G l o b u s
XLYII. Band.
Illustririe
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer Hemcksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Anrt Mndree.
In V e r b i n d u n g mit Fach m ä n n e r n
herausgegeben von
Dr. Kichnrd Kiepert.
Siebenundvierzigster Band.
Wo{)oM
Grnu» schweig,
Druck und Verlag von Friedrich V i c w e g und Sohn.
1 8 8 5.
Inhaltsverzeichnis
Deutsches Reich. Paul Höfcr über den
Feldzug des Germanicus im Jahre 16.
58. Der Verein für Erdkunde zu Halle
62. Verbreitung des bayerischen Stam-
mes 94. Das Rügenwalder Amt. Von
Dr. Zechlin 156. 168. 203. 219. Die
Verhandlungen des vierten deutschen
Geographentages 175. Troglodyten im
Harz 222. Die Stätte der Varusschlacht
239. Eisenproduktion 271. Würtem-
bergischer Verein für Handelsgeographie
383. Einfluß der Gotthardbahn 383.
Oesterreich-Ungarn. Zu- und Ab-
nahme der Bevölkerung und Verhältniß
der Geschlechter 94. Zugänglichmachung
der unterirdischen Flußthäler in Krain
222. Führer von Budapest 271. Vom
krainerischen Karste. Von F. Kraus
380.
Russisches Asien. Sibirien. Pol-
jakow über Sachalin 62. Ausbreitung
des Christenthums.63. Das Lamakloster
Tsugolsk und das Fest Churul zu Ehren
Mayderi's. Rach G. Stukow 105.
Von der Lena-Expedition 238. Gold-
lager am Amur 239. Golochwastow's
Reise 255. Poljakow's Rückkehr 255.
Ein neuer Handelsweg nach Sibirien
285. Untersuchung des Ob-Busens 286.
.Hochzeitsbräuche im Altai 301. Ueber
die Herstellung einer Wasserstraße zwischen
Ob und Jenissei 311. Radlosf's „Aus
Sibirien" 351.
Transkaspisches und Mittelasiati-
sche Gebiete. Grum - Grishimailo's
Reise 31. Baumwollenkultur 46. Be-
deutung von Merw 46. Einwanderung
aus China 63. Schwefellager 63. 223.
Rechtspflege bei den Kirgisen 95. For-
schungsreise nach Transkaspien 223.
Alterthümer in Turkestan 286. Ambu-
lanz für eingeborene Frauen in Taschkend
318. Das südwestliche Turkmenien, das
Land der Saryken und Saloren. Nach
Lessar 348/359. Die Bahn nach
Merw 366.
Kaukasien. Reisen in Guricn und am
oberen Kur. Nach Carla Serena I.
Deutscher Im- und Export 128. Eine
geschwindelte Afrikareise 208. Jocst's
Europa.
Dänemark. Ludwig Holberg als Geo-
graph 28. Die angebliche neue Insel
bei Kap Reykjanes. Von H. B a y 75.
Kampf der Buche und der Birke 95.
Die Erforschung des Inneren von Is-
land. Von Th. Thoroddson 185.
Keilhack über Island 207. Die Thier-
welt Islands 223.
Skandinavien. Rabot's Arbeiten am
Svartisen 62. Alterthumsfund zu
Bendel 110. Bevölkerung von Christia-
nia 110. Goldmine auf Bömmelöen
175. Raubthiere in Schweden 223.
Belgien. Brügge 81. 97. 113. 129.
Seehafen für Brügge 365.
Großbritannien. Das eiserne Zeitalter-
auf Foula 383.
Italien. Gsell-Fels' Reiseführer 365.
Spanien. Die Pyrenäenbahnen 223.
Asien.
17. 33. Petersen's Reisebriefe aus
Transkaukasien und Armenien 31.
Silberfunde 78. Untersuchung des
Goktschai-Sees 78.
Türkisches Asien. Ergebnisse des
Census von Cypern 127. Fortschritte
und jüdische Barbarei in Palästina 223.
Die jüdische Ackerbauschule in Jaffa
286.
Iran. Dampfer für den Karun und
Buschehr 62. Fortschritt in Kabul 62.
Die Zhob-Expedition 95. Dieulafvy's
Reise in Westpersien und Babylonien
115. 161. 177. 193. Die afghanische
Grenzkommission 159.
Türkische Chanate. Telegraphenlinie
nach Buchara 271.
Britisch-Jndien. Die Malediven 29.
Handelsverbindung mit Tibet 46. Die
Triangulation und die Bishnoics 78.
Verluste durch wilde Thiere 78. Die
Bevölkerung Indiens nach dem Reli-
gionsbekenntnisse 319. Zoologische Unter-
suchung der indischen Meere 366.
H int erind ien. Anzahl der Franzosen
in Französisch - Cochinchina 30. Zer-
störung Bhamos 62. Holt Hallett's
Reise in Siam 175. Die erste Eisen-
bahn in Französisch-Cochinchina 175.
Afrika.
„Um Afrika" 298. Fischer's „Mehr Licht
im dunklen Welttheil" 336.
Das große Erdbeben in Andalusien.
Von M. Willkomm 236. 248. Will-
komm's Spanien 303.
Portugal. Streifzüge in,Portugal. Von
Spiridion Gopaevie 42. 91. 103.
Griechenland. Die Entwässerung des
Kopais-Sees 366.
Europäische Türkei. Eifenbahnprojekte
in Ostrumelicn 62.
Rumänien. Bevölkerung und letzter
Census 62.
Rußland. Die Verwüstung der Wälder
60. Schiffbarmachung von Flüssen 110.
Bergwerksproduktion 110. Statistisches
über Finnland 143. Expedition in den
nördlichen Ural 255. Neuer Weg von
der Petschora zum Ob 255. Finnlands
Kultur 270. Der Getreidehandcl von
Libau 303.
Rückeroberung Bhamos 255. Hinter-
indischer Zollverein 271. Finanzlage
von Cochinchina 286.
China mit Vasallenstaaten. Die
Pekinger Staatszeitung und chinesische
Justiz 30. Potanin's Expedition 31.
239. Die Reise des Panditen A... k
durch Tibet 61. Das Neujahrsfest in
Lhassa 190. Prshewalski's neue Reise
in Nordost-Tibet 199. 352. Die Gold-
gruben an der chinesisch-russischen Grenze
269. 366. Telegraphenbau 271. Tempel
in Kuldscha 318.
Korea. Sklaverei, ihre Entstehung und
Aufhebung 30. Handel gleich Null 255.
Englische Marinestation in Port Ha-
milton 303. Gottscheds Reise 383.
Japan. GrafDalmas über die Japaner
223. Kostspieligkeit der Kurilen 240.
N i e d e r l ä n d i s ch - I n d i c n (und Nord-
Borneo). Bericht über Krakatau 46.
Begräbnißfeierlichkeiten bei den Dajaks
in Kutei 108. Die Britische Nord-
Borneo-Kompagnie 207. Beschneidung
bei den Völkern des Indischen Archipels
303.
Philippinen. Die medicinischen Kennt-
nisse der Eingeborenen der Insel Luzün.
Nach T. H. Pardo de Ta vera 314.
Marokko. Duveyrier's und Gimenez'
Reisen 384.
VI
Inhaltsverzeichnis
Algerien und Tunesien. Skizzen aus
Algerien. Von W. KoLelt 8. 25. 38.
171. 266. 295. Küstenaufnahmen in
Tunesien 15. Aufnahmen 224. Ein
Stamm von Gazellenjägern 256. Die
Wälder Tunesiens,303.
Türkisches Nordafrika. Die Besitz-
verhältnisse an den Küsten des Rothen
Meeres 175.
Sahara. Heilkräftige Steine aus Arauan
32. Oskar Lenz' Reise durch Nordwest-
Asrika 72. Die „Verwüstung" der Sa-
hara". Von W. Kobelt 202.
Aegyptisches Reich (oder Nilgebiet).
Im Lande der Base 55. Entdeckung
der Ruinen von Naucratis 143. Schwein-
surth's geologisch-geographische Forschun-
gen 240. Verbesserungen des Suez-
kanals 319. Arasali von Italienern
besetzt 319. Die Basen oder Kunama.
Von Jos cf Meng es 362.376. Hard-
egger und Paulitschke in Harar 384.
Französische Okkupationen 384.
Abessinien. Salimbcni in Godscham
384.
Ostafrika. Pflanzen aus dem Massai-
Lande 47. O'Neill's Erforschung des
Kilwa-Sees 63. Johnston's Aufenthalt
auf dem Kilimandscharo 75. Denhardt's
in Zanzibar 78. Die S. Lucia-Bai
78. Annektion von Bailul durch Italien
Anzahl der Chinesen 16. Anzahl der
Deutschen 32. Anzahl der Ureinwohner
96. Fortschritte im Eisenbahnwesen 110.
Wollausfuhr 256.
Südaustralien. Die Ansiedelung am
Port Darwin 93. Ermordung von
deutschen Reisenden 96. Arbeitseinstel-
lung bei den Kupferminen 256.
144. Giraud's Rückkehr aus dem In-
neren 144. Johnston über die Bevölke-
rung des östlichen äquatorialen Afrika
207. Deutsche Besitzergreifungen 224.
Die belgischen Stationen verlassen 240.
Hungersnoth 256. G. Revoil's Reise
im Lande der Benadir, Somali und
Bajun 1882 bis 1883 289. 305. 321.
337. 353. 369. Englische Interessen an
der Suaheliküste 319. Thomson's Reise
ins Land der Massai 327. 343. James'
Jagdzug nach dem Webi 366.
Seengebiet. Mtesa's Tod und Nach-
folger 240.
Inneres. Lenz'Reifeprojekt 256. Ein-
treffen zweier Weißen in Njangwe 271.
Grenfell's Fahrt auf dem oberen Congo
366.
Süden. Kaisern-Zeitung 128. Hydro-
graphische Veränderungen 256. Aurel
Schulz' Reise amTschobe und Cubango287.
Westen (südlich vom Aequator). Jsrael's
Expedition in das Herero-Land 64. Die
niederländische Afrika-Expedition 64.
207. 304. Die Missionare in Bihe 64.
Die deutsche westafrikanische Expedition
78. 128. 320. Portugals Ansprüche 78.
Ausfuhr nach Hamburg 78. Nachrichten
vom Congo 144. 336. Ein Kontrakt der
Association Internationale 176. Die
Station Mbusie 208. Die British Congo
% it |I x st s t e n.
Victoria. Geographische Konferenz 266.
Neu-Süd-Wal es. Silbererzfunde 111.
Miklucho-Maclay's Arbeiten 287. Dia-
mantgruben in Neu-Süd-Wales 302.
Dürre und Verlust an Vieh 352. Die
Eingeborenen am Mount Kosciusko 352.
Queensland. Zuckerindustrie 96. Ar-
Company 240. Massari anl Kuango
256. Wißmann's Erforschung des Kassai
272. 236. Dr. Pechuel-Lösche über das
Herero-Land 365. Schlechte Aussichten
des neuen Congostaates 367.
W e st e n (nördlich vom Aequator). Der
deutsche Handel am Gabun 15. Reiche-
now über Kamerun 16. Französisches
Kanonenboot auf dem oberen Niger 16.
Die deutschen und französischen Besitzun-
gen am Golfe von Guinea 31. Der
Handel des Togolandes 32. Colin's
Reise in Senegambien 32. Deutsche
Niger-Benue-Kompagnie 47. Belgische
Liberia-Kompagnie 47. Die schwarzen
Tirailleurs in Senegambien 78. Deut-
sches Protektorat über Capitay und Koba
160. Passavant's Reise 176. Das
Togo-Gebiet 182. Spanische Kolonien
auf Fernando Poo und bei Kap Bojador
191. Der Hof des Königs von Joruba
208. Leben in den Faktoreien bei Sher-
bro 234. 248. Deutsche Erwerbung an
der Beninküste 272. Zöller's „Togoland"
320. Flegel's „Drei Briefe an die
Freunde deutscher Afrikaforschung" 367.
Brandenburg-Preußen auf der Westküste
von Afrika 367. Von der deutschen
westafrikanischen Expedition 376.
Inseln. Kabel nach Madagaskar 63.
271. Die Herkunft der Malgaschen 319.
beitereinfuhr und Einwanderung aus
Europa 256. Giftige Fische im Salt-
water Creek 352.
W e staustrn l ie n. Expedition des Mr.
Stockdale 96. 240.
Tasmanien. Jubelfeier der Kolonie
111.
Inseln des Stillen Hceans.
Europäische Kolonien. Die natura-
lisirten Pflanzen der Provinz Auckland
318. Die Ergebnisse der deutsch-engli-
schen Südseekonlmission 368.
Neu-Guinea. Die Forbes'fche Expedi-
tion 14. Deutsche Besitzergreifungen 47.
Das Protektorat Englands über das
südöstliche Neu-Guinea 76. 174. 240.
Die charakteristischen Züge der nordamcri-
kanischen Vegetation 76.
Britisch-Nordamerika. Zubereitung
des Fischfettes 79. Das Chinook-Jargon
79. Der Mistassini - See 111. Expedi-
tionen in das Gebiet der Hudsonsbai
192. Jndustriethätigkeit in Kanada 192.
Hydrographische Untersuchung der Hud-
sonsbai 272. Der Frances-Lake 287.
Die Aufständischen und ihre Herkunft
287. Packard über Labrador 352. Das
Saskatchewan-Gebiet 384.
Vereinigte Staaten. Die sociale und
Venezuela. Die Goldproduktion von
Venezuela 109.
Guiana. Besteigung des Roraima 192. 320.
Brasilien. Brasilianische Kolonisations-
bestrcbungen 15. Die Erforschung des
Xingri 45. Zur physikalischen Geogra-
phie des Amazonas-Gebietes 111.
Sellin, Das Kaiserreich Brasilien 320.
Reise auf dem Ambernoflusse 111. 208.
Grenze zwischen deutschen: und englischem
Besitze 128. 176. 256. Australische
Expedition 256. Niederländische Expedi-
tion 368. Felsenbilder in Neu-Guinea
368.
Das übrige Melanesien. Französi-
Nordamerika.
politische Stellung der Frauen bei den
Huronen und Irokesen. Von P. E.
Richter 12.23. Der Vulkan Bogoslaw
79. Artesische Brunnen in Colorado
89. Städtegründung im nordamerika-
nischen Westen. Von A. Sartorius
Frciherrn von Waltershaufen
102. 118. 135. 150. Alpenpflanzen im
Tacoma-Gebirge 111. Die Quellen des
Mississippi gefunden 128. Der Meade-
River in Alaska 191. Erforschung
Alaskas 287. Zahl der Colleges und
Südamerika.
