Mit besonderer Herürksichtrgnng der Anthropologie und Ethnologie.
B e g r il n d e t von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Armiti irsi tu pt r» Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1
l il U U I Uf U tiy zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. -40 0ei
Brügge.
(Nach dem Französischen des M. Camille Lemonnier.)
I.
Brügge, die Hauptstadt der belgischen Provinz West
flandern, einst der Mittelpunkt des Welthandels, die Königin
des Nordens, ist heute eine tief gesunkene Stadt; aber in
ihrem Aenßeren hat sie ihre frühere Pracht sich bewahrt.
Zum Ausgangspunkte unserer Wanderung nehmen wir
eines jener mittelalterlichen Thore, welche in gewissen Ab
ständen die alten Wälle durchbrechen; heute vermitteln sic
nur den Verkehr der Stadt mit dem platten Lande, aber
ihr verwittertes Mauerwerk verräth noch überall ihre ein
stige kriegerische Bestimmung. Senkrecht erhebt es sich
ans dem Graben, der die Stadt umzieht, und steht mit
dem äußeren User nur durch hölzerne Brücken, die meist
noch ihre malerischen Ketten zum Aufwinden besitzen, in
Verbindung. Zwischen bciu Ostender- und Gcnterthore
geht man zuerst an grünen, mit Windmühlen besetzten
Erdhügeln entlang, durch deren Einschnitte man das ver
steinerte Meer von Spitzen und Thürmen im Inneren
erblickt, während nach außen sich, soweit das Auge reicht,
feuchte, üppige Wiesen erstrecken. Allmählich verschwinden
die Hügel und an ihre Stellen treten die letzten Ausläufer
von Vorstädten, ein Durcheinander von gezackten Giebeln,
schiefen Essen, krummen Dächern und spitzen Thürmchcn,
von modernen Fagaden mit regelmäßigen Fensterreihen,
und zuletzt befindet man sich in einer Art Park, wo die
Wälle zu schön bepflanzten Anhöhen geworden sind, zwischen
denen Rasenplätze mit Blumenbeeten sich hinziehen. Dann
erblickt man durch eine Allee von Weißbuchen die kleinen
Globus XLVII. Nr. 6.
weißen Häuser des Bcgnincnklosters und steht plötzlich vor
dem stillen poetischen „Minnewater" (Licbessec), den große
schattige Bäume umgeben, blühende Wasserrosen bedecken
und prächtig grüne Rasenteppiche einfassen. Am Ufer hin
führt ein schmaler Steg zu dem Eingänge des Beguinen-
klosters, der zu einem mit hohen Ulmen bepflanzten Erd-
anfwurfc führt. Im Schatten derselben bewegen sich lang
sam und gebeugt dieselben Gestalten, wie in den Beguinen-
höfen Mechelns, Gents und Courtrais, mit denselben weißen
Hauben, dem Symbole der Reinheit ihres einförmigen
Lebens. Zur Frühmette und Vesper drängt sich die fromme
Frauenschar zwischen den Säulen der kleinen Kapelle,
welche neben der Eingangspforte steht, und nach Beendigung
des Gottesdienstes schleichen sie die grasbewachsenen Güß-
chen, die sie gekommen sind, wieder hinab und verschwinden
eine nach der anderen hinter den Thüren ihrer kleinen
Wohnungen, in denen sie ihre Tage mit Gebet und häus
lichen Beschäftigungen hinbringen.
Von dem Walle, welcher sich neben dem Kloster erhebt,
hat man einen prachtvollen Blick über die Stadt; cs zeigt
sich dort dem Auge ein Bild, wie es der anspruchvollste
Künstler nur wünschen könnte, mit Vorder-, Mittel- und
Hintergrund, mit Gegensätzen von Licht und Schatten,
einem bewegten Linienspiele und allen Bedingungen jener
versteckten Schönheit, die ein echtes Kunstwerk ausmachen.
Und namentlich, wenn im Frühling das helle Grün der
jungen Blätter sich dazu gesellt, so ist die Landschaft von
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