aufteilung der Verantwortung
für Sicherheit und Religion, Nahrungsmittel-, Handwerksproduktion und manueller
Schwerarbeit auf die in verschiedenen Kasten/Schichten organisierten Ethnien konnte
in der extrem harten natürlichen Umwelt die eine ohne die andere nicht existieren.
Trotzdem bildete der Adel sowohl ein Prestige- als auch ein Machtzentrum. Ersteres
besteht noch heute, letzteres ist verlorengegangen.
Nachdem nun die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung ausgebreitet sind,
soll im folgenden auf die Stellung der Tuareg-Frauen in diesem Gefüge eingegangen
werden. Dabei werde ich das Schicht-/Kastensystem unter dem Aspekt der Verteilung
von Produktions- und Reproduktionsarbeit sowie von Hand- und Kopfarbeit be-
trachten. Es werden also die gleichen analytischen Kategorien angewendet wie bei der
Charakterisierung der Arbeitsteilung in unserer westlichen Gesellschaft.
2.1.3 Zur kästen-, schicht- und geschlechtsspezifischen Zuteilung der Arbeit
Ebenso wie in industrialisierten Gesellschaften zeigte sich auch bei den Tuareg und
den ihnen assoziierten Ethnien eine schicht- und geschlechtsspezifische Systematik in
der Aufteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Dazu kamen die spezifischen
Aufgaben der Kasten. Diese Systematik wies den Tuareg-Frauen jedoch eine andere
gesellschaftliche Position zu, wie die schematische Darstellung in Tabelle 2 deutlich
macht.
Die gezeigte Aufteilung galt für Friedenszeiten, denn in Perioden von Unruhen
waren die Krieger und später im Kampf gegen die Kolonialherren auch die Marabuts
und Vasallen mit dem Kampf beschäftigt. Die Versorgung der zurückbleibenden
Frauen und Kinder war unverändert durch Sklavinnen und Sklaven, Landarbeiter und
Landarbeiterinnen sowie Schmiedfamilien sichergestellt.
Die Zusammenstellung in Tabelle 2 macht folgendes deutlich: Die Tuareg-Frauen
leisteten sowohl Produktions- als auch Reproduktionsarbeiten. Ihr Schwerpunkt lag
dabei im Bereich der geistig-psychischen Reproduktion, d. h. vor allem hier leisteten
sie Kopfarbeit. Damit kam ihnen auf dem Hintergrund der in ihrer Kultur gültigen
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
145
Tabelle 2.
Produktionsarbeit
Kopfarbeit
Tuareg-Frauen:
Konstruktion und
Überwachung der
Montage von Zelten
Tuareg-Männer:
Kamelzucht (insbe-
sondere Meharis,
weiße Rennkamele)
und/oder je nach Re-
gion: organisatorische
Arbeiten im Zusam-
menhang mit der
Groß-Viehzucht
(Wahl der Weide-
plätze, der Wander-
route, Entscheid über
Dauer der Aufent-
halte), Handel
Vasallen:
Organisation der
Kleinviehhaltung
und/oder landwirt-
schaftlichen
Produktion
Handarbeit
Tuareg-Frauen:
Herstellung bestimm-
ter Haushaltgegen-
stände aus Leder in
Kollektivarbeit (Zelt,
Kissen, Trinksäcke,
Säcke zur Butterher-
stellung) und aus Rohr
(Betten, Kinderwiege)
Schmuck und Kunst-
handwerk zum Eigen-
gebrauch
regionenweise Ziegen-
hüten
Sklaven:
Kamelhüten
Viehhüten
je nach Region auch
Innenarbeiten im Zelt
und Hilfe bei seiner
Instandhaltung
Schmiede:
sämtliche Metallarbei-
ten (z. B. Waffen, Mes-
ser, Zierbeschläge,
Schmuck)
sämtliche Holzarbei-
ten (z. B.: Kamelsättel,
Eßschüsseln, Löffel)
Schmiedinnen:
sämtliche Lederarbei-
ten (z. B. Amulette,
Blasebälge, Reiseta-
schen, Trinkbeutel)
Reproduktionsarbeit
Kopfarbeit
Tuareg-Frauen:
Tradierung des kultu-
rellen Wissens (Wei-
tergabe des Tifinagh -
Schrift der Tuareg — an
die Kinder)
Pflege von Gesang,
Musik und Dicht-
kunst
Pflege der verwandt-
schaftlichen Beziehun-
gen
Entscheidungen in al-
len familiären Angele-
genheiten
Entwicklung und Wei-
tergabe spiritueller Fä-
higkeiten (z. B. Kon-
taktaufnahme mit Ver-
storbenen)
Sozialisierung der
Mädchen bis zum Hei-
ratsalter
Tuareg-Männer:
Sozialisierung der
Knaben ab ca. 5. Le-
bensjahr
Pflege der Dicht-, Ge-
sang- und Erzählkunst
Marahuts:
Unterrichten der Kin-
der in den Regeln des
Korans und der arabi-
schen Schrift
— Leitung religiöser
Feste
Handarbeit
Tuareg-Frauen:
Anwendung von Wis-
sen um Heilkräfte
Sklavinnen:
sämtliche Hausarbei-
ten (Vor- und Zuberei-
tung der Mahlzeiten,
Wasserholen, Wa-
schen, andere Reini-
gungsarbeiten)
Beaufsichtigung der
kleinen Kinder
Versetzungen und Strukturen eine Schlüsselposition zu, denn die Pflege von Ver-
Vvandtschafts- und Familienbeziehungen hatte durch ihre ökonomische Funktion
erstrangige Bedeutung: Verwandtschaft und Ökonomie, insbesondere Aufbau und
•¿Ucht von Viehherden, waren bei den Tuareg zwei eng miteinander verknüpfte gesell-
schaftliche Bereiche (Oxby 1986). Sie waren vergleichbar mit der Bedeutsamkeit von
^°litik und Wirtschaft in industrialisierten Gesellschaften. Wollen wir die soziale Stel-
Ung der Tuareg-Frau nachvollziehen, müßten wir uns also vorstellen, welche Auswir-
kungen es auf unser Leben hätte, wenn sämtliche politischen oder alle führenden
^ Aktionen im Wirtschaftsbereich von Frauen ausgeübt würden.
146
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Zudem herrschte, wie bereits erwähnt, bei den Tuareg ausgeprägte ethnische En-
dogamie, so daß man fast von einem einzigen großen Verwandtschaftsverband spre-
chen kann. Das sie bis in die Gegenwart über verschiedene nationale Grenzen und
große räumliche Entfernungen hinweg einigende Zusammengehörigkeitsgefühl
dürfte nicht zuletzt auf die jahrhundertelange Tradierung der Sitten und Regeln ihrer
Gemeinschaft durch die Frauen zurückzuführen sein. Auch aus dieser Tatsache läßt
sich das hohe Prestige der weiblichen Mitglieder ableiten.
Weiterhin fällt auf, daß die Tuareg-Männer keinerlei Handarbeiten übernahmen,
die Frauen mit der Herstellung der Lederzelte jedoch einen gesamthaft kleinen, dafür
aber bedeutenden Beitrag zur Existenzsicherung leisteten. Dazu kam die - nur regio-
nenweise verbreitete - Ziegenhaltung durch die Frauen, die einen beträchtlichen wirt-
schaftlichen Faktor darstellen konnte. Die Sozialisation der Kinder war unter den Ge-
schlechtern aufgeteilt, wobei auch hier die Frauen eine besondere Position einnahmen,
indem sie für die Weitergabe der Schrift zuständig waren.
Im weiteren verfügten sie über ein ansehnliches Maß an ökonomischer Autonomie
und an informellen Einflußmöglichkeiten auf den Zuständigkeitsbereich der Männer
im Rahmen der Produktionsarbeiten: Ihre materielle Selbständigkeit war gesichert
über die Brautgabe und über häufige Abgaben des Ehemannes in Form von Vieh.
Diese Werte gingen in das Erbgut der Frau ein und wurden direkt an die Töchter wei-
tervererbt. Generell akkumulierte sich das Vermögen der Frauen über die Generatio-
nen, während das der Männer Schwankungen unterworfen war, u. a. weil sie und nicht
die Frauen für die Instandhaltung der ,Haushalte' verantwortlich waren (Lhote 1984,
S. 185; Ag Mahmoud 1980, S. 124). Planungen im Zusammenhang mit dem Aufbau
von Herden und den notwendigen Ortswechseln gehörten zwar in den Zuständig-
keitsbereich der Männer, wobei jedoch die Überlegungen der Frauen bei den Ent-
scheidungen ernst genommen und berücksichtigt wurden (Ag Mahmoud 1980,
S. 143 f.).
Das politische System der Tuareg war nicht sehr ausdifferenziert. Die wenigen
Schlüsselpositionen wurden im Verlauf der Geschichte erst von Frauen oder Männern
besetzt (Lhote 1984, S. 38), spätestens mit der Kolonialisierung nur noch von Män-
nern, wobei ihre Übernahme jedoch häufig in mütterlicher Linie vererbt wurde.
Zusammenfassend macht die Verteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit fol-
gendes deutlich: Im Vergleich zu unserer Gesellschaft zeigten sich bei den Tuareg
trotz klarer Arbeitsteilung keine geschlechtsspezifischen Rangunterschiede. Gleich-
zeitig brachten sie eine relative Nivellierung der schichtspezifischen Unterschiede fer-
tig, indem sie andere Ethnien als Kasten assoziierten und nahezu sämtliche tiefbewer-
teten Handarbeiten des Produktions- und Reproduktionsbereichs an sie auslagerten -
eine Strategie, die so fremd nicht ist, läßt sie sich doch ansatzweise auch in der Auslän-
derpolitik der Schweiz finden4.
Diese Regelung im Bereich der Arbeitsteilung und ihre Konsequenzen galten m
4 Vergleiche dazu die These von der „Unterschichtung" der Schweiz (Hoffmann-Nowotny 1973).
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
147
den Grundzügen bis zur Phase der französischen Kolonialisierung. Im folgenden Ab-
schnitt gehe ich knapp auf die wichtigsten Veränderungen im sozialen und natürlichen
Umfeld der Tuareg in den vergangenen Jahrzehnten ein, um schließlich in die Gegen-
wart zu gelangen und zu beschreiben, wie sich die Männer und Frauen dieser Ethnie
heute organisieren.
2.2 Z^r Veränderung politischer und ökologischer Rahmenbedingungen
Zu den wichtigsten Determinanten des Wandels der Sozialstruktur der Tuareg gehö-
ren die Einflüsse der Kolonialisierung, die Staatsführung der westlichen Sahara-Sahel-
Staaten sowie der sich abzeichnende ökologische Zusammenbruch in diesem Gebiet.
Die zwischen diesen Einflußgrößen bestehenden Zusammenhänge können hier nicht
analysiert werden. Immerhin sei darauf hingewiesen, daß es eine verbindende Größe
zwischen ihnen gibt, nämlich die andauernde Abhängigkeit der Sahara-Sahel-Räume
von den Interessen reicher, industrialisierter Nationen, zu denen auch die Schweiz ge-
hört.
Konnten sich die Tuareg anfangs noch erfolgreich gegen die Kolonialherren be-
haupten, mußten sie sich schließlich zwischen 1916 und 1920 endgültig geschlagen ge-
ben. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit hielten ihren Einzug, und damit unter ande-
rem die Einführung ordnender Staatsgrenzen, die obligatorische Schulpflicht, die Ab-
schaffung der Sklaverei und die Einführung von Steuern und Geldwirtschaft.
Das Ziehen willkürlicher Grenzen behinderte nicht nur die Wanderungen, son-
dern bildete auch die Grundlage für die spätere unterschiedliche Staatsangehörigkeit
der Tuareg. So wurden sie nach der Unabhängigkeit den Grenzen entsprechend zu Al-
geriern, Nigerern, Maliern oder zu Bürgern Obervoltas, des heutigen Burkina Faso.
Da sie jedoch ohnehin seit Jahrhunderten keine politische Einheit gebildet hatten, son-
dern in ca. sieben großen Gruppierungen organisiert waren (Soldini 1983, S. 10), traf
sie diese Neuerung nicht unbedingt in ihrem Lebensnerv. Die aufkommende Schul-
pflicht war schon gefährdender. Bedeutete sie doch, daß die jüngste Generation von
den Eltern getrennt und seßhaft leben mußte, was zwangsläufig eine Entfremdung von
der Ursprungskultur bedeutete. So umgingen denn auch viele Tuareg dieses Problem,
mdem sie sich einer staatlichen Registrierung entzogen oder auch Kinder ihrer ehema-
ligen Sklaven oder Vasallen anstelle ihres eigenen Nachwuchses in den Schulen anmel-
deten. Die Abschaffung der Sklaverei brachte ebenfalls weniger in Bewegung, als man
annehmen könnte. Zwar schlössen sich im Laufe der Jahrzehnte viele ehemalige Skla-
ven zu eigenen Fraktionen zusammen oder wanderten in die Städte ab und wurden
seßhaft. Ein großer Teil blieb aber auch und begleitete den Adel wie eh und je auf sei-
nen Wanderungen. Das feudalistische ,Herr-Knecht-Verhältnis' mit den Landarbei-
tern wurde in eine ,Landbesitzer-Pächter-Beziehung' umgewandelt (Lachenmann
1985). So blieb als Fazit der Kolonialisierung vor allem als Ergebnis, daß es die Tuareg-
k rieger nun nicht mehr gab - ihr Widerstand war endgültig gebrochen - und daß ein
148
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
schleichender Auflösungsprozeß einsetzte, der aber noch nicht existenzbedrohende
Ausmaße erreicht hatte.
Das sollte sich mit einer teilweise sehr restriktiven Nomadenpolitik der in den
siebziger Jahren schließlich unabhängig gewordenen Staaten empfindlich ändern.
Ähnlich wie bei uns die Zigeuner bildeten auch die Tuareg ein stetes Ärgernis für die
wachsenden Bürokratien. Schwer kontrollierbar, eigenen Traditionen verhaftet, paß-
ten sie nicht in das Bild der selber um ihre neue Identität kämpfenden Staaten. So
wurde in allen betroffenen Gebieten eine Integration der Tuareg, mindestens aber eine
Zerstörung ihrer Macht, angestrebt, das heißt, man versuchte, sie zur Seßhaftigkeit zu
bewegen. Allerdings mit unterschiedlichen Mitteln. Sie reichten von verdeckten Re-
pressionen über Zwangsansiedlungen bis zur offenen Waffengewalt. Mehr und mehr
Tuareg mußten ihre angestammte Lebensweise aufgeben, wurden zu Touristenfüh-
rern, Lastwagenfahrern, einzelnen Uberlebenskämpfern in den Städten. Noch immer
aber gab es Tausende, die wanderten und in ihre herkömmliche Sozialstruktur einge-
bettet waren.
Was weder Kolonialisierung noch Staatspolitik letztlich fertiggebracht hatten, be-
wirkt nun aber der sich seit dem vergangenen Jahrzehnt abzeichnende ökologische
Zusammenbruch im Sahara-Sahel-Gebiet: Die Tuareg verlieren die Wüste als Lebens-
raum und die Kamel- oder Viehherden als ihre Existenzgrundlage. Der Umbruch be-
gann mit der ersten großen Dürre 1972/73, verstärkte sich mit der nächsten ökologi-
schen Krise 1985 und erreichte regionenweise seinen Höhepunkt 1987/88. Das Vieh
ist verhungert, verdurstet. Trotzdem versuchen noch immer einige Tuareg auf die alte
Art weiterzuleben und probieren, in ihren angestammten Räumen neue Herden auf-
zubauen. Der größere Teil aber sucht in den Städten, an der Elfenbeinküste oder in Li-
byen Arbeit oder wagt den Versuch der Seßhaftigkeit oder des Semi-Nomadismus.
Die kulturelle Einheit der Tuareg ist also endgültig aufgebrochen. Hoffnung auf das
Überdauern einiger traditionellen Strukturen besteht noch am ehesten in den Fixatio-
nen, d. h. an Nomadenstützpunkten, an denen sich in einer Fraktion verbundene Tua-
reg ansiedeln, um weiterhin im verzweigten Familienverband leben zu können. In so
einer Fixation, im Sahelgebiet Malis, sind während eines Aufenthalts im Februar und
März 1989 folgende Beobachtungen entstanden.
3 Zur aktuellen Arbeitsteilung semi-nomadischer Tuareg in Mali
Die ca. 250000 in Mali lebenden Tuareg werden hier ,Tamaschek' genannt und stellen
mit einem Anteil von ca. 6% an der Bevölkerung eine klare Minderheit dar (Barth
1986, S. 197). Infolge von Stammesfehden und Einflüssen der Kolonialisierung haben
sie sich besonders hier in unzählige politisch voneinander unabhängige, kulturell aber
durchaus miteinander verbundene Gruppierungen aufgesplittert. Zu den wichtigsten
Vorfahren der Tamaschek zählen im 17. Jahrhundert eingewanderte Krieger- und
Marabutstämme (Ag Mahmoud 1980, S. 101 f.) sowie solche, die sich aus Vasallen zu-
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
149
sammensetzten. Ungeachtet ihrer ursprünglichen ethnischen Herkunft bezeichnen
sich in Mali wie in anderen Staaten auch die ehemaligen Sklaven und die Schmiede als
Tuareg bzw. Tamaschek. Einigendes Element ist also die gemeinsame Kultur, nicht
aber die ethnische Herkunft5. Trotzdem bleiben die ehemaligen Krieger und die Mara-
buts erkennbar, indem sie sich selber als,nobles' (Adlige) bezeichnen und sich in ihrer
Physiognomie von den übrigen deutlich unterscheiden. Bis anhin gehörten die Tama-
schek vor allem zu den nomadisierenden Viehzüchtern, die sich den nördlichen Teil
Malis mit anderen wandernden Ethnien wie z. B. den Peul und den Mauren teilten.
Der relativ hohe Anteil an Nachkommen von Marabutstämmen blieb nicht ohne
Wirkung auf die Sozialstruktur, hatte aber weniger einen Einfluß auf die Gesell-
schaftsordnung als vielmehr auf die Beziehung der Geschlechter zueinander. So finden
sich in Mali nur wenige Gruppierungen mit matriarchalen Zügen, die meisten sind
durch Patrilinearität und -lokalität gekennzeichnet. Obwohl als Folge des Islam die
Polygynie ihren Einzug gehalten hatte, sind die Tuareg-Gemeinschaften auch in Mali
noch immer eine Insel der Monogamie sowie der freizügig und häufig praktizierten
Scheidungen durch beide Geschlechter. Auch die Unversehrtheit des weiblichen Kör-
pers gilt hier im Gegensatz zu anderen Ethnien in Mali als Selbstverständlichkeit, in-
dem bei den Tamaschek die Klitorisbeschneidung völlig unbekannt ist.
Die Kel Interberempt, um die es im folgenden gehen wird, umfassen wahrschein-
lich mehr als 2000 Mitglieder. Der größere Teil von ihnen lebt seit einiger Zeit in Frak-
tionen organisiert seßhaft. Hinter dieser lapidaren Feststellung verbirgt sich ein An-
passungsprozeß ungeheuerlichen Ausmaßes. Er bildet den Hintergrund des nun fol-
genden Einblicks in ihre Sozialstruktur.
3.1 Sozialer Kontext und Methoden
Dem Thema angepaßt wäre eine Langzeituntersuchung, was jedoch nicht im Rahmen
der gegebenen Möglichkeiten lag. So beschränkte ich mich auf eine,Momentaufnahme'
mi räumlich und sozial klar abgegrenzten Kontext einer ihrer Stützpunkte im Norden
Malis. Wie organisieren die verschiedenen Schichten/Kasten - falls sie überhaupt noch
existieren — ihre sozioökonomischen Beziehungen zueinander und welche soziale Be-
deutung kommt ihnen zu? Wie schließlich und mit welchem Effekt teilen sich Männer
und Frauen ihre Arbeiten zu? Das waren die zentralen Leitfragen während meines
Aufenthalts in der Tamaschek-Gemeinschaft.
Die Fixation wurde 1985 von ihnen selber gegründet und in der Anfangszeit von
Hehreren Hilfswerken unterstützt. So sind inzwischen die Grundprobleme der Was-
serversorgung und Herstellung von Unterkünften wenigstens minimal gelöst. Es blei-
ben die Probleme der Gesundheitsversorgung, der Bildung der Kinder und die Schaf-
Zum Zusammengehörigkeitsgefühl von Adel und Sklaven bzw. Sklavinnen dürfte insbesondere die Sozia-
üsierung durch den Islam beigetragen haben.
150
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
fung einer Grundlage für Subsistenzwirtschaft. Im ,Dorf' K., d. h. einer Ansammlung
einzelner einfachster Lehmbauten, vor allem aber Mattenzelte und strohgedeckter
Unterstände mitten in der Savanne des Saheis wohnen ca. 600 bis 700 Personen, d. h.
etwa 120 Familien. Einige Erwachsene haben zwischen zwei und sechs Jahren die
Schule besucht, 25 haben an einer zweimal zweiwöchigen Alphabetisierungskampa-
gne teilgenommen, zur Zeit wohnen drei Kinder auswärts, um eine Primarschule ab-
solvieren zu können. Nur etwa drei Personen sprechen ausreichend Französisch, die
Amtssprache in Mali.
Wie bis anhin nomadisiert ein kleiner Teil der Einwohner mit den verbliebenen
Restbeständen von Kühen, Kälbern, Rindern und Ziegen. Neu ist, daß ein Kern stän-
dig seßhaft lebt. Einige versuchen, am nahen See Landwirtschaft zu betreiben, was je-
doch bei weitem nicht für die Versorgung des Dorfes ausreicht, da den Kel Interbe-
rempt bis anhin vom Staat kein anbaufähiges Land zugesprochen worden ist. Eine
weitere Gruppe lebt von einem ,food for work'-Programm, indem sie Erdziegel für
den Häuserbau im Dorf herstellt.
Auf der methodischen Grundlage teilnehmender Beobachtung, regelmäßiger Ge-
spräche mit je einer Frau aus dem Adel und einer (ehemaligen) Sklavin sowie Inter-
views mit einer einheimischen Schlüsselperson6 kristallisierten sich folgende Zusam-
menhänge bezüglich der aktuellen Arbeitsteilung heraus.7
3.2 Vorfindbare soziale Kategorien und deren Arbeitsbereiche
In der Fixation leben Adel, ehemalige Sklaven und Sklavinnen, einzelne Marabuts so-
wie eine Vertreterin der Schmiedkaste, d. h. tragende Elemente der traditionellen So-
zialstruktur haben sich auch unter den veränderten Lebensbedingungen zusammenge-
funden.
Die Schmiedfamilie ist nach wie vor für die professionelle Herstellung der Leder-,
Holz- und Metallarbeiten verantwortlich. Wie früher werden sie mit Naturalien oder
auch Geld bezahlt. Trotzdem ist ihre Existenz bedroht durch die materielle Not des
Adels, die die Aufträge mehr und mehr zurückgehen läßt. So ist auch die Schmiedfrau
fest im Dorf ansässig, während Söhne und Ehemann in entfernten Ortschaften versu-
chen, ihre Produkte auf dem Markt zu verkaufen. Dort aber müssen sie mit industriell
gefertigter und entsprechend billiger Ware konkurrieren. Letztlich haben sie also die
Sicherheit regelmäßiger Aufträge des Adels verloren. Daß sich im Kampf um den Ab-
satz ein Qualitätsverlust der Arbeiten einstellen wird, ist absehbar.
6 Hier handelte es sich um den Neffen des Fraktionschefs. Er nahm insofern eine Schlüsselposition in der
Gemeinschaft ein, als er aufgrund seiner Funktion als Ladenverwalter zu vielen Mitgliedern des Stützpunk-
tes Kontakt hatte. Zudem verfügte er über genaue Kenntnisse der Verwandtschaftsstruktur des Fraktions-
chefs und seiner Frau, da er ihr selber angehörte.
7 Genauere Ausführungen zur Methodik und deren theoretischer Einbettung finden sich in einem unveröf-
fentlichten Bericht (Ryffel-Gericke 1989).
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
151
Die vier im Dorf wohnenden Marabuts organisieren sich wie die übrigen Adelsfa-
milien, d. h. sie leben teilweise nomadisierend, teilweise Ackerbau betreibend knapp
am Existenzminimum. Ihre ehemalige Funktion - die Unterrichtung der Kinder in
den Regeln des Korans und der arabischen Schrift - nehmen sie nur noch sporadisch
bis gar nicht mehr wahr, da den Familien die Mittel fehlen, sie wie früher mit Geschen-
ken in Form von Naturalien für ihre Erziehungstätigkeit zu entschädigen. Für das spi-
rituelle Wohl der Gemeinschaft sind sie jedoch weiterhin zuständig, indem sie in der
zentralen Moschee Koranlesungen für die Männer durchführen und rituelle Feste und
Gebete anleiten.
Auch in der Beziehung zwischen Adel und ehemaligen Sklaven und Sklavinnen
sind Veränderungen feststellbar, auf die nun im folgenden genauer eingegangen wer-
den soll, da erst auf dem Hintergrund der Analyse ihrer Arbeitsteilung auch die Verän-
derungen in der Beziehung der Geschlechter deutlich werden können.
3.3 Xur Beziehung zwischen Adel und ehemaligen Sklaven und Sklavinnen
Um einen Einblick in die sozioökonomische Beziehung dieser beiden Gruppierungen
zu bekommen, wurde unter den Einwohnern und Einwohnerinnen des Dorfes fol-
gende Auswahl getroffen:
(a) Ausgangspunkt war die Erhebung der Verwandtschaftslinien des Fraktions-
chefs und seiner Frau über vier Generationen.
(b) Von diesen insgesamt 142 Personen sind 125 noch am Leben. 50 von ihnen no-
madisieren während des ganzen Jahres, 27 wohnen in anderen Fixationen und 48 sind
in K. ansässig.
(c) Diese 48 Personen nun leben mit ihren angeheirateten Partnern bzw. Partnerin-
nen in verschiedenen Haushalten. Dabei besteht jeder Haushalt aus einer Wohneinheit
oder auch aus mehreren, denen ein gemeinsamer Familienchef vorsteht.
(d) So kristallisierte sich auf Seiten des Adels schließlich eine Auswahl von 16
Wohneinheiten heraus, die in zehn Haushalten organisiert sind.
Im folgenden wurde untersucht, ob und wenn ja, mit welchen Haushalten ehema-
liger Sklaven der Adel in welcher Art von Beziehung steht.
3.3.1 Qualitative Aspekte der Beziehung
Der wesentliche Punkt sei gleich an den Anfang gestellt: Auch heute noch - mehr als
siebzig Jahre nach Abschaffung der Sklaverei - arbeiten ,Sklavinnen' und ,Sklaven' für
den Adel. Die Frauen übernehmen die Handarbeiten im reproduktiven Bereich, d. h.
sie sind für die Haushaltführung des Adels zuständig. Die Männer leisten Handarbeit
im Produktionsbereich, d. h. sie sind für die Versorgung und das Hüten des Viehs zu-
ständig, sofern überhaupt noch Vieh vorhanden ist. Der Adel seinerseits ist von der
152
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Tradition her verpflichtet, für den gesamten Lebensunterhalt ,seiner Sklavenfamilie'
aufzukommen. Da er jedoch hochgradig verarmt ist, reduzieren sich die Unterhaltslei-
stungen entsprechend. Generell gilt, daß für die ,Sklavin' mit der Zubereitung der
Mahlzeiten für die Adelsfamilie auch die Ernährung ihrer eigenen Familie sicherge-
stellt ist. Das heißt, wenn der Adel genügend zu essen hat, wird auch ,ihre Sklavenfa-
milie' satt, bekommt der Adel ein unverhofftes Geschenk, so haben auch ihre ,Sklaven'
daran teil. Muß der Adel hingegen darben, so hungert auch seine ,Sklavenfamilie'. Zu
Bargeld kommt die ,Sklavin' nur, wenn sie zusätzlich sporadische Aufträge anderer
Adelsfamilien ausführt und die auch Geld für ein,cadeau' (Geschenk) aufbringen kön-
nen. Andernfalls bleibt es bei der unentgeltlichen Dienstleistung.
Der,Sklave' wird für seine Arbeit entweder entlohnt, oder er bekommt jährlich ei-
nen zweijährigen Stier oder ihm steht - anteilmäßig geregelt - eine bestimmte Anzahl
Kühe zur Verfügung, mit denen er schließlich eine eigene Herde aufbauen kannvum
sie für den Eigenbedarf, den Verkauf oder für Käse- und Butterzubereitung zu nut-
zen.8 Die letzteren Möglichkeiten kommen sehr selten vor, da sich in den letzten Jah-
ren das Vieh in einem schlechten Gesundheitszustand befand, so daß es zu wenig
Milch produzierte. Je nach Besitzstand hütet der ,Sklave' ausschließlich die Herde ei-
ner Adelsfamilie oder das Vieh mehrerer Adelsfamilien oder auch eigenes Vieh und
Tiere des Adels zusammen. Mit dem Rückgang der Milchproduktion und der daraus
resultierenden Verringerung der Butter- und Käseproduktion verfügt der ,Sklave'
ebenso wie die ,Sklavin' über nur eingeschränkte Möglichkeiten, zu Bargeld zu kom-
men. Wie sie muß auch er sporadische Gelegenheiten zufälliger Sonderaufträge nut-
zen, um die Familie mit Kleidung versorgen oder die Steuern zahlen zu können. Bei
sämtlichen Engpässen springt jedoch die ,zuständige' Adelsfamilie ein, sofern es auch
nur annähernd in ihren Möglichkeiten liegt.
Es handelt sich hier also um eine ganz besondere Art der Abhängigkeitsbeziehung.
Eine zum Begriff,Sklaverei' gängige Assoziation zu den früher auf Plantagen geknech-
teten amerikanischen Sklaven ginge völlig an der Realität der Tuareg vorbei. Dafür
schimmert sowohl auf seiten des Adels als auch auf selten der Bella, wie die Sklaven der
Tamaschek in Mali genannt werden, auch zu viel gegenseitige Zuneigung durch. Die
strukturelle Gewalt, die dennoch in der symbiotischen Gemeinschaft des Adels mit
seinen ,Sklaven' liegt, ist eher vergleichbar mit westlich patriarchalen Ehebeziehungen
innerhalb der europäischen Mittelschicht: klare materielle Verantwortlichkeit der
Herrschenden, eine strenge Arbeitsteilung, die manuelle Tätigkeiten wie Hausarbeit
der einen und intellektuelle Leistungen wie Karriereplanung oder Entscheidungen
über Güterverteilung, Wohnortwechsel der anderen Seite zuweist, sowie eine in lan-
gen Jahren des Zusammenlebens gewachsene gegenseitige Zuneigung, mindestens
aber Vertrautheit, die für beide Seiten die in der Beziehung liegende strukturelle Ge-
walt verschleiert. Auch hier also haben die Tuareg einen Auslagerungsprozeß vollzo-
8 Sein (eventueller) Lohn von 5000 FCFA monatlich entspricht etwa 255 Sfr. Zum Vergleich: Ein ungelern-
ter Arbeiter verdient in Mali ca. 50 Sfr.
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
153
gen: Bei ihnen wird die unter der Decke der Zuneigung versteckte gegenseitige struk-
turelle Abhängigkeit nicht wie bei uns zwischen den Geschlechtern gelebt, sondern
zwischen den Schichten: der Adel muß für seine ,Sklaven' sorgen, weil er sich für sie
verantwortlich fühlt, es seit Hunderten von Jahren auch ist. Und die,Sklaven' bedienen
den Adel, weil sie beschützt, ernährt und bei Krankheit oder Alter abgesichert sein
möchten.
3.3.2 Quantitative Aspekte der Beziehung: Formen der Verknüpfung zwischen
Adels- und Sklavenhaushalten
In diesem Abschnitt gehe ich auf die verschiedenen Typen von Beziehungen genauer
ein, die sich zwischen Adels- und ,Sklavenhaushalten' herauskristallisiert haben. Dabei
lassen sich folgende Formen unterscheiden : die der Tradition entsprechende fast totale
Auslagerung von Handarbeit im reproduktiven und produktiven Bereich sowie die
neuen Formen der Teilautonomie des Adels im Reproduktionsbereich und der - selte-
nen - Vollautonomie eines Adelhaushaltes. Die folgende Abbildung zeigt die Mini-
malausprägung einer traditionellen Verbindung zwischen Adel und assoziierter ,Skla-
venfamilie'. Minimalausprägung nenne ich sie deshalb, weil in Zeiten der Wohlhaben-
heit nicht, wie hier dargestellt, eine, sondern mehrere ,Sklavenfamilien' für einen
Adelshaushalt tätig sind.
Die in einem Adelshaushalt vereinigte(n) Familie(n) bestehen wie in Abb. 1 aus
mindestens zwei, häufig auch drei Generationen. Beinhaltet der Haushalt mehrere
Wohneinheiten, so handelt es sich um nahe Verwandte wie Eltern oder Geschwister-
(familien). Haushaltvorstand ist immer der älteste Mann. Der assoziierte ,Sklaven-
haushalt' oder - wie im nächsten Beispiel - die ,Sklavenhaushalte', umfassen nur eine
Wohneinheit, selten mehr als zwei Generationen und sind zudem zeitweilig auch aus
nicht miteinander verwandten Personen zusammengesetzt. Im Gegensatz zu früher
handelt es sich heute also bei den ,Sklavenhaushalten' oft nicht um Familien-, sondern
um Notgemeinschaften.
Im angeführten Beispiel ist gemäß der traditionellen geschlechtsspezifischen Ar-
beitsteilung unter den Bella die Sklavin unaufhörlich mit der Führung des Adelshaus-
haltes beschäftigt (zweimal tägliche Wasserversorgung aus dem Brunnen, mehrstündi-
ges Stampfen der Hirse, ebenfalls mehrstündige Zubereitung der Mahlzeiten auf dem
heuer, Reinigungsarbeiten). Ihr Mann hütet das Vieh des Adels. Da die Herde klein
lst, geschieht es nicht nomadisierend, sondern im Umkreis der Ansiedlung.
Anders verhält es sich bei der folgenden Konstellation, die teilweise ebenfalls ei-
nem traditionellen Muster entspricht, bei dem mehrere Sklavenhaushalte für den Adel
arbeiten (Abb. 2), da die Herde größer ist und einen weiteren Weideradius benötigt:
Haushalt IV praktiziert eine traditionelle Form der Auslagerung manueller Arbei-
ten, indem eine ,Sklavenfamilie' nomadisierend das Vieh versorgt und die Haushalt-
führung durch eine ansässige ,Sklavin' sichergestellt ist. Hier haben sich eine junge un-
154
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
VII
Alterslegende:
EU 0~ 6 Jahre
IH] 7-12 Jahre
13-25 Jahre
26 "50 Jahre
HD älter als 50 Jahre
Zeichenlegende:
I I -]X Adelshaushalt
___! 1-3 Wohneinheit
A-G "Sklavenhaushalt"
Weibliche Personen
Männliche Personen, Kennzeichnung des Haushaltvorstands
Zeitweise nomadisierende Personen
Heiratslinie
Filiationslinie
Geschwisterlinie
0
A A
A
w Za
1_I
<---►
Verbindungslinie zwischen Sklave/Sklavin und dem
Adelshaushalt,für den er/sie arbeitet,und der für den Unterhalt
des Sklavenhaushalts verantwortlich ist
Verbindungslinie gegenseitiger Abhängigkeit von Mitgliedern in
Adelshaushalten
Abb. 1. Auslagerung produktiver und reproduktiver Handarbeit an einen >Sklavenhaushalt<.
verheiratete Frau und eine betagte ledige Mutter, deren Kinder woanders ihren Le'
bensunterhalt verdienen, zusammengetan, da es als unschicklich gilt, als Frau allein zu
wohnen. Sie sind ein Beispiel für die in ,Sklavenhaushalten' immer häufiger anzutref-
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
155
B
VIII
¿ ¿W A
]V
Abb. 2. Auslagerung produktiver und reproduktiver Handarbeit an zwei >Sklavenhaushalte<.
fende Erscheinung des Familienzerfalls. Auch Adelshaushalt VIII repräsentiert Ver-
änderungen: Er lagert wohl noch immer die Reproduktionsarbeiten aus, die sonst von
'Sklaven' geleistete Handarbeit im Produktionsbereich wird jedoch vom ältesten Sohn
übernommen, indem er zusammen mit den Söhnen anderer Adelsfamilien die Pflege
und das Hüten des Viehs in Weidewirtschaft übernimmt. So ist der folgende Typus des
teilautonomen Adelshaushaltes im Zunehmen begriffen (Abb. 3). Hier wird der Haus-
halt der Adelsfamilie durch eine geschiedene Mutter mit Kind versorgt, die mit einer
alten, alleinstehenden Frau zusammenlebt. Die Arbeit im Produktionsbereich deckt
der Adel selber ab, indem die Arbeit nicht mehr von einem ,Sklaven', sondern vom
Bruder und den Neffen des Haushaltvorstandes geleistet wird.
Eine weitere Möglichkeit der Teilautonomie, indem zwar der Produktionsbereich,
nicht aber der Reproduktionsbereich ausgelagert wird, ist ebenfalls anzutreffen (vgl.
Haushalt III, Abb. 4), bis anhin aber eher selten. Ebenso ist die Vollautonomie eines
^delshaushaltes eine neu auftauchende Lebensform und Ausdruck tiefster Armut.
Von diesen verschiedenen Formen der Arbeitsteilung zwischen Adels- und ,Skla-
Venhaushalten' spiegeln die einen noch die traditionellen Ordnungsprinzipien wider,
andere stellen bereits klare Boten der sich ankündigenden Veränderungen dar. Ein
Weiterer Teil bildet durch die Verbindung alter und neuer Ordnungsprinzipien ein
Sehr komplexes Netz sozioökonomischer Beziehungen zwischen Adels- und ,Skla-
Venhaushalten' , wie Abb. 4 deutlich macht.
156
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
r i i dp)
i ^ ^ ¡A À ^ i 1 è ^ J 2
Legende:
anderswo lebende Frau
0 gestorbene Frau
Abb. 3. Beschränkung auf die Auslagerung reproduktiver Handarbeit.
In diesem Netz gegenseitiger Abhängigkeiten sind traditionelle Formen der tota-
len Auslagerung manueller Arbeiten im Produktions- und Reproduktionsbereich zu
finden (Haushalt II und Haushalt F bzw. A). Es läßt sich auch eine Teilautonomie des
Adels finden, indem nur die Arbeit im Produktionsbereich abgegeben wird (Haushalt
III und Haushalt A) oder nur die Arbeit im Reproduktionsbereich (Haushalt IV und
Haushalt A sowie Haushalt V und Haushalt C). In der Verbindung zwischen den bei-
den Adelshaushalten V und VI zeigt sich zudem, wie die ehemals den Sklaven zuge-
teilte Produktionsarbeit auch zunehmend von adligen Söhnen und Neffen selber über-
nommen werden muß. Dabei handelt es sich zum Teil um Kinder.
Was sich hier auf der konkreten Ebene der Arbeitsteilung abzeichnet, beinhaltet
gleichzeitig dramatische Prozesse der Statusveränderung, die für die Tuareg-Männer
und -Frauen sowie ihren Sklaven noch lange nicht abgeschlossen sein dürften.
4 Prozesse der Statusveränderung bei Tuareg-Männern, Tuareg-Frauen und ih-
ren ,Sklaven'
Die beginnende Seßhaftigkeit, die Unmöglichkeit, weiterhin tiefbewertete Handar-
beiten im Produktions- und Reproduktionsbereich an Sklaven und Sklavinnen auszu-
lagern, sowie die wachsende Notwendigkeit, sich langfristig in ein System der Lohnar-
beit zu integrieren, signalisieren, daß sich die Tuareg - unfreiwillig - auf dem Weg der
Anpassung an eine moderne Gesellschaftsordnung befinden. Auf dem Hintergrund
unserer eigenen kulturellen Wertsetzungen, in denen Nomadismus eher auf den unte-
ren Stufen der menschlichen Kulturentwicklung rangiert, und Sklaventum als bedau-
ernswerte Entgleisung in der Geschichte der Menschheit verstanden werden muß?
könnten diese Veränderungen als Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
157
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Abb. 4. Netz sozioökonomischer Verknüpfungen zwischen Adels- und >Sklavenhaushalten<.
der Tuareg begrüßt werden. Auf dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte dürfte
sich der Wandlungsprozeß jedoch anders darstellen. Im folgenden gebe ich einen
Uberblick über einige zentrale Prozesse der Statusveränderung bei den,Sklaven' sowie
bei den Tuareg-Männern und -Frauen:
- Die Sklaven sind befreit. Sie sind frei geworden für einen Arbeitsmarkt, der sie
nicht braucht, weil sie zu viele und bezahlte Stellen im Agrarland Mali knapp
sind.
~~ Ihre Kinder sind frei, die Schule zu besuchen, aber es stehen keine Lehrmittel zur
Verfügung, und die Lehrer werden schlecht und unregelmäßig bezahlt.
Es steht den Sklaven frei, sich aus dem ehemaligen Schutz des Adels herauszubege-
ben in die Ungeschütztheit vor Krankheit, Altersbeschwerden, Invalidität und
Hunger.
~~ Ihre Freiheit kann beinhalten, sich auf der Suche nach einer neuen Existenzmöglich-
keit zu zerstreuen und ihre Familienverbände in kleinste Einheiten aufzulösen.
E>iese Statusveränderungen hängen mit denen der Tuareg zusammen, die schon vor
langer Zeit begonnen haben und in der Gegenwart ihren Kulminationspunkt errei-
chen:
Als Folge der Kolonialisierung haben sie ihren Status als Krieger verloren. So konn-
158
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
ten sie sich selber und die assoziierten Ethnien vor dem Einbruch der Veränderun-
gen nicht mehr schützen.
- Bedingt durch die materielle Not kann der Adel die Versorgung ,seiner Sklavenfa-
milien' nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr gewährleisten. Damit hat er
nicht nur Schutz-, sondern auch Versorgungsfunktionen verloren.
- Mit der Verelendung des Lebensraums und der Herden sowie dem Ubergang zur
seßhaften Lebensweise ist der bisher notwendige Anteil an Kopfarbeit im Produk-
tionsbereich, der fast ausschließlich von Tuareg-Männern geleistet worden war,
hinfällig geworden. Es ist nichts mehr da, was gezüchtet, geplant, langfristig ent-
schieden werden könnte. Neue Formen der Kopfarbeit (z. B. landwirtschaftliche
Planung) konnten sich noch nicht herausbilden, da gar kein Land zur Verfügung ge-
stellt worden ist. Positionen beim Staat oder in der Verwaltung benötigen eine So-
zialisation, die nur relativ wenige von ihnen haben, zudem sind die Stellen knapp
und vom Einkommen her unattraktiv.
- Die Arbeiten der ehemaligen Sklaven werden zunehmend jüngeren männlichen An-
gehörigen von Adelsfamilien übertragen. Zusätzlich zu diesen erstmalig seit Jahr-
hunderten geleisteten körperlichen Arbeiten im Produktionsbereich kristallisieren
sich durch die seßhafte Lebensweise neue Formen von Handarbeit heraus, die eben-
falls vom männlichen Adel übernommen werden müssen (in K.: Ziegelherstellung
für den Hausbau, Ackerbau).
Ihr Anschluß an die Moderne ist also mit Schwerarbeit, Macht- und Prestigeverlust
verbunden, was gleichzeitig einen Zusammenbruch ihrer sozialen Identität bedeuten
dürfte.
Bei den Tuareg-Frauen ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, die allerdings
früher als bei den Männern begonnen hat, dafür aber heute etwas weniger dramatisch
und plötzlich zu verlaufen scheint.
- Eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Weitergabe der Tifinagh-Schnft, haben die
Tuareg-Frauen in Mali schon lange vor den ökologischen Krisen verloren. Heute
wissen die wenigsten, daß sie überhaupt einmal eine eigene Schrift besessen haben.
Dieser Verlust hängt möglicherweise damit zusammen, daß die Tuareg in Mali au-
ßergewöhnlich stark islamisiert sind und somit das eigene Kulturgut durch das ara-
bische überlagert worden ist. Das aber würde auch bedeuten, daß die Frauen vor
vielen Jahrzehnten eine wichtige Aufgabe im Bereich der Reproduktion an die (fast
ausschließlich männlichen) Marabuts abgeben mußten.
- Was die Entwicklung und Weitergabe spiritueller Fähigkeiten betrifft, so ist ledig-
lich zu vermuten, daß sich auch hier schon vor längerer Zeit eine Arbeitsteilung mit
den Marabuts abzuzeichnen begonnen hat. Mögen auch einzelne Frauen in diesem
Bereich Stärken entwickelt haben, mit der wachsenden Islamisierung dürfte minde-
stens eine Konkurrenzierung ihrer Fähigkeiten stattgefunden haben.
- Die Pflege von Gesang-, Musik- und Dichtkunst ging, ebenso wie bei den Tuareg-
Männern, im Kampf ums Uberleben verloren. Was sich hingegen erhalten hat, ist
die Freude an Witz, Schlagfertigkeit und verbalen Ausdrucksmöglichkeiten.
Christiane Ryffel-Gericke: Vom Gewinn und Verlust der Freiheit
159
- Waren die Tuareg-Frauen früher durch die Akkumulation von Besitz über mehrere
Frauengenerationen weitgehend autonom, oft sogar reicher als ihre Männer, so sind
sie heute wirtschaftlich vollständig abhängig vom Ehemann, den Brüdern, dem Va-
ter. Zusammen mit ihnen sind nun auch sie verarmt.
- Die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen ist nach wie vor eine wichtige Auf-
gabe der Frau. Statt jedoch wie früher Feste zu organisieren und Kontakte herzu-
stellen, sorgt sie sich heute vor allem um kranke oder unterernährte Angehörige.
- Ein Teil ihres Wissens um Naturheilkräfte ist noch erhalten, wird jedoch zuneh-
mend durch den Glauben an die moderne Medizin mit ihren schnellwirkenden Me-
dikamenten ersetzt (Youssouff 1984, S. 26 f.).
So zeigt sich also auch bei den Frauen durch die Abgabe wichtiger gesellschaftlicher
Funktionen ein Statusverlust. Jedenfalls haben sie ihre ehemals machtvolle Position im
Bereich der geistig psychischen Reproduktion nahezu vollständig verloren. Statt des-
sen wächst ihr Anteil an der - nach wie vor minderbewerteten - Handarbeit im Repro-
duktions- wie im Produktionsbereich:
~ Das früher zum Eigengebrauch hergestellte Kunsthandwerk wird, wenn irgend
möglich, zu Handelsware gemacht, um wenigstens ein Minimum an Geld zu verdie-
nen (damit werden zusätzlich die Schmiede in ihrer Arbeit konkurrenziert).
~ In einzelnen Haushalten sind die Frauen des Adels durch die wirtschaftliche Not
gezwungen, erstmalig in ihrer Geschichte Feuerholz zu sammeln, Mahlzeiten vor-
zubereiten, zu kochen, zu waschen und zu putzen. Diese Entwicklung ist besonders
dort anzutreffen, wo ein Haushalt viele jüngere weibliche Mitglieder umfaßt.
- Neben diesen nur im äußersten Notfall übernommenen Arbeiten zeichnen sich (je-
denfalls in K.) wie für die Tuareg-Männer auch für die Tuareg-Frauen neue körper-
liche Arbeiten ab, die mit der Umstellung zur seßhaften Lebensweise zusammen-
hängen: So übernehmen sie den Bau fester Feuerstellen, den Gartenbau sowie die
Konstruktion und Montage der Mattenzelte, die an die Stelle der traditionellen Le-
derzelte getreten sind. Einzelne Frauen versuchen sich sogar in der Herstellung von
Matten, weil sie kein Geld haben, um sie zu kaufen.
Tuareg-Männern wie Tuareg-Frauen ist also gemeinsam, daß sie zentrale gesellschaft-
liche Funktionen verloren haben und zunehmend körperliche Arbeiten übernehmen
müssen. Der soziale Abstieg erfolgt gemeinsam. Es ist jedoch zu erwarten, daß ein
Eventueller sozialer Aufstieg die nach wie vor bestehende Gleichrangigkeit der Ge-
schlechter auflösen und ähnliche Formen sozialer Ungleichheit zwischen Mann und
I1rau produzieren wird wie in unserer westlichen Gesellschaft.
5 Der Preis für den Anschluß an die Moderne
^enn der Anschluß an die Moderne bedeutet, daß eine Anpassung an deren zentrale
Strukturen und Wertdimensionen erfolgen muß, dann heißt das unter anderem, daß
^r die Tuareg Lohnarbeit an Bedeutung gewinnen wird und damit auch formale Bil-
160
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
dung als Quelle sozialer Aufstiegsmöglichkeiten. Es heißt zudem, daß die räumliche
Mobilität den Arbeitsmarktstrukturen angepaßt werden muß und daß die kulturelle
Restabschottung gegenüber dem Islam durch die nun dauerhaften Kontakte mit der
seßhaften Bevölkerung wahrscheinlich nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Alles zusammengenommen wird wohl eine Kluft zwischen den Geschlechtern
entstehen lassen, die möglicherweise die in westlichen Gesellschaften bestehende so-
ziale Ungleichheit zwischen Mann und Frau an Tiefe noch übertreffen wird. Die neue
Bindung an die Erfordernisse der Hausarbeit sowie die im Islam verankerte Inferiori-
tät der Frau dürften den weiblichen Mitgliedern der Tuareg den Zugang zum Bil-
dungssystem sehr schwer machen. Damit würde aber auch ihre Integration in höhere
Positionen des produktiven Bereichs weniger häufig als bei Männern zustande kom-
men. Gleichzeitig ist ein Verlust ihrer traditionellen Domäne - der Pflege von Tradi-
tionen und Verwandtschaftsbeziehungen - absehbar, da die sich schon jetzt abzeich-
nenden Migrationsbewegungen wahrscheinlich zunehmende Exogamie und ein Aus-
einanderfallen der Verwandtschaftsverbände zur Folge haben werden.
Letztlich wird also mit einiger Wahrscheinlichkeit die ehemalige Abhängigkeit
zwischen Adel und Sklaven nur durch eine neue Form der Abhängigkeit abgelöst wer-
den: die zwischen den Geschlechtern.
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de Timbouctou en 1984-1985. Bamako.
Childcare on Ifaluk
Laura Betzig
Museum of Zoology, University of Michigan, Ann Arbor, MI 48109, USA
Alisa Harrigan
Department of Anthropology, University of Michigan, Ann Arbor, MI 48109, USA
Paul Türke
Evolution and Human Behavior Program, University of Michigan, Ann Arbor, MI 48109, USA
Abstract. Demographic and behavioral data are used to assess the value of cooperative childcare on Ifaluk, a
traditional atoll culture in the Western Pacific. Ifaluk mothers live with an average of four other adult
women on their matrilineal estates; other adults, especially close, older, female kin, associate often with their
children; and having living mothers, sisters, and daughters may have a positive effect on the number of chil-
dren they produce. These results suggest that women on Ifaluk, like women in other traditional cultures,
might augment their fertility by raising their children cooperatively.
"The baby is king in Ifaluk. Not only are babies desired and not only are all their de-
sires satisfied, but they are the constant center of attention" (Burrows and Spiro
1957:274).
There is a growing awareness in modern societies that childcare is not what it used to
be. One result has been a renewed interest in how children are brought up in traditio-
nal cultures, in both scholarly and popular writing (recent examples of the former in-
clude Tronick et al. 1987; Hewlett 1987, 1988a,b; Hames 1988; Türke 1988; Flinn
1988 ; examples of the latter include Thevenen 1977; Konner 1983; Betzig 1988a; Ra-
phael 1988).
The focus in many of these studies has been on hunting and gathering societies.
However, what evidence exists suggests that childcare, like many other reproductive
behaviors, can be exceedingly variable within and among foraging groups (Hewlett
'988 a, b). There is no one pattern of childcare in hunting and gathering societies. On
the other hand, there do seem to be some consistent differences between raising chil-
dren in traditional - whether foraging or horticultural - and modern industrial socie-
ties. Very generally, parents in traditional societies live with more elder and collateral
kin in extended families (e. g., Murdock 1972); those kin tend to participate actively in
caring for young children (references cited above) ; and the number of children born to
each woman tends to be dramatically higher than in modern cultures (e. g., Campbell
and Wood 1987). Pronatalism is pronounced in traditional groups. Across cultures,
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 161-177
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
162
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
for example, infertility is the second most commonly cited cause for divorce1 (Betzig
1989).
Each of these generalizations holds to a high degree on Ifaluk. This paper offers a
preliminary answer to the question: How much do close kin in close proximity contri-
bute to a woman's fertility?
Methods
Location
Ifaluk is a ring of coral, or coral atoll, made up of four raised islets, two of them inha-
bited, and two uninhabited (see Darwin 1842 for a still widely accepted theory of atoll
formation). The islets and the lagoon they circle total just less than one square mile in
area; the land area alone totals just over half a square mile (Tracey et al. 1956). Ifaluk is
as isolated as anywhere else on earth: At 7° 15' north latitude and 147° east longitude,
it lies 30 miles east of Woleai, the nearest inhabited atoll, about 350 miles east of Yap,
the nearest "high" island, and about 400 miles south of the nearest economic center,
Guam. Woleai and other atolls traditionally were, and still are, accessible by outrigger
canoe; Yap is now reached by the Federated States of Micronesia's ship Microspirit,
which presently makes a circuit of the Western Carolines roughly every four to six
weeks; Guam and the rest of the world are accessible by the jet which arrives three
days each week on Yap. Like their ancestors, who arrived in outrigger canoes around a
thousand years ago (e. g., Hezel 1983), almost all of the roughly 446 inhabitants of Ifa-
luk were born there, almost all will pick a mate born on Ifaluk as well, and almost all
will die there. Many of the women and children have never been anywhere else.
In many respects, life on Ifaluk appears to be as it always has been. Women culti-
vate taro, the staple crop, primarily in the large interior swamp on Falalop islet; men
provide fish and drinking coconuts; and both men and women harvest breadfruit, ba-
nanas, and papayas, and now occasionally slaughter chickens, pigs, and dogs. People
live in thatch houses which they continually build and repair; women wear lava lavas
they weave on handmade looms with purchased thread or their own banana fiber; and
men fish in outrigger canoes with nets and traps, for all of which they continually twist
sennit rope of the fiber from coconut husks (Betzig and Türke 1985). Politically, too,
the people of Ifaluk have retained much of their autonomy. Since 1981, Ifaluk has been
part of the State of Yap of the Federated States of Micronesia - and independent gov-
ernment which succeeded their status as a United States administered Trust Territory
for the United Nations. However, local affairs are still administered largely under the
traditional system of matrilineally inherited chiefly rank (Betzig 1988a; Betzig and
Wichimai 1990). Our impressions of the childcare system on Ifaluk are consistent with
1 A wife's adultery is first.
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
163
those in earlier ethnographic accounts, including Damm (1908-10), Burrows and
Spiro (1957), Bates and Abbott (1958), Lutz (1980, 1988), and Türke (1985).
Overall, those impressions are that "babies are preeminently desired", and that
"caring for the baby is never considered a bother or a chore" (Burrows and Spiro
1957:245). The fertility ethic has always been strong on Ifaluk. Part of the reason may
be that cooperative childcare on Ifaluk, as in other traditional cultures, seems to be so
prevalent. Cooperative childcare on Ifaluk begins the day a child is born. Women give
birth in a small thatch hut bordering the shore, attended by a small group of immediate
kin, all of them women. For several days after the birth, while the mother stays in the
hut with her newborn, close kinswomen come from all over the islands. They bring
their young children and work together to prepare fresh food to keep the mother
strong. This network of support is never torn. Even after mothers move home with
their infants - where they stay for three months before going out again to work - they
depend on help from the women who live with them, from their husbands, and from
other close kin. To a lesser extent, they also depend on more distant kin whose ances-
tors have shared so many of their ancestors' concerns for so long.
Life on Ifaluk has changed in a few important respects since Western contact. Un-
der a German administration, roughly a century ago, warfare was brought to an end; at
about the same time, polygyny (which was limited anyway) was stopped (e. g., Betzig
and Wichimai 1990). Since the Americans arrived after the Second World War, Chris-
tianity has taken hold (though there is not, and never has been for more than a few
weeks, a resident missionary on Ifaluk); and English and other subjects have been
taught in a small school on Falachig islet built by the U. S. Navy in the late 1940s. The
last of these changes is likely to have the most important impact on childcare.
Data collection
Fieldwork on Ifaluk was conducted by Laura Betzig and Paul Türke from July to No-
vember 1983 and by Alisa Harrigan and Lars Rodseth from January to April 1987.
During the first field session, demographic data were collected by a house-to-house
census, and behaviors were sampled by an "instantaneous scan" technique (Altmann
1974, and below). During the second field session, additional behavioral data were col-
lected, this time by a "focal scan" technique (ibid.).
Census data were collected with the help of one of three young Ifaluk men who had
learned to speak fluent American English in the elementary school on Ifaluk and in the
outer island high school on Ulithi island. Each of Ifaluk's 56 individual households
^as visited, and information was gathered on each resident's age, sex, parentage and
grandparentage, marital and reproductive history. All of these data were checked by at
least one independent source.
Instantaneous scan observations were collected at randomly determined times, be-
ginning at half hour intervals between 8:00 a. m. to 3:30 p. m. and ending up to two
164
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
hours later, over a period of 48 consecutive days from September to early November
of 1983. Behaviors were observed on a daily circuit of Falalop, the larger of Ifaluk's
two inhabited islets. The time, ID number, behavior code, and ID numbers of asso-
ciated individuals were recorded for each individual the "instant" he or she was sighted
(see details in Betzig and Türke 1985). Association was in this case subjectively defined
to include all individuals who appeared to be aggregated (i. e., in close proximity), en-
gaged in the same activity (e. g., collecting fish at opposite ends of a seine), or commu-
nicating verbally or nonverbally.
Finally, focal scan observations were collected on seven Ifaluk mothers and their
seven husbands during February and March 1987. Each focal scan consisted of an eight
hour target follow; that is, the observer would meet the subject at 8:00 a. m., and
would spend the next eight hours within sight of him or her. Mothers were followed
by the female observer; fathers were followed by the male. During each eight hour
period, observations would be recorded once every minute; this yielded 480 observa-
tions per day. In this case, the time, behavior code, and ID numbers of associated indi-
viduals were recorded during each observation. "Association" was in this case specifi-
cally, if arbitrarily, defined as proximity within an estimated five meters of the focal
subject.
Each method of quantifying behavior has its advantages and disadvantages (e. g.,
Altmann 1974).'The chief strength of the instantaneous scan may be that behaviors are
recorded the instant a subject is observed; the chief weakness of the focal scan is prob-
ably that the observer is inevitably a participant, even if he or she is silent. People may
more easily mold their behaviors to accommodate the visitor; in particular, they might
limit any activity likely to displease, or even to overexert, the observer, and they may
raise the frequencies of activities meant to please (Wrangham and Ross 1988). Another
strength of the instantaneous scan is that it favors data collection on a wide range of
subjects; a strength of the focal scan is that more information can be collected on a tar-
get group. Finally, the chief strength of the focal scan may be that subjects are accessed
at all points of their daily routine. A liability of the instantaneous scan is that people are
probably less likely to be spotted in more isolated places (Hawkes et al. 1987; Hewlett
1988b).
Measures of mother-child interaction included below have been made using data
from both the instantaneous and focal scans.
Results
Residence
Mothers on Ifaluk are predisposed to spend time together, because they live together.
Of Ifaluk's total half mile square in land area, some fraction is on its uninhabited islets,
and much of the land on Falalop and Falachig is uninhabitable, as the rocky shoreline
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
165
facing the outer reef, or the swampy interior of Falalop where the women grow taro.
In 1983, Ifaluk's 446 full-time inhabitants lived in 56 sleeping houses, collected on 39
bugot, or matnlineal estates, in four small villages bordering the lagoon shore. Neigh-
boring villages are literally a stone's throw from one another; and no household on Ifa-
luk is more than an easy half-hour walk from any other.
Because the population is so small, and because marriage is, and appears to have
been (Burrows and Spiro 1957), endogamous, many of these people are closely related
to one another. As in other traditional cultures (e. g., Chagnon 1975, 1979, 1981),
those most closely related tend to live close together. Primarily, parents live with their
children; the result is that on Ifaluk, where residence is matrilocal, women live with
their mothers and fathers, their sisters, and their own and their sisters' children, as well
as with their unmarried brothers, their husbands, and their sisters' husbands (Burrows
and Spiro 1957; Lutz 1980, 1988; Türke 1985).
Table 1. Number of coresident adult women (18 or over) living with mothers on Ifaluk.
S.D. Range n's
Household (without daughters and grand-
daughters) 1.667 1.531 0-5 140/84
Household (with daughters and grand-
daughters) 2.107 1.552 0-5 177/84
Bugot (without daughters and grand-
daughters) 3.298 2.254 0-8 277/84
Bugot (with daughters and grand-
daughters) 3.881 2.257 0-8 326/84
Table 1 lists the mean numbers of adult women (18 and over) who coresided with
each of Ifaluk's 84 mothers as of our 1983 census. They range from between one and
two adult women in each mother's household, exclusive of own daughters and grand-
daughters, to almost four on each mother's bugot, including own daughters and
granddaughters. Of the largest group, including all women coresident on each mo-
ther's bugot, coresident women include sisters (n = 42), mothers (n = 19), daughters
(n = 45), and granddaughters (n = 4), as well as a variety of adoptive kinswomen (e. g.
Betzig 1988 c) and other clanswomen. Coresidence appears to put these women in a
position to care for one another's children.
Mothers' and fathers' association patterns
figure 1 shows that, as a group, the seven mothers included in the focal scans spent just
less than half (47.77%) of their time associating with - that is, within five meters of -
°ne or more of their children (cf. Betzig 1988 a). Roughly half of that time, they were
alone with their children; that is, they were with a least one of their children, and possi-
bly with other children as well, but not with any other adults (24.94%). The rest of that
166
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Others' Children
and Adults (494)
Others'
Children (225)
Own Children
and Adults (767)
Alone(n = 636)
Adults Only (400)
Own Children (838)
Fig. 1. Association patterns of seven Ifaluk mothers during focal scans.
time, they were with at least one of their own children, possibly with other children,
and with at least with one other adult (22.83%). When mothers were not with their
own children, they were alone with other women's children (6.70%), or with other
adults and others' children (14.70%), or with adults only (11.90%), or alone (18.93%).
Table 2 replicates these results on the instantaneous scan sample. Overall,
Table 2. Instantaneous scan estimates of association by 28 mothers resident on Falalop islet.
Youngest child is 5 or younger (n = 20) 6-12 (n = 4) 12 or older (n = 4)
Alone 27.36% 38.98% 30.19%
With Own Children Only 25.47% 16.95% 30.19%
With Own Children and Adults 21.23% 11.86% 9.43%
With Others' Children Only 6.60% 15.25% 11.32%
With Others' Children and Adults 6.60% 5.08% 3.77%
With Adults Only 12.74% 11.86% 15.09%
the figures are encouragingly similar. The 28 Falalop islet mothers in this sample spent
altogether 24.69% of their time alone with their children, 17.59% with their own chil-
dren and another adult, 8.95 alone with others' children, 5.86% with others' children
and another adult, 12.96% with adults only, and 29.94% alone.
These figures contrast starkly with the association patterns of fathers. Figure 2
shows that, as a group, the husbands of these seven women spent only 13.12% of their
time with their own children (6.07% with own children only and 7.05% with own
children and adults). They spent nearly twice as much time with others' children
(23.25% overall), including 12.68% with others' children only, and 10.57% with oth-
ers' children and adults. Father spent 20.21% of their time with adults only; and they
spent 43.42% of their time alone.
Clearly, though fathers on Ifaluk do spend time with their children, women are the
primary caretakers (Burrows and Spiro 1957; Lutz 1980,1988; and blow). The burden
of childcare does not, however, fall exclusively on the mother. She spends, on average,
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
167
Others'Children
and Adults (355)
Others
Children (426)
Own Children
and Adults (237)
Own Children (204)
Alone(n=1459)
Adults Only(679)
Fig. 2. Association patterns of seven Ifaluk fathers during focal scans.
just half of her time with her children, and only half of that time alone with them.
Other adults, especially other women, appear to be important providers of parental
car.
Time mothers spend alone with children
A surprising finding from the focal scans is that mothers with younger children appear
to spend less time alone with them. In other words, in the early years, when the social
costs of children are greatest (e. g., Hames 1988), the burden might be most widely dif-
fused. Figure 3 shows this relationship among the seven mothers in this sample. The
slope is positive, and approaches statistical significance (p = .0661). Figure 4 shows, on
the other hand, that this decline in time spent alone with children does not reflect a de-
Number of 220
Observations
Alone with 200
Children -,on
(Of 480 Total)
0 10 20
Age of Youngest Child
Rg 3. Number of times Ifaluk mothers were observed alone with their children during focal scans. Regres-
ión is j = 2.696* + 77.741, where y = number of minutes (out of a possible 480) each mother was seen alone
With her children, and x = age of youngest child. R2 = 0.523; p — 0.0661.
168
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Number of 480
Observations with
Own Children,
♦
With or 400
Without Adults
320
♦
240 ¥
160-
80 +*-1-i-1-1-1
0 10 20 30 40 50
Age of Youngest Child
Fig. 4. Total number of times Ifaluk mothers were seen with their children during focal scans. Regression is
y = —1.03x + 245.469. R2 = 0.023; p = 0.7441.
cline in time spent with children overall. Mothers with younger children spend slightly
more time with them, more of it in the company of another adult. The change in slope
in this case is not close to statistically significant (p = 0.7441).
Table 2 compares this result to data from the instantaneous scan. Once again,
mothers whose youngest child was under school age (< 6) spent less time alone with
their children, compared to mothers whose youngest child was past school age (> 12).
However, the difference, in this case, is not at all statistically significant (X2 — 0.129;
p = 0.7192). As in the focal scan sample, when their youngest child is between 6 and 12,
mothers spend the least amount of daytime alone with their children; this is undoub-
tedly because those children are in school.
Childcare providers
Who, if anyone, cares for these children when they are not with their mothers? Associ-
ation data on children aged 5 and under, from Falalop islet instantaneous scans, sug-
gests that their parents' close kin do. Figure 5 shows how often these children were
seen associating with adults 18 and older. Figure 6 shows how often they should have
associated with each group of kin, if association with adults were determined com-
pletely at random. These expected values were determined by finding, for these chil-
dren, the mean number of adults in each category living on Ifaluk, by calculating each
mean as a percentage of the total number of adults available, and then by multiplying
each percentage by 416 (the total number of observed associations between these chil-
dren and adults).
Clearly, kinship is the single most important determinant of these associations.
Mothers and fathers (r= 0.5) associated, overall, with these children more than 62
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
169
Number of 200 t
Associations
150
100--
M F MM MZ FZ MF MB FM FF FB Q Cf
Caretaker
Fig. 5. Number of times Falalop children born in 1978 or after (aged 5 or younger in 1983) were observed
with adults born in 1965 or before (aged 18 or over in 1983), from instantaneous scan data.
Number of 200
Associations
150
100
178
50
1.8 1.5 1.5 5-7 2.3 1.2 4.1 0.8 0.2 1-9
M F MM MZ FZ MF MB FM FF FB Q C?
Caretaker
Fig. 6. Expected number of associations between Falalop children 5 and younger and adults 18 and older.
See text method of computation.
times more often than would be expected by chance (208 observed associations versus
3.32 expected); grandparents, aunts, and uncles (r= 0.25) associated with them almost
6 times more often than expected (105 observed versus 17.71 expected); and other
dornen and men (r—< 0.25) associated with them roughly one fourth as often as ex-
pected by chance (103 observed versus 394.99 expected). Overall, this yields a highly
significant result (X2 — 431.920; p = .0001).
A second strong determinant of who cares for whom is sex. Mothers spent nearly
three times as much time with children as fathers (154 versus 54 associations); mother's
170
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
mother, mother's sister, and father's sister were the next most frequent caretakers
(with 36, 22, and 17 associations, respectively); and more distantly related women as-
sociated almost twice as often with these children as more distantly related men (with
65 and 38 associations, respectively). Overall, women acted as caretakers more often
than expected (298 observed versus 227 expected), while men did so less often (118 ob-
served versus 189 expected). This too is significant (X2 = 25.294; p < 0.0001).
Finally, age - a correlate of low direct reproductive potential in the caregiver, espe-
cially for postmenopausal women - appears to predict these associations as well. Ma-
ternal grandmothers spent 23 times as much time with these children as they might
have by chance (36 observed versus 1.55 expected), while mother's sisters, with higher
direct reproductive potential themselves, associated less than 4 times more often than
expected (22 observed versus 5.73 expected). Overall, kin of the next generation -
grandfathers and grandmothers - spent significantly more time with these children
than did kin of the parents' generation - uncles and aunts (X2 = 5.445; p = 0.0196).
In short, if association is indicative of childcare (see Betzig and Türke 1986 a for
some supporting argument and evidence), then relatedness, sex, and age appear to be
predictive of who cares for Ifaluk's young children. Mothers and their closest kin, es-
pecially their elder female kin, are among the most frequent caretakers.
Possible reproductive effects
Theory (Hamilton 1964; Alexander 1974; Emlen 1984) and evidence (reviewed in Bet-
zig 1988 d) suggest that help from close kin might enable one to raise more children.
Many sorts of help might be relevant, including protection, resource acquisition, and
direct care. Previous analyses have already shown that genealogical kinship is a strong
predictor of the frequent food sharing that goes on on Ifaluk, and that food is given
more often to households with higher consumer to producer (child to adult) ratios
(Betzig and Türke 1986 b). Analyses here and elsewhere (e. g., Türke 1985,1988,1989)
suggest that adults on Ifaluk, including close kin, adoptive kin, clanswomen, and af-
fines, might help others raise more children by direct childcare as well.
Türke (1988) showed that first and second born daughters may be among the most
important "helpers". He looked at the 30 Ifaluk women who had completed their fer-
tility (i. e., those whose year of birth was estimated at 1938 or before), for whom chil-
dren's birth order was known2. Türke found that women whose first born daughters
survived to an age when helping becomes possible (10 years) had marginally signifi-
cantly more living children than women whose first born sons survived to the same age
(.X = 6.93 for daughters versus X= 4.87 for sons). He also found that women with two
surviving first born daughters had significantly more children than those with two sur-
viving first born sons (X=8.86 for daughters versus X=S.Q9 for sons). Overall,
2 Two women over 45 for whom birth order was uncertain were off-island during our census in 1983.
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
171
mothers with two firstborn daughters outreproduced those who produced a son and a
daughter first, who in turn outreproduced mothers with two firstborn sons.
Table 3. Completed fertility of 32 lfaluk women age 45 or older, as a function of sister's presence or absence
on lfaluk.
X S.D. n
All children born (i = 2.012,/» = 0.0266)
Sister alive on lfaluk (sister present) 7.286 3.197 14
Sister absent 4.944 3.316 18
All living children (i = 2.049, p = 0.0247)
Sister present 6.857 3.570 14
Sister absent 4.556 2.791 18
Table 3 shows that, for the same group of 30 women who had completed their fer-
tility plus the two for whom children's birth order was uncertain, having a living sister
is also significant predictor of both total number of offspring produced and number of
children alive in 1983. Of these 32 women, those with a sister still living had produced
an average of over 7 children, while those without a living sister had produced an aver-
age of just less than 5. This difference is significant. The difference is again significant
for number of children still living in 1983; those with a sister still alive had an average
of almost 7 living children, while those without a living sister had a mean of between 4
and 5. For women with completed fertility, living brothers bear a similarly positive,
but statistically significant, relationship to their sister's reproductive success (Table 4).
Table 4. Completed fertility of 32 lfaluk women age 45 or older, as a function of brother's presence or ab-
sence on lfaluk.
All children born (t = 0.901, p = 0.1873)
Brother alive on lfaluk (father present)
Brother absent
All living children (t = 1.240,/? = 0.1122)
Brother present 6.158 3.500 19
Brother absent 4.692 2.926 13
S.D. n
6.421 3.322 19
5.308 3.591 13
On the other hand, for all 84 of Ifaluk's mothers, having a living brother appears to
have as much of an effect on fertility as having a living sister. Figures 7 and 8 show that
having a living sibling, whether female or male, tends to depress a woman's reproduc-
tive start in life, but appears to increase her reproductive performance later on. Tenta-
tively, this might be because sibling competition is greater earlier than later in life.
Finally, having a living mother may have the most dramatic effects on fertility.