Export von Rio de Janeiro 384. Italie-
nische Kolonisation in Rio Grande do
Sul. Von Dr. W. Breitenb ach 334.
Koseritz' Bilder aus Brasilien 368.
Argentina. Fortschritte auf Feuerland.
112. Der obere Rio Negro und der
See Nahuel-Huapi 224. Untersuchung
sche Besitzungen auf den Neuen Hebriden
144.
Polynesien. Konkurrenz zwischen Eng-
land und Deutschland auf Tongatabu
48. Aus dem samoanischen Familien-
leben. Von I. C. Kubary 70. 86. Ab-
nahme der Bevölkerung der Gambier-
Inseln 111.
Universitäten 304. Einfuhr des Deut-
schen Reiches 352.
Mexiko. Dèstre Charnay's Reise in
Pucatan und den: Lande der Lacan-
donen 49. 65. Geöffnete Häfen 368.
Centralamerikanische Staaten.
Der Nicaragua-Kanal 64. Prähistorische
Fußspuren 176. Bevölkerung von Guate-
mala 176.
Inseln. Haiti. Von E. Metzger 216.
231. 252. 264. 279. Die Guanolager
der Bahamainseln 288.
des Rio Pilcomayo 288.' Crawford's
Across the Pampas 304. Das Feuer-
land und seine Bewohner 331.
Peru. Amazonas und Cordilleren. Nach
CH. Wiener 209. 225. 241. 257.
Ecuador. Amazonas und Cordilleren.
Nach CH. Wiener 273.
Inhaltsverzeichnis;.
VII '
Die ostgrönländische Expedition 29. Auf-
findung von Gegenständen der Jcannctte-
Expedttion 80. Die Samojeden auf
Nowaja Zemlja 80. Die westgrön-
ländische Expediton. Von A. Riis
Aolargebiete.
Carftenfen 139. 153. Entdeckung
zweier Inseln östlich von Spitzbergen
192. Fortsetzung der Aufnahmen in
Westgrönland 192. _ Grönland im Jahre
1884 206. Nordenskiöld's Studien und
H c e a n e.
Das Antillenmeer 238.
-Forschungen. Von W. Kobelt 381.
Die Fischerei der Amerikaner an der
Westküste von Grönland. Von W. Finn
382.
Vermischte Aufsätze und Mittheilungen.
Anthropologisches. Rassenbecken 94.
Der Tertiärmcnsch von Thenay 96.
Ethnologisches. Der Stil und die
Völker 48.
Vermischtes. Der fünfte Amerikanisten-
kongreß. Von R. Andree 41. Wissen-
schaftliche Abschreiberei. Von R. An-
dree 44. Abstammung und Zähmung
unseres Hauspferdes 112.
Vom B ü ch e r t i s ch e.
O. Lenz, Timbuktu 16.
P e t e r s e n, Rcisebriese aus Transkaukasien
31.
Räuber, Urgeschichte des Menschen 44.
Falken stein, Afrika's Westküste 47.
Poljakow, Reise nach der Insel Sacha-
lin 62.
Fritsch, Südafrika bis zum Zambesi 63.
B. Aba, Skizzen aus Amerika 79.
Physikalisch - statitischer Handatlas von
Oesterreich-Ungarn 94.
F. von Hellwald, Naturgeschichte des
Menschen 96.
Riehm, Handwörterbuch des Biblischen
Alterthums 112.
v. Richthofen, Atlas von China 127.
Hans Meyer, Eine Wcttreise 144.
Roscher und Jan nasch, Kolonien,
Kolonialpolitik und Auswanderung 190.
A. Oppcl, Landschaftskunde 224.
Hölzel's Geographische Charakterbilder
W. Joe st, Um Afrika 298.
Klein, Lehrbuch der Erdkunde 304.
Zöller, Das Togoland 320.
Fischer, Mehr Licht im dunklen Welttheil
336.
Gsell-Fells, Italien in 60 Tagen 365.
Flegel, Drei Briefe an die Freunde
deutscher Afrikaforschung 367.
Europa.
Belgien.
Eingang in den Beguinenhos von Brügge 82.
Die Porte Marschale 82.
Das Minnewater in Brügge 83.
Die Porte des Baudets (Eselsthor) 84.
Ein Brügger Kanal bei Regenwetter 84.
Ein Brügger Kanal im Winter 85.
Der Rosenkranzkanal in Brügge 98.
Der Belsried von Brügge 99.
Das Rathhaus und die Kapelle zum hei-
ligen Blute in Brügge 100.
Der „Franc de Bruges" vom Quai der
Marmorarbeiter aus 101.
Brandenburg - Preußen auf der Westküste
von Afrika 367.
C. von Koseritz, Bilder aus Brasilien
368.
Verfasser
R. Andrer 41. 44.
H. Bay 28. 75.
W. Breitenbach 334.
Riis Carstensen (deutsch von Finn) 139.
153.
W. Finn 29. 206. 382.
H. Gressrath 174.
Sp. Gopsevio 42. 91. 103.
W. Kobelt 8. 25. 38. 171. 202. 266. 295.
381.
F. Kraus 380.
I. C. Kubary 70. 86.
I. Menges 362. 376.
E. Metzger 216. 231. 252. 264. 279.
P. E. Richter 12. 23.
Pardo de Tavera 314.
Thoroddson (deutsch von H. Martens) 185.
A. Sartorius Frhr. von Waltershausen
102. 118. 135. 150.
M. Willkomm 236. 250.
Zechlin 156. 168. 203.
Biographisches. Pcrsonenvcrzcichniß.
Todesfälle. Nekrologe. Arnaud-
Bey 125. Asbjörnsen 189. Avs-Lalle-
mant 126. Balbi 126. Behm 90.
Berg 126. Berghaus 90. Bianchi 126.
von Boguslawski 124. Brehm 127.
Burnaby 189. Calvert 126. R. Cor-
tambert 90. Dahse 126. Sir Barile
Frere 125. Guarmani 127. Guyot 90.
Hansal 189. Hochstetter 125. Huber
125. Lepsius 126. Lönrott 124.
Müllenhoff 90. Ogorodnikow 189. Pavy
125. Perty 126. Pogge 90. Rou-
Illustrationen.
Reliquienschrein des heiligen Blutes in
Brügge 114.
Früherer Eingang des St. Johannes-
Hospitals 114.
Der Kamin im Franc de Bruges 115.
Der Quai Bert 116.
Das Baptisterium der Liebfrauenkirche 116.
Das St. Johannes-Hospital in Brügge 117.
Die Rue Flamande 130.
Der Quai du Miroir 131.
Die Salvatorkirche (Saint Sauveur) in
Brügge 132.
Grabmal Karl's des Kühnen 133.
Grabmal der Marie von Burgund 134.
Aussicht aus Brügge vom Belsried 134.
Die Kirche von Damme 134.
daire 189. Rüppell 127. Julius
Schmidt 90. Schulze 320. Schumacher
90. Sonklar 189. Stroebelt 189.
Thomson 126. Tissot 125. Tomczek
124. Villcgas 126.
Person ali a. Abercrombie 287. Aitchison
159. Allen 287. Andreassen 192.
Arnot 64. Becker 256. Bell 29. Boehm
271. van Braam Morris 207. Büttner
320. 378. Buonfanti 207. Cecchi 64.
Colin 32. Crawsord 304. Denhardi 78.
Duveyrier 384. Feilberg 288. Fischer
336. Flegel 47. 366. Earl Flint 176.
Forbes 14. Franzoj 384. Fresi! 94.
Garde 29. Gimenez 384. Giraud 144.
Glazier 128. Golochwastow 255. Gor-
don 272. Gotische 383. Grenfell
366. Griesebach 159. Grum-Grishi-
mailo 31. Hanssens 144. Hsraud
14. Holberg 28. Holdich 159. Holt
Hallett 175. Im Thurn 192. 320.
Israel 64. Iwanow 286. James 366.
Jensen 192. Johannesen 192. H. H. John-
ston 207. Keilhack 207. Lenz 16. 256.
Massari 144. 256. Menscal 64. Mik-
lucho-Maclay 287. Nossilow 255. O'Neill
63. Packard 352. Passavant 176.
Pauli 170. Paulitschke 384. Pechuel-
Lösche 256. 365. Petersen 31. Bedford
Pim 64. Poljakow 62. 255. Potanin
31. 239. Prshcwnlski 352. Rabat 62.
Ray 191. 287. Sir Rawson Rawson
175. Reichard 271. Reynolds 288.
Rogozinski 207. Salimbeni 384.
Aurel Schulz 287. Schweinfurth 240.
Sharples 288. Staffi 31. Herbert
H. Smith 111. Von den Steinen 45.
Stockdale 96. 240. Stock 176. Thom-
son 47. Beth 64. 207. 304. Wißmann
272. 336. Wolf 336. Zöller 366.
Asie n.
Kaukasie n.
Gurische Milizen 2.
Kloster Tschamaschmedi 3.
Verfallenes Lusthäuschen in Ozurgeti 4.
Kirche von Ozurgeti 5.
Ansicht von Gori 6.
Restauration in Gori 7.
Das Dorf Uphlis-Tziche 18.
Kirche über dem Troglodytendorfe Uphlis-
Tziche 18.
Das Landhaus des Großfürsten Michael
in Borshom 19.
Thal bei Borshom 20.
vili
Inhaltsverzeichnis;.
Ruinen des St. Georgsklosters bei Bor-
shom 21.
Atzchur am Kur 22.
Achaltziche 34.
Unterirdische Wohnungen in Achaltziche 35.
Armenierinnen von Achaltziche 36.
Frauen von Geisteskämpfern 37.
Arabie n.
Das Dorf Scheich Othman bei Aden 290.
Moschee von Scheich Othman 290.
Marktplatz in Aden 291.
Persien.
(Dieulafoy's Reise.)
Eingang des Bazars in Schiraz 146.
Moschee des Wakil 147.
Medresse des Wakil 148.
Persische Amme 149.
Grabmal des Dichters Saadi in Schiraz
162.
Frauen von Schiraz 163.
Der junge Gouverneur von Schiraz 163.
Babimädchen 164.
Babimädchen zu Pferde 165.
Masdsched Dschuma in Schiraz 166.
Porphyrbecken in der Masdsched-Dschuma
167.
Masdsched-i-Rau in Schiraz 178.
Der Bazar des Wakil in Schiraz 179.
Soldat aus der Umgebung des Unter-
gouverneurs von Schiraz 180.
Grab des Scheichs Jussef bcn-Jakub 160.
Salzsee Darja-i-Rcmek 181.
Seitengallerie des Palastes von Sarvistan
194.
Kadschaveh der Frau eines Rosenölhänd-
lers 195.
Basrelief von FiruzabLd 196.
Die Ruinen von Firuzabüd 197.
Inneres des Hauptraumes im Palaste von
Firuzabad 198.
Afrika.
O stk Uste. (Rövoil's Reise.)
Zanzibar 292.
Fruchtmarkt in Zanzibar 293.
Mbarak Mohamnied 294.
Hadschi Ali 306.
Fage 306.
Barke von Mogduschu 307.
Mörka 308.
Der Marktplatz von Mörka 309.
Frau eines Metawa 310.
Das Tasse- oder Fliegenspiel 311.
Der Gurgi Jsmaäl Abdallah's 322.
Junge Abösch-Dienerin 323.
Beduinensrau, Gras auf den Markt von
Mogduschu bringend 323.
Das Spinnen und Leimen der Baum-
wolle in Mogduschu 324.
Baumwollweber in Mogduschu 325.
Wadan-Krieger 326.
Der Scheläu-scheläu-Tanz 336.
Der Ajat 339.
Thurm und Moschee Abdul-Aziz 340.
Grabmäler bei Mogduschu 341.
Abgal-Krieger 342.'
Die Moschee Fachr ed - Din oder el - Ba-
rani 354.
Stücke der Marmorbekleidung der Moschee
el-Barani 355.
Der große Lab in Mogduschu 356.
Jlbi-Krieger mit demFodfode oderKriegs-
kopfputzc 357.
Eingangsthüre und Thurm der Moschee
Shama 358.
Ankunft am Ufer des Webi 371.
Ansicht von Gclidi 372.
Zusammenkunft mit Omar Jussuf 373.
Ugadin-Krieger in Marschausrüstung 374.
Das Weissagen des Zauberers 375.
Massai-Land.
Ohrenstrecker der Massai 344.
Töchter des Häuptlings von Mossala 347.
Nordamerika.
Mexico und Guatemala.
(Charnay's Reise.)
Das Dorf Libertad oder Sacluc 60.
Flores am See Peten 50.
Tempel und Stelen zu Tikal 51.
Altarplatte aus einem Sonnentempel in
Tikal 52.
Quetzalcoatl 53.
Idole aus Copan 54.
Zwei Seiten des guatemalisch-toltekischen
Altars in Copan 55.
„Inschrift" des Altars von Copan 55.
„Inschrift" aus Loriüard City 55.
Gesammtansicht der Ruinen von Mitla 67.
Der große Palast in Mitla 68.
Südseite pes vierten Palastes in Mitla 69.
Südamerika.
( Wiener ' s Reise.)
Huainbiza-Jndianer vom Patuca-Stamnie
210.
Engschlucht des Pongo de Manseriche 212.
Jndianerhütte von Ungurahui am Rio
Samiria 213.
Inneres einer Jndianerhütte am Samiria
214.
Wyse-See am oberen Samiria 215.
Rio Hachette 226.
Landschaft am oberen Tigre 227.
Simarones-Jndianer 228.
Kirche von Jeveros 229.
Die Farm des M. Bonvoisin 230.
Kirche auf der Farm des M. Bonvoisin 230.
Bootfahrt gegen den Strom auf dem
oberen Huallaga 242.'
Cocamillas-Jndianer 242.
Träger von Tarapoto 243.
Strohhutflechterei in Moyobamba 243.
Dorf im Mayothale bei Sause 244.
Umischah-Fest 245.
Zuckerrohr-Pflanzung 246.
Ochsen mit Lasten auf den Hörnern 247.
Indianer von Molinopampa 258.
Hauptkirche von Chachapoyas 259.
Gräber bei S. Tomas 260.
Altes Haus in Jalca 260.
Bergwerk des Herrn Werthmann bei S.
Tomas 261.
