Das Recht der Polarvölker.
Von Dr. Herbert König, Köln a. Rhein.
Vorwort.
In meiner Arbeit „Der Rechtsbruch und sein Ausgleich bei den Eskimo 1U
habe ich versucht, die bei diesem Volke für die Ahndung von Vergehen herrschen
den Gebräuche im einzelnen darzustellen. Die Arbeit war ursprünglich so ge
dacht, daß sie das ganze Recht der Eskimo zusammenfassend veranschaulichen
sollte. Im Verlaufe meiner Studien fand ich aber, daß, gerade bei dem Mangel
jeglicher Quellenkritik und Interpretation auf diesem Gebiete, die Beschränkung
auf ein engeres Feld im Interesse der wissenschaftlichen Genauigkeit dringend
geboten war, und. ich behielt die Behandlung des Rechtes der Eskimo, soweit es
nicht die Sühne von Rechtsbrüchen betrifft, einer späteren Zeit vor. Die ver
gleichende Rechtswissenschaft und besonders ihr jüngster Zweig, die ethnologische
Jurisprudenz, braucht als sichere Grundlage für ihr Weiterkommen das, was schon
Albert Hermann Post, ihr Begründer, betont hat, nämlich genaue Einzel
darstellungen des Rechtes eines jeden Volkes oder auch nur eines Teiles dieses
Rechtes. Immerhin braucht man sich nicht sklavisch an diesen Grundsatz zu halten;
denn schon bei der Betrachtung der Rechtsverhältnisse eines einzelnen Volkes ist
es durchaus von Wert, einen Blick auf die Nachbarvölker zu werfen, um so mehr
als das wissenschaftliche Interesse an der Forscherarbeit dadurch gefördert wird.
Der Vergleich mit anderen Völkern hat den Vorteil, daß er den Blick für Unter
schiede schärft, also auf Probleme aufmerksam macht, und wirkt somit auf das
engere Untersuchungsgebiet befruchtend zurück, solange man sich, und das ist
seine Gefahr, vor voreiligen Schlüssen aus solchen Vergleichen hütet. Aus diesem
Gedanken heraus habe ich in der vorliegenden Arbeit nicht nur das Recht der
Eskimo zum Gegenstand meiner Untersuchung gemacht, sondern auch die
eurasiatisehen Polarvölker mit ihren gesamten Rechtsgebräuchen in den Kreis meiner
Betrachtungen gezogen. Auf der anderen Seite habe ich aber selbstverständlich
auch das bereits in meiner früheren Schrift behandelte Strafrecht der Eskimo mit
berücksichtigt, da sonst ja eine wesentliche Lücke entstanden wäre. Überflüssige
Wiederholungen sind dabei natürlich vermieden worden. Dagegen hatte ich Ge
legenheit, die in meiner früheren Arbeit getroffenen Feststellungen nach den
inzwischen bekanntgewordenen Forschungsergebnissen zu vervollständigen bzw.
zu berichtigen.
Einige Zweifel bestanden über den Umfang des Begriffes „Polarvölker“.
Man sollte seine Bestimmung am ersten bei Riedel 111 finden. Das ist aber leider
1 „Anthropos“, XVIII—XIX [1923—1924], 484-515, 771-792; XX [1925], 276-315.
lft Riedel, Die Polarvölker, Halle 1902l
Anthropos XXII. 1927.
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