"Table 5 shows that, of the 32 women with completed fertility, the two with a living
Mother had produced nearly twice as many children. They retained nearly twice as
172
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Fig. 7. Sisters' effects on fertility. Number of living children in 1983 is regressed on age for all 84 of Ifaluk's
mothers, including 60 who had at least one living sister on Ifaluk as of 1983 census ( + ), and 24 who had not
(—). Dashed line is computed for 11 mothers who had living sisters but no living brothers. Regressions are as
follows. For sisters present (+):j = 0.104x + 0.356, where^ = number of living children, and x = mother's
age; R2 — 0.227,p = 0.0001. For sisters absent (~):y = 0.028x + 2.653; R2 = 0.030,p = 0.4205. For sisters
present but brothers absent: y — 0.050x + 2.423; R1 = 0.073, p = 0.4225.
Fig. 8. Brother's effects on fertility. Regressions are as follows. For brothers present { + )'■ y = 0.116x
0.117, where y and x are defined as in Fig. 7; R2 = 0.272, p = 0.0001, n = 58. For brothers absent ( — ): y ^
0.013x + 3.547; R2 = 0.006,p — 0.7003, n = 26. For brothers present but sisters absent:y = 0.111 x — 0.436;
R2 = 0.367, p = 0.0835, n - 9.
many living children as well. Though these figures are on exceedingly small samples,
they are confirmed by the data in Fig. 9 (see also Türke and Betzig 1985; Türke 1988)-
Like those in Fig. 7 and 8, the slopes here suggest that though having a living mother
may depress fertility at an early age, possibly in part because first and second born
daughters are encouraged to help their mothers reproduce (see above), a mother's pre'
sence clearly appears to augment a daughter's fertility later in life, probably after the
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk 173
Table 5. Completed fertility of 32 lfaluk women age 45 or older, as a function of mother's presence or ab-
sence on lfaluk.
X S.D. n
All children born (t = 1.780,/? — 0.0426)
Mother alive on lfaluk (mother present) 10.000 4.243 2
Mother absent 5.700 3.271 30
All living children (i = 2.057, p = 0.0242)
Mother present 10.000 4.243 2
Mother absent 5.267 3.107 30
Fig. 9. Mothers' effects on fertility. Regressions are as follows. For mothers present (+): y = 0.262x —
4.305, where y and x are defined as in Fig. 7; R2 = 0.563,/? = 0.0001, n — 41. For mothers absent (-): y =
0.032 X + 3.031 ; R2 = 0.023,p = 0.3357, n = 43. For mothers present but fathers absent:y = 0.334x — 6.579;
R2 = 0.798, p = 0.0001, n = 17.
mothers' direct reproduction has ceased (Flinn 1988). Having a living father, on the
other hand, has very negligible effects on women who have completed their fertility.
This holds for both number of children produced, and for number of living children
(Table 6). Figure 10 shows that, for all 84 mothers in the broader sample, the effects of
Table 6. Completed fertility of 32 lfaluk women age 45 or older, as a function of father's presence or absence
°n lfaluk.
X S.D. n
All children born (i = 0.013,/? = 0.4948) bather alive on lfaluk (father present) bather absent 6.000 5.967 2.828 3.499 2 30
All living children (i = 0.027, p — 0.4892) bather present bather absent 5.500 5.567 3.536 3.360 2 30
174
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Number of 9
Living
Children
9 T
0
18
Age
63
Fig. 10. Fathers' effects on fertility. Regressions are as follows. For fathers present (+):y = 0.156x — 1.352,
where y and x are defined as in Fig. 7; R2 — 0.285 ,p — 0.0024, n = 30. For fathers absent (—):y = 0.047x +
2.442; R2 = 0.054,/? = 0.0903, n — 54. For fathers present but mothers absent: y = 0.170x — 2.209; R2 =
0.335, p = 0.1731, n = 7.
having a living father parallel, to a less dramatic extent, those of having a living mother.
That is, having a living father tends to depress fertility early in life, but appears to com-
pensate later.
Discussion
Proximity of Ifaluk mothers to other adults, whether by coresidence in a household,
on an estate, or on Ifaluk, does not necessarily guarantee cooperative childcare. Nei-
ther does proximity of association - being within five meters, or in the same activity
group - necessarily constitute childcare. Helpers might contribute direct care, re-
sources, or protection to parents and their children; and each kind of help might raise
fertility to a different extent.
It is also true that cooperative childcare, of any of these sorts, need not be the only
reason why Ifaluk women with living mothers, sisters, and daughters appear to bear
and raise more children than other women. An alternative explanation may be that
since resources are strongly correlated with reproduction in traditional cultues (e. go
Betzig 1986, 1988d), including Ifaluk (Türke and Betzig 1985; Betzig 1988b), and
since resources are inherited on Ifaluk as elsewhere, fertility tends to run in resource-
holding families. This would explain the apparent correlation, for older women, be-
tween having a living sibling and raising more offspring. In addition, if it exists, a cor-
relation between resource access and longevity might explain the fact that women with
living mothers have produced more children. To the extent that resource-rich Ifaluk
women marry resource-rich-men, however, it is not clear why the effects of having a
living mother should exceed those of having a living father. Finally, Turke's (1988)
Laura Betzig et al.: Childcare on Ifaluk
175
finding that mothers with firstborn daughters have significantly higher completed fer-
tility than those with firstborn sons does not appear to follow logically from a resource
holding explanation. Additional data on the actual childcare practices of specific Ifaluk
alloparents would be useful in further making the case that cooperative childcare is it-
self responsible for increased fertility. These data could be paired with data on the be-
neficiary's survivability, and on his or her mother's fertility.
Finally, only about a third of the adult women coresident on Ifaluk mothers' es-
tates are mothers, sisters, or daughters, and many women who spend time with chil-
dren are not close kin. Whether or not these proximity patterns are adaptive remain
unsolved questions. Answers may depend on the kinds of specific data outlined in the
paragraph above, and on detailed information for each "helper" woman regarding al-
ternative routes to reproduction.
Conclusions
These findings suggest that: (1) Ifaluk mothers live on average with roughly four other
adult women on their matrilineal estates, (2) they spend only about half of their day
time associating with their own children, and only about half of that time alone with
them, (3) they may actually spend more time alone with older than with younger chil-
dren, (4) alloparents, especially close, female, elder kin, spend a lot of time with young
children, and (5) having living mothers, sisters, and daughters may have a positive
effect on the number of children women produce. These results are consistent with
accumulating evidence that extended familiy coresidence, cooperative childcare, and
fertility are all more common in traditional cultures than in ours.
These factors may or may not be causally linked. There is a large literature on the
subject of fertility determinants, that is, on the problem of what has produced the dra-
matic and consistent declines in family size as societies move from traditional to mod-
em conditions (e. g., Coale and Watkin 1986). Obviously, modernization changes
tnany things. Among them are the costs of rearing children, both material and social.
Most theorists have stressed the fact that children in traditional cultures seem to pro-
duce more - to contribute more to the household economy - and to consume less - for
example, in clothing, housing, and education-than children in modern cultures (e. g.,
Caldwell 1982; Lee and Bulatao 1983; Handwerker 1986). Much less often stressed is
the apparent fact that, on Ifaluk and in a few other traditional cultures (see references
above), the social costs of childcare seem to go up with modernization, too (Türke
1985,1988 1989). Direct childcare on Ifaluk, and in other traditional cultures, seems to
be much more diffused. An effect may be that women in traditional cultures are able to
hear and rear many more children than women in our own.
This is not to suggest that other variables, including economic variables, may not
he important as well. Definitive tests distinguishing among these, and other, hypo-
theses have yet to be done. They will require detailed data on the social and economic
176
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
costs of children, and on how wide a network can be relied on to pay them, both within
traditional and modern societies and between them.
Acknowledgements
We are grateful to the National Geographic Society for funding Betzig, Harrigan, and Rodseth's 1986—87
Ifaluk and Yap expedition. Funding from the Wenner-Gren Foundation (to L. B.), the L. S. B. Leakey
Founhdation (to P. T.), the National Science Foundation, The Population Council, (to P. T.), and an
N. I. M. H. postdoctoral training grant (to L. B.) are also gratefully acknowledged. Thanks to Magdi Hur-
tado, Mark Flinn, and Lars Rodseth for helpful comments. Special thanks to the people of Ifaluk, especially
our interpreters Yangitelmes, Halingmai, and Yangespai, our hosts Ileseap and Pakalmar, and the many
women, men, and children who had the patience to participate in our study.
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'
The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
and the ways in which it has affected the understanding (or misun-
derstanding) of how other cultures conceive phenomena respecting
life, life-giving, the creation of individuals, and their interrelatedness
Brigitta Hauser-Schäublin
Ethnologisches Seminar der Universität Basel, Münsterplatz 19, CH-4051 Basel, Switzerland
Abstract.From the point of view of gender studies the anthropological categories of procreation and pseu-
do-procreation (the latter term coined by L. R. Hiatt in his famous 1971 article on secret pseudo-procreation
rites among the Australian Aborigines) are analysed. The present study reveals not only implicit assump-
tions anthropologists made when writing about procreation as well as "kinship". These preconceptions -
the classification into "real" and "pseudo", which contains the constructions of a nature/culture dichotomy
- have also prevented them from understanding other cultures' theories of philosophies about life, coming
into existence, life-giving, perpetuation, and death.
Introduction
This paper1 seeks to analyze how a premised or postulated a priori distinction between
procreation and pseudo-procreation has affected a) the way in which another culture's
visions or philosophies of life and its generation are understood and b) the way in
which the interrelatedness of individuals through what is called kinship is conceived. It
is suggested that this construct is the result of adopting scientific criteria as a standard
for defining what real and what pseudo-procreation are (along with the generation of
life and kinship) rather than what they mean. One of the cornerstones of kinship
theory, for instance, is the role of paternity, which itself stems from the European no-
tion of 'real' procreation.
L. R. Hiatt coined the term pseudo-procreation in his paper on "Secret pseudo-
procreative rites among the Australian Aborigines" with reference to Aranda men's
lntichiuma rituals. These male cults center on the perpetuation of man, animals and
plants, that is to say, on the generation of life in general. Hiatt called these rituals pseu-
do-procreative. He made the following distinction (p. 80): ".. .when men make their
secret ritual contribution to the production of new human individuals, they do so on a
This paper is published in English, although the author is of German mother tongue, because an earlier
version of it was delivered in English at a symposium on "pseudo-procreative symbolism", chaired by War-
ren Shapiro and Gilbert Herdt at the 86th Annual Meeting of the AAA in November 1987 in Chicago/Ill.
Zeitschrift für Ethnologie 1 14 (1989) 179-194
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
180
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
predominantly male generative model; ...when they secretly 'reproduce' youths as
men, thus ritually severing the bond between sons and mothers, they do so on a pre-
dominately female generative model." The first type he called "phallic", the latter
"uterine". His implicit distinction between real and pseudo-procreation is, I think,
part of the legacy of European philosophy which operated for centuries with the
model of a dichotomy between nature and culture.2 The assumption of a "real" procre-
ation, defined by biology, and of a pseudo-procreation mirrors this dichotomy, which
for a long time was not recognized as a construct but rather taken to exist as such.3
Since the publication of Hiatt's paper, in which he probably only formulated what
others had already taken for granted a long time before him, this distinction seems to
have been accepted without question.
In this paper I shall try to refute this distinction by asking what procreation theo-
ries or philosophies about life and lifegiving mean in their own cultural context. This
approach is critical of modern biological explanations of procreation, regarding them
as another folk theory variant which tries to explain "facts" as such while, at the same
time, smuggling in specific meanings and cultural values. In so-called traditional so-
cieties procreation theories are mostly based on the notion of potent substances, with
their properties and efficacies. Moreover, procreation theories, moulded by gender,
are attempts to explain phenomena of life as such, its creation, its perpetuation, its dis-
solution and/or its persistence after death. It is an aspect which our scientific "biolog-
ical" theory of conception completely neglects, and consequently anthropology, a dis-
cipline belonging to the same culture as biology, has largely overlooked in its categori-
zation. Furthermore, procreation theories are theories or even philosophies about so-
cial networks in which the individual is embedded and about intergroup relations. -
The ethnographic examples used to illustrate my main points are drawn from Oceania,
mainly Papua New Guinea, which is at present probably the richest source of ethno-
graphic data on procreation. Although the social relations implicit in procreation phi-
losophy vary greatly from culture to culture, analysis of the data will reveal a general
underlying scheme; namely, the acknowledgment of primary male control over a hu-
man being coming into existence and, consequently, the claim to rights over and duties
toward him or her as an individual and a member of a social group.
2 Its impact on anthropology can be demonstrated most readily in the philosophical traditions extending
from Rousseau to Lévi-Strauss, but its range was, of course, greater than this.
3 MacCormack (1980) has clearly shown the consequences of the categories nature and culture for the an-
thropological study of gender.
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Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
181
European visions of procreation
Modern knowledge, beliefs, and attitudes towards procreation, derived from genetics
and biology and adopted by many Western cultural groups, which is, of course, plu-
ralistic in type, exist at several levels:
- conception is located at the macro level of a physical body; that is, it is regarded as a
complex of cells, or rather gametes, sperm and ovum. If fertilization takes place, na-
ture is said to be fulfilling its task. It aims at success and risks failure.
- "Life" is seen to start the moment male and female cells fuse but it is only in the sec-
ond half of pregnancy that an embryo's life is regarded as more "human" than in the
preceding months. In most countries abortion may be legally sanctioned up to a cer-
tain time. If it is practised under specified conditions, abortion is licit and not treated
as murder. "Life" during the early weeks of pregnancy means primarily a growing
and functioning organism.
- Genes, which are generally constituted of DNA and chemically identified essen-
tially as proteins, form linear sequences of building blocks in the cell and are held to
determine the traits/characteristics of an individual body. Conversely, every cell
contains information on the body of which it is a part (Arber 1987: 5). A human be-
ing consists, by nature, of sets of specific genes. A person's body is regarded as the
sum or total of this "nature kit". There is said to be no escape from the destiny im-
posed by the information contained in the genetic code - at least not until genetic
engineering has made further progress.
Different types of female infertility or sterility are distinguished:
~ In one case female "infertility" can be changed into "fertility" by doses of hor-
mones. Another way of overcoming female "infertility" is to remove an ovum and
fertilize it with a sperm, and then to re-implant it in the uterus.
~ Female "infertility" can also be tackled by hiring a surrogate mother, who becomes
impregnated in a non-sexual but "medical" way by sperms from a man whose wife is
unable to bear a child. This is considered to be neither adultery nor polygyny. Con-
ventional laws governing social relations were abrogated by this modern techno-
logy. A report of a woman who had been impregnated with sperm from her son-in-
law finally producing a child for her daughter (who actually became a half-sibling of
her baby) was published in international newspapers recently. Surrogate mothers
are seen in terms of the availability of ova, sperms and wombs and the willingness of
their owners to sanction their use.
- In the case of male "infertility" or "sterility", the idea of surrogate fathers hardly
ever figures in public discussions because paternity has remained one of the most
central values of procreation. This is confirmed by cases in which a married woman
becomes artificially impregnated with another man's sperm. In one case, when the
child was two years old, the marriage broke up because the mother's ("unfertile")
husband could not identify himself with "his" baby. Furthermore, as a case in Cre-
mona (Italy) demonstrated in late 1987, such a father was publicly ridiculed by his
182
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
parents-in-law, who did not accept him as their grandchild's "real" father. The
woman then tried to find the (anonymous) donor of semen with the help of the mass
media. In general, couples with an "unfertile" male partner would be more likely to
adopt a child.
- In vitro fertilization, embryo transfers and the device of surrogate wombs (a kind of
incubator) have in modern Western society fostered the interchangeability of wo-
men's bodies and, at the same time, partly devalued the nine months' pregnancy
both as such and also as a holistic bodily process and experience for women. How-
ever, the value attached to the male contribution to procreation has not diminished,
for biology allows us to determine who a child's "real" father is or ist not. As the
child of a married couple receives his/her name from the father, the identification of
the biological father has become more important because, in our own society, the
genetic father is expected to be the same as the social.
- The role of "biological mother" is reduced to pregnancy and parturition (sometimes
not even that); breast-feeding as a vital means of securing a baby's survival was de-
valued long ago when it was replaced by industrial products. The benefit of breast-
feeding nowadays is considered to be rather of sentimental or ideological value than
a vital necessity.
- Surgery on the female reproductive organs (ovaries and/or uterus) is considered
much less an intrusion on the female gender identity than a comparable operation
on male reproductive organs (e. g., testes). Such a procedure is readily called emas-
culation whereas the word difeminization does not have the same connotation but is
used to refer to the loss of secondary sex characteristics such as, e. g., the female
breast, which has become an organ of inter-gender communication rather than of
nurture.
It should be clear from what I have said, that although we know basic facts about the
function of gametes and the principles of genetics, biology is more than just this; it is
also a specific way of looking at things. It explores and concentrates on certain aspects,
which we think of as scientific subjects, and neglects others.
It is not only the way of looking at things. It disregards also the symbols and
meanings attached to them, and the social effects they have on everyday life outside the
laboratory, and this prevents me from making an a priori distinction between modern
"biology" or the biologistic view of procreation and traditional so-called pseudo-
procreation theories.
Biology and anthropology
In contrast to modern biologistic views of conception, procreation theories are at-
tempts to explain the phenomena of life as such, its creation and its dissolution, and/or
its persistence after physical death. It is an aspect which the scientific "biological" con-
ception theory completely neglects and, anthropology being a discipline belonging to
the same culture as biology, has largely overlooked in its categorization.
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
183
In anthropology, procreation beliefs caused confusion. The denial or absence
of one of the cornerstones of Western culture paternity (and with it also the assump-
tion of parentage as a dual principle, patri-parentage and matri-parentage; Yeatman
1983: 8) became almost an obsession. Most of the discussion that had already been
broached in the last century, i. e., in a still "prescientific" era, concerning procreation,
were retransacted at the biological level, it being taken for granted that the Europeans'
view was the one that mirrored the real facts. Later, biology proved that our folk
theory was at least partly right. But anthropology until recently, had never reflected
on how Westerners had switched from folk theories to science (Delaney 1986: 508).
The modern view of procreation has, as I mentioned earlier, put still more emphasis on
biological paternity and consequently on social fatherhood. It is, however, I think, be-
cause of the factual separation of reproduction from sex (and not only of sex from re-
production) that anthropologists have begun to treat these categories as analytically
separate. In fact, anthropologists were slow to realize that in other cultures (and not
only in modern Western society) procreation is not dependent solely on a couple hav-
ing sexual intercourse but it can be understood and interpreted as resulting from other
interventions, manipulations or influences. By this I mean, whether these manipula-
tions be "medical" or "spiritual", a culture can create things out of "facts". The results
remain the same provided they are accepted and believed in. - In short: notions of
procreation beyond genetics (and even genetic notions are selective although their re-
sults and the conditions of their application are in line with scientific requirements) are
always cultural constructs. Between genetics and procreation exists the same relation-
ship as between sex and gender. In fact it is notions about gender that give procreation
theories their most characteristic stamp.
The politics of asymmetric contributions
All procreation theories have to contend with the fact that a woman's relation to her
child is unequivocal4 whereas man's is riddled with uncertainty. It is therefore not ma-
ternity as such that is the keystone of most procreation theories but rather the con-
struction of the male contribution to the generation of life and the legitimation of pa-
ternity. These theories often contain the elaboration and cultural acknowledgement of
a man's claim to a baby not only as its guardian but, at least on a par with its mother, as
!ts genitor. But paternity is, as Delaney has observed (1986: 495), not the semantic
equivalent of maternity. In traditional societies "maternity" always connotes the evi-
dent direct links between mother and child of which the navel is a lifelong testimony,
for men and women alike. But no such manifest bond between father and child exists;
therefore procreation theories have to be constructed to acknowledge not women's
I hesitate to apply this statement also to the situation of contemporary women with technologically con-
dolled and manipulated fertility and reproduction.
184
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
but men's participation in procreation, be it the husband's or the sister's brother's. I
am inclined to consider them as an expression of the struggle of the male to gain con-
trol over women and their offspring.
This contention can be supported by a stock of ethnographic evidence from different
parts of the world but the examples I will cite to illustrate variations within this general
scheme are drawn mainly from Oceania. In New Guinea, as in many other regions, this
struggle is reflected in the beliefs5, well known in anthropology, that a woman and a man
contribute unequally to procreation. Often such a belief is formulated in terms of bodily
substances, blood and semen. According to the most common versions, the blood is the
origin of the soft, quickly perishable parts of the body, whereas the semen produces the
strong elements, mostly bones and teeth. Accordingly the female contribution - blood,
associated with flesh, the soft and "wet" parts of the body - is prone to putrescence and
decay whereas the male contribution is associated with durability and resistance to de-
composition. Sometimes it is even said that, through several acts of intercourse, the man
deposits large amounts of semen in the womb, thus actively "building" the whole child
(e. g., among the Faiwol, Jones 1980: 168; and the Gimi, Gillison 1987: 177); woman's
role in procreation is therefore seen as the passive nourishment or "housing" of the child
(e. g., among the Bedamini, Sorum 1984: 321).
Women's monopoly of childbearing and the fact that every human being was once
tied by the umbilical cord to a woman's body and was literally wrapped into her warm,
wet and soft womb, is thus translated into cultural categories which concede a woman
some kind of participation but claim the supremacy of man's contribution. In fact, as I
know from my own fieldwork in Papua New Guinea (and to judge from intimations in
the literature on New Guinea) men's versions6 of procreation beliefs are much more
elaborate than women's who, more often than not, merely acknowledge the mixture of
blood and semen in the womb out of which a human being is created. In some cultures,
e. g., among the Bimin-Kuskusmin (Poole 1981: 128) and the Gimi (Gillison 1987:
177), even the femal sexual secretions are stated to originate from semen; among the
Sambia (Herdt 1981: 178) and others, breast milk is also said to be originally induced
by semen or classified as male substance, as among the Foi (Weiner 1986:75). It would
be interesting to know if women would give the same explanations - or perhaps they
just do not care as much about it as men do? One thing at least is sure: There are virtu-
ally no women's versions which assert their control over men's reproductive qualities
in the same way as men do over women's.7
Procreation beliefs not only state which parent contributes through his/her own
gender-specific substance which body part to the generation of an individual but often
associate specific behavior and dispositions in a man or a woman with the influences
5 For detailed accounts of procreation beliefs in different PNG cultures see Joergensen 1983 a.
6 Gillison (1987: 177) mentions a "second man" (my emphasis) who acted as her informant on procreation
beliefs.
7 One exception is reported by Joergensen (1983: 60-61). Among the Telefolmin, women claimed in their
version of the story that bones, the chief relics of the men's cult, are created by blood.
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
185
exerted by his/her paternal or maternal substances received at procreation. For in-
stance, it is said that in a courageous warrior the male components are effective; in a
man who quickly gets tired the maternal substances are said to be dominant.
But procreation beliefs proceed beyond the point where our own modern procre-
ation theories, concerned as they are with only material body substances, have nothing
more to say: to phenomena like the spiritual aspects of a human being, his "soul" or
"souls".8 Sometimes it is laconically stated that a child inherits its soul totally from its
father or, as the Mae Enga say, that a child, though it gets its body from the substances
of both parents — receives its personality from patrician ghosts (Joergensen 1983 a: 5).
"A small child has no soul of its own but shares that of its mother through suckling.
The soul grows gradually in the child as it is weaned and removed from the physical in-
fluence of its mother" (Sorum 1974: 322). But in cultures where both a man and a
woman are said to contribute actively to the creation of a child, it is often believed that
there are different types of "souls" with which an individual is endowed. Among the
Abelam in the East Sepik of Papua New Guinea an individual is said to have two
"souls", one associated with his blood, the other with his bones. Among the Aré Aré in
the Solomon Islands (De Coppet 1981: 178) an adult consists, in addition to his mate-
rial body, of two differently functioning life-forces or souls, one called "breath" and
the other "image". The former is rather the body-moving aspect, whereas the latter is
detachable from the body itself and can move about freely. In the Philippines, where
Gibson has done an excellent study on substances among the Buid of Mindoro, (1985:
400), an infant is said to be born with a soul (falad) but does not yet possess a "mind"
(fangayufan). Infants are born accompanied by a "companion", the afterbirth, which
is also said to have z falad... The falad is intimately linked to the physical aspect of the
person: physical illness is the result of a mystical attack on th e falad, and the falad is
the source of all individual needs, emotions and desires."
Numerous other examples could be given; they all show that procreation beliefs
and theories, instead of being restricted to the material components of an embryo, are
philosophies of life and of the life-forces active in men and women. In addition to
statements about material body substances and their spiritual principles, they also
contain information on fundamental conceptions of life beyond death, and evoke al-
most a cosmic principle. — Among the Buid of Mindoro, th e falad becomes a ghost,
selfish, greedy and entirely lacking in respect for proper social behavior. Although
Gibson mentions (1985: 400) that only the " soul", falad, but not the "mind" survives
death, he writes (1985: 406): "But the mind is closely identified with certain spirit fa-
miliars, not so far discussed, which act as a direct link with the spirits of the earth.
These spirit familiars are immortal. ... The social aspect of the individual, that is, the
mind, is separated from the physiological aspect at death, and achieves a deperson-
Unfortunately space does not permit me to discuss these concepts of life-forces or souls in detail here.
^ut it is interesting to note how they were translated as "mind", "personality", "breath", "life-force" etc.
See also Fischer 1965.
186
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
alized immortality in the form of spirit familiars. The community itself is symbolized
by the spirit familiars of the earth."
Among the Aré Aré (De Coppet 1981: 182) at death the spiritual aspect, the agens
movens, "breath" ceases in the case of a man who died at the will of his ancestors,
whereas his "image" later turns into one of the many ancestors. Among the Daribi in
Papua New Guinea the soul develops in a child at the time when the teeth appear and
the coronal sutures harden; the latter remain the point of egress and re-entry when the
soul temporarily leaves the body (during sleep or sickness). It is located near the lungs
and the liver and is associated with "thoughts" ; when a person dies, his soul leaves the
body and proceeds to the land of the dead (Wagner 1971: 130-131). Among the Beda-
mini (Sorum 1980: 278) a person's soul (aeselibu) is seated in the liver or the heart. In
addition, an individual is endowed with a life-force residing in the breath. Whereas this
life-force is indissolubly linked to a living person and ends with his death, the soul can
temporarily leave the body in dreams, during a sickness and finally, and for ever, at
death. If a person's aeselibu does not return from a temporary absence (e. g., during
sickness) the life-force will expire, thus breathing stops and death will ensue (1980:
290). After death the soul departs for one of the sacred spots in the bush where the an-
cestors of the patrician live. Only the "recently" dead have a named identity, while the
rest are an anonymous mass (1980: 280). Sorum becomes more explicit about the sa-
cred spots and adds (1980: 278): "Several patricians, normally agnatically interrelated,
share in one such spot." And "on the land of every patrician there stands a spirit tree of
a particular species with enormous roots. In the top branches of these trees, the aese-
libu also have houses, and there they perform ceremonies."
But I would like to relate this information to what actually happens to the body
when death occurs. Sorum notes for the Bedamini (1984: 324—325) that "the corpse is
left on a platform to decompose until only the bones remain... The closest female rela-
tives of the deceased arrange the position of the corpse inside the house, sit around it
while mourning and remove its fluids and decomposed skin. They also sit mourning
beneath the platform, allowing the body fluids to drip down on them... Since death is
associated with decay", he adds, "only females can handle the corpse. Men, who are re-
sponsible for growth cannot do so since it negatively affects their powers." Unfortu-
nately Sorum gives no further information on what happens to the bones of the de-
ceased. - I would merely add that secondary burials of bones are an expression of the
consummated separation of the pure eternal male substance from the impure decaying
components (see also Barley 1981 and Watson 1982: 179-180). Wagner tells us con-
cerning the Daribi (1971: 145,150) that mourners also take away dried relics from the
body of the deceased and finally remove his bones which are treasured and ultimately
deposited in a burial cave or rock shelter. In other cultures, e. g. among the Melpa
(Strathern 1982: 117-118), there is sometimes a bone or "head house" where the men s
bones are kept. Let me try to put together these heterogeneous data: If we view them at
a level of abstraction higher than that of apparently simple beliefs ("pseudo") concern-
ing procreation, we find they embody notions revealing and coherent, about coming
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
187
into existence, life, living, death and dying of individuals. When life ends, the individ-
ual decomposes and resolves again mainly into transformations of the two compo-
nents that fused at conception. It is the flesh - the soft, juicy tissues, mostly the wom-
an's contribution to a human life - that is doomed to decay, and only women may
handle the putrescent parts of a corpse. At the same time the spiritual components of
an individual, the "breath" or "life-force", which are bound to conditions of living and
dying, cease for ever. And it is the bones, the strong white parts emerging from pu-
trescence that are the symbol of endurance and continuity. Dry and freed from all rott-
ing flesh they become "cleansed" of female pollution and influence9 and are kept by the
living. The soul, which originated from the male contribution to procreation, is not
subject to death. It therefore leaves the living and joins the dead, the realm of the ances-
tors who, in turn, again exert influence on people. And it is through the bones that men
communicate with their ancestors in order to achieve and maintain control over the life
of the community. It is important to note that these philosophies of life-giving und life
are not concerned merely with the physical composition of individuals but also with
their integration into the time dimension or rather the transcendence of time, even
with a claim to eternity.
Social consequences of transmitted immortality and genealogical links
Sorum said, as mentioned above, that the immortal soul joins the ancestors of the pa-
trician and finally becomes one of them. But - at least for me - it remains uncertain
whether this happens to men's souls alone or whether women's souls are included, and
it would be helpful to know whether the latter join their father's or their husband's an-
cestors. Poole writes of the Bimin-Kuskusmin (1982: 112) that agnatic blood, in its
strongest form, is transmitted through males (by the strictly patrilineal transmission of
semen). This agnatic blood strengthens thefiniik spirits, who are the spirits of patri-
cians and also of ritual moieties and initiation age groups (1981: 122). Agnatic blood
transmitted through women remains viable only for three descending generations. Fi-
niik-spìrìts and agnatic blood link past, present and future through males alone. Patri-
lines and cognatic kindreds are traced through shared 'agnatic blood' in the procreative
transmissions of men (for patrilines) and of men and women (for kindreds), respec-
tively (1982: 106-107).
Obviously, as the examples given above have already shown, male substance is
used as a means of creating inter-generational continuity, that is genealogy, exempli-
fied most prominently in this instance between male members of a social group. But it
tftay also be used to express the solidarity of a local group and its relation to a specific
territory. Every ancestor among the Paiela (Biersack 1983: 87) is associated with a
Bloch (1982: 255—277) maintained that funerary rituals often act out the victory over the physical, biolo-
§lcal nature of men as a whole. See also Bloch and Parry (1982:27).
188
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
bounded territory whose "bone" his descendants own. And the "bone houses" or
"head houses", more often the burial grounds in general10, are manifestations not of an
abstract or spiritual connection between individuals but of concrete localized com-
munity. Among the Bush-Mekeo, agnatic blood transmitted in the male line is a me-
dium of defining the patrician whereas the bilateral ties of blood are a means of defin-
ing the whole endogamous group, "the 'tribe' " (Mosko 1983: 26). This is the political
war-making unit which fights only with tribes "of different blood".
There are different levels on which the idea of shared substance is relevant; siblings
in most of these life-theories are defined as people who own an identical set of sub-
stances, and an exogamic unit could be defined also in terms of avoiding the remixing
of shared substances because this would mean entropy (see also Gibson 1985: 405).
Wagner has written of the Daribi (1980: 428) that "the normative system correlates
the contrast maternal/paternal substance with the contrast exchanging/sharing meat
and wealth ; those who share or pass on paternal substance should share wealth and 'eat
meat together'; those who trace connection through maternal substance should 'ex-
change meat' and 'wealth', or it should be exchanged on their behalf. A man should
make payments to his children's maternal kinsmen in order to recruit his children to
his own unit."
Thus contribution to procreation means participation in the sense that it creates re-
lations and justifies claims, rights, and duties in the being that is to come into existence.
Acknowledgement of contribution means also that of an interpersonal relation on the
individual and social group level.
These considerations bring me into the midst of the anthropological construct of
kinship. But I do not want to fall back into what Schneider (1984: 175) has called
"common sense notions" and "conventional wisdom of kinship". What I want to pro-
pose is, as others have already done before (e. g., Anna Yeatman, 1983, with her "pro-
creative model"), to re-examine "kinship" or rather interpersonal and intergroup rela-
tions from the emic viewpoint of life and life-giving theories, to which procreation be-
liefs should be extended."
Towards a theory of substance transfer
In contrast to the traditional assumption that kinship is always based on biology, i. e.,
on sexual reproduction, which slipped unconsciously into anthropological notions of
kinship, I would maintain that the study of kinship should include notions of procrea-
tion in the sense of the transmission and the incorporation of substances, both physical
10 After all I have said, it is not surprising that menstruation or parturition huts were never used to manifest
clan unity or continuity.
11 I have analyzed Evans-Pritchard's conclusions on kinship among the Azande by comparing their life"
giving and life-theories with his definitions and descriptions of lineages and linearity and found substantia
differences between the two (Hauser-Schäublin 1987b).
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
189
and spiritual. I would not see (as Yeatman 1983 does) matri- and patri-parentage, or
"parentage" at all, as a basis for it. Although I have given examples mainly of sexual re-
production I would also include others. I shall give three different instances.
The first is from the Trobriands. In her article on the meaning of paternity and the
virgin birth debate, Carol Delaney (1986) has shown that anthropologists become en-
tangled in their own concept of paternity.
In the Trobriands, as is well known, procreation takes place when a baloma, a ma-
tnlinear ancestor of the woman, enters her body either by her head or by her vagina.
The husband's role is to open the way for the spirit child as well as to shape, mould and
nourish it in utero by repeated intercourse (Delaney 1986: 507). I would interpret the
baloma as the male spiritual substance. But in this matrilinear society it does not come
from the woman's husband but from her agnates, i. e., a (male?) ancestor of her matri-
liny is considered to be the genitor of the child while its actual 'father' has the role of
fostering it. In the light of what I have tried to explain before about life and life-giving
beliefs and the relation between procreation, life, and after-life, this Trobriand version
of the production of offspring is seen simply as a further variation of the same idea. If
we recall other New Guinea beliefs regarding procreation mentioned earlier, we have,
for instance, the Bimin Kuskusmin's and the Gimi's assertion that female sexual fluids
originated from semen. This does not mean, of course, that it was generated by the sex-
ual procreative substance of the husband but of the woman's father or her mother's
brother (see Gillison 1987: 172, Poole 1984: 8). These examples, the Trobriands in-
cluded, make clear that the social claims to issue are legitimized by the corresponding
ideologies and go far beyond our notion of parentage. I would see it as a kind of strug-
gle in procreation between substances derived from different categories of men, for ex-
ample father, mother's brother and husband. Thus, procreation is not appropriately
based on a dual principle.
As a second example, also well known and often discussed, I have chosen the so-
called Australian spirit child belief12 where the recognition of pregnancy is spoken of
as "finding" the child. Recognition is chiefly, although not exclusively, a male role.
Francesca Merlan has written an excellent article (1986) on the problem and its solu-
tion by not asking physiological questions; instead she asked under what social condi-
tions partial disjunction between sex and reproduction becomes more intelligible. She
came to the conclusion "that such a disjunction [and I would not even call it disjunc-
tion] was the concomitant of gender-constituting institutions and practices which de-
fined women as 'bestowable', and their sexuality as a gender-specific attribute which is
somewhat partible from the person, that is, with recognized 'exchange value' " (Merlan
1986: 489). As an extension to her conclusions, I would also see this problem in terms
not only of embedding a new human life in the vertical axis of genealogical relations
and sequences — the time dimension - but also of fixing it onto a horizontal axis, that
Aware as I am of many cultural variants of "spirit child beliefs" in Australia, I shall treat here, in a superfi-
cial way perhaps, the anthropological attitudes towards and interpretations of them.
190
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
is, of attaching it to the actual environment - the space dimension - in which people ac-
cording to the season. This belief is a localized adaptation of the individual to the di-
mension of space. But the temporal dimension is also present in what I would call a
typical Australian way, that is, an individual is linked to ancestors or spirits not
through genealogies but by a direct link between the individual and a component of
Dreamtime. I would consider it to be a further means of creating a continuity different
from that created and channeled through "paternity". It is one that re-adapts Dream-
time, manifested most prominently in the landscape itself, directly to the creation of
new life, thereby filling the gap between the mythical past and the future.
In contrast to these examples, which are still clearly linked to pregnancy, I shall
turn in my last few examples (all of the same category) to those in which relationships
are established and then resolved again. What is involved here is non-sexual13 human
reproduction. This is closely associated with body substances and their incorporation,
which is achieved mainly but not exclusively by consumption. The value and meaning
attached to such procedures and their consequences can, from my point of view, not be
separated from those associated with begetting a baby. I would suggest that further re-
search be devoted to the study of kinship in terms of culturally defined substances,
both material and spiritual, which are said to establish new and lasting bonds between
individuals, and which define, through the sharing of substances, persons who belong
together. One of the most common of such relations is that of breast-feeding a baby.
But apart from this asymmetric mother-child relationship most ethnographies keep si-
lent on the question whether a baby, for instance, can be wet-nursed by a woman not
its mother, and if not, why not? It must be established whether some agnatic principles
have to be followed and what meaning and value are attached to receiving another
woman's breast milk.
But what I had in mind was a different phenomenon which has - as far as I know-
never been analyzed under the heading of kinship but only under the label of homo-
sexuality (e. g., Herdt 1984) among, say, the Sambia (Herdt 1981, 1982, 1984, 1987)
and the Baruya (Godelier 1982) in Papua New Guinea. In both groups it is maintained
that boys' seminiferous organs do not themselves contain semen but that semen has to
be implanted by seniors. This transmission of sperm is carried out orally, the juniors
"drinking" the semen of the seniors. This sequence is never reversed: that is to say, se-
men is handed down unilineally from the elder generation of men to the younger.
What we have here, then, is a second, post-natal procreation of men out of men only. It
constructs among them an inter-generation continuity. The insemination of boys by
older men has to be regarded in the light of procreation and life-giving theories in
which semen is seen as a male procreative substance vis-à-vis female blood. These
13 In our terminology, sexuality means that the genitals of at least one of at least two partners of either sex are
involved. I doubt whether this implied definition is also shared by other cultures. From my experience of
New Guinea cultures I personally know that they associate "sexuality" invariably with heterosexual rela-
tions.
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
191
inter-male relations bring the symbolic dimension of semen transmission into sharper
focus than do beliefs about heterosexual procreation of an individual which we per-
ceive, according to our own materialistic world view, mostly as a fusion of material
substances. Among the Etoro it is explicitly stated that the life-force hame grows in
boys through oral insemination (Kelly 1976: 39). There, semen is said also to carry
spiritual properties in general and its transmission is held to reinforce the enduring
spiritual quality of the male individual. But apart from these metaphysical aspects it
ties people (men!) socially together by a body substance.14 Among the Etoro (Kelly
1976: 41) and the Sambia (Herdt 1981: 238) a boy is inseminated by his true sister's
future husband. Thus the transfer of male substance creates social relations which can
be paraphrased as those of kinship. I see no reason why only the genital reception of
semen should be regarded as giving rise to kinship through procreation. If both ways
of semen transfer are analyzed parallelly one realizes that a child is, thus, the result of a
kind of "endogamy" because his father was first inseminated by his wife's brother.
Hence, the male contribution to procreating a child comes from his/her mother's
brother. I have to add that in inter-male semen transfers, rules of exogamy, based on
the idea of already shared substance, are followed. Herdt (1981:238) says: "The idea of
fellatio with one's father or biological brothers is completely abhorrent and not dis-
cussed. Ideally, all male kin, including cross-cousins, are taboo."
Another means of creating transgenerational continuity by incorporating procrea-
tive substances is the consumption of bone scrapings of ancestors, as e. g., among the
Iatmul (Bateson 1932:427-428). In other Papua New Guinean cultures it is sometimes
achieved during male initiations. The bones are a representation of male procreative
substance, they are associated mostly with patrilineal all-male continuity. The con-
sumption of bone scrapings (preferably from a male skull, which is the most important
residue of all male substance and is thus treasured as cult paraphernalia) is practised
only by men!15 It renews and reinforces already existing kinship ties created by the
corresponding procreation beliefs and life-giving theory.
Finally, I would like to discuss in brief a certain type of cannibalism which should
be viewed in the context of procreation and life-giving philosophies. To some extent it
does not involve the creation of new social relations but rather the dissolution of kin-
ship relations. In the compass of this article I can exemplify it only by one or two ex-
amples. For the Gimi, for instance, Gillison (1987: 173) writes (and this seems to have
been true also for neighboring groups as Berndt, cited by Gillison, reports) that when a
child died it was given to its mother's brother for consumption. In terms of substances
14 Whereas semen transmission is asymmetric, the exchange of blood, as it is practised in African blood
Pacts—using a female procreative substance—is symmetric. For an interpretation see Hauser-Schäublin
1987a.
Among the Bimin Kuskusmin (Poole 1981:131) the men speak of a male "bony navel" associated with the
skull in opposition to the navel which is classified as female. The equivalence of skull and womb is often rep-
resented in other cultures in headhunting rituals. The taking of heads is said to produce fertility and gen-
erates life as does a woman's womb.
192
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
and their effects I would interpret this to mean that a woman's contribution as a
member of her agnatic group to a child is returned in the event of a premature death.
The soft parts, the flesh, are "repatriated" to where they came from; the circulation
and passing on of substances is interrupted by an early death, i. e., continuation is pre-
cluded.16 The act also signifies to some extent the dissolution of an individual back into
his components as well as of a "network of obligations which death brings to an end"
(Strathern 1981: 221).17 Sometimes these relations are displayed and acted out entirely
on the economic level when wealth or meat as transformations of body substances are
exchanged.18
Conclusion
In my attempt to understand kinship as a universal but culturally variable mode of
tracing and establishing relations between individuals and groups by the modus of
passing on or sharing substances, material and spiritual, I have greatly broadened the
scope "pseudo-procreation". I have tried to demonstrate that, in anthropological anal-
ysis and interpretation, "pseudo-procreative" beliefs and rituals cannot be separated
from procreation as such. The anthropological construction of a distinction between
"pseudo" and "real" procreation (which, in fact, reflects the European distinction be-
tween nature and culture) prevents us from understanding the broader context in
which one of the philosophies of "life" and the perpetuation of it is set. At the same
time this dichotomy renders us incapable of recognizing that procreation in its widest
sense has to do with social relations, and with kinship, which, as should be generally
realized at least since the publication of Schneider's book (1984), is far more than just
"biology". Procreation means something for us but we are still far from transcending
our own concepts, modelled by genetics and chemistry, and knowing what life and its
generation really are. I have therefore suggested other ways of looking at procreation
and its cultural implications in the belief that, for further research, such an approach
might turn out to be more rewarding as an anthropological framework than those
applied in the past.
16 The meanings attached to "endo-cannibalism", of course, vary and it would require detailed studies be-
fore generalizing statements about it could be made. Among the Hua (Meigs 1977: 165) "neither a male or
female may eat the blood or deceased body of a consanguine in a generation junior to his own... When asked
why a person may not eat the body or blood of a real or classificatory child or grandchild, the Hua answer is
that to do so would be like a dog licking its genitals. They relate this pattern of prohibited eating of offspring
to the prohibition on eating one's own blood... one's own pig... To eat them is to consume oneself"-
17 I ask myself if Schneider's question (1984:123) on cannibal mortuary practices in the Trobriands has to be
answered in terms of their concepts of substances. There, the father's role in procreation seems to be one of
nurturing. Death brings this (socially discontinuous) relation to an end, the child consuming the soft perish-
able parts of his father.
18 I can only refer to Lindenbaum 1984 (358-359) and Weisner (1986) concerning the relation semen/bride
price objects or bride wealth and the exchange of meat and valuables.
Brigitta Hauser-Schäublin: The fallacy of "real" and "pseudo" procreation
193
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Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay
oder das Dilemma des Ethnographen
in einer vorkolonialen Situation
Justin Stagi
Schumannstraße 104, D-5300 Bonn 1, Deutschland
Abstract.Miklouho-Maclay (1846-1888) was the first anthropologist to employ stationary fieldwork con-
sciously as a method for the collection of ethnographic data. His fieldwork in Northeast New Guinea
(1871-72, 1876-77) was done in an area not yet pacified by colonialism. This brought him into a special di-
lemma: he could not concentrate on "pure" research, but had to take sides politically. He also did not arrive
at the form of literary presentation suited to holistic fieldwork, the ethnographic monograph, but presented
his data in the traditional literary forms, diary and travel report. This paper shows that pure ethnographic re-
search and the concomitant theoretical outlooks of holism and cultural relativism are linked to the pacifica-
tion of the research area first achieved by colonialism.
„J'ai soif d'un paradis, dont je suis exilé"
Villiers de l'Isle Adam
1 Der Traum eines lächerlichen Menschen
In seiner Novelle Der Traum eines lächerlichen Menschen läßt Dostojewski den Hel-
den eine Seelenreise machen. Durch wechselseitige Zurückweisungen in Isolation von
seiner Umwelt geraten, hat sich der „lächerliche Mensch" so sehr von der Idee der Re-
lativität alles Seienden ergreifen lassen, daß die Welt für ihn sinn- und wertlos gewor-
den ist und sich ihm daraus als letzte Konsequenz nur mehr die Selbstvernichtung er-
gibt. Im „Bewußtsein, daß ich alsbald völlig aufhören würde zu existieren und somit
auch nichts anderes mehr existieren würde"1, gestattet er sich vor dem geplanten Frei-
tod, gleichsam als Herausforderung Gottes, noch ein Gedankenexperiment: „Wenn
ich früher auf dem Monde... gelebt und dort die schmählichste, ehrloseste Tat began-
gen hätte... und wenn ich dann, auf die Erde versetzt, die Erinnerung an das auf dem
anderen Himmelskörper Getane bewahrte..., würde mir dann, wenn ich von der Erde
aus nach dem Monde hinblickte, alles ganz egal sein oder nicht?"2 Seine Herausforde-
rung wird angenommen. Als er sich erschießen will verfällt er in Trance und wird von
einem teuflischen Wesen nach dem System des Sirius entführt. Dort findet er einen
1 F. M. Dostojewski: Sämtliche Romane und Novellen (Insel-Ausgabe), Bd. IV, S. 291 (im folgenden ein-
fach nach Band und Seitenzahl zitiert).
2 IV, 292.
Zeitschrift für Ethnologie 1 14 (1989) 195-204
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
196
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Doppelgängerplaneten der Erde. Begeistert, mit liebevoll ausgemalten Details, schil-
dert der „lächerliche Mensch" dessen Bewohner, die ihn freundlich aufnehmen. Sie le-
ben im Einklang mit der Natur und mit sich selbst, kennen die Sprache der Bäume und
stehen auf „irgendwelchem lebendigen Wege"3 mit den Sternen in Verbindung. Doch
leider hat sein Bericht eine Pointe. Er selbst, der Künder dieses Paradieses, ist der An-
laß für dessen Untergang: „Wie eine garstige Trichine, wie ein Pestatom das ganze
Reich infiziert, so infizierte auch ich mit mir diese ganze vor meiner Ankunft so glück-
liche, sündlose Erde."4 Denn, was er mit sich bringt, sind Wissenschaft und Fort-
schritt, Leiden und Reflexion.
Im „lächerlichen Menschen" hat Dostojewski mit genialer Intuition den Typus des
modernen Ethnographen gezeichnet.5 Wie der Forschungsreisende des 18. und 19.
Jahrhunderts und wie der heutige Feldforscher bietet uns dieser Seelenreisende seine
eigene Person als Verbindungsstück und gemeinsamen Vergleichsmaßstab zweier dis-
parater Welten an. Und er hält es auch wie diese Ethnographen für notwendig, uns
wiederholt zu versichern, daß er selbst jene fremde Welt mit eigenen Augen gesehen
habe, und zwar in „vollendeter Totalität."6 Dadurch beglaubigt er seinen Bericht, ver-
leiht ihm die erforderliche Authentizität, obgleich er sich wegen der Fülle des Gesehe-
nen, wie er selbstkritisch bemerkt, „vielleicht... unbewußterweise gezwungen" sah,
„die Einzelheiten nachher dichterisch zu rekonstruieren"7 - ein passendes Motto für
jede Stammesmonographie! Ja, selbst den allermodernsten kolonialen Schuldkomplex
nimmt der „lächerliche Mensch" vorweg: „Ich sagte ihnen, ich sei es, der dies alles an-
gerichtet habe, ich allein; ich hätte ihnen Sittenverderbnis, Ansteckung und Lüge ge-
bracht! Ich flehte sie an, mich ans Kreuz zu schlagen; ich unterwies sie, wie man ein
Kreuz macht."8
Als jener Doppelgängerplanet schließlich aufs Haar der Erde gleicht, die er verlas-
3 IV, 303.
4 IV, 308.
5 Sicherlich ohne Absicht. Was ihm aber vor Augen stand, waren die „überflüssigen Menschen", Mitglieder
der Oberschicht und Intelligenz, die sich durch die rasche, von oben her vorangetriebene Modernisierung
Rußlands dem Volke entfremdet hatten und nun ihr gebrochenes Selbst in Melancholie, Blasiertheit, Exotis-
mus, Skurrilität und Weltv^rbesserungsdrang auslebten (vgl. Ronald Hingley: Von Puschkin bis Tolstoj.
Eine Literatursoziologie. München 1967, engl. Orig.: Russian Writer and Society, 1825-1904,1967). Man-
che dieser Intellektuellen wandten sich dem Volke wieder zu, um es zum Gegenstand ihrer Sozialrevolutio-
nären Tätigkeit, aber auch wissenschaftlicher Erforschung zu machen. Insbesondere die „Volkstümler
(narodniki) sahen das Volk als Repositorium aller heilenden Kräfte für die Übel der Zivilisation an und
schreckten, um sie freizusetzen, auch vor Terrorismus nicht zurück (A. Gleason: The Genesis of Russian
Radicalism in the 1860's. New York 1980; James H. Billington: Fire in the Minds of Men. Origins of the Re-
volutionary Faith. New York 1980, S. 386 ff.). Was für unseren Zusammenhang wichtig ist, ist daß aus deren
Kreisen Pioniere der stationären Feldforschung wie Wladimir Bogoraz, Waldemar Jochelson und Lew
Sternberg hervorgegangen sind, die durch die Erforschung sibirischer Völker berühmt werden sollten, mit
denen sie zunächst als politisch Verbannte in Berührung gekommen waren (Wilhelm E. Mühlmann: Ge-
schichte der Anthropologie. Frankfurt - Bonn 21968, S. 132f.).
6 Dostojewski, IV, 314.
7 IV, 307.
8 IV, 312.
Justin Stagi: Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay
197
sen hatte, erwacht der „lächerliche Mensch" aus seiner Trance, um von nun an seinen
Mitmenschen mit Worten und Werken die Wahrheit vom verlorenen Paradies zu ver-
künden, das jederzeit wiedergefunden werden könnte, wenn wir uns nur entschließen
würden, den anderen so zu lieben wie uns selbst.
2 Der Mann vom Mond
Der Traum eines lächerlichen Menschen erschien 1877. In den Jahren 1871-72,
1876-77 und 1883 verbrachte Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay, ganz auf
sich alleine gestellt und von jedem Zivilisationskontakt abgeschnitten, insgesamt 32
Monate an einem Küstenstück Nordostneuguineas.9 Nikolai Miklouho - den Zuna-
men Maclay nahm er erst als junger Mann an -, 1846 geboren, war nach einer rebelli-
schen Schüler- und Studentenzeit von der Universität St. Petersburg relegiert worden,
war dann nach Deutschland gegangen und dort Schüler, Assistent und Jünger des
Zoologen Ernst Haeckel geworden, des Apostels Darwins und späteren Autors der
Welträtsel. Haeckel, von dem der Begriff „Ökologie" stammt und der auch ein bedeu-
tender Forschungsreisender war, lehrte, daß Organismen jeder Art am besten unter
ihren natürlichen Lebensbedingungen zu studieren seien. Der junge Russe macht in
seinem Auftrag mehrere Reisen, vor allem in Nordafrika. Dort wird seine Besonder-
heit erstmals offenkundig. Am liebsten reist er allein, gelegentlich in arabischer Tracht.
Er will frei sein, frei auch von den Zwängen einer akademischen Laufbahn, verpflich-
tet nur dem Humboldtschen Ideal der ungebundenen, kosmopolitischen, allseitig in-
teressierten Forscherpersönhchkeit. Im Gegensatz zu Humboldt vermögenslos und
auch nicht ganz gesund, verbindet er diesen aristokratischen Idealismus mit der urrus-
sischen Lebensform des Wanderasketen - eines Asketen der Wissenschaftsreligion.10
9 Die Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion hat seine „Gesammelten Werke" herausgegeben
(N. N. Miklukho-Maklai: Sobraniye solchineniy, Moskau - Leningrad 1950-54, 5 Bde.). Diese Ausgabe
soll zum hundertsten Todesjahr 1988 durch eine verbesserte und erweiterte Gesamtausgabe ersetzt werden.
Aus ihr hat C. L. Sentinella die auf die „Maclay-Küste" bezüglichen Partien ins Englische übersetzt und mit
Mikouho-Maclays Biographie zu einer zusammenhängenden Erzählung verbunden (C. L. Sentinella [Ed.]:
Mikloucho-Maclay: New Guinea Diaries 1871—1883. Translated from the Russian with biographical com-
ments. Madang, Papua New Guinea, 1975). Das Buch N. Miklouho-Maclay: Travels to New Guinea. Dia-
ries, Letters Documents, Hrsg. v. Daniii Tumarkin. Moskau 1982, enthält dasselbe, etwas erweiterte und
mit einer biographischen Einführung versehene Material. Die beste Biographie, die auch unpubliziertes Ma-
terial einarbeitet, ist E. M. Webster: The Moon Man. A Biography of Nikolai Miklouho-Maclay. Berkeley-
Los Angeles 1984. Sie ersetzt die heroisierenden Lebensbeschreibungen von F. S. Greenop: Who Travels
Alone. Sydney 1944, und Dora Fischer: Unter Südsee-Insulanern: das Leben des Forschers Mikloucho-
Maclay. Leipzig 1955. Die Schreibweise des Namens Miklouho-Maclay, für die es viele Varianten gibt, wird
hier von Tumarkin und Webster übernommen. Es ist die, welche er selbst am häufigsten zur Wiedergabe sei-
nes Namens in lateinischen Lettern gebraucht hat.
10 Die Aufklärung setzte in Rußland verspätet ein und unterschied sich von der westeuropäischen Aufklä-
rung durch ihre „außerordentliche Primitivität und Ärmlichkeit des geistigen Gehaltes" (Dmitrij Tschi-
zewskij: Russische Geistesgeschichte. Hamburg 1959,1961, Bd. II, S. 88). Dieser geistige Gehalt bestand im
Wesentlichen in der religiösen Verklärung der Naturwissenschaft, verbunden mit sozialrevolutionärem Ak-
198
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Unter den Lebensformen, die er unter dem modifizierenden Einfluß ihrer Umwelt
studiert, beginnt ihm der Mensch immer wichtiger zu werden. Vom Zoologen wird er
zum Anthropologen.
Miklouho-Maclay sieht sich selbst als den „letzten Naturforscher"11 mit der Auf-
gabe, urwüchsige, durch die Ausbreitung der europäischen Zivilisation bedrohte Le-
bensformen zu beschreiben und dadurch für die Wissenschaft zu bewahren. Daher
plant er die Erforschung Neuguineas, der möglichen Heimat des homo primigenus,
des von Haeckel postulierten Urmenschen. Nach Rußland heimgekehrt, gelingt es
ihm, die Geographische Gesellschaft für sein Projekt zu gewinnen; der einstige Revo-
lutionär, der über beträchtlichen Charme und gesellschaftliche Sicherheit verfügt, fin-
det Förderer in den höchsten Kreisen, ja im Zarenhaus selbst. Im September 1871 setzt
ihn eine russische Korvette an der Nordostküste Neuguineas ab.
Deren Bewohnern tritt er zunächst als Zoologe gegenüber. Die einzige Rolle, die
ihm sein heroisch strenger Wissenschaftsbegriff erlaubt, ist die des exakt registrieren-
den Beobachters. Er führt ein protokollierendes, enttäuschend karges Tagebuch, fängt
das Gesehen aber auch in beschwingten Bleistiftskizzen ein. Er ist „klein, zartgebaut",
mit „großen, träumerischen Augen" und „wenig mitteilsam".12 Hinter der Strenge sei-
nes Objektivismus verbirgt er Misanthropielj und eine fast mystische Naturliebe. Es
scheint, daß er in der tropischen Landschaft oft tagelang nur vor sich hingebrütet hat.
Mit dem Melanesiern verkehrt er von Anfang an direkt, ohne Dolmetscher; er beweist
dabei Klugheit und Mut; forciert nichts; Takt ist sein ethnographisches Leitprinzip.
Doch in das Denken der fremden Gesellschaft, in die Struktur der fremden Kultur,
dringt er trotz seines langen Aufenthaltes, trotz der dabei erworbenen Sprachkennt-
nis, nicht wirklich ein. Seine ethnographischen Berichte sind, wenn man sie mit den
nur eine Generation späteren Berichten Bronislaw Malinowskis vergleicht, erstaun-
lich oberflächlich.14 Das hängt sicher auch mit den gewandelten Verhältnissen zusam-
men, unter denen Malinowskis Feldforschung stattfand. Doch vielleicht war Miklou-
ho-Maclay auch zu sehr Gentleman, um ein guter Ethnograph zu werden. Denn das
hätte ja bedeutet, alle Lebensbereiche auszuspähen und seinen Gastgebern in irgendei-
tivismus. Seine Ärmlichkeit wurde mehr als wettgemacht durch die Selbstlosigkeit und Leidensbereitschaft
der „Gläubigen". Dostojewski hat diese Form der Aufklärung leidenschaftlich bekämpft. Zur Lebensform
des Wanderasketen vgl. Reinhold von Walter (Ed.): Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Basel
- Wien 1961.
11 Webster: The Moon Man (wie Anm. 9), S. 30.
12 Otto Finsch: Nikolaus von Miklucho-Maclay, Reisen und Wirken. In: Deutsche Geographische Blätter
11/3-4 (1888), S. 270-309, hier S.272f.
13 Miklouho-Maclay war Anhänger Schopenhauers, nach dem er auch einen Berg in Neuguinea benannt hat.
14 Diese Beobachtung machte Malinowski selbst. In seinen Aufzeichnungen von Trobriand bezeichnet er
Miklouho-Maclay zwar als einen „neuen Typus", setzt aber seine Leistung als Ethnograph, zugleich mit der
seiner anderen Vorläufer, mit an der Oberfläche herumkratzenden „Goldgräbern" gleich, während er selbst
„Bergbau" betreibt (B. Malinowski: A diary in the strict sense of the term. New York 1967, S. 155, vgl. dazu
auch George W Stocking, Jr.: The Ethnographer's Magic: Fieldwork in British Anthropology from Tyl°r
to Malinowski, in : ders. [Ed.] : Observers Observed. Essays on Ethnographic Fieldwork. Madison, Wiscon-
sin 1983, S. 70-120, hier S.97ff.).
Justin Stagi: Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay
199
ner Form zu nahe zu treten oder lästig zu fallen. Auch beim Sammeln von Ethnogra-
phica hält er sich zurück, ist er doch „kein commis-voyageur".15 Er hält auf Abstand.
Stets wohnt er in einer eigens gebauten Hütte abseits der Dörfer. Trotzdem werden die
Melanesier für ihn aus Studienobjekten allmählich zu Mitmenschen. Er gewinnt ihren
Respekt, dann ihr Vertrauen, schließlich ihre Zuneigung. Er erweist ihnen die kleinen
Hilfen und Dienstleistungen, die in seiner Macht stehen. Jene geheimnisvolle soziale
Alchimie setzt ein, durch die sich ein Ethnograph mit „seinem Stamm" identifiziert.
Für die Melanesier ist er der Kaaram-tamo, der Mann vom Mond. Sie hatten seine my-
steriöse Ankunft beobachtet. Was er ihnen von „Rußland" erzählt, verschmilzt für sie
mit dem Mond und den Sternen, die ihnen besser bekannt sind. Der Kaaram-tamo
scheint ihnen über geheimnisvolle Kräfte zu verfügen, die er aber nicht zu ihrem Scha-
den einsetzt. Er ist also eine wohlwollende, höhere Wesenheit.
Mit der „Wildheit" und Abgeschiedenheit des östlichen Neuguinea ging es in den
siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ganz offenkundig zu Ende. Im Wettlauf um die
letzten freigebliebenen Gebiete, dem „Scramble for the World", hatten vier Mächte ihr
Auge darauf geworfen: Australien, England, das Deutsche Reich und - Rußland. Be-
drohlicher als die Kolonialregimes, die wenigstens noch für Gesetz und Ordnung ga-
rantierten, war, wie Miklouho-Maclay aus eigener Erfahrung erkennen mußte, das ge-
setzlose Gesindel, die habgierige Vorhut der europäischen Kultur, die sich in diesem
Machtvakuum herumtrieb. Er will „seinen Stamm" davor bewahren, solchen Leuten
zum Opfer zu fallen - aber wie? Aus seiner Kenntnis von Land und Leuten, aus dem
Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird, aus seinen eigenen edlen, selbstlosen Mo-
tiven leitet er das Recht und die Pflicht ab, im Namen der Bewohner des Landstriches
aufzutreten, den er die „Maclay-Küste" benannt hatte. Er wird zum politischen Publi-
zisten. Er reist zwischen Neuguinea, Australien, der Insulinde und Europa hin und
her, allerorts seinen wissenschaftlichen Ruf und den Eindruck, den er auf hochste-
hende Personen zu machen versteht, in den Dienst der guten Sache stellend. Er bom-
bardiert die verantwortlichen Staatsmänner in Australien, England, Deutschland und
Rußland mit Briefen und Telegrammen, in denen er als „7amo-boro-boro (Ober-
häuptling) der Papua der Maclay-Küste" firmiert oder von „mein Land und mein
Volk" spricht.16 Doch sind dies nicht bloß „Ersuchen an die Haifische..., nicht so ge-
fräßig zu sein?"17 Er will ihnen zuvorkommen, sie gegeneinander ausspielen.
So wird er zum Politiker. Er wirbt für ein internationales, später für ein britisches,
zuletzt für ein russisches Protektorat über die „Maclay-Küste". Dieses Staatswesen
soll sich durch einen Häupthngsrat selbst verwalten, dem aber er, der Tamo-boro-
boro, als Ratgeber, Repräsentant der Protektionsmächte und Kontrolleur aller aus-
wärtigen Beziehungen zu Seite stehen will. Er beginnt mit privaten Entwicklungshil-
15 Finsch: Nikolaus von Miklucho-Maclay (wie Anm. 12), S.297. Diese Bemerkung hatte natürlich eine
Spitze gegen Finsch, die diesem entging. Das Sammeln von Ethnographica wurde im 19. Jahrhundert oft
recht brutal betrieben und stellte einen lukrativen Nebenerwerb für viele Forschungsreisende dar.
16 Abgedruckt in D. Tumarkin (Ed.): N. Miklouho-Maclay (wie Anm. 9), S. 439-488.
17 Miklouho-Maclay, zit. n. Sentinella: Mikloucho-Maclay: New Guinea Diaries (wie Anm. 9), S. 310.
200
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
femaßnahmen, plant Handelsverbindungen, importiert neue Kulturpflanzen, erwirbt
Land nicht nur an der „Maclay-Küste", sondern auch in anderen Gebieten der Südsee.
Sein Hin- und Herreisen nimmt hektische Züge an; er beginnt mit neuen Forschun-
gen, bevor er die alten aufgearbeitet hat; die Mittel zum Zweck beginnen sich gegen-
über dem Zweck zu verselbständigen. Ein einsamer Ritter des Guten, ein zweiter Old
Shatterhand, übt er auf eigene Faust Gerechtigkeit gegen Verbrecher und Sklavenjäger
und schreckt, wenn er die Möglichkeit dazu erhält, auch vor Kanonenboot-Diploma-
tie nicht zurück. Er gewöhnt sich daran, gegen die Schmerzen seiner tropischen
Krankheiten Opium zu nehmen. Er hält sich einheimische Geliebte. Beim zweiten
Aufenthalt an der „Maclay-Küste" zeigt er nicht mehr den exquisiten ethnographi-
schen Takt wie beim ersten: er läßt sich als Oberhäuptling begrüßen und Tribute dar-
bringen. Beim dritten Aufenthalt, 1883, ist er bereits russischer Agent. An der Mög-
lichkeit verzweifelnd, die Kolonialmächte weiter gegeneinander auszuspielen, hatte er
dem Zaren, der die Errichtung eines Flottenstützpunktes in Neuguinea erwog, seine
Dienste angeboten. Nun muß er, ein pathetischer Anblick, unter den Augen der Besat-
zung eines russischen Kriegsschiffes neben seinen eigenen Geschenken - Pflanzensa-
men, Nägeln, Rindern und Ziegen - auch die des Zaren verteilen, Messer, Stofflappen,
Perlen, Spiegelchen, das übliche billige Zeug, mit dem man „Wilde" erfreut.18 Kurz da-
nach einigen sich die „Haifische". Der Zar zieht sich, anderweitig entschädigt, aus dem
Wettbewerb zurück und läßt Miklouho-Maclay fallen. 1884 wird Nordostneuguinea
vom Deutschen Reich annektiert.
Miklouho-Maclay kehrt nach Rußland zurück. Seine Gesundheit ist gebrochen;
mit immer gefährlicheren Drogen versucht er, sich selbst zu kurieren. Ein letzter ver-
zweifelter Versuch, das Gesetz des Handelns in der Hand zu behalten, ist der Plan ei-
ner utopischen Gemeinschaftssiedlung an der „Maclay-Küste", von der ein wohltäti-
ger, zivilisierender Einfluß auf „seinen Stamm" ausgehen soll. Auf einen Zeitungsauf-
ruf hin melden sich über 2000 Siedler. Natürlich zerschlägt sich auch dieser Plan. Das
lange versprochene Buch über Neuguinea wird nicht fertig. Miklouho-Maclay hat
seine australische Frau mit zwei kleinen Kindern nach Rußland geholt und muß sie
nun durch journalistische Taglöhnerarbeit ernähren. Bei seinem Tode 1888 läßt er die
Familie in Elend und Verzweiflung zurück. Die Zarin gewährt der Familie eine Pen-
sion.
3 Das Dilemma des Ethnographen in einer vorkolonialen Situation
Wenn man dieses Leben überblickt, erscheint es als ein grandioser Fehlschlag. Die
große Begabung, die lauteren Beweggründe, der rastlose Einsatz, was haben sie er-
bracht? Das wissenschaftliche Werk blieb in allen Bereichen Fragment. Auch als Zoo-
loge war Miklouho-Maclay bestenfalls ein Anreger. Als Ethnograph hat er zwar eine
18 Op. cit., S. 296.
Justin Stagi: Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay
201
neue Form der Datenerhebung gefunden, die stationäre Feldforschung. Weil er aber
nicht zur korrespondierenden Darstellungsiorm fand, der Stammesmonographie,
sondern beim Tagebuch und beim Reisebericht verblieb, fehlte ihm das geeignete Be-
zugssystem zur Ordnung solcher Daten. Die tieferen Gründe dafür lagen wohl in sei-
ner Persönlichkeit. Sein Leben wirkt wie eine Serie von Fluchten nach vorne: von ju-
gendlicher Unangepaßtheit und revolutionärem Eifer zur Naturwissenschaft, zur
Ethnographie, zu humanitären Träumen; von Rußland in die Südsee und wieder zu-
rück. Sein Aktionismus erscheint damit in dem etwas zweifelhaften Licht einer Flucht
vor dem Schreibtisch. Das Schreiben fiel ihm eingestandenermaßen schwer19; er hat
wohl die geistige Kraft nicht aufgebracht, die Fülle seiner Erfahrungen zu integrieren.
Diese Unproduktivität kompensierte er durch die Mystifizierung der unmittelbaren
Gegebenheiten: er vertrat einen rigorosen Empirizismus, dem jede Interpretation und
theoretische Einbettung der rohen Daten als voreilig galt20 und verklärte als ultima ra-
tio seine eigene, zwar authentische, aber unhinterfragte Erfahrung, die ihm mehr galt
als tausend Bücher.21 Worauf dies hinauslief, war die Abolutsetzung der eigenen Per-
son.
Interessanter, bedeutender denn als Wissenschaftler ist Miklouho-Maclay als
Flandelnder. Hier hat sein Verstricktwerden in Schuld und Niederlage die unaus-
weichliche Gewalt einer antiken Tragödie. „Wie eine garstige Trichine, wie ein Pest-
atom" trug er letztendlich zur kolonialen Erschließung und Zerstörung eben jenes
verlorenen Winkels der Erde bei, in den er gekommen war, um Linderung für sein Lei-
den an sich selbst und an der Menschheit zu finden. Denn auch der Ethnograph, der
der Zivilisation entflieht, bringt diese in seiner eigenen Gestalt mit sich. Doch war
Miklouho-Maclay nicht nur ein Leidender. Er war auch ein Projektemacher. Hätte er
nicht über beträchtliche Energie und Schlauheit verfügt, er hätte in jenen ungesunden,
gesetzlosen Gegenden niemals überleben können. Allerorten hat er im rechten Augen-
blick Gastgeber, Krankenpfleger, Mäzene gefunden. Als junger Mann hatte er den un-
erklärten Zunamen Maclay angenommen, der seiner Singularität symbolisch Aus-
druck verlieh und der es ihm außerdem ermöglichte, in der Südsee gelegentlich als
Brite zu passieren. Er gab ihm auch eine aristokratische Aura, die gerade im demokra-
tischen Australien ihre Wirkung nicht verfehlte. Dort wurde Nikolai Miklouho, der
dem untitulierten russischen Dienstadel entstammte, beharrlich als Baron bezeichnet,
ohne daß er allzusehr gegen die Standeserhebung protestiert hätte. Schon in Heidel-
berg ließ er sich ja als „Herr von Miklucho" immatrikulieren.22 Überhaupt beruhen
19 Webster: The Moon Man (wie Anm. 9), S. 193.
20 Miklouho-Maclay erinnert hierin an den eine halbe Generation jüngeren Franz Boas, der einen ähnlichen
Ausbildungsgang hatte und denselben kulturellen Einflüssen ausgesetzt gewesen war (vgl. C. Kluckhohn
und O. Prüfer: Influences during the formative years, in: The anthropology of Franz Boas, Ed. W. Gold-
schmidt. San Francisco 1959, S. 4-28). Boas hat freilich seine starke Persönlichkeit dem Universitätssystem
eingeordnet und ist darin zu einer einflußreichen Gründergestalt geworden.
21 Webster, The Moon Man (wie Anm. 9), S.239.
22 Lt. Akten des Universitätsarchivs Heidelberg, eingesehen von U.Johansen.
202
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
seine Erfolge oft auf der Nutzbarmachung interkultureller Mißverständnisse. Als Tol-
stoi ihn als Helden des Pazifismus feierte, der ohne Waffen, nur „mit Wahrhaftigkeit
und Güte" den Naturmenschen entgegengetreten sei23, nahm er das Lob des berühm-
ten Dichters bescheiden entgegen, ohne jedoch den Eindruck, den die russische Kor-
vette an der „Maclay-Küste" gemacht haben mußte, oder das Gerücht von seinen
übernatürlichen Kräften zu erwähnen. Durch ähnliche Mißverständnisse-und Selbst-
mißverständnisse - avancierte er während seines Aufenthaltes dortselbst vom Kaa-
ram-tamo zum Tamo-boro-boro.
Vielleicht wäre ihm auch eine noch höher hinaufführende Laufbahn offengestan-
den, wenn er etwas mehr Bereitschaft gezeigt hätte, die moralische Unschuld zu verlie-
ren, nämlich die des kolonialen Abenteurers und Unternehmers im großen Stil. Privat-
initiativen wie die seinen gaben den auf kolonialen Erwerb ausgehenden Mächten will-
kommmenen Anlaß, sie zu „schützen"; sein Landbesitz wäre dadurch im Wert sêhr
gestiegen. Im übrigen hatte er seine Gastrolle auf der welthistorischen Bühne gar nicht
einmal ungeschickt gespielt. Etwas mehr Zielbewußtheit, etwas mehr Glück, und er
hätte sich, wer weiß, auch noch zum Staatsoberhaupt aufschwingen können wie Cecil
Rhodes oder James Brooke, der weiße Rajah von Sarawak.