Balsa-Floß 262.
Trünnner der Kirche von Selendin 263.
Hacienda Tanti 274.
Colorado-Indianer 275.
Platz und Kirche des Weilers Balsa 276.
Zaruma und der Berg Sesmo 276.
Cuenca in Ecuador 277.
Hauptplatz von Gualaceo 278.
Bolivar-Brücke 279.
Karten.
Karte der toltckischen Wanderungen 66.
Togo-Land 183.
Wiener's Reisen im nördlichen Südamerika
261.
Die Kanal-Verbindung zwischen Ob und
Jenissei 312.
Das südwestliche Turkmenien 349.
Rovoil's Marsch von Mogduschu über
Gelidi nach Warman 370.
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1885.
Reisen in Gurien und am oberen Knr.
Nach dem Französischen der Madame Carla Serena.
I.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Den transkaukasischen Reiseschilderungen, welche der
„Globus" in früheren Bänden (Bd. 41, S. 1 und 17:
„Eine Reise durch Mingrelien", und Bd. 42, S. 177,
193, 209, 225 und 241: „Samnrzakan und Abchasien")
der weitgereisten Mine. Carla Serena nacherzählt hat, läßt
er heute einige weitere aus Gurien und vom Oberlaufe des
Kur folgen. Es sind das wohl die letzten derartigen Skizzen,
denn am 20. Juli 1884 ist die Verfasserin derselben zu
Athen gestorben.
Um Ozurgeti in Gurien zu erreichen, verließ die Rei-
fende die von Poti nach Tiflis führende Eisenbahn bei der
in Mingrelien gelegenen Station Samtredi, von wo
eine gute Chaussee nach dem einige Werst entfernten Or-
piri führt. Dieser Ort liegt am Rionflusse und war
früher ein Verbannungsplatz für die berüchtigte russische
Sekte der Skopzcn, die jetzt meist in der Umgegend leben.
Vor Erbauung der Eisenbahn, als man noch zu Schiffe
auf dem Rion in das Innere von Mingrelien reiste, hatten
lie das Monopol für diese Beförderungsart; die Eisenbahn
aber hat diesen Erwerbszweig in Orpiri vernichtet und die
Bootsleute nach anderen Orten vertrieben. Der Anblick
des Fleckens ist überaus unmuthig, die Vegetation sehr
üppig, aber der Aufenthalt dort ungesund.
. auf ausgehöhlten Baumstämmen ruhende Fähre
bringt hier Fußgänger, Wagen und Pferde über den reißen-
den Rwn, welcher die Grenze zwischen Mingrelien und
Glvbuö XLVH. L
Gurien bildet; die Bemannung des Floßes besteht aus
Angehörigen beider Landschaften. Mingrclier und Gurier
find beide ein stattlicher, schöner Menschenschlag; nur in
der Tracht unterscheiden sie sich, indem die einen die lange
Tschocha, die anderen das kurze Wams tragen. Die Kopf-
bedeckung ist dieselbe, das Baschlik, das beim Gurier aber
oft von rother Farbe ist.
Die Straße von Samtredi bis Ozurgeti ist 53 Werst
lang und führt durch eine herrliche Gegend; ohne Unterlaß
folgen sich entzückende Ausblicke auf Bergesabhünge und
Thäler, Flecken und Dörfer, denen man schon von außen
den Wohlstand ihrer Bewohner ansieht. Die Türken nennen
in ihrer bilderreichen Sprache Gurien das „Land der Rosen";
das ist keineswegs übertrieben, wenigstens was Ozurgeti
anlangt, das in der That einem mit Rosen gefüllten Korbe
gleicht.
Dieser Ort, früher die Residenz der Fürsten von Gurien,
liegt in einer Ebene auf dem rechten Ufer der Bzudscha und
wird noch von einem zweiten Flusse, der Natancba, bespült.
Diesem Wasserreichthume verdankt es seine üppige Flora.
Ringsum erhebt sich ein Kranz von Bergen, namentlich
im Süden das Adscharische Gebirge, vor dem letzten Kriege
die Grenze gegen das türkische Gebiet, welche dann durch
den Frieden um etwa 100 km nach Südwesten vorgeschoben
wurde. Bis dahin war auch der Hauptort der türkischen
Landschaft Adscharien, Kobuleti, ein Asyl für allerhand
1
uchiM ZlxjpnK
Reisen in Curien und am oberen Kur.
Reisen in Ginnen und am oberen Knr,
Thunichtgute gewesen, die gar keinen Anstand nahmen, die
Grenze zu überschreiten und ihr Handwerk, welches selbst
den straub von Frauen und Kindern einschloß, in Gurien
auszuüben. Noch wenige Wochen vor Mme. Sercna's
Ankunft — die Reise derselben fällt in das Jahr 1876 —
hatte sich der Distriktschef mit mehreren Milizosficieren an
die Grenze begeben müssen, um diesem Brigantenwcsen zu
steuern.
Diese Miliz bestand damals unter dem Namen „Regi-
ment von Kutais“ ans vier Schwadronen Kavallerie und
zwei Kompagnien Infanterie, jede Schwadron und Kom-
pagnie zu 126 Mann. Alle, Officiere wie Soldaten, nur
den Obersten, der ein Russe ist, ausgenommen, sind Ein-
geborene der drei Landschaften Jmeretien, Mingrelicn und
Gurien. Die Reiter, die Tscherkcsscnkleider tragen, rekru-
tircn sich zu zwei Drittheilen aus dem Adel des Landes;
etwas anders (kurzes Wams, pralle Hosen, weiße Weste,
rothes Baschlik und bunte seidene Schärpe) sind die Infan-
teristen unisormirt;. es sind Leute, die in Fußmärschen fast
Unglaubliches leisten. Es giebt außer diesem nur noch ein
zweites derartiges Eingeborencn-Regiment, das daghestanische.
Da die Soldaten beider sich auf eigene Rechnung — von
der Flinte abgesehen — ausrüsten müssen, so ist auch ihr
Sold viel höher als bei den Russen: während letztere jähr-
lich nur vier Rubel erhalten, bekommen die Eingeborenen
außer der Ration und dem Pferdefntter 60 Rubel.
Der noch vor nicht gar zu langer Zeit betriebene
Menschenraub hat jetzt wohl aufgehört, aber nicht so der
Kloster Tschamaschmcdi.
Pferdediebstahl; das ist das häufigste Vergehen, mit welchem
sich die russischen Gerichte zn befassen haben. Er wird bei
Hellem Tage betrieben und ihm klebt in den Augen der
Gurier nicht die geringste Schande an, während sie es für
ein ganz gemeines Stück halten, irgend etwas aus einem
Hanse zu stehlen.
Obwohl der Gurier lange unter einer mohammedani-
schen Regierung gestanden hat, ist er doch dem Ehristcn-
thnme treu geblieben und hat niemals aufgehört, seine
Kirchen, wenn cs Noth that, auszubessern. Dies war
namentlich der Fall mit der Kapelle von Ekadia, so nach
einem benachbarten Dorfe genannt, welche Ozurgeti gegen-
über ans einem grünbewachsenen Ausläufer der adscharischen
Gebirgskette sich malerisch erhebt. Ein ziemlich beschwer-
licher Pfad führt zu dem erst kürzlich wieder hergestellten
Gottcshanse hinauf; aber droben findet man die gehabte
Mühe reichlich belohnt. Die Kapelle liegt inmitten eines
noch in Gebrauch befindlichen Kirchhofes und ist von einer
sestnngsartigen Mauer umgeben. 36 durch langen Gebrauch
abgenutzte Stufen führen hinauf zu dem Gottesacker, von
welchem eine über alle Beschreibung herrliche Aussicht auf
die kaukasische Bergwelt im Norden und ans die liebliche
Landschaft zn Füßen sich entfaltet. Vergebens sucht man
dort oben prächtige Denkmäler: das Volk, an ein einfaches
Leben gewöhnt, kennt auch keinen Grabesluxus und begnügt
sich mit einem Kreuze und einem Steine. Auch die Kirche
hat jetzt nur einen hölzernen Glockenthurm statt des früheren
von Stein. An Baudenkmälern besitzt Gurien eben nur
einige alte Klöster, wie das von Dschamati, 15 Werst von
Ozurgeti, wo die früheren Fürsten des Landes ihre Ruhe-
1*
4
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
statte haben, ober das nur 7 Werst entfernte Kloster
Tschamaschmcdi, wo die Mitglieder der jüngeren Linie be-
graben sind. Den Namen Kloster führt hier übrigens jede
alte Kirche, gleichviel ob mit ihr in früheren Zeiten eine
Wohnstätte für Mönche oder Nonnen verbunden war oder
nicht. In Tschamaschmedi jedoch findet sich eine Art Rest
eines Klosters; einige alte Frauen, die vor Noth und Ent-
behrungen entsetzlich abgemagert find. Beide genannten
Klöster liegen auf steilen Anhöhen und sind reich an alten
Bildern, bemalten Pergamenten, Edelsteinen, Mitren,
byzantinischen Kreuzen und dergleichen.
Gurien besitzt, wie die übrigen georgischen Provinzen,
zahlreiche Mineralquellen, deren Werth die Eingeborenen
indessen nicht zn schützen wissen. Eine derselben, 20 Werst
von Oznrgcti beim Dorfe
Sadschawaschi gelegen,
würde anderswo jeden reich
machen, der sie auszubeu-
ten unternähme; ihr
schwefeligcs Wasser hat
schon manche wunderbare
Heilung zn Stande ge-
bracht, aber außer den
Leuten in der nächsten
Umgegend kennt sie nie-
mand. Ein paar elende
Hütten und ein schlechter
Duchan (Gasthans) bilden
das ganze Bade-Etablisse-
ment, das in einer ebenso
schönen wie gesunden
Gegend liegt. Eine andere
Merkwürdigkeit Guriens,
wo rauschende Flüsse, Ebe-
nen , Berge und Thäler
in unendlicher Mannig-
faltigkeit das Auge ent-
zücken, ist das alte feste
Schloß Askana, früher der
Sommersitz des Fürstcn-
geschlechtes, jetzt eine im-
ponirendc Ruine am Rande
eines senkrecht zum Flusse
Baknit-tskali abfallenden
Felsens, vollständig mit
einem undurchdringlichen
Gewirre von Ephen,
Feigen, Weinreben und
wilden Blumen über-
wachsen. Noch sehcns-
werther sind, 8 Werst von
Ozurgcti an einer Stelle
gelegen, wo die Flüsse Natanebi und Skurdebi vorbci-
fließen, die Reste alter Ortschaften, welche der jetzige Eigen-
thümer des Bodens bei Fundamentirungen entdeckte. Fort-
gesetzte Nachgrabungen, welchen die üppige Vegetation die
größten Schwierigkeiten bereitet, legten zwei Ansiedelungen
über einander bloß; die ältere besaß steinerne, die jüngere
hölzerne Häuser. Auch Spuren einer Art von Amphi-
theater mit Stufen wurden gefunden. Der einheimischen
Tradition zufolge, die wir freilich nicht zn kontrollircn ver-
mögen, sollen cs die Reste einer Stadt Uri-Kalaki sein,
welche, lange zwischen Persern und Römern streitig, 532
von einem Feldherrn Petras des Kaisers Jnstinian erobert
und zerstört worden sein soll. Wieder aufgebaut, nannte
sie sich nach jenem Petra. Von dieser zweiten Stadt haben
sich eine Brücke, Wasserleitungen, äußerst feste Mauern
und Gräber erhalten, in denen man unter anderem auch
Frauenschmuck gefunden hat.
Oznrgeti gleicht heutigen Tages einem jener europäischen
Plätze, die man im Sommer zum Vergnügen aufsucht. Es
sind zwar nicht Gärten, welche die Häuser umgeben —
denn Gartenbau kennt man hier nicht —, wohl aber Felder
mit Mais, Hirse, Baumwolle und auch Tabak; letztere
Kultur, ursprünglich von den Türken eingeführt, breitet sich
namentlich mehr und mehr aus, seitdem die Seidenraupen
von einer Krankheit befallen worden sind und dadurch die
von den gurischen Frauen gepflegte Hausindustrie der
Seidenweberei in Abnahme gekommen ist. Diese ver-
fertigten nämlich für sich und die Männer jene seidenen
Hemden, welche man all-
jährlich zn Ostern zum
ersten Male anzuziehen
pflegte, was auf Deutsch
so viel besagt, als daß die
Guricr alle zwölf Monate
überhaupt nur einmal das
Hemde wechselten. Jetzt,
wo die Baumwolle die
Stelle der Seide ein-
genommen hat, ist in
Folge dessen die allgemeine
Reinlichkeit hoffentlich
größer geworden.
Die gurischen Frauen,
nebenbei gesagt, sind von
besonderer Schönheit und
haben mehr Lebhaftigkeit
und Ausdruck im Gesicht,
als die übrigen Georgierin-
nen; dagegen gleichen sie
ihnen durchaus in ihrem
Mangel an Sinn für
Ordnung und die Haus-
haltung. Ihre Haupt-
belustigung ist das Spiel.
Mme. Serena weiß von
einer Spiclpartie, welche
volle 15 Tage dauerte;
die Theilnchmerinnen be-
gannen gegen 7 Uhr mor-
gens, machten mittags eine
Pause um zn speisen und
nahmen um 2 Uhr das
Spiel wieder auf. Um
6 Uhr war wiederum eine
kurze Unterbrechung für den
Thee und dann ging es
weiter in die Nacht hinein, daß oft um 3 Uhr morgens
das um 10 aufgetragene Abendessen noch unberührt da-
stand.
Die Häuser von Ozurgcti, aus Holz gebaut und meist
mit einem oberen Stockwerke und einer ringsum laufenden
Veranda versehen, haben ein artiges Aussehen und stimmen
in ihrem ländlichen Stile durchaus zu der Landschaft. In
ihrem Inneren freilich zeigt sich ein vollständiger Mangel
an Bequemlichkeit und Sorgfalt; so gut sie dem Auge von
weitem gefallen, so groß ist die Enttäuschung, wenn man
sie betritt. Sie gleichen darin den Prinzessinnen des
Landes, welche an Festtagen ausgewählt schöne Kleider
tragen, dabei aber Schmutz unter den Fingernägeln haben.
Die innere Einrichtung besteht ausnahmslos aus einigen
Reisen in Curien und cim oberen Kur.
Holzbänkcn (Taschti), die mit werthvollen Teppichen belegt
und mit Kissen ausgestattet sind. Für die Nacht ver-
wandeln sich diese Divans in Betten; dasselbe Zimmer
dient der Reihe nach als Speiscraum, Salon und Schlaf-
gemach. Unter diesen Gebäuden orientalischen Stils treten
zwei von europäischem Aussehen hervor: das eine ein
modernes Hans, das ein Verwandter der alten Fürsten-
familie bewohnt, das andere ein verfallener Palast, den der
letzte Souverän von Gurien zu Anfang dieses Jahrhunderts
erbaut hat und der damals die größte Merkwürdigkeit im
Lande war. Allerdings muß man zugeben, daß der Palast
auch in Europa imponirt hätte. Er ist mehrere Stock-
werke hoch und bietet aus seinen, auf allen vier Seiten
befindlichen zahlreichen Fenstern eine prächtige Aussicht, die
freilich den fetzigen Bewohnern — das etwas verfallene
Gebäude dient heute als Militärhospital — ziemlich gleich-
gültig sein mag. Von den verschiedenen Nebengebäuden,
die ihn einst umgaben, ist nur weniges erhalten: die
Trümmer des Bades dienen heute ebenso wie die Mobilicn-
kammer als Schweincställc, und in einem anderen vcr-
fallencn Bauwerke wird die Bahre aufbewahrt, auf welcher
die Leichen der gestorbenen Soldaten zum Kirchhofe ge-
schafft werden. Ein Lusthäuschen, zu welchem eine an den
Palast stoßende Galerie führte, steht zum größten Theile
noch aufrecht; zwölf Säulen tragen noch die elegante, aber
arg verfallene Kuppel. Nicht weniger vernachlässigt als
das übrige ist der ausgedehnte Garten, welcher das Ge-
bäude umgiebt; trotz aller Mißachtung enthält er noch
zahlreiche exotische Gewächse ans früherer besserer Zeit.
Zur Zeit von Mme. Screna's Aufenthalt dachte man
daran, ihn zu einem öffentlichen Spaziergänge und Er-
holungsorte für die Bewohner Oznrgcti's umzuschaffcn.
Auf dem Platze, dem Palaste gegenüber, liegen zwei
Kirchen, eine georgische für die Bürger und eine rnssischc
für die Garnison. Hier spielt Sonntags die Militär-
musik; aber die stnbcnhockerischcn Einwohner finden sich
dabei nicht ein, sondern ziehen eine Promenade auf ihrer
Veranda vor. Dieselbe dient ihnen überhaupt bei schönem
Wetter zu ständigem Aufenthalte; sic verbringen dort ihre
Zeit, essen daselbst und schlagen sogar ihr Lager auf, und
Kirche von Ozurgeli.
die junge Welt steht nicht an, gerade diesen halb öffent-
lichen Ort für ihre Licbeständeleicn auszuwählen.
Ozurgcti ist zwar ein ziemlich stiller Ort, trotzdem aber
gut bevölkert; sein Bazar, wo der Verkehr feinen Mittel-
punkt hat, hat mehr als ein Werst Länge. Es ist das
weniger eine Straße als ein mit Holzbuden eingefaßter
Weg, zu dessen beiden Seiten Bäche fließen. Längs der
Buden läuft ein Brettersteg einige Fuß über dem Erd-
boden hin und von diesem führen Planken wie Brücken
über die Bäche zu den einzelnen Buden; unter den Füßen
der Wanderer aber schwimmen und schnattern Enten, wie
denn überhaupt sämmtliche Straßen des Ortes den Haus-
thieren zum Tummelplätze dienen. Ein Theil des Bazars
iß für die Verkäufer von Lebensmitteln bestimmt, ein
anderer für die Stoffhändler; diese Kaufleute sind meist
Armenier, Mingrelier oder Türken; Russen giebt es nur
wenig. Schneider, Schuster, Waffen- und Kupferschmiede
haben ebenfalls ihren besonderen Platz, und jeder arbeitet
vor aller Augen. Wenn man die primitiven Werkzeuge
sieht, deren sich die Handwerker bedienen, begreift man
kaum, wie sie im Stande sind, solche vollendete und dabei
künstlerische Arbeiten zu liefern.
Die Tracht der Männer in Gurien nähert sich der
türkischen; statt des langen in Jmeretien und Mingrclicn
üblichen Gewandes tragen sie ein kurzes Wams, eine Weste,
eine breite buntfcidcne Schärpe und darüber einen mit
Gold und Silber gestickten ledernen Gürtel, an welchem
Waffen und eine Menge kleinerer Gebranchsgegenstände
hängen, endlich eine eng anliegende Hose und ein Baschlik.
Die Frauen dagegen kleiden sich gern nach europäischer
Weise und zwar mit so wenig Geschmack wie möglich;
zierlich ist nur der Schleier, in welchen sic sich hüllen.
Viele ersetzen denselben heute schon durch ein Tuch, und
manche, die durchaus emancipirt erscheinen wollen, pflanzen
sich geradezu einen im Bazar erstandenen Hut auf den
Kopf. Wenn eine Emancipirte wenigstens den nationalen
Schleier bewahrt, so sagt Niemand etwas dazu; setzt sic
sich aber eine europäische Kopfbedeckung auf, so ist das der
Gipfel der Entweihung, und von da an zeigt man auf sie
mit Fingern. —
Ansicht von Gori.
Reisen m Gurien und am oberen Kur.
7
Ein anderer Ausflug, den Mme. Serena unternahm,
führte sie nach Gori am Kur, dem Hauptorte des gleich-
namigen Bezirks. Die alte Festung, welche den Ort über-
ragt, konnte einst angeblich 70 000 Menschen fassen; heute
umschließt sie nur ein Pulvermagazin, dessen Eingang eine
einzige Schildwache beschützt, und innerhalb der weiten
Umfassungsmauern weideten bei Mme. Serena's Besuch
nur zwei Esel die spärlich zwischen den Felsblöcken her-
vorsprießenden Grashalme ab. Vom Ufer der Liakwi,
welche am Fuße des Festungsbcrges vorbeiflicßt, zieht sich
eine Zinnenmauer in langer Zickzacklinie die Anhöhe hin-
auf. Festung und Stadt, welche letztere der Tradition
zufolge 25000 Saschen im Quadrat bedeckte, wurden wieder-
holt zerstört und wieder aufgebaut und befanden sich ab-
wechselnd in der Gewalt der Türken, Georgier und Perser,
verloren aber schon früh ihre Wichtigkeit, trotz ihrer guten
Lage. Denn vom Gipfel des Burgberges aus übersieht
man alle Punkte, von denen ans ein Feind einbrechen
konnte, die Berge von Achaltziche, von wo die Türken drohten,
wie diejenigen der Lesghier, Tscherkessen und Osseten.
Durch die Ebene fließen neben dem ungestümen Kur die
Flüsse Liakwi und Pschawi; über den ersten führt eine
Brücke nach der Bahnstation, eine andere nach dem Dorfe
Chidistavi, dem bevorzugten Sommeraufenthalte der reichen
Armenier Gori's. Ueber dem Kur erheben sich die Berge
Burethi und der sehr steile Goris-Dschuari, letzterer von
dem gleichnamigen Kloster gekrönt, das auch den Namen
„Kreuz von Gori" führt. Neben der alten Klostcrkapcllc
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Bl M m
Restauration in Gori.
erhebt sich jetzt eine moderne Kirche, beide im November
das Ziel zahlreicher Pilger ans der Nachbarschaft. Der
Ort Gori, dessen älteste Häuser sich an den Felsen selbst
anlehnen, hat sich in neuerer Zeit weiter in die Ebene
hinein ausgedehnt. Ueberall sieht man die platten Dächer,
auf welchen der Georgier mit Vorliebe wohnt und wo sich
die intimsten Familienscenen abspielen. An Kirchen ist
kein Mangel, und der Kultus spielt hier eine große grolle.
Die Straßen sind zwar gepflastert, eine große Seltenheit
im Kaukasus; das hindert aber nicht, daß sich bei Regen-
wetter mächtige Pfützen bilden. Um Straßenbau haben
stch die Eingeborenen bis heutigen Tages nie gekümmert.
Von den wenig luxuriösen Läden giebt die „Restauration"
einen Begriff, welche Mme. Serena bei ihrem letzten
Aufenthalte in Kaukasicn (1881) photographirte. Dafür
besitzt die Stadt Schicken, in welchen der Unterricht in
georgischer und namentlich in russischer Sprache ertheilt
wird, und seit dem September 1870 auch ein „trans-
kaukasisches Seminar" zur Heranbildung von Volksschul-
lehrern, wo 25 junge Leute, davon ein Fünftel Russen, auf
Staatskosten erhalten unb in den Wissenschaften wie in
verschiedenen Handwerken (Tischlerei, Buchbinderei, Gärt-
nerei re.) unterrichtet werden. Gori zählt jetzt 1500
Haushaltungen, jede zu drei männlichen Personen, während
die Frauen, die im Kaukasus in der Minderzahl gegenüber
dem anderen Geschlechte sind, nicht mitgerechnet werden.
Vertreten sind in der Bevölkerung Russen, Georgier und
Armenier, letztere in der Majorität.
8
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
Skizzen aus Algerien.
Von W. ft übest.
2. Um den Dschurdschura herum.
(Erster Abschnitt.)
Wenn man von der Brustwehr der Terrasse de la
Republigne in Algier, diesem reizenden Aussichtspunkte,
der sich kühn neben Santa Lucia in Neapel stellen kann,
nach Osten blickt, bemerkt man hinter der kühnen Kalk-
masse des Bou Zegsa, der die Rolle des Vesuv im
Bilde spielt, am Horizonte einen mächtigen Bergrücken,
der nur im Hochsounucr schneefrei erscheint. Es ist der
westliche Flügel des halbkreisförmigen Gebirgszuges, der
wie eine Mauer vom Meer bei Dellys bis wieder ans
Meer bei Bongie reichend den Landstrich umgrenzt, den
die Franzosen lagraudeKabylie nennen. Nach Westen,
Süden und Osten mauerartig abstürzend, nur ans wenigen
hohen Pässen im Sommer zu überschreiten, umschließt der
D s ch u r d s ch u r a ein Gewirre von Thälern und Schluchten,
aus denen der Sebaou sein Wasser sammelt; auch nach
dem Meere hin durch einen unwirthlichen Bergzug abge-
sperrt, ist das Land gleichsam eine große Festung, wie ge-
macht für ein Volk, das seine Unabhängigkeit über alles
schätzt und lieber Hunger, Noth und alle Unbilden eines
rauhen Gebirgsklimas erträgt, als sich einem Herrn beugt.
Niemals ist ein Eroberer in diese Thäler eingebrochen,
Römer, Vandalen, Byzantiner, Araber, Türken haben sich
au dieser Bcrgveste ihre Köpfe eingestoßen und erst den
vervollkommneten Waffen der Franzosen und ihrer Ueber-
macht ist es gelungen, den freien Bergkabylen zum Gehor-
sam zu zwingen.
Seit 1854 ist die ehemalige graudeKabyliezum Cercle
de Dellys geworden; gerade im Herzen des Landes
erhebt sich als feste Zwingburg das Fort National,
das für eine kleine Armee Raum bietet; Dellys und
Tizi Ouzou decken die Zugänge und wie eine Kette
liegen die Forts von Bord sch Buira, Be ui Man-
sour, Tizi malt, Akbou und das Gibraltar Alge-
riens, Bougie um den Dschurdschura herum, dem Volke
jede Bewegung unmöglich zu machen. Sie sind aber kaum
mehr nöthig. Seit dem furchtbaren Aufstaude von 1871,
der selbst Fort National an den Rand der Kapitulation
brachte, haben die Franzosen begriffen, was schon die
Türken wußten, daß der Kabyle mit Zuckerbrot leichter zu
regieren ist als mit der Peitsche. Sie haben eingesehen,
daß der Kabyle von einer ganz anderen Race ist wie der
Araber und eine durchaus verschiedene Behandlung erfor-
dert, und lassen ihn nun ruhig sich selbst regieren nach
seinen uralten Gewohnheiten. Jedes Dorf bildet seine
Welt für sich; die Gemeindeversammlung (Dscheniua)
regiert das Dorf durch den von ihr gewählten Ortsvor-
steher (Amin), dem die Vertreter der einzelnen Familien
(Karroubas genannt, wie die Schote des Johannis-
brodbaumes) als Exekutivorgane beigegeben sind. Nur das
Recht über Leben und Tod haben sie der Gemeindever-
sammlung genommen und den ordentlichen Gerichten über-
tragen und es kommt nur noch selten vor, daß ein aus
frischer That ergriffener Fremder — denn für den Orts-
ansässigen gab es wohl Verbannung und Konfiskation des
Vermögens mit Demolirung des Hauses, aber keine Todes-
strafe — nach uralter Sitte sofort gesteinigt wird. Die
Steinigung war hier, wie bei vielen Völkern, bei denen die
Blutrache gilt, der einzige angewandte Hinrichtungsakt,
weil dann niemand wissen kann, wessen Stein tödtlich war,
und somit keine Blutrache geübt werden kann. Geringere
Vergehen richtet nach wie vor die Dschemua und nie wird
ein Kabyle wagen, gegen ihre Entscheidung zu opponiren.
Nur zweierlei haben die Franzosen gethan, was von den
Kabylen selbst als segensreich anerkannt wird. Einmal
haben sie die sogenannte Schkaia eingerichtet, eine Art
von Kreistag, wo sämmtliche Amins eines größeren Be-
zirkes sich unter dem Vorsitz eiües französischen Beamten
versammeln und in öffentlicher Sitzung die Angelegen-
heiten des Bezirks berathen und jeder Kabyle etwaige Be-
schwerden vorbringen kann. Die Berber haben sich daran
um so leichter gewöhnt, als sie nur einen uralten, dann
und wann geübten Brauch zu einer regelmäßigen Institu-
tion erhebt. Schon immer bestanden im Kabylenlaude Ver-
bindungen von einer Anzahl Dörfer zu einer Konföderation
(Thakebilt) und in einzelnen Fällen sandten noch
größere Gruppen Vertreter zu einem Landtage, der irgendwo
unter freiem Himmel seine Sitzung abhielt. Zum Gedächt-
niß wurden dann, noch im vorigen Jahrhundert, so viele
große Steinblöcke aufgerichtet, als Vertreter dagewesen I.
Sollten nicht manche megnlithische Denkmäler, die weder
Gräber noch Tempel sind und den Alterthumsforscheru so-
viel zu schaffen machen, eine ähnliche Bedeutung haben?