Nun, da er gescheitert war, hatte der robuste Fortschrittsglaube der Kolonisatoren
nur mehr Mitleid und Verachtung für ihn übrig. Der offiziellen Meinung in Deutsch-
Neuguinea galt er als „Wichtigtuer" und „Sonderling", der „mit Eingeborenen... zu
intim" verkehrte, als ein „bald erlöschendes Irrlicht"24. Doch hatten die Deutschen das
Vertrauen in den weißen Mann, das er hergestellt, und das ethnographische Wissen,
das er mitgeteilt hatte, ganz gut gebrauchen können. Insbesondere hatte sich Otto
Finsch seiner bedient, als er die Annexion des nachmaligen „Kaiser Wilhelms-Landes"
wissenschaftlich vorbereitete.25 Finsch, als Zoologe und Ethnograph Kollege Miklou-
ho-Maclays, verkörperte jenen Typus des deutschen Gelehrten der Gründerzeit, der
nicht mehr an das Humboldtsche Weltbürgertum, sondern an die Bismarcksche Welt-
machtpolitik glaubte. Er war derselbe, der Miklouho-Maclay in seinem Nekrolog als
„wenig mitteilsam" bezeichnet hatte.26
Und das nicht ohne Grund. Miklouho-Maclay war von der Furcht besessen, daß
sein Wissen über die Melanesier einmal gegen die Melanesier verwendet werden
könnte. Diese Furcht mag dazu beigetragen haben, daß er so wenig veröffentlichte.27
23 Brief des Grafen Tolstoi an Miklouho-Maclay vom 25. September 1886, in: R. F. Christian (Ed.): Tol-
stoy's Letters. London 1978, Bd. II, S.406f.
24 Arthur Wichmann: Entdeckungsgeschichte von Neu-Guinea, 3 Bde., Leiden 1909—12, Bd. II, S. 154,325;
Finsch: Nikolaus von Miklucho-Maclay (wie Anm. 12), S.272.
25 Vgl. Otto Finsch : Samoafahrten. Reisen in Kaiser Wilhelms-Land und Englisch Neuguinea in den Jahren
1884 und 1885 an Bord des deutschen Dampfers „Samoa". Leipzig 1888, S. 17ff.; Wichmann: Entdeckungs-
geschichte von Neu-Guinea (wie Anm. 23), Bd. II, S. 344ff., 352ff.; D.Tumarkin, Miklouho-Maclay and
New Guinea, in: N. Miklouho-Maclay: Travels to New Guinea (wie Anm. 9), S. 5-56, hier S. 48ff.
26 Vgl. Anm. 12.
27 Das ist jedenfalls die Ansicht Tumarkins (Miklouho-Maclay and New Guinea, wie Anm. 24), S. 29, wel-
cher freilich dazu neigt, seinen russischen Landsmann zu idealisieren. Mit dieser Ansicht ironisiert er unge-
Justin Stagi: Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay
203
Doch was half es: Ethnographie bedeutet nun einmal, wie jede Beschreibung eines
Weltausschnittes, zugleich auch dessen Verfügbarmachung. Sie ist nur als wissen-
schaftliche Leistung zeitenthoben; als soziales Handeln ist sie mit ihren Voraussetzun-
gen wie mit ihren Folgen in die Geschichte eingeflochten.
„Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrach-
tende", sagt Goethe.2S Wir heutigen Ethnographen, Vertreter einer akademisch eta-
blierten Disziplin, tun uns etwas darauf zugute, ein besonders feines Gewissen zu ha-
ben. Die unlängst zu Ende gegangene Epoche der Kolonialreiche erscheint uns als der
Inbegriff des Bösen, der welthistorische Sündenfall des europäischen Menschen
schlechthin. Wir haben trotzdem keinen Anlaß, uns über unsere Vorläufer, die sich in
Situationen befanden wie Miklouho-Maclay, erhaben zu dünken. Denn das Wissen,
über das wir heute verfügen, wäre undenkbar ohne die Sicherheit, die die Kolonial-
mächte geschaffen haben. Solange ihre Ordnung bestand, waren wir Ethnographen,
was auch immer wir darüber denken mochten, etablierte, geschützte, in mancher
Weise geförderte Angehörige der weißen Elite.29 Ja, selbst die heutige ethnographische
Forschung profitiert weiter von dieser Ordnung, insofern sie nämlich von den Eliten
der Nachfolgestaaten der Kolonialreiche weiter aufrechterhalten wird. Wir verhalten
uns zu unseren Vorläufern wie Enkel, die die Nase rümpfen über die Art, in der die
Großväter ihr Vermögen gemacht haben, aber dabei die Erbschaft keineswegs aus-
schlagen. Und wenn wir uns dadurch reinzuwaschen suchen, daß wir auf den „Kolo-
nialismus" schimpfen, werden wir damit niemanden täuschen können, es sei denn uns
selbst.
Nikolai Nikolajewitsch Miklouho-Maclay hatte hingegen noch nicht das Glück,
unter dem „Frieden des weißen Mannes" ethnographische Forschungen treiben zu
dürfen. Für ihn waren die Würfel noch nicht gefallen, wie für die Generation Mali-
nowskis, die wir heute als die Gründergeneration der stationären Feldforschung ver-
ehren. Vielleicht ist es nicht nur seine Schuld, daß seine Berichte an Fülle, Tiefe und
Ordnung so weit hinter den Malinowskischen zurückbleiben. Miklouho-Maclay
mußte das Dilemma zwischen objektiver Betrachtung und selbstverantwortlichem
Handeln in einer ungeklärten, gefährlichen Situation voll ausleben, ein Dilemma, des-
sen eines Horn dann für Malinowski und dessen Nachfolger durch die Aufrichtung
der Pax Europaea beseitigt wurde. Deren machtgeschützte Innerlichkeit der reinen
ethnographischen Schau konnte sich ein Miklouho-Maclay noch nicht leisten.
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um", sagt die Weisheit der Schrift.30 Wer
wollt die Benennung des Institutes für Ethnographie der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion
nach Miklouho-Maclay. Was ist das für ein Namenspatron, der vor der eigenen Disziplin zurückschreckt,
weil er sie als Wegbereiterin der „Appropriation" (ibid.) der Eingeborenen durch die Weißen fürchtet?
Oder galt diese Erkenntnis nur für den Kapitalismus?
28 Maximen und Reflexionen, Nr. 241.
„Es ist eine ins Auge fallende Tatsache, daß nicht ein einziger Ethnologe, der sich in dieser Periode zu den
Wilden wagte, dabei sein Leben verlor. (Dies war nicht mehr der Fall als die Entkolonialisierung kam.)" (Er-
nest Gellner: Zeno of Cracow, in: Culture, Identity, and Politics. Cambridge 1987, S. 47-74, hier S. 69.
30 Sir. 3, 27.
204
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
mit sich selbst in Einklang leben und ein ruhiges Gewissen bewahren will, tut gut
daran, in seiner gewohnten Umgebung zu verbleiben. Nur hier gelten unbestrittene
Maßstäbe. Miklouho-Maclay hatte sich dagegen in ein interkulturelles Niemandsland
begeben, wo die Anwendung jedes der dort miteinander konkurrierenden Maßstäbe
notwendig die Verletzung der anderen, gleichfalls Berücksichtigung erheischenden,
und demgemäß Schuld und Schmach mit sich bringen mußte. Unfähig zu moralischer
Dumpfheit oder zum Zynismus, ausgestattet mit einem empfindlichen Gewissen und
einer unglückseligen Sehnsucht nach Harmonie, hatte er es im Angesicht der Tragik
des Relativismus (denn dieser ist nicht eine bequeme Doktrin, wie seine Anhänger
meinen, sondern eine tragische) dennoch gewagt, in eigener Verantwortung zu han-
deln, und er hat schließlich mit seinem Leben dafür bezahlt.
4 Versöhnlicher Ausklang
Diese düstere Geschichte hat dennoch einen versöhnlichen Ausklang. Das Wirken
Miklouho-Maclays hat die deutsche und die australische Kolonialverwaltung im mela-
nesierfreundlichen Sinne beeinflußt. Die Erinnerung an ihn als an eine gütige, überna-
türliche Wesenheit hat sich an der „Maclay-Küste" bis heute erhalten. Er gilt, gar nicht
unpassend, als Kulturbringerheros.31 Aber auch in Europa hat er mythische Dimen-
sionen angenommen. Wie die immer wieder erscheinenden Biographien bezeugen32,
wie auch diese hier es bezeugt, hat die ritterliche Gestalt des einsamen Forschungsrei-
senden ihre Faszination bis heute behalten. Vor allem aber hat ihn die Sowjetunion als
großen Russen und „Kämpfer für die Rechte unterdrückter Völker" für sich rekla-
miert; er ist „der Lieblingsheld für Millionen sowjetischer Schulkinder".33 (Merkwür-
dig, wie sehr gerade die Materialisten zur Idealisierung neigen.) Das einstige Irrlicht ist
nicht erloschen, sondern hat die scheinbar so festgefügten Kolomalregimes Neugui-
neas überdauert. Der kulturflüchtige Kulturbringer, der Sonderling, der zu intim mit
den Eingeborenen verkehrte, ist heute zur gemeinsamen Identifikationsfigur für
Weiße und Melanesier geworden.
Der Mann vom Mond hält uns das Paradies, das er nicht gefunden hat, weiter als
Möglichkeit vor.
31 Webster: The Moon Man (wie Anm.9), S.252; Tumarkin: Miklouho-Maclay and New Guinea (wie
Anm. 24), S. 55. Nach Tumarkin hat die Sprache an der „Maclay-Küste" (dieser Name scheint heute nicht
mehr auf den Landkarten auf) auch eine Reihe von russischen Lehnwörtern angenommen, die heute noch
verwendet werden, wie z. B. skhapor (Russ. topor-„Axt"),gugruz (Russ. kukuruza- „Mais", „Kukuruz")»
abrus (Russ. arbuz - „Wassermelone") oder bika (Russ. byk - „Stier") (ibidem).
32 Auf die neuesten kann ich mangels russischer Sprachkenntnisse nur hinweisen: B.N. Putilov: Nikola1
Nikolaevich Miklukho-Maklai: stranitsy biografii. Moskau 1981; B.N. Putilov: N.N. Miklukho-Maklai:
puteshestvennik, uchenyi, gumanist (mit D. D. Tumarkin). Moskau 1985. Vgl. auch D. Tumarkin: Miklou-
ho-Maclay: Nineteenth century Russian anthropologist and humanist, in: Royal Anthropological Institute
Newsletter 51 (1982), S.4-7; sowie die in Anm.9 angeführte Literatur.
33 Tumarkin: Miklouho-Maclay and New Guinea (wie Anm. 24), S. 54. Vgl. auch Anm. 26.
Yequana oder das verlorene Glück
Untersuchungen zu einem pädagogisch-anthropologischen
Bestseller und seiner aktuellen Diskussion
Erich Renner
Kettelerstraße 19, D-6741 Insheim, Deutschland
Abstract.Discussion about "Nature or Nurture" has recently been fanned into flame by a very popular
book of the American Jean Liedloff. The author attempts to show that the Yequana tribe of the frontier area
Venezuela-Brazil practises a life of self discipline and emotional balance. Liedloff thinks the Yequana way of
nurturing their children causes this phenomenon and realizes a natural "continuum". Results of field re-
search during the last 140 years confirm the observation of typical Yequana attitude but also show Liedloff's
lack of knowledge about cognitive concepts of Yequana culture.
Im Jahr 1980 erschien im C. H. Beck Verlag, München, ein Buch der amerikanischen
Autorin Jean Liedloff mit dem vielversprechenden Titel „Auf der Suche nach dem ver-
lorenen Glück" und dem Untertitel „Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in
der frühen Kindheit". Das Werk stieß sowohl in der Presse als auch in wissenschaftli-
chen Publikationen sogleich auf Resonanz. 1987 näherte sich die Auflagenhöhe dem
190. Tausend. So erschienen in der Wochenzeitung „Die Zeit" und in der „Frankfurter
Rundschau" ausführliche Rezensionen, in der Zeitschrift für Pädagogik brachte Mi-
chael Freyer die im Buch entwickelte Position in den pädagogisch-anthropologischen
Diskurs ein. Der englische Originaltitel „The Continuum Concept" ist gegen die
deutsche Titelversion eher nüchtern, aber verweist auf die Kernaussage der Verfasse-
rin. Diese vertritt die Hypothese eines angeborenen Sozialtriebes, insbesondere aber
die einer genetischen Disposition für Ausgeglichenheit, Affektkontrolle, Selbstdiszi-
plin oder auch, wie der Titel suggeriert, für Glück. Sie knüpft mit dem Kontinuum-
Konzept an einen theoretischen Begriff an, der bereits in Piagets Epigenese-Konzept-
als Vorgang des Lernens auf der Grundlage von genetisch vorgegebenen Fähigkeiten
zur Reifung und zu Kognitionen - vorgegeben ist und auch bei phylogenetischen Evo-
lutionsmodellen zugrunde gelegt wird (vgl. Parker und Gibson 1979).
Grundlage von Liedloffs Hypothese sind Beobachtungen bei den Yequana am
oberen Orinoco im Grenzgebiet zu Brasilien über einen Zeitraum von sechs Jahren.
Bei den Yequana sieht die Verfasserin die genannten Eigenschaften in erstaunlicher
Weise verwirklicht. Auf der Suche nach den Ursachen kommt Liedloff zu der Uber-
zeugung, daß die Art und Weise der frühkindlichen Betreuung bei den Yequana die
konstatierten genetischen Erwartungen kontinuierlich erfüllt. Das konsequente Ge-
tragenwerden, der damit verbundene körperliche Kontakt sowie die ganz den Bedürf-
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989) 205-222
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
206
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
nissen folgende Erweiterung des kindlichen Erfahrungsraumes schöpfen die geneti-
schen Vorgaben aus.
Nun könnte man an dieser Stelle einhalten und ironisch einwenden, ob da nicht
wieder jemand seinen eigenen Vorstellungen vom Idealtyp des „bon sauvage", des gu-
ten Wilden, aufgesessen ist, wie er mindestens seit Rousseau im Hin und Her der gei-
stesgeschichtlichen Diskussion immer wieder auftaucht, denn wenn es nach Norbert
Elias zutrifft, daß der Prozeß der Evolution des Menschen als Prozeß der Affektmo-
dellierung angesehen werden kann, bei dem es um die „Etablierung zunehmender Af-
fektkontrollen und Selbstdisziplin der einzelnen Handelnden" geht (Honneth und
Joas 1980, S. 116), dann wären die Yequana die wahrhaft Entwickelten, denn sie ent-
wickeln diese Eigenschaften kontinuierlich von Anfang an. Es würde sich bewahrhei-
ten, daß die westliche Kultur im Sinne Rousseaus die Natur des Menschen verdirbt.
Obwohl das Liedloffsche Buch von Romantizismen geprägt ist, ist es meines Er-
achtens sinnvoll, sich mit ihrem Konzept der anthropologischen Voraussetzungen
von Erziehung auseinanderzusetzen, weil sie zum einen ihre Beobachtungen und
Schlußfolgerungen insgesamt als diskussionswürdige Hypothese ansieht und weil sie
zum anderen Vorschläge unterbreitet, diese zu überprüfen. Ich möchte mit meinen
nachfolgenden Anmerkungen eine solche Auseinandersetzung versuchen und will
dazu sechs Schritte unternehmen:
- einen Überblick geben über Diskussionsbeiträge zur Anlage-/Umweltproblematik
bzw. zu den anthropologischen Voraussetzungen von Erziehung und Sozialisation;
- die Liedloffsche Hypothese im Detail vorstellen;
- Liedloffs Ausgangsposition mit einer Fremdperspektive vergleichen;
- Liedloffs Beobachtungen bei den Yequana anhand vorliegender ethnologischer
Forschungen prüfen;
- das Kontinuum-Konzept einordnen und beurteilen;
- die Popularität des Buches beurteilen.
1 Positionen zur Diskussion über die anthropologischen Voraussetzungen von
Erziehung
Mit der „Widerlegung" der Pionierstudie des sog. Kulturdeterminismus der Boas-
Schule, mit Margret Meads „Coming of Age in Samoa" (1928) durch den Neuseelän-
der Derek Freeman (1983) wurde die Diskussion um Anlage-/Umweltproblematik
wieder aktualisiert. Und es schien so, als sei damit ein Grundpfeiler des Theoriegebäu-
des auf Seiten der Milieutheoretiker zum Einsturz gebracht. Lowell D. Holmes hat
dieser mit großem publizistischem Aufwand veranstalteten Widerlegung seinerseits
im Verein mit „sämtlichen Fachkollegen aus der Anthropologie, die in den letzten 50
Jahren in Samoa gearbeitet haben" (1987, S. 249) weniger spektakulär aber fundiert wi-
dersprochen. Das heißt, von dieser Seite her wird auch die kulturelle Determinierung
menschlicher Entwicklung letztlich nicht in Frage gestellt.
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
207
Aus der Sicht der Humanethologie versucht vor allem Irenaus Eibl-Eibesfeldt auf-
bauend auf der tierischen Verhaltensforschung sowie über Kulturvergleiche seine
These zu untermauern, „daß aggressives und altruistisches Verhalten durch stammes-
geschichtliche Anpassungen vorprogrammiert sind", daß „aggressive Impulse des
Menschen... durch ebenso tief verwurzelte Neigungen zur Geselligkeit und zum ge-
genseitigen Beistand aufgewogen (werden)" (1982, S. 15). Dabei schließe genetische
Bedingtheit eine erzieherische Einflußmöglichkeit nicht aus.
In der speziell sich als pädagogisch orientiert verstehenden Anthropologie gibt es
drei Grundrichtungen, eine philosophisch-geisteswissenschaftliche wie die Bollnows
und Derbolavs, eine naturwissenschaftliche wie die Liedtkes sowie eine integrative
wie die Roths. Jede dieser Richtungen versucht ihrerseits die anthropologischen Vor-
aussetzungen der Erziehung und Sozialisation zu fundamentieren. Besonders die na-
turwissenschaftlich orientierte Richtung hat in jüngerer Zeit von sich reden gemacht.
Bei einem anthropologisch-pädagogischen Symposion in Nürnberg 1981 etwa, bei
dem auch die Argumente der Soziobiologen, die seit Edward O. Wilsons Arbeiten an
Gewicht gewonnen haben, eine bedeutende Rolle spielten, ging es um die Frage, ob
„die bisher durch geisteswissenschaftliche Ansätze oder empirisch-statistische Detail-
forschung bestimmte Pädagogik durch die phylogenetische Perspektive zu erweitern
(sei)" (Kern und Wittig 1982, S. 393). Liedtke argumentiert in diesem Zusammenhang:
„Schon wegen der mindestens 300 Millionen Jahre vor dem Auftreten des Menschen
beginnenden subhumanen Entwicklung von Erziehung muß davon ausgegangen wer-
den, daß auch die Bereitschaft des Menschen, sich um das Wohl der nachfolgenden
Generation zu kümmern, eine genetische Grundlage hat. Diese Grundlage ist aber kei-
neswegs diffus, sondern offensichtlich mit besonderer Intensität bei persönlicher El-
ternschaft bzw. bei individueller Bekanntschaft" (Kern und Wittig 1982, S. 396).
Der Psychologe und Psychiater John Bowlby analysiert in seiner Theorie der
Steuerung des Bindeverhaltens die Mutter-Kind-Beziehung auf ihre genetischen Vor-
gaben, indem er insbesondere die psychoanalytische Vorstellung vom Sekundärtrieb
widerlegt. Er arbeitet dabei systematisch die Ergebnisse der Verhaltensforschung, vor
allem aus dem subhumanen Bereich ein. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff
der Prägung eine zentrale Rolle, jedoch nicht in seiner ursprünglichen, von Konrad
Lorenz entwickelten Form, sondern in einer revidierten allgemeineren Version, vor
allem hinsichtlich des Phasenverlaufs und der Stabilität der Prägung (1975, S. 162-167,
S. 21 Off.).
Auch die amerikanische Psychologin Louise J. Kaplan verweist in einer neueren
Veröffentlichung über kindliche Entwicklung ausdrücklich auf den „stammesge-
schichtlichen Erbteil des Neugeborenen" (1981, S. 54-71). Sie zieht dabei Beobach-
tungen bei den Zinacanteco-Indios im Hochland von Chiapas in Mexiko heran.
In der Begabungsforschung und dort insbesondere bei der Zwillingsforschung
geht es um die Anlage-/Umweltproblematik. Die Diskussion dazu verläuft in wellen-
artig anmutendem Auf und Ab, zuletzt vor allem in der sogenannten Jensen-Debatte,
in der der Amerikaner A. R. Jensen Anfang der 70er Jahre eine genetische Determinie-
208
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
rung der Intelligenz in den Mittelpunkt rückte (Pervin 1981). Inzwischen ist die Dis-
kussion abgeebbt und der Blick für die Komplexität der Fragestellung wieder frei ge-
worden. In einem Handbuchartikel aus dem Jahr 1984 heißt es dazu: „Die additive
Vorstellung, die der orthodoxen Frage ,wieviel Anlage, wieviel Umwelt' zugrunde
liegt, ist also unangemessen. Angemessen ist die Frage nach dem ,Wie' ihres Ineinan-
derwirkens" (Skowronek, S. 332/333).
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu vertritt mit seinem Konzept des „Ha-
bitus" eine ausgeprägte Umwelttheorie der menschlichen Entwicklung. Seine in völ-
kerkundlichen Studien bei den Kabylen in Nordafrika entwickelten Grundgedanken
konstatieren von vornherein „eine gebrochene Beziehung" der Kultur zur „natürli-
chen Entwicklung" (vgl. Freyer 1983, S. 302). Auch in seinem bisherigen Hauptwerk
„Die feinen Unterschiede" (1984) erarbeitet er so etwas wie eine „Ethnographie
Frankreichs" und zeigt, wie die „ökonomisch-sozialen Bedingungen" mit den „Le-
bensstilen" (Symbolbildungen) die menschliche Entwicklung und gesellschaftliche
Konstitution bestimmen.
2 Die Liedloff-Hypothese im Detail: das Kontinuum-Prinzip
Man findet in sozialwissenschaftlicher Kulturkritik die Meinung vertreten, die
Menschheit habe zwar im naturwissenschaftlich-technischen Bereich einen ungeheu-
ren Fortschritt erzielt, im Bereich des Sozialverhaltens habe sie mit dieser Entwick-
lung aber nicht Schritt halten können. Die Menschen mit hochentwickelter Technik
hätten im Grunde die psychische Struktur ihrer steinzeitlichen Vorfahren kaum hinter
sich gelassen, vor allem im Hinblick auf Imponier- und Statusverhalten, auf Jagd- und
Aggressionsverhalten, auf Territorialverhalten und Machtstreben. Damit ist im
Grunde die Unfähigkeit bezeichnet, die technische Entwicklung zum Wohle des Men-
schen zu nutzen. Alexander Mitscherlich bringt diese Problematik auf den Punkt:
„...die Schulung der Sachintelligenz (habe) die triebhafte, insbesondere aggressive
Reizbarkeit des Menschen nicht zu mildern vermocht" (1968, S. 92). Er sieht die „Ein-
übung des Affektausdrucks" als den „zweiten Lernvorgang" neben dem „Nachweis
der Werkzeugintelligenz" als Bedingungen „jeder sozialen Kultivierung" an.
Liedloffs Kontinuum-Hypothese zielt ebenfalls auf eine offensichtliche Diskre-
panz zwischen intellektueller Lernfähigkeit und emotionaler Grundbefindlichkeit. Sie
vermutet aber, im Gegensatz zu einer Abwertung weitgehend unbekannter steinzeitli-
cher Verhaltensweisen, daß rezente, von ihr als steinzeitlich eingeordnete Kulturen
wie diejenige der Yequana über intuitives, auf Erfahrungen der Menschheit basieren-
des Wissen verfügen, das, in angemessener Weise zur Geltung gebracht, „den Intellekt
zu einem fähigen Sklaven statt zu einem unfähigen Herrn" machen könnte (1980, S.
60). Bezogen auf die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen der Erzie-
hung und Sozialisation argumentiert Liedloff so:
— „Lange ehe wir einen Entwicklungsstand erreichten, der dem des Homo sapiens äh-
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
209
nelte, verfügten wir über... Instinkte, die über... Kinderaufzucht Bescheid wuß-
ten" (S. 33). Unter diesen genetischen Vorgaben, wie man es besser ausdrücken
sollte, versteht Liedloff die Ausbildung von Erwartungen aufgrund evolutionärer
Erfahrungen. In ihnen sei vorprogrammiert, was für Entwicklung und Erziehung
„richtig" (vgl. unten) ist.
- Mit Kontinuum ist also die „kontinuierliche" Verknüpfung und Weiterführung ge-
netischer Vorgaben mit Umweltbedingungen bezeichnet. In ihren eigenen Worten:
„Das menschliche Kontinuum kann auch definiert werden als die Erfahrungsfolge,
welche vereinbar ist mit den Erwartungen und Bestrebungen der Gattung Mensch
in einer Umgebung, die mit derjenigen (übereinstimmt), in der jene Erwartungen
und Bestrebungen sich ausprägten" (S. 38).
- Eine kontinuierliche Erfahrungsfolge ist nach Liedloff die Grundlage für Ausgegli-
chenheit, Affektkontrolle, Selbstdisziplin, insgesamt für angemessenes Selbstgefühl
oder auch für „Richtigkeit": „Richtigkeit ist das den Einzelwesen unserer Gattung
grundlegende Gefühl von sich selbst" (S. 48). Ohne das Gefühl der eigenen Richtig-
keit könne sich kein Gespür für das Verhältnis zu anderen entwickeln und für das,
was man selbst beanspruchen kann.
- Die Schlüsselhandlung, das heißt die Schlüsselbedingung, zur Aufrechterhaltung
des Kontinuums sei das Tragen des Säuglings. Getragen zu werden nennt Liedloff
die evolutionäre Erwartung, die kontinuierlich und optimal die Entwicklung des
Säuglings ermöglicht. Daran anschließen kann sich eine ganz den Erwartungen/Be-
dürfnissen angemessene allmähliche Erweiterung des Erfahrungsraumes.
- Wenn die von der Umwelt bereitgestellten Erfahrungen die erwartete Kontinuität
nicht erfüllen, dann können diese Erfahrungen zur Reifung des Individuums nichts
beitragen. Es gibt aber nach Liedloff so etwas wie eine „Rückkehr zum Konti-
nuum", denn sie nimmt an, daß unerfüllte kindliche Erwartungen lebenslang be-
stehen bleiben. Diese können daher „in jedem Alter erfüllt werden" (S. 198). Sie
bestätigt also die zeitgemäße Auffassung, daß entstandene Mangelsituationen durch
entsprechende therapeutische Maßnahmen in jedem Alter kompensiert werden
können.
Betrachtet man Liedloffs Kontinuum-Konzept im Kontext der weiter vorne skizzier-
ten Ansätze, dann kann man es zusammen mit Eibl-Eibesfeldt und Bowlby zu den na-
turwissenschaftlich orientierten Positionen der pädagogisch-anthropologischen Dis-
kussion rechnen.
3 Liedloffs Ausgangsposition aus eigener Sicht und aus fremder Perspektive
Im ersten Kapitel ihres Buches beschreibt die Autorin ihre eigenen entwicklungsbe-
dingten Voraussetzungen, gewissermaßen den Ursprung einer Sensibilität, der zur
Konzipierung der Kontinuum-Hypothese geführt hat. Es beginnt mit einem Erlebnis
als achtjähriges Mädchen während eines Sommerzeltlagers im US-Staate Maine, bei
210
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
dem sie zufällig auf eine Waldlichtung gerät und Natur in einer solchen Vollkommen-
heit wahrnimmt, daß sie dies später als ihre erste Erfahrung von „Richtigkeit" deutet,
nämlich „das Gefühl einer tiefen Übereinstimmung mit dem Sein" (Krieger 1981, S.
19). Bild und Gefühl geraten in den Wirrungen ihrer weiteren Entwicklung, wie sie
sagt, vor allem in den als widerstreitend empfundenen „Werten ihres Kulturkreises"
und wohl auch in einer problematischen Mutterbeziehung (vgl. S. 14), in Vergessen-
heit. Als Liedloff eher zufällig an einer von Italienern geleiteten Diamanten-Expedi-
tion ins Quellgebiet des oberen Orinoco teilnimmt, wiederholt sich in einer vergleich-
baren Situation im südamerikanischen Urwald die frühe Erfahrung des „Richtigseins"
in vehementer Weise. Von diesem Ausgangspunkt her entwickelt sie eine bewußtere
Wahrnehmung des gesamten Ökosystems Urwald bis hin zu den dort lebenden Men-
schen, aufgrund derer sie schließlich, ihren eigenen Worten nach, „die Indianer, als
Menschen wie (sie) selbst und als Teilhabende an der Richtigkeit des Urwaldes, als ge-
meinsamen Nenner (empfand), als Bindeglied zwischen der sie umgebenden Harmo-
nie und (eigener) Sehnsucht danach" (S. 18).
In der Folgezeit unternimmt die Autorin insgesamt vier weitere Expeditionen in
diese Gegend, die zweite wieder unter Leitung eines italienischen Wissenschaftlers na-
mens Alfonso Vinci, von dem ein Reisebericht darüber vorliegt.
Die Expedition vier und fünf führt sie in eigener Regie durch jeweils zur Verifizie-
rung ihrer zwischenzeitlich entwickelten Kontinuum-Hypothese. Das auf diese Weise
entworfene Konzept und seine Erklärungsfähigkeit kennzeichnet sie selbst so: „In der
Tat wurden die einstmals unerklärbaren Handlungen der Indianer im Lichte der Konti-
nuum-Prinzipien nicht nur verständlich, sondern häufig voraussagbar" (S. 31).
Im Reisebericht des Italieners Vinci, der die von Liedloff genannte zweite Expedi-
tion betrifft, wird die Verfasserin unseres Buches insgesamt zwölfmal erwähnt (S. 18,
57 zwei Mal, 59, 61, 71, 72,134,135,136,137 zwei Mal). In allen Beispielen geht es da-
bei um Schwierigkeiten, die für den Expeditionsleiter durch ihre Anwesenheit entste-
hen, sowie um mehrfach scheiternde Versuche, sie durch ein Flugzeug aus dem
Dschungel abholen zu lassen. In dieser Hinsicht entspricht Liedloffs Urteil in ihrem
Buch demjenigen Vincis, denn sie bezeichnet ihn als jemand, der der „festen Meinung
sei, Mädchen hätten im Urwald nichts zu suchen" (S. 22). Darüber hinaus wird Jean
Liedloff von Vinci als eine Person geschildert, die an „hysterischen Anfällen leidet" (S.
57), die vor Angst zittert, per Boot in die Zivilisation zurückkehren zu müssen (S. 61)»
die „von Natur aus in höchstem Grade nervös" ist (S. 134), die an Somnambulismus
leidet (S. 136/137). In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, daß Liedloffs erster
längerer Aufenthalt bei den Yequana, den sie selbst mit drei Wochen angibt (S. 22),
keineswegs freiwillig gewesen ist, sondern durch den Expeditionsleiter erzwungen,
der sie kurzerhand einer Indianergruppe gegen Bezahlung mitgegeben hat, um selbst
freie Hand für einen Besuch bei einer als gefährlich geltenden anderen Indianergruppe*
den Samatari, zu haben.
Zwei Möglichkeiten der Bewertung dieser Ausgangsposition scheinen mir niög~
lieh: Einerseits könnte man Liedloffs psychische Struktur als prädestiniert ansehen im
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
211
Sinne hoher Sensibilität für Wahrnehmung und Beobachtung ihrer Bezugsgruppe so-
wie die Konzipierung ihrer Hypothese. Andererseits könnte man befürchten, daß eine
derart hochsensible psychische Struktur permanent dazu verleitet, die Wirklichkeit
positiver zu sehen, als sie tatsächlich war oder ist. In diesem Zusammenhang muß auch
an die individuell-emotionale Grundlage ihrer Hypothesenbildung erinnert werden.
Auf dieses Problem will ich im nachfolgenden Kapitel eine Antwort versuchen, in-
dem ich Liedloffs Beobachtungen bei den Yequana anhand ethnologischer Feldfor-
schungen beurteile.
4 Liedloffs Beobachtungen bei den Yequana im Vergleich zu Erfahrungen ande-
rer Forscher, Reisender, Missionare
Wie Karten 1 und 2 zeigen, siedeln die Yequana oder Marquiritare im Quellgebiet des
Orinoco auf venezolanischer Seite zur brasilianischen Grenze hin zwischen dem Me-
rewari, Ventuari, Padamo (alles Nebenflüsse des Orinoco) und im Osten der Sierra
Parima. Wir finden sie in Nachbarschaft zu verschiedenen Gruppen Yanoama, von de-
nen die Sanema in Liedloffs Buch eine Rolle spielen.
Die Yequana zählen nach Zerries zur Sprachfamilie der Kariben/Karaiben, der
jüngsten Einwanderungsschicht in diesem Raum, die Yanoama werden zur ältesten
Schicht gerechnet. Die Yequana stellen trotz ihrer deutlich geringeren Zahl die kultu-
rell dominierende Gruppe dar. Man schätzt die Yequana auf etwa 5000, die Yanoama
auf 20 000 Individuen. Die technische Überlegenheit der Yequana drückt sich vor al-
lem in ihrer Kunst des Boots- und Häuserbaus aus. Die Yanoama gelten als kriegerisch
und sind gefürchtet.
Für unseren Zusammenhang interessant ist die Tatsache, daß die Yequana mit eini-
gen Gruppen der Yanoama, in Liedloffs Beispiel mit den Sanema, in einer Art Sym-
biose leben, bei der die Sanema in einem Abhängigkeits- und Untergebenenverhältnis
stehen, das zu einer starken Assimilation geführt hat.
Liedloffs Beobachtungen bei den Yequana konzentrieren sich vor allem auf das
Getragenwerden der Kinder, auf die Phase des allmählichen Loslösens und Selbstän-
digwerdens, auf den Umgang der Erwachsenen mit den Kindern, auf Verhaltens- und
Reaktionsweisen der Kinder selbst, auf das Verhalten der Erwachsenen.
Das Getragenwerden des Yequana-Babys ist charakterisiert dadurch, daß es über-
allhin mitgenommen wird, daß es alle Tätigkeiten der Mutter an ihrem Körper erlebt-
alle Haltungen, Bewegungen, Rhythmen, Witterungen, Temperaturen (S. 67, 68/69).
„Der Säugling tut also in der Frühphase des Getragenwerdens sehr wenig, doch wird
ihm eine Vielzahl und Vielfalt von Erfahrungen zuteil durch seine Abenteuer in den
Armen eines beschäftigten Menschen" (S. 70). Und das alles rund um die Uhr, 24 Stun-
den lang, wobei das Baby gefüttert wird, wann immer es danach verlangt.
Die durch das Getragenwerden erfüllten Erwartungen der Frühphase der Ent-
wicklung bilden eine optimale Basis für die Erweiterung des Erfahrungsraums. Das
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
213
Karte 2.
Yequana-Kind ist dabei eingebunden in ein dichtes Netz sozialer Zuständigkeiten, bei
denen die Mutter zwar immer noch den Mittelpunkt bildet, in der andere Personen der
Familien und Gruppen zunehmend Bedeutung gewinnen. In einem Wechselspiel von
Initiativen und Reaktionen vollzieht sich eine spielerische und repressionsfreie Sozia-
üsation, daß heißt nach Meinung von Liedloff, daß die Sozialisation intuitiv darauf
gerichtet ist, daß die Betroffenen sich „richtig" fühlen. Eine besonders wichtige spiele-
rische Initiative der Yequana-Mutter ist die Gewöhnung an Wasser in seinen verschie-
denen Erscheinungsformen, aber der Vollzug orientiert sich immer an den Verhaltens-
Weisen des Babys und Kleinkindes. „Ehe es laufen oder auch nur denken kann,
entwickelt sich das Yequana-Baby schon zum Experten im Einschätzen der Kraft,
214
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Richtung und Tiefe von Gewässern durch Beobachtung" (S. 72). Dieses Element der
Sozialisation ist für die Yequana von grundlegender Bedeutung, gehören sie doch zu
den fähigsten Bootsfahrervölkern der Welt. Das Leben auf gefährlichen Flüssen ist für
sie alltäglich.
Die Grundhaltung der Mutter erlebt Liedloff als in allen Situationen völlig ent-
spannt, zurückhaltend, so daß die Aktivitäten und Initiativen des Kindes nicht domi-
niert werden (S. 105). Liebe und Zuwendung der Mutter seien im Sinne des Wortes
nicht an Bedingungen geknüpft, wie das unter „Zivilisierten" oft der Fall sei. Die Rolle
der Mutter sei „die einer Gebenden und Fürsorgenden, die außer der Befriedigung des
Gegebenhabens nichts zurückerwartet" (S. 107, 112/113).
Bei der Ausdifferenzierung der Geschlechtsrollen geben Yequana-Mutter und
auch -Vater durch entsprechendes Vorbildverhalten die kulturspezifischen Verhal-
tenserwartungen weiter (S. 108, 111). Die Yequana vermeiden es, Kindern Befehle zu
erteilen, die etwas damit zu tun haben, wie Kinder spielen sollen, wieviel sie essen und
wann sie schlafen sollen (S. 118), denn es sei verpönt, jemand anderem den eigenen
Willen aufzudrängen (S. 121/122, 123). Das, was wir als Disziplin und Autorität be-
zeichnen, gelingt bei denn Yequana laut Liedloff mühelos. Das gegenseitige Verhalten
von Eltern und Kindern ist offenbar von selbstverständlichem Respekt geprägt. Physi-
sche Überlegenheit und psychische Abhängigkeit gelten bei den Yequana nach Lied-
loffs Beobachtungen nicht als Grund, Kinder weniger achtungsvoll als Erwachsene zu
behandeln. Entscheidungen des Kindes in entsprechenden Situationen werden kom-
mentarlos akzeptiert. Es fehlt im Verhalten der Yequana die Aggressivität untereinan-
der.
In der nachfolgenden wörtlichen Formulierung Liedloffs werden Merkmale ihrer
Hypothese im Zusammenhang ihrer Beobachtungen noch einmal deutlich: „Die Un-
willigkeit der Yequana, einen anderen selbst durch Schmeichelei zu etwas zu überre-
den, scheint nicht eine individuelle Entscheidung darzustellen. Es handelt sich hier an-
scheinend um ein durch das Kontinuum im Laufe der Evolution herausgeprägtes und
von ihrer Kultur aufrechterhaltenes Verbot" (S. 125).
Schließlich stellt Liedloff für beide Stämme, die Yequana und die Sanema, trotz der
unterschiedlichen Kulturausprägung ein gleichermaßen ausgeglichenes Verhalten fest.
Eine solche Darstellung größter Harmonie bei nichtindustrialisierten Gesellschaf-
ten löst in Anbetracht der erwähnten Beurteilungen große Skepsis aus. Ich will deshalb
eine kritische Beurteilung von Liedloffs Beobachtungen anschließen und stütze mich
dabei auf die Expeditionsberichte von Robert Hermann Schomburgk, der im Auftrag
der Londoner Geographischen Gesellschaft zwischen 1835 und 1839 in Südamerika
gereist ist, von Theodor Koch-Griinberg, der sich von 1911 bis 1913 im Quellgebiet
des Orinoco aufgehalten hat, von Alain Gheerbrant, der von 1948 bis 1950 über den
Gebirgszug der Sierra Parima das Areal bereist hat, von Alfonso Vinci, der im Jahr
1953 auf der Suche nach Mineralien und seltenen Pflanzen die Yequana kennenlernte,
von Meinhard Schuster, der sich in den Jahren 1954/55 mit der Frobenius-Expedition
in Südost-Venezuela aufgehalten hat; auf das Tagebuch des Missionars Bruder
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
215
François, der von 1963 bis 1969 bei den Yequana gelebt hat; schließlich auf eine Dis-
sertation aus dem Jahre 1971 über die Sozialstruktur der Yequana von Nelly Arvelo-
Jimenez, die mit einem Yequana verheiratet ist.
Diese Quellen lassen sich unterscheiden in solche, bei denen die Beobachter eher
eine Außenperspektive einnehmen, die sie aufgrund ihrer relativ kurzen Anwesenheit
in jenem Gebiet auch nur haben konnten, und dazu gehören alle Expeditionsberichte,
und solche, deren Erfahrungen und Untersuchungen auf teilnehmender Beobachtung
beruhen, das heißt auf dem Leben mit den Yequana und auf der Kenntnis ihrer Spra-
che, und dazu gehören das Tagebuch des Bruders François sowie die Arbeit von Arve-
lo-Jimenez.
Außenperspektiven
Schomburgks Bericht (1841) aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gilt als
derjenige, der erstmals detailliert über die Yequana informiert. Bei ihm hießen sie al-
lerdings noch Maiongkong. Ihm fällt bereits auf, daß sie trotz der unterschiedlichen
Sprache immer mit Guinaüs/Yanoama in gemeinsamen Dörfern leben (S. 430). Er be-
zeichnet sie als stolz, hochmütig, als außerordentlich selbstbewußt, auf ihr Außeres
bedacht, dabei gastfreundlich - und vor allem als Schiffsbauer von hohen Graden
(S. 450, 456-458).
Koch-Grünberg (1923), 80 Jahre später teilweise den Spuren Schomburgks fol-
gend, bestätigt dessen Beobachtungen hinsichtlich der Symbiose mit den Guinaú so-
wie des Bootsbaus (Band III, S. 320ff.). Bei der Beurteilung des Charakters und des
Verhaltens findet sich eine gewisse Ambivalenz. Einerseits sind „die Leute muster-
haft" bei der Verteilung von Waren und Geschenken, man drängt und zankt sich
nicht; „das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist gut und kameradschaftlich", sie
sind gastfrei und gutmütig, zanken niemals untereinander, Mißhandlungen gibt es
nicht; sie haben ein häufiges und ungezwungenes Lachen; sie zeigen Selbstbeherr-
schung und Gleichmut ohne jegliches Schimpfen und Fluchen auch in schwierigen Si-
tuationen, sie haben eine natürliche Scheu, Gefühle zu zeigen; ihre Kinder „genießen
liebevollste Behandlung" und werden in einer „weichen und dehnbaren Baumwoll-
binde" überallhin mitgetragen (S. 353, 354, 358, 359, 366). Andererseits findet Koch-
Grünberg, sie seien „ein wetterwendisches Volk", launenhaft, weil jeder das mache,
wozu er gerade Lust verspüre, auch wenn es mitten in der Nacht sei, sie verlören bei
Trunkenheit ihre guten Eigenschaften, sie seien unredlich (S. 360, 359, 358).
Gheerbrant (1962) schildert das Verhalten der Yequana in einer Szene, in der man
zur Begrüßung eine gemeinsame Mahlzeit einnimmt. Es „verläuft alles ruhig und ge-
sittet. Bis in die Unterhaltung dieser Leute ahnt man die unsichtbare Losung, welche
Takt, Maßhalten und Zurückhaltung verlangt und anscheinend bei den Marquiritares
in jeder Hinsicht vorwaltet" (S. 76/77). Im Vergleich der in enger Nachbarschaft
(Symbiose) lebenden Yequana mit den Yanoama kommt Gheerbrant zu dem Urteil,
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
daß die ersteren entwicklungsgeschichtlich auf der gleichen Stufe stünden wie die Eu-
ropäer, denn sie hätten wie diese „dieselben Bedürfnisse, dieselben grundlegenden
Probleme" (S. 67), die letzteren lebten dagegen „noch in der Dämmerung der Urzeit".
Vinci (1961) findet die Yequana kräftig, gutaussehend, einfach, offen, mit schweig-
samem zähem Temperament, mit „sicheren Instinkten" und unverrückbarer Ruhe,
mit unglaublichem visuellem Gedächtnis und unendlicher Geduld den Kindern ge-
genüber (S. 27, 49, 214, 222). Die volle Teilnahme auch der Kleinkinder am Leben der
Erwachsenen schildert der Verfasser in einer Szene während der Bootsreise auf dem
reißenden Ventuari: Ramons „Frau, ein freundliches und mutiges Wesen, steuerte (das
Fahrzeug). Zu gleicher Zeit nährte sie ihr Baby an der Brust, aß selbst etwas, rief den
Booten hinter sich Ratschläge zu und schöpfte Wasser aus, das über Bord kam - ohne
dabei das Steuerpaddel aus der Hand zu lassen" (S. 214). Hinsichtlich der Kultur der
Yequana glaubt Vinci, daß es da wenig Eigenständiges gäbe, vielmehr hätten Einflüsse
„fremder und überlegener Kulturen... größere (Wirkungen) ausgeübt als man ge-
meinhin annimmt" (S. 208).
Schuster (1976) begegnen die Yequana als Menschen, die freundlich und be-
herrscht sind, bei denen man nie „lautes Gezänk erlebt". Bei allen Dingen des Trans-
ports von Menschen und Gepäck auf den gefährlichen Flüssen sind sie „über jedes Lob
erhaben". An gemeinsamen Spielen mit Europäern nehmen sie „mit großer Freude
und Fairneß, (aber) ohne jeglichen verbissenen Eifer teil" (S. 23, 22). Die Symbiose
zwischen Yequana und Yanoama ist in Schusters Augen eine „Intensivform alter Kul-
turbeziehungen" zwischen in Physis, Psyche und Kultur stark differierenden Part-
nern, bei denen die Yequana immer die Gebenden gewesen sind. Die kulturelle und
psychische Situation der Yequana sieht der Beobachter durch den Kontakt mit Euro-
päern soweit beeinflußt, daß ursprüngliche Aggressivität und Kriegslust verdrängt
oder abgebaut worden seien.
Fazit der Außenperspektive
Mit der Ausnahme Schomburgks, dessen Kontakt mit den Yequana im vorigen Jahr-
hundert nicht intensiv sein konnte, stimmen alle Außenbeobachter in den wichtigen
Merkmalen von Charakter und Verhalten überein. Danach sind die Yequana aus der
Sicht der ihnen begegnenden Europäer auffallend selbstdisziphniert, ausgeglichen, af-
fektkontrolliert, aggressionsfrei, zurückhaltend, aber offen und freundlich, und zwar
sowohl untereinander als auch Fremden gegenüber. Koch-Griinbergs Vorbehalte
können dieses Bild nicht wesentlich einschränken. Die Verhaltensweisen gegenüber
dem Nachwuchs können mit absoluter Verfügbarkeit der Mutter und außerordentli-
cher Geduld gekennzeichnet werden.
In der Beurteilung der Ursachen für diese Merkmale der Yequana haben die Beob-
achter unterschiedliche Standpunkte, entwickeln sie verschiedene Thesen. Vinci und
Schuster stimmen iiberein, daß europäische Einflüsse vorliegen, wobei der letztere
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
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dies sogar als Hintergrund für fehlende Aggressivität ansieht. Gheerbrants Formulie-
rungen haben einen mythologisierenden Ton: „unsichtbare Losung" und „vorwalten"
von Takt, Maßhalten, Zurückhaltung.
Innenperspektiven
Bruder François vom Orden der „Kleinen Brüder vom Evangelium" gibt in seinen Ta-
gebuchaufzeichnungen, die sechs Jahre des Aufenthaltes umspannen, interne Kennt-
nis vom Leben der Yequana. Für seine missionarische Tätigkeit bekennt er sich zu fol-
genden Maximen, zu einem Leben in Armut, zu einer Haltung, die sich nicht im Besitz
der alleinigen Wahrheit sieht, zu der Haltung, „ein Mensch des Dialogs zu sein, nicht
des Prestiges, ein einfacher Diener und Bruder und nicht ein höherer Mensch und Va-
ter". Diese Maximen scheinen insofern wichtig, als sie teilnehmende Beobachtung er-
leichtern und intensive Kontakte ermöglichen.
Bruder François' Erfahrungen bei den Yequana kreisen vor allem um die Wahr-
nehmung ihrer Selbstbeherrschung, Ausgeglichenheit, ihres Entspanntseins, ihrer Ge-
lassenheit. Er trifft sie an bei den Frauen, die ohne äußere Regung die Abreise ihrer
Männer zu einer langen Expedition beobachten; die den Abschied ihrer Kinder, die
erstmals weit weg in eine Schule gehen, regungslos verfolgen; die ohne Aufregung und
Erstaunen zum ersten Mal die Riesenstadt Caracas erleben (S. 23, 94, 146).
Er findet die Selbstdisziplin bei den Männern, die sich ohne Widerspruch, Lob
oder Tadel den Anordnungen des einmal anerkannten Anführers bei Expeditionen fü-
gen; die ohne Bekundung von Streß anstrengendste Unternehmungen absolvieren; die
ohne Lob oder Tadel das Verhalten anderer in schwierigen Situationen akzeptieren -
seien es Erfolg oder Mißerfolg bei der Jagd, sei es die unterschiedliche Leistungsfähig-
keit bei schwierigen Unternehmungen und Arbeiten; die völlig entspannt und affekt-
kontrolliert gemeinsame Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten treffen oder
lange Männerabende durchstehen; die Unglücksfälle bei gefährlichen Kanufahrten
ohne Aufregung und gegenseitige Vorwürfe bestehen (S. 18, 19, 58, 68, 83, 165).
Bruder François beobachtet das Verhalten der Erwachsenen den Kindern gegen-
über sehr genau und ist über die selbstverständliche Hochachtung, die man dem Nach-
wuchs entgegenbringt, erstaunt: „sie behandeln die Kinder mit dem gesündesten Men-
schenverstand" (S. 88) - auch in schwierigen Situationen, z. B. bei der Verletzung mit
der Machete — kein Vorwurf, kein Unrecht hervorheben (S. 88).
Uber die Kinder sagt er: „(Sie) sind sehr schön und gesund, sie strahlen vor Freude
und Glück. Außerordentlich gut erzogen. Um so erstaunlicher, da man den Eindruck
hat, es gäbe gar keine Erziehung in unserem Sinn. Strafen sind praktisch unbekannt"
(S. 88). Die Kinder selbst, die erstmals in eine Internatschule weitab gebracht werden,
bieten das gleiche Bild an Selbstbeherrschung beim Abschied, während des Aufenthal-
tes über neun Monate, und bei ihrer Rückkehr ins Dorf (S. 146, 147, 167).
Für den Pater sind diese Verhaltensweisen lange Zeit rätselhaft gewesen, und er
218
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
stellt die Frage, „woher diese Weisheit, diese Selbstbeherrschung, diese Sitten kom-
men?" (S. 51). Er ist sich zunächst sicher, daß diese Verhaltensweisen erhalten werden
müssen. Nach längerem Aufenthalt glaubt er jedoch, daß die allgegenwärtige Selbstbe-
herrschung der Yequana eigentlich „eine große Leere in ihrem Liebes- und Freund-
schaftsbedürfnis" überdecke, eine „Armut", die nur das „Licht des Evangeliums" mit
Reichtum füllen könne.
Zu der bereits mehrfach erwähnten Symbiose der Yequana mit den kulturell frem-
den Sanema findet sich bei Bruder François eine interessante Beobachtung. Von dem
etwas abseits liegenden Gebäude aus, in dem die Sanema wohnen, unternehmen sie ei-
nes Abends bei Dunkelheit ein Spiel. Männer, Frauen, Kinder verfolgen einander in
Hetzjagd und Freudengeschrei, sind ausgelassen und übermütig. Der Pater kommen-
tiert das Verhalten der Yequana, die dabei zuschauen: „(Sie) schauen schweigend zu;
für sie ist diese Ausgelassenheit undenkbar" (S. 56).
Zerries und Schuster (1974) beurteilen das Verhalten einer anderen Yanoama-
Gruppe, der Waika, als extrem gefühlsbetont- Schreien/Wiehern vor Freude, Aggres-
sion bei Verärgerung, Klagen/Weinen/Schluchzen als Trauerverhalten -, und sie mei-
nen, „Beherrschung der Gefühlsregungen gilt (bei ihnen) offensichtlich nicht als Er-
ziehungsziel" (S. 43).
Nach Arvelo-Jimenez, die während eines 15monatigen Feldforschungsaufenthal-
tes Befragungen zahlreicher Yequana-Informanten und Beobachtungen durchführte,
hat ihre Sozialstruktur die folgende Kontur.
Die Regeln des Verwandtschaftssystems dominieren alle wichtigen Gruppierun-
gen, auch die Dorfgemeinschaft. Verwandtschaftslinien verknüpfen auch alle Yequa-
na-Dörfer miteinander. Die Yequana betrachten jede einzelne Dorfgemeinschaft als
eine unabhängige politische Einheit auf der Grundlage einer exklusiven Solidarge-
meinschaft. Dorfbewohner, die nicht in die Verwandtschaftsgruppierungen gehören,
werden durch eine fiktive Erweiterung des Systems inkorporiert.
Es existieren enge Wechselbeziehungen zwischen den religiösen Vorstellungen,
dem internen Zusammenhalt der Dorfgemeinschaften sowie dem Wir-Bewußtsein der
verschiedenen Gemeinden: Das Yequana-Konzept des Universums spiegelt sich auch
in der Konstruktion des traditionellen Gemeinschaftshauses, wodurch andererseits
das Gefühl der Unabhängigkeit der einzelnen Dörfer verstärkt wird. Das Wechselspiel
zwischen separatistischen Bestrebungen der Dorfgemeinschaften und der Notwen-
digkeit, dem Beziehungsgefüge zwischen ihnen Kontinuität zu verleihen im Zusam-
menhang mit dem Ausbalancieren übernatürlicher Einflüsse, wird ausgefüllt durch
stringente Regeln des Verhaltens, der Etikette. Es sind insgesamt sieben moralische
Regeln, deren Verletzung die Betreffenden zu Unpersonen macht. Der Verhaltens-
code im einzelnen besagt, daß „soto jönö" derjenige ist,
- der ein ungezügeltes Temperament hat und unkontrollierte Eifersucht zeigt;
- der andere tötet;
- der unkooperativ ist;
- der geizig ist;
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
219
- der andere verleumdet und unbegründet klatscht;
- der bewußt Probleme und Auseinandersetzungen provoziert;
- der anderen unangemessene Forderungen stellt (S. 256).
„Kulturelle Werte und Glaube fördern die Selbstkontrolle und raten zur Vermeidung
von unkontrolliertem Temperament. Die Yequana verbinden unkontrolliertes Tem-
perament mit offenen Auseinandersetzungen und offene Auseinandersetzungen mit
übernatürlichen Sanktionen. Diese Befürchtungen haben ihre Ursache in der An-
nahme, daß gekränkte Personen Zugang haben zu übernatürlicher Selbsthilfe gegen
die Übeltäter. Unkontrolliertes Verhalten zeitigt irreparable Schäden. Böse Gefühle
gegen Dorfgenossen zu offenbaren, riskiert u. U. Krankheit und Tod für einen
selbst... Die Alteren raten stetig von Auseinandersetzungen ab mit der Begründung,
daß offene Konfrontation Tod bedeutet" (S. 255, 256).
5 Der Beitrag des Kontinuum-Konzepts zur Anlage-/Umweltproblematik
In der Annahme genetischer Dispositionen für das menschliche Sozialverhalten läßt
sich das Kontinuum-Konzept in der Auffassung Liedloffs einreihen in das Konzept
der Humanethologie, wie es von Eibl-Eibesfeldt vertreten wird, in den Denkansatz
der Soziobiologen, wie er bei Wilson vorliegt, und in die Theorien der Psychologen,
wie sie von Bowlby und Kaplan konzipiert worden sind. Originell bei Liedloff ist die
Art und Weise, wie sie die kontinuierliche Verknüpfung der angenommenen Disposi-
tion zur Sozialität mit der nachgeburtlichen menschlichen Existenz vornimmt. Sie
sieht das Tragen der Kinder als die entscheidende Schlüsselhandlung an, das heißt, sie
instrumentalisiert die Gewährleistung der Kontinuität in der körperlichen Nähe von
Mutter und Kind oder auch von Pflegeperson und Kind.
Liedloffs Erfahrungen bei den Yequana entsprechen in allen Details den Beobach-
tungen der Ethnologen von Koch-Grünberg bis Schuster, des Naturwissenschaftlers
Vinci sowie des Missionars Bruder François. Die Heterogenität dieser Beobachter
kann als Beleg dafür gelten, daß die Verfasserin ihre Zielgruppe nicht aufgrund eigener
psychischer Ubersensibilität in ein falsches Licht gerückt hat. Dennoch zeigt die Dar-
stellung von Weltbild und Sozialstruktur bei Arvelo-Jimenez, daß Selbstdisziplin und
Affektkontrolle der Yequana ein Ergebnis ihrer kognitiven Weltbewältigung darstel-
len, das heißt, die Vermeidung, „soto jönö" zu sein, ist eine Strategie, welche die so-
ziale Organisation der Yequana in allen ihren Aspekten in Balance hält. Von daher ist
die Hypothese eines Kontinuums von genetischer Disposition über das Tragen der
Kinder und die naturnahe Erziehung bis hin zu Ausgeglichenheit und Selbstdisziplin
so nicht haltbar. Den Yequana ist es vielmehr gelungen, in der Konsequenz ihres Welt-
verständnisses das individuelle und gesellschaftliche Affektpotential so zu modellie-
fen, daß es sich in individueller Ausgeglichenheit und harmonischem Zusammenleben
niederschlägt. Wie sollte auch nur ein einzelner Parameter - das Tragen der Kinder -
bereits die Ausprägung des gesamten sozialen Lebens bestimmen? Schon die Six-
220
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Cultures-Studien, welche die Whitings leiteten, machten deutlich, daß es kaum mög-
lich ist, die Interdependenz der zahllosen Parameter, welche die kulturspezifischen
Arten der Sozialisation anbieten, mit bestimmten Ausprägungen der jeweiligen Kultur
sicher festzustellen. So sind die mit den Yequana in Symbiose lebenden Sanema, die die
frühkindliche Betreuung in sehr ähnlicher Weise praktizieren, wie ich oben belegt
habe, keineswegs affektkontrolliert. Es liegt die begründete Annahme nahe, daß der
entsprechende Verhaltenscode in Weltbild und Sozialstruktur bei ihnen fehlt (vgl.
auch: Biocca 1972).
Welche Antwort ergibt nun diese Erkenntnis für die Annahme einer genetischen
Disposition des altruistischen Verhaltens im allgemeinen? Zunächst einmal ist da-
durch keineswegs widerlegt, daß das Getragenwerden für Kinder und überhaupt die
physische Nähe von Kontaktpersonen in der frühesten Kindheit nicht von herausra-
gender Bedeutung wäre. Bezeichnend für unsere Kultur aber ist, daß man dieses sicher
stammesgeschichtlich entwickelte und intuitiv bei den Müttern vorhandene Wissen
erst wieder freilegen muß, zum Beispiel durch Lehrbücher oder Bücher wie das von
Liedloff oder auch durch Modellversuche. Ob sich aber durch optimale frühkindliche
Betreuung und Anknüpfen an genetische Dispositionen eine harmonische Persönlich-
keitsentwicklung ergibt, mit der Zivilisationsschäden vermieden werden können,
hängt entscheidend von der kognitiven Weltbewältigung ab oder auch von der Menta-
lität der betreuenden Personen.
Von hier aus lautet die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Anlage und
Umwelt, daß es in der Diskussion darum nicht um eine Entscheidung im Sinne von
„entweder-oder" gehen kann, sondern um die konkrete Konfiguration des Milieus
und den dadurch möglichen Wechselbezug zu genetischen Vorgaben.
6 Zur Aktualität und Popularität des Liedloff-Buches
Aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet, kann man das in Liedloffs Buch vertretene
Kontinuum-Konzept als einen Modellfall ansehen, an dem das Verhältnis von Anlage
und Umwelt im Hinblick auf das Sozialverhalten exemplarisch aufgerollt ist. Im Zu-
sammenhang mit einer kritischen Sichtweise, wie ich sie hier zu entwickeln versucht
habe, lassen sich an diesem Modellfall die Phänomene der anthropologischen Voraus-
setzungen von Erziehung und Sozialisation studieren und die Problematik möglicher
Verknüpfungen verstehen. Dies führt mich zu dem Votum, daß dieses Buch für den
wissenschaftlichen Diskurs wichtig sein kann. In Liedloffs Vorschlägen, Forschungs-
projekte zu konzipieren, bei denen „Kindertragende-Mütter" in Langzeitstudien mit
Kontrollgruppen verglichen werden, die das nicht praktizieren, bleibt das Konti-
nuum-Konzept auf seinen Charakter als Hypothese relativiert.
Aus populärer Sicht betrachtet, besticht in Liedloffs Buch gerade die Instrumenta-
lisierung der Erziehung in früher Kindheit. Sie legt nicht ganz unbegründet nahe, daß
man mit relativ einfachen Mitteln durch das Tragen Entscheidendes für die Entwick-
Erich Renner: Yequana oder das verlorene Glück
221
lung des Nachwuchses verwirklichen kann. In diesem Tatbestand liegt m. E. begrün-
det, daß das Buch ein Bestseller geworden ist. Aber es trifft auch auf eine Elterngene-
ration, die im Hinblick auf Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft nach neuen
Wegen sucht. Ausgeklammert bleiben bei Liedloff, und das ist der zu kritisierende
Mangel gerade im Hinblick auf Mütter und Eltern, die sich davon leiten lassen wollen,
Hinweise auf den kulturellen Uberbau, dem sich Eltern zuordnen, und damit auf die
Mentalität der Eltern. Aber wir wissen jetzt, daß Liedloff mit diesen Erwartungen
überfordert ist, denn sie konzentriert sich offensichtlich auf die Hoffnung, daß die an-
gemessene Betreuung der Kleinkinder das Kontinuum allein schon gewährleiste. Die
Suche nach dem verlorenen Glück verlangt jedoch auch einen Wandel des Bewußt-
seins-wie es C. F. Weizsäcker formuliert-, an dem die ganze Gesellschaft beteiligt ist.
Danksagung
Für Hinweise auf human-ethologische Literatur dankt der Autor Herrn Michael Casimir, Köln. Die Um-
zeichnungen der Karten erledigte Frau Renate Sander, Museum für Völkerkunde, Berlin.
Literatur
Arvelo-Jimenez, N. 1971 : Political Relations in a tribal society: a study of the Ye'cuana of Venezuela. Latin
American Studies, Ithaka: Cornell University.
Biocca, E. 1972: Yanoama — Ein weißes Mädchen in der Urwaldhölle. Berlin: Ullstein.
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Eibl-Eibesfeldt, I. 1976: Menschenforschung auf neuen Wegen. Wien, München: Molden.
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schrift für Pädagogik, 30, Nr. 2, S. 297-308.
Gheerbrant, A. 1962: Welt ohne Weiße. Vom Orinoko zum Amazonas. München: dtv.
Holmes, L. D. 1987: Über den Sinn und Unsinn von restudies. In: Duerr, H. P. (Hg.) Authentizität und Be-
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Liedloff, J. 1980: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit
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Liedtke, M. 1978: Anthropologische Grundlagen von Erziehung. In: Hierdeis, H. (Hg.) Taschenbuch der
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Mitscherlich, A., Mitscherlich, M. 1968: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens.
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Zerries, O.; Schuster, M. 1974: Mahekodotedi. Monographie eines Dorfes der Waika-Indianer, Band II der
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Zimmer, D.E. 1978: Die Lehre der Soziobiologen. Teile 1 und 2, in: Die Zeit, Nr. 40,29. September, Nr. 41,
6. Oktober.
Laufende Forschungen
Die hier veröffentlichten Berichte über laufende Forschungen enthalten Meldungen, die zwi-
schen Oktober 1988 und Mai 1989 bei der Redaktion eingegangen sind. Sie umfassen diesmal
auch Referate über Fachtagungen, da hierfür in der ZfE keine eigene Abteilung mehr vorgese-
hen ist. Für die Tagungsberichterstattung sei den Kollegen Jörg Adelberger, Egon Renner und
Stephen Jens Grimberg gedankt. Die Redaktion lag in Händen von Berthold Riese als Verant-
wortlichem und Stephanie Schwandner als Redaktionsassistentin. Durch Brand wurde der
größte Teil der bereits redigierten Berichte im Frühjahr 1989 vernichtet, so daß wir wegen Zeit-
mangels nicht im gewohnten Umfang Korrekturentwürfe verschicken konnten. Wir bitten da-
her zu entschuldigen, wenn einige Berichte veraltete, lückenhafte oder fehlerhafte Nachrichten
enthalten sollten. Rückfragen und vor allem neue Meldungen für den nächsten Band der ZfE
bitten wir an eine der folgenden Adressen zu richten:
ZfE Redaktion Laufende Forschungen, Berthold Riese, Seminar für Völkerkunde der Uni-
versität, Römerstraße 164, 5300 Bonn 1, oder
ZfE Redaktion Laufende Forschungen, Stephanie Schwandner, Institut für Ethnologie,
Drosselweg 1-3, 1000 Berlin 33.
Allgemeines
Forschungsgeschichte, Bachofen, Post, Nietzsche
Hans-Jürgen Hildebrandt vom Institut für Ethnologie und Afrika-Studien der Universität
Mainz hat die in ZfE 113 [01/88] gemeldete Arbeit über J. J. Bachofen 1988 beim Alano Verlag in
Aachen veröffentlicht. Zu seiner unter [02/88] gemeldeten Arbeit über A. H. Post hat er als Ne-
benprodukt den Aufsatz Nietzsche als Ethnologe. Ein Beitrag zur Klärung der Quellenfrage, in:
Anthropos 83: 565-571, 1988, veröffentlicht. Das Projekt selbst ist noch nicht abgeschlossen.
[001/89],
Forschungsgeschichte, Köln
Lothar Pützstück vom Institut für Völkerkunde der Universität Köln arbeitet seit 1987 an einer
Dissertation über die Geschichte der Völkerkunde in Köln von 1860 bis 1960. Geplant und teil-
weise schon durchgeführt sind Archivstudien in der DDR, Westdeutschland und England. Au-
ßerdem sind Befragungen von Zeitzeugen vorgesehen. Die Kölner Ethnologen Wilhelm Joest,
Willy Foy, Fritz Gräbner, J ulius Lips, Andreas Scheller und Martin Heydrich stehen im Vor-
dergrund der Arbeit. Die Arbeit soll 1990 abgeschlossen werden. Hierzu ist erschienen: Von
Dichtung und Wahrheit im akademischen Lehrbetrieb. Die Entlassung des Völkerkundlers Ju-
Zeitschrift für Ethnologie 1 14 (1989) 223-273
© 1989 Dietrich Reimer Verlag
224
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
lius E. Lips durch die Nationalsozialisten in Köln, 1933, in: Wolfgang Blaschke et al. (Hg.),
Nachhilfe zur Erinnerung, 600 Jahre Universität zu Köln. Köln, 1988, 121-131. [002/89],
Dokumentation, Zeitschriften
Peter Junge vom Ubersee Museum in Bremen stellt eine Inhaltsdokumentation deutscher Kolo-
nialzeitschriften zusammen. Als Ergebnis wird ein gedruckter Schlagwortkatalog sowie eine Li-
teraturdatenbank vorgelegt, die die Artikel der 35 wichtigsten deutschen Kolonialzeitschriften
inhaltlich erschließen. Von den circa 18000 Artikeln sind bisher 14 000 aus 31 Zeitschriften ver-
arbeitet. Ein Zugriff auf die jetzt schon verarbeiteten Artikel ist unter Wahrung des Urheber-
rechts für jeden möglich, doch während der Aufbauphase der Datenbank nicht über Datennetz.
Literaturauskünfte werden mit Auszügen aus dem Schlagwortkatalog beantwortet, entweder
als gedruckter Auszug oder auf MS DOS formatierter Diskette (5,25 Zoll). Als Veröffentli-
chung liegt eine Bibliographie deutscher Kolonialzeitschriften, 1985, vor. [003/89],
Dokumentation, Photographie
Das Museum für Völkerkunde der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin plant für 1990 eine
Ausstellung ethnographischer Photographien aus der Frühzeit der Feldforschungsphotographie.
Die Ausstellung soll aus eigenen Beständen des Museums bestritten werden. Im Vorfeld der
Vorbereitung und Auswahl wird zugleich eine Bestandsaufnahme und Verbesserung des Zu-
griffs auf die reichen, doch nach den Verlusten und Umlagerungen des Zweiten Weltkrieges nie
voll genutzten Bestände angestrebt. Die Koordination liegt in Händen des Leiters der Südsee-
Abteilung Markus Schindlbeck. Für die Abteilungen Altamerika, Europa und Ostasien werden
Werkverträge geschlossen, und ABM-Kräfte für die Vorlaufarbeiten des Ordnens und Identifi-
zierens wurden eingestellt. Zur Ausstellung sind auch Katalogveröffentlichungen geplant.
[004/89].
Dokumentation, Musik
Wolf gang Laade von der Universität Zürich hat über die letzten 40 Jahre ein weit- und zeitum-
spannendes privates Musikarchiv aufgebaut. Das Schallarchiv umfaßt derzeit 30000 Schallplat-
ten mit westlicher und nicht-westlicher Musik jeglicher Provenienz, dazu Laades eigene Ton-
aufnahmen aus Korsika, Kroatien, Tunesien, Melanesien (Torres Strait Islands), Neuguinea und
Sri Lanka (Singhalesen), dazu einige Tonbandsammlungen aus anderer Hand. Wir berichten im
regionalen Teil über Laades neuere Feldarbeit (s. [025/89], [075/89] und [079/89]). Die zum
Schallarchiv gehörige Bibliothek enthält auch Manuskripte und mehrere Kompilationen von
schriftlichem Quellenmaterial zu verschiedenen Themenbereichen sowie ein Bildarchiv und
eine Sammlung von über 400 Musikinstrumenten aus aller Welt. Laade möchte das Archiv ver-
kaufen und öffentlich als „Internationales Kulturzentrum und Akademie für interdisziplinäre
Kunst- und Kulturstudien" an geeignetem Ort eingerichtet sehen. Eine Darstellung des ange-
strebten Projekts und detaillierte Angaben über die Bestände sind erhältlich vom "Music of Man
Archive", W. Laade, Holzmoosrütistraße 11, CH-8820 Wädenswil, Schweiz. [005/89]
Laufende Forschungen / Allgemeines
225
Museologie
Das von der Bosch-Stiftung finanzierte und auf zwei Jahre angelegte Projekt Das Völkerkunde-
museum als Erfahrungsort - Toleranz durch Lernen und Erleben begann am 1. Juni 1987. Mit
diesem Projekt beabsichtigt das Linden Museum in Stuttgart eine Gliederung der Ausstellung in
pädagogisch umsetzbare Arbeitseinheiten, entsprechend der der Ausstellung zugrundeliegen-
den Konzeption, zu erreichen. Die Arbeitseinheiten sind so angelegt, daß sie sowohl einen di-
rekten Lehrplanbezug haben und damit die Vorbereitung, Ergänzung und Weiterführung des
Unterrichts unterstützen, als auch zur Vor- und Nachbereitung des Museumsbesuches oder
von Projekten eingesetzt werden können. Lehrer- und Schülerinformationen für die Abteilun-
gen Orient und Nordamerika liegen vor. Die Arbeiten werden durch eine Kontaktperson beim
Oberschulamt koordiniert. [006/89]
Ethik
Gabriele Safai, Monika Graf und Esther Laumann von der Arbeitsgemeinschaft Ethnologie
und Entwicklung an der Universität Freiburg i. Br. haben sich als Thema ihrer 1984 begonnenen
Arbeit Nord-Süd: Dialog der Armen. Eine Herausforderung für die Ethnologie in Theorie und
Praxis ethischer Fragestellungen gewählt (s. auch ZfE 113 [56/88]). In Anbetracht der Wirklich-
keit in den Entwicklungsländern (Armutsspirale) stellt sich für den praktisch arbeitenden Eth-
nologen die Frage nach der Bestimmung seines Handelns. Ziel der Arbeit ist es, anhand einer
empirischen Studie über Bedürfnisermittlung und Entwicklungszwang zu den Grundlagen der
angewandten Ethnologie, dem ethischen Relativismus, zurückzukehren und in Form einer Ge-
genwartsanalyse zweier Industrienationen (Vereinigte Staaten von Nordamerika und Bundes-
republik Deutschland) die Werteinstellungen zu ermitteln und sie im Hinblick auf das ethnolo-
gische Handeln neu zu bestimmen. Hierbei sollen ethnologische Perspektiven und Lösungsan-
sätze aufgezeigt werden. Eine 18monatige Feldforschung von Monika Graf hat in Ecuador
stattgefunden, ebenso sind die Bundesrepublik und die Vereinigten Staaten in Feldforschungen
seit 1981 studiert worden. Im übrigen handelt es sich wegen des vergleichenden Charakters
weitgehend um Literaturarbeit.