Der zweite segensreiche Akt der französischen Regie-
rung war die Errichtung von Schulen in möglichst vielen
Kabylendörfern. Der Kabyle kommt diesen in einer ganz
anderen Weise entgegen wie der Araber, und überall haben
die Gemeinden gern sich selbst eine Steuer aufgelegt, um
die Schule zu unterhalten. Auch das ist ihnen nicht neu
und ungewohnt; seit alter Zeit zahlten sie überall eine
Steuer zur Erhaltung der Koranschulen, die freilich nur
der geringen Zahl der Kinder der sogenannten Marabuts
zu gute kam, der Schriftgelehrten, welche sich im Laufe der
Zeit zu einer förmlichen Kaste zusammengeschlossen haben.
Allein im Arrondissement des Fort National besuchten im
st Ein solches Steindenkmal errichteten z. B. die AN
Jraten beim Dorfe Aguemmoun zur Erinnerung an
einen denkwürdigen Landtag, der das Erbrecht des Koran, das
man zu Gunsten des alten Herkommens seither auf verschiedene
Weise umgangen hatte, auch rechtlich definitiv beseitigte
(Letourneux).
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
9
vorigen Jahre Uber 800 junge Kabylen und Kabylinnen
die Schulen und die Lehrer sind mit ihren Zöglingen sehr
zufrieden; einzelne sind schon in die Ecol68 normales
(Lehrerseminare) abgegangen und bald werden sie anfangen,
ihre Landsleute zu unterrichten. Wenn es den Kabylen
nach ginge, hätte längst jedes Dorf seinen Instrukteur, aber
die Leute sind zu schwer zu beschaffen und die Erlernung
der kabylischen Sprache ist nicht gerade leicht.
Seit Frieden in der Kabylie herrscht, nimmt die Bevölke-
rung in wunderbarer Weise zu und quillt nach allen Seiten
über. Die Bevölkerungsdichtigkeit der Umgebung von Fort
National wird nur von wenigen französischen Departe-
ments übertroffcn; trotz des unfruchtbaren Bodens kamen
dort schon 1866 beinahe 119 Menschen auf den Quadrat-
kilometer und die mittlere Bevölkerungsdichtigkeit in der
ganzen Kabylie betrug 75,25 (in Frankreich nur 68,83).
So gering die Bedürfnisse des Kabylen sind, für den
einige Hände voll groben Gerstenmehles mit ein wenig
ranzigem Oel eine genügende Tagesration ist, so kann sein
Land doch natürlich diese Ueberzahl seiner Bewohner nicht
ernähren und sie strömen nach allen Seiten hinaus, um
als Tagelöhner oder Hausirer sich etwas zu verdienen.
Wenn irgend möglich, kehren sie aber wieder zurück in ihr
theures Heimathland am kühlen Nordabhang des Adrar
Boudfel (Schneeberg, der bei den Anwohnern allgemein
gebräuchliche Name des Dschurdschura), dessen reine Luft
und dessen klares Quellwasser ihnen zum Leben unentbehr-
lich dünken.
Bis 1854 haben Europäer das Kabylenland nur ganz
ausnahmsweise betreten; der Fremde war dort rechtlos und
vogelfrei, so lange er nicht von irgend einem einflußreichen
Kabylen die Anaia erhielt, das freie Geleite, das den
Beschützer verpflichtet, seinen Schützling höher zu achten
als seinen eigenen Bruder und jedes ihm wiederfahrene
Unrecht zu rächen, als sei es ihm selbst geschehen. Selbst
ein armer Kabyle konnte mit Erfolg die Anaia gewähren,
denn keiner stand allein, jeder war der Hilfe seines Ssof
sicher, der zusammengeschworenen Verbindung, zu der er
gehörte und die für das geringste ihrer Mitglieder eintritt.
Die Anata eines Amin aber verpflichtete dessen ganzen
Stamm und eine Verletzung derselben führte sofort zu
Blutvergießen. Heute kann man das Land nach allen
Richtungen ohne die geringste Schwierigkeit durchwandern.
Mag man eine Empfehlung mitbringen oder nicht, man ist
gastfreundlicher Aufnahme überall sicher. Die Gastfreund-
schaft gehört zu den Fundamentaleinrichtungen der Kabylen,
sie wird von Gemeindewegen geübt und der Amin hat dar-
über zu wachen. Nach einer bestimmten Reihenfolge wird
der Gast bald diesem, bald jenem Hause zugewiesen und
der Amin ist bei Strafe verpflichtet, dem betreffenden
Familienvorstande rechtzeitig die Mittheilung zu machen,
daß nun die Reihe an ihn kommt und er die nöthigen
Vorräthe anzuschaffen hat. Muß er für vornehmere Gäste
besondere Aufwendungen machen, so entschädigt ihn die
Gemeindekasse; doch suchen in solchen Fällen die reicheren
Dorfbewohner gewöhnlich eine Ehre darin, den ärmeren
die Last abzunehmen. Für den Touristen finden sich an
den Hauptorteu gute Wirthshäuser, die ihn von der bei aller
Gastfreundschaft dem Fremden nicht sonderlich appetitlichen
kabylischen Küche emanzipiren, und ein Ansflug in die Kabylie
gehört zum Programm eines jeden Wintergastes in Algier.
Man fährt mit der Bahn nach Menérville, von da
nnt der Diligence durch die sogenannte Ebene vonBour'ni,
eine tiefe Einsenkung zwischen Menérville und Tizi
Ouzou, nach diesem Fort, übernachtet dort und ist bei
guter Zeit am anderen Morgen in Fort National.
Globus XLVII. Nr. 1.
Man muß aber dann denselben Weg wieder zurückmachen,
höchstens mit der kleinen Variante über Dra el Mizan
und Palestro, denn nach Westen hin führt nur ein Saum-
pfad in einem schweren Tagesritt nach Tizimalt und dem
Sahelthal. Das war für uns, denen ohnehin das Urge-
stein der Kabylie wenig Ausbeute an Schnecken versprach —
die hohen Kalkkämme sind vor Ende Mai nicht zugäng-
lich — wenig verlockend und wir entschlossen uns darum,
eine Straße einzuschlagen, die nur selten von Touristen
betreten wird, nämlich dem Südabhang des Dschurdschura
entlang nach Bcni Mansour und von da das Sahelthal
hinab nach Bougie. Betraten wir auch so nicht die eigent-
liche grande Kabylie, so umkreisten wir dafür das Bergland
an seiner Außenseite und lernten, immer auf von Kabylen
bewohntem Gebiete bleibend, das Thal des Jsser und das
des Sahel kennen, die beiden Flüsse, welche den Dschur-
dschura so völlig umgeben, daß er nur durch einen schmalen
Rücken mit dem Hochplateau und dem Dschebel Dira bei
Aumale zusammenhängt. Die Tour ist heute noch einiger-
maßen unbequem; man fährt zwar mit der Diligence, die
Algier und Konstantine verbindet, bis Bord sch Beni
Mansour, aber dort, wo man um Mitternacht anlangt,
ist das Unterkommen sehr fraglich und erst am anderen
Nachmittag kommt ein Kärrnchen, das die einzige Post-
verbindung das Sahelthal hinab darstellt. Schon im
nächsten Herbst indeß wird das Dampfroß die ganze Strecke
zwischen Algier und Konstantine durcheilen und im Jahre
1886 wird auch eine Linie von Bordsch Beni Mansour
nach Bougie eröffnet werden.
Die Bahn nach Menerville zweigt sich in Maison
Carree von der Mctidschabahn ab, aber die Züge laufen
bis Algier durch. Nach Ueberschrcitung des Harrasch
durchführt man den östlichen Theil der Ebene, der dem
centralen an üppiger Fruchtbarkeit nichts nachgiebt. Hier
liegen eine Anzahl größerer Güter, die mit allen Hilfs-
mitteln moderner Technik betrieben werden. Dampf-
Centrifngalpumpen haben die Noriah ersetzt und der
Dampfpflng ist an die Stelle des altrömischen oder richtiger
sogar altphönizischen Instrumentes getreten, mit welchem
der Eingeborene das Land bearbeitet. Weiterhin hebt sich
der Boden etwas und bedeckt sich mit Rebenpflanzungen;
dann verlassen wir die Metidscha im engeren Sinne und
gelangen durch einen lichten Bestand hochstämmiger Eichen
in das Thälchen des Ued Boudouauou. In geringer
Entfernung vom Meere, das mehrfach sichtbar wird, geht
es weiter nach Alma, einem gut gedeihenden Kolonisten-
dorfe. Von da ab beginnt die Bahn zu steigen und sich
zu winden. Große Strecken des Hügellandes sind noch in
arabischen Händen und mit wüstem Buschwald bedeckt, aber
längs der Bahn treffen wir immer häufiger neu gerodete
Weinberge, besonders ausgedehnt um die gegenwärtige End-
station der Bahn. Menerville liegt, wie sein alter und
bekannterer Name Col des Beni Aicha andeutet, auf
einem Col, einer Paßeinsenkung in dem Bergzug, der im
Bou Zegsa kulminirt und das Jsserthal vom Thal des
Boudouauou und der Metidscha trennt. Wenn auch der
große Verkehr, dessen es sich eben als Kopfstation erfreut,
nicht mehr lange bleiben wird, so sichert ihm doch seine
Lage an dem Punkte, wo sich der Verkehr nach der großen
Kabylie abzweigt, eine gewisse Zukunft; auch ist die Um-
gebung fruchtbar und zum Weinbau geeignet.
Der provisorische Bahnhof liegt noch diesseits der
Wasserscheide in einem tiefen Einschnitt, von welchem aus
ein Tunnel den Kamm durchbricht. Wenn man die Höhe
erreicht hat, erhebt sich gerade gegenüber die gewaltige
schneegekrönte Bergmaucr, aber sie taucht wieder hinter die
2
10
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
Vorberge, sobald man in ein Seitenthal des Jsser hinab-
steigt; ihre Gestaltung, ein langer Rücken ohne vorsprin-
genden Gipfel, erinnerte mich an die Sierra Nevada,
wie man sie vom Bahnhof von Loja aus erblickt, aber der
Anblick war doch viel imponirender. Das ganze Jsser-
gebiet ist in europäischen Händen und gut angebaut; die
sonst sehr gute Straße war leider infolge des ungeheuren
Verkehrs, den der Bahubau hervorrief, arg zerfahren und
wir wurden tüchtig geschüttelt. Ueberall drängten sich die
Bahnarbeiter, mit Ausnahme der Steinhauer und Schlosser,
ausschließlich Eingeborene, und zwar meistens Kabylen
aus Marokko, die allen anderen vorgezogen werden. Man
erkennt sie sofort an dem langen lockigen Haar am Hinter-
kopfe (die algerischen Kabylen tragen das Haar kurz ge-
schoren, die Araber rasiren den Kopf). Sie kommen in
organisirten Trupps aus ihren Heimathbergen, immer die
Angehörigen eines Dorfes oder eines Stammes zusammen
unter der Leitung eines frei gewählten Amin, der für sie
bindende Kontrakte mit dem Unternehmer abschließt, die
Anschaffung der Nahrung besorgt und den Lohn in Em-
pfang nimmt, dafür aber auch für seine Leute verantwort-
lich ist. Sie bringen nicht nur ihren ersparten Verdienst
mit in ihre Heimath, sondern auch neue Anschauungen und
Civilisationskeime, die nicht unterschätzt werden dürfen,
namentlich in einem Lande, das sich so nach außen ab-
schließt, wie Marokko. Die Kunde, daß ihre Landsleute
in Algerien so viel besser leben, daß sie ihres Lebens und
ihres Eigenthumes sicher sind und nicht systematisch aus-
geplündert werden wie in Marokko, dringt bis in die
fernsten Thäler der Rif und des Atlas, und wenn einmal
eine europäische Macht die Hand auf den äußersten Westen
Nordafrikas legen will, wird es schwer halten, die Berber
zum Kampfe gegen sie zu entflammen, natürlich nur so
lange ihre alten Gebräuche nicht angetastet werden.
Noch hatten wir ein tief einschneidendes Seitenthal,
welches die Bahn auf einer schon vollendeten Eisenbrücke
kühnster Konstruktion überschreitet, zu passiren und dann
einen weit vorspringenden Bergsporn in mehreren Serpen-
tinen zu übersteigen; dann ging es hinab in das weite
Thal des Jsser. Ein schwacher Araberstamm kam uns
entgegen, armes zerlumptes Volk, Männer, Weiber und
Kinder mit der armseligen Habe beladen, ein paar Ziegen
mit sich treibend, ihr ganzes Besitzthum an Vieh. Sie
mögen wohl bei irgend einem Ausstande ihre Herden ver-
loren haben und ihr Land ist ihnen konfiscirt worden oder
sie haben es verkauft. Das ist das Ende, dem alle Araber-
stämme im Tell (dem kultivirten Nordabhange Algeriens)
entgegengehen; sie sind kaum von unseren Zigeunern zu
unterscheiden; wie sie sich ernähren, weiß nur Allah. —
Eine Strecke weit fuhren wir durch ebenes Land, dann
legte sich plötzlich ein ungeheurer Bergriegel, mit mächtigen
Kalkfelsen zinneuartig gekrönt, gerade vor den Weg; in
ihm klafft ein enges Felsenthor, der Eingang zu den
berühmten Gorges de Palestro. Ein französischer
Kaufmann, der mit uns fuhr, übernahm es, meinen Tor-
nister mit nach Palestro zu nehmen und im Hotel abzu-
geben; wir stiegen aus, um die Schlucht zu Fuß zu durch-
wandern. Sie verdient das wohl, fast noch mehr als die
viel häufiger besuchte Schiffaschlucht, denn hier handelt es
sich wirklich um eine Klamm, eine Felscnschlucht mit senk-
recht abfallenden Kalkwänden. Die Straße ist beinahe in
ihrer ganzen Länge in den Felsen des linken Ufers ge-
sprengt, die Bahn überschreitet unmittelbar vor dem Ein-
gänge den Fluß auf einer Brücke, welche die bedeutendste in
Algerien werden wird, und durchbricht dann in einer Reihe
sich fast berührender Tunnels die Felsen des rechten Ufers.
Hier war früher auch ein Lieblingsaufenthalt der Affen.
Tchihatcheff hat 1879 noch eine Menge gesehen, aber
vor dem Leben, das der Bahnbau gebracht hat, und vor-
dem unheimlichen Dröhnen der Minen sind sie in die
höheren Regionen der Kabylie entwichen und wir sahen
nur noch einen, den ein italienischer Arbeiter an einem
Kettchen führte.
Die Jsserschlucht ist abgesehen von ihrer Romantik eine
hochwichtige Stelle, denn hier finden viele Thierarten ihre
Ost- oder ihre Westgrenze. — Die Kalkfelsen beherbergen
eine reiche Schneckenfauna mit vielen eigenthümlichen Arten,
aber ihre Quantität war auffallend gering. Ich erfuhr
später, daß verschiedene meiner algerischen Fachgenossen im
Laufe des Winters desselbigen Weges gefahren waren und
arge Verheerungen angerichtet hatten. Der Botaniker
findet in der Schlucht weniger Ausbeute, wohl aber in den
Bergen darüber, die freilich nur von den beiden Ausgängen
aus erstiegen werden können.
Wir hatten Algier bei ziemlich winterlicher Temperatur-
verlassen — am 8. April —, aber im Laufe des Tages
schlug das Wetter um und die Sonne brannte tüchtig.
Dabei fehlt in der Schlucht Wasser gänzlich; erst am Aus-
gange, nachdem man einen kurzen Tunnel durch den letzten
Felsenvorsprung und eine hübsche einbogige Eisenbrücke
passirt, rauschen zwei kleine Sturzbttche herab und findet
der durstige Wanderer eine Quelle, an der er sich laben
kann. Hier weichen auch die Wände auseinander und es
thut sich ein weites grünes Thal auf, ehemals ein See, so
lange der Felsriegcl von Tizi Rir noch nicht durchgenagt
war. Nach einer halben Stunde etwa erblickt man das
auf einem Hügel, den der Jsser fast rings umfließt, male-
risch gelegene Palestro und steigt zu ihm durch einen
Ravin hinauf, den die Eisenbahn auf einem sehr langen
Viadukt überschreitet.
Palestro ist ein aufblühendes Städtchen, eines der wohl-
habendsten in Algerien außerhalb der Metidscha. Nur ein
Monument auf dem mit Eukalypten bepflanzten Platze,
dem Hotel gegenüber, erinnert an die völlige Zerstörung
vom 26. April 1871. Damals wohnten etwa 100 Ita-
liener hier. Sie standen in gutem Einvernehmen mit den
Bergkabylen, und als die unheimliche Bewegung im Ge-
birge begann und die Bewohner aller anderen Dörfer im
Kabylengebiet von Haus und Hof flüchteten, glaubten sic
getrost bleiben zu können. Hatten sie ja doch ihren Nach-
barn nie etwas zu Leide gethan! Sie wußten freilich nicht,
daß das ganze Jssergebiet einst den Kabylen gehört und
daß diese nur zähneknirschend die Eindringlinge duldeten,
welche sie ans dem fruchtbaren Thäte in die Berge gedrängt.
Auf einmal sahen sie das Dorf von allen Seiten umringt.
In der Hoffnung auf baldigen Entsatz — ein starker
Marsch hätte die Truppen aus der Metidscha am Bon
Zegsa hin ins obere Jsserthal gebracht, ohne die Schlucht
forciren zu müssen, — vertheidigten sie sich in ein paar Stein-
gebäuden und tödteten eine ganze Anzahl Kabylen; aber am
dritten Tage war die letzte Patrone verschossen und nach-
dem verschiedene Häuser erstürmt und die Vertheidigcr
niedergemacht worden waren, mußten sich die Ueberlebcndcn
ergeben. Aber nur wenige konnten die Führer der Kabylen
ihren erbitterten Leuten entreißen, die Blutrache verlangte
ihr Opfer, und 68 Männer, Frauen und Kinder wurden
auf qualvolle Weise zu Tode gemartert. Das Denkmal,
in seinem Realismus ergreifend wirkend, stellt einen Kolo-
nisten dar, die Flinte in der Hand, die Energie der Ver-
zweiflung im Gesicht; seine Frau, den Säugling im Arm,
ist neben ihm niedergesunken, ein kleiner Knabe umklam-
mert das Knie des Vaters.
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
11
Heute ist die blutige Lehre fast vergessen; auf dem Platze
um den Brunnen bewegen sich Kolonisten und Kabylen im
besten Einvernehmen, und das Dorf ist wieder aufgebaut
worden genau in derselben verzettelten Weise, die jede
Vertheidigung unmöglich macht, wie früher auch. Die
neuen Ansiedler hätten sich vielleicht besser die Bauweise
der deutschen Siedler im Slaven- und Preußenlande zum
Vorbilde genommen und ihr Dorf selbst zur Vertheidigung
eingerichtet, oder wenigstens eine feste bnrgartige Zufluchts-
stätte im Inneren desselben erbaut. Eben sind freilich
die Kabylen ruhig und friedlich, aber es wäre eine Thor-
heit zu glauben, daß sie auf die ihnen entrissenen frucht-
baren Ländereien verzichtet hätten. Die Bevölkerungs-
zunahme läßt sie den Verlust von Jahr zu Jahr schwerer
empfinden und sie werden sich keine Gelegenheit entgehen
lassen, die Vertreibung der Fremden zu versuchen. Die
Armée territoriale allein kann dem nicht abhelfen, denn
wer will in solchen drohenden Zeiten Weib und Kind ver-
lassen, um anderen beizustehen? Würde man aber bei der
Anlage solcher exponirtcn Ansiedelungen ein wenig mehr aus
die Vertheidigungsfähigkeit sehen, so könnte eher an eine
Verringerung der Besatzung gedacht werden. Kosten würden
kaum erwachsen; man brauchte nur die öffentlichen Ge-
bäude, welche die Regierung ja doch in jedem neuen Dorfe
massiv ans Stein erbauen läßt, Schule, Mairie und Kirche,
zweckmäßig zu gruppiern und durch Mauern zu verbinden,
so wäre ein Zufluchtsort hergestellt, welcher den Kabylen
gegenüber Wochen lang vertheidigt werden könnte.
Wir blieben bei unserem ersten Besuche in Palestro in
dem Hotel de France, das bei guter Verpflegung aller-
dings im Punkte der Reinlichkeit etwas zu wünschen übrig
ließ, über Nacht und kehrten am anderen Morgen wieder
zur Schlucht zurück, um den Felsenberg auf dem linken
Jsserufer zu besteigen und dort auf eine seltene, nur in den
Gipselfelfen vorkommende Schnecke zu fahnden. Der Weg
war, da gerade Markt in Palestro abgehalten wurde, sehr
belebt; die Kabylen kamen meistens zu zweien auf einem
Maulthier, was der Araber nie thut, der Südspanier aber
stets; es ist das einer der kleinen aber frappanten Züge,
welche der Spanier mit dem Kabylen gemein hat und
welche jedem Beobachter, der beide Nationen kennt, um so
mehr auffallen, je genauer er sie kennen lernt, bis er schließ-
lich zu der Ueberzeugung kommen wird, daß der Andalusier,
der Rondeno, der Huertano aus den Vegas von Valencia
und Murcia, wie der Bewohner der wüstenartigen Steppen
von Almena nichts Anderes ist, als ein christianisirter Ka-
byle. Es war ein mühsamer Aufstieg durch das Gestrüpp
zum Col de Tizi Rir. Einen Kabylenpfad, dem wir
anfangs folgten, hatten wir bald wieder verloren; hier und
da trafen wir auf sorgsam gepflegte, mit Hecken umgebene
Gerstenfelder, auch auf Feigenbäume und selbst Reben,
aber meistens war der Hang zum Bebauen zu steil. Erst
als wir den ersten Absturz hinter uns hatten und nun in
ein grünes flaches Hochthal kamen, mehrten sich die Feigen-
bäume und Oelbäume und traten auch ausgedehntere Felder
auf. Ein betretener Pfad leitete uns hinüber an die
Felsen, die wie ein schmaler, steil nach beiden Längsseiten
abstürzender Rücken cmporstarrcn, offenbar eine härtere,
senkrecht aufgerichtete Bank, welche der Verwitterung ge-
trotzt hat und nun isolirt emporragt. Man konnte sie auch
chlf der anderen Schluchtscite deutlich erkennen; sie hat
jedenfalls dem Durchbruch der Gewässer das größte Hinder-
niß bereitet.
Am Fuße des Felsens trafen wir auf eine kleine An-
siedelung. Hunde bellten, ein paar Kinder liefen erschreckt
zurück und gleich darauf kam ein arabisch gekleideter statt-
licher Mann aus dem nahen Felde und begrüßte uns in
gebrochenem Französisch. Auf meine Bitte um einen Trunk
brachte er uns Wasser in einem Krug, der ganz den spa-
nischen Jarras glich, außerdem aber auch Halib,
Buttermilch, und eine kleine Porzellantasfe, jedenfalls fein
Stolz, zum Trinken. Mittlerweile waren die Kinder her-
beigekommen und mit ihnen eine noch junge, recht hübsche
und leidlich saubere Frau, die mit neugieriger Verwunde-
rung auf meine Frau starrte, gewiß die erste Europäerin,
welche diese Höhe erstiegen. Leider war eine Verständigung
auf Französisch nicht möglich, ich versuchte es mit der Lin-
gua franca, und siehe da, es ging besser. Der Biedermann
begriff sogar, was ich wollte. Oll, mi sabir, sagte er,
als ich ihm ein paar unten gesammelte Schnecken zeigte,
und führte uns an einigen anderen Häusern vorbei zu den
Felsen, wo wir wirklich die gesuchte Art fanden. Ein
jüngerer Kabyle, der mit einem furchtbaren Hackmesser ein
Stück Holz bearbeitete, schloß sich uns auch noch an; unter-
anderen Umständen hätte es einem bei der Gesellschaft
unheimlich werden können, aber jetzt hat man im Frieden
nichts zu fürchten und die beiden Kabylen halfen uns eifrig
sammeln. Leider war unsere Zeit zu knapp, wir wollten
die Diligence nach Menerville zurück benutzen und mußten
um 1 Uhr wieder unten in der Schlucht sein. Wir
kehrten also zum Dörfchen zurück, um uns noch einmal zu
erquicken. Die Buttermilch aus dem nicht allzu sauberen
Gefäß schmeckte bei der Hitze wie ein Göttertrank. Dies-
mal zog aber die Kabylin meine Frau ins Haus hinein,
sie sollte im Schatten ein wenig ausruhen, ich zog es, da
der Hauseigcnthümer arabisch gekleidet war, natürlich vor,
außen zu bleiben, im eigentlichen Kabylenlande hätte ich
unbedenklich mitgehen können. Durch eine niedere Thür
gelangte meine Frau in einen ganz entsetzlich schmutzigen
Hof, den an drei Seiten niedere Gebäude umgaben. Hier
gesellte sich zu der einen Frau noch eine nicht minder-
hübsche Gefährtin, und sie führten meine Frau, die vor-
dem Schmutz zurückscheute, ins Wohnhaus. Hier sah es
besser aus; der ziemlich ausgedehnte Raum empfing zwar
sein Licht nur durch die Thür, aber der Boden war aus
gestampftem Lehm, glatt und sauber, neben der Thür war-
ein erhöhtes Lager mit einem bunt verzierten Wollcnteppich
bedeckt; an der einen Schmalseite standen vier von den
großen ungebrannten Thongefäßen, in welchen die Kabylen
ihre Borräthe aufbewahren; sie werden von den Frauen
an Ort und Stelle aufgebaut und sind nicht transportabel.
An der anderen Schmalseite standen Töpfe und allerhand
Geschirr, aber eine Feuerstätte befand sich nicht im Raume;
cs schien eine eigene Küche vorhanden zu sein.
Ich war derweile mit bcin Hausherrn draußen ge-
blieben ; er hatte mir mit Stolz seine Zicklein und Kälber
gczeigt — das Großvieh war auf der Weide — und
dann hatte ich mir seine Bienen näher betrachtet. Der
Mann, der überhaupt entschieden wohlhabend war, hatte
mindestens 20 Stöcke auf seinem Stande, lauter lange
vierseitige Kästen von 45 Zoll im Quadrat und 4 bis 5 Fuß
lang, vorn und hinten mit einem Stück Kork verschlossen.
Sie standen auf einem vierfüßigen Gestell und waren durch
ein Stück Korkrinde vor dem Regen, durch eine Stroh-
matte gegen die Sonne geschützt. Sonst hat man im
Kabylenlande auch Stöcke ganz aus Korkrinde; man schält
einfach einen passenden Baum und setzt oben und unten
einen Korkboden ein, so ist der Stock fertig. Die Bienen
müssen gutartig sein, denn obwohl sic um uns herum-
schwärmten, wurden wir nicht gestochen; auch würde man
sonst wohl schwerlich den Stand gerade an der Hausthüre
angebracht haben. Der Honig spielt in Algerien, wo
2*
12
P. E. Richter: Die sociale rc. Stellung der Frauen bei den Huronen und Irokesen.
Zucker selten und theuer ist, noch eine viel wichtigere Rolle
wie bei uns, und das Wachs bildet einen Hauptexport-
artikel. Ich kaun mich aber nicht entsinnen, bei Kolonisten
einen Dzierzonstock gesehen zu haben, so reichen Ertrag
eine rationelle Bienenzucht in diesen Ländern auch ver-
spräche.
Gern hätte ich mir noch alles genauer angesehen, aber
die Zeit drängte. Beim Abschied bot ich unserem Wirth
ein Zweifrankstück an, aber er lehnte es stolz ab, soweit
war er doch arabisirt; als ich es aber dann einem der
Kleinen schenkte, lachte er freundlich; da kam dann doch
der Kabyle zum Vorschein. Unser anderer Begleiter hatte
sich, ohne ein Trinkgeld abzuwarten, schon früher seitwärts
in die Büsche geschlagen. Dann wies er uns noch einen
näheren Nichtweg und trennte sich mit einem herzlichen
hon jour von uns.
Unten fegte ein heißer Südwind furchtbare Staub-
massen die Schlucht hinab und trieb uns in eine Arbeiter-
kantine. Die Wirthin erzählte uns, daß die Arbeiten
beinahe beendigt und die meisten Arbeiter schon weiter ge-
zogen seien; auch sie wäre längst weiter gewandert, aber
ihr Mann liege beinahe blind im Spital in Algier, ihr
Sohn sei ganz erblindet. Die Augenkrankheiten richten
im Süden bei dem Staube und der furchtbaren Hitze ent-
setzliche Verwüstungen an, auch unter den Europäern, noch
mehr natürlich unter den Eingeborenen, bei denen die Zahl
der Blinden Legion ist. Bei weitem die meisten Erblin-
dungen entstehen schon in der frühesten Jugend durch die
blennorhöische Augenentzündung der Neugeborenen und
wären bei einiger Vorsicht zu verhüten, aber der Araber ist
viel zu indolent, um Hilfe zu suchen, ehe es zu spät ist.