Von Gabriele Safai sind zum Projekt folgende Veröffentlichungen erschienen: Sozial- und
Wertesystem der Industrialisierung, 1987; Entwicklungshilfe als Instrument des gelenkten Kul-
turwandels in Lateinamerika. Ethnologische Beiträge zur Entwicklungspolitik, 1987. Außer-
dem sollen rechtzeitig zur Diskussion auf der DGV-Tagung im Oktober 1989 in Marburg wei-
tere Veröffentlichungen fertiggestellt werden. Von Monika Graf liegt die Dissertation Endoge-
ner und gelenkter Kulturwandel in ausgewählten Gemeinden des Hochlandes von Ecuador,
1987, vor. Das Gesamtvorhaben soll noch 1989 abgeschlossen werden. [007/89]
Ethik, Biologie, Tagung
Ein Kolloquium Zur Ethik und Biologie menschlichen Sozialverhaltens wurde vom 6. bis 9. Ok-
tober 1988 von der Evangelischen Akademie Loccum und dem Chicago Center for Religion and
Science of the Lutheran School of Theology at Chicago in den Räumen der Akademie in Loc-
cum veranstaltet. Als deutscher Ethnologe nahm Egon Renner, Berlin, daran teil, der auch den
folgenden Bericht verfaßt hat.
226
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Das Ziel des Kolloquiums wurde von der Leitung der Akademie so charakterisiert: „Die
Veranstaltung verstellt sich als Teil des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie,
Ethik... [und als ein] Pilotprojekt, mit dem Gestaltungsmöglichkeiten erkundet werden sollen
für eine mögliche Reihe deutsch-amerikanischer, interdisziplinärer Diskussionen im Dialog
zwischen Theologie und Naturwissenschaften." Außerdem heißt es: „Muster menschlichen So-
zialverhaltens in ihrer Wahrnehmung und Interpretation sollen... aus der Sicht der Evolutions-
biologie, der Sozialwissenschaften, der philosophischen und der christlichen Ethik untersucht
werden. Zu klären ist, ob und in welcher Weise empirische und normative Vorgaben sich ver-
schränken bei der Entstehung soziokultureller Verhaltensmuster. Im Mittelpunkt stehen dabei
kooperative und kompetitive Verhaltensweisen." Ein weiterer Untertitel des Kolloquiums lau-
tet dementsprechend : „Aspekte der Wahrnehmung, Begründung und Normierung aus der Sicht
von Naturwissenschaften, Philosophie und Theologie."
Hieraus ergibt sich eine Verknüpfung von Fragen der kulturellen und biotischen Verhal-
tensforschung, die insbesondere für die Kultur- und Sozialwissenschaften von ziemlicher Trag-
weite sind. Welche Bedeutung dabei die Ethnologie gewinnen kann, wurde während des Kollo-
quiums von einem amerikanischen Vertreter des Faches demonstriert.
Im Vordergrund des Kolloquiums standen acht große Vorträge, z. T. begleitet von kleineren
Vorträgen, vorgetragen als kommentierende Thesen zur Einleitung der Diskussionen. Am drit-
ten Tag fanden sich sechs Arbeitsgemeinschaften zusammen, die die Ergebnisse der beiden er-
sten Tage unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutierten und im Anschluß in einer gemein-
samen Sitzung darüber berichteten.
Beherrscht wurde das Kolloquium von den kontroversen Standpunkten der Biologen und
Theologen. Dies führte dazu, daß am dritten Tag das Programm geändert und eine zweistündige
Diskussion zwischen den wichtigsten Kontrahenten, dem Anthropologen Vogel, Universität
Göttingen, und dem Theologen Pannenberg, Universität München, stattfand, ohne daß aller-
dings eine Brücke zwischen den Standpunkten geschlagen werden konnte. Frey, ein Theologe
der Universität Bochum, und Hefner, ein Theologe des Chicago Centers, die sich am vierten
Tag in der Abschlußsitzung den Hauptvortrag „Evolutionsbiologie und Ethik - oder: Zum
Verhältnis von Darwin und Kant" teilten, traten, offenbar aufgeschreckt von der Bedrängnis, in
die die Theologie in den Tagen zuvor geraten war, nicht mit ihren vorbereiteten Vorträgen an,
sondern mit kurzfristig entworfenen Thesen, ohne daß es ihnen jedoch gelang, die kontroversen
Positionen zu überwinden.
Wie sahen nun diese Positionen aus, welche unüberwindbaren Gegensätze kamen in ihnen
zum Ausdruck? Die Antwort darauf führt zum thematischen Kern des Kolloquiums.
Das zentrale Thema
Vogel hob in seinem Vortrag „Zur Wechselwirkung von biologischer und kultureller Evolu-
tion" hervor, daß die klassische Antinomie Natur/Soma - Geist/Seele, die den Menschen als
„Homo duplex" und janusköpfigen „Wandler zwischen zwei Welten" kennzeichne, angesichts
der Erkenntnisse der Evolutionsbiologie nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Eine Hu-
manforschung, die daran festhalte, drehe sich im Kreis. Gerade die Tatsache, daß die Kultur of-
fensichtlich im Rahmen der organismischen Evolution habe entstehen und mitwirken können,
sei Mahnung genug, Natur und Kultur nicht in einem strikten Gegensatz zueinander zu begrei-
fen. Es sei unmöglich, die Natur des Menschen auf den Körper und seine Funktionen und damit
auf das Somatische zu beschränken, dem man das Psychische als den höherstehenden, kultur-
schaffenden Geist gegenüberstellen könne, das erstere sozusagen als das biotische Kellerge-
schoß, das letztere als die davon scharf getrennten Obergeschosse, in denen freischöpferisch
Kultur entstehe.
Laufende Forschungen / Allgemeines
227
Ebensowenig könne man die Natur des Menschen auf das Angeborene begrenzen, d. h. auf
seine genetische Ausstattung, seine verhaltensrelevanten Reflexe, Antriebe und Instinkte. Dies
hätten naturwissenschaftliche Forschungen verschiedener Disziplinen gezeigt. Entsprechend
unhaltbar sei die Gegenüberstellung von „biologisch" und „sozio-kulturell" und die Annahme,
Kultur sei etwas von der Vernunft Geplantes, etwas, das der irrational-unbewußten Natur ge-
genüberstehe. Hier gelte der Satz F. A. von Hayeks : „Kultur ist weder natürlich noch künstlich,
weder genetisch noch mit dem Verstände geplant. Sie ist eine Tradition erlernter Regeln des Ver-
haltens, die niemals erfunden worden sind und deren Zweck das handelnde Individuum ge-
wöhnlich nicht versteht." Kultur als „verhaltenssteuernde Lern-Tradition" verstanden, könne
nicht auf den Menschen beschränkt sein, sondern sei unter den höheren Wirbeltieren in vielfälti-
ger Weise verbreitet. Dieses reduktionistische Verständnis von Kultur erkläre zwar nicht das
Phänomen, nehme aber durch die Betonung von Informationsgewinnung und -weitergäbe di-
rekt Bezug auf zentrale Überlegungen der Evolutionsbiologie.
Gemeinsam sei der Evolution des Bios und der Entwicklung der Kultur aus dieser Sicht, daß
sie von der Aneignung, der Aufbewahrung, der Erweiterung und der selektiven Weitergabe von
Information abhängig seien. Mit Bezug auf den Bios nennt Vogel dies die biogenetische, mit Be-
zug auf die Kultur die tradigenetische Informationsübertragung, beide primärer Bestandteil der
biotischen Evolution. Daraus folge, daß die Entwicklung von Kultur nicht aus der generellen
Entwicklung des Lebens herausfallen könne. Es liege allerdings in den prinzipiellen Unterschie-
den dieser Informationssysteme begründet, welches der beiden Entwicklungsprinzipien unter
den jeweils gegebenen Bedingungen von der optimierenden natürlichen Selektion begünstigt
werden. Das erste der Prinzipien hinge an der langen Leine der biotischen Fitneßmaximierung
und habe deshalb eine eher konservative Rolle, das zweite bewege sich an der kurzen Leine der
kulturellen Fitneßmöglichkeiten und übernehme deshalb den dynamischen Part. Unübersehbar
sei, daß die biogenetische und tradigenetische Evolution in einer wechselseitigen Verflechtung
zueinander stünden. Bei der Fitneßsteigerung würden dementsprechend beide Systeme zusam-
menarbeiten. - Von der Bedeutung für den Ethnologen ist dabei, dies soll nachfolgend erörtert
werden, wie Vogel ethnographische Daten einsetzt und interpretiert.
Diesem Versuch, die dualistische Aufspaltung des Menschen über die moderne Evolutions-
theorie aufzuheben, setzt Pannenberg in seinem Vortrag „Humanbiologie - Religion - Theolo-
gie: Ontologische und wissenschaftstheologische Prämissen ihrer Verknüpfung" eine Sicht ent-
gegen, die den Menschen als den aus dem Geist des christlichen Gottes geborenen Höhepunkt
des Lebens ansieht. Gegenüber anderen Lebenwesen sei die Eigenart des Menschen - in jüdisch-
christlicher Tradition - durch sein Verhältnis zu Gott konstituiert, erklärt er. Seine „Gotteben-
bildlichkeit" gäbe ihm eine Sonderstellung in der Schöpfung, obwohl er dadurch auch auf an-
dere Geschöpfe bezogen sei, denen gegenüber er die Gegenwart des Schöpfers in seiner Schöp-
fung repräsentiere. Hieraus begründe sich auch die Herrschaft des Menschen über die übrigen
irdischen Wesen. Sie sei ihm, dem Träger der Herrschaft Gottes, von diesem zugesprochen.
Seine Herrschaft sei deshalb nicht mit Willkür behaftet, sondern an den göttlichen Schöpfungs-
willen gebunden.
Obwohl der Bibel, so Pannenberg weiter, die Schöpfung des Menschen nicht durch die Tier-
welt als vermittelt gelte und der Evolutionsgedanke ihr deshalb fremd sein müsse, könne dies
nicht heißen, daß letzterer unvereinbar mit der biblischen Schöpfungslehre sei. Dies träfe nur
Zu, wenn die Evolutionsforschung das Besondere des Menschen durch Reduktion auf „vor-
menschliches" Leben einzuebnen versuche. Könne man hingegen die Evolution als einen Pro-
zeß verstehen, in dem unableitbar fortwährend Neues entstehe, so sei sie als auf den Menschen
228
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
hin gerichtet zu begreifen und deshalb mit einer Theologie der Heilsgeschichte vereinbar. Da
der Mensch, wie aus biblisch-christlicher Sicht angenommen werde, von seiner Natur und da-
mit von der Schöpfung her zur Gemeinschaft mit Gott bestimmt sei, müsse dies auch die natur-
wissenschaftliche Humanforschung so oder so entdecken.
Man könne sich auf jeden Fall nicht damit zufriedengeben, daß die Humanbiologie nur nach
der Eigenart des Menschen im Verhältnis zu den ihm verwandten höheren Tieren frage und das
Verhältnis zu Gott der Theologie überlasse. Andernfalls müsse man davon ausgehen, daß das
Verhältnis zu Gott für die Natur des Menschen akzidentiell sei, so wie es vor allem von der radi-
kalen Religionskritik verstanden werde. Säkulare Wissenschaft dürfe die religiöse Frage nicht
ausblenden, wenn sie den Anspruch erhebe, sich mit der Eigenart des Menschen im Unterschied
zu anderen Lebewesen zu befassen. Geschehe dies doch, dann könne dies keine neutrale Einstel-
lung gegenüber dem Wahrheitsanspruch religiöser Uberlieferung sein, sondern suche offenbar
nach einer mit ihr konkurrierenden Antwort vor allem auf die Frage nach den konstitutiven Ele-
menten der menschlichen Eigenart. Neutralität bedeute dann nichts anderes, als den Wahrheits-
anspruch der Religion nicht mehr ernst nehmen, während sich der Atheist zumindest noch da-
mit auseinandersetze. Als besonders wichtig sieht Pannenberg an, ob sich Biologie und Theolo-
gie darüber verständigen könnten, was Leben ist. Leben sei aus theologischer Sicht mehr als die
Funktion des lebenden Organismus, nämlich ein Teil der Wirkung des göttlichen Geistes und
als solches Bestandteil eines Kraftfeldes, in dem sich der Organismus „in eine ihn übersteigende
Dynamik hineingerissen findet". Auch im Prozeß der Evolution sei dies zum Ausdruck ge-
bracht.
Die Unvereinbarkeit der beiden Positionen liegt somit auf der Hand. Auf der einen Seite die
naturwissenschaftlich kaum bestreitbare Position, daß der Mensch ohne Sonderstellung Teil der
Evolution ist, auch in der kulturellen Ausprägung seiner Existenz. Auf der anderen Seite der an
eine Weltanschauung gebundene Versuch, diese Sonderstellung um den Preis der teleologischen
Auslegung der Evolution auch weiterhin zu behaupten. Diese polaren Standpunkte sind sicher
nicht neu. Dazwischen gibt es zudem viele Schattierungen, ausgedrückt in einer großen Zahl
disziplinärer und interdisziplinärer Forschungen. Jedoch lassen sich diese Standpunkte kaum
deutlicher akzentuieren als in dem Gegensatz zwischen Biologie und Theologie, wie in Loccum
nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Pannenberg und Vogel gezeigt hat. Was der erste
zentral für die Stellung des Menschen und auch für die Humanforschung ansieht, betrachtet der
andere - zumindest für wissenschaftliche Fragen - als akzidentiell und überflüssig, nämlich je-
den Bezug zu Gott und zur Religion. Vogel provokativ: Gott habe keinen Stellenwert in der
Evolution; ihn einzufügen, sei Weltanschauung, gleich von welcher Religion her. Was die Theo-
logie für wahr halte, sei aus der Sicht der Biologie bedeutungslos, allenfalls ein bunter Luftballon
irgendwo am Rande des Geschehens.
Die Mitwirkung der Ethnologie
Angesichts dieser polaren Gegensätze erhebt sich hier die Frage, wo der Standort der Ethnolo-
gie im Rahmen einer integrativen Humanforschung zu suchen ist. In seiner modernen Ausprä-
gung hat sich das Fach längst von dem traditionellen Verständnis seines Untersuchungsgegen-
standes gelöst und ist von seiner intersozietären Sichtweise her aufgefordert, auch die biotischen
Grundlagen des Kulturellen zu hinterfragen.
Repräsentativ ciafür war der Vortrag „Longevity and Biocultural Evolution" von Solomon
Katz, University of Pennsylvania, Philadelphia. Dann ging es um die Frage, welche evolutions-
abhängigen Faktoren die Langlebigkeit des Menschen beeinflussen. In ihr wirken offensichtlich
biotische und kulturelle Faktoren und damit die beiden bereits mit Bezug auf Vogel erwähnten
Laufende Forschungen / Allgemeines
229
Informationssysteme zusammen, gegründet auf die, wie Katz sagt, „evolving characteristics of
the brain as our most important adaptation". Für die Übertragung von Informationen seien
dementsprechend zwei spezifische Momente von Bedeutung, erstens „a very long period of
child growth and development in order that the human neocortex can accumulate sufficient in-
formation" und zweitens „a very long period of post reproductive longevity... in female so that
this information can be transferred from one generation to the next..." Im Hinblick auf die phy-
logenetische Situation ergebe sich, daß der Mensch von allen Primaten die längste Wachstums-
und Reifephase besitze und daß die Frau - dementsprechend - am längsten über ihre Reproduk-
tionsphase hinaus lebe.
Katz gründet seine Hypothese der evolutionären Ursachen menschlicher Langlebligkeit auf
drei Sachverhalte, die er eingehend diskutiert: erstens „the possible role of the X chromosome in
this evolutionary process", zweitens „the differential effect of kinship systems in the inheritance
of X-linked traits" und drittens „the roles of adrenal androgenes in human maturation which fits
a model of X-linked inheritance of specific genes for longevity". Das jeweils unterschiedliche
Vorkommen des X-Chromosoms in beiden Geschlechtern beeinflusse ihre Lebenserwartungen
entsprechend unterschiedlich und wirke, mit nicht-biotischen Fakoren gekoppelt, deshalb auch
maßgeblich in die Gesellschaft hinein, vorrangig in Verbindung mit Sozialorganisation und Ver-
wandtschaftssystem. So komme es, um nur zwei Beispiele zu nennen, darauf an, ob eine Gesell-
schaft patrilinear oder matrilinear sei und ob Kreuzvetternheirat eine Rolle spiele oder nicht.
Wenn man davon auszugehen habe, daß die weibliche Form des X-Chromosoms nicht über die
Tochter, sondern über den Sohn an weibliche Nachkommen weitergegeben werde, dann werde
deutlich, welche Bedeutung Verwandtschaftssysteme bei der Verstärkung von Langlebigkeit er-
langen könnten. Wie mit Bezug auf den dritten Faktor, die „adrenal androgenes", angedeutet
wurde, wirken in diesem Prozeß weitere wichtige biotische Faktoren mit.
Die Ausführungen von Katz zeigen unübersehbar, daß der anspruchsvolle Umgang mit eth-
nographischen Daten ihre faktische Substanz und ihren theoretischen Stellenwert verändert. So
erhalten in diesem Fall Verwandtschaftsysteme durch den Bezug auf biotische Faktoren, über
ihre kulturwissenschaftliche Interpretation hinaus, eine neue Qualität. Drei weitere Beispiele
ethnographischer und ein Beispiel frühgeschichtlicher Daten, die der Anthropologe Vogel ver-
wendete, machen dies ebenfalls deutlich: 1. das Konsumationstabu der Yam-Frucht bei west-
afrikanischen Völkern während der Regenzeit, eine Regel, mit der - unbewußt - ein biotischer
Zweck tradigenetisch maskiert werde; 2. die Entstehung des Nord-Süd-Gefälles der Frisch-
milchverträglichkeit bei Erwachsenen, hervorgerufen, wie es scheine, durch die Domestikation
von Milch produzierenden Haustieren vor ca. 9000 Jahren; 3. der von den Buschleuten der Ka-
lahari erwünschte vierjährige Geburtenabstand, der durch Stillgewohnheiten und sexuelle Ta-
bus ihrer Frauen herbeigeführt wird und sich aus Gründen der biotischen Selbsterhaltung der
Buschmanngesellschaft als optimale Lösung erweise; 4. die Regulierung von materiellem Erbe,
Status und Würde bei den Huronen über die Mutterschaft der Vaterschwester als Grundlage ei-
ner biotischen Fitneßmaximierung, die die Folgen einer durch Promiskuität bedingten Vater-
schaftsunsicherheit umgehe, ohne daß dies mit den kulturellen Regeln explizit angestrebt
werde.
Aus solchen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten ergebe sich beispielhaft, so Vogel,
»daß Natur und Kultur, biogenetische und tradigenetische Entwicklungsprozesse sich in der
Menschheitsgeschichte immer wieder intensiv verflochten haben und durchdringen." Auch auf
die Ethnologie muß, wie die Handhabung ihrer empirischen Daten zeigt, solche Verflechtung
und Durchdringung Auswirkungen haben, wenn das Fach an der Entwicklung einer integrad-
230
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
ven Humanforschung teilhaben will. Es bedeutet zunächst einmal eine Handhabung der empiri-
schen Daten, die in der älteren Kulturforschung nicht möglich war, weil sie Kultur als ein empi-
risches Problem sui generis verstand, für das der biotische Teil des Menschen ohne Bedeutung
war. Will die Ethnologie ein neues und besseres Verständnis von Kultur gewinnen, so kann sie
nicht umhin, die biotische Natur des Menschen als einen Teil der Wirklichkeit zu betrachten,
mit der sie sich befaßt. Dann erhält auch das ethnographische Faktum eine neue Qualität und
wird zum Bestandteil des anderen Wirklichkeitsverständnisses. Wie für andere empirische Dis-
ziplinen gilt notwendigerweise für die Ethnologie, daß Theorie und Methode das Faktum ge-
wichten und dadurch ein Phänomen erst zu einem wissenschaftlichen Faktum wird. Fortschritt
scheint demnach auch hier nichts anderes zu bedeuten als in den Naturwissenschaften. Der
Wandel in der Ethnologie kann jedoch nicht allein mit der Neuinterpretation empirischer Daten
verbunden sein, sondern muß sich unvermeidbar auf die Datenermittlung selbst erstrecken. Erst
dann scheint eine volle Integration in die moderne Entwicklung der Humanforschung möglich
zu sein.
Die weiteren Vorträge
Sie befassen sich unter verschiedenen fachlichen Gesichtspunkten mit dem Thema des Kollo-
quiums und sind mehr oder weniger stark darauf ausgerichtet, der interdisziplinären Auseinan-
dersetzung Rechnung zu tragen. Dazu nur ein stichwortartiger Uberblick:
Langdon Gilkey (Theologe, Divinity School, University of Chicago): „Kooperation und
Wettbewerb: Zu Notwendigkeit und Perspektiven des interdisziplinären Dialogs über Ethik
und Biologie menschlichen Sozialverhaltens. " Am Beispiel eines vor allem mit Angelsachsen be-
legten japanischen Internierungslagers des Zweiten Weltkrieges wurde in diesem Vortrag ge-
zeigt, in welcher Weise der Kampf ums physische Überleben, die Orientierung an ethischen
Maßstäben und der Drang nach einer metaphysischen Erklärung voneinander abhängen und
aufeinander wirken und welche Bedeutung dies für eine integrierte Erforschung von Bios, Ethik
und Religion hat.
Rainer Hegselmann (Philosoph, Privatdozent, Essen): „Wie weit reicht eine Klugheitsmo-
ral? oder: Zur strategischen Analyse und spieltheoretischen Modellierung von Moral". Mit die-
sem Vortrag wurde der Versuch unternommen, das Motivationsproblem der Moral als eine viel-
schichtige philosophische Fragestellung herauszuarbeiten, deren spieltheoretische Analyse
Licht auf die Komplexität des moralischen Dilemmas des Menschen und auf die ungelösten hu-
manwissenschaftlichen Probleme wirft.
Kommentierende Thesen dazu aus der Sicht des Biologen lieferte Lindon Eaves (Humange-
netiker, Medical College of Virginia, Virginia Commonwealth University): Moral und Motiva-
tion seien eng an das Biotische gebunden, das Ganze zusammengefaßt in einem seiner Kern-
sätze: "You ar a packet of genes, conditioned by education, environment and religion!"
Werner Becker (Philosoph, Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft,
Universität Gießen) „Fernethische Illusion und die Realität. " Thema dieses Vortrages war der
Widerspruch zwischen den philosophischen Postulaten der Moral und der faktisch gültigen
Moral und die Auswirkungen dieses Widerspruchs auf den Umgang der Menschen miteinander,
vor allem in Zusammenhang mit dem Gebrauch von Macht.
Michael Ruse (Wissenschaftsphilosoph, Department of History and Philosophy, University
of Guelph/Ontario) „Is there Biological Grounding for Ethics?" Der Vortragende bemühte sich
in seinen Ausführungen, die schwierige wissenschaftliche Beziehung zwischen Bios und Ethik,
zwischen Evolution und historischem Bewußtsein als ein Problem darzustellen, das sich kaum
von einem ethischen Standpunkt her lösen läßt.
Laufende Forschungen / Allgemeines
231
In den sechs Arbeitsgemeinschaften wurden - jeweils unter der Leitung von mehreren Wis-
senschaftlern - folgende Themen behandelt:
- AG 1 : Biologische Evolution und Erkenntnisfähigkeit (Eve-Maria Engels, Philosophin, Uni-
versität Bochum; Wolfgang Nethöfel, Theologe, Universität Kiel; Karl Peters, Philosoph,
Rollins College, Florida);
- AG 2: Wissenschaftshistorische Untersuchungen zum Einfluß biologisch-anthropologischer
Vorstellungen auf Orientierungsmuster in Politik und Gesellschaft (Udo Krolzik (Fach- und
Institutszuordnung unbekannt), Hamburg; Hans-Günther Zmarzlik, Historiker, Universi-
tät Freiburg);
- AG 3: Theorieansätze für eine Verknüpfung von biologischer und kultureller Evolution (Jür-
gen Hühner, Theologe, Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft, Heidel-
berg; Volker Sommer, Anthropologe, Universität Göttingen);
- AG 4: Zur Epistemologie deskriptiver und präskriptiver Wissens-Systeme, zur Unterschei-
dung zwischen Sein- und Sollen-Sätzen, zum naturalistischen Fehlschluß (Svend Andersen,
Theologe, Aarhus Universitet; Franz M. Wuketits (s. o.));
- AG 5: Evolution, Freiheit, Willensfreiheit (Helmut Helsper, Ministerialrat, Bundesministe-
rium der Finanzen, Bundesfinanzakademie, Siegburg; Viggo Mortensen, Theologe, Aarhus
Universitet; Jeffrey Wicken (s. o.));
- AG 6: Evolutionäres Verständnis des Menschen und das Problem des Bösen (Robert J. Rus-
sel, Theologe, The Center for Theology and Science, Berkeley, California; Christoph Wasser-
mann, Theologe, Universität Genf).
Schlußhemerkungen und Ausblick
Der Umfang des Angebotes zum Thema des Kolloquiums zeigt gleichzeitig Chancen und Pro-
bleme der humanwissenschaftlichen Forschung. Die Unterschiedlichkeit der disziplinären An-
sätze macht deutlich, wie differenziert und vielschichtig die Fragestellungen zu allen Aspekten
sind und wie schwierig es offenbar deshalb ist, sich zu verständigen und fachübergreifend vor-
zugehen. Es war zu erkennen, daß man sich in den Kernproblemen meist aus dem Weg ging, um
direkte Konfrontationen zu vermeiden. Selbst dort, wo die Positionen sich gegenseitig aufzuhe-
ben scheinen, insbesondere in den Gegensätzen zwischen den Biologen und Theologen, wurde
nur einmal die auch an Personen gebundene Unüberbrückbarkeit der Gegensätze in harten
Worten sichtbar, als der Anthropologe Vogel erklärte, er habe in der Diskussion mit dem Theo-
logen Pannenberg Striptease begangen. Auch Frey, ein anderer Theologe, so Vogel weiter, habe
in seinem Vortrag das Wesentliche des biologischen Standpunktes nicht nachvollzogen. Hier
müsse offenbar eine deutliche Trennung zwischen Wissenschaft und Weltanschauung gemacht
werden. Für die Misere, die in den Verständnisschwierigkeiten zum Ausdruck käme, sei nicht
die Wissenschaft, sondern Weltanschauung verantwortlich. Die Natur moralisiere nicht und
werde auch nicht durch Moral legitimiert. Das Zurück zu den Anfängen, das die Theologen of-
fenbar wollten, sei als Zurück zur Natur ein bloßes Scheingefecht; im Grunde ginge es ihnen nur
darum, die Ideologie auf den Punkt zu bringen.
Während die Auffassungen der Theologen kaum eine Alternative zu einer naturwissen-
schaftlichen Forschung sein können, wie sie u. a. Vogel vertritt, deutete sich in dem kompro-
mißlosen Denken des Anthropologen eine Haltung an, die bereits Jacques Monod als Superexi-
stentialismus vorgeworfen wurde. Es ist dies eine Sichtweise, die alles über strikte wissenschaft-
liche Erkenntnis Hinausgehende radikal verwirft und diese Erkenntnis über die Forschung hin-
aus zur beherrschenden Lebensideologie macht. Eine ganz andere Einstellung dazu scheinen
hingegen die Angelsachsen zu besitzen. Eaves z. B., der in seinem Vortrag und in den Diskus-
232
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
sionen dezidiert die Überlegenheit der naturwissenschaftlichen Humanforschung gegenüber
der kulturwissenschaftlichen vertrat, hielt zusammen mit einem deutschen Pastor eine der Mor-
genandachten während des Kolloquiums, zu denen andere Naturwissenschaftler nicht einmal
erschienen.
Wie viele fachübergreifende Tagungen zeigte das Loccumer Kolloquium nur allzu deutlich,
daß die Humanwissenschaften im Umbruch begriffen sind. Zumindest ein Teil von ihnen steht
deshalb vor der wohl nicht einfachen Entscheidung, den hinderlichen Teil ihrer Traditionen zu
überwinden, mit dem sie schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges leben. Die Ursachen da-
für liegen offensichtlich in erster Linie im Fortschritt der Naturwissenschaften, die, zusammen
mit der Technik, die innere und äußere Welt des Menschen seitdem grundlegend verändert ha-
ben. Nicht nur die Theologie muß dem mehr als zuvor Rechnung tragen. Alle Kulturwissen-
schaften sind davon betroffen. In welchem Maß dies auch für die Ethnologie gilt, zeigt der Vor-
trag von Katz. Darin artikuliert sich eine fachübergreifende Position, die sich aus der Tradition
der amerikanischen Departments of Anthropology heraus entwickelt hat und die, dem Fort-
schritt der Humanwissenschaften folgend, seit langem immer wieder neue Formen der inte-
grierten Humanforschung sucht. Auf diese Weise wird das Kulturelle, mit dem sich die Ethno-
logie befaßt, in absehbarer Zeit unvermeidbar ein neues Gesicht erhalten. Innerhalb der Hu-
manwissenschaften wird das Fach deshalb in absehbarer Zeit seinen Standort neu bestimmen
müssen. [008/89]
Kognitive Anthropologie
Die Max-Planck-Gesellschaft in München will von 1989 an für acht Jahre in Berlin eine Projekt-
gruppe für Kognitive Anthropologie einrichten. Sie soll vom Linguisten Stephen C. Levinson
von der Universität Cambridge (England) und vom Psychologen Dietrich Dörner von der Uni-
versität Bamberg geleitet werden. Bis zum Endausbau 1991 sollen weitere acht Wissenschaftler
eingestellt werden. Untersucht werden sollen die Organisation von Wissenssystemen und die
sozialen sowie kulturellen Abhängigkeiten menschlichen Wissens, Handelns und Denkens. Da-
bei sollen vor allem die Grenzen der biologischen Determiniertheit der Kognition exploriert
werden. Als inhaltliche Forschungsfelder sind zunächst Raumvorstellungen, Zahlbegriffe sowie
das Planen und Entscheiden vorgesehen. Hierzu sollen Feldforschungen in nicht-westlichen
Gesellschaften, nämlich in Papua Neuguinea, in Yukatan (Mexiko) und bei Tamilen (Südindien)
durchgeführt werden. Die Projektgruppe soll mit Fachbereichen und wissenschaftlichen Ein-
richtungen der Freien Universität eng zusammenarbeiten. Finanziert wird sie aus Mitteln der
Max-Planck-Gesellschaft und des Senats von Berlin. [009/89]
Ethologie
An der Forschungsstelle für Humanethologie der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs werden
unter Leitung von Irenaus Eihl-Eihesfeldt Feldforschungen geplant und durchgeführt, die bei
wenig zivilisierten Gruppen in Afrika (Himba), in Ozeanien (Eipo) und in Amerika (Yano-
namö) menschliches Sozialverhalten filmisch dokumentieren sollen. Ein weiterer Schwerpunkt
liegt bei Sprachstudien (Eipo und Trobriander). Die Forschungen geschehen zum Teil im Ver-
bund mit anderen Institutionen (Museum für Völkerkunde der Stiftung Preußischer Kulturbe-
Laufende Forschungen / Allgemeines
233
sitz in Berlin) und sind meist Langzeitstudien. Ausführlicher wird in den regionalen Abschnit-
ten über die laufenden Feldforschungsprojekte berichtet. [010/89]
Sexualität, Theorie
Andreas Bruck vom Institut für Völkerkunde der Universität Göttingen arbeitet seit 1985 an ei-
ner Dissertation über Merkmale und Bewältigungsmöglichkeiten sexueller Eifersucht: Eine glo-
bal kulturenvergleichende und systematisch begründende Theoriebildung in praktischer Absicht
(s. auch ZfE 111 [51/86]). Auslöser ist das Problem der sexuellen Eifersucht beim Menschen. Als
primäre Fragen stellen sich: Was ist sexuelle Eifersucht, und wie kann sie mittels Kultur scha-
denminimierend überwunden oder reduziert werden? Als Ziel sollen eine kulturanthropologi-
sche Theorie der sexuellen Eifersucht, eine ethnologische Theorie der kulturellen Eifersuchts-
bewältigung und (themenunabhängig) eine exemplarische Anleitung für erzeugendes Untersu-
chen erarbeitet werden. Als theoretische Basis dient u. a. der wissenschaftliche Materialismus
und Realismus von Bunge. Herangegangen wird an das Thema global kulturenvergleichend,
konstruktiv, sachbezogen, problemgeleitet, erzeugend/begründend. Vorgegangen wird im
Form-Fall-Dialog. Die Arbeit wurde von Annette Bruck finanziert. Sie ist nunmehr abge-
schlossen und wird 1990 als Buch erscheinen. [011/89]
Handlungstheorie
Andreas Bruck führt außer dem Dissertationsvorhaben (s. ZfE 114 [11/89] und ZfE 111 [51/86])
seit 1987 eine freie Arbeit über Verantwortbare pragmatische Forschung: Eine handlungsorien-
tierte Forschungstheorie für die Kulturwissenschaften durch. Auslöser ist das Problem der Ver-
antwortungslosigkeit (Irrelevanz bis Schädlichkeit) kulturanthropologischer Forschung. The-
matisiert werden: Kontext (Fundierung), Interesse (Motivation), Ethik (Normierung), Thema-
tik (Gegenstand, Fragen, Ziele), Ontik (Bau, Beschaffenheit), Epistemik (Erkenntnisprobleme
und -lösungen), Methodik (Verfahren) und Programm (Anleitung) verantwortbaren pragmati-
schen Forschens. Ziel ist eine umfassende, begründete und systematische Forschungstheorie als
allgemeine Grundlage und Anleitung für praxisorientierte und/oder praktische kulturanthro-
pologische Untersuchungen. Basis ist u. a. der wissenschaftliche Materialismus und Realismus
(Bunge). Die Herangehensweise ist konstruktiv, sachbezogen, problemgeleitet, erzeugend/be-
gründend. Es wird im Form-Fall-Dialog eine Theoriebildung vorgenommen. Wenn eine
Fremdfinanzierung möglich ist, wird versucht, ein Expertensystem zu erstellen. Ein Ende des
Vorhabens ist zur Zeit nicht abzusehen.
Die Arbeit wird bisher von Annette Bruck finanziert. Vorträge wurden auf den DGV-Ta-
gungen in Köln (1987) und Marburg (1989) und auf der Tagung des Instituts für Ökokologie
und angewandte Ethnologie in Mönchengladbach (1988) gehalten. Verschiedene Texte/Ent-
würfe sind beim Verfasser erhältlich; ein Buch zum Thema ist geplant. [012/89],
234
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Verwandtschaft, Sozialer Wandel, Evolution
Andre Gingrich, Siegfried Haas, Sylvia Haas und Gabriele Paleczek (Herausgeber) vom Institut
für Völkerkunde der Universität Wien bereiten den Sammelband Kinship, Social Change and
Evolution. Essays in Honour ofW. Dostal für die Veröffentlichung im Herbst 1989 vor. Er ent-
hält Beiträge von H. Ciaessen, W. Dostal, Maurice Godelier, Jack Goody, V. Kaho, Erhard
Schlesier, D. R. Wernhart u. a. und wird als Band 5 der Wiener Beiträge zur Ethnologie und
Anthropologie erscheinen. [013/89]
Nomadismus, Handlungsforschung
Bernt Glatzer vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg arbeitet an einer Habilitations-
schrift über Nomadisation — Soziale Mobilität zwischen Bauern- und Nomadentum auf hand-
lungs- und prozeßanalytischer Grundlage (s. auch ZfE 113 [38/88]). Die Arbeit stellt den Ver-
such dar, Nomadismus und nomadische Organisationsformen durch die Darstellung und Ana-
lyse von sozialen Handlungen und Prozessen im Grenz- und Ubergangsbereich von Bauern-
und Nomadentum zu verstehen. Empirische Grundlage sind seine eigenen Feldforschungen
von 1970-77 bei paschtunischen Nomaden Westafghanistans, die mit Daten aus der Literatur
über Afrika und andere Gebiete Asiens verglichen werden. Die Arbeit soll 1989 abgeschlossen
werden. Das Vorhaben wurde von der Heimatinstitution und der Deutschen Forschungsge-
meinschaft finanziell gefördert.
Im Druck befinden sich folgende Publikationen: B. Glatzerund U. Siebert, Ethnic Relations
under Stress: Punjabis, Pashtuns, and Afghan Refugees, in D. Bernstorff und D. Braun (Hg.),
Political Transition in South Asia. South Asian Studies, New Dehli: Manohar, 1989; B. Glatzer,
The Durrani Tent, in: P. Andrews (Hg.), Tents in the Middle East. TAVO-Beiheft, Reihe B,
Wiesbaden, Reichert Verlag; B. Glatzer, Pastoral Territoriality in West Afghanistan: An Orga-
nization of Flexibility, in: A. Rao und M. J. Casimir (Hg.), Territoriality Among Spacially Mo-
bile Populations. [014/89]
Migration
Im Auftrag der Akademischen Kommission der Universität Bern erforscht eine Arbeitsgruppe
von sieben Mitarbeitern unter der Leitung von Rupert Moser Ursachen und Wirkungen von
Einwanderungsbewegungen aus der Dritten Welt. Das Projekt ist interdisziplinär konzipiert.
Vertreten sind außer der Ethnologie Rechtswissenschaft, Politologie, Zeitgeschichte, Soziolo-
gie, Wirtschaftswissenschaft und Ethik. Zunächst wird eine Identifizierung und Bestandsauf-
nahme von Forschungslücken angestrebt, um Fragestellungen, Konzepte und Methoden für
dringende Einzelstudien zu entwickeln, Erhebungen zu planen und der Verwaltung Grundla-
gendaten zu liefern. [015/89]
Laufende Forschungen / Allgemeines
235
Landnutzung und Staatskontrolle, Verträge
Hugh Beach vom Centre for Arctic Cultural Research in Umeâ, Schweden, arbeitet über Post-
settlement native land management and its social effects (comparison of different types of native
rights legislation). Das Projekt soll sozioökonomischen Wandel in traditionellen Eingeborenen-
gruppen im Nachklang jüngst erfolgter Einigungen mit den Nationalstaaten über Landbesitz
und Landnutzung untersuchen. Dabei sollen die Zusammenhänge zwischen dem beschriebenen
Wandel und den vertraglichen Regelungen herausgearbeitet werden. Als Grundlage dienen frü-
here von Beach erarbeitete Muster zu ethnischen und traditionellen Aspekten und solchen der
Inbesitznahme. Die Grundannahme ist, daß bei solchen Verträgen nicht nur ein Rahmen gesetzt
wird, innerhalb dessen Eingeborene sich frei entfalten können, sondern daß die Verträge einige
grundlegende Bereiche der Entwicklung der betroffenen Eingeborenengesellschaften beeinflus-
sen: Die Substanz von Kultur und Gesellschaft und deren Wirkungsbereich. Diese Zusammen-
hänge können jedoch zu radikal verschiedenen Konsequenzen in verschiedenen Kulturen füh-
ren; vergleichende Untersuchungen sind daher angezeigt.
Lokale Gruppen in Schweden und Kanada wurden für Feldforschungen ausgewählt, wobei
die Art der Verträge ausschlaggebend war für die Auswahl. In Schweden handelt es sich um den
Rentier-Vertrag für die Samen von 1971 (s. auch ZfE 113 [10/88]), in Kanada um den Vertrag für
die Inuit des Mackenzie-Deltas. Das Vorhaben wird vom Schwedischen Forschungsrat für Hu-
man- und Sozialwissenschaften gefördert. Ein Vortrag wurde im Dezember 1988 auf der Konfe-
renz für die Koordination der Forschung in arktischen und nordischen Ländern in Leningrad
(UdSSR) gehalten. [016/89]
Wirtschaft, Gesellschaft
Seit 1987 wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine interdisziplinäre Arbeits-
gruppe Einbettung von Wirtschaft gefördert. An ihr sind Archäologen, Kulturhistoriker, Ge-
schichtswissenschaftler, Philologen, Ethnologen und Soziologen aus Paris und Berlin beteiligt.
Die Leitung und Koordination nehmen auf deutscher Seite Johannes Renger (Altorientalisches
Seminar der Freien Universität Berlin) und Georg Elwert (Institut für Ethnologie der Freien
Universität Berlin) wahr. Sonstige regelmäßige Teilnehmer sind Maurice Aymard (Ecole des
Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris) Mireille Corhier (Centre National de la Recherche
Scientifique, Paris), Roland Etienne (Centre National de la Recherche Scientifique, Paris), Jür-
gen Gölte (Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin), Jean-Pierre Grégoire (Centre
National de la Recherche Scientifique, Paris), Baher Johansen (Institut für Islamwissenschaften
der Freien Universität Berlin), Martin Kohli (Institut für Soziologie der Freien Universität Ber-
lin), Birgit Müller (Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin), Jean-Pierre Olivier
de Sardan (Centre Nationale de la Recherche Scientifique, Marseille), Berthold Riese (früher:
Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, jetzt: Seminar für Völkerkunde der Uni-
versität Bonn), Emmanuel Terray (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris) und
Pierre Etienne Will (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris). In insgesamt sechs
mehrtägigen Kolloquien werden Wirtschaftssysteme, wirtschaftliches Verhalten und die Ge-
sellschaftsstrukturen verschiedener Gesellschaften aus der ganzen Welt und der ganzen Tiefe
Menschlicher Geschichte unter einheitlichen Fragestellungen dargestellt und vergleichend dis-
kutiert. Das Frühjahrskolloquium 1989 in Paris stand unter dem Thema Prestigeökonomie.
[017/89]
236
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Wirtschaft, Geschlechterrollen, Frauen
Das Forschungsprojekt Frauen in der Dritten Welt. Städtische Erwerbsarbeit und Erwerbsper-
spektiven, an dem Renate Rott als Leiterin und Gabriele Zdunnek und Marianne Braig als Mit-
arbeiterinnen (alle vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin) beteiligt waren, ist
abgeschlossen. Am Beispiel der Städte Guadalajara (Mexiko) und Ibadan (Nigeria) wurde die
Integration von Frauen in städtische Arbeitsmärkte und ihre Erwerbsperspektiven untersucht.
Wenn auch die Grundmuster der Verwertung von Frauenarbeit in beiden Fällen vergleich-
bare Strukturen aufweisen, sind doch Unterschiede zu beobachten, die in unterschiedlichen hi-
storischen, ökonomischen, ethnischen und kulturellen Ausgangsbedingungen liegen. Während
sich in Mexiko Unterschiede in der weiblichen Erwerbsbeteiligung im wesentlichen auf das
Stadt-Land-Gefälle reduzieren lassen, zeigen sich in Nigeria extreme regionale Variationen. In
den nördlichen Bundesstaaten mit überwiegend Haussa- und Fulani-Bevölkerung beträgt die
Frauenerwerbsquote zwei bis sechs Prozent, in den südlichen Bundesstaaten mit überwiegend
Yoruba-Bevölkerung 65 bis 85 Prozent. In einigen der südlichen Regionen ist sie sogar höher als
die der Männer.
Den Markthändlerinnen der Yoruba hat Gabriele Zdunnek eine ausführliche Monographie
gewidmet. Zwar haben Frauen während der Kolonialzeit polititsche Positionen verloren und
sind auch im sich entwickelnden modernen Sektor der Wirtschaft Männern gegenüber im
Nachteil. In der lokalen Politik konnten Frauen jedoch ihre Interessen zum Teil erfolgreich
durchsetzen. Sie dominieren heute noch den Binnenhandel. Ein komplexes Vermarktungssy-
stem bietet ihnen Arbeitsmöglichkeiten. Händlerinnen-Assoziationen sind multifunktionale
Interessengruppen, die wichtige Funktionen in der alltäglichen Organisation des Handels erfül-
len und ihren Mitgliedern eine Reihe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorteile bieten.
Wesentliche Unterschiede zwischen Nigeria und Mexiko sind auch im altersspezifischen Er-
werbsverhalten zu beobachten. Im Vergleich zu Mexiko und zu vielen Industrieländern besteht
eine zentrale Differenz im Erwerbsverhalten nigerianischer Frauen darin, daß ihre Erwerbs-
quote mit zunehmendem Alter beständig anwächst. Auch nach der Heirat oder Geburt des er-
sten Kindes verringert sie sich nicht und hat ihren höchsten Stand in der Altersgruppe von 46 bis
50 Jahren. Dagegen ist in Mexiko die Frauenerwerbsbeteiligung am höchsten in den Altersgrup-
pen bis 24 Jahre, d. h. vor Heirat und Geburt des ersten Kindes. Danach fällt die Erweibsquote
relativ rasch ab. Ein weiterer Aspekt der Arbeit war die Unterscheidung des formellen und des
informellen Sektors. Ferner wurde der Arbeitsorganisation im Haushalt Beachtung geschenkt.
Marianne Braig und Gabriele Zdunnek kommen zu dem Ergebnis, daß die wirtschaftliche
Krise in beiden Ländern den sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten beschleunigt. In
diesem Prozeß zunehmender Verarmung verstärken sich geschlechtsspezifische Differenzie-
rungen. Für Frauen bedeutet das sowohl im formellen wie im informellen Sektor eine Abnahme
der Erwerbschancen. An Veröffentlichungen zum ethnologischen Aspekt des Projektes ist 1987
die Dissertation von Gabriele Zdunnek Marktfrauen in Nigeria erschienen. [018/89]
Laufende Forschungen / Europa
237
Europa
Schweden, Samen; Umwelt
Hugh Beach vom Center for Arctic Cultural Research in Umeâ, Schweden, untersucht die
Langzeitfolgen des Nuklear Unfalls von Tschernobyl auf die Gesellschaft und Kultur der schwe-
dischen Samen. Das Projekt zeigt die Auswirkungen des Nuklearunfalls für die verschiedenen
Nahrungsmittelquellen der schwedischen Samen auf, z. B. die Rentierzucht und den Fischfang.
Daneben wird die Fähigkeit der Samen, ihre kulturellen Traditionen und Identität zu bewahren,
dargestellt. Im Zusammenwirken mit dem schwedischen Rentier-Gesetz kann dieser Unfall
dazu führen, daß die Zahl der aktiven Rentierhalter abnimmt. Die Ernährungsgewohnheiten
der Samen mußten bereits in hohem Maß auf käufliche Nahrung umgestellt werden. Die indu-
strielle Verarbeitung der Rentiere wird nun stark vom Staat subventioniert, und der Absatz von
Rentierflcisch ist wegen der radioaktiven Verseuchung und gesunkener Kaufbereitschaft zu-
rückgegangen. Vorerst wurden die biologischen Folgen des Nuklearunfalls untersucht. In Zu-
kunft wird mehr auf die kulturellen Auswirkungen eingegangen werden müssen. Das Vorhaben
wird aus der 300-Jahr-Stiftung der Bank von Schweden finanziert. Über das Vorhaben wurde
auf dem 5. Rentier-Karibu-Symposium in Arvidsjaur (Schweden) und auf dem 12. Internationa-
len Kongreß für Anthropologische und Ethnologische Wissenschaften berichtet. [019/89]
Organisationsforschung, Bürokratie
Richard Rottenhurg vom Institut für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaften
der Freien Universität Berlin untersucht die Sozialisation in Unternehmenskulturen. Neue Mit-
glieder von Unternehmen werden enkulturiert, um ihre Rolle spielen zu können. Behandelt
wird die Frage, wie die impliziten Grundannahmen weitergegeben werden und wie sie in Orga-
nisationen als Orte der Aushandlung Zustandekommen. Dabei steht das Spannungsverhältnis
von Solidarität, Vertrauen und Handlungsfreiraum versus Hierarchie, Macht und Gewinnopti-
mierung im Vordergrund. Feldforschung wurde 1988 in fünf Berliner Unternehmen durchge-
führt. Über jeden dieser Betriebe wurde in der Reihe „Berichte aus der Arbeit des Instituts für
Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaften" eine Monographie veröffentlicht.
[020/89]
Schweiz, Zürich; Frauen, Psychoanalyse
Maya Nadig, Maria Jubelmann, Anne Gilbert und Verena Mühlberger, alle vom Ethnologi-
schen Seminar der Universität Zürich, arbeiten seit April 1988 über Formen gelebter Frauenkul-
tur. Ethnopsychoanaly tische Fallstudien in drei Generationen am Beispiel des Züricher Oberlan-
des. In der Studie soll untersucht werden, wie in einer durchschnittlichen Schweizergemeinde
die Lebenszusammenhänge der Frau und ihre spezifischen Formen von Welt- und Selbstver-
ständnis beschaffen sind. In den ethnologischen Feldforschungen, während welcher das Team
im Ort der Untersuchung lebte, wurden folgende Methoden angewendet: teilnehmende Beob-
achtung, ethnopsychoanalytische Gespräche und Aufnahme von Tagesabläufen. Die Auswer-
238
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
tung geschieht auf verschiedenen Ebenen: Feinanalysen der ethnopsychanalytischen Gespräche
auf emotionale Bewegungen, kulturelle Inhalte und die soziokulturellen Gegebenheiten; Diffe-
renzierung der verschiedenen Formen von Arbeit im Alltag der Frau und ihre Abhängigkeit von
anderen sozialen Bereichen. Die Arbeit wird von der Heimatinstitution der Forscherinnen und
vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell gefördert und soll 1990 abgeschlossen werden.
[021/89]
Spanien; soziokulturelle Identität
Dieter Goetze und Robert Hettlage, beide vom Institut für Soziologie der Universität Regens-
burg, setzen die Vorbereitungen für ihr in ZfE 113 [13/88] gemeldetes Forschungsvorhaben
über Gesellschaftliche Konstruktion sekundärer soziokultureller Identitäten in neuen autono-
men Regionen Spaniens fort. Anhand ausgewählter neu gebildeter autonomer Regionen in Spa-
nien sollen die sozialen und kulturellen Konstruktionsmechanismen untersucht werden, die zur
Bildung von ethnoregionalen Identitäten beitragen. Besonderes Interesse gilt dabei reaktiv-de-
fensiven Mechanismen, die auf der Ebene intermediärer Interessenkoalitionen infolge zentral-
administrativer Maßnahmen, bzw. infolge der Auswirkungen der EG-Integration Spaniens,
hergestellt werden. Theoretisch wird dabei auf den Identitätsansatz von F. Barth zurückgegrif-
fen in Kombination mit Vorstellungen des Identitätsmanagements von C. Lisón. Feldforschung
ist vorgesehen. Das Vorhaben befindet sich zur Zeit im Stadium der Antragsvorbereitung zur
Forschungsförderung. [022/89]
Donau-Balkan-Raum; Kleidung, Semiotik
Gabriella Schubert vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Abteilung Balkano-
logie, beschäftigt sich seit 1985 in ihrer Habilitationsschrift Kleidung als Zeichen. Kopfbedek-
kungen im Donau-Balkan-Raum mit der Frage, welche Botschaften die verschiedenen bei den
Völkern des Donau-Balkan-Raumes (einschließlich Ungarns im Norden und der Türkei im
Südosten) in Vergangenheit und Gegenwart üblichen Kopfbedeckungen über ihre Träger und
deren Lebensweise vermitteln. Anhand eines strukturalistischen Ansatzes wird die semiotische
Qualität von Kleidung erarbeitet und als vestimentäres Zeichen mit dem sprachlichen Zeichen
verglichen. Veranschaulicht durch Beispiele wird das vestimentäre Zeichen im Kommunika-
tionsprozeß, seine Pragmatik und die Rolle der Kleidung in der patriarchalischen Sozialorgani-
sation des balkanischen Dorfes untersucht. Weiterhin werden die mythologischen Zusammen-
hänge, Kopfbedeckung als Kennzeichen von Göttern, Priestern, Herrschern und numinosen
Wesen, das mit Kopfbedeckung verbundene Brauchtum und Funktion von Kopfbedeckungen
in Europa, speziell im Donau-Balkan-Raum, kulturhistorisch erarbeitet. So wird beispielsweise
eine Typologie der im 19. Jhdt. charakteristischen Kopfbedeckungen im ländlichen Raum auf-
gestellt. Eine diachronische Zusammenstellung der wichtigsten Kopfbedeckungen in ihrer se-
miotischen Qualität bei den Völkern des Untersuchungsraumes beendet die Arbeit. Die Arbeit
ist 1989 fertiggestellt und aus Eigenmitteln finanziert worden. Zum Thema ist erschienen: Kopf-
bedeckungen als Statussymbole bei den Völkern Südosteuropas, unter besonderer Berücksichti-
gung der Verhältnisse während der Osmanenherrschaft in: Central Asiatic Journal 30/1-2,
1986; Die Rolle der Kleidung in den Nationalbewegungen der Donauvölker in: Zeitschrift für
Laufende Forschungen / Afrika
239
Balkanologic 24/2. 1988; Kleidung als Zeichen -am Beispiel der Kopfbedeckungen bei den Bal-
kanvölkern, in: Forschungsausstellung der Freien Universität Berlin, 1985. [023/89]
Griechenland, Kykladen, Tinos; Wohnen, Architektur
H asso Hohmann aus Graz dokumentiert seit mehreren Jahren Wohnarchitektur auf der Kykla-
deninsel Tinos. Zur Zeit untersucht er anonymes Bauen auf Tinos und den Einsatz von Vorkrag-
gewölben, einer sehr alten Technik zur Überbriickung von Freiräumen, die bis in die gegenwär-
tige Architektur zu verfolgen ist, anhand der Zusammenhänge in der Architektur von Wohn-
bauten, anderen Nutzbauten und Sakralbauten. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln finan-
ziert. Hierzu liegt folgende Veröffentlichung vor: Taubenhäuser in Griechenland auf den Ky-
kladen. In: Architektur Aktuell 63: 27-28, 1978. [024/89]
Musik
Im Franz Steiner Verlag, Wiesbaden, ist 1987 der dritte Band von Wolfgang Laades Arbeit Das
korsische Volkslied erschienen (s. auch ZfE 111 [59/86] und 114 [005/89], [075/89] und 079/89]).
Der Band enthält die Texte und Textvarianten der in Band 2 (1981) besprochenen Lieder. Die
der Arbeit zugrundeliegenden Originaltonbänder befinden sich im "Music of Man Archive" des
Autors in Wädenswil, Schweiz. 1988 ist der erste Band einer Anthologie musikalischer Volks-
märchen mit dem Titel Musik und Musiker in Märchen, Sagen, Schwänken und Anekdoten der
Völker Europas erschienen. Der publizierte Teil enthält Erzählgut deutschsprachiger Völker
Mitteleuropas und erschien als Band 78 der Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen
im Valentin Körner-Verlag, Baden-Baden. [025/89]
Afrika
Sprache, orale Literatur
Hermann Jungraithmayr und C. Göbelsmann, beide von der Professur für Afrikanische Spra-
chen an der Universität Frankfurt am Main, und W. J. G. Möhlig vom Institut für Afrikanistik
der Universität Köln arbeiten seit 1986 an einem umfassenden Überblick über afrikanische
Oralliteratur (s. auch ZfE 113 [25/88]). Im Anschluß an eine erste zweijährige Phase, in der die
einschlägige, teilweise nur schwer zugängliche Literatur unter besonderer Berücksichtigung
deutschsprachiger Autoren gesichtet wurde, soll nun in einer zweiten Phase eine Erfassung und
Analyse des Begriffsapparates geleistet werden, der sich in der mittlerweile über hundertjähri-
gen Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit afrikanischer Oralhteratur ge-
bildet hat. Zu diesem Zweck sollen zu etwa 400 Schlüsselworten, die sich während der ersten
Arbeitsphase herauskristallisiert haben, kurze Artikel verfaßt werden. Wo nötig und sinnvoll,
sollen Fachleute aus dem In- und Ausland um das Verfassen dieser Artikel gebeten werden. Des
weiteren ist eine Dokumentation der wichtigsten wissenschaftlichen Quellen zu diesem Thema
240
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
in Originaltexten vorgesehen. Ein Abschluß ist zeitlich noch nicht abzusehen. Das Vorhaben
wird finanziell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. [026/89]
Nordafrika, Marokko; Handwerk, Töpferei, Stein, Ausstellung
Rüdiger Vossen vom Museum für Völkerkunde in Hamburg und Arne Lücke von der Archäolo-
gischen Denkmalspflege in Lüchow-Dannenberg führen seit 1980 eine Bestandsaufnahme der
Töpferei und der Specksteinkunst Marokkos durch. Bis zu seinem Tode hat auch Wilhelm Ebert
von der Gesamthochschule Wuppertal mitgewirkt. Die traditionellen Töpferorte werden unter
ethnologischen, archäologischen, ökonomischen, technologischen, linguistischen und entwick-
lungspolitischen Gesichtspunkten erfaßt.
Die Feldforschungskampagne von 1980 diente der Lokalisierung und kursorischen Erfas-
sung von etwa 260 noch tätigen Töpferorten. 1987 wurde an verschiedene Zentren der Männer-
und der Frauentöpferei und an den Zentren der berberischen Specksteinproduktion im Hohen
Atlas stationäre Feldforschung durchgeführt. Die Forschung zur Specksteinproduktion soll
auch der Anlage einer gut dokumentierten, umfangreichen Sammlung für das Hamburger Völ-
kerkunde-Museum dienen. Das Vorhaben wird aus Reisemitteln der Deutschen Forschungsge-
meinschaft und aus Sammlungsmitteln des Museums finanziert. Als eine Form der Ergebnisvor-
lage wird die Ausstellung 1001 Töpfe aus Marokko - Technologie, Ethnoarchäologie, Entwick-
lungspolitik vorbereitet, die von Herbst 1989 bis zum Frühjahr 1990 in Hamburg zu sehen sein
wird.
Aus dem Projekt sind folgende Veröffentlichungen hervorgegangen: R. Vossen und W.
Ebert: Marokkanische Töpferei, 1986; Vossen: Landesaufnahme von Töpfereien in Spanien und
Marokko, in: Töpferei- und Keramikforschung 1: 142-146, 1988; und Entwicklungsgeschichte
der Specksteinkunst im Hohen Atlas, in: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Ham-
burg 18: 21-39, 1988. [027/89]
Nordafrika, Ägypten; Gesellschaft, Geschichte
Raif Georges Khoury vom Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Uni-
versität Heidelberg führt Studien zum privaten und öffentlichen Lehen in den ersten islamischen
Jahrhunderten in Ägypten durch. Durch die Veröffentlichung arabischer Papyrie der ersten isla-
mischen Jahrhunderte und begleitende Kommentare soll gezeigt werden, wie das private und
öffentliche Leben in jener Zeit geregelt war. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln und für Ar-
chivreisen aus Zuschüssen finanziert. [028/89]
Nordafrika, Ägypten und Sudan; Sprache, Grammatik
Roland Werner vom Institut für Afrikanische Sprachwissenschaft der Universität Frankfurt am
Main arbeitet an Grammatiken verschiedener nilnuhischer Sprachen. Aufbauend auf Vorarbei-
ten anderer Forscher und eigener, regelmäßiger Feldforschungen seit 1983 wurde die Gramma-
tik des Nohiin (auch Mahas/Fiadicca genannt) untersucht und beschrieben. Das tonale System
wurde erstmalig umfassend beschrieben. Außerdem wurden andere nilnubische Sprachen, so
das Kenzi (Ägypten) und das Dongolawi (Sudan) untersucht.
Laufende Forschungen / Afrika
241
In den Jahren 1987 bis 1989 verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt auf das Midob in-
Norddarfur. Neben den linguistischen Fragen wurden peripher auch geschichtliche, kulturelle
und ethnologische Fragestellungen bedacht. Die Arbeiten werden von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft finanziell unterstützt. Erschienen ist bisher eine Grammatik des Nobiin
(Phonologie, Tonologie, Morphologie), 1987. [029/89]
Sudan; Tagung
In Nieder-Ofleiden bei Marburg fand vom 22. bis 23. Oktober 1988 ein Symposium über Sudan-
bezogene Forschungen in Westdeutschland statt. Der folgende Bericht über dieses Treffen
wurde von Jörg Adelberger (s. auch ZfE 114 [032/89], [039/89] und 113 [19/88]) vom Institut für
Historische Ethnologie in Frankfurt verfaßt.
Das Treffen war vom Arbeitskreis für Internationale Wissenschaftskommunikation (AIW)
in Göttingen organisiert und finanziert worden. Die damit verbundene Absicht war, Wissen-
schaftler verschiedener Disziplinen zu versammeln, die sich in ihren Forschungen mit dem Su-
dan befassen oder ein aktives Interesse am wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Land haben,
um den Informationsaustausch untereinander zu verstärken und ihre Kooperation zu fördern.
Weiterhin sollte das Für und Wider einer „Vereinigung Sudan-bezogener Wissenschaftler" dis-
kutiert werden. Die Teilnehmer waren in der Mehrzahl Ethnologen, aber auch Islamwissen-
schaftler und Afrikanisten. Die Anwesenheit von Rolf Herzog, einem der prominentesten Ver-
treter der Sudan-Ethnologie in Deutschland, wurde von seinen jüngeren Kollegen besonders
gewürdigt.
An den beiden Tagen wurden die folgenden Referate vorgetragen: Ulrich Braukämper: Per-
spektiven ethnographischer Forschung und Dokumentation im Sudan (s. auch ZfE 113 [17/88],
108 [46/83], 107 [09/82] und 105 [\^>/^>Qi\)\ Frauke Rheingans: Die laufende Sudan-Forschung an
der Universität Bayreuth; Richard Rottenburg: Der Begriff der Akkreszenz in der modernen
Ethnographie-am Beispiel der Lemwareng-Nuba (s. auch ZfE 113 [06/88], 109 [31/84] und 107
[35/82]); Hans Langenbahn: Das Problem der „Entwicklung" in der traditionellen Landwirt-
schaft - am Beispiel der Ingessana; Stefan Reichmuth: Genealogie, Datierung und Geschichts-
verständnis - am Beispiel der Shukriya; Bernhard Streck: Heben eines geheimen Wortschatzes —
soziolinguistische Probleme der Forschung unter Niltal-Zigeunern (s. auch ZfE 113 [06/88] und
[16/88], 109 [31/84], 108 [59/83], [59a/83] und 107 [35/82]); Rolf Husmann und Christoph
Meier: Migration und Stammessport - Die Ringkämpfe der Nuba in Khartum (s. auch ZfE 113
[20/88], 111 [7/86], 109 [30/84] und 105 [28/80]); Harald Müller: Ethnographie und Bürger-
krieg. Zum Stand der Forschung bei den Toposa (s. auch ZfE 113 [06/88], 108 [56/83] und 107
[35/82]; Thomas Zitelmann: Politische Grenze und strategisches Hinterland. Grenzüberschrei-
tende Mobilität zwischen Äthiopien und Sudan (s. auch ZfE 114 [034/89] und 113 [21/88]).
Daneben wurden ethnographische Filme von Bernhard Streck und Rolf Husmann über Re-
cycling-Techniken der Halab, eine Dia-Serie von Ulrich Braukämper über die neue Ausstellung
und Konzeption des Ethnographischen Museums in Khartum und ein Film über Ringkämpfe in
den Nuba-Bergen aus den 60er Jahren gezeigt.
In der allgemeinen Diskussion am Ende des Symposiums wurde entschieden, eine Veröf-
fentlichung der Referate in Buchform vorzubereiten, gegebenenfalls erweitert um Beiträge der
anderen Teilnehmer. Nach längerer Debatte gelangte man zu der einhelligen Auffassung, daß
neben den bereits existierenden Sudan-Vereinigung in England, Amerika und - in neuester Zeit
242
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
- Frankreich keine deutsche Vereinigung gegründet werden solle. Die Gründe dafür liegen nicht
nur in der Gefahr eines nationalen Separatismus, sondern auch in den formalen und juristischen
Hindernissen, die mit einer solchen Vereinigung verbunden wären. Die angestrebten Ziele,
nämlich die Förderung der Kommunikation und Kooperation, können auch mit einem geringe-
ren Grad an Institutionalisierung verwirklicht werden. Es wurde deshalb entschieden, eine in-
formelle Interessengruppe zu bleiben und etwa alle zwei Jahre ähnliche Symposien mit Unter-
stützung des AIW zu organisieren. Um auch auf internationaler Ebene vertreten zu sein und die
Verbindung zu den Kollegen aus anderen Staaten zu intensivieren, wurde nahgelegt, auf indivi-
dueller Basis entweder der „Sudan Studies Society of the United Kingdom (SSUK)" oder der
„Sudan Studies Association (SAA)" in den USA beizutreten. [030/89]
Sudan, Mahria; Nomaden, Frauen, Lebenszyklus
Uta Holter und Hartmut Lang vom Institut für Völkerkunde und Institut für Ur- und Frühge-
schichte der Universität Köln haben sich im Rahmen des Projektes Besiedlungsgeschichte der
Ostsahara unter der Leitung von Rudolf Kuper und Heinrich Barth mit der Kulturökologie ara-
bischer Kamelnomaden beschäftigt. Forschungsschwerpunkte waren der Lebenszyklus und das
Herdenmanagement bei den Mahria (nördliche Rizeigat), Norddarfur, Sudan.
Uta Holter untersuchte den Lebenszyklus der Frau, inbesondere die Lebenszyklusphase des
Alters und den Generationsvertrag, außerdem die Ernährung und die materielle Kultur. Län-
gere Feldforschungen fanden von August 1980 bis Januar 1981 und von August 1984 bis No-
vember 1985 statt. 1987, 1988 und 1989 weilte sie außerdem zu Kurzbesuchen bei den Mahria
und 1980 zu Archivrecherchen in Khartum.
Das Vorhaben wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Bereits veröf-
fentlicht bzw. im Druck sind folgende Arbeiten von Uta Holter: Craft Techniques Used by
Mahria Women of Darfur, Folk 24, 1983: 97-128; Food Habits of Camel Nomads in the North
West Sudan: Food habits and Foodstuffs, Ecology of Food and Nutrition 21, 1988: 1-15; Food
Consumption of Camel Nomads in the North West Sudan, Ecology of Food and Nutrition 21 :
95-115; Altersversorgung der Frauen bei Kamelnomaden am Beispiel der Mahria (Norddarfur/
Sudan), Land Agrarwirtschaft und Gesellschaft, Zeitschrift für Land- und Agrarsoziologie 5:
69-81 ; Die Rolle der Frau beim Ubergang vom Nomadismus zur Seßhaftigkeit dargestellt am
Bereich Ernährung bei den Mahria (Kamelnomaden in Norddarfur/Sudan), Die Erde 119:
227-234. [031/89]
Sudan, Darfur, Fur; Kulturwandel
Die Dissertation von Jörg Adelberger Vom Sultanat zur Republik: Veränderungen in der So-
zialorganisation der Fur (Sudan) (s. ZfE 113 [19/88] und ZfE 110 [01/85]) am Fachbereich Ge-
schichtswissenschaften der Universität Frankfurt wurde Ende 1988 abgeschlossen. Sie wird im
Franz Steiner Verlag, Stuttgart, veröffentlich. [032/89]
Laufende Forschungen / Afrika
243
Ostafrika, Eritrea, Tegreñña; Frauen, Recht
Friederike Kemink vom Institut für Historische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main
hat 1988 ihre Dissertation über Die Tegreñña-Frauen in Eritrea. Eine Untersuchung der Kodi-
zes des Gewohnheitsrechts, 1890-1941, abgeschlossen. Es geht in dieser Studie insbesondere um
die rechtliche Stellung der Frauen während der italienischen Kolonialzeit in Eritrea
(1890—1941). Ziel war einerseits der synchrone Vergleich der drei von Tegreñña besiedelten
Hochlandprovinzen Eritreas als auch die diachrone Analyse der während der italienischen Ko-
lonzialzeit stattfindenden Veränderungen. Untersucht wurden insbesondere die mehr als zehn
Kodizes des Tegreñña-Gewohnheitsrechts sowie Gerichtsakten aus der italienischen Kolonial-
zeit im Archivo Eritrea im Ministero degli Affari Esteri in Rom. Außerdem arbeitete die Verfas-
serin mit eritreischen Männern und Frauen und führte unter anderem im Juli/August 1988 in
Eritrea Interviews durch. Das Vorhaben wurde zum Teil durch ein Promotionsstipendium der
Studienstiftung des Deutschen Volkes, zum Teil durch Etatmittel der Universität Frankfurt fi-
nanziert. In folgenden Vorträgen wurde die Arbeit vorgestellt: The Tegreñña Customary Eaw
Codes. (Research and Development Conference, Wina, Eritrea, Juli 1988) und The Customary
Eaw Codes of Mahasen, Eritrea. (Xth International Conference of Ethiopian Studies, Paris, Au-
gust 1988). [033/89]
Ostafrika, Äthiopien, Oromo; Ethnizität
Georg Elwert, Elke Metzen und Thomas Zitelmann setzen ihr in ZfE 113 [21/88] gemeldetes
Projekt über Nationale Identität, Eliten, ländliche Produktion: Die Entwicklung einer nationa-
len Bewegung unter den Oromo fort. Durch empirische Untersuchungen sollen mögliche
Wechselwirkungen zwischen den Reproduktionsbedingungen der ländlichen und städtischen
Bevölkerung, sowie Flüchtlingen in den Nachbarländern und der Entwicklung einer „Wir-
Gruppe" entlang einer Oromo-Identität untersucht werden. Empirische Untersuchungen fin-
den vor allem auf der mikrosoziologischen Ebene statt (Netzwerk politischer Aktivisten,
Flüchtlingslager, ländliche Siedlungen). Die Datenerhebung erfolgt über teilnehmende Beob-
achtung und offene Interviews. Untersuchungen über den kommunikativen Rahmen der Ver-
mittlung des „Wir-Gefühls" beziehen den sozialen Rahmen der Entwicklung von Literalität in
der Oromo-Sprache mit ein. Zum derzeitigen Stand ergibt sich, daß in Äthiopien jede Öffent-
lichkeit unterdrückt ist, die etwas zu den politischen Problemen aussagt, die als Bedrohung oder
Diskriminierung empfunden werden. Wo sich Oromo politisch als „Wir-Gruppe" deutlich aus-
drücken können, wird „Geschichte" und „Tradition" neu konstruiert. Die militärische Organi-
sation dieser „Wir-Gruppen" wird durch ihre Funktionalisierung in lokalen Konflikten (Sudan,
Somalia) erleichtert. Bisher haben folgende Feldforschungen stattgefunden: April bis August
1984 bei Flüchtlingen in der Provinz Blauer Nil, Sudan (T. Zitelmann); Februar 1988 bis April
1988 bei Flüchtlingen in der Provinz Hiraan, Somalia (T. Zitelmann), Frühjahr 1989 in der Pro-
vinz Blauer Nil, Sudan (T. Zitelmann) und in Äthiopien (E. Metzen). Im August 1989 soll das
Projekt abgeschlossen werden. Es wird aus dem Sonderförderungsbereich „Bewaffnete Kon-
flikte in der Dritten Welt" der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Veröffentlicht
wurden bisher von Thomas Zitelmann Die Konstruktion einer Nation der Oromo, in: G. El-
wert/P. Waldmann (Hg.): Ethnizität im Wandel: 61-80, 1989; We have Nobody in the Agencies
- Somali and Oromo Responses to Relief Aid in Refugee Camps. Sozialanthropologische Ar-
244
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
beitspapiere 17, Berlin 1989; Sprache und Exil - Das Beispiel der Oromo, in: A. Ashkenazi
(Hg.): Das weltweite Flüchtlingsproblem: 323-336, 1988. [034/89]
Ostafrika, Äthiopien, Kuschiten; Sprache, Dokumentation, Vergleich
Marcello Lamberti von der Professur für Afrikanische Sprachen der Universität Frankfurt am
Main arbeitet über westkuschitische/omotische Sprachen. Die vier omotischen Sprachen Shi-
nassha, Yemsa, Zaysse und Wolayta sollen dokumentiert, beschrieben, analysiert und mit ande-
ren verglichen werden. Em allgemeineres Ziel ist es, auf der Grundlage von Lambertis eigenen
Sprachaufnahmen in den Jahren 1984/85 und durch kritische Rezeption der wissenschaftlichen
Diskussion die Klassifizierung der omotischen Sprachen auf eine solide Basis zu stellen. Das
Vorhaben wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Bisher ist dazu erschie-
nen Kuliak and Cushitic, in: Studia Linguarum Africae Orientalis (3), 1988. [035/89]
Ostafrika, Äthiopien, Burji; Ethnographie
Hermann Amhorn und Werner Petermann, beide vom Institut für Völkerkunde und Afrikani-
stik der Universität München, werten seit Februar 1989 die Feldforschungstagebücher von Hel-
mut Straube aus den Jahren 1952 und 1973/74 aus. Über Straubes Feldforschung bei den Burji
von 1952 liegt ein Manuskript vor. Für beide Feldforschungszeiträume wird auf Tagebücher zu-
rückgegriffen: Straubes ursprüngliche Forschungsziele sollen konkret gefaßt und systematisiert
werden, so daß sich aus den vorliegenden Notizen und Interviewprotokollen eine Monographie
zusammenstellen läßt. Die Arbeit wird mit Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemein-
schaft gefördert und soll bis Mai 1990 abgeschlossen werden. An einschlägigen Veröffentlichun-
gen Straubes zu seinen Feldforschungen ist vor allem der Aufsatz Kultur und Sprache der Burji
in Süd-Äthiopien: Ein Abriß, in: Festschrift für O. Köhler, 1977, zu nennen. [036/87]
Ostafrika, Toposa, Turkana; Generationenklassen, Frauen
Harald K. Müller und Martina Dempf, beide vom Institut für Ethnologie der Freien Universität
Berlin, führen ihr langfristiges Forschungsprojekt zu Macht und Mobilität in Ost- und West-
Afrika fort. Feldforschungen von 1982 bis 1987 im Südost-Sudan und in Nordwest-Kenya bei
Toposa und Turkana waren den Phänomenen der Wandelbarkeit von Generationsklassensyste-
men gewidmet. Hierüber liegen Magisterarbeiten der beiden Mitarbeiter und eine Dissertation
von Müller vor.