Endlich kamen die beiden Diligencen, welche auf der
Straße verkehren, dicht hintereinander, beide gefüllt, was
auf dieser Strecke fast unerhört. Aber es sollte in den
nächsten Tagen in Algier ein großer maskirter Umzug zu
wohlthätigen Zwecken stattfinden, eine jener beliebten Kaval-
kaden, bei denen die Veranstalter soviel Tausende ausgeben
als sie Hunderte zusammenbetteln, und dazu strömte in die
Stadt, wer dort Verwandte hatte. Zum Glück hatte
unsere Wirthin uns Plätze bestellt und man war anständig
genug gewesen, sie uns auch zu reserviren; sie waren hoch
oben aus der Imperiale und Aufsteigen und Absteigen
waren für meine Frau wenigstens etwas kritisch, aber es
ging doch und der unbequeme Sitz wurde uns einiger-
maßen versüßt, als wir sahen, wie verschiedene geputzte
Damen, die mitunter stundenweit nach der Straße ge-
kommen waren, wieder umkehren mußten, ohne Platz ge-
funden zn haben. Am Abend waren wir wieder in Algier,
wo wir noch einige Zeit zubrachten, um dann endgültig die
Reise nach Bongie anzutreten.
Die sociale und politische Stellung der Frauen bei den Huronen und
Irokesen.
Von P. E. Richter.
I.
In den „16. und 17. Peports of the Trustees of
the Peabody Museum of American Archaeology and
Etbnology“ (Vol. 3, Nr. 3 — 4, Cambridge 1884) be-
handelt Lucien Carr dieses von anderen Schriftstellern
meist nur gelegentlich mit einigen Zeilen abgethane Thema
in ganz ausführlicher Weise. Für oder gegen die Carr'fchen
Angaben Stellung zu nehmen, ist, wenn man ältere und
neuere diesbezügliche Litteratur vergleicht, wegen sich wider-
sprechender Behauptungen nicht eben leicht. Haben sich
doch auch die Verhältnisse in den letzten zwei Jahrhunderten
durch den von den Weißen ausgeübten Einfluß theilweise
so geändert, daß man sich nach der Lektüre der verschiedenen
Angaben fragt: was gilt hier, was nicht? Am schlimmsten
ist es, daß einzelne Berichterstatter, wie man zu sagen pflegt,
alles in einen Topf werfen. So sagt Lafitau in feinen
„Moeurs des sauvages amériquains“ (Vol. 1, Paris
1724, 4°.) von den Indianern: „C'est partout le même
esprit de gouvernement, le même génie pour les
affaires, la même méthode pour les traiter, le même
usage pour les assemblées secrettes et solem-
nelles etc.“, und Le Page du Pratz in semer
„Histoire de la Louisiane“ (Vol. 3, Paris 1758, 4°.):
„Ils ont tous foncièrement les mêmes moeurs et
usages, de même que la manière de parler et de
penser etc.“ Und so werden in dem ganz neuen Werke
„Ploß, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde“ (Bd. 2,
S. 504. Leipzig 1855. 8 o.) die Verhältnisse der Jndianer-
srauen mit I8H2 Zeilen abgethan, indem uns kurzweg
berichtet wird, was die Mrs. Eastman einst gesagt. Ihre
Angaben beziehen sich aber auf die Siouxweiber und können
nicht für alle anderen gelten, denn bei näherem Zusehen
zeigt sich, daß bei den verschiedenen Jndianerstämmen zum
Theil ganz verschiedene Gebräuche bestanden haben und noch
bestehen. Auch aus neuerer Zeit ist ein solches allgemein
gehaltenes Urtheil zu verzeichnen, und zwar von. Emil
Ulrici, der in den Jahren 1849 bis 1850 unter India-
nern gelebt hatte (er hält sich jetzt in Missouri auf). Der-
selbe schreibt in einem 1870 bei Türk in Dresden erschie-
nenen, ebendaselbst im Verein für Erdkunde gehaltenen
Vortrage, betitelt: „Die Indianer Nordamerikas“, S. 33,
über die Stellung der Geschlechter wie folgt: „Die Männer
jagen und führen Krieg, die ihnen noch übrig bleibende
Zeit verbringen sie mit Anfertigung ihrer Waffen, Kähne
und Fallen, mit Reden in ihren häufigen Versammlungen
und endlich mit Essen und Schlafen. Die Frauen dagegen
sind die thatsächlichen Arbeiter, die Plackesel, die alles zu
verrichten haben. — Die armen Geschöpfe haben mich oft
gedauert, wenn sie mit Zeltutensilien, Fellen, Körben und
Kindern beladen, ein ebenfalls bepacktes Pony an der Leine
nach sich ziehend, langsam und müde dahinschlichen, während
der Herr Gemahl, schön bemalt und mit stolzem Gesichts-
ausdruck, die Pfeife im Munde, nebenher schritt oder ritt;
die Frau hat nicht nur Holz und Wasser herbei zu schaffen,
das Essen zu bereiten, die Kleidungsstücke anzufertigen,
P. E. Richter: Die sociale re. Stellung der Frauen bei den Hnronen und Irokesen.
13
sondern auch da, wo vielleicht ein wenig Ackerbau getrieben
wird, das Feld zu bebauen und die Früchte einzuheimsen, —
sie hat das vom Manne erlegte Wild nach Hause zu schlep-
pen, es zu zerlegen, das Fleisch durch Trocknen oder Räuchern
haltbarer zu machen, die Felle zu gerben oder anderweitig
für den Gebrauch herzurichten, Beeren und Wurzeln für
den Winter zu sammeln und hunderte von anderen kleinen
Geschäften zu besorgen, wie sie bei Nomaden- und Jäger-
völkern vorkommen. Die meisten Frauen der uncivilisirtcn
Stämme sind, wahrscheinlich in Folge solcher Behandlung,
klein, dünnbeinig, dünnleibig, häßlich und verkonnnen und
strotzen vollständig von Schmutz und Ungeziefer." Ulrici
steht mit seinem Urtheil durchaus nicht vereinzelt da, denn
schon Loskiel sagt in seiner „Geschichte der Mission
der evangelischen Brüder unter den Indianern in Nord-
amerika" (Barby 1789, 8°.), die Delaware-Weiber hätten
es so gut, als es die Lebensart der Indianer zulasse. Bei
den Irokesen aber sei ihre Lage nicht so gut. Der wilde
Irokese sei stolz auf seine Stärke, Herzhaftigkeit und andere
männliche Vorzüge und begegne seinem Weibe mit Kalt-
sinn, Verachtung und nicht selten mit Grobheit. Und solche
mißgestaltete und mißachtete Wesen sollen bei den Huronen-
Jrokesen- Stämmen eine Stellung einnehmen, die fast als
eine herrschende zu bezeichnen ist.
Hören wir nun, was Carr in dieser Beziehung zu sagen
weiß. Nach ihm mag die Bildung der Stämme gewesen
sein, welche sie will, mögen die einen etwas mehr, die an-
deren etwas weniger vom Urzustände sich entfernt gehabt
haben, zweifelsohne wurden sie früher, wenn man von einer
Regierung bei ihnen überhaupt sprechen kann, von Häupt-
lingen und Aeltesten regiert, deren Macht allerdings nur
in der Ueberredung bestand, und die sie mit den Frauen
theilten, „wenn anders dieselbe nicht in letzter Instanz
gänzlich in den Händen der Frauen eines Stammes ruhte."
Hauptsächlich an der Hand des oben citirten Lafitau, der
durchschnittlich auf jeder Seite Vergleiche mit Lydern,
Carern, Mysiern und Gott weiß welchen zum Theil mythi-
schen bei Homer, Herodot, Diodorus Siculus u. a. m. vor-
kommenden Völkern zieht, wird uns gezeigt, daß die Jn-
dianerfrau nicht das arme geplagte Wesen war, als welches
sie gewöhnlich angesehen wird. Carr hat diesem Thema
in Vol. 2 der „Memoirs of the Kentucky Geological
Survey“ schon einen besonderen Artikel gewidmet, auf den
er nur verweist; er beruft sich aber auch auf das Zeugniß
der Mary Iamieson (Life of Mary Jamieson, New
Nork 1856), die ihr Leben unter den Irokesen zugebracht
hat und die behauptet, die Aufgabe einer Jndianerfrau sei
nicht schwerer gewesen als diejenige weißer Frauen, wäh-
rend ihre Sorgen nicht halb so zahlreich oder so groß seien,
wie die der weißen. Das stimmt wieder völlig mit dem
überein, was John Heckewelders (Account of the
History, Manners and Customs of the Indian Nations,
who once inhabited Pennsylvania and the neighboui’ing
States“, Philadelphia 1819) sagt. Es heißt daselbst:
„Die Aufgabe der Frau ist weder hart noch schwierig. Sie
sind sowohl fähig als willig sie zu bewältigen, und thun
es mit Freuden .... Wenn sie wandern oder mit ihren
Männern in Jagdgründe ziehen und zwar ohne Pferde, so
tragen sie ein Bündel ans dem Rücken, welches oft schwerer
zu sein scheint, als es ist. Ich habe nie eine Jndianerfrau
über das Tragen dieser Last klagen hören, die ihren eigenen
Comfort und Unterhalt enthält wie den der Männer." So
sagt auch Horatio Hale in der Einleitung zu „The
Iroquois Book of Rites" (auch unter dem Titel: Briu-
ton s Library of aboriginal American Literature
Number II, Philadelphia 1883, 8°.): „Die vollständige
Gleichheit der Geschlechter in Bezug ans sociale Bedeutung
und Einfluß erhellt ans allen Berichten der alten Missio-
nare, welche darüber am besten urtheilen konnten. Gelegent-
liche Beobachter sind irregeführt worden durch das Fehlen
jener uns ans den Zeiten des Ritterwesens überkommenen
Höflichkeitsbezeugungen, welche, wie angenehm sie auch sich
ausnehmen mögen, doch nur, alles in allem, pure Zeichen
der Herablassung und Protektion der Stärkeren über die
Schwächeren sind. Der Irokese räumt einer Frau nicht
seinen Platz ein, er überläßt ihr nicht den Vortritt beim
Verlassen eines Raumes, aber er sichert ihr den Besitz ihres
Eigenthums, er erkennt ihre Rechte auf die vou ihr gebore-
nen Kinder an und überläßt ihrer Entscheidung die Wahl
des zukünftigen Häuptlings."
Als bewiesen darf angenommen werden, daß die nord-
amerikanischen Jndianerstümme mit wenigen Ausnahmen
in Geschlechter zerfallen und die Abstammung in weiblicher
Linie erfolgt. Nach Morgan (League of the Ilo-dé-
no-sau-nee, or Iroquois, Röthester 1854, 8°.) ist folgen-
des dafür anzunehmen: „Von den Großeltern war noth-
wendigerweise nur die mütterliche Großmutter, von den
Eltern nur die Mutter, und in der absteigenden Linie
konnten nur die Kinder der Schwester von demselben Stamme
sein wie der ProposituS oder dasjenige Individuum, von
welchem die Verwandtschaftsgrade abgeleitet wurden. Die
mütterliche Großmutter und ihre Schwestern galten für
ihn gleicherweise als Großmütter, die Mutter und ihre
Schwestern als Mütter, die Kinder der Schwester einer
Mutter als Neffen und Nichten, die Enkel einer Schwester
als Enkel. Dies waren die hauptsächlichsten Verwandt-
schaftsgrade im Stamme; außerhalb desselben galten der
väterliche Großvater und seine Brüder gleichmäßig als
Großväter, der Vater und seine Brüder als Väter, des
Vaters Schwestern als Tanten (während innerhalb des
Stammes die Brüder der Mutter Onkel waren), die Kinder
der Schwester des Vaters als Vettern und Basen, deren
Kinder als Neffen und Nichten und deren Kinder als
Enkel des Propositus. Die Kinder eines Bruders waren
seine Kinder, die Enkel eines Bruders seine Enkel, die
Kinder eines Bruders des Vaters seine Brüder und
Schwestern, nicht Vettern und Basen, und ihre Kinder
seine Enkel."
Die östlich vom Mississippi und südlich von den Großen
Seen lebenden Indianer lebten zur Zeit, als man sie zuerst
fand, nach Hale in Holzbauten, von oft über 200 Fuß
Länge, die durch Anbauten in der Längsrichtung vergrößert
wurden, getrennt in Abtheilungen, deren jede für eine
Familie bestimmt war. Es sind dies die sogenannten
„Long-houses". Jeder Haushalt beruhte ans dem Prinzip
der Verwandtschaft, die Ehefrauen waren meist Schwestern,
oder überhaupt demselben Geschlechte angehörig, zu dem
ja uatürlich auch ihre Kinder zu rechnen waren. Die
Ehemänner aber und die Frauen der Söhne, wenn solche
in das Haus gebracht wurden, waren nothwendigerwcise
von anderen Geschlechtern, weil Heiratheu innerhalb eines
solchen, selbst wo Adoption vorlag, nie erlaubt waren.
Jedem Haushalte stand eine alte Frau vor (man denke
hier nicht au den verächtlichen und spöttischen Nebensinn,
den die „alte Frau" so häufig in christlichen Gemeinden
hat), welcher die Vertheilung der aus verschiedenen Feuer-
stellen des Hauses gekochten Speisen, je nach Bedarf
der einzelnen Familien, oblag. Was im Hause wohnte,
scheint einen gemeinsamen Vorrath an Speisen besessen zu
haben; so sagt wenigstens Morgan in „Ilouse and Ilouse-
Life of the American Aborigines“ (auch unter dem
Titel: „Contributions to North American Ethnology“
14
Kürzere Mittheilungen.