Darauf aufbauend wird jetzt die Frage gestellt, wie sich Autoritäts- und Machtstrukturen in
dezentralen, mobilen Gesellschaften etablieren. Der Rolle der Frauen wird besondere Auf-
merksamkeit gewidmet. Parallel dazu führte Müller von Februar bis Juli 1989 eine theoretische
Untersuchung zum Thema Alter und Macht an der Maison de Sciences de l'Homme in Paris
durch. Anschließend sind weitere Feldforschungsaufenthalte geplant, nun auch für Vergleichs-
zwecke in Westafrika. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln und Mitteln der Stiftung Volkswa-
genwerk finanziert.
An zugänglichen Veröffentlichungen sind von Harald K. Müller erschienen: Alter und
Laufende Forschungen / Afrika
245
Macht. Generationsklassen bei den Turkana und Toposa, in: Mitteilungen der Berliner Gesell-
schaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 9: 17-25,1988; Changing Generations.
Dynamics of Generation- and Age-Sets in Southeastern Sudan and Northeastern Kenya, 1989.
[037/89]
Ostafrika, Tanzania, Mwera; Kultur, Sprache
Rupert Moser von der Schweizerischen Afrika-Gesellschaft und der Universität Bern hat die in
seinem in ZfE 113 [22/88] (vgl. auch ZfE 107 [28/82]) gemeldeten Forschungsvorhaben Die
Mwera von Siidtanzania: Kultur und Sprache einer matrilinearen Gesellschaft im Wandel ge-
plante Feldforschung erfolgreich abgeschlossen und bereitet nun die Auswertung und Erstel-
lung einer Monographie vor. [038/89]
Westafrika; Kulturökologie
Ein Sonderforschungsbereich 268 Kulturentwicklung und Naturraum in der westafrikanischen
Savanne ist 1988 an der Universität Frankfurt eingerichtet worden. Ethnologen, Linguisten,
Historiker, Archäologen und Geographen von den Universitäten Frankfurt und Heidelberg
wollen sich gemeinsam mit der Erforschung der historischen Entwicklung der Kulturen der
westafrikanischen Savanne und deren Verhältnis zu den sie umgebenden Naturräumen befas-
sen. Untersuchungsregionen sind Burkina Faso, Nord-Ghana, Ost-Mali, Nord-Nigeria, Süd-
ost-Niger, Nord-Kamerun und Südwest-Tschad.
Von linguistischer Seite haben im Herbst 1988 Literaturrecherchen zur Vorbereitung von
Feldforschung begonnen. Gudrun Miehe und Ulrich Kleinewillinghöf er, beide vom Lehrstuhl
für Afrikanische Sprachen an der Universität Frankfurt, erforschen in Zusammenarbeit mit
Ethnologen den Kulturwortschatz der Adamawa- und Gur-Sprachen in Burkina Faso und Ni-
gera. Michael Bross, ebenfalls vom Lehrstuhl für Afrikanische Sprachen, erforscht den Kultur-
wortschatz der Hausa-Handwerker, wobei auf lexikalische Vorarbeiten anderer Forscher zu-
rückgegriffen werden kann. Er ist derzeit mit der Erfassung einschlägiger Literatur beschäftigt.
Die Auswertung soll sprachgeographisch und ethnologisch ausgerichtet sein. Beide Teilpro-
jekte laufen bis 1991.
Hermann Jungraithmayr (vgl. auch ZfE 114 [042/89] und [044/89]), Jörg Adelherger (vgl.
auch ZfE 114 [030/89] und [032/89] und Rudolf Leger, alle drei von der Professur für Afrikani-
sche Sprachen der Universität Frankfurt am Main, fuhren kulturgeschichtliche Untersuchungen
zu den tschadischen Sprachen und Ethnien Kwami, Kupto und Kushi in Nordostnigeria durch.
Das Projekt befaßt sich mit der linguistischen, ethnographischen und historischen Erforschung
tschadisch-sprechender Ethnien im südlichen Bauchi State von Nordost-Nigeria. Dabei werden
die Sprachen und Kulturen der dort ansässigen Ethnien in drei aufeinander aufbauenden For-
schungsschritten untersucht: (1) In ihrer aktuellen Ausprägung, (2) in ihren Beziehungen unter-
einander und zu ihren Nachbarethnien, (3) unter dem Aspekt ihrer historischen Kontakte. In-
nerhalb dieser methodischen Abfolge wird eine Beschreibung ihrer Sprachen sowie eine Doku-
mentation ihrer Kulturen angestrebt, die nicht nur den Grad ihrer heutigen Verwandtschaft,
sondern auch die Dichte der Beeinflussung durch die jeweiligen Nachbarvölker aufzeigt. An-
hand dieser Erkenntnisse soll eine frühere Zusammengehörigkeit oder gar Zugehörigkeit dieser
246
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Ethnien zu einer größeren ethnischen Einheit ermittelt werden, um so Aufschlüsse über ihre ge-
meinsamen historischen Zusammenhänge zu erhalten. Den Ausgangspunkt dazu bilden in der
ersten Projektphase die zur südlichen Bole-Tangale-Sprachgruppe zählenden Ethnien Kupto,
Kwami, Kushi (Chong'e) und Wurkum (Piya). Parallel zu den lokal eingegrenzten Tiefenstu-
dien bei diesen Gruppen wird ein großräumiger tschadisch-linguistischer Survey durchgeführt,
der die geographische Verbreitung bestimmter Kulturwörter untersucht. Das Vorhaben ist
Teilprojekt B2 des Sonderforschungsbereiches.
Von ethnologischer Seite erforschen Klaus Schneider und Sabine Weingarten, beide vom In-
stitut für Historische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main, die materielle Kultur der
westafrikanischen Savanne und ihre kulturhistorische Aussage. Eine bislang wenig genutzte
Quelle zur afrikanischen Geschichte bilden die materielle Kultur und ihre Herstellungstechni-
ken. Ziel der im November 1988 begonnenen und bis 1990 dauernden Feldforschung ist die sy-
stematische Aufnahme des materiellen Kulturbesitzes in seinem kulturhistorischen Kontext für
den Südwesten von Burkina Faso. Um die einzelnen Gegenstände zu aussagefähigen QuellenZ:u
machen, ist eine möglichst holistische Aufnahme der Gesamtkultur nötig. Das heißt, nicht nur
technologische und ergologische Fragen sind von Belang, vielmehr müssen der soziale Kontext
(Verbindung mit bestimmten sozialen Schichten) und die nominae indigenae, die wichtige Hin-
weise über Herkunft und Verbreitungswege geben können, aufgenommen und erfaßt werden
(hier wird eng mit Miehe zusammengearbeitet), ökologische und ökonomische Gesichtspunkte
für die Verbreitung bestimmter Kulturelemente ausfindig gemacht werden, etc. Teilaspekte des
Vorhabens wurden in Paideuma 32, 1986, und 34, 1988, veröffentlicht. [039/89]
Westafrika, Ghana; Migration, Ethnizität
Carola Lentz vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin arbeitet an einem For-
schungsprojekt über Migration von Dagara aus Nordwest-Ghana zu den Goldminen im Süden
des Landes (Tarkwa, Obuasi), insbesondere über die Frage nach der Kontinuität von Beziehun-
gen zur Herkunftsregion und zur Relevanz ethnischer bzw. herkunftsorientierter Organisa-
tionsformen im Kontext langandauernder Lohnarbeitsmigration (vgl. dazu ZfE 112 [23/87]).
1987 hat sie dazu eine kürzere Vorstudie, 1988 einen von der Deutschen Forschungsgemein-
schaft finanzierten zweimonatigen Feldaufenthalt in den Minenorten Tarkwa und Obuasi
durchgeführt. Für 1989/90 ist ein längerer Feldforschungsaufenthalt unter Beteiligung von Stu-
denten des Instituts im Rahmen einer Exkursion im Nordwesten Ghanas geplant. [040/89]
Niger, Kanuri, Fachi; Gesellschaft, Umwelt
Peter Fuchs vom Institut für Völkerkunde der Universität Göttingen hat die Aufarbeitung sei-
ner Feldforschungsergebnisse (1972, 1974, 1976/77 und 1984) bei den Sahara-Kanuri der Oase
Fachi (Nigerische Sahara) abgeschlossen (s. auch ZfE 111 [03/86]). Ziel war die Analyse der ge-
sellschaftlichen Bedingungen für die Existenz von Menschen in der extremen Umweltsituation
der Sahara. Die Untersuchung über einen Zeitraum von zwölf Jahren zeigte, daß die Kanuri von
Fachi das Modell einer Friedensgesellschaft entwickelt haben, die gekennzeichnet ist durch be-
ständiges Streben nach Ausgleich, Einklang mit der Natur und der Bereitschaft, unter der Ge-
schichte zu leiden. Die soziale Wirklichkeit in Fachi steht jedoch in vieler Beziehung im Wider-
Laufende Forschungen / Afrika
247
Spruch zu den gesellschaftlichen Idealen. Die Diskrepanz zwischen Normen und Verhalten
wurde daher zu einem zentralen Thema. Die Feldforschung wurde von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft finanziell unterstützt. Eine erste Arbeit ist 1983 unter dem Titel Das Brot
der Wüste. Sozio-Okonomie der Sahara-Kanuri von Fachi erschienen, die abschließende Arbeit
wurde unter dem Titel Fachi. Sahara-Stadt in Kanuri 1989 veröffentlicht. [041/89]
Westafrika, Tschad, Mokilko; orale Literatur
Hermann ]ungraithmayr und E. Adwiraah, beide von der Professur für Afrikanische Sprach-
wissenschaften an der Universität Frankfurt am Main, widmen sich der Textanalyse ost-tschadi-
scher Sprachen (vgl. auch ZfE 114 [039/89], [044/89] und ZfE 113 [25/88]). Unveröffentlichte
Fabel- und Märchentexte, die aus Feldforschungsarbeiten Jungraithmayrs in den 70er Jahren
stammen, sollen formal und inhaltlich aufbereitet, ediert und analysiert werden. Die vorhande-
nen Erzählungen sollten dabei auf ihre Erzählmotive und auf ihre Textstruktur hin untersucht
werden. Das Projekt wird in Kooperation mit W. J. G. Möhlig vom Institut für Afrikanistik der
Universität Köln und Rüdiger Schott (vgl. ZfE 114 [043/89]) vom Seminar für Völkerkunde der
Universität Münster durchgeführt. Es wird durch eine Sachbeihilfe der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft finanziell gefördert. Folgende Veröffentlichungen dazu sind erschienen: H. Jun-
graithmayr: Märchen aus dem Tschad - Grenzen der Ühersetzbarkeit afrikanischer Märchen,
in: Märchen der Dritten Welt, 1987; ders.: Märchen aus dem Tschad, 1983; E. Adwiraah und
E. Hagen: Zur systematischen Erfassung oraler Literatur in Afrika, in: Afrika und Übersee 70
(1): 99-105, 1987. [042/89]
Westafrika, Ghana, Bulsa; Erzählforschung, Ethnographie
Die langfristig angelegte ethnographische Erforschung der Gursprachigen Bulsa im Norden
Ghanas wurde 1988 unter der Leitung von Rüdiger Schott mit Beteiligung von Sabine Dinslage
und Martin Striewisch (alle vom Seminar für Völkerkunde der Universität Münster) mit Feld-
forschung fortgesetzt. In zahlreichen Dörfern in der Upper East Region in Ghana wurden über
1000 Erzählungen aufgenommen und größtenteils auch bereits transkribiert und übersetzt. Au-
ßerdem wurden die bei früheren Feldforschungen aufgezeichneten mündlichen Geschichtstra-
dition der Bulsa ergänzt. Religionsethnologisch wurden Totenrituale und andere Übergangsri-
ten (Namengebung, wen-Findung u. a. m.) dokumentiert. Es wurde die Entwicklung des
Rechtswesens, vor allem der lokalen Rechtsprechung, durch Teilnahme an Gerichtssitzungen
und Aktenstudien untersucht. Schließlich wurde auch die Entwicklung der bäuerlichen Land-
wirtschaft, vor allem des Trockenzeitgartenbaus, eingehend untersucht. Die Feldforschung
wurde im Juni 1989 abgeschlossen. Reise- und Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemein-
schaft halfen zur finanziellen Absicherung des Vorhabens. Ein erster Feldforschungsbericht
wurde von Rüdiger Schott in einem Vortrag vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte am 29. Juni 1989 gegeben. [043/89])
248
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Westafrika, Nigeria, Daffo; Sprache, Text, Grammatik, Wörterbuch
Uwe Seibert vom Institut für Afrikanische Sprachwissenschaften der Universität Frankfurt am
Main hat sich für seine Dissertation die grammatikalische Beschreibung des Daffo mit besonde-
rer Berücksichtigung seiner syntaktischen und textlinguistischen Struktur zur Aufgabe gesteilt.
Auf einer ersten sechsmonatigen Feldforschung ab August 1989 soll Textmaterial (Volkserzäh-
lungen, historische Texte u. a.) gesammelt und mit Hilfe von Informanten vorläufig analysiert
werden. Anschließend sollen unter Berücksichtigung von früheren Sprachstudien Hermann
Jungraithmayrs (Die Ron-Sprachen, 1970, vgl. auch ZfE 114 [039/89] und [042/89] eine umfas-
sende Grammatik und ein Wörterbuch erarbeitet und zusammen mit einer Textsammlung ver-
öffentlicht werden. Die Feldforschung wird durch ein Stipendium des Deutschen Akademi-
schen Austauschdienstes gefördert. [044/89]
Westafrika, Nigeria, Igbo; Frauen, Modernisierung
Hanny Hahn-Waanders aus Köln studiert Igbo-Frauen der gehobenen Mittelklasse in Südost-
Nigeria, die in den 70er Jahren - nach der Biafra-Krise - ihren anverlobten Ehemännern nach
Deutschland gefolgt waren und hier ihre Familien gründeten. Nach ihrer Rückkehr nach Nige-
ria wurden sie zwischen 1975 und 1985 mehrfach besucht, um ihre Reintegration auf Konflikt
und Einklang mit den Stammestraditionen zu untersuchen. Als Ergebnis ist festzustellen, daß
Traditionen beachtet werden und daß viele moderne Errungenschaften, mit denen sie inzwi-
schen vertraut geworden sind, sich zum Teil mit ihnen vereinbaren lassen. Die Arbeit wird aus
Eigenmitteln finanziert. [045/89]
Westafrika, Nigeria; Urbanisierung, Religion
Gudrun Ludwar-Ene von der Universität Bayreuth arbeitet an einem Habilitationsvorhaben
über die neuen religiösen Bewegungen und ihre Bedeutung für die Frauen der Annang, Efik, Ibi-
bio und Igbo im städtischen Südostnigeria. Diese Bewegungen sind primär ein Phänomen der
Städte und stadtnahen Gebiete. Ihre Mitglieder sind in der Mehrzahl Migrantmnen.
Die Arbeit hinterfragt die Gründe für die Attraktivität dieser Bewegungen gerade für zuge-
wanderte Frauen in den Städten. Feldforschung wurde von Oktober 1982 bis August 1983 und
nochmals im März und April 1987 in Calabar und Enugu unter Einsatz von standardisierten In-
terviews durchgeführt. Das Vorhaben wird durch Fremdmittel finanziert. Bisher sind Ergeb-
nisse in mehreren Vorträgen, zuletzt auf dem International Congress of Anthropological and
Ethnological Sciences in Zagreb 1988 und in zwei Aufsätzen in Athropos 81: 555-565,1986 und
in Indigenization and Survival, 1989 bekannt gemacht worden. [046/89]
Westafrika, Kamerun, Wimbum; Schriftlichkeit
Peter Probst vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin schreibt eine Dissertation
über Schriftlichkeit und soziale Entwicklung bei den Wiya-Wimbum im Grasland von Kamerun
(s. auch ZfE 112 [10/87]). An folgenden Fragen orientiert sich die Studie: Welche konkrete Qua-
Laufende Forschungen / Afrika
249
lität haben die Folgen der Schriftlichkeit für die heutige Lebenssituation bäuerlich-illiterater
Gesellschaften in vielen Teilen der Dritten Welt, und welche Einsichten ergeben sich hieraus für
die Theorie der Literalität innerhalb der ethnologischen Forschung? Auf der Grundlage einer
zwischen 1985 und 1986 durchgeführten Feldforschung bei den Wiya-Wimbum, einem kleinen
Königreich im Nordosten des Kameruner Graslandes, untersucht die Arbeit diese Fragen hin-
sichtlich der lokalen Bedeutung von Schriftlichkeit im Kontext der spannungsreichen Einbet-
tung einer noch weitgehend narrativ organisierten Stammesgesellschaft in eine staatliche
Schriftkultur. Das Rohmanuskript der Dissertation ist fertiggestellt. Im einzelnen werden darin
die historische Herausbildung der Geltungsstrukturen, der Prozeß der Ideologiebildung und
die verschiedenen sich hieraus ergebenden Konflikt- und Praxisfelder im Umgang mit Schrift-
lichkeit nachgezeichnet. Untersucht wird auch die Frage, wie Literalität und die Erziehung zur
Literalität in einer tribalen Gesellschaft kulturell gedeutet und in indigene Muster der Wissens-
verarbeitung integriert werden. Das Vorhaben wird durch ein Promotionsstipendium der Stu-
dienstiftung des Deutschen Volkes gefördert. Zu dem Thema befindet sich zur Zeit im Druck:
The Letter und the Spirit: Literacy and Religious Authority in the History of the Aladúra-Move-
ment in Western Nigeria, in: Africa, 1989. [047/89]
Zentralafrika; Sprache, Kultur, Dokumentation
Minoritätensprachen und Kulturen im südlichen Zentralafrika sind Thema des Forschungs-
projektes von Gerhard Kubik vom Institut für Völkerkunde in Wien und Moya Aliya Mala-
musi und Lidiya Malamusi vom Centre for Social Research der Universität Malawi (s. auch
ZfE 111 [58/86] und 109 [47/84]). Ziel ist die Aufnahme mit Tonband und Filmkamera der
Gesamtbreite kultureller Aktivitäten, insbesondere der oralen Literatur, in folgenden Spra-
chen des matrilinearen Gürtels im südlichen Zentralafrika: Elomwe, Etakwani, Ciyao und
Emarenje (Zone P nach Guthrie), Chimang'anja, nicht-standardisiertes Chichewa, Cinyanja,
Chisena, Chitumbuka (Zone N nach Guthrie), Lucazi, Luvale, Cokwe, Lunda und Mbunda
(Zone K nach Guthrie).
Feldforschung dazu hat von Juni bis November 1987 in der Northwestern Province von
Zambia und in Malawi durch alle drei Teammitglieder und im südlichen Malawi durch M. A.
Malmusi und L. Malmusi von November 1987 bis Mai 1988 stattgefunden. Im Ansatz war die
Feldforschung empisch orientiert und basierte auf den einheimischen Sprachen. Sie hat 98 Ste-
reo-Tonbänder, 70 tonsynchrone Filme, 1356 Diapositive, 241 Seiten deutsch geführtes Tage-
buch und 55 Seiten Feldaufzeichnungen in Chichewa erbracht.
Die Transkription der Texte und Auswertung der sonstigen Feldforschungsmaterialien fin-
det in Wien statt und werden 1989 abgeschlossen sein. Es ist geplant, daraus mehrere Veröffent-
lichungen zu gestalten. Seit 1987 wurden an folgenden Universitäten Vorträge über das For-
schungsvorhaben gehalten: University of Malawi, Department of Chichewa and Linguistics,
Universitäten Helsinki und Tampere (Finnland), Wien (Osterreich), Salzburg (Osterreich), Lis-
boa (Portugal) und Coimbra (Portugal). [048/89]
250
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Südafrika; Musik, Theater
Veit Erlmann vom Museum für Völkerkunde in Berlin führt Studien zum Verhältnis von Tradi-
tion, populärer Kunst und sozialer Transformation in Afrika durch. Am Beispiel von musikali-
schen und theatralischen Aufführungspraktiken soll die Rolle von Tradition in den sozialen
Transformationsprozessen ausgewählter Regionen der Dritten Welt untersucht werden. In
mehreren Feldforschungen (Südafrika 1985-86, Zambia und Zimbabwe 1988, und Ghana 1988)
wurde umfangreiches Material gesammelt, sozialgeschichtliche Interviews durchgeführt und
thematisch begrenzte Einzelstudien zu ausgesuchten Aufführungsstilen in Angriff genommen,
z. B. zu den kulturellen Organisationsformen im Tanz- und Musikbereich bei Zulu sprechen-
den Wanderarbeitern in Südafrika, zum Verhältnis von populären Musikern und Medien in
Zimbabwe und zur Rolle von ethnischen Bewußtseinsformen bei Dagara-Migranten in den
Goldminen von Ghana. An Veröffentlichungen sind hierzu erschienen: A Teeling of Prejudice -
Orpheus McAdoo and the Virginia Jubilee Singers in South Africa, 1890-1898. Journal för
Southern African Studies 14 (3): 331-350, 1988; Studies in Black Popular Music in South Africa,
1989 ; Horses in the Race Course -The Domestication of Ingoma Dancing in South Africa. Popu-
lar Music, 1989. [049/89]
Südafrika, Namibia, Himba; Ethologie, Kommunikation
Irenäus Eihl-Eihesfeldt von der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Ge-
sellschaft in Andechs und Kuno Budak von der Südwestafrikanischen Wissenschaftlichen Ge-
sellschaft in Windhoek, Namibia, arbeiten zusammen bei den Himba an der Dokumentation
von ungestellten Interaktionen und von Ritualen in Film und Ton (s. auch ZfE 114 [010/89],
[076/89] und [102/89]) mit dem Ziel, das Regelsystem zu erforschen, das soziale Interaktionen
auf verschiedenen Ritualisierungsstufen auf der non-verbalen und verbalen Ebene strukturiert.
Forschungsziel sind die stammesgeschichtliche Anpassung im menschlichen Verhalten im Kul-
turenvergleich, Vergleiche der Prozesse der „Grammatik" menschlichen Sozialverhaltens.
Die dazu nötige Feldforschung findet als Langzeitstudie seit 1971 mit bisher sechs Besuchen
im Kaokoland südlich von Okanguati statt. Das Verhaltensrepertoirc, insbesondere das kom-
munikative Verhalten, wird filmisch erfaßt. Bisher wurden 25000 m Film aufgenommen. Wei-
tere Feldforschungen sind für 1989 und die kommenden Jahre geplant. An Veröffentlichungen
liegen die Filme E 2725, E 2723, E 3075, E 3042, E 3041, E 3040 und E 3076 der Encyclopedia Ci-
nematografica, Göttingen vor und von Irenäus Eibl-Eibcsfeldt: Die Biologie des menschlichen
Verhaltens. 2. Auflage 1986. [050/89]
Asien
Vorderasien; Materielle Kultur, Zelt
Peter Alf or d Andrews und Mügül Andrews (vgl. auch ZfE 114 [055/89]) und [061/89]), beide
vom Institut für Völkerkunde der Universität Köln, arbeiten im Zusammenhang mit dem Tii-
Laufende Forschungen / Asien
251
binger Atlas des Vorderen Orients über die Verbreitung der Nomadenzeitformen im Vorderen
Orient. Feldforschung hat seit 1986 in Marokko, der Türkei, dem Iran, Qatar und Pakistan
stattgefunden. Die Feldforschung und Archivstudien werden vom Royal Institute of British Ar-
chitects, dem SSRC, dem Central Research Fund in London, dem British Institute of Persian
Studies, dem Aga Khan Programm, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und aus Eigenmit-
teln finanziert. [051/89]
Vorderasien, Türkei; Materielle Kultur, Ergologie
Gabriele Paleczek vom Institut für Völkerkunde der Universität Wien widmet sich seit 1987 der
Analyse traditioneller landwirtschaftlicher Geräte und Anbautechniken in der Türkei (s. auch
ZfE 112 [34/87]). Untersucht wird die Verbreitung einzelner Agrargerätetypen, ihre Verbin-
dung mit den Bodenverhältnissen, den Anbaumethoden, den Agrarflächen und ihrem Umfang,
etc. Ziel ist die Dokumentation und die Erstellung von Verbreitungskarten für traditionelle
Agrargeräte, in erster Linie von Pflügen. Dazu werden sowohl Feldforschungen, Archivstudien
in Museen der Türkei und Europas als auch einschlägige Veröffentlichungen und Photogra-
phien früherer Forscher herangezogen. Feldforschung und ein vorläufiger Ergebnisbericht sind
für 1989 geplant. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln und Mitteln der Hochschuljubiläums-
stiftung der Stadt Wien gefördert. [052/89]
Arabien, Munebbih; Kalender
Andre Gingrich vom Institut für Völkerkunde der Universität Wien hat seine Habilitations-
schrift (vgl. ZfE 112 [31/87]) über den Agrarkalender der Munebbih. Eine ethnologische Studie
zu sozialem Kontext und regionalem Vergleich eines tribalen Sternenkalenders in Südwestara-
bien eingereicht. Die Munebbih sind eine seßhafte, bäuerliche Stammesgesellschaft und siedeln
am Rande des jemenitischen Hochlandes. Die Arbeit behandelt schriftlose Formen der Zeitein-
teilung in dieser wenig stratifizierten Stammesgesellschaft. Sii vergleicht diese Konzeptionen
erstmals systematisch mit anderen südwestarabischen Daten und entwickelt daraus kulturhisto-
rische Hypothesen zur Entstehung der regional gebräuchlichen Zeitvorstellungen, wobei die
Ergebnisse der Nachbardisziplinen Islamwissenschaften und Geschichte mit berücksichtigt
werden. Das Vorhaben wurde von der Osterreichischen Forschungsgemeinschaft und dem
Österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung durch Teilfinanzie-
rungen der Feldforschungen 1983 und 1986 gefördert. Vorveröffentlicht wurde: Die Banû Mu-
nebbih des nördlichen Hawlân. Einige vorläufige Ergebnisse ethnologischer Feldforschung im
Nordwesten der AR Jemen, Sociologus 37/1, 1987, 89—93. [053/89]
Arabien, Asir; Sprache, Atlas
Harald Eist aus Freiburg arbeitet mit Methoden des linguistischen Sprachatlasses zur Ethnolin-
guistik des Asir in Saudi-Arabien. Er plant dazu 1990-91 eine Feldforschung. Die Arbeit wird
Zur Zeit aus Eigenmitteln finanziert. [054/89]
252
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Mittelasien; Handwerk, Weberei
Peter Alf ord Andrews und Mügül Andrews (vgl. auch ZfE 114 [051/89] und [061/89]), beide
vom Institut für Völkerkunde der Universität Köln, arbeiten seit 1968 an der Dokumentation
der Weberei, insbesondere der Flachweberei unter Nomaden und Dorfbewohnern im Iran und
in der Türkei. Folgende Daten werden erhoben: Photographische Dokumentation von Artefak-
ten; Terminologie der Webarbeiten und Motive; Kontext der Benutzung der Weberzeugnisse
im Zelt und im Dorf. Das Projekt wird aus Eigenmitteln finanziert und dauert an. [055/89]
Nordasien, Nanay; Religion, Schamanismus, Ausstellung
Evelin Haase, vormals am Museum für Völkerkunde der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in
Berlin, hat 1988 eine Ausstellung Der Geleiter der Seelen. Schamanismus bei den Nanay vorberei-
tet und durchgeführt. Die seit 50 Jahren nicht mehr der Öffentlichkeit zugängliche bedeutende
Sammlung mit Artefakten aus den 90er J ahren des letzten Jahrhunderts und Photographien von P.
Schimkjewitsch, die wenige Jahre nach der Sammlung in derselben Region aufgenommen wur-
den, machen sie zu einer der homogensten und am besten dokumentierten Sammlungen über
diese Ethnie Südostsibiriens. Die Ausstellung ist bis Mitte 1989 im Museum in Berlin zu sehen und
wird wahrscheinlich danach außerhalb Berlins gezeigt. Ein illustrierter Katalog Schamanismus -
Was ist das? sowie eine Dokumentation Völker zwischen Baikal und Pazifik. Fotos von Pjotr Sim-
kevic um 1895 sind als Begleitveröffentlichungen erschienen. [056/89]
Nordasien, Samojeden
Ivan E. Kortt vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin und Jurij B. Simcenko
von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften arbeiten seit 10 Jahren an einem gemeinsa-
men Projekt über traditionelle Weltanschauungen und Schamanismus der nordeuroasiatischen
Völker. Gearbeitet wird unter historischen und linguistischen Gesichtspunkten, wobei die tra-
ditionellen Weltanschauungen und der Schamanismus der nordeuroasiatischen Völker im Vor-
dergrund stehen. Feldforschungen haben 1979 auf der Taimyr-EIalbinsel und 1988 in Jakutien
stattgefunden; Archivarbeit wurde in Leningrad, Moskau und Jakutsk durchgeführt. Bisher
sind folgende gemeinsame Veröffentlichungen aus dem Projekt entstanden: Wörterverzeichnis
der nganasanischen Sprache (1985); Materialien zur geistigen und dinglichen Kultur der Ngana-
san-Samojeden (1989). Eine Veröffentlichung über nganasanischen Schamanismus ist m Vorbe-
reitung. Die Arbeit wird finanziell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, von der Sowje-
tischen Akademie der Wissenschaften und von Systemata Mundi gefördert. [057/89]
Zentralasien, Slaven; Kunst, Religion, Kleidung
Barbara Jacobs vom Institut für Völkerkunde der Universität Köln arbeitet seit 1986 an einer
Dissertation über die Kleidung der Altgläubigen Süd-Sibiriens Ende des 19. bis Anfang des
20. Jahrhunderts. Nach etwa einjährigen Literaturrecherchen hat sie sich zur weiteren Daten-
aufnahme (Archiv-, Bibliotheks- und Museumsarbeit) von Februar 1988 bis Juli 1989 in Mos-
Laufende Forschungen / Asien
253
kau, Leningrad und in Sibirien aufgehalten. Die Arbeit soll 1991 abgeschlossen werden und ei-
nen Beitrag zur semiotischen Kleidererfassung liefern. Der Auslandsaufenthalt wird vom Deut-
schen Akademischen Austauschdienst finanziell unterstützt. [058/89]
Zentralasien, Turkmenen; Kunst, Kleidung, Ausstellung
Hermann Rudolph, Peter W. Schienerl und Maria Zernickel forschen seit 1988 gemeinsam über
die Amulettwertigkeit von Tracht und Schmuck der Turkmenen. Den Ausgangspunkt für das
Forschungsvorhaben bildet eine Privatsammlung turkmenischer Textilien, Schmuckstücke und
Amulette, die in einer Sonderausstellung im Zweigmuseum Oettingen des Staatlichen Museums
für Völkerkunde München ab 1990 gezeigt werden soll. Neben der Objektdokumentation wer-
den die aufgrund von Feldforschung M. Zernickels in Turkmenien gewonnenen Erkenntnisse
zu den Kleidungssitten und Schmuckgewohnheiten der Turkmenen ausgewertet. Die Stellung
des turkmenischen Amulettbrauchtums innerhalb des islamischen Amulettwesens soll gleich-
falls eingehend untersucht werden. Die Abschlußveröffentlichung Steppenkrieger gegen Dämo-
nen — Schmuck, Tracht und Amulett hei den Turkmenen wird fast alle Textilien und einen Teil
der übrigen Gegenstände der Sammlung mit Farbtafeln illustrieren. [059/89]
Südasien, Indien; Stammesgesellschaft, symbolische Klassifikation
Von Januar 1983 bis März 1984, Januar bis März 1986 und September bis Dezember 1986 hielt
sich Dagmar Stachowski vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin bei den Dan-
gria Kond in Orissa (Indien) zu ethnologischer Primärforschung auf (vgl. ZfE 108 [64/83]). Die
Studie über die Dangria Kond, eine Stammesgesellschaft Mittelindiens befindet sich nun nach
der abgeschlossenen Feldforschung im Stadium der detaillierten Auswertung. Insbesondere soll
in der geplanten Veröffentlichung die Weltanschauung der Dangria Kond, die ihren symboli-
schen Ausdruck in Mythos und Ritual etc., aber auch im alltäglichen Leben findet, aufgezeich-
net werden.
Finanziert wurde die Forschung teils durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, teils
durch die Landesgraduiertenförderung und durch Eigenmittel. Auf einem Vortrag zur Jahresta-
gung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde im Oktober 1987 wurde über die Haus- und
Dorfanlage der Dangria-Kond/Orissa in Köln berichtet. [060/89]
Südasien, Pakistan, Sazin; Gesellschaft
Peter Alford Andrews (s. auch ZfE 114 [051/89] und [055/89]) vom Institut für Völkerkunde der
Universität Köln und Karl Jettmar vom Siidasien-Institut der Universität Heidelberg arbeiten
seit 1987 über die Organisation des Dorfes Sazin im nördlichen Pakistan. Daten zu folgenden
Bereichen wurden 1987 von Andrews in Feldforschung und Literaturstudien erhoben: Dorfar-
chitektur, Bauterminologie, Sozialorganisation und Agrarstruktur. Diese Daten werden mit In-
formationen über andere Dörfer der Northern Areas und von Indus-Kuhistan verglichen, die
Karl Jettmar in früheren Feldaufenthalten aufgezeichnet hat. Das Vorhaben wird finanziell von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und soll 1989 abgeschlossen werden. Ein
Kurzbericht ist erschienen in: Folklore Heritage Center, Islamabad, 1988. [061/89]
254
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Südasien, Himalaya; Nomadismus, Gesellschaft, Ökologie
Michael Casimir und Arpana Rao vom Völkerkundlichen Institut der Universität Köln studie-
ren in einer mehrjährigen Untersuchung die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethni-
schen Gruppen in Jammu und Kashmir und ihrer Wirtschaft und Sozialorganisation. Die unter-
schiedlichen gruppenspezifischen Formen des pastoralen Nomadismus stehen im Zentrum des
Interesses. Feldforschung fand in Jammu und Kaschmir in den Jahren 1980 bis 1987 statt und
wird fortgeführt. Das Vorhaben wurde von 1982 bis 1986 von der Deutschen Forschungsge-
meinschaft finanziell gefördert.
Folgende Veröffentlichungen von Casimir sind dazu erschienen: A Brief Comment on Eco-
logy and Development in the Kashmir Valley. Bulletin of the Indian Society for Flimalayan Stu-
dies 1 (3): 3-4 (1984); Flocks and Food. A Biocultural Approach to the Study of Pastoral Food-
ways (1989); von Rao liegen vor: Entstehung und Entwicklung ethnischer Identität bei einer is-
lamischen Minderheit in Südasien: Bemerkungen zur Geschichte der Bakkarwal im westlichen
Himalaya (1988); Levels and Boundaries in Native Models: Social Groupings Among the Bak-
karwal of the Western Himalayas. Contributions to Indian Sociology 22 (2): 195-227(1988); To
Be or Not to Be Territorial: Pastoral Resources, Demographic and Political Constraints in the
Western Himalayas (1989); von beiden gemeinsam verfaßt liegen vor: Mobile Pastoralists of
Jammu and Kashmir. A Preliminary Report. In: Nomadic Peoples 10: 40-50 (1982); The Four
Seasons of a Nomad: Following The Bakkarwal Trail. In: The India Magazine 4 (1): 6-23 (1983);
Pastoral Niches in the Western Himalayas (Jammu and Kashmir). In: Himalayan Research Bul-
letin 4 (2): 6-23 (1985); Vertical Control in the Western Himalayas: Some Notes on the Pastoral
Ecology of the Nomadic Bakkarwal ofJammu and Kashmir. In: Mountain Research and Deve-
lopment 5 (2): 221-232 (1985); Explorations in Man-Environment Interaction in the Western
Himalayas. In: Explorations in the Tropics: 231-247 (1987). [062/89]
Südasien, Indien, Vagri; Ethnographie, orale Literatur
Lukas Werth vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin arbeitet seit 1986 im
Rahmen eines Promotionsvorhabens an der ethnographischen Darstellung einer zigeunerarti-
gen Gesellschaft (Peripatetiker) Indiens, den Vagri. Die Arbeit beruht auf einer Feldforschung
von insgesamt neunundzwanzig Monaten, die hauptsächlich in Tamil Nadu durchgeführt
wurde.
Die Vagri stammen ursprünglich aus dem Nordwesten Indiens, Gujarat und Rajasthan. Sie
sprechen in Tamil Nadu unter sich eine eigene Sprache und besitzen eine eigene soziale Struktur
und Religion. Vagri leben in vielen Teilen Indiens unter verschiedenen Fremdbezeichnungen.
Ihre Kultur folgt jedoch einem unter den lokalen Variationen widererkennbaren Muster, das
sich weniger an den regionalen Strukturen orientiert, sondern eher dem anderer zigeunerartiger
Gesellschaften ähnelt, wie auch Gegebenheiten in ihrem Herkunftsgebiet und bei mittelindi-
schen Stammesgesellschaft. Die Arbeit versucht, die besonderen Eigenschaften der Kultur der
Vagri vor allem unter Heranziehung ihrer sozialen Organisation, des Ritualsystems und der
reichhaltigen mündlichen Literatur herauszuarbeiten. Besonders bei der Erfassung letzterer be-
steht seit 1986 eine Zusammenarbeit mit Thomas Malten vom Siidasien-Institut der Universität
Heidelberg, der an einer auf einer umfangreichen Textsammlung basierenden Grammatik und
an einem Wörterbuch der Sprache der Vagri arbeitet. Finanziert wurde der größte Teil des Aus-
Laufende Forschungen / Asien
255
landsaufenthaltes durch den Deutschen Akademischen Auslandsdienst, die gegenwärtige Aus-
arbeitung wird getragen durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen
Volkes.
Die Arbeit wurde im Oktober 1989 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völker-
kunde in Marburg vorgetragen. [063/89]
Südasien, Indien, Mandi; Wirtschaft, Gesellschaft
Die Wirtschafts- und Sozialstruktur der Stadt Mandi, Himachal Pradesh, Indien werden in ei-
nem Forschungsprojekt unter Leitung von Georg Pfeffer vom Institut für Ethnologie der Freien
Universität Berlin untersucht. Außer dem Projektleiter sind Brigitte Luchesi, Klaus Hesse und
Elisabeth Conzelmann-Hesse beteiligt.
Ziel des auf intensiver Feldforschung beruhenden Teilvorhabens von Klaus Hesse ist die Er-
forschung der Khatri und des Bazars von Mandi. Die Khatri sind eine traditionelle urbane Elite
von Pländlern, Staatsbediensteten und Landbesitzern. Erforscht werden sollen: Die Urbanen
Strukturen der Stadt Mandi, ihres Bazars und ihres Handels; die soziale und wirtschaftliche Or-
ganisation der Khatri; die Interdependenz von Sozial- und Wirtschaftsstruktur und das Verhält-
nis von soziokulturellem Wertesystem und wirtschaftlichem und sozialem Handeln. Diese Pro-
blemfelder sollen in der diachronen Perspektive der lebendigen Erinnerung untersucht werden,
um den sozialen Wandel aufzuzeigen.
Elisabeth Conzelmann-Hesses Dissertationsvorhaben innerhalb dieses Projektes beschäf-
tigt sich mit der Ordnung der Gesellschaft. Handwerker und Kastenverhältnis. Zentrale Fragen
der Gesellschaftsordnung auf mehreren Ebenen im Zusammenwirken mit dem traditionellen
Kastenwesen werden untersucht. Die Studie konzentriert sich insbesondere auf die Kasten der
Handwerker und Dienstleistenden. Bei der kasteninternen Struktur interssiert vornehmlich der
Zusammenhang zwische Sekte und ,sabha' (d. h.,Kastenorganisation'). Symbolische Repräsen-
tationen der Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie die räumliche Ordnung der Stadt, der Ka-
lender und der jahreszeitliche Festzyklus werden ebenfalls untersucht. Ein einjähriger Feldfor-
schungsaufenthalt wurde 1988 abgeschlossen. Das Gesamtprojekt wird von der Stiftung Volks-
wagenwerk finanziell gefördert. [064/89]
Südasien, Tamilen; orale Literatur
Gabrielle Eichinger Ferro-Luzzi aus Rom (Italien) setzt ihre 1983 begonnenen Forschungen
zum zeitgenössischen Tamil-Humor (s. ZfE 113 [42/88]) fort. Die Arbeit ist kurz vor der Fer-
tigstellung einer abschließenden Monographie, die The Taste of Laughter. Aspects of Tamil Hu-
mor heißen wird. Über das Thema hat sie außerdem 1988 auf dem 12th International Congress
of Anthropological and Ethnological Sciences in Zagreb ein Symposium veranstaltet sowie auf
dem 10th European Congress of Modern South Asian Studies referiert. [065/89].
256
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Südasien, Sri Lanka, Singhalesen; Darstellende Kunst, Museum
Wolfgang Mey (früher: Linden Museum Stuttgart, jetzt: Museum für Völkerkunde in Ham-
burg) führt seine 1984 begonnenen und in ZfE 113 [45/88] und ZfE 112 [33/87] berichteten For-
schungen zur Geschichte und zum Inhalt des Kolam-Spiels in der Wijesooriya-Familie in Amha-
langoda (Sri Lanka) mit dem Ziel fort, das Kolam-Spiel in seinen mythologisch-historischen,
politischen und soziokulturellen Bezügen zu dokumentieren. Jedes Jahr sind zwei bis drei Mo-
nate Feldforschung geplant. Die Arbeit soll vorerst unbefristet weiterlaufen und wird aus Mit-
teln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und aus Eigenmitteln finanziert.
Eine gemeinsam mit Martin Prössler und Anna Wischkowski verfaßte Broschüre über das
Masken-Museum Ambalangoda ist 1988 in Colombo erschienen, ferner von Mey: The Drama-
turgy of Crisis. Mask Plays in Sri Lanka. 9th European Conference of Modern South Asian Stu-
dies, Heidelberg, 1986; A Museum Promotes Change. The Ambalangoda Mask Museum. ICO-
FOM Study Series 14, 1988. Ferner zwei Vorträge auf dem International Congress of Anthro-
pological and Ethnological Sciences in Zagreb 1988: Entertaining Anthropologists. Rethinking
Sinhalese Healing Rituals und Bitter Words Clad in Beauty. Humour in Sinhalese Theatre und
ein Vortrag vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte im
September 1989. [066/89]
Südasien, Sri Lanka, Singhalesen; Religion, Kunst
Anna Wischkowski aus Hamburg arbeitet an einer Dissertation über das Sanni Yakuma, eines
der großen singhalesischen Heilrituale. Zunächst wird die Maskenikonographie, darauf der Ab-
lauf des Rituals in seinen mythologischen und aktuellen Bezügen (traditionelle Medizin und
Kulturwandel) erforscht. Der Text des Rituals wurde aufgenommen und übersetzt. Er wird mit
anderen bereits veröffentlichen Texten quellenkritisch verglichen. Außerdem wird die Spiel-
struktur erfaßt, analysiert und gedeutet. Die Arbeit wird aus Eigenmitteln finanziert. Sie ist eng
mit dem Projekt von Wolfgang Mey koordiniert (ZfE 114 [066/89], s. auch die dort genannten
Veröffentlichungen und ZfE 113 [45/88]). [067/89]
Südostasien, Philippinen, Alang Mangyan; Gesellschaft, orale Literatur
Peter Bräunlein und Andrea Lauser haben von März 1987 bis März 1988 eine zwölfmonatige
Feldforschung bei den Alang Mangyan der Insel Mindoro (Philippinen) durchgeführt, um Da-
ten für ihre Dissertationen zu sammeln. Den ursprünglichen, auch in ZfE 112 [28/87] berichte-
ten Plan, bei den Negritos in der Provinz Camarines zu arbeiten, konnten sie aus politischen
Gründen nicht verwirklichen und haben sich im Feld auf die hier berichtete Forschungsregion
umorientiert. Erstellt werden sollte eme Dorfstudie zur Sozioökonomie und der oralen Litera-
tur. Während zu anderen Mangyan-Gruppen bereits zum Teil umfangreiche Forschungen vor-
liegen, ist die Untergruppe der Alangan bislang kaum untersucht worden. Durchgeführt wurde
die Feldforschung vornehmlich in zwei Dörfern, kulturgeographisch lokalisiert zwischen
schwer zugänglichem Hinterland (sehr beschränkte Akkulturation) und Tiefland (unmittelbare
Nähe zur philippinischen Tieflandbevölkerung). Schwerpunkt der Forschung war die mög-
lichst umfassende Erhebung zu soziokulturellen Verhältnissen während des Jahreszyklus und
Laufende Forschungen / Asien
257
die Aufnahme von Sprachdaten (Wörterlisten und orale Literatur jeglicher Art). Letzteres war
besonders wichtig und erforderte auch grammatikalische Analysen, da bisher keine Untersu-
chung über die Alangan-Sprache vorliegt. Verwendung fand die Methode der teilnehmenden
Beobachtung bei wirtschaftlichen Aktivitäten, daneben strukturierte Tiefeninterviews. Die
Feldforschung wurde durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
gefördert. [068/89]
Südostasien, Indonesien, Java; Stadtethnologie, kognitive Anthropologie
Jutta Daszenies vom Völkerkundlichen Institut der Universität Tübingen arbeitet an einer Dis-
sertation über Migranten in Bandung (Indonesien): Kognitionen und Anpassungsstrategien im
gemischt-ethnischen Urbanen Kontext. Die Studie soll fallbezogen zeigen, ob und wie Migranten
ihre Überzeugungen einem gemischt-ethnischen städtischen Kontext anpassen. Es soll auch ex-
emplarisch nachgewiesen werden, wie man die Methoden der kognitiven Ethnologie auf den
Bereich des Alltagslebens anwenden kann. Hierzu ist ab Sommer 1989 eine einjährige Feldfor-
schung geplant. Finanziert wird die Arbeit durch den Deutschen Akademischen Austausch-
dienst. [069/89]
Südostasien, Indonesien, Makassar; Gesellschaft, Geschlechterrollen; Uberzeugungssy-
steme
Martin Rössler und Birgitt Röttger-Rössler, beide vom Institut für Völkerkunde der Universität
Göttingen, arbeiten seit 1982 über Sozialstruktur, Üherzeugungssysteme und das Geschlechter-
verhältnis hei den Makassar von Gowa. Ziel der Forschung ist es, das Verhältnis von überliefer-
ter Ideologie (kognitiven Systemen) und ihrer Umsetzung im Alltagshandeln sowie das Ge-
schlechterverhältnis in dieser von traditionell rigider Geschlechtertrennung geprägten Gesell-
schaft unter den Bedingungen raschen sozialen Wandels zu erfassen. Als Methoden werden
Verfahren der kognitiven, psychologischen und interpretativen Ethnologie sowie des symboli-
schen Interaktionismus eingesetzt, wobei gleichzeitig reflektiert werden soll, inwieweit diese
Ansätze im gegebenen Fall praktikabel sind. Eine erste Felderhebung hat 1984/85 stattgefun-
den, eine zweite Feldforschung ist für 1990/91 geplant. Finanzielle Förderung durch die Deut-
sche Forschungsgemeinschaft wird angestrebt. Bisher sind zwei Monographien erschienen : von
Martin Rössler: Die soziale Realität des Rituals. Kölner Ethnologische Studien 14, 1987 und von
Birgitt Röttger-Rössler: Rang und Ansehen bei den Makassar von Gowa. Kölner Ethnologische
Studien 15, 1989. [070/89]
Südostasien, Bali; Musik
Danker H. Schaareman vom Ethnologischen Seminarund dem Musikwissenschaftlichen Insti-
tut der Universität Basel arbeitet im Rahmen des Projektes „Kult und Musik" seit 1972 über Ri-
tual und Musik auf Bali (Indonesien). Das in der ersten Feldforschung 1972/73 noch auf ein ein-
ziges Dorf in Ost-Bali beschränkte Material wurde in der Folgezeit auf ganz Bali erweitert. Die
für die Jahre 1985/86 geplante Feldforschung (s. ZfE 111 [19/86]) konnte erst 1987/88 (16 Mo-
258
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
nate) verwirklicht werden. Die anfängliche Hypothese über die zugrundeliegende Struktur-
gleichheit von Ritualmusik und Ritual (das gleiche wird in beiden Bereichen verschieden ausge-
drückt) scheint sich zu erhärten. Für die siebentömge Ritual-Musik ist das Fazit jetzt: der Ton
„ding" ist verbunden mit,Weiblichkeit', mit ,Ende'; der Ton „danggedé" mit,Männlichkeit', mit
,Neubeginn'; der Ton „dung" mit der ,Verehrung der Vorfahren'; der Ton „dang cenik" mit
,Fruchtbarkeit',,materiellem Wohlergehen', mit dem ,Dorf als sozial-religiöser Einrichtung' ; der
Ton „dong cenik" mit ,Reinigung' und dem ,Ursprung des Dorfes'. Mit siebentömger Ritual-
Musik ist hier die Musik der Orchester „gambang", „selunding", „gong luang", „saron" und
„caruk" gemeint, die von der fünftönigen Ritual-Musik des „gong gedé"-Orchesters ergänzt
wird. Die gegenwärtige Forschung wird aus Eigenmitteln finanziert.
Aus dem Projekt sind die Schallplatten Ritual Music from Bali I-IV (Bärenreiter/Musica-
phon BM 30 SL 2570, 2571, 2573 und 2574) entstanden. Ferner als Schnftveröffentlichungen er-
schienen oder geplant: The Power of Tones in Balinese Ritual Music. Forum Ethnomusicologi-
cum 5; Balinese Music in Context. Forum Ethnomusicologicum NN (voraussichtlich 1990); ge-
plant sind ferner einige Videofilme zu den Themen Musik im Kontext, Musikanalytische Filme,
Totenrituale und Pancawalikerama in Batur 1987. [071/89]
Südostasien, Java; symbolische Prozesse
Die verschiedenen Bedeutungen der Meeresgöttin Ratu Kidul im gegenwärtigen Alltagslehen in
Zentraljava, Indonesien ist das Thema des Habilitationsvorhabens von Judith Schlehe, Institut
für Völkerkunde, Tübingen.
Im Herbst 1989 will sie eine zwölfmonatige Feldforschung in Zentral-Java beginnen. Dabei
sollen die unterschiedlichen Vorstellungen über Ratu Kidul bezüglich spezifischer Teile der Be-
völkerung erfaßt und differenziert werden. Besonderes Interesse gilt der Dynamik dieser Vor-
stellungen im Kontext des sozialen Wandels. Ziel der Untersuchung ist es aufzuzeigen, wie
durch den Bezug auf Ratu Kidul sowohl gesellschaftliche Verhältnisse strukturiert als auch na-
turgegebene Umweltbedingungen kulturell konstruiert werden. In der Interpretation sollen
mehrere theoretische Ansätze integriert werden. Das Projekt wird durch ein Stipendium der
Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Ein Vortrag zum Thema wurde auf dem Work-
shop "Women as Mediators in Indonesia" des Koninklijk Institut voor Taal-, Land- en Volken-
kunde in Leiden im September 1988 gehalten. [072/89]
Südostasien, Sulawesi, Minahasa; Medizin
Peter van Zeuwijk vom Ethnologischen Seminar der Universität Basel arbeitet über die traditio-
nelle Medizin der Minahasa in Nord-Sulawesi. Er hat 1987/88 eine einjährige Feldforschung mit
Unterstützung der dort tätigen protestantischen Kirche der Minahasa (GMIM) durchgeführt.
Zunächst wurde die traditionelle Medizin ethnographisch erfaßt und darüber ein Bericht er-
stellt. Danach wurden ab 1988 Heiler-Patientbeziehungen und deren Umfeld, der medizinische
Pluralismus, die eigenständigen traditionellen Medizinsysteme u. a. erfaßt. Es ist auch an die Er-
arbeitung entwicklungspolitisch verwertbarer Vorschläge gedacht: Angepaßte Gesundheits-
dienste; Annäherung der Primary Health Care an die traditionelle Medizin; Förderung der tra-
ditionellen Medizin, präventive versus kurative Medizin. Eine zweite Feldforschungskampagne
Laufende Forschungen / Asien
259
ist für 1989/90 geplant. Finanziell wird die Arbeit vom schweizerischen Departement des Äuße-
ren, Direktion für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit und von der Eidgenös-
sischen Technischen Hochschule in Zürich gefördert. [073/89]
Ostasien, China; traditionelle Kultur
Über das Verhältnis von Tradition und Modernisierung im heutigen China arbeitet Thomas He-
berer vom Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Duisburg. Die Rolle
traditioneller Werte und Institutionen für die Gegenwart soll untersucht werden. Sahen die Mo-
dernisierungstheorien der 50er und 60er Jahre in der traditionellen Kultur eher ein Entwick-
lungshindernis und machten die sogenannten Dcpendenz- und Entwicklungstheoretiker den
Fehler, kulturelle Faktoren bei ihren Analysen außer acht zu lassen, so wird der Erfolg der ost-
asiatischen Länder heute vielfach der konfuzianischen Tradition zugeschrieben. Dieser catch-all
Begriff wird zur Erklärung alles anders nicht Erklärbaren in Ostasien herangezogen. Das Vor-
haben soll untersuchen, welche Momente traditioneller Kultur im heutigen China noch wirken,
entwicklungsfördernd wie hindernd, und ob traditionelle Strukturen sich nutzbringend in eine
Modernisierungsstrategie in China einbringen lassen.
Zu Heberers in ZfE 113 [47/88] angekündigtem, inzwischen abgeschlossenem Projekt ist er-
schienen: Die Rolle der Urbanen Individualwirtschaft für Arbeitsmarkt und Stadtwirtschaft in
China. Bremer Beiträge zur Geographie und Raumplanung, Bremen 1989. Ebenfalls ist im Rah-
men dieser Forschungstätigkeit erschienen: T. Heberer und W. Taubmann, Die städtische Pri-
vatwirtschaft in der VR China - 'Second Economy' zwischen Markt und Plan, in: G. Leng und
W. Taubmann, Geographische Entwicklungsforschung im interdisziplinären Dialog. 10 Jahre
,Geographischer Arbeitskreis Entwicklungstheorien'. Bremer Beiträge zur Geographie und
Raumplanung, Bremen 1988.
Zu seiner Forschung über ethnische Minderheiten und Minoritätenprobleme in China ist
soeben in den USA der Band China and Its National Minorities: Autonomy or Assimilation, Ar-
monk/N. Y. (Sharpe-Verlag) erschienen sowie der Beitrag Ökonomische und gesellschaftliche
Modernisierung - Ethnische Minderheiten in der VR China im Spannungsfeld von Fortschritt
und kultureller Tradition, in : H. J. Häßler/C. v. Heusinger (Hg.), Kultur gegen Krieg - Wissen-
schaft für den Frieden, Würzburg (Königshausen und Neumann), 1989. Außerdem: T. Heberer
und R. Weigelin, China auf dem Weg ins Jahr 2000. Politische, ökonomische und sozialpolitische
Implikationen des Reformkurses. Hg.: Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung, Bad
Honnef, 1989 und T. Heberer/R. Weigelin, Gibt es einen chinesischen Weg zum Sozialismus? in:
K. Fritsche (Hg.), Verlorene Träume? Sozialistische Entwicklungsstrategien in der Dritten
Welt, Stuttgart (Schmetterling), 1989. [074/89]
Ostasien, Taiwan; Musik, Dokumentation
Im September/Oktober 1987 hat Wolfgang Eaade von der Universität Zürich sechs Wochen in
Taiwan verbracht, um traditionelle Musik aufzunehmen (vgl. auch [005/89], [025/89] und
[079/89]). Tonaufnahmen wurden bei den Ami, Atayal, Bunun, Paiwan, Puyuma, Rukai, Siraya
und Yami gemacht. Insgesamt konnten 113 einzelne Aufnahmen auf 77h Zoll Einspur-Stereo-
bändern in 19 cm/sec eingespielt werden. Es handelt sich um Sologesänge, Gruppengesänge,
260
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
örtlich komponierte Kirchenhymnen und Instrumentalmusik. Die Aufnahmen sind im "Music
of Man Archive", W. Laade, Holzmoosrütistr. 11, CH-8820 Wädenswil, Schweiz zugänglich.
[075/89]
Ozeanien
Neu Guinea, Eipo; Ethologie, Sprache, Medizin
Die Dokumentation von ungestellten sozialen Interaktionen und Ritualen in Film und Ton ist
das Thema eines seit 1984 laufenden Forschungsprojektes (vgl. ZfE 111 [25/86]), das von Ire-
naus Eibl-Eibesfeldt (s. auch ZfE 114 [010/89], [050/89] und [102/89]) von der Forschungsstelle
Humanethologie der Max-Planck-Gesellschaft m Andechs geleitet wird. An weiteren Mitarbei-
tern sind Wulf Schiefenhövel und Volker Heeschen von derselben Forschungsstelle beteiligt. In-
itiiert wurde das Projekt von Klaus Helfrich und Gerd Koch vom Museum für Völkerkunde,
Berlin.
Ziel des Vorhabens ist es, das Regelsystem zu erforschen, das soziale Interaktionen auf ver-
schiedenen Ritualisierungsstufen auf der nonverbalen und auf der verbalen Ebene strukturiert.
Damit soll ein Beitrag für die kulturenvergleichende Erforschung der stammesgeschichtlichen
Anpassungen im menschlichen Sozialverhalten geleistet werden. 1989 befindet sich Volker
Heeschen auf einer mehrwöchigen Feldforschung in Neu Guinea, Wulf Schiefenhövel plant eine
Feldforschung auf den Trobriand Inseln.
Die Arbeit wird aus Mitteln der Max-Planck-Gesellschaft und des Forschungsschwerpunk-
tes „Mensch, Kultur und Umwelt im zentralen Bergland von West-Neuguinea" der Deutschen
Forschungsgemeinschaft finanziert.
Über das Projekt und Vorlaufprojekte informieren die folgenden Veröffentlichungen:
V. Heeschen und W. Schiefenhövel: Wörterbuch der Eipo-Sprache. 1983; I. Eibl-Eibesfeldt:
Die Biologie des menschlichen Verhaltens. 2. Auflage 1986; W. Schiefenhövel: Geburtsverhalten
und reproduktive Strategien der Eipo. 1988; I. Eibl-Eibesfeldt, W. Schiefenhövel und V. Hee-
schen: Kommunikation bei den Eipo. 1989. [076/89]
Neu Guinea, Yupno; Medizin
Jürg Wassmann vom Ethnologischen Seminar der Universität Basel führt seit 1986 als Habilita-
tionsvorhaben Untersuchungen zu Krankheit und Kultur der Yupno durch. Dabei versucht er in
einer einzigen Kultur verschiedene kognitive Teilbereiche (Zählen, Klassifizieren, Vorstellun-
gen zu Traum, Raum und Krankheit) zu erfassen mit dem Ziel, eine kognitive (emische) Grund-
ordnung zu entdecken. Methodischer Ansatz bilden die kognitive Anthropologie, die Ethno-
science und die Entwicklungspsychologie Piagets. Außer dem Projektleiter sind derzeit die Eth-
nologin Verena Keck, die Medizinerin Sandra Staub und der Ethnologe Pierre Dasen beteiligt
(s. auch ZfE 111, [26/86], [27/86] und [31/86]). Diese Mitarbeiter widmen sich der Erfassung des
Medizinsystems der Yupno. Insgesamt wurden zwischen 1986 und 1988 18 Monate Feldfor-
schung durchgeführt. Das Resultat der Feldforschung, die Darstellung des medizinischen Plu-
Laufende Forschungen / Ozeanien
261
ralismus bei den Yupno und die Einordnung ihres traditonellen Systems in den Rahmen ethno-
medizinischer Literatur wird die Dissertation Verena Kecks bilden. Neben dem traditionellen
Wissen zum Komplex Krankheit (Ursache, Diagnose, Therapie, Spezialisten, etc.) wurden auch
der Einfluß der westlichen Medizin in Form eines Health Centers sowie Fragen nach der Ak-
zeptanz dieser Medizin untersucht. Dies und der Gesundheitszustand der Bevölkerung eines
Yupno-Dorfes nach westlichen Kriterien ist Untersuchungsgegenstand von Sandra Staub. Das
Projekt soll insgesamt bis 1990 abgeschlossen sein.
Im Herbst 1988 hat Verena Keck im Nakina-Gebiet (Finisterre Range) eine zusätzliche
zweimonatige Feldforschung zur Sozialstruktur durchgeführt, über deren Ergebnisse in einem
Aufsatz berichtet werden soll. Die Arbeit wird zur Zeit aus Eigenmitteln der Beteiligten und aus
einem Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes (Keck) finanziert.
[077/89]
Melanesien, Trobriand, Massim; Sprache
Gunter Senft von der Forschungsstelle für Humanethologie der Max-Planck-Gesellschaft in
Andechs setzt seine 1982 begonnene Forschung über das System der Klassifikationspartikel in
der Kilivial Sprache — Studien zum Erwerb, zum umgesetzten Bestand in der Alltagssprache und
zum Sprachwandel, fort (s. auch ZfE 111 [25/86]). Kilivila, die austronesische Sprache der Tro-
briander, klassifiziert alle Nomen aufgrund verschiedener Eigenschaften der Referenten, die sie
bezeichnen. Senft hat in seinem 1986 veröffentlichten Buch 178 solche Klassifikatorcn beschrie-
ben. Sie spielen bei der Wortbildung von Numeralen, Adjektiven, Demonstrativpronomen und
einem numerischen Fragepronomen bzw. -adverb, aber auch syntaktisch im Diskurs eine Rolle.
Auf der Grundlage früher erhobener und zum Teil veröffentlichter Daten wird untersucht, wie
diese Partikel erworben und in der Alltagssprache erzeugt werden und ob das System einem
Sprachwandel unterliegt. Die von den Klassifikatoren konstituierten semantischen Domänen
werden beschrieben und die Regeln werden formuliert, denen ein Sprecher bei der Auswahl ei-
ner Partikel folgen mag. Die Ergebnisse werden in einer viermonatigen Nachuntersuchung im
Feld durch teilnehmende Beobachtung und direkte Befragung (Sprachbewertungstests) über-
prüft.
Das Vorhaben wird durch ein Forschungsstipendium der DFG und die vorhandenen Ein-
richtungen der Forschungsstelle auf Trobriand unterstützt. An Veröffentlichungen zu diesem
Projekt sind von Gunter Senft erschienen: Kilivila - the Language of the Trobriand Islanders.
Mouton Grammar Library 3, Berlin: Mouton & de Gruyter, 1986; Klassifikationspartikel im
Kilivila..., in: Linguistische Berichte 99: 373-393, 1985. [078/89]
Melanesien, Neu Britannien, Lote, Mengen; Musik
Im Rahmen des Unesco „Territorial Survey of Oceanic Music" haben im August und September
1988 Wolfgang Laade und seine Frau vom "Music of Man Archive", Wädenswil, Schweiz
(s. auch [005/89], [025/89] und [075/89]) bei den Lote von Uvol (Melkoi Distrikt) und den Men-
gen der Jacquinot Bucht (Pomio Distrikt) insgesamt 28 Stunden Vokalmusik (447 Stücke), In-
strumentalmusik (27 Stücke) und gesprochene Texte (27) auf Tonband aufgenommen. Es wurde
versucht, alle Bereiche der traditionellen Vokalmusik zu dokumentieren: Tanzlieder, Kriegslie-
262
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
der, Zeremonialgesänge, Volkserzählungen mit Liedern, Zaubersprüche. Die aufgenommene
Instrumentalmusik besteht vor allem aus Flötenstücken (Längsflöte, Panflöten) und ein paar
Maultrommelstücken. Bei den meist in Pidgin-Englisch gesprochenen Texten handelt es sich
um Beschreibungen von Zeremonien und Erläuterungen zu Tänzen und Musikstücken, Erzähl-
gut, das Musikinstrumente betrifft und Volkserzählungen, die Lieder einschließen.
Die Originaltonbänder befinden sich in Laades "Music of Man Archive", Kopien im Archiv
des Instiute of Papua New Guinea Studies, Port Moresby und im Archive of Maori and Pacific
Music der Universität von Auckland, Neuseeland. [079/89].
Amerika
Entdeckung, Eroberung, Tagung
Vom 23. bis 26. November 1988 fand in Eichstätt eine Tagung mit dem Thema „Eroberung und
Inbesitznahme Amerikas im 16. Jahrhundert. Rechtfertigung, Realität und literarische Re-
flexion" statt. Der folgende Bericht stammt von Stephen Jens Grunberg:
Die Tagung wurde von Karl Kohut (Katholische Universität Eichstätt) in Zusammenarbeit
mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lateinamerika-Forscher (ADLAF) organisiert. Die
ethnologischen einschlägigen Referate waren: „Las crónicas mexicanas de la conquista" von José
Luis Martínez (México); „Heldengeschichten aus der Conquista. Zwei Basken in Nueva Gra-
nada im Wettstreit um die Gunst des kastilischen Königs: Lope de Aguirre und Pedro de Ursúa "
von Kartin Greifeid (Frankfurt); „Der Charakter der portugiesischen Kolonisation Brasiliens"
von Jürgen Hell (Ost-Berlin); „Las Ordenanzas de Felipe II sobre nuevos descubrimientos
(1573), consolidación de la política de penetración pacífica" von Ismael Sanchez Bella (Pam-
plona) ; „Die Ausbildung kolonialer Strukturen in spät erschlossenen Binnenräumen. Beispiel ar-
gentinischer Gran Chaco" von Jürgen Bünstorf (Münster); „Mythen aus der Alten und Neuen
Welt in den Chroniken des 16. Jahrhunderts" von Ottmar Ette (Eichstätt); „Die Darstellung der
Conquista in mexikanischen Schulbüchern" von Hans-Jörg Sander (Bonn); „La pugna francis-
cana por México" von Georges Baudot (Toulouse); „Der Mythos der Tupinambá im 16. Jahr-
hundert" von Ulrich Fleischmann, Zinka Ziebell-Wendt und Matthias Rôhrig-Assunçào (alle
Berlin); „Indianer in Westamazonien im 16. Jahrhundert" von Erwin Frank (Berlin); „Die an-
dinen Volksheiler während der spanisch-kolonialen Inquistion" von Walter Andritzky (Düssel-
dorf) und „Die Tradition der Jesuitenreduktionen in Chiquitos und die zweite Kolonialisierung
der Religion" von Peter Strack (Bielefeld) und Ekhart Kühne (Bern). Es ist geplant, die Referate
zu veröffentlichen. [080/89]
Entdeckungsgeschichte, Museumsdokumentation, Ausstellung
Elke Ruhnau vom Museum für Völkerkunde in Berlin führt Archiv- und Museumsrecherchen
über Berliner Americana - Amerikabezogene Gegenstände in den Sammlungen der Staatlichen
Museen Preußischer Kulturbesitz durch. Von September bis Dezember 1992 wird im Martin
Gropius Bau in Berlin anläßlich der 500. Wiederkehr der Entdeckung Amerikas die Ausstellung
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„Die Entdeckung Amerikas und die Begegnung zweier Welten" gezeigt. Sie wird von den Staat-
lichen Museen Preußischer Kulturbesitz und anderen zur Stiftung gehörenden Instituten getra-
gen. Federführend ist das Museum für Völkerkunde. Aufgabe von E. Ruhnau ist es, eine Be-
standsaufnahme und Dokumentation von Gegenständen zu machen, die geeignet sind, in der
Ausstellung gezeigt zu werden. Damit soll zugleich ein Uberblick gewonnen werden, welche
für die Ausstellung benötigten Gegenstände sich im Besitz der Berliner Museen befinden und
welche auswärtigen Leihgaben noch erforderlich sind.
Bereits abgeschlossen wurde die Bestandsaufnahme im Kupferstichkabinett, in der Lipper-
heidschen Kostümbibhothek, der Kunstbibliothek und dem Museum für Islamische Kunst.
Letzteres wurde einbezogen, weil unter dem Oberbegriff „Voraussetzungen für die Entdek-
kung Amerikas" auch die Verhältnisse in Spanien zur Zeit der Entdeckung Amerikas und in den
Jahrhunderten davor sowie der Beitrag der islamischen Welt zur Entwicklung der Wissenschaf-
ten dokumentiert werden sollen. Zur Zeit wird die Handschriftensammlung der Staatsbiblio-
thek bearbeitet, die u. a. zwei altmexikanische Bilderhandschriften besitzt, die als Codex Hum-
boldt bekannte Tributliste und das zur Techialoyan-Gruppe gehörige Dorfbuch von San Martin
Ocoyacac. Es sollen noch die Sammlungen des Kunstgewerbemuseums, des Musikinstrumen-
tenmuseums und des nicht zur Stiftung gehörenden Berlin-Museums folgen. Die Bestandsauf-
nahme hat bereits eine große Menge von zum Teil äußerst ausstellungsgeeignetem Material er-
bracht: Druckgraphiken aller Art einschließlich Buchillustrationen, Handzeichnungen und
Buchilluminationen vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. [081/89]
Theorie, Wirtschaft, Landwirtschaft
Barbara Göbel vom Institut für Völkerkunde der Universität Göttingen arbeitet seit 1986 an ei-
ner Dissertation zur Kritischen Analyse von ethno-archäologischen Erklärungsansätzen zu den
Anfängen von Bodenbau in Meso- und Südamerika. Ziel der Arbeit ist eine Kritik der wichtig-
sten Erklärungsansätze zu den Anfängen von Bodenbau unter besonderer Berücksichtigung
neuerer Hypothesen aus der Wirtschaftstechnologie und der evolutionären Ökologie. Um eine
empirische Basis für die Theorienkritik zu haben, wurden Fundorte mit frühen Funden dome-
stizierter Pflanzen systematisch erfaßt. Die Auswertung der archäologischen Daten zeigt, daß
zwischen zwei Entwicklungsprozessen unterschieden werden muß, denen verschiedene Kau-
salfaktoren zugrundeliegen: 1. den Anfängen von Bodenbau, d. h. seiner Eingliederung in das
bestehende Wirtschaftssystem und 2. seiner Etablierung, so daß er die Grundlage der Subsistenz
bildet. Viele Erklärungsansätze tragen dieser notwendigen Differenzierung und damit auch der
Datenlage nicht in ausreichendem Maße Rechnung. So gehen z. B. Druckfaktor-Modelle, ins-
besondere Bevölkerungsdruck-Modelle sowie Modelle, die eine Veränderung der sozialen Or-
ganisation als Kausalfaktor heranziehen, ausschließlich von einer Erhöhung des Nahrungsmit-
telaufkommens als unmittelbarer Folge der Übernahme von Bodenbau aus. Die vorhandenen
archäologischen Daten belegen jedoch für lange Zeiträume eine nur geringe Bedeutung von Bo-
denbau für die Subsistenz. Neuere Ansätze, die seine Eingliederung als Strategie für eine Erhö-
hung der Ressourcensicherheit und nicht primär des Nahrungsmittelaufkommens sehen, sind
deshalb zur Erklärung der Anfänge des Anbaus von Pflanzen besser geeignet. Ein Vortrag ist für
die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde im Oktober 1989 in Marburg geplant.
[082/89]
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
USA; kalifornische Anthropologie, Gesprächssemiotik
Shahin Noureldin vom Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin arbeitet an einer
Auswertung von Interviews zu aktuellen Projekten kalifornischer Anthropologen, die er von
Mai bis Juni 1988 durchführte. Das Ziel seiner Studie ist eme inhaltliche Auswertung und eine
formale Analyse der Gespräche. Dazu verbindet er methodologische Ansätze der sozialanthro-
pologischen Netzwerkforschung, der Ethnopsychoanalyse und der neueren kulturanthropolo-
gischen Diskussion über die textuelle Darstellung fremder Kulturen. Die Studie wird aus Eigen-
mitteln finanziert und wird voraussichtlich im Juli 1989 veröffentlicht werden können. [083/89]
Nordamerika, Nordwestküste; Verdienstfeste
Erich Kasten hat sein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Forschungsvor-
haben zum Potlatch der Indianer der Nordwestküste abgeschlossen. Der Arbeit liegt Feldfor-
schung über einen Zeitraum von drei Jahren bei den Kwakiutl - insbesondere bei den Dzawada-
'enuxw von Kingcome Inlet - zugrunde, die durch eine Untersuchung zu Urbanen Indianern in
Victoria als Mitarbeiter der University of Victoria ergänzt wurden. Neben umfassenden Ar-
chivstudien wurden Studiensammlungen am Museum of Anthropology der University of Bri-
tish Columbia in Vancouver und am Museum für Völkerkunde in Berlin untersucht. Im Mittel-
punkt stand zunächst das Aufzeigen von Kontinuitäten und situationsbedingten Bedeutungser-
weiterungen der Potlatch-Tradition am konkreten Beispiel eines ausgewählten Dorfes. Schließ-
lich wurde versucht, Potlatch-Feste in ihrem gegenwärtigen Kontext zu verstehen, in dem sie
vor allem der zeremoniellen Kommunikation sich wieder neu formierender translokaler und
vielschichtiger Netzwerke unter Kwakiutl-Indianern dienen. Weitere Untersuchungen zu die-
sem Thema bei benachbarten Gruppen, so zunächst bei den Nootka (Nuu-chah-nulth bzw.
Westcoast People), sollen bestimmte Aspekte in einen komparativen Zusammenhang stellen,
nachdem hierzu bereits entsprechende Feldforschungen bei den Kiisten-Salish vorgenommen
worden sind.
Aus den Forschungen berichten zwei Artikel in Sociologus (37/1 und 38/2). Weitere Ergeb-
nisse werden ab Februar 1990 im Berliner Museum für Völkerkunde in der Ausstellung Mas-
kentänze der Nordwestküste: Traditonelle Zeremonien in einem modernen indianischen Dorf
und in dem begleitenden Katalog vorgestellt. Gegenstände der Adrian Jacobsen-Sammlung aus
dem Jahre 1882 und der Sammlung von Franz Boas aus dem Jahre 1887 sowie neuerworbene
moderne Masken der Kwakiutl-Indianer und eine Bilddokumentation heutiger Potlatch-Feste
veranschaulichen das Thema. [084/89]
Nordamerika, Südwesten, Hopi; Humor
Hans-Ulrich Sanner vom Institut für Historische Ethnologie der Universität Frankfurt am
Main bereitet eine Dissertation über die Bedeutung des Ritualclowns für die kulturelle Kontinui-
tät und ethnische Identität der Hopi-Indianer von Arizona vor. Geplant ist die synchrone und
diachrone Darstellung und Analyse der rituellen Clownerie in religionsethnologischen Per-
spektiven und als soziokulturelle Institution. Es soll dabei die Adaption an sich wandelnden Be-
dürfnissen der Hopi-Gesellschaft beachtet werden. Zwei Feldforschungen in der Hopi-Reser-
Laufende Forschungen / Amerika
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vation haben im Juni 1988 und von März bis August 1989 stattgefunden. Mit dem Abschluß der
Arbeit ist 1991 zu rechnen. Die Feldforschung wird durch den Deutschen Akademischen Aus-
tauschdienst unterstützt. Das Projekt wurde im Herbst 1988 im Colloquium Americanum am
Institut für Historische Ethnologie der Universität Frankfurt vorgestellt. [085/89]
Nordamerika, Südwesten; Geschichte, Krieg
Ingo Schröder aus Bonn arbeitete seit 1986 an einer Dissertation über die Rolle des Krieges in
Geschichte und Kultur der indianischen Gruppen des amerikanischen Südwestens. Bisher wurde
historisches Quellenmaterial über kriegerische Konflikte anhand eines kulturökologischen Mo-
dells mit theoretischer Orientierung am Kulturmaterialismus ausgewertet. Archivstudien über
die Apache, Pueblo-Indianer und die Yuma sind in den Vereinigten Staaten von März bis Mai
1989 geplant. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln finanziert und soll 1991 abgeschlossen wer-
den. [086/89]
Lateinamerika; Sprache, Literatur
Vom 30. November bis zum 3. Dezember 1988 fand am Iberoamerikamschen Institut der Stif-
tung Preußischer Kulturbesitz in Berlin die Tagung Authentische Texte in indigenen Sprachen
Lateinamerikas zwischen interkultureller Kommunikation und ethnischer Identität statt. Sie
wurde inhaltlich von Peter Masson vorbereitet und stand auch unter seiner Leitung, organisato-
risch wurde er von Vera Zeller und Manuela Fischer unterstützt.
Es können hier nur einige, dem Berichterstatter als inhaltlich neu erscheinende, d. h. über
das Referieren schon veröffentlichter Forschungsergebnisse hinausgehende Vorträge genannt
werden. Max-Peter Baumann (Internationales Institut für Musikstudien, Berlin): Bi-musicali-
dady bi-lingüismo en las canciones de la tradición oral de Bolivia; Michael Dürr (damals: Hoch-
schule für Bibliothekswesen, Köln): El Popol Vuh, la obra de Francisco de Ximénez y el Título
de Totonicapán: aspectos de grafías y morforsintaxis; Utta von Gleich (Hamburg): Esfuerzos,
logros y limites de refuncionalización del quechua mediante textos escolares; Nikolai Grube (da-
mals: Archäologisches Institut der Universität Hamburg, jetzt: Seminar für Völkerkunde der
Universität Bonn) und Ortwin Smailus (Archäologisches Institut der Universität Hamburg):
Traditionelle Literalitât bei den Cruzob-Maya, Quintana Roo (Mexiko) (dieser Vortrag war von
Grube im Juni 1988 bereits vor der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte gehalten worden, vgl. auch ZfE 113 [63/88]); Manuela Fischer (damals: Latein-
amerika-Institut der Freien Universität, jetzt: Museum für Völkerkunde, Berlin): Gaxabala, el
baile de la loma, un canto ritual kágaba de la Sierra Nevada de Santa Marta (s. auch ZfE 113
[69/88]); Erwin Frank (Berlin): Mitología histórica y historia mitològica: la etno-historia de los
Uni/Cashibo; Bruno Illius (Völkerkundliches Institut der Universität Freiburg i. Br.): El modo
indirecto como medio de estilo lingüístico discreto - ejemplos de los Shipibo-Conibo del Perú
oriental; Viola König (Völkerkundeabteilung des Niedersächsischen Landesmuseums Hanno-
ver): Die Funktion des Aztekischen im Mixe-Gebiet von Oaxaca während der Kolonialzeit.
Erläutert anhand der Inschriften auf der Mapa Antigua de Tiltepec Mijes. Die ausführliche Ver-
öffentlichung des Dokumentes ist für Band 19,1989, der Mitteilungen aus dem Museum für Völ-
kerkunde, Hamburg, geplant; Ulrich Köhler (Völkerkundliches Institut der Universität Frei-
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bürg i. Br.): Textos auténticos e identidad étnica entre los Tzotzil; Bernd Mitlewski: El vecino
diabólico: análisis de mitos como aspectos de la actual emancipación social y económica de los
Chacbillas (Cayapas) en Esmeraldas, Ecuador; Jürgen Riester: Las reivindicaciones indígenas y
el rol de textos auténticos: el caso del oriente boliviano; Peter Tscbohl (Institut für Völkerkunde
der Universität Köln): Der Pocbtekenbericbt in Sahagúns Buch IX im Koordinatennetz aus
altaztekiscber Wirklichkeit, Mitteilungen in Tlatelolco, Sabagúnscher Redaktion und ethnohi-
storischer Auslegung; Teresa Valiente (damals: Puno-Projekt der Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit): El origen del universo en relatos ay mar as.
Das Iberoamerikanische Institut plant die Vorträge in einem Sammelband zu veröffentli-
chen. [087/89]
Mexiko; Kunst, Wachs- und Tonfiguren
Corinna Raddatz vom Museum für Völkerkunde in Hamburg greift ihre langjährige Erfassung
von mexikanischen Wachs- und Keramikfiguren des 19. Jahrhunderts iti europäischen Privat-
sammlungen und Museen wieder auf (s. auch ZfE 108 [26/83]). 700 Figuren, die der Fachwelt
bisher kaum bekannt waren, konnten dokumentiert werden. Es handelt sich um realistische
Darstellungen des mexikanischen Volkslebens von der Wiege bis zur Bahre. Das Gros ist von
hohem künstlerischen Wert, durchaus vergleichbar mit europäischen Porzellanfiguren. Ziel der
Arbeit ist es, die Herstellungsweise zu erforschen, die Hersteller zu eruieren und herauszufin-
den, aus welcher kulturellen Tradition, mexikanischer oder europäischer, sie sich herleiten, so-
wie die Frage zu beantworten, warum solche Figuren im 19. Jahrhundert in so großer Zahl ange-
fertigt wurden. Berichtet wurde im International Guide to Research on Mexico, La Jolla 1986,
S. 190 und 1987, S. 256-257. Die Arbeit wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft fi-
nanziell gefördert. [088/89]
Mesoamerika, Alaquines; Archäologie
Monika Tesch (z. Zt. Mexiko) setzt ihr Projekt zur archäologischen Fundplatzerfassung mit
stratigraphiseben Überprüfungen im Räume Alaquines, San Luis Potosí, Mexiko, über das wir in
ZfE 113 [59/88] berichtet haben, erfolgreich fort. Bei der einleitenden Landesaufnahme wurden
mehr interessante Fundplätze lokalisiert als ursprünglich erhofft. Bei der Aufarbeitung der
Oberflächenfunde stellten sich Unvereinbarkeiten mit anderen Fundplätzen der Region ein, die
1989 durch Grabungen an den problematischen Orten geklärt werden sollen. In dieser Kampa-
gne hat als Assistentin Barbara Falk von der Freien Universität Berlin mitgearbeitet. Über das
Projekt wurde 1988 auf dem Internationalen Amerikanistenkongroß in Amsterdam berichtet.
[089/89]
Mesoamerika, Rarámuri; Ethnographie, Ausstellung
Ingrid Kümmels und Manfred Schäfer haben aus ihrer Feldforschung bei den Rarámuri (vgl.
auch ZfE 111 [41/86]) und in Zusammenarbeit mit den Indianern eine Photoausstellung zum
Alltag der Rarámuri erarbeitet, die seit Herbst 1988 in Lübeck, Bremen und an anderen Orten
Laufende Forschungen / Amerika
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gezeigt wird. Eine zweisprachige Fassung des illustrierten Katalogs in Spanisch und Rarámuri
ist in Vorbereitung. Veröffentlicht wurde der Bericht Mittler-Rarámuri und Erziehungsstrate-
gien in Kabórachi (Nordmexiko). Alternativen zur Schulpolitik der mexikanischen Regierung
in : Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (9),
1988. [090/89]
Mesoamerika, Azteken; Schrift
Hanns J. Prem vom Seminar für Völkerkunde der Universität Bonn arbeitet über Lesevarianten
hei aztekischen Hieroglyphen. Der relativ geringe Grad eindeutiger Lesbarkeit aztekischer Hie-
roglyphen für Personen- und Ortsnamen wurde bislang zumeist als eher grundsätzliches Pro-
blem betrachtet. In der gegenwärtigen Untersuchung dienen nachweislich abweichende Lesun-
gen derselben Zeichen, gefunden in Texten indianischer Verfasser oder in Randglossen, als Indi-
kator für den Umfang der Mehrdeutigkeit für selbst bei im System erfahrenen Personen, die
über den entsprechenden kulturellen Hintergrund verfügen. Gleichzeitig soll in größerem Um-
fang eine Fehlereingrenzung von Ortsnamensnennungen in historischen Texten, insbesondere
zur aztektischen Expansion, versucht werden. Eine Gesamtdarstellung für den Supplement-
band 5 des Handbook of Middle American Indians ist im Druck und wird voraussichtlich 1990
erscheinen. [091/89]
Mesoamerika, Azteken; Dokumentation, Geschichte
Elke Ruhnau vom Museum für Völkerkunde in Berlin arbeitet an der Übersetzung des in azteki-
scher Sprache um 1600 niedergeschriebenen Geschichtswerks von Domingo de San Antón Mu-
ñon Chimalpahin Quauhtlehuanitzin. Chimalpahins Geschichtswerk ist eine der Hauptquellen
für die vorspanische Geschichte Zentralmexikos. Es ist besonders ausführlich und authentisch
für die Region von Chalco und Amecameca, südöstlich von Mexiko Stadt. Dabei kann sie auf
Übersetzungen zurückgreifen, die sie früher im „Decodez" Projekt von Hanns J. Prem (s. ZfE
110 [23/85]) angefertigt hat. Da bisher keine Gesamtübersetzung vorliegt, hingegen verstreut
Teilübersetzungen in Spanisch, Englisch und Französisch, die oft von unbefriedigender Quali-
tät sind, ist eine solche dringend nötig. Die Edition soll 1990 in den Acta Mesoamericana des
Verlages von Flemming in Berlin erscheinen. [092/89]
Mesoamerika, Mixe; Ethnobotanik
Von Oktober 1985 bis Dezember 1986 hat Michael Heinrich vom Institut für Pharmazeutische
Biologie der Universität Freiburg i. Br. ethnobotanische Feldforschung in San Juan Guichicovi,
einer Gemeinde der Mixe-Indianer in Oaxaca, durchgeführt. Es wurden 220 ethnobotamsch
wichtige Pflanzen dokumentiert und gesammelt, die anschließend am Institut für Pharmazeuti-
sche Biologie phytochemisch untersucht wurden. Einige sollen anschließend pharmakoche-
misch untersucht werden. Ein weiterer Forschungsbereich war die Emik von Krankheitsursa-
chen. Ebenfalls studiert wurde der Wandel in der traditonellen Medizin, der durch den verstärk-
ten Eingang westlicher Medizin verursacht wird. Als Gegenmaßnahme sollen traditionelle
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Heilverfahren wiederbelebt werden, und ein medizinischer Kräutergarten wird mit Unterstüt-
zung des Instituto Nacional Indigenista angelegt. [093/89]
Mesoamerika, Maya; Dokumentation, Kunst, Wandmalerei
Karl Herbert Mayer aus Graz setzt sein langfristiges laufendes Dokumentationsprojekt zur
Kunst der Maya mit einem Inventar der Wandmalereien der Maya-Kultur fort (s. auch ZfE 113
[62/88], ZfE 109 [14/84] und ZfE 108 [24/83]). Es sollen die klassischen und nachklassischen
Wandmalereien, die szenische und/oder hieroglyphische Darstellungen aufweisen, systema-
tisch registriert werden und auf zwei Feldforschungen in Mexiko, Belize und Guatemala in situ
photographisch dokumentiert werden. Eine derartige Dokumentation ist besonders dringlich,
da Wandmalereien nach ihrer Entdeckung und Freilegung meist besonders schnell durch natür-
liche Einflüsse oder mutwillige Beschädigung zerstört werden. Folgende Einzelberichte aus
dem Projekt sind bisher erscheinen: A Painted Venus Glyph in the Tower of Palenque. Archaeo-
astronomy 6 (1-4): 96-98, 1983; Maya-VJandmalereien in einem. Bauwerk von Tancah. Antike
Welt 14 (3): 30-35, 1983 und Gewölbedecksteine mit Dekor der Maya-Kultur. Archiv für Völ-
kerkunde 37: 1-62, 1983. [094/89]
Mesoamerika, Maya; Archäologie, Siedlung, Architektur
H asso Hohmann, Robert Kostka und Annegrete Vogrin, alle drei aus Graz, haben seit 1985 in
mehreren Feldaufenthalten Bauaufnahmen und Vermessungen im „Sepulturas" genannten Teil
der klassischen Maya-Stadt Copán durchgeführt. Zur Zeit werden die Feldaufnahmen zeichne-
risch im Maßstab 1:100 umgesetzt, die Architektur wird analysiert und mit Auf- und Grundris-
sen dargestellt. Die Arbeit wird voraussichtlich 1990 beendet. Von derselben Gruppe werden
die über 100 seit 1985 gemachten Bauaufnahmen der Struktur IV in der klassischen Maya-Stadt
Becán ausgewertet, umgezeichnet und architektonisch analysiert, um dann veröffentlicht zu
werden.
Die Forschungen wurden aus Eigenmitteln und Zuschüssen des Osterreichischen Fonds zur
Förderung der Wissenschaftlichen Forschung (FWF) sowie den Heimatinstitutionen der Mitar-
beiter finanziert und sollen noch 1989 abgeschlossen werden. [095/89]
Mesoamerika, Maya; Archäologie, Schrift, Politik
Unter der Leitung von Berthold Riese (ehemals: Lateinamerika-Institut der Freien Universität
Berlin, jetzt: Seminar für Völkerkunde der Universität Bonn) hat sich 1988 eine Arbeitsgruppe
„Unterer Usumacinta" formiert, die sich die Erfoschung der klassischen Maya-Kultur im Be-
reich der Städte Yaxchilán, Pomona, Palenque u. a. zum Ziel gesetzt hat und dabei die regiona-
len Verflechtungen (Territorialstruktur, Handel, interdynastische Heiraten, Kriege u. a.) erhel-
len will. Bei den stadtinternen Untersuchungen stehen die Klärung der dynastischen Abfolge,
die Rolle von Frauen in der dynastischen Geschichte und die Themen der Bilddarstellungen im
Vordergrund. Als Datengrundlage werden Steinskulpturen, Hieroglyphen-Inschriften, Bau-
werke und Stadtanlagen sowie in geringerem Umfang Grabfunde und sonstige archäologische
Laufende Forschungen / Amerika
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Daten herangezogen. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem Instituto Nacional de An-
tropología e Historia (Mexiko) und seinem Direktor, Roberto Garcia Moll, durchgeführt. Von
mexikanischer Seite ist daran außerdem Martha 'Zapata mit einem Promotionsvorhaben betei-
ligt. An deutschen Teilnehmern arbeiten Garina Million, Elisabeth Wagner (Magisterarbeit)
und Ute Schüren (Magisterarbeit) mit. Die Auswertung der Daten wird weitghend mittels
EDV-Datenbanksystemen durchgeführt, die für dieses Vorhaben auf der Grundlage von
dbaseIII+ von Zapata weiterentwickelt werden. Feldforschungen sind ab 1990 geplant. Zur
Zeit wird das Projekt noch ausschließlich aus Eigenmitteln der Teilnehmer bestritten. [096/89]
Mesoamerika, Maya, Copán; Kunst, Schrift
Claude F. Baudez vom Centre National de la Recherche Scientifique und dem Musée de
l'Homme in Paris und Berthold Riese vom Seminar für Völkerkunde der Universität Bonn ha-
ben ihr in ZfE 108 [27/83] berichtetes Projekt über die Skulpturen und Inschriften der klassi-
schen Maya-Stadt Copán im Frühjahr 1987 mit der Vorlage eines englischsprachigen, 1500 Sei-
ten umfassenden Manuskripts abgeschlossen, konnten die geplante Monographie aber wegen
Finanzierungsschwierigkeiten bisher noch nicht veröffentlichen. Die nunmehr beim Dietrich
Reimer Verlag in Berlin vorbereitete zweibändige Veröffentlichung wird, eine abgesicherte Fi-
nanzierung vorausgesetzt, 1990 erscheinen. Sie ist im Bereich der Hieroglyphenentzifferungen
und der Rekonstruktion der dynastischen Sequenz überarbeitet worden, so daß die entspre-
chenden Kapitel den Forschungsstand von Ende 1988 wiedergeben. Die Symbolik und Ikono-
graphie aller bedeutenden Steinskulpturen (einschließlich der Architektur) wurde geklärt, die
dynastische Sequenz ist lückenlos über 16 Herrscher erschlossen, kalendarische und astronomi-
sche Zahlenspiele im Zusammenhang mit dem grundsätzlich historischen Gehalt von Kalender-
daten konnten unter Mitarbeit von Deborah Tear Haynes vom Hood Museum in Hanover,
New Hampshire (USA) und Maria Gaida vom Völkerkunde-Museum in Berlin aufgedeckt
werden. Vorläufige Ergebnisse der von 1977 bis 1983 durchgeführten Feldforschungen und die
gesamten in Copan Ruinas (Honduras) deponierten Daten (Zeichnungen, Photographien, Feld-
notizbücher und Berichte) werden seit 1983 ohne Rücksprache und Genehmigung vom Nach-
folge-Projekt unter der Leitung von William L. Fash (Southern Illinois University) und Linda
Scheie (University of Texas, Austin) in eigenen Arbeiten verwendet und zum Teil veröffent-
licht. [097/89]
Mesoamerika, Yucatán; Archäologie, Ethnographie
Seit 1988 läuft ein von Berthold Riese koordiniertes und über die Berliner Gesellschaft für An-
thropologie, Ethnologie und Urgeschichte abgewickeltes Feldforschungsprojekt zur Auf-
nahme des vorspanischen Maya-Ruinenortes Los Cedros in Quintana Roo. Zugleich mit der ar-
chäologischen und kartographischen Landesaufnahme soll die dort von Maya-Indianern aus
Campeche gegründete Neusiedlung ethnographisch und in ihrem Wirtschaftsverhalten (Orga-
nisation, Anpassung an die lokalen Bedingungen) studiert werden. Die Feldarbeit wurde im
Sommer 1988 von Raymond Granadillo (Leiter), Gabriele Baer (Vermessung), Gabriele Schnei-
der (Archäologie) und Gudrun Suharto (Ethnographie) (alle sind Doktoranden bzw. Maig-
stranden an der Freien Universität Berlin) begonnen, konnte aber wegen eines verheerenden
270
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Hurrikans nicht plangemäß abgeschlossen werden. Im Frühjahr 1989 ist Raymond Granadillo
zum Abschließen der archäologischen Arbeit (Kartographie, Probeschnitte) noch einmal für
zwei Monate ins Feld gefahren. Weitere Kampagnen zur Fortsetzung der ethnographischen Ar-
beiten sind geplant. Das Vorhaben wurde durch die Spende eines Heidelberger Mäzens und Ei-
genmittel der Beteiligten finanziert. [098/89]
Mesoamerika, Maya, Cakchiquel; Sprache, Wörterbuch
Am Archäologischen Institut der Universität Hamburg, Arbeitsbereich VII (Altamerikanische
Sprachen und Kulturen), wird eine analytische Edition des Cakchiquel-Wörterhuches von Do-
mingo de Vico vorbereitet. Die Arbeitsgruppe setzt sich aus folgenden Wissenschaftlern und
Studenten zusammen: Cristina Bredt-Kriszat, Nikolai Grube (s. auch ZfE 113 [63/88]), Ursula
Holl, Karin Pläschke, Ortwin Smailus und Anja Stiehler. Das Manuskript 43 des Fond Améri-
cain der Pariser Nationalbibliothek stellt die primäre Textgrundlage dar. Es wurde vollständig
transkribiert und am Rechenzentrum der Universität Hamburg auf Datenträger zur automati-
schen Textverarbeitung übertragen. Das Oxford Concordance Programm 2.3 zur Morphem-
analyse und Restrukturierung linguistischer Daten wurde den speziellen Bedürfnissen des Vor-
habens angepaßt und kann auch für die von Vico ebenfalls dokumentierten, dem Cakchiquel
nahe verwandten Maya-Sprachen Quiché und Tzutuhil angewendet werden. Damit sollen De-
rivationshierarchien analysiert werden. Die Arbeit soll 1989 mit der Vorlage eines spanischspra-
chigen, druckreifen Manuskriptes abgeschlossen werden. Die Arbeit wurde aus Eigenmitteln
der Mitarbeiter finanziert. Ein Vorbericht ist in Mexicon 10 (1), 1988 erschienen. [099/89]
Karibik, St. Lucia; Ethnographie, Ethnohistorie
Karl R. Wernhart und Manfred Kremser, beide vom Institut für Völkerkunde der Universität
Wien, setzen zusammen mit dem Folk Research Centre und der National Research and Devel-
opment Foundation von St. Lucia/W. I. das 1982 begonnene ethnographische und ethnohistori-
sche Forschungskooperationsprojekt in St. Lucia/Kleine Antillen fort (s. ZfE 112 [27/87]).
Hauptziel ist die audio-visuelle Dokumentation und Analyse der Volkskultur in St. Lucia
mit dem Schwerpunkt auf ethnotechnologischen Prozessen, Kélé-Kult, Oraltraditionen u. a.
Diese Themen werden einerseits im Hinblick auf lokale Ansätze zur kulturellen Entwicklung
untersucht und dienen der Rekonstruktion der ethnischen und kulturellen Geschichte der Insel-
bevölkerung. Ein weiteres Ziel ist die naturwissenschaftliche Analyse physischer Materialien,
die in verschiedenen Techniken und (Kunst-)Handwerken verwendet werden, sowie auch die
Erarbeitung von Möglichkeiten der Inkorporation der Struktur traditioneller Gemeinschaften
in die Organisation von Entwicklungsprojekten.
Einheimische Forscher werden in allen Sparten der Feld- und Archivforschung ausgebildet.
Dabei wird zur Zeit besonderes Gewicht auf die Ausbildung und Ausrüstung der einheimischen
Kräfte mit Medienkoffern (cultural kits), die im Schulunterricht verwendet werden können, ge-
legt. Das Projekt wird von der Kommission für Entwicklungsfragen bei der Osterreichischen
Akademie der Wissenschaften gefördert. An Veröffentlichungen sind von Kremser und Wern-
hart erschienen: Research in Ethnography and Ethnohistory of St. Lucia-A Preliminary Report.
Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie 3, 1986. [100/89]
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Südamerika, pazifisches Tiefland, Ecuador; materielle Kultur, Fischerei
Ein vom verstorbenen Direktor des Seminars für Völkerkunde in Bonn, Udo Oberem, initiier-
tes Projekt über traditionelle Fischfanggeräte und -techniken an der Küste Ecuadors steht kurz
vor dem Abschluß. Außer Oberem waren an ihm Peter Degen, Antje Kniep, Eva König, Birgit
Lenz-Volland, Heiko Prümers, Sophia Thyssen und Martin Volland (alle vom Seminar für Völ-
kerkunde, Bonn), sowie Olaf Holm vom Museo Antropològico de Guayaquil beteiligt.
Bedingt durch die Industrialisierung des Fischfangs in der Dritten Welt werden traditionelle
Fangmethoden verdrängt, so daß herkömmliche Geräte und Techniken aufgegeben werden
und schnell in Vergessenheit geraten und für zukünftige Entwicklung und Planung in der loka-
len Fischerei unberücksichtigt bleiben. Um dem entgegenzuwirken, wurden die traditionellen
Fischfanggeräte und -techniken an der Küste Ecuadors dokumentiert. An vier Orten der Küste
sowie in den Mangrovensümpfen des inneren Astuargebietes des Río Guayas wurde 1983 und
1984 Feldforschung durchgeführt. Ergänzend dazu fand eine historische Untersuchung zur Fi-
scherei statt, die den Zeitraum von der spanischen Eroberung bis zum Ende des 19. Jahrhun-
derts umfaßt und sich auf Archivmaterial in Ecuador und Spanien stützt. Die Feldforschung
wurde 1986 abgeschlossen; die Ergebnisveröffentlichung wird von Sophia Thyssen und Martin
Volland herausgegeben und soll 1989 im Flolos-Verlag Bonn erscheinen. Folgende Teilveröf-
fentlichungen sind bisher erschienen: Birgit Lenz-Volland und Martin Volland: Ostras, Perlas y
Púrpura. Miscelánea Antropológica Ecuatoriana 6: 49-70, 1986; Eva König: Tradtionelle Kü-
stenfischerei Ecuadors am Beispiel von San Pedro/Guayas (= Mundus Reihe Ethnologie Bd. 5),
1987; Heiko Prümers: Noticias de Salango. Ein Beitrag zur Kenntnis der Fischfangtechniken
von Salango, Provinz ManabiJEcuador (= Mundus Reihe Ethnologie Bd. 19), 1988; Peter De-
gen: Los Mangles se van. Film 1984; Peter Degen: Die Fischerei in den Mangrovensümpfen des
Golfes von Guayaquil/Ecuador (= Mundus Reihe Ethnologie Bd. 22), 1988. Als abschließende
Veröffentlichung wird 1989 erscheinen: Sophia Thyssen und Martin Volland (unter Mitarbeit
von Peter Degen, Antje Kniep, Eva König, Birgit Lentz-Volland und Heiko Prümers): Fisch-
fanggeräte und Techniken der Kleinfischerei an der Küste von Ecuador (= Mundus Reihe Eth-
nologie), Bonn. Das Vorhaben wurde weitgehend aus Mitteln der Stiftung Volkswagenwerk fi-
nanziert. [101/89]
Südamerika, tropisches Tiefland, Yanomami; Ethologie, Kommunikation
Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Gabriele Herzog von der Forschungsstelle für Humanethologie in
der Max-Planck-Gesellschaft in Andechs setzen die 1969 begonnene Langzeitstudie der Doku-
mentation von ungestellten sozialen Interaktionen und Ritualen der Yanomami-Indianer im
Einzugsgebiet des oberen Orinoko mit Feldforschungen 1989 fort. Das Vorhaben ist in das glo-
bale Forschungsprogramm der Forschungsstelle für Humanethologie eingebunden, über das
wird in der Sektion Allgemeines, ZfE 114 [010/89] (s. auch [050/89] und [076/89]) berichten.
Weitere Besuche bei den Yanomami sind für die kommenden Jahre geplant. Auf bisher 11 For-
schungsreisen wurden 48 000 m Film aufgenommen, die zum Teil in den Filmen der Encyclope-
dia Cinematografica des Instituts für den wissenschaftlichen Film in Göttingen veröffentlicht
sind. Außerdem werden Ergebnisse dieser Forschung in I. Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des
menschlichen Verhaltens, 2. Auflage 1986, verarbeitet, wo auch weitere Literatur nachgewiesen
wird. [102/89]
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Südamerika, tropische Tiefländer, Secoya; Ethnographie, Ethnohistorie
Maria Susana Cipolletti, zur Zeit am Museum für Völkerkunde in Frankfurt am Main, setzte
ihre Untersuchungen zur Ethnographie und Ethnohistorie der Secoya-Indianer in Ost-Ecuador
fort (s. ZfE 111 [34/86]). Zwei weitere Feldforschungskampagnen haben 1987, 1988 und 1989
stattgefunden. Im Zusammenhang mit dieser ethnographischen Arbeit wird von ihr und Martin
Volland (Seminar für Völkerkunde der Universität Bonn, vgl. auch ZfE 114 [101/89] und ZfE
113 [71/88]) die Übersetzung ins Spanische von F. X. Veigls „Gründliche Nachrichten der Pro-
vinz Maynas... " vom Ende des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Die Arbeit wird durch Eigenmit-
tel finanziert. An einschlägigen Veröffentlichungen sind von ihr erschienen: The Visit of the
Realm of the Dead in Amazonian Mythologies of Siona und Secoya. Latin American Indian Lit-
eratures Journal 3, (2): 127-153. 1987; El tráfico de curare en la cuenca amazónica. Anthropos
83: 527-540. 1988; Die mythische Zeit und ihre Protagonisten hei den Secoya-Indianern Ost-
Ecuadors. Münchner Beiträge zur Völkerkunde 1:33-52. 1988 und Aipe Koká: La palabra de los
antiguos. Tradición oral secoya. Quito: 285. 1988. [103/89]
Südamerika, Nordanden; Politik, Klientelism, Begriffe
Gioia Weber Pazmiño vom Ethnologischen Seminar der Universität Zürich arbeitet seit 1986 an
einer Dissertation über Klientelismus: Interpretation und Konzepte. Illustriert an zwei Beispie-
len aus Südamerika (s. ZfE 112 [46/87]). Ziel des Projektes ist es, mittels einer kritischen Über-
prüfung und epistemologischen Gliederung der in der Klientelismusforschung der letzten drei-
ßig Jahre entwickelten theoretischen Ansätze zu einer Redimensionierung des Klientelismus-
Konzepts zu gelangen. Die weltweite Auseinandersetzung mit Klientelismus beruht keineswegs
auf einer gesicherten Definition und einer eindeutigen, einheitlichen Konzeption des Begriffes.
Es soll versucht werden, dem Konzept des Klientelismus eine Dimension zu verleihen, die die-
ses - nach seiner oft sehr undifferenzierten Anwendung in den 70er Jahren auf alle nur erdenkli-
chen klientelismusählichen Phänomene und den daraus resultierenden begrifflichen Plattitüden
- zu einem relevanten Instrument für die Analyse von bestimmten sozialpolitischen Beziehun-
gen werden läßt. Der Weg dahin muß über eine systematische, vergleichende Analyse der bishe-
rigen Forschungen und Studien konkreter Fälle führen (Literaturarbeit). Erschwerend für die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen wirkt die Tatsache, daß „klassische"
Ordnungsprinzipien, beispielsweise die Gliederung nach wissenschaftstheoretischen Ansätzen,
in nur sehr bescheidenem Maße dazu beitragen können, die bisherige Klientelismusforschung in
ihrer Ganzheit und Entwicklung sachgerecht zu erfassen und forschungsgeschichtlich einzurei-
hen. Die Suche nach neuen Gliederungskriterien drängt sich daher auf. Zur Illustration der Ver-
schiedenheiten unterschiedlicher theoretisch-methodischer Interpretationen und Ansätze von
Klientelismus sollen zwei Beispiele aus dem nordandinen Raum (Kolumbien und Ecuador) die-
nen. Die bisherige Arbeit bestand darin, publizierte Studien über Klientelismus aufzuarbeiten,
sie nach selbst erstellten Kriterien zu gliedern und einen Uberblick über das Forschungsgebiet
zu entwerfen. Die Arbeit wird ausschließlich aus Eigenmitteln finanziert. Beendet werden soll
sie 1990. An Veröffentlichungen liegen bisher vor: Interpretationen von Klientelismus, aufge-
zeigt an einem Beispiel aus Ecuador, in: Ethnologica Helvetica 12: 93-114,1988 und ein Vortrag
Zur Bedeutung der Macht in Patron-Klient-Beziehungen auf der Tagung der Schweizerischen
Amerikanisten-Gesellschaft in Genf, 1988. [104/89]
Laufende Forschungen / Amerika
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Südamerika, Zentralanden; Archäologie, Siedlungen
Wilhelm Diessl aus Linz, Österreich und Cesar Aguirre aus Huaraz, Perú machen eine Bestands-
aufnahme von archäologischen Fundstätten im oberen Mosna-Tal (Distrikte Huantar, San Mar-
cos und Chavin) im Departamento Ancash, Perú. Vor allem soll den Siedlungs- und Bauresten
(vor allem auch den befestigten bis 4400 m hoch gelegenen Höhlensiedlungen) Beachtung ge-
schenkt werden, da diese bisher undokumentiert und durch expandierende landwirtschaftliche
Nutzung gefährdet sind. Die Feldarbeit begann mit einer zehnwöchigen Kampagne im August
1988 und wurde im Mai 1989 fortgesetzt. Es soll ein Fundstellenkataster der etwa 50 Siedlungs-
plätze mit Siedlungsplänen, Detailplänen von interessanten Objekten, Fotos und Kurzberich-
ten zusammengestellt werden. Etwa die Hälfe dieser Plätze wurde bereits von den Mitarbeitern
begangen. Das Vorhaben wird aus Eigenmitteln der Beteiligten finanziert. [105/89]
Buchbesprechungen
Anders, F.; Jansen, M.: Schrift und Buch im Alten Mexiko. 231 S. 141 Tafelabbildungen (zum
Teil farbig), zahlreiche Textabbildungen. Ganzleinen. ISBN 3-201-01426-5. Graz: Akademi-
sche Druck und Verlagsanstalt 1988.
Die beiden Autoren dieses „geschlossenen Überblicks" der altmexikanischen Buchkultur
(so der Text auf dem Schutzumschlag) sind ausgewiesene Forscher für mixtekische und azteki-
sche Bilderhandschriften und Indianerkulturen der späten vorspanischen und der frühen Kolo-
nialzeit im allgemeinen. Ferdinand Anders forscht, lehrt und publiziert seit 30 Jahren in Oster-
reich, vornehmlich über die Schriftkulturen, Kunst und Archäologie der Indianer Mesoameri-
kas, während Maarten Jansen seit 15 Jahren über die Mixtekten in Vergangenheit und Gegen-
wart arbeitet und in den Niederlanden seine akademische Heimat hat. Die umfassenden Kennt-
nisse der Autoren sind überall in Detailschilderungen, Interpretationen, Exkursen und der Aus-
wahl der Illustrationen zu bemerken. Der Spezialist wird an vielen Stellen Interessantes und
Uberraschendes finden. Es bedarf allerdings einiger Lesedisziphn, sich nicht von Exkursen
über Sumer, die Babylonier, das alte Griechenland (S. 74-75), steirische Bauernkalender (Abb.
S. 37) und dergleichen ablenken zu lassen.
Daß das Buch dem Laien oder dem nur oberflächlich mit der Materie vertrauten Allgemein-
Ethnologen einen Überblick verschafft, bezweifle ich. Die Gründe hierfür sind mehrere: Zu-
nächst gibt keine Einleitung Auskunft über Ziel und Anlage des Buches. Auch das Inhaltsver-
zeichnis zeugt vom Fehlen einer Konzeption. Ohne erkennbare innere Gliederung bietet es In-
formationen über die „Indiansche Welt und Wir" (8-10), die „Wurzeln der indianischen Schrift-
lichkeit" (11-29), Interpretationen einzelner Abschnitte aus Bilderhandschriften (verstreut über
viele Kapitel), ethnographische Befunde u. a. Die Inhalte sind zudem oft unter nichtssagenden
Überschriften wie „Ich will nicht!" (S. 207-211), „omite" (S. 211-214), „Lebendes Altmexiko"
(S. 117-120), „Weg vom Indianer" (S. 214-219) verborgen. In diesen Beispielen klingt auch die
mangelhafte sprachliche Form des Textes an, was das Lesen zusätzlich erschwert. Schließlich
sind die Textabbildungen nicht durch Abbildungsnummern identifiziert, und der Leser kann
daher kaum von einer Textstelle aus die entsprechende Abbildung finden; bei den Tafelabbil-
dungen allerdings sind eindeutige Verweisungen durch Abbildungsnummern gegeben. Bei
manchen Abbildungen stellt man bei genauem Hinsehen überrascht fest, daß ohne inhaltliche
Notwendigkeit vorspanische Bildsymbole mit solchen des modernen mexikanischen Staates
oder freien Nachgestaltungen moderner Künstler zusammengestellt sind (S. 59, 204, 205). Für
den Spezialisten, der solche Mängel durch sein Vorwissen weitgehend überspielen kann, sind die
Defizite an Wissenschaftlichkeit ärgerlicher: Ein auf den Text abgestimmtes Literaturverzeich-
nis fehlt (Begründung der Autoren: „Die Literaturfülle läßt den Versuch einer umfassenden Zi-
tierung in dem beschränkten zur Verfügung stehenden Rahmen nicht zu", S. 223). Und obwohl
einige umfangreiche Fußnoten gegeben werden, sind Literaturangaben dort auch nur unzurei-
chend enthalten. Auch wenn Anders und Jansen scharfe Polemiken gegen andere Forscher, ihre
Auffassungen und ganze Forschungstraditionen fahren (z. B. gegen die Astralmythologie), wei-
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
sen sie nicht einmal in diesen Zusammenhängen die Veröffentlichungen und ausschlaggebenden
Textstellen der kritisierten Autoren ausreichend nach. Da die eigenen Aussagen von Anders und
Jansen ihrerseits nicht begründet, sondern lediglich auf ihre eigenen Uberzeugungen zurückge-
führt werden, muß dem argumentativen Aspekt des Buches wissenschaftlicher Wert abgespro-
chen werden. Wenn der Spezialist dennoch, wie anfangs gesagt, dem Werk interessante Einzel-
heiten entnimmt, heißt das immer mühsames Herauspicken themabezogener Aussagen, Rekon-
struieren der Zusammenhänge und fast immer auch Selbstkonstruieren von Begründungen.
Was kann man über den Inhalt des Buches sagen? Zunächst befriedigt es den deutschen
Amerikanisten, daß einer von ihnen, nämlich Leonhard Schultze Jena (1872-1955), im ganzen
Buch als der große Forscher, Entdecker ethnographischer Traditionen und Editor wichtiger
Texte gewürdigt wird (z. B. S. 39). Freilich geschieht das auf Kosten der Darstellung wesentli-
cherer Pionierleistungen auf dem Gebiet vorspanischer Buchkunst (Eduard Seier) und auf Ko-
sten der Zurkenntnisnahme der Forschungsergebnisse deutscher und ausländischer Forscher
der jüngeren Zeit. Z. B. ist der in diesem Buch referierte Stand der Kenntnisse über die Maya
Codices der von 1950/60, obwohl über das in diesem Buch referierte Beispiel mehrere Artikel in
den 70er und 80er Jahren veröffentlicht worden sind, die zu ganz anderen Einsichten gelangen.
Erfreulich sind die Fülle und die Auswahl einiger Reproduktionen: Die mixtekische Mapa
de Teozacualco, sie war sozusagen der Rosetta-Stein der mixtekischen Bilderschriftentziffe-
rung, wird hier erstmals seit 1949 und wahrscheinlich in besserer Qualität in einer Umzeich-
nung vorgelegt. Zwei Ausschnitte sind außerdem in guten Farbphotographien präsentiert (Abb.
135, 137 und 138). Aus dem für die mixtekische Ethnohistorie zentralen Codex Nuttal werden
erstmals photographische Farbreproduktionen veröffentlicht (Abb. 130 und 132). Bei diesen
und bei fast allen anderen wertvollen Reproduktionen handelt es sich aber um unsystematische
Auszüge, so daß der Forscher damit wenig anfangen kann.
Interessant, aber höchst kontrovers sind die Interpretationen des Codex Borbonicus (S.
87-96 und passim). Die Autoren gehen in ihren Interpretationen über Karl Anton Nowotnys
Kommentar von 1974 (dem sie sich sonst bis in die Diktion der Abhandlung anschließen) hinaus
und sehen in diesem Religionshandbuch konkrete Hinweise auf seine Einbettung in den zere-
moniellen Umkreis der Hauptstadt Tenochtitlan in der Gestalt des (so behaupten sie) bei vielen
Riten dargestellten Cihuacoatl. Dies ist ein interessanter, provozierender und daher diskus-
sionswürdiger neuer Ansatz. Außerdem will Anders im Widerspruch zu seinem Lehrer No-
wotny die nachträglichen spanischen Beischriften als Kommentare eines gut informierten und
auf den intentionalen Gehalt des Codex bezugnehmenden Autors gedeutet wissen. Dies steht
konträr zur bisherigen Forschungsmeinung, die besagt, daß auch dieser Kommentator (wie die
meisten Kommentatoren religiöser Bilderhandschriften) nur eine vage und allgemeine Kenntnis
von der mexikanischen Religion und dem Inhalt der kommentierten Handschrift hatte. Eben-
falls informativ sind die Kommentare zum Codex Borgia (S. 124-126 und 142-145), die freilich
weitestgehend Forschungsergebnisse von Eduard Seier und Nowotny referieren. Zu den ande-
ren mixtektischen Bilderhandschriften (Codex Vindobonensis, Codex Seiden, Codex Nuttal
u. a.) sind die inhaltlichen Schilderungen auf einem wesentlich neueren Stand der Forschung, als
es für die meisten Interpretationen der übrigen Bilderhandschriften gilt. Zum Beispiel sind die
Deutung der „Steinmännchen" und die Identifizierung der bildlichen Darstellung des Wasser-
falls von Apoala eingearbeitet und vorbildlich durch Graphiken, Reproduktion der Codexsei-
ten und Photographien der heutigen Landschaft dokumentiert. Auch die Identifizierung der hi-
storischen Personen und geographischen Lokalitäten entsprechen bei den historischen Bilder-
handschriften der Mixteken durchweg dem neusten Stand der Forschung.
Buchbesprechungen
277
Summa summarum: Ein sehr schön ausgestattetes Bilderbuch, aus dem sich jedoch nur der
geduldige Spezialist durch kritische und gezielte Lektüre in seinem Wissen über die altamerika-
nische Buchkultur bereichern und anregen lassen kann.
Berthold Riese
Betzig, L.; Borgerhoff Mulder, M.; Türke, P. (eds.): Human reproductive behaviour. A
Darwinian perspective. 363 S., geb. Cambridge: Cambridge University Press 1988. $ 75.00, Pa-
perback $ 24.95
Einundzwanzig meist jüngere Autor(inn)en, vorwiegend aus dem angloamerikanischen
Raum, berichten in diesem Sammelband über ihre Forschungen zum Reproduktionsverhalten
des Menschen in verschiedenen natürlichen und kulturellen Umwelten. Das Thema wird von
den Herausgebern in die beiden Bereiche der Werbung und Konkurrenz um Fortpflanzungs-
partner („mating", Part I) und die Zeugung und Aufzucht von Kindern („parenting", Part II)
gegliedert.
Den im Untertitel angesprochenen theoretischen Hintergrund der Arbeiten bildet die So-
ziobiologie. Ihr geht es um Verhaltensweisen in ihrer Wirkung auf den genetischen Beitrag eines
Individuums zur nächsten Generation. Der Theoriekern besteht im Konzept der sog. inklusiven
Fitneß: Individuen verhalten sich tendenziell so, daß sie ihre eigenen Gene direkt oder indirekt
über ihre Verwandten fördern. Die daraufhin am besten untersuchten Bereiche der Evolution
sozialer Systeme sind (1) Nepotismus, (b) reziproker Altruismus, (c) Elterninvestment und (d)
sexuelle Selektion. Die für Menschen bislang postulierten soziobiotischen Tendenzen betreffen
vor allem Muster der Adoption, unilineare Abstammung und neuerdings Kindesmißbrauch.
Ethnologen stehen der Soziobiologie häufig strikt ablehnend gegenüber oder lehnen ihre
Anwendung auf den Menschen (als „Humansoziobiologie" bzw. „Darwinian-" oder „Evolu-
tionary Anthropology") pauschal ab. Darum sei hier einigen Mißverständnissen begegnet:
f. Die Humansoziobiologie versucht Erklärungen auf der Ebene der Auswirkungen von Ver-
haltensweisen und nicht der Kognitionen/Emotionen. 2. Dieses Verhalten muß nicht vererbt
sein, die Theorie ist also nicht genetizistisch. 3. Humansoziobiologen behaupten nicht, daß jeg-
liches Verhalten jedes Individuums immer durch inklusive Fitneß zu begründen sei. 4. Zur Ent-
stehung jeglichen Verhaltens können vier grundsätzliche Antworten auf Warum-Fragen ge-
sucht werden: (a) evolutionsgeschichtlicher Entstehungsverlauf, (b) ontogenetische Entste-
hung, (c) aktuelle, z. B. neuronale, Bedingtheit und (d) evolutionsfunktionale (adaptive) Bedeu-
tung (vgl. R. A. Hinde: Ethology. Its nature and relations with other sciences, o. O., Fontana,
1982: 19ff.). Das bewußt eingeschränkte (!) Interesse der Humansoziobiologen liegt bei evolu-
tionsfunktionalen und Ultimaten Erklärungen.
In diesem Band wird zum Thema Reproduktion gefragt: In welchem Verhältnis stehen Ver-
haltensaufwand und -ertrag innerhalb der beiden genannten Reproduktionsbereiche? Wie ist
das Verhältnis zwischen diesen oft verschränkten, aber eben oft auch alternativen Bereichen in
spezifischen kulturellen Situationen?
Die Daten der einundzwanzig Aufsätze stammen aus dreizehn verschiedenen Gesellschaf-
ten. Regional sind es Südamerika (4 Aufsätze), Pazifik (2), Afrika (2), Hochasien (1), Nordame-
rika/Karibik (2) und Europa (2); ökonomisch sind Jäger-Sammler-, Bauern- und Industriege-
sellschaften vertreten. Eigene Feldforschungsdaten werden in zwölf der Aufsätze ausgewertet;
es finden sich drei Dokumentenstudien, ein globaler Kulturvergleich und ein spezieller For-
278
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
schungsstandsbericht (zu Geschlechtsunterschieden der Raumkompetenz). Umrahmt werden
die beiden Hauptteile des Bandes von vier einführenden, kritisch kommentierenden und syste-
matisch-programmatischen Überblicken. Die meisten Aufsätze sind als Test bestimmter Hypo-
thesen angelegt und in der Abfolge Problemaufriß - Hypothese - Daten - Testresultate - Con-
clusio gegliedert.
Im ersten Kapitel berichtet Chagnon über Manipulationen von Kinship-Klassifikationen
zur Steigerung individuellen reproduktiven Erfolges bei den Yanomamö. Er zeigt die Anpas-
sung an Umweltgegebenheiten und verdeutlicht den Nutzen detaillierter demographischer Da-
ten für den Test humansoziobiologischer Hypothesen.
Betzig untersucht in Kapitel 2, ob sich Häuptlinge ihre Position in Redistributionssystemen
im Sinne ihrer Reproduktion zunutze machen. Ihre Daten bezeugen dies und sprechen damit
gegen substantivische Annahmen hierzu.
Der Frage des Wettbewerbes mittels Ressourcenaneignung widmet sich Borgerhoff Mulder
im 3. Kapitel mit einer Studie des Wettbewerbes durch Ressourcenallokation. Mittels multipler
Regression filtert sie entsprechende Faktoren heraus, die die Höhe des Brautpreises bei den Kip-
sigis in Kenia bestimmen.
Die Kapitel 4 bis 6 behandeln Faktoren der Partnerwahl. Berte stellt die reproduktive Bedeu-
tung des Austausches von Arbeitsleistung bei den K'ekchi'-Maya dar. In Kapitel 5 werten Crook
& Crook historische Daten und Feldforschungsdaten über Polyandrie in Tibet als „natürliches
Experiment" reproduktiver Anpassung aus. In einem Kulturvergleich (Kap. 6) testet Low Hypo-
thesen des Zusammenhangs von Pathogenen und dem Vorkommen von Polygynie. Er zeigt klare
Korrelationen zwischen beidem auf; die kausalen Beziehungen sind jedoch kompliziert.
Gaulin & Hoffmanns Überblick (Kap. 7) zu Geschlechtsunterschieden bei der Raumkom-
petenz wirft die Frage auf, ob solche Unterschiede eventuell eine Konsequenz reproduktiv be-
dingter Verhaltensunterschiede sind. Ansonsten paßt dieses Thema nicht in den Rahmen der
Thematik dieses Bandes.
Brown & Hotra untersuchen in einem kurzen 8. Kapitel, ob monogame Normen der Gesell-
schaft Pitcairns tatsächlich effektive Monogramie bewirken. Die Daten zeigen, daß dies trotz
reproduktiven Wettbewerbes der Fall ist.
Dunbar schließt den ersten Teil mit einem kritisch kommentierenden und auf ethnologische
Einwände gegen die Humansoziobiologie eingehenden Kapitel 9 ab. Er verweist darin auch auf
eines der Probleme humansoziobiologischer wie anderer darwinistischer Erklärungen: Es wird
eine bestimmte Voraussage getestet und dann, falls beobachtete und vorhergesagte Werte über-
einstimmen, geschlossen, daß der Mechanismus tatsächlich der bei der Hypothesenformulie-
rung angenommene sei (S. 163), ohne wirklich alle Faktoren für die Entwicklung erfassen zu
können.
Das 10. Kapitel von Türke leitet mit einer Untersuchung über die Ifaluk den zweiten Teil
des Bandes ein, der schwerpunktmäßig „Parenting" behandelt. Hier kommen lokale Umstände
ins Spiel, die z. B. dazu führen, daß Frauen ein größeres reproduktives Potential als Männer ha-
ben können.
Flinn analysiert in Kapitel 11 väterliche Kontrolle der töchterlichen Wahl der Geschlechts-
partner als Anpassung an lokal unterschiedliche Reproduktionsstrategien in einem Dorf Trini-
dads.
Im 12. Kapitel wertet Boone III portugiesische Genealogien in Manuskripten des 15. und 16.
Jahrhunderts im Hinblick auf Elterninvestment aus. Dabei zeigen sich Bevorzugungen des
männlichen Geschlechtes beim hohen, des weiblichen beim niederen Adel.
Buchbesprechungen
279
Essok-Vitale & Me Guire (Kap. 13) zeigen an einer Zufallsstichprobe heutiger Frauen in Los
Angeles, inwieweit das Vorhandensein eines Vaters und die Verläßlichkeit der Vaterschaft den
reproduktiven Erfolg der Frauen beeinflussen.
Harnes beschreibt im 14. Kapitel anhand der Ye'kwana im Amazonasbecken die bislang
kaum quantitativ untersuchte Unterstützung, die alloparentalen Kindern gewährt wird. Die
Mütter brauchen angesichts des hohen Arbeitsaufwandes für die Subsistenz diese Hilfe.
Voland, einer der wenigen deutschen Soziobiologen, wertet genealogische Daten aus dem
Ostfriesland des späten 17. bis 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Frage aus, wie sich Elternin-
vestment auf die Mortalität von Halbwaisen ausgewirkt hat (Kap. 15).
Im 16. Kapitel zeigt Hewlett, wie sexuelle Selektion die intra- (Aka-Pygmäen) und die mter-
kulturelle Variabilität (Aka versus Yanomamö) des elterlichen Aufwandes für Kinder beein-
flußt. Andere Unterschiede dieses Aufwandes aus Kulturvergleichen können aber laut Hewlett
bisher nicht evolutionär gedeutet werden.
Kapitel 17 und 18 von Hill & Kaplan zeigen detailliert, wie von Frauen und Männern jeweils
zwischen reproduktiven Strategien entschieden werden muß, weil diese sich teilweise gegensei-
tig behindern, z. B. die Entscheidung für Männer, entweder früh (und mit Risiko) Kinder zu be-
kommen oder ihren Eltern beim Aufziehen ihrer Geschwister zu helfen.
Irons gibt im 19. Kapitel einen kurzen Uberblick über das heute verfügbare Wissen über el-
terliche Verhaltensweisen als evolutionäre Strategien beim Menschen.
Abgeschlossen wird dieser Band durch einen Aufsatz eines maßgeblichen soziobiologischen
Theoretikers, Richard Alexander. Er geht genau auf Kritiken an der Humansoziobiologie, die
unterschiedlichen Strömungen in ihr und auf den wissenschaftstheoretischen Status ihrer Aus-
sagen ein.
Die im einzelnen sehr detaillierten und fallspezifischen Befunde dieses Bandes seien kurz zu-
sammengefaßt: (1) Menschen bevorzugen bei der Reproduktion genetische gegenüber klassifi-
katorischen Verwandten. Dabei sind aber die jeweils begrenzt verfügbaren Ressourcen und das
Aufwand/Ertrags-Verhältnis wichtig, was in bisherigen humansoziobiologischen Untersu-
chungen zu stark vernachlässigt wurde. (2) Akteure nutzen individuelle materielle Ressourcen,
Macht, Status und Manipulationen von Wissen für reproduktive Vorteile. Die allgemeinen Ten-
denzen des Wohnens, Heiratens und der Fortpflanzung sind mit dem Konzept der inklusiven
Fitness vorhersagbar. (3) Die Einzelfälle zeigen im Unterschied zu bisherigen Erkenntnissen,
daß die optimale Allokation verschiedener Ressourcen und damit die Auswahl und Anzahl der
Partner und der Zeitpunkt der Fortpflanzung sehr von der lokalen ökotischen und sozialen
Umwelt abhängt.
Die Herausarbeitung der Wichtigkeit solcher lokaler Bedingungen und überhaupt die bes-
sere empirische und quantitative Fundierung unterscheidet dieses Buch von dem Markstein die-
ser Forschungsrichtung in der Ethnologie, dem von Chagnon & Irons herausgegebenen "Evo-
lutionary Biology and Human Social Behaviour" (North Scitutate 1979). Hier bahnt sich eine
inhaltliche wie methodische Integration evolutionsbiologischer und ethnologischer Erkennt-
nisse an (vgl. M. Borgerhoff Mulder: Progress in Human Sociobiology, Anthropology Today 3,
1 ; 1987: 5-8). Methodisch werden die traditionellen Verfahren der teilnehmenden Beobachtung
durch die stärker quantitativen (z. B. time-allocation method) ergänzt.
In der theoretischen Durchdringung zeigen sich in den letzten Jahren erst noch ungefestigte
Ansätze einer Verknüpfung vorher disparater Forschungsrichtungen, um das Zusammenwir-
ken soziobiotischer mit anderen Faktoren langfristigen Wandels (z. B. Koevolution, „cultural
transmission") zu klären und damit einen Schritt hin zu einer formalen Theorie kultureller Evo-
280
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
lution zu tun. Das zeigen z. B. die neueren Arbeiten von Boyd & Richerson, Cavalli-Sforza &
Feldman, Lumsden & Wilson (vgl. den kritischen Überblick von M. Blute: Biologists on Social
Evolution: A Critical Analysis, in Sociological Theory 5,2; 1987:185-193), sowie die von Alex-
ander, Durham und Pulliam & Dunford.
Die verschiedenen Theorien stimmen darin überein, daß Kultur als Faktor eine bedeutende
Rolle für die biotische Evolution des Menschen spielt und daß kulturelle Varianten möglich
sind, die nicht fitneßmaximierend sind. Uneinig ist man (1) über den Grad der Bedeutung kul-
tureller Entscheidungen gegenüber natürlicher Selektion kultureller Variationen, (2) darüber,
ob kulturelle Transmission strukturell eher der Vererbung oder mehr der phänotypischen Flexi-
bilität im Bios ähnelt und (3) über den Stellenwert nichtelterlicher kultureller Transmission.
Letzteres und (4) der Aufwand für kulturelle Entscheidungen (Materie, Energie, Information)
sind umstritten, aber empirisch bestimmbar (vgl. P. R. Richerson & R. Boyd: Simple Models of
Compex Phenomena: The Case of Cultural Evolution, inj. Dupré (ed.): The Latest on the best.
Essays on evolution and optimality, London, MIT Press, 1987: 27-52).
M. E. müßte in Zukunft noch stärker, als es in diesem Band getan wird, auf folgendes geach-
tet werden: (1), ob einzelne rezent beobachtete Verhaltenstendenzen evtl. in früheren kulturel-
len und ökotischen Kontexten fitneßgerecht waren, dies aber heute nicht mehr sind; (2) auf die
vielen Verhaltensweisen, die nur wenig Aufwand und Risiko erfordern, weil sie auch langsfristig
nicht adaptiv sein müssen. Hier liegen die Grenzen der Humansoziobiologie; hier muß sie
durch andere Theorien ergänzt werden (vgl. C. Antweiler: Kulturevolution als transgeneratio-
naler Wandel, Berlin, Reimer 1988, Kapitel 4, insbes. 185ff.).
Der vorliegende Sammelband zeigt, daß die heutige Humansoziobiologie keine „Vulgärso-
ziobiologie" ist, sie sollte Kritiker dazu anregen, diese Arbeitsrichtung ernst zu nehmen und sie
konstruktiv zu diskutieren, statt, wie so oft geschehen, nur Wilsons programmatisches Kapitel
27 (1975) zur Kulturevolution zu lesen und mit der - teilweise berechtigten - Kritik daran das
Kind mit dem Bade auszuschütten.
Christoph Antweiler
Bricker, V. R.: A grammar of Mayan Hieroglyphs. New Orleans: Middle American Research
Institute Publication 56, Tulane University, 1986.
V. R. Bricker (Universität von Tulane) stellt in diesem Buch die Forschungsergebnisse einer
Untersuchung zur Maya-Schrift dar, die sie von 1979 bis 1983 durchführte. Das Buch versteht
sich als eine Grammatik der Maya-Glyphen. Sein Schwerpunkt liegt in der Analyse von prono-
minalen Präfixen wie u-,y-, ca-, die in den Kapiteln 3-5 behandelt werden; ein agentives Präfix,
ah, das in den Kapiteln 5 und 6 diskutiert wird, und ein verbales Suffix, -ah, dessen Funktionen
im Kapitel 7 beschrieben werden. Kapitel 2 gibt eine Zusammenfassung des Flexionssystems der
Maya-Sprachen Yukatekisch und Chol. Die Syntax wird nur am Rande abgehandelt, indem sie
im 8. Kapitel zum Nachprüfen von verbalen und nominalen Flexionen herangezogen wird.
Bricker geht in ihrer Arbeit davon aus, daß die Maya-Schrift eine ähnliche Struktur wie an-
dere logosyllabische Schrift-Systeme aufweist. Dementsprechend werden Worte wiedergege-
ben: (a) Durch individuelle Logogramme, (b) Durch die Zusammensetzung von „Wortstäm-
men", und phonetischen Komplementen, (c) Durch Kombinationen von Silben und (d) durch
die Zusammensetzung von Logogrammen und phonetischen Komplementen. Die phoneti-
schen Zeichen repräsentieren sprachliche Einheiten, die kleiner als Morpheme sind : nämlich Sil-
ben oder Phoneme. Wenn sie als phonetische Komplemente gebraucht werden, zeigen sie auf,
Buchbesprechungen
281
wie ein Logogramm ausgesprochen wird. Sie bestimmen An- oder Auslaut. Manchmal dienen
sie auch zur Festlegung einer Konsonant-Vokal- oder Vokal-Vokal-Sequenz. Ein gutes Beispiel
dafür ist die Darstellung des Wortes Pacai. Dafür gibt es zwei Glyphen: T624 und T602. In der
Regel findet man auf Inschriften das Zeichen T624 ohne phonetische Suffixe. Dies läßt darauf
schließen, daß es sich um ein Logogramm handelt. T602 hingegen taucht begleitet von phoneti-
schen Präfixen und Suffixen auf (z. B. T602.25: 178). Dies deutet darauf hin, daß es sich um die
Silbe pa handelt, die durch die Komplemente ca und la ergänzt wird.
Brickers Untersuchung erweist sich nicht nur als sinnvoll und nützlich für die weitere Erfor-
schung der Maya-Schrift, sie zeigt zugleich auch die Schwierigkeiten bei der Entzifferung auf.
Bei der Identifzierung von Zeichen kann nicht vorausgesetzt werden, daß sie eine bestimmte
grammatikalische Funktion besitzen. Denn eine Reihe von nominalen und verbalen Affixen bil-
den sich durch die Zusammensetzung von Silben, oder durch die Kombination von Logogram-
men mit phonetischen Komplementen. Jedes Zeichen kann unterschiedliche Funktionen auf-
weisen. Ein Zeichen, das eindeutig als Silbe, phonetisches Komplement oder Logogramm zu
identifizieren ist, kann als grammatikalisches Affix in einem bestimmten Kontext funktionieren
oder als phonetisches Zeichen in einem anderen. In einigen Fällen dient ein morphologisches
Affix als Trennung zwischen Logogramm und seinem phonetischen Komplement.
Durch den linguistischen Ansatz bietet Bricker eine gute Grundlage zur Nachprüfung der
zahlreichen Beiträge zur Entzifferung von Glyphen. Im dritten Kapitel werden z. B. alle U-Al-
lographe und Allomorphe der dritten Person Singular überprüft. Die dritte Person Singular
wird durch eine Reihe von Zeichen in der Maya Schrift dargestellt. Sie sind bis jetzt dadurch
identizifiert worden, daß sie rein formell ähnlich aussehen oder daß sie ähnliche Funktionen bei
der Wort- und Satzbildung aufweisen. T3 und Ti 1 wurden durch ihre Ähnlichkeit mitTl als U-
Allomorphe klassifiziert. Nach dem zweiten Kriterium wurden TlO, T13, T204, T211, T232,
T105 und T191 betrachtet und ebenfalls als U-Allomorphe eingestuft, denn sie tauchen in ähnli-
chen grammatikalischen Zusammenhängen auf.
Andererseits stellt Bricker neue Thesen zur Dikussion. Darunter sind die wichtigsten: (1)
Die Y-Allomorphe, die auch als die Personalpronomina der dritten Person Singular identifiziert
wurden, sind als einzelne Zeichen nicht zu rekonstruieren. Sie waren in einem phonetischen
Zeichen eingebettet, nämlich in dem Zeichen ya. (2) Von den bisher entzifferten Substantiven
brauchten nur wenige ein V7-Suffix. (3) Das Suffix für die transitiven Verben, das bis jetzt als - V
betrachtet wurde, setzt sich aus einem Vokal und dem Konsonant w zusammen. (4) Transitive
und intransitive Verben weisen ein gemeinsames perfektives Suffix -ah auf.
Bricker studiert insgesamt 1043 Sätze, die aus Inschriften von 51 Maya-Städten stammen
(287 Sätze aus dem Codex Dresden und der Rest aus den Inschriften). Palenque und Yaxchilán
sind mit 204 bzw. 98 Sätzen besonders gut repräsentiert. Weitere Quellen für die vergleichende
Analyse sind kolonialzeitliche Texte: Die Chilam-Balam Bücher aus Tizimin und Chumayel,
die Pablo Maldonado (Paxbolon) Akten von Acalan-Tixchel, weitere Dokumente aus dem 16.
Jahrhundert in Maya-Yukatekisch und die Grammatiken und Wörterbücher der modernen
Maya-Sprachen.
Für ihre Untersuchung arbeitete Bricker mit Hilfe eines Computers. Sie bereitete eine Datei
vor, in der verschiedene sprachliche Kategorien definiert wurden. Die erste Kategorie bildeten
die glyphischen Datumsangaben (Distanzzahlen, Kalenderrunde). Die zweite bezieht sich auf
präpositionale Ausdrücke. Sie werden durch den Präfix T59 (tcUti) oder seine Allographe (T51,
T53, T103, Tl 13 und T565a) identifziert. Weitere Kriterien sind: Verbale Ausdrücke, possessive
Pronomen, Substantive und Emblem-Glyphen. Durch die Auswertung dieser Datei konnte
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Bricker folgende Informationen ermitteln: (1) Position im Satz eines bestimmten Ausdruckes
als erstes, zweites, drittes usw. (2) Häufigkeit des Auftretens eines Ausdruckes in einer be-
stimmten syntaktischen Position. (3) Art von syntaktischen Relationen unter vordefinierten
Kategorien. (4) Typ von Sätzen, die häufiger repräsentiert sind.
Brickers Modell der Maya-Schrift sieht folgendermaßen aus: Die Struktur des Flexions-Sy-
stems der Maya-Glyphen teilt mit dem modernen und klassischen Yukatekisch und Chol fol-
gende Merkmale: Das Modell der pronominalen Flexion und die Behandlung von Substantiven.
Sie unterscheiden sich in den nominalen und verbalen Suffixstämmen.
Das Personalpronomen der dritten Person Singular (Tl und Varianten sowie T47, T125/126
und T679 als Affix) weist u. a. folgende grammatikalische Funktionen auf: (a) possessives Pro-
nomen; (b) Subjekt von verbalen Ausdrücken; (c) Tranformation von Kardinalzahl zu Ordinal-
zahl bei Periodenendeangaben; (d) Enklisse.
Ein Beispiel dafür ist die Analyse von T125/126 im Kapitel vier. Bricker liest dieses Zeichen
als ya bzw. y. Die Evidenz für diese Lektüre von T47/125/126 leitet Bricker aus ikonographi-
schen Indizien ab. T125/126 ist ein Zeichen, das von der Form her den männlichen Geschlechts-
teilen ähnelt. Der Chol-Stamm für Geschlechtsteile oder Penis ist at. Dieser Stamm nimmt im-
mer ein possessives Präfix zu sich und wird dadurch als y at (sein Penis) zitiert. Im chontal findet
man auch eine adverbiale Partikel ya, die als „denn" oder „dort" übersetzt werden kann.
T125/126 wird andererseits als Postfix von verbalen Glyphen gefunden. Manchmal nimmt
dieses Zeichen die Funktion einer Enklisse an. Ein Beispiel dazu sieht Bricker in dem Entziffe-
rungsvorschlag für T126 von Riese (Riese, B.: La inscripción del monumento 6 de Tortuguero.
In: Estudios de Cultura Maya 11 [ 1978] 187-198). Riese studiert Monument 6 aus Tortuguero
und findet T126 als Postfix von T644. Nach Riese wird die Thronbesteigung des Herrschers in
B7 dokumentiert. Im Verlauf des Textes, wenn auf die Thronbesteigung Bezug genommen
wird, funktioniert B7 als Referenzpunkt. Weitere Ereignisse im Text ereigneten sich nach der
Thronbesteigung. T126 hat in diesem Kontext eine relationale Funktion, die bei jeder Referenz
zur Thronbesteigung bei der Anwesenheit von T126 signalisiert wird. Es scheint eindeutig zu
sein, daß T126 in diesem Kontext als Enklisse fungiert.
T125/126 verhält sich auch als phonetisches Komplement, wenn es als Postfix zur Geburts-
Glyphe (T740) auftritt. T740 wird immer von 181 begleitet. Würde T47/125/126 als Enklisse
funktionieren, dann müßte T125 nach T181 positioniert sein. Die Tatsache, daß T125/126 vor
Tl81 auftaucht (z. B. in den Ausdruck T740: 126. 181, phonetisch als ay-ya-ah gelesen und
morphemisch als ay-ah), läßt darauf schließen, daß dieses Zeichen in diesem Kontext phoneti-
sches Komplement eines Logogramms ist. Weitere Hinweise für die ya-Lektiire von Tl25/126
findet Bricker in dem Ausdruck T126.552: 23 (ya-tan-na). Hier nimmt das_y die Funktion eines
Possesivpronomens ein. Die morphemische Lesung warey-atan. T126 und T23 bestimmen An-
und Auslaut des Wortes atan.
Substantive haben zwei Stämme. Ein Stamm wird gebraucht, wenn Substantive dekliniert
werden, um die Possesivform auszudrücken. Absolute Stämme werden nicht dekliniert. Von da
aus kann die nominale Flexion dadurch identifiziert werden, daß ein Verhältnis zwischen pro-
nominalen Präfixe und -Vi Suffixe zu Substantivwurzel und -Stämmen vorhanden ist. Dieser
Sachverhalt spiegelt sich in der Yukatekischen Sprache wieder. In der Chol-Sprache verhalten
sich die Substantive genau umgekehrt. Die absoluten Substantive werden durch ein -Vi Suffix
markiert, während die Possesivform der Substantive kein Suffix aufweist. Ob ein Substantiv
durch ein - Vi Suffix dekliniert wird oder nicht, hängt damit zusammen, welche Sprache oder
Sprachen die Schrift repräsentiert, und welche Art von Stämmen (absolute oder possessive) vor-
handen sind.
Buchbesprechungen
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In den Inschriften läßt sich nachweisen, daß einige nominale Suffixe wie al, -el und -il
manchmal durch Silben signalisiert werden. Ein Beispiel dafür findet man auf Lintel 4A aus Chi-
chén Itzá. T679: 671: 178 kann phonetisch als i-chi-l(a), morphemisch als ich-il gelesen werden.
In diesem Fall setzt sich der Suffix il aus dem Vokal von T671 (chi) und dem Konsonanten von
T178 (la) zusammen. Andererseits gibt es auch Hinweise dafür, daß T140 und T178 nach einem
Logogramm als -al gelesen werden können. T188 taucht nur bei nominalen Glyphen wie tunel,
ahawle oder ahawlel, kinel und achei auf. In dem Ausdruck T59.747: 188: 188, der phonetisch
als ta-ahau-le-l(e) und morphemisch als ta ahaulel gelesen werden kann, würde sich das Suffix
-el aus der Wiederholung von T188 ableiten lassen.
Ein sehr interessanter Teil dieses Buches stellt das Kapitel über verbale Flexion dar. Die
Maya-Schrift weist in ihren Sätzen transitive und intransitive verbale Flexion auf. Die Schrift
teilt mit dem Yukatekisch und Chol folgende morphologische Merkmale: (1) ein Ergatives
Verb-System; (2) Perfektive und imperfektive Verbstämme werden durch Suffixe differenziert;
(3) Transitive Verbstämme - perfekt und imperfektiv — nehmen pronominale Präfixe als Sub-
jekte; (4) perfektive intransitive Stämme nehmen pronominale Suffixe als Subjekte.
Perfektiv, Partizip-Perfekt und Imperfektiv unterscheiden sich durch die Suffixe: Tl81 /-ah
markiert den perfektiven Aspekt. T130 liefert nur das w, um das -vw imperfektive Suffix zu
konstituieren. Das Partizip Perfekt wird von T88/-an dargestellt. Folgende Tabelle beschreibt
verkürzt das Modell der verbalen Flexion bei Bricker (Tabelle 1).
Tabelle 1.
Trans.-Verb Intrans.-Verb
Aktiv Passiv Antipassiv
Perfektiv Stamm + Pro- nominal Präfix als Subjekt + -ah/ T181 Stamm ohne Pro- nominal Suffix ah/ T 181 Pronominal Suffix als Subjekt + Anti- passiv Suffix -n + Perfektives Suffix -ah Stamm + Pronominal Suffix + ah/ T 181
Partizip Perfekt Stamm + Suffix -an/1/ 88 Stamm + Pronomi- nal Suffix als Subjekt + -an/1/ 88
Imperfektiv Stamm + Pro- nominal Präfix als Subjekt + -Vw/T130 0 Suffix Pronominal Präfix als Subjekt + -al Suffix oder -Vi Stamm + Pronomi- nal Präfix als Subjekt + 0 Suffix
Bricker bringt viele Beispiele, um die Konsistenz der verbalen Flexion nachzuweisen. Den-
noch findet sich bei diesen kein einziges Beispiel, an dem sich alle Fälle exemplifizieren ließen.
Wichtig ist dabei vor allem, daß die Beispiele in der Regel aus ähnlichen syntaktischen Kontex-
ten stammen. Bei dem Gefangennahmeverb T532 und Varianten bietet Bricker Beispiele von (1)
imperfektiv/aktiv: 1.87.532:130 entziffert als u-te-chu-cu-aw und auf Englisch übersetzt als "he
was capturing him". T532 wird von Bricker als chu-cu entziffert, weil sie davon ausgeht, daß
T532 sich aus zwei Zeichen zusammensetzt: T515 [528]; (2) Perfektiv/aktiv: 87.515:25.181 ent-
ziffert als te-chu-ca-ah. (3) Partizip Perfekt/aktiv: ?.532: 88.126 entziffert als ?-chu-cu-an-ya
und übersetzt als "he was captured then". Die Flexion von transitiven Verben wird auch an
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Hand von der Hand-grasping-glyph T714, T757 als Variante von T714 und des Scattering Verbs
T710 weiter erläutert. T757 ist besonders interessant, weil dieser Verbstamm sowohl als Transi-
tiv als auch als Intransitiv vorkommt. Die folgenden Tabellen zeigen verschiedene Beispiele von
T757 als transitives bzw. intransitives Verb (Tabelle 2).
Tabelle 2.
Partizip Perfekt
Trans.-Verb
Aktiv
Passiv
757.88:126
bah-an-0-ya
"He was perforated then"
Intrans.-Verb
Imperfektiv
I.757
u-bah-0
204.60:757
u-ta-bah
II.757
u-bah-0
232.60:757
u-ta-bah-0
"He was bled then*
204.757
u-bah
"He was going*
Die Sätze, die von Bricker analysiert werden, zeigen, daß das Modell plausibel ist. Daß es ein
wertvolles Werkzeug für die zukünftige Entzifferung der Maya-Schrift bildet, ist nicht zu be-
streiten. Ob es sich als das richtige Modell erweist, wird sich erst zeigen, wenn es an Hand von
längeren Texten unterschiedlicher Herkunft überprüft wird.
Die Maya-Epigraphiker werden aus diesem Buch eine wichtige Lehre ziehen können: Da die
Maya-Schrift keine morphemischen Grenze auf phonetischer Ebene aufrechterhält, sind die
Forscher darauf angewiesen, mehr mit alternativen Formen der Segmentierung zu spielen, um
daraus sinvolle morphemische Einheiten zu bilden. Voraussetzung dafür ist eine solide Kennt-
nis nicht nur der allgemeinen Linguistik und mindestens eine Maya-Sprache, sondern auch der
Prinzipien der Maya-Grammatik sowie des Maya-Wortgebrauches in den Texten.
Martha Zapata
Codex Zouche-Nuttall. British Museum London (Add. MS. 39671). Vollständige Faksimile-
Ausgabe des Codex im Originalformat. Vorwort: Ferdinand Anders, Introduction: Nancy P.
Troike. 92 S. Faksimile, 46 S. Beiheft. Codices Selecti, Vol. LXXXIV. Graz: Akademische
Druck- und Verlagsanstalt 1987.
Das vorliegende Werk ist die erste fotografische Faksimile-Ausgabe der längsten mixteki-
schen Bilderhandschrift. Bereits 1902 hatte Celia Nuttall entgegen damaligen Lehrmeinungen
richtig erkannt, daß die abgebildeten Figuren nicht Götter, sondern Menschen darstellen und
daß die Bildfolgen geschichtliche Ereignisse wiedergeben. Weniger erfolgreich war sie in der
räumlichen und zeitlichen Zuordnung, denn sie hielt das Dokument für ein aztekisches und da-
tierte die historischen Abläufe in das 15. und 16. Jahrhundert. Erst 1949 gelang es Alfonso Caso,
diesen Codex gemeinsam mit einigen weiteren Bilderhandschriften korrekt den Mixteken zuzu-
schreiben. Diese Deutung wird inzwischen nicht mehr angezweifelt.
Buchbesprechungen
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Bislang stand der Forschung nur die 1902 von Nuttall herausgegebene Edition zur Ver-
fügung, von der Mitte der 70er Jahre in Mexiko und den Vereinigten Staaten preiswerte
Nachdrucke angefertigt worden sind. Diese Ausgabe basierte nicht auf einer fotografischen
Wiedergabe, sondern einer Nachzeichnung durch einen Maler. Die jetzt vorliegende akkurate
Reproduktion des Originals ist um so willkommener, als jene Nachzeichnung zahlreiche Män-
gel aufweist.
Beim Vergleich der beiden Editionen sticht sofort ins Auge, daß die Farben der Nachzeich-
nung weit vom Original entfernt sind und auch im Grad der Schattierung deutlich von ihm dif-
ferieren. Der farbliche Grundton ist im übrigen erheblich dunkler als im Original und vermittelt
einen geradezu düsteren Eindruck. Erst die jetzige Edition läßt das lebhafte Spiel der leuchten-
den Farben erkennen. Hervorzuheben ist unter künstlerischem Aspekt schließlich auch die sehr
viel feinere Strichführung des mixtekischen Malers; verglichen mit ihr wirkt die Nachzeichnung
plump und grobschlächtig.
Konkrete Beispiele für falsche Farbtönung in der Ausgabe von 1902 finden sich mehrfach
auf den Seiten 68 ff., wo bei der Darstellung von Bergen ein gelber Rand vom sonst monotonen
Braun abgesetzt ist, obwohl es dafür keine Anhaltspunkte im Original gibt. Wahrscheinlich hat
sich hier der Kopist an vorangehenden Seiten orientiert, wo es tatsächlich eine Differenzierung
zwischen den beiden genannten Farben gibt. Gravierender sind solche Fehler etwa auf S. 69 bei
einem Schild und S. 85 bei einem Ballspielplatz, wo den Farben möglicherweise auch symboli-
sche Bedeutung zukommt. Anders als das Original, wo zwei der vier Felder dieselbe Farbe tra-
gen, zeigt die Kopie vier verschiedene.
Ungenauigkeiten in der Nachzeichnung sind auch auf S. 55 zu erkennen, wo eine Tempel-
wand mit Ringen verziert ist, bei denen es sich jedoch, wie der Vergleich mit S. 44 und 50 veran-
schaulicht, um Punkte handelt, deren zentraler Teil abgebröckelt ist. Fehler in der genauen
Erfassung des Originals zeigen sich auch bei der Wiedergabe von Blumenmustern auf der Klei-
dung, etwa auf S. 82.
Der Codex enthält eine Vielzahl vertikaler Striche, die meist von oben oder unten nur bis zur
Mitte reichen und den Handlungsablauf gliedern. Eine Anzahl dieser Linien fehlt in der Kopie
des Zeichners, so auf den Seiten 13 und zwischen den Seiten 26/27, 28/29, 38/39, 40/41. Ande-
rerseits zeigt die Kopie zwischen den Seiten 77/78, 79/80 oder 81/82 einen Trennungsstrich, ob-
wohl ein solcher - unmittelbar auf der Faltlinie gelegen - nur in Resten erkennbar ist, die leicht
übersehen werden können. Hier kann also die Kopie möglicherweise einen nützlichen Hinweis
auf die Gliederung des Inhalts liefern.
Der Codex ist überwiegend sehr gut erhalten, so daß Ergänzungen, wie sie in der Kopie von
1902 vorgenommen worden sind, kaum ins Gewicht fallen. Problematisch sind sie aber etwa auf
S. 41, wo oben links beim Kalenderzeichen Feuerstein elf Ringe eingetragen sind, obwohl durch
Abbröckeln nicht mehr als sieben erkennbar sind. Hier wäre es bestimmt besser gewesen, auf
eine Retusche zu verzichten. Auf diese Seite des Originals folgen vier leere bis zum Ende der Bil-
derfolge. Die Kopie zeigt jedoch noch zwei weitere Bilderseiten. Hier sind offenbar aus druck-
ökonomischen Gründen (recto und verso haben eine unterschiedliche Zahl von Bildern) die bei-
den ersten Bilder der rückseitigen Folge als letzte angefügt worden. Diese Veränderung gegen-
über dem Original hat offenbar dazu geführt, daß Nuttall die historische Abhandlung über die
Taten von „8 Hirsch - Jaguarkralle" erst mit S. 44 beginnen ließ und nicht schon mit S. 43, wo
diese Person ebenfalls abgebildet ist.
Wie die neuere Forschung ergab, beginnt der Codex mit S. 42 der traditionellen Paginierung,
und die traditionell als Rückseite angesehene Bilderfolge ist die Vorderseite. Da der Codex seit
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
nunmehr über acht Jahrzehnten mit falscher Paginierung zitiert worden ist, wurde diese, um zu-
künftige Vergleiche zu erleichtern, auch in der jetzigen Edition beibehalten. Im Begleitheft fin-
det sich jedoch eine Konkordanztafel mit der korrekten Paginierung.
Es gibt zu dieser Bilderhandschrift eine ganze Anzahl von Einzelstudien (meist im Vergleich
mit anderen Codices); ein umfassender, durchgehender Kommentar ist jedoch bisher noch
nicht erstellt worden. Wer immer sich dazu aufrafft, wird bei der Bearbeitung von der vorliegen-
den Edition ausgehen müssen, die höchsten Qualitätsansprüchen gerecht wird.
Ulrich Köhler
Dürr, M.: Morphologie, Syntax und Textstrukturen des (Maya-) Quiche des Popol Vuh.
Linguistische Beschreibung eines kolonialzeitlichen Dokuments aus dem Hochland von Guate-
mala. Mundus Reihe Alt-Amerikanistik, Bd. 2. XI + 450 S. Bonn: Holos 1987.
Über zwanzig Texte von den Quiche Mayas aus dem Hochland von Guatemala, die im sech-
zehnten und am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts entstanden sind, sind überliefert (wor-
den). Diese Texte, die ihren Namen vom spanischen Wort títulos (Titel) erhielten, wurden zwar
in lateinischer Schrift, aber in der Sprache der Quiche geschrieben. In manchen Fällen ist nur
eine spanische Übersetzung überliefert. Die umfangreichste dieser Schriften ist das Popol Vuh.
(Die Identifikation des Popol Vuh als titulo ist nicht unumstritten.) Dieser Text unterscheidet
sich nicht nur nach seinem Umfang von den anderen Schriften; auch inhaltlich gibt es, zumin-
dest augenscheinlich, beträchtliche Unterschiede. In den meisten kurzen títulos wird über die
Grenzen des Gebiets und über die Stammesgeschichten von den Urahnen bis zur spanischen Er-
oberung im Jahre 1524 berichtet. Die Zeit der Urahnen, der Gründer der Abstammungsreihen,
fällt mit dem Anfang der sogenannten ,post-klassischen' Epoche in diesem Gebiet, um 1250
n. u. Z., zusammen. In manchen títulos wird auf die ihr vorangehende Zeit verwiesen. Meistens
führt der Autor in solchen Fällen die spanische (biblische) Vorstellung von den ,verlorenen
Stämmen Israels' an, die von Übersee aus Assyrien oder Babylon gekommen seien. Das Popol
Vuh vertritt jedoch die einheimische Anschauung. Mehr als die Hälfte des Textes ist zusammen-
gesetzt aus Mythen, in denen die Götter den Menschen zu schaffen versuchen und in denen Hel-
den-Zwillinge den Kampf gegen die falschen Götter oder die Herren von Xibalba aufnehmen.
Diese Mythen sind uns nur durch dieses Werk bekannt. Weil aber mehrere Namen von Göttern
aus dem Popol Vuh mit Namen aus anderen Quellen übereinstimmen, und weil einige Abbil-
dungen auf Keramik aus der klassischen Epoche sich in manchen Fällen scheinbar auf Ab-
schnitte aus dem Popol Vuh beziehen, wird dieses Werk von vielen Autoren für die Deutung
archäologischen und anthropologischen Materials aus anderen Teilen des ausgedehnten Maya-
Gebietes und aus einer anderen Zeit als die post-klassische Epoche zu Rate gezogen.
Der mannigfaltige Inhalt des Popol Vuh - das Werk ist um 1550 entstanden - können wir als
die Beantwortung einer einzigen Frage erfassen :, Warum war alles so, wie es bei der Ankunft der
Konquistadoren 1524 war?' Die Antwort ist in der Wiedergabe der gesamten Geschichte, von
der Weltschöpfung bis zum Eintreffen der Spanier, enthalten. Die kosmographische und die
geographische Ordnung erhalten ihre Deutung von den Schöpfungsmythen; die ethische Ord-
nung wird anhand der Mythen über die Helden-Zwillinge, die soziale Ordnung mit Hilfe der le-
gendären Geschichte der Vorfahren erklärt. Auch die anderen títulos vermitteln - nur wesent-
lich knapper - eine Antwort auf diese Frage.
Im Hinblick auf den einzigartigen Inhalt des Popol Vuh ist eine gute Übersetzung von gro-
Buchbesprechungen
287
ßem Interesse. Jede Übersetzung, von welchem Text auch immer, setzt die Interpretation dieses
Textes voraus; Ubersetzung und Interpretation sind unlöslich miteinander verbunden. Das Po-
pol Vuh ist ungefähr dreißig Mal in mehrere westliche Sprachen übersetzt worden; offenbar war
keiner der Ubersetzer mit der Arbeit seiner Vorgänger zufrieden. Es lassen sich unterschiedliche
Ursachen dafür unterscheiden; sowohl im Bereich der Interpretation als auch im Bereich der
Linguistik.
Im Zuge der Unterwerfung der Mayas vernichteten die spanischen Konquistadoren die vor-
handene Staatsstruktur im mayanischen Gebiet. Die Spanier hatten ja kein Interesse an einer so-
zialen Organisation auf Staatsniveau, aus der ein organisierter Widerstand würde hervorgehen
können. Die Missionare, die auf die Soldaten folgten, unterdrückten ihrerseits die ursprüngliche
Religion. Auf der Ebene der zentral organisierten Zeremonien verschwand sie ganz und gar; le-
diglich auf örtlicher Ebene lebte sie fort und die jetzige Religion der Quiche-Mayas ist eine Syn-
these von spanischem Katholizismus und einheimischer Religion. In den títulos handelt es sich
vor allem um die Geschichte der vorspanischen sozialen Organisation, aber in all diesen Texten
treffen wir auf Hinweise auf religiöse Angelegenheiten; das Popol Vuh enthält eben die oben ge-
nannten Mythen. Obwohl diese Mythen in den Augen des Quiche-Teilhabers aus dem 16. Jahr-
hundert ein fester Bestandteil der Geschichte der Quiche-Mayas sind, treffen wir doch viele reli-
giöse Termini in ihnen an, wie z. B. zahlreiche Namen und Epitheta übernatürlicher Wesen, die
nicht in den Werken spanischer Missionare enthalten sind.
Um den neu angekommenen Geistlichen die Sprachen der Indianer unterrichten zu können,
verfaßten die Missionare Grammatiken und Wörterbücher. Aber gerade die Terminologie auf
den oben genannten Gebieten ist äußerst unvollständig. Für den neuzeitlichen Übersetzer des
Popol Vuh und anderer títulos ist gerade dieses Unvollständigkeit problematisch; sie ist die Ur-
sache vieler Spekulationen: Aus den spanischen linguistischen Werken aus dem 16. Jahrhun-
dert erfahren wir nur wenig über die Götter und ihre Epitheta und über spezifisch religiöse Be-
griffe. Es fehlen auch probate Übersetzungen von Begriffen, die sich auf die soziale Organisa-
tion beziehen. Da ein jeder Übersetzer zugleich interpretiert und somit spekuliert, gibt es man-
nigfaltige Übersetzungen.
Für die Abfassung einer guten Übersetzung, von welcher Schrift aus dem 16. Jahrhundert
auch immer, braucht man (geschriebene) Grammatiken und Wörterbücher aus derselben Zeit.
Eine dritte, weniger triviale Voraussetzung ist folgende: Für die Abfassung seiner Grammatik
hat Michael Dürr auf Grammatiken des Ibero-Amerikanischen Instituts Berlin, aber nicht auf
andere Werke, wie z. B. die Arbeiten Vicos oder Martinez, zurückgegriffen. (Vgl.: R. M. Car-
mack, Quichean Civilisation. The Ethnohistoric, Etnographic and Archeological Sources. Ber-
keley and Los Angeles: University of California Press, 1973.) Wohl aber hat er sehr viele mo-
derne Studien herangezogen. Sein Buch ist allerdings keineswegs eine Kompilation älterer An-
schauungen. Er hat ein Computerprogramm verwendet, um eine ganz neue, unabhängige
Grammatik auf der Grundlage des Textes selbst zu schaffen. Das Ergebnis seines Verfahrens ist
eine funktional orientierte Sprachbeschreibung' (Kap. II). Dieses Verfahren hat zu einer sehr ge-
nauen Beschreibung der Grammatik geführt. Auf der Folie der einleitenden Kapitel I (über die
Sprache und das Popol Vuh) und II (über die gehandhabten Methoden und Techniken), erläu-
tert er die Schreibung und die phonologischen Regeln in Kapitel III und die Wortarten und die
Stammbildung in den Kapiteln IV und V. Aber der Schwerpunkt liegt auf den Kapiteln VI bis
VIII.
In den Kapiteln VI und VII geht Dürr auf die Syntax der Phrase und des Satzes ein. Diese
sind - meines Wissens - für das Popol Vuh nie vorher erläutert worden. Kapitel VIII weicht von
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
der traditionellen Grammatik stark ab. Hier behandelt Dürr wesentliche Aspekte der Text-
struktur des Popol Vuh: „Das Popol Vuh besteht aus einer Reihe von Erzählungen, die durch
einen Rahmen zusammengehalten werden." Die Rahmenstruktur ist typisch für das Popol Vuh;
Dürr widmet ihr zurecht viel Aufmerksamkeit. Was die Bedeutung der Rahmenstruktur - die
übrigens alle títulos und die 'Annals of the Cakchiquels' kennzeichnet -für die Interpretation ist,
ist nicht geklärt.
Die Beschreibung einer Grammatik hat einen wissenschaftlichen (linguistischen) Wert an
sich. Die Arbeit Dürrs ersetzt das ältere Werk Friedrichs von 1955. (Vgl.: J. Friedrich, Kurze
Grammatik der alten Quiché-Sprache im Popol Vuh. Abhandlungen der Geistes- und Sozial-
wissenschaftlichen Klasse, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1955/4.) Für dieje-
nigen, die am Inhalt des Popol Vuh interessiert sind, wird sie sich in der Praxis bewähren müs-
sen: Inwiefern kann die Arbeit Dürrs einen Beitrag zum Verständnis und zur Übersetzung des
Textes leisten, und inwiefern ist sie brauchbar für Ubersetzungen anderer Schriften aus dersel-
ben Zeit, wie z. B. die anderen títulos?
Das Buch wird mit vier Textauszügen abgeschlossen, aus denen hervorgeht, wie Dürr seinen
funktionalistischen Ansatz auf konkrete Textstellen anwendet. Das Ergebnis ist im Hinblick auf
die Grammatik überzeugend. Der Autor führt zuerst ein Zitat an, wobei er die Wörter in Wur-
zel und Affix auseinander fallen läßt; sodann führt er die grammatische Bezeichnung der Wörter
gesondert an und beendet das Zitat mit einer Übersetzung.
Neben der Kenntnis der Grammatik und des Vokabulars ist eine dritte Voraussetzung für
die Abfassung einer adäquaten Übersetzung zu berücksichtigen: Einblick in einen bestimmten
Stil, dessen der Autor des Popol Vuh sich überschwenglich bedient. Dieser Stil, die syntaktische
Paralellität, besteht im Wiederholen von Satzgliedern, wobei ein Wort oder eine eingeschränkte
Anzahl von Wörtern variiert wird. Die ausführlichen Enumerationen gehören auch zu diesem
Stil. Die aus der Literatur der Nahuas bekannten difrasimos - zwei Begriff, die bei gemeinsamen
Auftreten eine andere Bedeutung haben als die Begriffe je einzeln - tauchen auch im Popol Vuh
auf, und stellen ebenfalls eine Erscheinungsform der syntaktischen Paralellität dar. Manchmal
sind solche Doppelbegriffe in die Wörterbücher aufgenommen worden - und werden sie von
Dürr in seinen Beispielen herangezogen - aber nicht immer. Auf einen solchen Begriff treffen
wir in seinem zweiten Beispiel (S. 414, Zeile 22), tzacol, hitol (in der Handschrift des Popol Vuh
ohne Komma); Dürr übersetzt die beiden Worte zusammen als: ,Schöpfergottheiten' (S. 415).
Aber in der ersten Zeile seiner vierten Beispiels tauchen die Begriffe noch einmal auf (S.
424-425). Wir erkennen hier den Gebrauch des Doppelbegriffs tzacol, hitol, der jetzt aber vom
Pronomen ,at, du, geteilt wird. In der Übersetzung Dürrs heißt es an dieser Stelle: ,Erbauerin,
Schöpfer.' Die Wörter treten aber in der Einzahl auf und es gibt durchaus keinen Grund anzu-
nehmen, daß eins von beiden weiblich ist; ganz im Gegenteil: auch hier haben wir es mit einem
Doppelbegriff zu tun. In den beiden Beispielen handelt es sich um eine einzige Schöpfungsgott-
heit (Huracan), die mit den beiden Begriffen zusammen gemeint ist. (In diesem Fall ist der Dop-
pelbegriff in einem Wörterbuch enthalten : Vgl. die Ausgabe Sáenz de Santa Maria von Ximénez,
Primera Parte del Tesoro de las Lenguas Cakchiquel, Quiche y Zutuhil,..., Guatemala: Acade-
mia de Geografía e Historia de Guatemala, 1985. Unter tzac treffen wir auf tzacol hitol-,el cre-
ador'.) Auch andere Doppelbegriffe in demselben Beispiel werden von Dürr verkannt, wie z. B.
chi be quih, chi he zac, ,für immer', (Dürr: ,1m Lauf der Sonne, im Lauf des Lichts'), oder: alom
qaholom, ,Schöpfer-der-Menschen', (,Gebärerin, (Söhne-)Zeuger'). Eine hervorragende Gram-
matik ist an und für sich noch keine Garantie für eine,perfekte' Übersetzung. Dürr setzt sich dies
allerdings auch nicht zum Ziel.
Buchbesprechungen
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Zusammenfassend läßt sich feststellen, ciaß dieses Buch eine hervorragende Grammatik des
Quiche des Popol Vuh aus dem 16. Jahrhundert ist, die aber gleichzeitig die Bedeutung vieler
Einzelbegriffe nicht zu erfassen vermag. Außerdem könnte die Anwendung dieser Grammatik
auf andere títulos der Quiches zu neuen Übersetzungen dieser Texte führen. Zum besseren Ver-
ständnis des Popol Vuh sind weitere Ubersetzungen erforderlich: Sie sind allesamt Variationen
des Popol Vuh, die dieses großartige Werk der vorspanischen Mayakultur ergänzen.
R. de Ridder
Feil, D. K.: The evolution of Highland Papua New Guinea societies. XII + 313 S., Fotos,
Karten, Tabellen. Cambridge: Cambridge University Press 1987.
Wenigen Regionen wurde von Seiten der Ethnologen in den vergangenen drei Jahrzehnten
ähnliche Aufmerksamkeit gewidmet wie dem Hochland von Papua-Neuguinea. Leider erfüllte
ein beträchtlicher Teil dieser Studien - so Feil - nicht die Anforderungen, die an eine adäquate
Interpretation der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse der Hochlandgesell-
schaften zu stellen sind, da in ihnen die Untersuchung synchroner Abläufe präferiert und eine
Uniformität der Hochlandkulturen vorausgesetzt wurden. Solchen Ansätzen stellt Feil seine
Argumentation entgegen, daß das Hochland von Papua-Neuguinea (HL von PNG) keinesfalls
als homogene Region betrachtet werden darf - weder im sozialen, politischen und ökonomi-
schen Feld, noch historisch oder bezüglich der natürlichen Umweltbedingungen.
Ein kritischer Kulturenvergleich stellt an sich kein Novum in der Wissenschaftsgeschichte
der HL-Anthropologie dar, vielmehr ist Feils Abhandlung dieses Prädikat zuzusprechen, weil
es ihm gelungen ist, die Basiskonstellationen der HL-Gesellschaften auf einer, bislang nie der-
maßen stringent angewendeten Analyseebene zu differenzieren und zu interpretieren.
Feil ordnet jedoch seine Interpretation der Entwicklung der HL-Gesellschaft nicht, wie der
Titel vermuten läßt, einem neo-evolutionistischen Paradigma unter. Statt dessen präferiert er
eine Vorgehensweise, in der die kombinierte Analyse prähistorischer Befunde mit ethnographi-
schem Datenmaterial im Vordergrund steht. Gleichzeitig distanziert er sich, aufgrund der evi-
denten Vielfalt und Heterogenität kultureller Manifestationen der HL-Ethnien, von monokau-
salen Determinismen und Deutungsmustern.
Diesen Vorgaben folgend, lautet Feils Zentralthese folgendermaßen: Bereits vor ca. 9000
Jahren wurde das Mount Hagen-Gebiet (Westl. HL) zur Geburtsstätte des Anbaus auf Neugui-
nea. Dieser Schritt implizierte die Anlage permanenter Siedlungen, die Möglichkeit der Schwei-
nehaltung und den Beginn einer Surplusproduktion-Jahrtausende vor der Einführung der Süß-
kartoffel. Im Gegensatz zu dieser frühen Entwicklung blieben die Gesellschaften des Osti. HL
bis zur Übernahme der Süßkartoffel auf einer Stufe niedriger ökonomischer Produktivität. Sie
betrieben eine Mischwirtschaft, in der Jagd und Sammeltätigkeit einen höheren Stellenwert als
der Anbau hatten. Diese divergenten historischen Voraussetzungen einer Produktionsintensi-
vierung bedingten, nach Feil, die Entwicklung zweier klar trennbarer Gesellschaftsformatio-
nen, deren Unterschiede auf allen relevanten kulturellen Ebenen festzustellen sind.
Seine Beweisführung leitet Feil mit einer Interpretation der prähistorischen Befunde im HL
von PNG ein, wobei die Fundstätte Kuk (nahe Mount Hagen) die Schlüsselstellung einnimmt.
Dort soll die entscheidende Produktionsintensivierung, auf dem Anbau von Taro mittels ausge-
klügelter Dränagesysteme basierend, bereits 2500 Jahre v. u. Z. eingesetzt und die Produktions-
verhältnisse verändert haben. Demzufolge traf die Süßkartoffel in dieser Region auf ein bereits
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hochentwickeltes sozioökonomisches System. Weil das Habitat von Ipomoea batatas jedoch
nicht den Anbaugrenzen des Taro unterliegt, und darüber hinaus für Menschen und Schweine
ein ideales Nahrungsmittel darstellt, erbrachte sie auch revolutionäre Implikationen für das
Westl. HL: der Umfang der Schweinehaltung und des Tauschwesens entwickelten sich rapide,
die Transformation der Schweinezucht von der Gebrauchswert- zur Tauschwertproduktion
setzte ein, die ersten Tauschnetzwerke wurden aufgebaut.
Welch zentrale Bedeutung die Schweinehaltung bzw. -zucht in seiner Argumentationskette
einnimmt, demonstriert Feil im Kapitel ,Configurations of intensity'. In ihm präsentiert er die
These, daß der jeweilige Intensivierungszustand einer HL-Gesellschaft eine abhängige Variable
der Schweinezucht für soziale Zwecke (d. h. für den Zeremomaltausch) war. Am unteren Ende
einer solchen Skala siedelt er die Ethnien des Osti. HL an, deren Schweinehaltung vorwiegend
der Subsistenzproduktion diente.
Wie die Evolution der Produktionsfaktoren die soziopolitischen Bereiche der Hochländer-
beeinflußte, untersucht Feil in den Kapiteln 4-7. Zunächst wendet er sich dem Phänomen,Krieg'
zu. Den restricted warfare' im Westl. HL deutet er als Resultat zunehmender sozioökonomi-
scher Interessen, in deren Zentrum die Absicht stand, die supra-lokalen Zeremonialtauschsy-
steme nicht durch ungeregelte Gewaltakte in ihrer Existenz zu gefährden. Demgegenüber
herrschte im Osten, bis zur Pazifizierung der Region, endemischer und ,unrestricted warfare'.
Aus Sicherheitsgründen wurden befestigte, kompakte Dörfer angelegt, die jedoch einerseits für
eine Schweinehaltung größeren Ausmaßes kontraproduktiv waren und andererseits die friedli-
chen Interaktionen zwischen den Lokalgruppen auf ein Minimum beschränkten. Deshalb
spricht Feil von einer oppositionellen, antagonistischen Symmetrie zwischen den Gruppen im
Osten, wohingegen er die Intergruppenbeziehungen im W als komplementär bezeichnet. Seiner
stringenten Argumentation folgend, soll sich auch das politische System (Kap. 5) gemäß den di-
vergierenden historischen Prozessen in Ost und West entwickelt haben, weswegen er das Mo-
dell eines einzigen melanesischen ,big man'-Fiihrertypus strikt ablehnt. Vielmehr existierten sei-
ner Meinung nach im HL mindestens zwei separate Führungskonfigurationen: im Osten die
despotischen', nicht konsensorientierten Führer - meist gefürchtete Krieger -, während es im
Westl. HL nicht nur zur Evolution größerer politischer Gemeinwesen kam, sondern nur dort
auch die eigentlichen ,big men' die Führungspositionen innehatten. Deren herausragende Stel-
lung war durch ihre Fähigkeiten in der Besitzakkumulation und im Zeremonialtausch definiert.
In Kap. 6 setzt sich Feil mit den sozialen Strukturen auseinander, in denen er ebenfalls eine
deutliche Ost-West-Divergenz feststellt: Nur im Osten existierten kompakte Dorfsiedlungen,
eine große Wertlegung auf partrilineare Deszendenz und auf Agnatenbeziehungen, die virilo-
kale Residenz als Norm, ein striktes System von Altersgraden und obligatorischer Initiationen,
sowie eine bewußte Abgrenzung gegenüber anderen politischen Einheiten. Dagegen mußten
sich, so Feil, die sozialen Strukturen des Westl. HL bereits vor Jahrtausenden den hochstehen-
den Produktionssystemen anpassen, was u. a. die Ablehnung patrilinearer Abstammungsdog-
men bei gleichzeitig wachsender Bedeutung der Affinalbeziehungen und nur schwach entwik-
kelte Konzepte territorialer Grenzen implizierte.
Eine enge Beziehung stellt Feil zwischen der sozialen Organisation und den Beziehungen
zwischen den Geschlechtern, Gegenstand des 7. Kapitels, her. Analog zu seinem bisherigen In-
terpretationsmuster erklärt er auch diese aus den historischen Transformationen der jeweiligen
Produktionsweise heraus. Für ihn sind der extreme Geschlechtsantagonismus und die äußerst
niedrige soziale Stellung der Frauen in den Kulturen des Osti. HL typische Merkmale kriegeri-
scher Gesellschaften niedrigen Produktionsniveaus. In ihnen werden die Frauen als reine Pro-
Buchbesprechungen
291
duzenten angesehen, denen keine Verfügungsgewalt über die erzeugten Produkte zusteht. Nur
die Gesellschaften des Westl. HL lernten hingegen, im Laufe ihrer ,ökonomischen Geschichte',
die bedeutende Rolle der Frauen in der ,totalen' Reproduktion schätzen. Das führte zu einer
Verbesserung des intersexuellen Klimas und zu einer relativ hohen sozialen Stellung der Frauen,
die auch am Zustandekommen und der Reproduktion der Tauschnetzwerke maßgeblich betei-
ligt waren.
Der Analyse des Zeremonialtauschwesens selbst ist das Kap. 8 gewidmet. Als Hauptindika-
toren seiner Betrachtung der unterschiedlichen Bedeutung dieses Komplexes führt er u. a. das
Ausmaß der Tauschproduktion, Umfang und Häufigkeit von Schweinefesten, das Vorkommen
des Tausches lebender Schweine, die dem Tausch jeweils zugrundeliegenden Motive, die
Tauschkontexte und die regionale Ausdehnung der einzelnen Tauschnetze an. Im Zeremonial-
tauschkomplex sieht Feil den deutlichsten Nachweis für eine unterschiedliche ökonomische
Vergangenheit im Osti, und Westl. HL, denn nur die 7ee-Tauschzyklen der Enga und das
Moka der Melpa zeigten sich als ,totale Institutionen', die auf komplexen Finanzierungs- und
Kreditvereinbarungen aufbauten und mit denen - durch den Tausch lebender Schweine und
mittels institutionalisierter, individueller Tauschpartnerschaften zwischen den ,big men' - eine
politische und ökonomische Integration weiträumiger Gebiete erreicht wurde.
Den logischen Kreis schließend, interpretiert Feil im letzten Kapitel einige gegenwärtige
Vorgänge in den HL-Gesellschaften (z. B. das Wiederaufflackern kriegerischer Auseinander-
setzungen oder bestimmte ökonomische Prozesse) als ,Vermächtnis der Vergangenheit'.
Schon in quantitativer Hinsicht ist dieser außergewöhnlichen Vergleichsstudie großer Re-
spekt zu zollen, denn neben der Fülle des eingearbeiteten ethnographischen Materials ist die in-
tensive Auseinandersetzung mit fast allen relevanten Diskussionen der letzten drei Jahrzehnte
über die Morphologie und die Leitgedanken der sozialen, politischen und ökonomischen Sy-
steme des HL gleichermaßen beeindruckend.
Auch gemessen an seinem Anspruch, die charakteristischen Züge der HL-Kulturen, und
speziell deren zum Teil eklatanten Unterschiede aus den jeweiligen Entwicklungen des Produk-
tionssektors heraus erklären und verknüpfen zu wollen, kann Feils Argumentation kaum ein
hohes Maß an Plausibilität und logischer Stringenz abgesprochen werden. Als besonders ge-
glückt erscheint dem Rezensenten auch die Verknüpfung der Prähistorie mit der Ethnographie.
Andererseits haftet jedoch der Interpretation archäologischer Befunde aus Neuguinea-auf-
grund des vorläufigen Forschungsstandes - immer noch etwas recht Spekulative an, ein Um-
stand, der noch stärker ins Gewicht fällt angesichts des materialistischen Ansatzes, den Feil ver-
folgt. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, daß er gesellschaftliche Überbauele-
mente, beispielsweise den Bereich ,Glaubensvorstellungen', gänzlich unbeachtet läßt. Kritik
kann auch an seiner idealtypischen Uberzeichnung und Dichotomisierung der gesellschaftli-
chen und ökonomischen Verhältnisse im Östl. und Westl. HL, denen er eine dritte, die Mittel-
stellung einnehmende Kulturfiguration (beispielsweise repräsentiert von den Chimbu und Ma-
ring) hinzufügt, angebracht werden. Doch erscheint mir dieses Vorgehen weniger gravierend
und durch Feils Intentionen auch legitimiert.
Auf alle Fälle werden seine Thesen und eigenwilligen Interpretationen einige der festgefah-
renen Debatten neu entfachen und zu Denkanstößen führen, die auf die wissenschaftliche Aus-
einandersetzung mit den Gesellschaften des HL nur befruchtend wirken können.
Peter Hanser
292
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Fox, J. A.: Maya postclassic state formation. Segmentary lineage migration in advanced fron-
tiers. New Studies in Archaelogy, 310 pp., 46 Abb., 16 Tab. Cambridge: Cambridge University
Press 1987.
Einmal mehr wird der Versuch unternommen, mit einem archäologisch-anthropologischen
Modell den plötzlichen Zusammenbruch der Mayastaaten in der postklassischen Periode der
mesoamerikanischen Kulturen zu deuten. „Segmentary lineage" und „segmentary state" sind
für Fox Schlüsselbegriffe zur Erklärung der politischen Organisation und der Wanderungsbe-
wegungen der Quiche. Seine Überlegungen beruhen auf anthropologischen Arbeiten wie denen
von Carmack und Thompson, auf archäologischen Befunden, die zum Teil eigenen Forschun-
gen entstammen, und auf ethnohistorischen Quellen, denen er wie im Falle des Epos Popol Vuh
unkritisch den Rang einer konkreten geschichtlichen Quelle zubilligt.
In seiner mit zahlreichen Karten, Tabellen, Fotografien und Zeichnungen reichlich doku-
mentierten Untersuchung beschreibt Fox eine Gruppe, die unter anderem durch Blutsver-
wandtschaft, gemeinsamen Landbesitz und eine relative politische Autonomie gekennzeichnet
war. Letztere wurde nur im Falle äußerer Bedrohungen durch fragile politische Allianzen mit
anderen, gleich strukturierten Gruppen ersetzt. Diese temporären politischen Zusammen-
schlüsse einzelner „segmentary lineages" formierten die „segmentary states".
Hauptkennzeichen des „segmentary state" war ein pyramidaler Aufbau der Sozialstruktur
und eine politische Fiierarchie, an deren Spitze eine „segmentary lineage" als Machtelite stand.
Diese hielt das ökologisch und politisch günstigste Gebiet als administrativen und politischen
Mittelpunkt ihres Herrschaftsterritoriums besetzt. Zu Sicherung ihrer „zentralen" Macht war
ihr Zentrum in die Siedlungszone der „segmentary lineages" der Krieger eingebettet. Letztere
übernahmen u. a. die Rolle der Siedleravantgarde, die sich in den Grenzgebieten niederließ. Die
unterste gesellschaftliche Ebene bildeten jene „segmentary lineages", die in garnisonsähnlichen
Lagern untergebracht die rebellionsverdächtigen Grenzgemeinden kontrollierten. Dieses auf
die Dominanz der eigenen „lineage" ausgerichtete Gesellschaftssystem und die damit verbun-
dene Instabilität des „segmentary state" begründeten nach Fox die zyklisch verlaufenden und
große Entfernungen überwindenden Wanderungsbewegungen der Quiche. In diesen „leap-
frog"-Migrationen zogen die Krieger von ihren Heimatorten in entfernte Gebiete, wo sie sich
mit der dortigen Bevölkerung vermischten und die herrschende „segmentary lineage" bildeten.
Mit dieser Feststellung, so einleuchtend sie ist, erklärt Fox jedoch nicht die Ursachen für
diese Phänomene. Vielmehr wirft sie bei dem Rezensenten die Frage auf, ob nicht ein Beharren
auf der „segmentary lineage" als der wichigsten Organisationsform gesellschaftlicher Machter-
haltung und -ausübung der Weiterentwicklung des „segmentary state" zu der machtmäßig or-
ganisierten, stabilen Organisation einer Gesellschaft, dem Staat, im Wege stand. Die „leapfrog"-
Migration wäre damit der sichtbare Ausdruck für ein soziales und politisches Handeln der Qui-
che, welches auf die Verhinderung gesellschaftlicher Konflikte innerhalb des alten Herrschafts-
zentrums sowie zwischen den alten und neuen Machtzentren abgezielt hätte.
Gleichwohl fügt Fox mit seinen Ausführungen und Überlegungen einen weiteren Baustein
zu einem umfassenden Modell der Entstehung der postklassischen Maya-Staaten hinzu - und er
lädt den Leser ein, seine Gedanken weiterzuentwickeln.
Andreas Koechert
Buchbesprechungen
293
Fuchs, S.: The Korkus of the Vindhya Hills. New Dehli: Inter-India Publications 1986
Die vorliegende Ethnographie handelt von einer indischen Stammesgesellschaft in Madhya
Pradesh, den Korku. Sie gehören kulturell zu dem Komplex der mittelindischen Stammesgesell-
schaften und sind die westlichsten Vertreter einer Mundasprache. Möglicherweise stellen sie
eine Verbindung dar zu den Bhil, die noch weiter im Westen demselben kulturellen Komplex
angehören, allerdings ein indoarisches Idiom sprechen. Dies und die Tatsache, daß bisher so gut
wie keine Literatur über die Korku existiert, macht das Thema des Werkes interessant.
Der Autor, geboren 1908 in Osterreich, setzt seit einem halben Jahrhundert die wissen-
schaftliche Tradition der Wiener Missionare in Indien fort. Über viele Jahre hinweg besuchte er
die Korku immer wieder und versucht hier, eine umfassende Darstellung dieser Gesellschaft zu
geben. Die Angaben sind unterschiedlicher Qualität, einige Daten sind allerdings bemerkens-
wert.
Bis vor kurzem waren die Korku noch als Schwendbauern und Jäger tätig. Wie die meisten
indischen Stämme leben sie mancherorts in einer Art Symbiose mit einer statusniedrigeren
Gruppe, den Nahal, die die gleiche soziale Organisation besitzen wie sie selbst. Die Nahal haben
keine eigene Sprache, Fuchs gibt jedoch einige gesonderte Verwandschaftstermini für sie an.
Die nicht hinduisierten Korku, um die es in dem Buch hauptsächlich geht, bestehen aus einer
Reihe exogamer, patnlinearer Klane und leben, wie unter anderem auch die Kond in Orissa, in
Dörfern, die durch eine Gegenüberstellung von zwei Häuserreihen geordnet sind. Auf Fakten
dieser Art geht Fuchs nicht weiter ein, so bleibt die Interpretation dem Leser überlassen. Die
beiden Reihen etwa sollen sicherlich keine Straße formen, sondern repräsentieren eine allge-
meine Ordnungsidee.
Die Angaben zur Verwandtschaftsterminologie, obwohl nicht alle Positionen aufgeführt
sind, zeigen die folgenden Gleichungen: FB = MZH, MZ=FBW, FZH = WF/HF, WyB=yZH,
WBS=yZS. Die Bezeichnung für MB, mama, entspricht sicherlich, wie in Nordindien üblich,
dem Terminus mamu, daher MB=FZH=WF/HF. Es fehlen zwar die Termini für MBD/FZD
und MBS/FZS, dennoch weist die Gesamtstruktur eine symmetrische Präskription auf, die sie
von den nordischen Terminologien der hinduistischen Nachbarn trennt. In der Terminologie
der Korku wird, wie bei fast allen mittelindischen Stämmen, in Generation 0 die Unterschei-
dung zwischen älter und jünger hervorgehoben. Kreuz-Kusinen-Heirat ist bei den Korku, wie
nomalerweise in Nord-Indien verboten, auch die Heirat zwischen Kindern von Kreuz-Vettern,
ebenso die mit einer Person aus dem mütterlichen Klan oder einer Frau, deren Mutter aus dem
Klan des Mannes stammt. Letzere Norm kann allerdings durch Zahlung von ein paar Rupien
umgangen werden.
Fuchs informiert uns nicht über eine mögliche Reziprozität der Heirat in einer Generation.
Deutlich ist nur, daß eine Allianz in der nächsten und übernächsten Generation nicht wieder-
holt werden kann. Allerdings lassen die von ihm (und wahrscheinlich auch bei den Korku) nega-
tiv formulierten Regeln die positive Möglichkeit einer Wiederholung der Allianz nach einem In-
tervall von drei Generationen zu - wie dies bei den mittelindischen Stämmen verbreitet ist.
Fuchs registrierte eine Dorf-Exogamie, die in dieses Bild paßt: Man verheiratet seine Töchter
nicht zu nahe und nicht zu fern, oft heiratet man bevorzugt Partner aus zwei oder drei Dörfern
in einiger Entfernung.
Wie sich der Autor bei den Fragen zur Heirat und Verwandtschaft auf eine rein empirische
Wiedergabe der Fakten beschränkt, werden auch die Riten der sekundären Bestattung (sidoli)
von ihm rein deskriptiv dargestellt, ohne Hinweise auf Rollenmuster (oder gar den klassischen
Aufsatz von Robert Hertz). Es handelt sich hier um ein mehrere Tage andauerndes Fest, bei dem
294
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
offensichtlich wesentliche Ordnungskriterien dieser Gesellschaft thematisiert werden. Dabei
wird wie in vielen anderen Stammesgesellschaften Indiens ein Gedenkpfosten für die früher be-
erdigten Toten aufgestellt. Die dauerhaften Knochen werden, anders als das vergängliche
Fleisch, symbolisch an die Krabbe zurückgegeben, die einmal dem Schöpfergott den Lehm zur
Formung des Menschen gebracht hatte. Wie Bloch und Parry 1982 in ihren weltweiten Ver-
gleichsstudien festgestellt haben, sind bei der Beerdigung der Knochen die Riten zur Überwin-
dung des Todes mit Regenerationsriten gekoppelt: Zu einem bestimmten Zeitpunkt der Feier
wird zuerst ein Paar wie Brautleute gekleidet, dann setzen Männer und Frauen sich einander ge-
genüber und ergehen sich in gegenseitigen, deutlichen, sexuellen Scherzen. Man kann lediglich
vermuten, daß diese kollektive Scherzbeziehung aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen Affi-
nen stattfindet.
Der wichtige Abschnitt zur Religion der Korku bietet dem Regionalspezialisten viele An-
sätze zu Vergleichen. Der prominente Schöpfergott Mittelindiens findet sich auch bei den
Korku, hier (wie etwa auch bei den Bhil) Bhagwan genannt. Leicht wiedererkennbar ist er durch
seine dem Menschen eher gerne, entrückte Stellung, die sich unter anderem darin äußert, daß er,
obwohl er der erste unter den Gottheiten ist, im Gegensatz zu den anderen keinen eigenen
Schrein besitzt. Fuchs berichtet auch von dem verbreiteten Schöpfungsmythos, in dem Bhag-
wan den Menschen aus Lehm schafft. Dabei werden allerdings, wie in den anderen Versionen,
die Figuren zunächst von einem Pferd zertrampelt. (Sonst sind es of mehrere, meist fliegende
Pferde.) Bei anderen Gesellschaften Mittelindiens steht der Schöpfergott meist in Opposition zu
Göttinnen, hier eher zu anderen Göttern.
Der Rezensent hat manchmal den Eindruck, daß der Autor bei den Korku eine schematische
ethnographische Inventur durchführt, ohne auf interne semantische Zusammenhänge Rück-
sicht zu nehmen. Die Wohnverhältnisse etwa werden anhand von vielerlei Mängeln beschrie-
ben, die von der Vorstellung einer westlichen Wohnung ausgehen, nicht als Lebensform der
Korku. Wohl um eine vollständige ethnographische Darstellung zu liefern, fügt Fuchs einen ob-
soleten Abschnitt über Anthropométrie in die Einführung ein.
Das Buch wird zu einem für indische Verhältnisse sehr hohen Preis verkauft, ist jedoch
nachlässig ediert. Der Index zum Beispiel ist unvollständig.
Die ethnographischen Fakten, die genannt werden, sind für den an mittelindischen Stam-
mesgesellschaften Interessierten lesenswert. Der Wert dieser Ethnographie liegt nicht zuletzt
darin, daß sie eine bisher wenig beschriebene Gesellschaft aufzeigt.
Lukas Werth
Helbling, J.: Theorie der Wildbeutergesellschaft. Eine ethnosoziologische Studie. 308 Seiten.
Frankfurt/New York: Campus 1987.
In der Ethnologie wurde lange Zeit die Ansicht vertreten, daß Wildbeutergesellschaften ty-
pischerweise in patrilokalen, patrilinearen, territorialen Hordenverbänden leben. Erst gegen
Ende der 60er Jahre wurde die Theorie der „patrilocal horde" ernsthaft in Frage gestellt und er-
setzt durch das Modell der „composite band society" mit typisch egalitären, flexiblen und nicht-
territorialen Charakteristika. Diese Modellvorstellung repräsentiert die heutige, relativ fest ver-
ankerte Lehrmeinung, und Helblings „Theorie der Wildbeutergesellschaft" hat dem leider
nichts Neues hinzuzufügen.
Den Ausgangspunkt des Autors bildet Meillassouxs neomarxistische Theorie der Wildbeu-
Buchbesprechungen
295
tergesellschaft. Diese Theorie, formuliert in bezug auf die BaMbuti, soll überprüft und ihre ge-
nerelle Gültigkeit nachgewiesen werden (S. 66).
Die ersten fünf Kapitel der Arbeit (S. 21-69) dienen der „Klärung des begrifflichen Instru-
mentariums" und der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Richtungen der politi-
schen, Verwandtschafts- und Wirtschaftsethnologie, die Helbling „im Zusammenhang einer
Theorie der Wildbeutergesellschaften unmittelbar wichtig erschienen" (S. 15 f.). Der Autor er-
stellt ein Konzept unterschiedlicher Gesellschaftstypen, die sich durch eine jeweils spezifische
Logik/Dynamik des sozialen Systems auszeichnen (S. 21 f.). Wildbeutergesellschaft seien dem-
zufolge dadurch gekennzeichnet, daß (1) die Reproduktion der lokalen Einheiten (Lokalgrup-
pen) nicht gemäß unilokaler und unilinearer Regeln erfolge, daß (2) die Machtbeziehungen zwi-
schen den Geschlechtern und Generationen symmetrisch und egalitär seien, und daß (3) inner-
halb von Wildbeutergesellschaften die ökologischen Faktoren determinant seien (S. 21).
Im sechsten Kapitel wendet sich Helbling der ersten These, nämlich der Frage nach der ver-
wandtschaftlichen Zusammensetzung lokaler Gruppen zu. Er skizziert in rascher Folge die
Konzepte derjenigen Theoretiker, die für eine verwandtschaftlich homogene Zusammenfas-
sung von Lokalgruppen plädieren (J. H. Steward, E. Service, W. Williams, A. Radcliffe-Brown)
und zeigt anhand von neuerem ethnographischem Material, daß sehr viel mehr für eine ver-
wandtschaftlich heterogene Zusammensetzung von Lokalgruppen spricht. Im siebten Kapitel
über die politische Struktur der Wildbeutergesellschaft wird die Richtigkeit der zweiten Aus-
gangsthese gezeigt. Krieg zwischen benachbarten Gruppen (die potentielle Grundlage für eine
Machtasymmetrie zugunsten der Männer) sei selten, die effektivsten Konfliktlösungsmechanis-
men seien Meidung und Fission, die politischen Einflußsphären der Frauen seien denen der
Männer nicht unterlegen, ebensowenig wie man von einer Machtasymmetrie zwischen den Ge-
nerationen sprechen könne. Im achten Kapitel wird schließlich auf die ökonomische Struktur
der Wildbeutergesellschaft eingegangen. Der Autor untersucht die relative Abhängigkeit der
Wildbeuter von unterschiedlichen Subsistenzformen, beschreibt Arbeitstechniken und Koope-
rationsformen, generationelle und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und widmet sich an-
schließend der Frage nach der Größe der lokalen Gruppen. Dabei werden Faktoren einer sozia-
len Determinierung der Gruppengröße als unzureichend erachtet und statt dessen eine ökologi-
sche Determination über die Beziehungen zwischen Ressourcendichte, Bevölkerungsdichte
und Lokalgruppengröße nachgewiesen. Im letzten Abschnitt des Buches (S. 290-295) wird die
„Theorie der Wildbeutergesellschaft" nochmals in programmatischer Form zusammengefaßt.
Am meisten beeindruckt Helblings Präsentation ethnographischen Materials. Dies gilt vor
allem für die Kapitel 6 und 7, in denen gezeigt wird, daß selbst australische Wildbeutergruppen-
die Paradebeispiele der „Hordentheorie" - bei weitem nicht in dem Maße durch kooperierende
männliche Interessengruppen dominiert werden, wie dies früher einmal behauptet wurde.
Seine theoretischen Ausführungen sind dagegen weniger überzeugend. Beispielsweise wird
dem Problem der Definition von Wildbeutergesellschaften zu wenig Aufmerksamkeit ge-
schenkt (S. 16 f.). Helbling betont die Wichtigkeit einer nomadisierenden Lebensweise. Seßhafte
Fischer werden deshalb aus der Klasse der Wildbeutergesellschaften ausgeschlossen. Bedingt
durch Seßhaftigkeit und spezifische Produktionsverhältnisse würden hier politische und ideo-
logische Charakteristika begünstigt, die denen des tribalen Gesellschaftstypus ähnlich sind
(asymmetrische Machtbeziehungen, Krieg und Deszendenzgruppen). Nicht verwunderlich
also, wenn die „typische" Gesellschaftsstruktur der Wildbeutergesellschaft keine solchen
Merkmale aufweist.
Berittene Jäger- und Sammlergesellschaften seien dagegen „reine" Wildbeuter, weil der Be-
296
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
sitz von Pferden lediglich die „Mobilität bei der Jagd erhöht" (S. 17). Ob dies nun wirklich die
einzige Konsequenz von Pferdehaltung ist, sei an dieser Stelle dahingestellt (s. Osborn, A. J.
1983: Ecological aspects of equestrian adaptations in aboriginal North America. Am. Anthro-
pologist 85/3: 563-591). Helbling scheint sich denn auch seiner selbst nicht ganz so sicher zu
sein, da er im Zusammenhang mit der angeblich niedrigen Frequenz von internem Krieg darauf
hinweist, daß viele der kriegerischen Fälle „entweder seßhafte Fischer oder berittene Plains-Jä-
ger" seien, die somit „nicht zu den Wildbeutern gezählt werden können" (S. 120).
Dies als ein Beispiel für die Tendenz des Autors diejenigen Fakten, die gegen seine Thesen
sprechen, allzu leicht von der Hand zu weisen. Weitaus weniger kritisch werden dagegen die
Ansichten derjenigen Autoren übernommen, die die Richtigkeit von Helblings Thesen zu bele-
gen scheinen. Dies gilt beispielsweise für die Darstellung der Gründe für geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung (Mutterrolle der Frauen und daraus resultierende mangelnde Mobilität; S. 204).
Außerdem werde Infantizid nur in geringem Ausmaß betrieben und sei, so der Verfasser, außer
bei den Eskimo, nicht geschlechtsspezifisch (S. 203). Auch die von Helbling vertretene Auffas-
sung, daß Polygynie letztlich zu einer Stärkung der Machtposition von Frauen führt (S. 160)
wäre einer näheren Betrachtung wert gewesen. Die Argumentation des Autors stützt sich zu-
dem im achten Kapitel sehr stark auf Modelle der sozioökologischen „Optimal Foraging
Theory", ohne daß der teilweise umstrittene Charakter dieser Modelle deutlich genug hervorge-
hoben wurde (vgl. Martin, J. F. 1983: Optimal foraging theory: A review of some models and
their applications. Am. Anthropologist 85/3: 612-629).
Besonders in diesem achten Kapitel häufen sich bibliographische Fehler und Wiederholun-
gen. Die Interpretation der meisten Diagramme bleibt dem Leser selbst überlassen. Dies ist be-
dauerlich, und zwar vor allem deshalb, weil das vorliegende Buch die überarbeitete Version ei-
ner Dissertationsarbeit darstellt.
Helblings „Theorie der Wildbeutergesellschaft" ist somit zwar eine sehr gute Zusammen-
stellung des derzeit vorliegenden ethnographischen Materials über Wildbeutergesellschaften;
eine etwas ausgewogenere Theoriendiskussion und nicht zuletzt eine Straffung des Textes hät-
ten jedoch der Argumentation des Autors wesentlich mehr Uberzeugungskraft verliehen.
Peter Bretschneider
Hellmuth, N. M.: Monster und Menschen in der Maya-Kunst. Eine Ikonographie der alten
Religionen Mexikos und Guatemalas. 404 S., 727 Abb., Namens- und Sachregister, Bibliogra-
phie, englische Zusammenfassung. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1987.
Die darstellende Kunst der klassischen Maya ist auf mehreren tausend Steinskulpturen (Ste-
len, Altäre), vielen hundert steinernen Bauwerken (Fassaden, Wandmalereien, Laibungen, Tiir-
stürze u. a.), in vier vorspanischen Bilderhandschriften und auf mehreren tausend, meist
polychrom bemalten Tongeschirren überliefert. Sie ist daher eine der wichtigsten und auf-
schlußreichsten Quellengruppen dieser voreuropäischen Hochkultur Amerikas und verdient
als eigenständiger Forschungsgegenstand behandelt zu werden.
Hellmuth nimmt sich die Keramik der frühklassischen Epoche zum Untersuchungsgegen-
stand. Für sie postuliert er die neue chronologische Phase Tzakol 4 (Tabelle S. 25) als Abspal-
tung von der bisherigen Phase Tzakol 3 und erklärt die kulturgeschichtliche Periode der Mittel-
klassik für nicht existent. Damit stellt er sich in Widerspruch zur vorherrschenden Forschungs-
tradition, die allerdings ihre chronologische Periodisierung an anderen Quellengruppen ent-
Buchbesprechungen
297
wickelt hat und mit soziopolitischer Zielsetzung definiert. Der Widerspruch mag daher in den
Ziel- und Gegenstandsunterschieden begründet und damit nur scheinbar sein. Diese Möglich-
keit wird von Hellmuth jedoch nicht diskutiert und muß daher zukünftigen Untersuchungen
zur Klärung vorbehalten bleiben.
Mit der Konzentration auf die frühklassische Ikonographie der Vasenkunst beschreitet
Hellmuth schwieriges Neuland; denn die meisten Untersuchungen zur Kunst der Maya be-
schränken sich auf die Bilderhandschriften und Steinmonumente. Erst seit einigen Jahren begin-
nen die nordamerikanische Kollegen Michael D. Coe, Francis Robicsek, Donald Haies u. a. die
spätklassische Vasenmalerei zu erforschen. Die Bildsprache der frühklassischen Vasenkunst
blieb in den Arbeiten aller Forscher bisher fast völlig ausgeschlossen, denn sie ist komplexer,
meist auch abstrakter als die mittel- und spätklassische, und sie hat vor allem den Nachteil, kaum
durch hieroglyphische Texte erläutert zu sein.
Mittels eines umfangreichen Korpus an Photographien und Zeichnungen, wovon eine be-
eindruckende Zahl in diesem Buch vorgelegt wird, ist es Hellmuths Hauptanliegen, die mythi-
schen Orte zu identifizieren, an denen Götter, Monster und Menschen sich (nach dem Tod) auf-
halten und interagieren. Dabei arbeitet er ikonographisch als besonders wichtigen Ort „die
Oberschicht der Unterwasserwelt" heraus. Diesen mythischen Ort entdeckt zu haben, ist das
Verdienst von Hellmuth und der Nordamerikanerin Clemency Coggins. Obwohl sich in jünge-
ren Veröffentlichungen verstreut kurze Hinweise auf die „Oberschicht der Unterwasserwelt"
(meist prosaischer und weniger genau „Wasser-Fries" genannt) finden, wird sie in Hellmuths
Buch erstmals genau beschrieben und illustriert.
Als zweites will Hellmuth die Gestalten, die diesen Ort bevölkern, identifizieren und klassi-
fizieren. Dieses Anliegen ist mit der von Paul Schellhas (1859-1945) vor nunmehr 100 Jahren für
die postklassischen Bilderhandschriften erfolgreich durchgeführten Untersuchung vergleich-
bar. Allerdings erlaubt die Zeitspanne von fast 1000 Jahren, die zwischen den postklassischen
Handschriften und der Frühklassik liegt, keine einfache und direkte Übertragung der Schellhas-
schen Ergebnisse auf die Vasenkunst. Dennoch gelingt es Hellmuth, eine ganze Zahl von Götter
und mythischen Wesen in den Vasenmalereien einigermaßen plausibel zu identifizieren (z. B.
auch einige Schellhassche Götter der Bilderhandschriften) und in ihren diagnostischen Merk-
malen zu beschreiben. Da diese wichtigen und neuen Ergebnisse in Hellmuths Buch jedoch
nicht systematisch präsentiert werden, die Terminologie ein kaum entwirrbares Kauderwelsch
aus englischen und deutschen Ausdrücken ist und obendrein nicht konsistent angewendet wird,
und das Register der Gottheiten (S. 402) nur wenige mit Textstellen nachweist, gebe ich im fol-
genden eine Übersicht, mittels derer man synonyme Bezeichnungen identifizieren und die
wichtigsten Textstellen finden kann:
Bärtiger Drachen 149-154, 157-158
Cauac Monster 282-283, 336, 371
Chac Xib Chac (= —» Gl der Palenque Triade)
Drache mit Muschelschwingen (= —» Shell Wing Dragon)
Figur mit dem dreieckigen Nasenplättchen 285
Figur mit Nasenperforator
Fish (= Xoc Monster) 133-153, 341
Gl der Palenque Triade (= Chac Xib Chac) 75, 79-88, 336
GII der Palenque Triade (= —> Gott K nach Schellhas)
Gill der Palenque Triade (= Jaguar God of the Underworld, = J. G. U., = Jaguargott der Un-
terwelt = Patron der Zahl VII = Nacht-Sonne) 75, 271, 284-286, 292-296, 336, 367-370
298
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Gott D nach Schellhas (= Itzamna) 40-41, 260, 303-337
Gott E nach Schellhas (= Holmul Tänzer, = oberster Junger Lord, = Principal Young Lord, =
Mais Gott) 339
Gott G nach Schellhas (= Kin, = Ah Kin, = Kinich ahau, = Sonnengott, = Patron der Zahl IV)
271-291, 296, 335
Gott K nach Schellhas (= GII der Palenque Triade) 285, 336
Gott L nach Schellhas 294, 297
Gott N nach Schellhas (= Begleiter von Gott D) 303-310, 337, 371
Helden Zwillinge (= Hero Twins, = Hunahpu & Xbalanque, = Nummer Neun & Gefleckter
Partner, = —> Stirnband-Partner)
Lily Pad Headdress Monster 160-166, 301, 338
Monster mit Kreuzband-Auge 282
Oberster Vogel Gott (= Principal Bird Deity nach Bardawill, = Serpent Bird nach Maudslay,
Serpent Wing Deity nach Parsons, = Vucub Caquix des Popol Vuh?) 226-262, 339, 364-365
Pax Patron 353
Serpent Face Wing (= Oberster Vogel Gott?) 221-226; 254-255
Shell Wing Dragon (= Drache mit Muschelschwingen, = Monster mit Wasserlilien-Schwimm-
blatt im Kopfschmuck) 167-179, 340
Squiggle Eye Monster 340
Stirnbandgötter (= Stirnbandcharaktere, = Stirnbandpartner, = Heldenzwillinge, = Nummer
Neun und gefleckter Partner) 152, 158, 202, 210-215
Triangular Mouth Plaque Character (= —> Figur mit dem dreieckigen Nasenplättchen)
Tubular Headdress Monster (Anemone Headdress Monster) 180-199, 201, 341
Xoc Monster (= —> Fisch)
Hellmuths Pionierleistung in der Identifizierung und Beschreibung dieser mythischen Gestal-
ten muß selbstverständlich von der Forschung kritisch geprüft, ergänzt und präzisiert werden.
Auch hierzu soll die Liste Anhaltspunkte bieten.
Das Buch hat noch weitere schwerwiegende formale Mängel: Undurchsichtigkeit der ge-
danklichen Gliederung, Schlampigkeit in der Redaktion und sprachliche Unzulänglichkeiten.
Letztere lassen sich zum Teil dadurch kompensieren, daß man die ausführliche englische Zu-
sammenfassung (S. 345-382) liest oder die inzwischen veröffentlichte englische Gesamtausgabe
zur Hand nimmt, die ich allerdings nicht gesehen habe und über deren Qualitäten ich deshalb
kein Urteil abgeben kann.
Die Originalität der Themenstellung, die große Zahl exzellenter Photos und Strichzeich-
nungen (diese mehrheitlich von den Zeichnerinnen und Zeichnern Barbara van Heusen, Su-
sanne Reisinger, Melih Yerlikaya und Ewald Reitbauer) und die von Büchern der Grazer
Druck- und Verlagsanstalt gewohnte hohe Qualität der Ausstattung, des Drucks und der Re-
produktion machen das Buch dennoch zu einer Fundgrube für jeden, der sich mit der klassi-
schen Maya-Kunst beschäftigt.
Berthold Riese
Buchbesprechungen
299
Herda, E. A.: A reconstruction of the evolutionary model in sociocultural anthropology.
Communication as text in social policy. 442 Seiten, 1 Appendix. Ann Arbor: University Micro-
films International 1988.
Der Titel dieser Arbeit läßt aufhorchen; er mag zumindest deutsche Leser verwundern:
Geht es um Kulturevolutionismus und Sozialpolitik, zusammengebracht etwa mittels einer
Kommunikationstheorie ?
Tatsächlich fragt Herda, ob die traditionellen Vorstellungen zu sozialer Evolution angemes-
sen sind für eine Anwendung in heutiger Sozialpolitik, in ihrem Fall, ob sie für Behindertenpoli-
tik nutzbar gemacht werden können (S. 1). Ihr Ziel ist also ein explizit praktisches.
Da ich die Arbeit insgesamt sehr kritisch bewerte, sie aber in Teilen - und das in ganz unter-
schiedlichen Weisen - für nützlich halte, werde ich sie zunächst insgesamt charakterisieren,
dann den Aufbau und die Argumentationslogik darstellen und sie schließlich kritisieren.
Diese Dissertation verbindet aktuelle Theoriestränge, die bislang miteinander unverbunden
diskutiert werden, nämlich Evolutionismus, kritische Theorie, Geschichte der Ethnologie so-
wie Diskurstheorie und Eigengesellschaftskritik (obwohl Herda auf die neueren Arbeiten zu
den beiden letzten Punkten nicht eingeht, vgl. zusammenfassend: Marcus & Fisher: Anthropo-
logy as cultural critique, Chicago 1986; ihre Arbeit schloß sie 1985 ab).
Daraus formt Herda ein Programm, daß man stichwortartig verkürzt als diskursiv-kritische
evolutionistisch fundierte Anthropologie in praktischer Absicht benennen könnte. Das Beson-
dere ihrer Arbeit ist das Ziel, tatsächlich auf die Machbarkeit abzuzielen (S. 7) ; darin ist diese Ar-
beit sicher sehr „amerikanisch".
Die Arbeit besteht aus sieben Teilen. Teil I gibt einen Uberblick und den praxisorientier-
ten Kontext an und verweist auf die Forderungen Geertz', die Ethnologie solle einen Diskurs
der Verschiedenheit aufbauen (S. 5). II behandelt die theoretischen Ausgangspunkte philoso-
phischer und ethnologischer Tradition. III stellt sozialevolutionistische Theorien seit Tyler und
ihr jeweiliges Anwendungsverständnis dar. Teil IV behandelt neuere an den Mechanismen
(nicht den Verläufen!) der biologischen Evolution aufgehängte Analogmodelle sozialer Evolu-
tion (Cohen, Campbell), wozu in V eine harte Kritik geliefert wird. In VI arbeitet die Autorin
am Fallbeispiel der Behindertenpolitik in den USA die sozialevolutionäre (hier: richtungge-
bende) Rolle von Wertsetzungen heraus. In VII schließlich behandelt sie kommunikative Kom-
petenz als eine Voraussetzung für Ethnologen, wenn sie solche Praktiken verbessern helfen
wollen, z. B. durch wechselseitige Erklärung verschiedener Positionen. Außerdem greift sie
hier auf andere neue Evolutionsmodelle (Selbstorganisation) zurück.
Wie stellt sich die Autorin das praktische Eingreifen von Ethnologen konkret vor? Sie sollen
zunächst Probleme und Kernpunkte einer gegenwärtigen Politik kritisieren. Daraufhin entwik-
keln sie Alternativen, um die Richtung ablaufenden gesellschaftlichen Wandels zu beeinflussen.
Drittens werden die Erkenntnisse den Entscheidungsträgern vermittelt. Schließlich sollen sie
mit den von Maßnahmen Betroffenen prüfen, ob die Resultate im konkreten Leben förderlich
sind und sie entsprechend bewerten (S. 21). Herdas Programm konvergiert mit neueren Bestre-
bungen, praxisorientierte Anthropologie als (politikberatende) „policy science" zu verstehen,
auf die Herda nicht verweist (vgl. z. B. T. Weaver: Anthropology as a policy science, in Human
Organization 44, 1984: 97-105, 197-205).
Die Hauptquellen, aus denen die Ethnologen für die Lösungen schöpfen sollen, sind vor al-
lem 1. die Reflektion der Geschichte ihrer Wissenschaft (inklusive der praktischen Auswirkun-
gen!, S. 35) und 2. die Klärung der Rolle der Sprache, sowie von Bedeutungen und Werten für
die Ausrichtung sozialer Evolution (S. 46f.); genauer gesagt für (in Grenzen geplanten) gerich-
teten Kulturwandel.
300
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Der Kern der Vorgehensweise der Autorin besteht darin, die Traditionen der Ethnologie
kritisch und selektiv als „kulturellen Text" (S. 319) für eine verbesserte Theorie sozialer Evolu-
tion zu nutzen. Also nimmt sie z. B. von Tylor dessen Vorstellung, der Mensch könne mittels
Rationalität und Geschichtsbewußtsein langfristigen sozialen Wandel steuern, nicht aber Tylers
Ideen zu linearer Entwicklung. Entsprechend nimmt sie von Boas den Nutzen des Kulturrelati-
vismus als Potential gesellschaftlicher Lösungen, nicht jedoch dessen positive Einschätzung ge-
sellschaftlicher Konformität (S. 230ff.).
M. E. spricht nichts gegen selektive Nutzung verschiedener Ansätze in konstruktiver Ab-
sicht, aber Herda unterläßt es völlig, die Behauptungen empirisch oder theoretisch zu prüfen, so
daß vieles weder durch Daten, noch durch theoretische Begründungen fundiert ist. Ich nenne als
Beispiele folgende Behauptungen: (a) Die Vorstellung (z. B. bei Politikern), daß Konformität
ein Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts sei, leite sich direkt aus dem Konzept der natürlichen
Selektion ab (S. 328). (b) Modelle der Variation mit Selektion und Beibehaltung erlaubten nicht
die Konzeptualisierung der Rolle von Individuen und deren kreativer Formung sozialen Wan-
dels (S. 353). Richtig ist, daß solche Modelle nach der empirischen Relation von ungerichteter
und gerichteter Variation verschiedensten Ursprunges in menschlichen Gesellschaften im Ein-
zelfall und im synchronen oder diachronen Vergleich fragen, (c) Der einzige dynamische Faktor
im Darwinschen Evolutionsmodell sei der Wettbewerb (S. 354). Ein kurzer Blick in die Fachli-
teratur belehrt einen über die dynamischen Faktoren, die die Evolutionstheorie als Theorie der
komplexen Naturgeschichte annimmt (vgl. z. B. als aktuellen Überblick: F. M. Wuketits: Evo-
lutionstheorien, Darmstadt 1988).
Die Arbeit zeigt einige ärgerliche technische Mängel. Viele in der Argumentation des Textes
zentrale Arbeiten sind im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt; evtl., weil sie nicht direkt kon-
sultiert wurden. Mehrere wörtliche Zitate sind ohne Seitenangabe und überhaupt viele Nach-
weise sehr pauschal. Die Gliederung der (nicht numerierten und typographisch ungeschickt ab-
gesetzten) Unterkapitel ist oft unklar.
Ich möchte Herdas Arbeit trotz grundsätzlicher Kritik empfehlen, weil sie für verschiedene
Interessenten in Einzelkapiteln nützlich sein kann: (1) bietet Herda eine Diskussion symboli-
scher Ethnologie und Diskurstheorie mit einer ungewöhnlichen - nämlich evolutiomstischen —
Fundierung; (2) bietet sie Argumente und Kritiken zu echtevolutionistischen Kulturevolu-
tionstheorien, die hierzulande noch kaum diskutiert wurden; (3) bietet Kap. VI auf fast 100 Sei-
ten eine Darstellung amerikanischer Behindertenpolitik und der sie leitenden Weltbilder; (4)
hebt Herda sehr deutlich ein Dilemma jeder praxisorientierten Ethnologie hervor: die Unver-
träglichkeit von konsequentem Kulturrelativismus einerseits und engagiertem Veränderungs-
wollen anderseits.
Christoph Antweiler
Junge, P. und Heidtmann, F.: Wie finde ich ethnologische Literatur. 380 Seiten, kart.,
48,- DM. (Orientierungshilfen Bd. 31) ISBN 3-87061-181-2. Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz
1989.
In der seit über 10 Jahren existierenden Reihe „Orientierungshilfen" mit dem stets gleichlau-
tenden Titel „Wie finde ich Literatur zur..." ist nun auch die Ethnologie bearbeitet worden. Mit
der Literaturrecherche wurde ein weiteres grundlegendes Thema aufgegriffen, das sich sehr gut
in die Reihe der in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienenen einführenden Werke in
die Ethnologie einfügt. Als Benutzer sind Studenten und Lehrpersonal des Faches Ethnologie
und das Personal im bibliothekarischen Auskunftsdienst angesprochen. Das Buch beeindruckt
Buchbesprechungen
301
durch die Fülle seiner knapp über 1000 Titel und ist allein deswegen sicherlich nützlich. Die An-
ordnung dieser Titel dürfte unter Ethnologen allerdings Widerspruch herausfordern.
Bevor im einzelnen auf den Ethnologie-Band eingegangen wird, einige allgemeine Bemer-
kungen zur Konzeption der Reihe „Orientierungshilfen". Die darin erschienenen Bände zu den
unterschiedlichsten Fächern (von den Theaterwissenschaften bis zur Luft- und Raumfahrt) sind
in ihrem Aufbau überwiegend gleich. Jeder Band bringt am Anfang eine „Kleine Bibliotheks-
kunde", in der erläutert wird, was Bibliotheken bereithalten, welche Bibliotheken es gibt und
wie man an das Material in den Bibliotheken herankommt. Daran schließt sich der in jedem
Band unterschiedliche fachbibliographische Hauptteil an. Dann folgt das ebenfalls in jedem
Band gleiche Kapitel „Informationsverarbeitung", bei dem es sich um eine Anleitung zur tech-
nischen Gestaltung schriftlicher wissenschaftlicher Arbeiten handelt. Den Abschluß bilden ein
bibliothekarisch-bibliographisches Fach- und Fremdwörterverzeichnis sowie ein Register. Daß
ein Register für jeden einzelnen Band nötig ist, steht außer Frage, da es sich in jedem Fachgebiet
anders füllen läßt, daß aber sowohl die „Kleine Bibliothekskunde" als auch die „Informations-
verarbeitung" in vielen Bänden mit nur geringen Abweichungen, z. T. wörtlichen Ubereinstim-
mungen, wiederholt werden, halte ich für Platzverschwendung. In dem Ethnologie-Band
nimmt das Kapitel „Kleine Bibliothekskunde" ca. 50 Seiten ein, das der „Informationsverarbei-
tung" ca. 20. Wie viele weitere bibliographische Titel hätte man auf diesen 70 Seiten unterbrin-
gen können, wenn man der Reihe „Orientierungshilfen" einen Band vorangestellt hätte, in dem
diese für alle Fächer gleichen Kapitel in aller Ausführlichkeit dargestellt worden wären. Es wäre
einem Studenten oder einer Bibliothek doch sicher zuzumuten, sich sowohl den allgemein ar-
beitstechnisch interessanten Band der Reihe anzuschaffen als auch den fachspezifisch relevanten
Einzelband!
Sieht man von den Wiederholungen ab, ist der Einzelband durchaus sinnvoll angelegt, macht
den Leser mit der Einrichtung „Bibliothek" vertraut und gibt eine gute Anleitung zur konkreten
technischen Gestaltung schriftlicher wissenschaftlicher Arbeiten. Besonders gut gefallen hat
mir die Auflistung von Fragen unter „Kurz und Bündig" auf S. 309/310, durch die dem Studen-
ten geholfen wird, sich darüber klar zu werden, ob er die allgemeinen wissenschaftlichen Ar-
beitstechniken beherrscht. Ein Abschnitt in dem Kapitel „Kleine Bibliothekskunde" heißt
„Was wird in Bibliotheken bereitgehalten". Dort werden u. a. Definitionen von „Primär- und
Sekundärdokumenten", „Primär- und Sekundärliteratur" gegeben, von „Quellenschriften",
„Literaturgattungen" und „Publikationsformen" ist die Rede. Hätten die Autoren zu jedem
dieser Begriffe ein Beispiel aus der Ethnologie gebracht, würde dies sicher zum Verständnis und
zur Unterscheidung der Begriffe wesentlich beigetragen haben. Es scheint mir allerdings, daß
den Autoren manche dieser Definitionen in ihrer Relevanz für die Ethnologie nicht ganz klar
sind, denn sonst hätten sie auf S. 194 nicht die bibliographischen Titel „Chepesiuk/Shankman:
American Indian archival material" und „Catalog to manuscripts at the national anthropological
archives" unter „3.4.4.3 Quellenverzeichnisse", den bibliographischen Titel „Hubach: Early
Midwestern travel narratives" aber getrennt von diesen unter „3.4.4.4 Reiseliteratur" - gemeint
ist wohl richtiger ,Verzeichnisse von Reiseliteratur' - aufgeführt, da Reiseliteratur in diesem
Sinne für die Ethnologie auch immer eine Quelle ist.
In dem Abschnitt „Wo findet man Literatur zur Ethnologie?" ist ein Unterabschnitt auch
den „Ethnologischen .Spezialbibliotheken und Bibliotheken mit ethnologischer Literatur in der
BRD" gewidmet. Außer der Bibliothek des Museums für Völkerkunde in Hamburg werden
keine weiteren Museumsbibliotheken genannt. Diese sind dem auswärtigen Leihverkehr ange-
schlossen und stehen vor Ort jedem als Präsenzbibliothek zur Verfügung. Sie sind oft sehr viel
302
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
reichhaltiger und besser erschlossen als die neben Staats- und Universitätsbibliotheken genann-
ten Institutsbibliotheken. Für nicht sinnvoll halte ich auch die Auflistung der ethnologischen
Spezialbibliotheken nach regionalen Schwerpunkten, weil auf diese Weise von Junge/Heidt-
mann umfangreichere und ertragreichere Suchwege abgeschnitten werden. So gibt es die Eintei-
lung „Amerika", „Amerika/Altamerika", „Amerika/Lateinamerika". Sucht jemand Literatur
zu Altamerika, werden ihm unter „Amerika/Altamerika" lediglich die Bibliotheken des Semi-
nars für Völkerkunde in Bonn, in Münster und des Archäologischen Instituts in Hamburg ge-
nannt, wohingegen das als erste Instanz zu konsultierende Ibero-Amerikanische Institut in Ber-
lin nur unter „Amerika/Lateinamerika" genannt wird und die bedeutendste altamerikanische
Fachbibliothek in Hamburg, die Linga-Bibliothek, völlig fehlt.
Den Hauptteil des Buches bildet der fachbibliographische Teil mit der Verzeichnung der
einzelnen Titel. Die Art und Weise, in der diese Titel verzeichnet werden, wie leicht also ein ge-
suchter Titel auffindbar ist, entscheidet m. E. wesentlich über Benutzbarkeit und Qualität einer
solchen bibliographischen Arbeit. Erwartet hatte ich deswegen, daß sowohl die diversen Nach-
schlagewerke und Bibliographietypen abgedeckt werden, als auch das Fach Ethnologie in der
Struktur seiner Wissens- und Forschungsgebiete in der Gliederung angemessen dargestellt
wird. Einführungen in die Ethnologie, Wörterbücher und Handbücher der Ethnologie, ethno-
graphische Atlanten, biographische Nachschlagewerke, Adreßbücher, Institutionenverzeich-
nisse, Studienführer, Bibliographien der Bibliographien, eventuell Nationalbibliographien, lau-
fende Bibliographien, Current Contents, Referateblätter, abgeschlossene Bibliographien,
Hochschulschriftenverzeichnisse, Bibliothekskataloge, Publikationenverzeichnisse von Insti-
tutionen, Quellenverzeichnisse, Zeitschriftenverzeichnisse, Bibliographien zu ethnologischen
Filmen, Rezensionsbibliographien, Personalbibliographien und Bibliographien zu Sachthemen
sollten zunächst ohne regionale Begrenzung aufgelistet werden. Als Gliederungsprinzip der fol-
genden Abschnitte wäre eine Orientierung an den Kulturregionen der Erde zu erwarten, ausge-
hend in etwa von den Kontinenten, über nächst kleinere Kulturareale bis hin zu den einzelnen
Ethnien. Eventuell könnte man hierbei auch eine Orientierung an etablierten Gliederungssche-
mata, wie zum Beispiel Murdocks Ethnographie Atlas, erwarten. In diesen Abschnitten sollten
dann als weitere Untergliederung die oben genannten Nachschlagwerke und Bibliographiety-
pen wieder aufgegriffen werden. Andere als durch eine solche Gliederung vorgegebene Such-
strategien sollten durch das Register ermöglicht werden.
Die Autoren haben ein anderes Gliederungsprinzip angewandt. Der fachbibliographische
Hauptteil wird in zwei große Kapitel unterteilt. In dem ersten, „Sachauskunftsmittel" (Kapitel
2), werden Werke verzeichnet, an Hand derer Sachverhalte direkt geklärt werden können, wie
zum Beispiel Handbücher oder Wörterbücher. In dem zweiten, „Literaturauskunftsmittel"
(Kapitel 3), werden ausschließlich Bibliographien verzeichnet. Ich persönlich bin der Ansicht,
daß eine in Kapitel 2 verzeichnete Einführung in die Ethnologie - von denen hier allerdings nur
drei genannt werden, was bei dem überaus reichen Angebot, vor allem in den USA erschienener
Werke, schon verwundert - oder ein Handbuch auch gute bibliographische Einstiege in ein
Thema sein können und halte die Trennung der Kapitel 2 und 3 für nicht sehr nützlich. Nach
den erwähnten Einführungen (2.1), Handbüchern (2.2) und Wörterbüchern (2.3) kommen
Handbücher mit thematischem Schwerpunkt (2.4), regionale Handbücher (2.5) unterteilt nach
Afrika, Amerika, Asien und Südsee/Australien - europäische Ethnologie kommt weder hier
noch an sonst einer Stelle des Buches vor ( !) -, ethnographische Atlanten (2.6) unterteilt in s. o.,
Biographien (2.7) und Institutionenverzeichnisse/Studienführer (2.8).
Das Kapitel 3 „Literaturauskunftsmittel" beginnt mit dem Abschnitt „Allgemeine ethnolo-
Buchbesprechungen
303
gische Bibliographien", worunter verzeichnet werden: Bibliographien der Bibliographien
(3.1.1), ethnologische Literatur in Nationalbibliographien (3.1.2), laufende Bibliographien und
Referateblätter (3.1.3), abgeschlossene Bibliographien (3.1.4), Hochschulschriftenverzeichnisse
(3.1.5), Kataloge (3.1.6)-die wohl korrekter,Bibliothekskataloge' hätten genannt werden sollen
-, Publikationsverzeichnisse von Instituionen (3.1.7), Bibliographien zur Ethnologie in einzel-
nen Ländern (3.1.8), Quellenverzeichnisse (3.1.9), Zeitschriftenverzeichnisse (3.1.10), Biblio-
graphien ethnologischer Filme (3.1.11), Personalbibliographien (3.1.12). Der zweite Abschnitt
nennt Bibliographien mit Sachthemen (3.2). Die Abhandlung der Nationalbibliographien
nimmt mit 7 Seiten einen breiten Raum ein. Es ist sicher von Nutzen, auf die Existenz von Na-
tionalbibliographien hinzuweisen, eine derartige ausführliche Darstellung steht aber m. E. in
keinem Verhältnis zum Ertrag, den man aus ihrer Benutzung zieht. Ein kurzer Hinweis hätte
durchaus genügt. Unter dem Abschnitt „Allgemeine ethnologische Bibliographien" erwartet
man eigentlich nur Titel, die die Ethnologie weltweit betreffen und nicht einzelne Regionen,
denn erst in späteren Abschnitten wird die Einteilung der Bibliographien nach Regionen vorge-
nommen. Die Abschnitte „3.1.8 Bibliographien zur Ethnologie in einzelnen Ländern" und
„3.1.10 Zeitschriftenverzeichnisse" werden von Junge/Heidtmann aber in Regionen unterteilt.
Dadurch wird der Aufbau des Buches unsystematisch und es werden Titel an verschiedenen
Stellen des Buches verzeichnet, die eigentlich an einer Stelle hätten zusammengeführt werden
müssen. So werden einige Zeitschriftenverzeichnisse von Afrika hier unter 3.1.10, andere später
beim Kontinent Afrika genannt (3.3.1.6). Einige Zeitschriftenverzeichnisse von Asien werden
hier unter 3.1.10, andere später beim Kontinent Asien (3.5.1.5) genannt. Diesselbe Inkonse-
quenz unterläuft Junge/Heidtmann auch in dem Abschnitt „3.1.8 Bibliographien zur Ethnolo-
gie in einzelnen Ländern". Zum Beispiel werden einige Bibliographien zur Ethnologie der USA
hier in 3.1.8 genannt, andere in dem Abschnitt „3.4.4 USA", der als ein Unterabschnitt bei der
Untergliederung des Kontinents Amerika fungiert.
Die Abschnitte 3.3 bis 3.6 sind den kulturellen Großregionen/Kontinenten gewidmet: „3.3
Afrika-Bibliographien", „3.4 Amerika-Bibliographien", „3.5 Asien-Bibliographien", „3.6 Süd-
see-Bibliographien". Alle vier Abschnitte wurden nach demselben Schema in Unterabschnitte
gegliedert: nach einem Abschnitt zu den unterschiedlichen Bibliographietypen des gesamten
Kulturgebietes folgen Bibliographien zu den nächst kleineren Kulturregionen, dann zu „einzel-
nen Ländern", „einzelnen Gruppen"/„ethnischen Gruppen", „einzelnen Regionen", zu „ein-
zelnen Themen", zu „länderübergreifenden Themen", „länderübergreifenden Regionen", „län-
derübergreifenden Gruppen". Die von Junge/Heidtmann vorgenommene Unterteilung der
kulturellen Großgebiete in ihnen untergeordnete nächst kleinere Kulturregionen ist nicht im-
mer systematisch (z. B. von Amerika in 3.4.1 Amerika insgesamt, 3.4.2 Nordamerika, 3.4.3 Ka-
nada, 3-4.4 USA, 3.4.5 Lateinamerika, 3.4.6 Karibik, 3.4.7 Mittelamerika, 3.4.8 Südamerika).
Die gleichrangige Unterteilung in Kulturregionen, Länder, Ethnien/Gruppen, Sachthemen
führt zu mehrfachen Überschneidungen. So werden zum Beispiel einige Bibliographien zu den
Eskimo unter „3.4.2.6 Länderübergreifende ethnische Gruppen", weitere unter „3.4.3.1 Ein-
zelne Sachthemen und Gruppen" genannt, einige Bibliographien zu den Afroamerikanern wer-
den unter „3.4.1.7 Länderübergreifende Themen" genannt, weitere unter „3.4.4.6 Ethnische
Gruppen", eine Bibliographie zu den Fidschi-Inseln wird unter „3.6.3 Melanesien" genannt,
eine weitere unter „3.6.5 Polynesien". Den Maya wird ein eigener Abschnitt zugestanden
(3.4.7.2) wobei im vorangehenden Abschnitt „3.4.7.1 Mesoamerika" und im folgenden Ab-
schnitt „3.4.7.3 Einzelne Länder (Belize, Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Me-
xico, Nicaragua, Panama)" Bibliographien genannt werden, in die die Maya natürlich auch ein-
304
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
geschlossen sind. Kulturareale decken sich nun einmal nicht unbedingt mit heutigen Staats- und
Ländergrenzen, diese Tatsache hätte fachgerechter gelöst werden müssen.
Man gewinnt den Eindruck, daß die Autoren die Gliederung des Buches und die Verzeich-
nung der Titel lediglich an Hand der Buchtitel vollzogen haben, ohne in diejenigen Bibliogra-
phien, die sie nicht kennen, selbst hineinzuschauen. Das wird offenbar bei der Betrachtung der
Abschnitte „3.4.4.5 Einzelne Regionen" (der USA) und „3.4.4.6 Ethnische Gruppen" (der
USA). Im Abschnitt 3.4.4.5 werden Bibliographien verzeichnet, in deren Titel meist ein Bun-
desstaat der USA genannt ist, im Abschnitt 3.4.4.6 stehen Bibliographien, in deren Titel eine
Ethnie genannt wird. Man hätte sich doch wohl die Mühe machen müssen, herauszufinden, in
welchen Bundesstaaten welche Ethnien angesiedelt sind, eine Verzeichnung in einem einzigen
Abschnitt vornehmen und den Suchweg zu den Bundesstaaten über das Register sicherstellen
müssen. In diesem Zusammenhang sei noch ein inhaltlicher Fehler korrigiert: bei den unter
3.4.4.6 genannten Kachina handelt es sich nicht um eine „ethnische Gruppe", sondern um Ah-
nengeister der Pueblo-Indianer. Zwei andere Beispiel seien noch angeführt, die meinen Ein-
druck fehlender Einsichtnahme in die verzeichneten Bücher stützen: bei dem Werk „Curtis,
Edward S. : The North American Indian" handelt es sich überhaupt nicht um eine Bibliographie,
es hat also unter dem Abschnitt „3.4.4.1 Abgeschlossene Bibliographien" (der USA) nichts zu
suchen. Der Titel „Handbook of Latin American studies" suggeriert zwar, daß es sich um ein
Handbuch handelt, tatsächlich ist es aber eine Bibliographie und enthält, wie Junge/Heidtmann
seltsamerweise notieren, Fortschrittsberichte, also hat es unter dem Abschnitt über regionale
Handbücher zu Amerika nichts zu suchen.
Am Ende des Buches folgt ein ca. 50 Seiten starkes „Register der Verfasser, Herausgeber, Ti-
tel und der Schlagwörter des Inhaltsverzeichnisses". Bei „Titel" handelt es sich wohl genauer
um die Stichworte aus den Titeln der verzeichneten Werke. Es ist mir unklar, warum Verfasser
und Herausgeber aufgenommen wurden, von denen man doch bei der Suche noch gar keine
Kenntnis hat. Wünschenswert wäre es wohl gewesen, wenn in das Register auch Schlagworte
aufgenommen worden wären, die außerhalb der Titel und des Inhaltsverzeichnisses gewonnen
wurden. Ansonsten fängt das Register viele der durch die unsystematische Gliederung des Bu-
ches entstandenen Mängel ab und ermöglicht andere als die durch das Inhaltsverzeichnis gebo-
tenen Suchstrategien. Die einzelnen Titel sind im Buch leicht auffindbar, da sie fortlaufend mit
einer im Register genannten Nummer versehen sind. Sehr nützlich sind auch die manchmal zu
den einzelnen Titeln notierten Kommentare zu Aufbau und/oder Inhalt der Werke.
In der Reihe „Orientierungshilfen" wurde das Fach Ethnologie schon einmal kurz behan-
delt, in Band 13 auf Seite 179-182 (Frank Heidtmann: Wie finde ich Literatur zur Volkswirt-
schaft, Betriebswirtschaft, Psychologie, Soziologie, Politologie, Publizistik und Statistik. Berlin
1985). Von den dort genannten Titeln fehlt bei Junge/Heidtmann fast ein Drittel. Darunter so
interessante wie:
International directory of anthropologists. Chicago 1975.
Reviews in anthropology. Pleasantville 1974ff.
Ethnic information sources of the US. Wassermann, P.; Morgan, J. (eds.). 2nd edn. 1983.
White, C. M.: Sources of information in the social sciences. Chicago 1973, S. 307-74.
Auch der dortige Hinweis auf Datenbanken, die die Ethnologie einschließen, wurde von Junge/
Heidtmann nicht aufgegriffen. Daß den Autoren Titel entgangen sind, unter denen die Ethnolo-
gie nur als Randgebiet fungiert, mag vielleicht daran liegen, daß sie sich nicht ausreichend Ge-
danken über Breite und Abgrenzung des Faches gemacht haben. Ausdrücklich wird im Vorwort
gesagt (S. 15), daß auch Randgebiete der Ethnologie mitberücksichtigt wurden. Genannt wird
Buchbesprechungen
305
die Musikethnologie, Religionsethnologie und die Altamerikanistik, wobei letzterer allerdings
ein überaus breiter Raum zugestanden wird und man sieh fragen muß, warum andere Teildis-
ziplinen nicht ebenfalls einer solchen Aufmerksamkeit teilhaftig wurden. So fehlt zum Beispiel
die europäische Ethnologie vollkommen. Meiner Ansicht nach wurden bei der Anlage des Bu-
ches zu wenige grundlegende Überlegungen angestellt und die Ausarbeitung hätte sorgfältiger
durchgeführt werden müssen.
Frauke J. Riese
Klockmann, T.: Günther Tessmann: König im weißen Fleck. Das ethnologische Werk im
Spiegel der Lebenserinnerungen. Ein biographisch-werkkritischer Versuch. Diss. phil. Ham-
burg 1988. Bezugsadressen: Buchhandlung K. Renner, Am Sonnenhang 8, D-8221 Hohen-
schäftlarn; Mundus, Adolfstr. 34a, D-5300 Bonn.
Klockmanns Dissertation hat eine rein lübische Entstehungsgeschichte. Unter der Leitung
von Helga Rammow war der Lübecker Klockmann 1986 an der Vorbereitung einer Ausstellung
über den Lübecker Tessmann in Lübeck beteiligt und hatte im Zusammenhang damit ersten
Einblick in Tessmanns Nachlaß nehmen können. Die Drucklegung der Arbeit wurde von der-
selben „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit gegr. 1789 zu Lübeck" unter-
stützt, die schon Forschungen von Tessmann finanziert hatte. Wer bei dieser Fülle von Lokalbe-
zügen vermutet, daß einer Arbeit, die aus einer solchen Konstellation entsteht, wohl nur lokal-
histonsche Bedeutung zukommen könne, sieht sich jedoch getäuscht. Die von Klockmann an-
gesprochenen Themen werden auch außerhalb des liibischen Bannkreises diskutiert.
Da ist einmal der „weiße Gott", der, von Heilserwartung getragen, in einer fremden Gesell-
schaft als Herrscher Einzug hält - eine für einen Ethnologen sonderbare Rolle, die Tessmann je-
doch bei den Pangwe Aquatorial-Guineas über längere Zeiträume zugefallen war, und die er
nach Kräften ausnutzte. Diesen Aspekt der Umstände der Entstehung von Tessmanns Pangwe-
Monographie anhand eines autobiographischen Manuskriptes „König im weißen Fleck" aus
Tessmanns Nachlaß und von Tagebuchaufzeichnungen in ein scharfes Licht gerückt zu haben
und die beiderseitigen Mißverständnisse zu schildern, die zu dieser eigenartigen vertikalen in-
terkulturellen Artikulation geführt haben, ist ein unbezweifelbares Verdienst Klockmanns. Daß
er diesen erwarteten weißen Gottkönig nicht als frühkolonialen Topos anhand mehrerer Ver-
gleichsfälle aufgezeigt und analysiert hat, ist Klockmann nicht anzulasten, da das vielleicht den
Rahmen seiner Dissertation gesprengt hätte. Marshall Sahlins einschlägige Hawaii-Studie Der
Tod des Kapitän Cook (Berlin: Wagenbach 1986) findet nur in einer Fußnote (S. 289) Erwäh-
nung, andere Arbeiten gar nicht: Tzvetan Todorovs La Conquête d'Amérique: la question de
Vautre (Paris: Ed. du Seuil 1982) würde in Gestalt der conquistadores interessante Vergleichs-
fälle liefern, und zwar auf einem sehr hohen Stand der interkulturell-semiotischen Analyse. Je-
doch war es offenbar Klockmanns Absicht, die durchgehend chronologisch-biographische
Darstellung nicht durch vergleichende Exkurse zu unterbrechen - schade vielleicht!
Der Absicht, durch Aufzeigen des biographischen Hintergrunds zur Interpretation von
Tessmanns Werk beizutragen, wird Klockmann voll gerecht. Vor uns ersteht das isolierte Kind,
von einer strengen wilhelminischen Erziehung deformiert, das immer stärker in die Naturbe-
trachtung flüchtet und entomologische, besonders schmetterlingskundliche Interessen entwik-
kelt. Zum Ethnologen wird Klockmann, der Misanthrop, halb-unfreiwillig, und sein Verhältnis
zum Gegenstand seiner Forschung bleibt durch Herrenmenschen-Allüren und Isolationismus
306
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
gestört. Besonders im Spätwerk gerät die ethnographische Empirie - der in der Pangwe-Mono-
graphie noch Aufzeichnungen von bleibendem Wert zu verdanken sind - immer stärker ins
Hintertreffen und weicht färben- und zahlenmystischen Spekulanten pseudoreligiöser Art, die
immer skurriler anmuten, auch wenn Klockmann trotz aller Kritik noch um Verständnis für sie
wirbt.
Uber einen für die Religionsanalyse Tessmanns wichtigen Punkt, nämlich sein Verhältnis zu
Sexualität, wird der Leser lange im unklaren gelassen. So werden immer wieder „hübsche Jun-
gen" erwähnt und mit Befremden liest man auf S. 74 ein Tessmann-Zitat über den schwarzen
Erdteil, „wo schwarze, nackte, körperschöne Menschen mit ihren verführerischen dunklen Au-
gen unter Palmen hausen", bis man endlich auf S. 83 Gewißheit erlangt und über Tessmanns
Homosexualität aufgeklärt wird. Vielleicht wäre es zwar weniger spannend aber der Orientie-
rung des Lesers dienlicher gewesen, wenn, in Abweichung vom chronologischen Muster, dieje-
nigen Komponenten des Persönlichkeitsbildes, die es in der Biographie zu illustrieren und zur
Werkinterpretation heranzuziehen gilt, vorab systematisch behandelt worden wären.
Durch den akademischen Mißerfolg, der Tessmann beschieden war, sind eine Reihe von Ma-
nuskripten unveröffentlicht liegengeblieben. Es ist daher verdienstvoll, daß Klockmann zum
Beleg seiner Ausführungen im Anhang ausführliche Exzerpte aus diesen Schriften bringt, um sie
so, ergänzt durch seine eigenen Erklärungen, in den akademischen Diskurs einzuführen. In dem
„Abenteuer- und Reisebericht" König im weißen Fleck, der hier in einem längeren Auszug wie-
dergegeben wird, erläutert Tessmann als Ich-Erzähler einer Kunstfigur „Dr. Wollenweber" die
Mysterien der Sso-Initiation der Pangwe (S. 249-281). Auch in seiner Analyse geht Klockmann
auf diesen Text ein: „Auf den letzten Seiten des Manuskriptes verfolgen wir Tessmanns ange-
strengtes Bemühen, Wollenweber davon zu überzeugen - und zu diesem Zweck hat er ihn über-
haupt in seine Darstellung eingeführt -, daß im sso nicht allgemein menschliche ,elementarge-
dankliche' Probleme zur Bewältigung anstünden, sondern rein auf die schwarze Rasse bezogene
,völkergedankliche'. Die Pangwe müssen das Urbild religiösen Menschentums abgeben, von
dem sich entfremdet zu haben Tessmann immer schmerzlicher bewußt wird." (S. 130f.) Der bei
„Elementargedanken" und „Völkergedanken" aufhorchende Leser hätte an dieser Stelle viel-
leicht gerne mehr über die Rezeption Adolf Bastians durch den ethnologischen Autodidakten
Tessmann erfahren, wie überhaupt gelegentlich unklar bleibt, ob und wie Tessman ein Verhält-
nis zur ethnologischen Theoriegeschichte und zu den zu seinen Lebzeiten ablaufenden theoreti-
schen und methodischen Neuerungen entwickelt (z. B. zur englischen Sozialanthropologie, de-
ren Methode der stationären Feldforschung er ja, wenn auch in sonderbarer Weise, in gewissem
Sinne vorweggenommen hatte). Eine Marginalie sei noch an dieses Zitat geheftet: Warum heißt
der imaginäre Dialogpartner Tessmanns hier Dr. Wollenweber? Nach dem dtv-Brockhaus ge-
langte im 16. Jh. ein gewisser J. Wullenweber an der Spitze einer Volksbewegung in Lübeck an
die Regierung. Ringt Tessmann hier möglicherweise mit einem liibischen Ubervater? Klock-
mann, der doch sonst soviel Lokalkolorit vor unsere Augen führt (Wiederaufsuchen der Orte
der Kindheit...), bleibt uns hier eine Erklärung schuldig.
Man soll Autoren aber nicht für das kritisieren, was sie nicht sagen, denn das ist immer un-
endlich. Und das was Klockmann zur Werkinterpretation von Tessmann beiträgt, ist eine ganze
Menge. Besonders die Pangwe-Eorscher werden es ihm zu danken wissen.
G. Schlee
Buchbesprechungen
307
Kuntz, A.; Pfleiderer, B. (Hg.): Fremdheit und Migration. 260 Seiten. Berlin, Hamburg:
Dietrich Reimer Verlag 1987.
Der vorliegende Sammelband ist zu einem nicht geringen Teil gekennzeichnet durch die Su-
che der Volkskunde nach einem ihr genehmen Standort. Deshalb wird ein etwas angestrengt
wirkender Vergleich mit der völkerkundlichen Forschung im europäischen Ausland und mit
der hiesigen Disziplin Völkerkunde gezogen; die einfache Trennung der beiden Fächer nach
dem Eigenen (Volkskunde) und Fremden (Völkerkunde) wird teilweise umgekehrt, indem das
Fremde im Eigenen (Volkskunde) und das Eigene im Fremden (Völkerkunde) entdeckt wird (S.
13-14). Nur scheint es mir fraglich, ob die heutige Völkerkunde auf die imaginäre Ethnographie
(Kramer) des 19. Jh. zugerichtet werden kann, so als ob sich die heutige Forschung nicht an har-
ten Gütekriterien messen lassen müßte, als ob Völkerkunde bei der Beschreibung von Kultur
auf die spezifische Begriffswelt der eigenen Kultur überhaupt angewiesen wäre, als ob es keine
Forschung über universale Strukturen und Strukturen mit weiter Verbreitung unter Einschluß
der eigenen Kultur gegeben hätte.
Der Band wird eröffnet von U. Jeggle mit einer Arbeit, die den Fremdheitsbegriff an einem
Dissens über die Aufstellung eines Mahnmals für Opfer deutscher Herrschaftsausübung am
Ende des 2. Weltkrieges exemplifiziert. P. Höher erläutert den Vorteil sozialer Distanz in bezug
auf den Geschäftserfolg sauerländischer Wanderhändler. M. Knierim befaßt sich mit Arbeits-
migration zu Beginn der Industrialisierung in Wuppertal, B. Pfleiderer zeigt Fremdheit im Zu-
sammenhang mit heiratsbezogener Wohnzuweisung für Frauen in Nordindien auf. M. Holt-
mann zeichnet die Entstehung eines Stadtteils in Hamburg bis zum Ende des 2. Weltkrieges un-
ter besonderer Berücksichtigung des kriegsverknüpften Wandels, A. Kuntz beschäftigt sich mit
vorgefaßten Urteilen über den Norden und Süden Deutschlands, W. Kokot schildert ihren Auf-
enthalt in einem Stadtteil Salonikis mit dem Forschungsziel, Teil des kulturellen Wissens der
dortigen Bevölkerung zu erfassen. T. Hauschild gibt einen kurzen Bericht über Aspekte von
Religion in Süditalien unter Verarbeitung eigener Erfahrung vor Ort. J. Bracker schildert Wan-
del bei ostpreußischen Fischern in Büsum in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und zu Beginn des 20.
(h. Afrikaner und Hamburger Bürger ist das Thema von E. Dettmar. A. Kuntz beschäftigt sich
in einem zweiten Aufsatz mit der Aufnahme von Biographien und der Herausbildung von Tra-
ditionen. M. Matter befaßt sich mit der Rückkehr türkischer Arbeiter in die Türkei, G. Kauf-
mann bringt Überlegungen zur Darstellung von Regionalkultur im Museum.
Diese kurze Inhaltsangabe macht deutlich, daß die Begriffe des Titels einen unterschiedlich
starken Bezug zu den Einzelbeiträgen besitzen, was besonders für die Titelbegriffe in Kombina-
tion gilt. Auf die Einzelbeiträge bezogen sollen hier nur auswählend einige kritische Anmerkun-
gen zu den Arbeiten folgen, die eine umfassende sekundäre Aneignung einer anderen Kultur
voraussetzen. In ihrem Aufsatz über Frauen in Kumaon verwendet Pfleiderer recht ausgiebig
Literatur aus anderen indischen Gebieten. Gleichzeitig fallen entsprechende Angaben über Ku-
maon z. T. recht dürftig aus.
Früher taten sich Ethnologen schwer, die Kombination von patrilinearer Deszendenz mit
Uxorilokalität wegen der sozialen Position des Mannes zu verbinden, bis ein solcher Fall ge-
nauer untersucht wurde (Mundurucü, R. Murphy). Die Männer finden im Dorf der Ehefrau
Anschluß an ihre dort vorhandenen patrilinearen Verwandten. Pfleiderer schildert für Kumaon
bei patrilinearer Ausrichtung, Virilokalität und Dorfexogamie eine extreme Isolation der
Frauen. Ich hätte gerne etwas über Kontakte verwandter Frauen erfahren, die in dasselbe Dorf
verheiratet wurden.
Im Aufsatz von Kokot wird Fremdheit am ehesten deutlich an Gruppenkategorisierung, der
308
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Menschen im Stadtteil Tomba in Saloniki unterliegen. Mir scheint jedoch der Abgrenzungscha-
rakter von Kategorisierung zu stark betont. Als grundlegender erweist sich bei Kategorisierung
eine Zuordnung von Personen oder Sachen zu bestimmten prototyptischen Einheiten zu sein.
Grenzziehung stellt eher den abgeleiteten Fall dar.
Hauschild schildert, wie Außenseiter via Religion wieder in die Alltäglichkeit eingebunden
werden. Hierbei findet eine partielle Gleichsetzung dieses Außenseiters mit einem Heiligen
statt, der als Person mit religiösen Außenbezügen eine geachtete Stellung einnimmt, was aber
zumindest in der heutigen Sicht eine Außenseiterschaft dieses Heiligen zu Lebzeiten beinhaltet.
Hierdurch wird die Position des Außenseiters in der Gesellschaft abgemildert und positive Ent-
wicklungschancen vergegenwärtigt. Allerdings operiert der Autor bei seiner Darstellung mit ei-
nem diffusen Korporationsbegriff, der, wie vom Autor angemerkt, nicht das Merkmal Konti-
nuität beinhaltet. Darüber hinaus aber läßt der Autor unbeachtet, daß Korporationen sich auch
gegenüber anderen Gruppen und Personen abgrenzen.
Der Aufsatz von Matter zur Remigration von Türken besitzt den Rang einer Vorstudie. Der
Gegenstandbereich wird weniger aus den allgemeinen Lebensverhältnissen in der Türkei er-
schlossen, sondern migrantenzentriert durch Interviews angegangen.
Schon der Titel des Buches zeigt an, daß nicht die Normalität in kultureller Begrifflichkeit
zur Darstellung ansteht, sonst hätte der Titel wohl Vertrautheit und Ortsbezogenheit gelautet.
Hier nähern wie uns dem Dilemma sowohl der Volkskunde als auch der Völkerkunde. Alltag
wird erst dann interessant, wenn er sich zumindest teilweise von der Gegenwartsform der eige-
nen Kultur oder von einer anzustrebenden Kultur abhebt. Exotisierung und Überzeichnung der
Fremheit stellen sich leicht ein.
Thomas Helmig
Lévi-Strauss, C.: Die eifersüchtige Töpferin. 400 S. Nördlingen: Greno 1987.
Raymond Roussel, den die Surrealisten zu einem ihrer Ahnen erklärten, reiste in einem Wa-
gen mit geschlossenen Vorhängen durch die Welt. Anders als Ethnologen, die für Jahre unter
Fremden aushalten, wollte er die Fremde nicht erfahren, sondern sich, indem er sie befuhr, aus
ihr entfernen, um sie aus Imagination selbst zu erfinden. Die Imagination - als Gegensatz zur
Realität - war ihm alles. Auch versicherte er, daß nichts von dem, was er auf seinen Reisen erfah-
ren habe, in seine Texte eingegangen sei (Foucault, M.: Raymond Roussel. Paris 1963, S. 197).
Anders als Raymond Roussel bleibt Claude Lévi-Strauss von vornherein lieber zu Hause.
Dafür aber bewegt er sich in seinem Denken auf zwei Kontinenten - den beiden Amerikas —,
überbrückt blitzrasch größte Entfernungen und wechselt ständig die Richtung. Im Denken
kann er auf der Stelle reisen und - wie Raymond Roussel - unberührt von der fremden Wirklich-
keit mit den Imaginationen spielen, die die Bewohner der beiden Amerikas - zu Mythen ge-
formt - hervorgebracht haben.
In seinem neuesten Werk „Die eifersüchtige Töpferin", das als Fortsetzung der „Mytholo-
gica" gelesen werden kann, beginnt er seine Reise daheim mit Sébillots „Légendes et curiosités
des métiers", einem Buch, in dem verschiedene Handwerksberufe mit bestimmten körperli-
chen, moralischen und psychischen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden: so Schnei-
der mit schieläugig und bucklig, Metzger dagegen mit robust und gesund, Holzfäller mit grob
und verdrießlich, Barbiere mit geschwätzig und Anstreicher mit trinkfreudig und immer fröh-
lich (S. 8). Doch fehlt unter den aufgezählten Berufen die Töpferei. Und um diesen Mangel zu
Buchbesprechungen
309
deuten, zieht Lévi-Strauss nach Amerika. Er gelangt zu den Jibaro, berühmten Schrumpfkopf-
herstellern, die in einer Mythe den Ursprung der Töpferei erzählen: Weil Sonne und Mond die-
selbe Frau teilen, sind sie aufeinander eifersüchtig, und Mond steigt auf einer Liane zum Him-
mel empor. Die Frau folgt ihm, in der Hand einen Korb, der mit Töpfererde gefüllt ist. Doch
Mond schneidet die Liane durch, die Frau stürzt ab und der Töpferlehm wird über die ganze
Erde verstreut. Die Frau verwandelt sich in die Nachtschwalbe, die bei jedem Neumond ihren
klagenden Schrei ausstößt und ihren Gatten anfleht, der sie verließ (S. 25 ff.). Von dieser Mythe
aus, die auf den ersten Blick fast mutwillig Sonne, Mond, Nachtschwalbe, Töpferei und Eifer-
sucht zusammenbringt, geht Lévi-Strauss dann Schritt für Schritt den Beobachtungen, den em-
pirischen Schlüssen, den analytischen und synthetischen Urteilen und den expliziten und impli-
ziten Beweisketten nach (S. 23), die die Mythen der beiden Amerikas zu einem einzigen, zusam-
menhängenden Netz von Transformationen verbinden (Oppitz, M.: Notwendige Beziehun-
gen. Frankfurt 1975, S. 204). Der Logik der Mythen - oder seiner eigenen - folgend fügt er diese
zu Zyklen zusammen, die wie die Blätter einer Rosette miteinander verbunden sind. Sie ordnen
sich zu Gedankenketten, die Lévi-Strauss denkt, weil sie sich gut denken lassen. Immer, wenn
eine Gedankenkette abzureißen droht, führt er ein neues mythisches Wesen ein, den Töpfervo-
gel, das Faultier, den Ameisenbär, rote Zwerge ohne Mund und ohne Anus, das Eichhörnchen
oder die Gestirne, die alle in einer logischen Beziehung zueinander stehen und so - sich gegen-
seitig erhellend - Bedeutungen hervorbringen. Denn bedeuten heißt für Lévi-Strauss immer nur
eine Beziehung zwischen Ausdrücken herstellen (S. 326).
So kann er mittels einer transzendentalen Deduktion nachweisen, daß sich auch in anderen
Mythen eine Verbindung zwischen Nachtschwalbe und Töpferei herstellen läßt. Und um das
System der bisher aufgezeigten Äquivalenzen zugleich auch in der Verkehrung zu bestätigen,
führt er den Töpfervogel ein, der einen logischen Gegensatz zur Nachtschwalbe bildet. Der
Töpfervogel als invertierte Nachtschwalbe versichert, daß am Ursprung der Töpferei die
Nachtschwalbe steht. Die transzendentale Deduktion wird dann in eine empirische überführt,
denn Lévi-Strauss zeigt, daß die Erfahrung zeigt, daß der Töpfervogel ein Meistertöpfer und die
Nachtschwalbe immer eifersüchtig ist.
In einem zweiten Mythenzyklus tritt als neuer Gegensatz zur Nachtschwalbe das Faultier
hinzu, dessen anale Inkontinenz der oralen Gier der Nachtschwalbe entspricht. Und so wie die
Töpfererde in der Mythe der Jibaro auf die Erde fällt, so fallen auch die Exkremente der Tiere
auf den Boden. Die Kosmologie einer Welt mit verschiedenen vertikalen Ebenen entsteht, in der
die Bewohner der einen Ebene die unter ihnen liegende als Müllhalde und Kloake benutzen.
Tonerde und Exkremente werden so zum Ausgangs- bzw. Endpunkt eines technischen und ei-
nes physiologischen Transformationszyklus: Die Tonerde wird geschürft, geformt und zu ei-
nem Gefäß gebrannt, in dem dann in umgekehrter Richtung die Nahrung gekocht, gegessen, im
Körper verdaut und als Exkrement ausgeschieden wird.
Weil es Frauen sind, die vor allem das Handwerk der Töpferei betreiben, kommt ihm eine
weibliche, sexuelle Konnotation zu. Und diese sexuelle Kodierung führt Lévi-Strauss fort vom
amerikanischen Kontinent zurück nach Europa direkt zu Freuds „Totem und Tabu". Zeigte
Freud einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker auf, so weist
Lévi-Strauss nun einige Ubereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Psychoanalyti-
ker nach. Er springt zu den Jibaro-Indianern zurück und führt ihre Version von „Totem und
Tabu" vor. Ihr Mythos nimmt nicht nur - mit deutlichem Vorsprung - den Freudschen vorweg,
sondern er ist auch subtiler und reicher als der europäische. Diejibaro sind die besseren Psycho-
analytiker. Doch ist es nicht eigentlich Freud, sondern vielmehr der sexuelle Code, den dieser
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
zur Entzifferung benutzt, der Lévi-Strauss zum Ärgernis wird. Gegen den sexuellen Inhalt setzt
er die Form, das Schema, das Gerüst, das seinen Geist um so mehr zufrieden stellt, je komplexer
die Operationen ausfallen und je mehr Einfälle sie erfordern (S. 321)-wie in einem Kriminalfall.
Denn die Bedeutung von Mythen liegt nicht im Absoluten, sie ist lediglich „positional" (S. 313).
Wenn er dann im letzten Kapitel als kleine strukturale Analyseübung den Odipus des Sophokles
mit dem Florentiner Hut von Labiche vergleicht und vorführt, daß trotz der verschiedenen In-
halte das Interesse an den spezifischen Eigenschaften eines beiden gemeinsamen Gerüstes haftet,
dann führt er ein radikales Reinigungsunternehmen vor Augen, das zwar das eigentliche Wesen
der Metapher hervortreten läßt (S. 319), das aber von dem, was da verglichen werden soll, nichts
mehr übrig läßt. Am eigenen, nur zu bekannten - dem Odipus und dem Florentiner Hut - läßt
sich der Preis, der für die Abstraktion vom Inhalt zu zahlen ist, besser als an den fremden My-
then messen. Lévi-Strauss hat in seinem Leben nicht viele Indianer gesehen. Vielleicht erlaubt
ihm ihre Abwesenheit, in dieser Abstraktheit und Härte zu denken. Zwar dezentriert er unser
Denken, setzt neue, andere Zentren, doch fehlt seinen Oppositionen das vorläufige. Sie werfen
keine Schatten. Anders als die sogenannten Post-Strukturalisten hat Lévi-Strauss das Vertrauen
zu sich und einer universellen Logik noch nicht verloren (Parkin, D. : Mythes et fantaisies post-
structuralistes. In: Gradhiva, Revue d'Histoire et d'Archives de l'Anthropologie, Nr. 2, 1987,
S. 9).
Und warum fehlt nun die Töpferei unter den von Sébillot aufgeführten Berufen? Weil im eu-
ropäischen Volksglauben das Schmiedehandwerk, eine Feuerkunst wie die Töpferei, alle magi-
schen und mystischen Werte auf sich konzentrierte und deshalb die Töpferei keinen genau be-
zeichneten Platz im Inventar der beruflichen Idiosynkrasien erhielt (S. 18). Die Indianer der bei-
den Amerikas dagegen kannten die Metallverarbeitung nicht, und deshalb konnte bei ihnen die
Töpferei die Bedeutung erhalten, die bei uns dem Schmiedehandwerk zukommt. So schließt
sich der Kreis. Eine Lücke im Inventar der Berufe veranlaßte Lévi-Strauss ein semantisches Feld
zu erschließen, das uns die Töpferei wie in einem Vergrößerungsspiegel (S. 327) vor Augen
führt. Mit dem Reichtum an Bedeutungen, mit der die Töpferei in den Mythen der beiden Ame-
rikas ausgestattet ist, können wir die Lücke bei uns schließen.
Heike Behrend
Moermann, M.: Talking culture. Ethnography and conversation analysis. 211 Seiten. Phil-
adelphia: University of Pennsylvania Press 1988.
Moermann begreift sprachliche Äußerungen als Schnittstelle von Sprache, Gesellschaft,
Kultur und Gedanken ("among language, society, culture and thought" S. IX). Ethnologen und
Ethnologinnen sind aber oft nicht ausreichend in der Lage, sprachliche Äußerungen adäquat
aufzunehmen und zu analysieren. Ethnologische Konversationsanalyse mit linguistischen Me-
thoden sollte demnach ein zentraler Aspekt von Feldforschung werden.
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln mit jeweils mehreren Unterkapiteln, zwei Appendices,
einer ein Transkript von Gesprächen in Thai und in amerikanischem Englisch, der andere ein
Tagungspapier von Michael Moermann und Harvey Sacks, daneben Anmerkungen, der Biblio-
graphie und zwei Indices. Die einzelnen Kapitel gingen aus Tagungspapieren des Autors zu un-
terschiedlichen Gelegenheiten hervor.
Als empirische Beispiele, auf die in allen Kapiteln zum Mitlesen verwiesen wird, dienen
Transkripte aus einer Feldforschung in Thailand und Transkripte von amerikanischer Konver-
Buchbesprechungen
311
sation. Im ersten Kapitel wird ein essayistischer Abriß über die kulturspezifische Konversa-
tionsanalyse, ihre Anwendungsmöglichkeiten und ihre Bedeutung in der ethnologischen For-
schung gegeben. Das zweite Kapitel befaßt sich mit überlappendem, simultan Gesprochenem
von mindestens zwei Sprechern. Dieses alltägliche Geschehen beim Sprechen verlangt mehr
Aufmerksamkeit als bisher, weil es spontan ist und unvermittelte Einsicht in das soziale Leben
gibt. Im dritten Kapitel werden Aussagen über nicht-anwesende Personen, die Struktur, Form
sowie Bedeutung dieser Aussagen für die ethnographische Konversationsanalyse in das Zen-
trum gerückt. Thai und Amerikanisch unterscheiden sich dahingehend, daß im Thai Personen
nicht hauptsächlich durch ihren Namen im Gespräch erwähnt werden, sondern durch ihren Ti-
tel plus Namen. Das Beispiel soll verdeutlichen, daß soziale Beziehungen in Kulturen unter-
schiedlich kategorisiert und benannt werden. Die Verbindung von Sprache und Handeln in Ab-
hängigkeit von der Sozialstruktur wird im vierten Kapitel an einem Thai-Beispiel übergreifend
behandelt. Im fünften Kapitel wird dieser Zusammenhang anhand eines transkribierten dreimi-
nütigen Gesprächs in Thai im Detail analysiert. Mit den Methoden der Konversationsanalyse
kann man hierbei die soziale Position der Sprecher in ihrer Gesellschaft herausarbeiten. Das
letzte Kapitel behandelt Aussagen über die „wirkliche Welt" ("real world" S. 101) und schlägt
die Brücke zum Anfang. Gesprochenes über die Welt weist noch einmal auf den Zusammen-
hang zwischen dem einzelnen Akteur und seiner sozialen Umwelt hin, der im Zentrum der
Konversationsanalyse steht.
Die einzelnen Kapitel stellen, wie schon erwähnt, Vortragspapiere dar, die etwas unvermit-
telt aneinander gereiht wurden. Die nicht immer klare und eindeutige Sprache trägt dazu bei,
daß viele Gedanken und Konzepte zwar breit angelegt werden, aber innerhalb der Kapitel im-
mer wieder zerlaufen. Die theoretische Grundlage wird in Form von Zitaten renommierter
Theoretiker aus den Sozialwissenschaften und Philosophen, wie z. B. Sacks, Schegloff, Geertz,
Weber, Heidegger, Dilthey und Wittgenstein, vermittelt. Der eigene Standpunkt des Autors
tritt nicht klar genug hervor. Die Transkriptionen im Anhang sind ausführlich. Sie beinhalten
Symbole für simultanes Reden, Sprechpausen in Sekunden, Sprechgeschwindigkeit, Lachen,
Aussprache. Sie sind fruchtbar für die ethnologische Texttranskription, weil sie auf die vielen
unterschiedlichen kulturspezifischen Ausdrucksmöglichkeiten sozialer Realität aufmerksam
machen, die über die Sprache vermittelt wird. An Diskursanalyse interessierte Ethnologen und
Ethnologinnen können aus dem Buch nützliche Hinweise und Anleitungen zur Erstellung von
Transkriptionen und ihre ethnologische Analyse gewinnen. Allerdings hätte eine durchgängi-
gere und straffere Gliederung es dem Leser und der Leserin erleichtert, den Stoff des Buches zu
erschließen.
Jutta Daszenies
Püschel, E.: Die Menstruation und ihre Tabus. Ethnologie und kulturelle Bedeutung. Eine
ethno-medizinische Übersicht. 172 S., 56,- DM, ISBN 3-7945-1180-8. Stuttgart, New York:
Schattauer 1988.
Es hat Tradition, daß Mediziner ethnologische Ubersichtswerke verfassen, in denen sie die
kulturellen Umgangsweisen hinsichtlich der Menstruation und anderen reproduktiven Kapazi-
täten des weiblichen Körpers darstellen (Ploss/Bartels 1887, Crawfurd 1915, Buschan 1935,
Schadewald 1953). Diese Werke werden, vor allem in populärwissenschaftlicher Literatur, noch
immer vielfach verwendet und zitiert, obgleich sie an heutigem Wissen gemessen unhaltbar sind.
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Insofern ist es zunächst erfreulich, daß Prof. Dr. med. E. Püschel eine neue, umfangreiche
Materialsammlung zu diesem Thema vorlegt. Er beabsichtigt eine weltumspannende Bestands-
aufnahme von Auffassungen und Umgangsweisen bezüglich der Menstruation, ohne jeden An-
spruch auf eigene Interpretation. Konsequenterweise enthält Püschel sich auch weitgehend der
Wiedergabe theoretischer Erklärungsmodelle anderer. Das Buch stellt sich dar als eine durch
Stichworte an den Seitenrändern übersichtlich gestaltete und durch prächtige Farbfotos anspre-
chende Zusammenstellung der Riten und Tabus um Menstruation und Menarche, ergänzt durch
Karten zur geographischen Verteilung von Beschneidung, Lichtschutz und Hütten für men-
struierende Frauen und durch einen Anhang zum Thema „Menstruationsschutz".
Wie sich ebenfalls schon an der äußeren Form zeigt, besteht Püschels Arbeit aus einer regio-
nal gegliederten Aneinanderreihung von Zitaten. So findet sich, nach einem knappen Uberblick
über das Verständnis der Menstruation gemäß den Schriften der Weltreligionen, zunächst ein
Abschnitt zur „kultur- und geistesgeschichtlichen Entwicklung" in Europa, in dem allerdings
die Gegenwart vollkommen ausgespart bleibt, ebenso wie jeglicher ideengeschichtlicher und ge-
sellschaftspolitischer Zusammenhang der zitierten medizinischen Schriften. In der Folge wird
die Darstellung dann vollends ahistorisch und gänzlich isoliert. Da werden ca. 80 Länder in aller
Kürze abgehandelt, teilweise nur durch die Wiedergabe eines einzigen Autors bzw. dessen Aus-
sagen über „Verbote", „Absonderung", „Unreinheit", „Hütten", „Kohabitation", „magische
Kraft" usw. in Zusammenhang mit Menstruation und Menarche, - so die vereinheitlichenden
Stichworte zu „Tabu-Charakteristika" an den Seitenrändern. Diese Schilderungen der den
Frauen auferlegten Restriktionen hören sich meist wahrhaft schauerlich an.
Dementsprechend ist die traurige Überraschung: die Autoren, welche da zur Sprache kom-
men, sind überwiegend wieder die oben genannten ethnologisch ambitionierten Mediziner,
nebst wohlbekannten Klassikern wie Frazer, Crawley und Webster, durchmischt mit etlichen
neueren Autoren und Autorinnen, die sich aber teilweise wiederum auf dieselben alten Werke
gestützt haben, wie beispielsweise Delaney u. a. (in der Frauenzeitschrift „Courage" 1979). Das
heißt, wir bekommen hier einen neuerlichen Aufguß der bruchstückhaften Verarbeitung von
Berichten früher Reisenden, Missionare, Kolonialbeamter und Kaufleute, welche den „Arm-
chair-Anthropologists" ihr Datenmaterial lieferten. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die
Berichte dieser Herren über Verhaltensweisen während der Menstruation, wie auch immer ihre
Beobachtungen zustande gekommen sein mögen.
Kommentar- und kritiklos gibt Püschel diese Quellen wieder. Er will sie selbst sprechen las-
sen. Das hat immerhin den Vorteil, daß er somit weder ihre rassistisch-sexistische Sprache noch
ihre sachlichen Fehler kaschiert. Mehr noch: er übernimmt sie sogar in seinen eigenen Uber-
schriften und Einleitungen wenn er von der „Australnegerin" und den „Kaffern-Stämmen"
spricht, die kolonialen Bezeichnungen für afrikanische Staaten verwendet und Süd- und Süd-
ostasien geographisch falsch einteilt.
Somit kann durch dieses Buch ein weiteres Mal die Aufmerksamkeit auf den mißlichen Ge-
brauch ethnologischer Quellen gelenkt werden. Insbesondere werden erneut die Einseitigkeit
und die Verzerrungen des männlichen ethnographischen Blickes auf weibliche Körperlichkeit
deutlich, wenn man die Zitate liest, in denen menstruierende Frauen als stumme Opfer unzivili-
sierten Aberglaubens erscheinen, weltweit verabscheut, gefürchtet, gemieden.
Daß Püschel die neuere ethnologische Literatur zum Thema nur sehr unvollständig aufgear-
beitet hat, ist zwar bedauerlich, aber wohl damit zu erklären, daß sein Metier eben nicht die Völ-
kerkunde ist. Unverständlich bleibt allerdings, daß er auch eine Langzeitstudie der Weltgesund-
heitsorganisation übersehen hat (WHO, Snowdcn/Christian 1983), in der immerhin das erste
Buchbesprechungen
313
Mal in systematischer Weise die Frauen selbst in 10 verschiedenen Ländern nach ihren eigenen
Verhaltensmustern und Wahrnehmungen bezüglich der Menstruation befragt wurden. Dabei
erwies sich, daß Frauen in den meisten Kulturen ihre Blutung in einem positiven Licht sehen.
Als Vergleich zu Piischels Arbeit empfehlen sich die gleichzeitig erschienenen Aufsätze in
dem Band „Blood magic. The anthropology of menstruation" (Buckley/Gottlieb 1988), durch
welche die historische und ethnographische Vielfalt und die symbolische Komplexität der kul-
turellen Konstruktionen der Menstruation im Zusammenhang konkreter Gesellschaften deut-
lich werden.
Judith Schlehe
Reimann, H. (Hg.): Soziologe und Ethnologie. Zur Interaktion zwischen zwei Disziplinen.
Beiträge zu einem Symposium aus Anlaß des 80. Geburtstages von Wilhelm Emil Mühlmann.
190 Seiten. ISBN 3-531-11853-6. Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. DM 29,80.
Im Dezember 1984 veranstaltete Horst Reimann an der Universität Augsburg ein Festsym-
posium zur Feier des 80. Geburtstags von Wilhelm Emil Mühlmann, emeritiertem Professor für
Soziologie und Ethnologie an der Universität Heidelberg. Alle Teilnehmer am Festkolloquium
waren Schüler Mühlmanns gewesen und zum Teil später auch seine Mitarbeiter an den Univer-
siäten Mainz und Heidelberg. Die Tatsache, daß der Festakt in Augsburg stattfand, spiegelt die
Entwicklung an der Universität Heidelberg wieder, die bald nach Mühlmanns Emeritierung zur
Auflösung der Ethnologie in dem von ihm gegründeten „Institut für Soziologie und Ethnolo-
gie" führte.
In dreizehn Beiträgen kommen außer dem Jubilar selbst und Horst Reimann, dem Organisa-
tor und Herausgeber der Festschrift, Richard Münch (Soziologie, Universität Düsseldorf),
Claus Mühlfeld (Soziologie, Universität Bamberg), Bernhard Giesen (Soziologe, Universität
Gießen), Peter Meyer (Soziologe, Universität Mainz), Helga Reimann (Soziologin, Universität
Augsburg), Ernst W. Müller (Ethnologe, Universität Mainz), Dieter Goetze (Soziologe, Uni-
versität Regensburg), Hans Norbert Fügen (Soziologe, vormals Universität Heidelberg), Chri-
stian Giordano (Kulturanthropologe, Universität Frankfurt) und Michael Schmid (Soziologe,
Universität Augsburg) in meist kurzen Beiträgen zu Wort. Weitere aktive Teilnehmer am Fest-
kolloquium waren Heinz Göhring (Ethnolinguist, Germersheim), Gerhard Hauck (Soziologe,
Heidelberg), Hans Peter Henecka (Soziologe, Heidelberg), Klaus Kiefer (Soziologe, Augs-
burg), Roberto Llaryora (Soziologe, Köln), Georg Schwägler (Soziologe, Mainz) und Emil
Zimmermann (Ethnologe, Freiburg) zu Wort.
In der Mehrzahl der hier abgedruckten Beiträge geht es um Fragen der Universitätsdiszipli-
nen Soziologie, Ethnologie und Geschichte, ihre theoretischen Grundbegriffe, ihre Methoden
und ihre Verflechtungen miteinander. Der Bezug zu Mühlmanns Lebenswerk ist damit evident.
Er geht jedoch noch weiter: Der Ansatz fast aller Beiträge ist dem Miihlmannschen frappierend
ähnlich und als Phänomenologie im Methodologischen bzw. Begriffserklärung im Inhaltlichen
charakterisiert. Die Beschäftigung mit theoretischen Denkmodellen und Grundbegriffen unter
Vernachlässigung eines spezifischen Bezugs zur Lebenswirklichkeit von Menschen, Gesell-
schaften und Kulturen und der damit einhergehende Mangel an direkt auf die Empirie anwend-
barer Aussagen charakterisiert sowohl den Jubilar wie die Beiträge seiner hier zu Wort kom-
menden Schüler. Man kann also sagen, es geht um das theoretische und begriffliche Erfassen all-
gemeiner Merkmale und Entwicklungen menschlicher Existenz, Themen also, die sowohl der
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Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Ethnologie (wenn man sie, wie Mühlmann, als theoretische Disziplin begreift, deren konkretes
Unterfutter die Ethnographie bildet) als auch der Soziologie zu eigen sind. Eine Ausnahme von
diesen begriffskritischen und abstrakten Abhandlungen bildet Helga Reimanns Beitrag „Der in-
terkulturelle Vergleich in der Frauenforschung". Hier wird ein state-of-the-art Einblick in den
Stand und die Probleme der auf sehr konkreter Ebene operierenden Frauenforschung ohne jede
Prätention abgehobener Einsichten geboten. Dem Rezensenten bot dieser Beitrag erfreulich
klare Informationen über ein ihm bisher fremdes Forschungsgebiet.
Ich will nur noch zwei Beiträge, die mir besonders anregend erscheinen, knapp charakteri-
sieren. Hans Norbert Fügen spricht mit seinem Beitrag „Anthropologie und Literatursozio-
loge" ein für die meisten Fachwissenschaftler neues oder doch ungewöhnliches Feld an, nämlich
Mühlmanns Versuch in Büchern von 1981 und 1984 Dichter von Weltrang, wie Annette von
Droste-Hülshoff und Miguel de Cervantes Saavedra, in den ethnologischen Kategorien „Scha-
manismus", „Chiliasmus" und „Weibmächtigkeit" zu erfassen. Es ist anregend zu lesen, wie
Fügen fünf Ebenen literatursoziologischer Wirklichkeit bestimmt und Mühlmanns implizites
Operieren auf diesen Ebenen und seine Theorien und Argumentationsstrategie herausarbeitet
und beurteilt. Im letzten Beitrag greift Horst Reimann „Probleme interkultureller Kommuni-
kation: Massenmedien und Entwicklungsgesellschaften" auf und spricht deutlich und direkt die
Hauptkategorien, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Probleme unterschiedlicher Kom-
munikationsstrukturen und -prozesse unter globalem Blickwinkel an. Wenn er auch in der
Kürze nicht Feinanalysen und ausgearbeitete Modelle darlegen kann, so bietet er doch durch
sein ausführliches Referat der empirischen Untersuchung in Bénin von U. Saxer und R. Gros-
senbacher (Manuskript von 1984) eine ansonsten in diesem Band oft vermißte Verankerung in
der Lebensrealität eines Entwicklungslandes und seiner gesellschaftlichen Gruppen.
„Biographische Notizen zu den Autoren" (so der Titel des letzten Kapitels), Mühlmanns ei-
gene locker referierten Erfahrungen und Einsichten auf Reisen nach der Emeritierung („Zwi-
schen Trapani und Tahiti") und die „Einführung" von Horst Reimann geben dem Leser außer-
halb des engeren Mühlmann-Kreises interessante Fakten an die Hand, die mich zu folgenden
weiterführenden Gedanken veranlassen: Die sich selbst als Mühlmann-Schüler Verstehenden
stellen nur einen kleinen, homogenen Ausschnitt aus Mühlmanns direkter Schülerschaft in
Mainz und Heidelberg dar. Die definitive Evaluation seiner persönlichen Wirkung während der
insgesamt 20jährigen Hochschullehrertätigkeit in Mainz und Heidelberg wäre auf eine reprä-
sentative Grundlage zu stellen. Das scheint auch dem Herausgeber deutlich, wenn er sich be-
müht, in einer Anmerkung (Fußnote 23, Seiten 6-7), den Kreis der Schüler weiter zu fassen. In
einer Bestandsaufnahme, die Mühlmanns gesamtes Lebenswerk umspannt, wäre außerdem
nach seiner eigenen Formung zum Wissenschaftler als Student in Freiburg, München, Hamburg
und Berlin und nach den prägenden Erfahrungen aber auch Wirkung in der Zeit des Dritten Rei-
ches (er war seit seiner Promotion 1931 in Berlin tätig und von 1939-1945 Privatdozent an der
Universität) zu fragen und nach der durch seme Schriften vermittelten Wirkung im Ausland
(oder blieb er, da er fast nur auf Deutsch und in Deutschland publizierte, unbeachtet?). Schließ-
lich, und das ist vielleicht der wichtigste über den Anlaß des hier besprochenen Buches hinaus-
weisenden Aspekt, wäre es lohnend, Mühlmanns Begriffe und Theorien präzise zu fassen, zu
kritisieren, in ihrer empirischen Brauchbarkeit zu prüfen und geistesgeschichtlich zu verorten.
Ansätze dazu sind in der vorliegenden Festschrift vorhanden, jedoch erfordert die Breite und
der Umfang von Mühlmanns Lebenswerk, sein Ideenreichtum verbunden mit gelegentlich
mangelnder Prägnanz und Konsistenz eine detaillierte Analyse und anschließende, systemati-
schere Abhandlung als es kurze Beiträge verschiedener Autoren im Rahmen eines Festkolloqui-
Buchbesprechungen
315
ums vermögen. Da Mühlmann 1988 verstorben ist (s. Nachruf von E. W. Müller in diesem
Heft), ist sein Lebenswerk abgeschlossen und die hier skizzierten Aufgaben könnten sogleich
angegangen werden.
Berthold Riese
Rössler, M.: Die soziale Realität des Rituals. Kontiuität und Wandel bei den Makassar von
Gowa (Süd-Sulawesi/Indonesien). (Kölner Ethnologische Studien 14) Berlin: Dietrich Reimer
Verlag.
Das Buch von Martin Rössler über die „Makassar" von Gowa ist in drei Teile gegliedert.
Den ersten Teil (S. 1-54) kann man als die eigentliche Einführung auffassen. Er führt in das
Thema der Arbeit ein, indem der Autor seine Methodik und theoretischen Ansätze erläutert so-
wie die Gowa und die Kultur eines ihrer Dörfer vorstellt. Der nächste Teil (S. 55-114) behandelt
ausführlich die verwandtschaftliche und politische Organisation, die traditionelle patuntung-
Religion, den adat-Y^.omp\ex sowie die Geschichte und gegenwärtige Rolle des Islam. Der dritte
Teil schließlich (S. 115-341) bildet das Kernstück des Buchs. Er behandelt sowohl die wichtig-
sten traditionellen nicht- oder wenig-islamisierten Rituale als auch die dem islamischen Kalen-
dersystem folgende Rituale.
Ergänzt wird das Buch durch ein Vorwort, eine zusammenfassende Darstellung der Thema-
tik des Buchs, Karten und Grafiken mit entsprechendem Verzeichnis, eine orthograpische No-
tiz, einen Anmerkungsteil, verschiedene Appendices, ein Glossar sowie eine Bibliographie. Ein
Mangel auf den ersten Blick ist das Fehlen eines Registers. Der Autor verwendet sehr häufig ein-
heimische Begriffe und diese werden selbstverständlich nicht bei jedem Vorkommen nochmals
erklärt. Deshalb hätte ein Register durchaus seine Berechtigung, zumal das Glossar nicht auf
entsprechende Seitenzahlen verweist. Ferner möchte ich vorweg noch bemerken, daß die An-
ordnung der Anmerkungen zwar einem durchaus üblichen Schema folgt (Numerierung pro Ab-
schnitt), meines Erachtens aber eher unhandlich ist: Eine fortlaufende Numerierung aller An-
merkung scheint mir einfacher und praktischer für den Leser zu sein.
In seiner Einleitung nennt der Autor drei Ziele seiner Forschungen. Zunächst geht es ihm
um das Schließen einer Lücke in der ethnographischen Forschung, da die bestehende Fachlitera-
tur die (Berg-)Makassar von Gowa nur sehr am Rande erwähnt und die einheimische Religion
überhaupt nicht erfaßt wurde. Zweitens will er die Islamisierung der Makassar untersuchen und
stellt sich dabei die Frage, welchen Stellenwert der Islam unter der einheimischen Bevölkerung
des Untersuchungsgebiets besitzt. Folglich (und schließlich) ist es sein Anliegen, die konkreten
Auswirkungen unter anderem dieser Islamisierung - verstanden als ein Prozeß sozialen Wan-
dels mitsamt den sozialen Konflikten - zu erforschen. Ansatzpunkt für seine empirischen Un-
tersuchungen soll das Individuum sein, also nicht die generalisierte Dorfgemeinschaft an sich,
und zwar im Kontext der Durchführung von Ritualen. Der Autor will „einen bestimmten Aus-
schnitt der gesellschaftlichen Realität in [dem Dorf] Bontolowe [...] beschreiben: die Artikula-
tion sozialer Beziehungsmuster im Ritual." (S. 4). Im eher theoretischen Teil der Einleitung (Er-
ster Teil, Abschnitt 1) kommen denn auch erwartungsgemäß Konzepte wie Normenkomplex,
Idealmodell, gesellschaftliche Realität, individuelle Handlungsweisen, Wandelprozeß, soziale
Konflikte usw. zur Sprache. Im Grunde genommen geht es also um die Problematik des „Soll-
und Ist-,Zustandes'" (und dessen Darstellung!), wobei die üblichen Wechselwirkungen zwi-
schen beiden durch die von außen herangetragenen Prozesse der Islamisierung eine zusätzliche
316
Zeitschrift für Ethnologie 114 (1989)
Dimension für die ethnologische Analyse erfahren. Daß soziale (bzw. individuelle) Konfliktsi-
tuationen „auch in die rituelle Handlung einfließen" (S. 10), scheint mir völlig klar. Was aber der
Autor nicht anspricht, ist die Frage, ob die Rituale selbst - oder die Durchführung von Ritualen
- ein Mittel nicht nur zur Analyse des Wandels und der sozialen Realität, sondern auch und ge-
rade zum Ausgleich, zum Abbau von sozialen Konflikten sind. Das „Aufeinanderprallen"
zweier Religionen schafft sicher Konflikte (und erst recht vor einem national-politischen Hin-
tergrund) - wie es der Autor ja zeigt -, aber ich frage mich, ob Rituale, seien sie nun islamisch
oder prä-islamisch, nicht doch einen stabilisierenden Faktor in einem dynamischen sozial-reli-
giösen Lebensprozeß darstellen können.
Es ist Rössler gut gelungen, die verschiedenen Rituale im dritten Teil seines Buchs, gerade
bei der Fülle ethnographischer Details, darzustellen. Lebendig und für den Leser erfreulich
wirkt zudem die Beschreibung konkreter „Fälle", die der Autor selbst beobachten konnte und
die also an Personen „aufgehängt" sind. (Mit „Fall" meint er „den Vollzug eines jeden Rituals"
[S. 12] im Rahmen seines sozialen Umfeldes.) Als nicht - oder nur wenig islamisierte Rituale -
Rituale also, die auf der einheimischen patuntung-Religion und dem ííí¿2£-Komplex beruhen -
klassifiziert er die Rituale des landwirtschaftlichen Zyklus, protektive Rituale und Rituale des
Gelübdes. Im Grenzbereich von patuntung-Religiori, adat und Islam gehören die „rites de pas-
sage". Offiziell scheinen sie islamisiert zu sein bzw. deutlich islamische Elemente zu enthalten,
bei näherer Betrachtung jedoch fällt auf, daß der Stellenwert des islamischen Gedankenguts
dennoch eher gering ist. Besonders deutlich kommt das Spannungsverhältnis zwischen patun-
tawg-Religion und Islam in den rein islamischen Ritualen wie zum Beispiel im maudud-Fest,
dem Geburtstagsfest des Muhammad, zum Ausdruck.
In seiner Zusammenfassung geht Rössler allerdings auf den oben von mir angesprochenen
Fragenkomplex hinsichtlich einer ausgleichenden Rolle der Rituale ein, aber eher im Rahmen
der religiösen Toleranz auf der einen und der „Verurteilung von Synkretismen" (S. 357) durch
den Islam auf der anderen Seite. Sein Fazit ist eher negativ und pessimistisch: Die (traditionel-
len) Konfliktmuster erfahren durch eine entscheidende „Erweiterung des Normenpotentials"
(S. 359) aufgrund der von außen kommenden (religiös-politischen) Einflüsse eine zusätzliche
Betonung, wodurch die sozialen Konflikte eher verschärft werden dürften.
Abschließend noch Folgendes: Ich frage mich, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, gerade in
den theoretischen Teilen des vorliegenden Buchs und im Sinne einer „Tauglichkeitsprüfung",
auf die von J. P. B. de Josselin de Jong entwickelte Theorie des FAS (Field of anthropological
study) einzugehen, zumal die synkretistischen Fähigkeiten indonesischer Kulturen ja eines der
vier „structural core"-Elemente darstellen. Eine Auseinandersetzung mit FAS hätte, glaube ich,
gerade in dieser ethnographisch sehr detaillierten und überaus wertvollen Arbeit, die sich aus-
drücklich mit Kontinuität und Wandel befaßt, eine Bereicherung bedeutet.
Danker H. Schaareman
Sr
ZEITSCHRIFT
FÜR
ETHNOLOGIE
der Deutschen Gesellschaft
für Völkerkunde und der
Berliner Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte
Band 114
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