Vol. IV. Washington 1881. 4».). Die Mehrzahl der
Bewohner eines Hauses gehörte demselben Geschlechte an,
dem der Mütter, und dieses Ueberwiegen eines Geschlechtes
wurde noch vermehrt und fortgesetzt dadurch, daß eine junge
Frau nicht das Haus der Eltern verließ, um einem Manne
zu folgen, der sich einen Hausstand gründete, sondern ihren
Mann in das Haus der Eltern nahm. Alle Jagdbeute
oder wenigstens ein Theil derselben, auch Jahre nach der
Verheirathung, verfiel der Mutter der Frau, und wehe dem
Manne, wenn er lässig war; er konnte in diesem Falle,
auch wenn schon Kinder da waren oder er sonst was in die
Ehe mitgebracht hatte, sein Bündel schnüren müssen, um,
sei es zu seinem Geschlechte zurückzukehren, sei es eine
neue Ehe anzufangen: die Macht, eine Ehe zu lösen, war
ebenso der Frau wie dem Manne eigen, und schon daraus
soll zu schließen sein, daß die Stellung der Frau nicht
entfernt eine fklavenmäßige gewesen sein kann.
Wenn ein Mann sich mit seiner Frau von dem ganzen
Geschlechtshause trennen wollte, so hatte er für ein neues
Heim, ein Wigwam, zu sorgen, und dafür, daß es an
guter Nahrung und Kleidung nicht fehle. Im Wigwam
war die Frau absolute Herrscherin, sie scheint aber nicht
nur dessen Inhalt, sondern auch die Felder und die Ernten
besessen zu haben. Letzteres um so erklärlicher, da sie es
allein war, die das Feld zu bebauen hatte. Carr citirt
hierzu zwei Vorfälle aus dem Ende des vorigen Jahr-
hunderts. Im Jahre 1791 nämlich sprachen die Frauen
in einer Versammlung zu Colonel Proctor: „Du mußt
aus das, was wir Frauen sagen, so gut hören, wie auf die
Aussagen der Sachcms (erbliche Häuptlinge für fried-
liche Angelegenheiten), denn wir sind die Eigenthümerinnen
dieses Landes, wir bebauen es für uns und sie/' Nie-
mand bestritt diese Behauptung, und Red Jacket, der, im
Gegensatz zu seinem früheren Verhalten, zum Sprecher der
Frauen gewählt war, mußte dem Kommissar erklären, die
ältesten der Frauen hätten beschlossen, daß Sachcms und
Krieger den Amerikanern in ihrem Unternehmen helfen
sollten „zum Vortheil der Frauen und ihrer Kinder". Der
zweite Fall trat im Jahre 1797 ein. Hier erhielten, nach-
dem eine Berathung resultatlos verlausen war, die Frauen
von Mr. Morris Geschenke, und darauf machten sie von
ihrem Rechte Gebrauch: die Häuptlinge mußten die Ver-
sammlung, die geschlossen worden war, auf den Wunsch der
Frauen und den der Krieger wieder eröffnen, und es wurde
beschlossen, Land abzutreten unter Bedingungen, welche
vorher nicht angenommen worden waren. Ja, der Häupt-
ling Cornplanter sagte u. a., die Frauen und Krieger
hätten mit Bedauern das ungeeignete Auftreten ihrer
Sachcms gesehen, und Farmers Brother, ein Häuptling,
gab zu, daß das Verfahren der Frauen, die Beschlüsse einer
Versammlung auf diese Weise zu annulliren, bei ihnen
Brauch sei. — Morgan sagt in seiner „League of the
Ho-de-no-sau-nee“, Frauen und Männer eines Stammes
hätten gleiches Anrecht auf die Ländereien gehabt, und in
der That scheinen die noch vorhandenen Urkunden, Quit-
tungen und dergleichen für die Richtigkeit dieser Behaup-
tung zu sprechen, da ans ihnen die Unterschriften der
obersten Frauen, Häuptlinge und Krieger vorkommen.
Kürzere Mittheilungen.
Die Forbes'sche Expedition nach Neu-Gninea.
Nachdem die Royal Geographica! Society 250 Pfd.
Sterl. und die British Association 400 Pfd. Sterl. für die
von Herrn Forbes geplante wissenschaftliche Expedition
nach Neu-Gninea gespendet hat, scheint deren Zustande-
kommen jetzt gesichert, und Herr Forbes wird sich im December
1884 nach Batavia begeben, von wo er seine Reise nach den
Molukken (Ambon) fortzusetzen beabsichtigt, um zunächst dort
Begleiter anzuwerben. Eine der Schwierigkeiten nämlich,
mit denen Reisende auf Neu-Gninea zu kämpfen haben, ent-
steht aus den fortwährenden Streitigkeiten der verschiedenen
Stämme, die natürlich auch ans einheimische Begleiter zurück-
wirken; außerdem aber müssen in Bezug auf die Träger
besondere Maßregeln getroffen werden. Herr Law es, der
in Port Moresby angesiedelte Missionar, ein gründlicher
Kenner des Landes, schrieb über diesen Punkt an Herrn
Forbes: „Einheimische Träger kann man hier beinahe immer
bekommen, wenn nicht etwa ein Fest oder eine des Fisch-
fangs wegen unternommene Expedition die Sache erschwert
und zu einem einige Tage dauernden Aufenthalte nöthigt,
jedoch nur für die erste Station. Die Schwierigkeit besteht
darin, daß sie nicht mit einem Jeden weiter gehen werden;
in jedem neuen Distrikt muß man neue Leute anwerben und
das ist manchmal ziemlich mühsam. - Die Sprache im Innern
ist ganz verschieden von den an der Küste gesprochenen
Dialekten, wodurch es sehr schwer wird, sich den Leuten ver-
ständlich zu machen und ein Abkommen mit ihnen zu treffen.
Natürlich ist dieser Punkt von der größten Bedeutung
für eine Expedition, welche in einem Lande unternommen
wird, wo es vor allem darauf ankommt, von der durch
Fieber heimgesuchten Küste in das fieberfreie (?) Innere zu
gelangen.
Von Ambon beabsichtigt Herr Forbes mit seinen Be-
gleitern über Batavia, Queensland und die Thursdayinsel
die Reise nach Port Moresby fortzusetzen und von hier
hofft er im Mai die eigentliche Expedition antreten zu
können; es liegt in seiner Absicht, auf einem der in Redscar-
Bai einmündenden Flüsse in das Innere einzudringen und
sobald als möglich einen guten Lagerplatz im Gebirge zu
erreichen. Im Falle die Eingeborenen sich friedlich zeigen
und Nahrungsmittel in genügender Menge liefern, sieht er-
den Plan nicht für aussichtslos an, die nördliche Küste der
Halbinsel zu erreichen, doch wenn auch nur die wissenschaft-
liche Erforschung der Owen-Stanley-Kette glückte, würde
dies ein sehr bedeutendes Resultat sein.
Alles, was Forbes aus seiner Reise nöthig hat, nament-
lich auch die zahlreichen Gegenstände, welche als Tauschmittel
im Verkehr mit den Eingeborenen werden dienen müssen,
muß er mit sich führen und in Port Moresby ein Depot
anlegen; namentlich Tabak und Salz sind für den Tausch-
handel nöthig, Geld spielt im Verkehr mit den Eingeborenen
gar keine Rolle. Nahrungsmittel (mit Ausnahme von Salz)
hofft man im Innern in genügender Menge bekommen zu
können, wenn nämlich die Eingeborenen nicht feindlich sind;
Früchte allerlei Art und mehrere Arten Vögel kommen den
eingezogenen Nachrichten nach in genügender Menge vor.
Ob Frau Forbes ihren Mann wiederum begleiten wird,
scheint noch fraglich; trotz der großen Schwierigkeiten, welche
damit verbunden sein werden, tritt Herr Lawes diesem Ge-
danken nicht direkt entgegen. Der Zug im Gebirge soll
Aus allen Erdtheilen.
15
aber für jeden anderen als einen erfahrenen Bergsteiger
große Schwierigkeiten bieten.
Brasilianische Kolonisationsbemühungen.
Angesichts der Rührigkeit, mit welcher Plötzlich das
junge Deutsche Reich sich seiner überseeischen Interessen
annimmt, und im Hinblicke auf die kolonialpolitische Be-
wegung , von welcher gegenwärtig die führenden Staaten
der alten und der neuen Welt erfaßt wurden, hat sich vor
mehreren Monaten das brasilianische Kaiserreich gleichfalls
ermannt, um aufs neue den Versuch zu machen,
den europäischen Auswandererstrom an die brasilianischen
Gestade zu lenken. Auf die Initiative dreier Deutschen,
Blumenau, Gruber und Koseritz, hin wurde zu diesem
Zwecke am 14. Oktober 1883 bereits eine Gesellschaft kon-
stituirt, welche mit allen Mitteln der mündlichen und schrift-
lichen Werbung die Besiedelung des menschenarmen Reiches
durch europäische Einwanderer zu betreiben Willens ist. —
Auf dem Wege der Petition, durch die Presse, durch Bekannt-
schaften und den persönlichen Einfluß der Mitglieder will
man zugleich darauf hinwirken, daß dem Lande Gesetze
gegeben werden, geeignet, um dasselbe den Einwanderern zu
einem wahren Adoptiv-Vaterlande zu gestalten, nachdem für
Aufnahme und Niederlassung der Ankömmlinge auf vorher
vermessenen Ländereien gesorgt sein würde. Weiter will
man sich in Verbindung setzen mit den verschiedenen aus-
ländischen, zu Gunsten Brasiliens gesinnten Vereinen, um
ein gegenseitig ersprießliches Zusammenarbeiten anzubahnen.
Auch soll in denjenigen Ländern Europas, welche die
besten Einwanderer liefern, eine direkte Propaganda organi-
sirt werden. Der vornehmlich in Betracht kommende Theil
Brasiliens, wohin man die Ansiedler in größerer Zahl zu
dirigiren wünscht, ist das Gebiet der Provinzen Rio Grande
do Sul, Santa Catharina, Parana, S. Paulo, Minas
Geraes, Rio de Janeiro und Espirito - Santo. Betreffs
desselben ist schon ein Verzeichniß in Angriff genommen
worden, über alle noch seitens der Regierung oder durch
Kauf von Privaten zu vergebenden Ländereien, welches auf
dem Centralbüreau der Einwanderungs-Gesellschaft in Rio
de Janeiro eingesehen werden kann. Auch ist Sorge dafür
getragen, pekuniäre Subsidien für bedürftige Auswanderer
zur Verfügung zu halten, mittels deren wenigstens eine
Passage-Ermäßigung oder Befreiung in Aussicht gestellt
werden kann. Das Direktorium dieser unter Umständen
vielvermögenden neuesten Kolonisationsschöpfnng Brasiliens
besteht unter anderen aus dem Gencrallieutenant de Beaure-
paire-Rohan, dem Generaldeputirten Dr. Alfredo de Escra-
gnolle-Taunay, dem österreichisch-ungarischen Ehreu-General-
Konsul Fernando Schmid, Pros. Hugo A. Gruber, Baron
de Jrapuä und etwa 20 anderen hochangesehencn Persönlich-
keiten in Rio de Janeiro. — Wie jeder Neuerung sind auch
der auf obiger Basis gegründeten Einwanderer-Gesellschaft
die heftigsten Anfeindungen nicht erspart geblieben. Das
ministerielle Entgegenkommen, aus das man bei dem Vor-
haben anfangs große Stücke gebaut, ist nebenbei ein so
geringes, daß wir persönlich uns nicht dazu verstehen können,
dem Unternehmen ein günstigeres Progtiostikon zu stellen,
als den vielen ähnlichen Projekten, die früher dort zu Lande
existirten. Am meisten wird man, wie immer bei solchen
Anläufen in Brasilien, mit der starren anti-germanischen
Opposition zu kämpfen haben. Was im Juli demnach per-
sönlich in Deutschland und der Schweiz durch einen der
Direktoren, Herrn Hugo Gruber, eingeleitet wurde, wird sich
nach unserem Dafürhalten höchst wahrscheinlich als ein nutz-
loser Schlag ins Wasser erweisen. Dazu kommt aber noch,
daß man in Mitteleuropa momentan außerordentlich wenig
Sinn für eine Befürwortung der brasilianischen Auswande-
rung hat. Die allgemeine Loosung für diejenigen, welche
nicht den Kampf ums Dasein in Nordamerika aufnehmen
und doch ihrem Glücke in fremdem Welttheil nachjagen
möchten, ist Afrika! Niemand läßt sich auch so leicht in
diesem Punkte irre machen und wenn brasilianische Blätter
selbstzufrieden berichten, ein Herr Georg Berg in Capetown
habe erst die neue Centralgesellschaft mit der Meldung er-
freut: 616 deutsche Kolonisten wünschten Südafrika zu ver-
lassen und nach Brasilien überzusiedeln, so macht das gegen-
wärtig auf das Gros unserer Afrika-Auswandernngslustigen
gar keinen Eindruck. Der afrikanische Kredit ist — um es
kurz zu sagen — im Steigen, der brasilianische im Fallen
begriffen.
Aus allen
Afrika.
— Unter Leitung von M. Horaud untersucht eine
französische Mission die Küsten Tunesiens. Ihre Ar-
beiten sind im Sommer 1884 südwärts bis in die Bucht
von Gabes gediehen; dort sollen sie im kommenden Früh-
jahre wieder aufgenommen und dann bis zum Schlüsse des
Jahres 1885 zu Ende geführt werden. — Auch die proviso-
rische Karte von Tunesien im Maßstabe von i: 200 000 geht
rasch ihrer Vollendung entgegen.
— Einen bemerkenswerthen Beleg dafür, wie umsichtig
und betriebsam der deutsche Handel auch in dem Gebiete
der französischen Kolonie Gabun durch das Haus
Woermann organisirt und geleitet worden ist, gewährt der
von dem deutschen Konsulat daselbst für das Jahr 1883 er-
stattete Geschäftsbericht, den die „Nordd. Allg. Ztg." im
Auszuge nlittheilt. Aus demselben ist zu ersehen, einen wie
regen Aufschwung der deutsche Exporthandel daselbst, nament-
lich seit Eröffnung einer direkten Dampferlinie zwischen
Hamburg und jener Küste, genommen hat. Die Wocr-
E r d t h e i l e n.
mann'schen Schiffe (43 an der Zahl) versorgen jene Be-
sitzungen seit längerer Zeit mit allen Arten von Lebens-
bedarf und laden auf der Rückreise nach Hamburg über
Havre Elfenbein, Gummi Elasticum, Palmöl, Palmkerne,
Eben- und Rothholz. Der Antheil, den die französische
Handelsflagge und Kauffahrtei an dem Geschäft mit den
Stämmen am Gabuufluß nimmt, ist verschwindend klein
dagegen zu nennen; kaufmännisch haben die Deutschen hier
Positionen gewonnen, die ihnen jetzt, wo sie ganz in der
Nachbarschaft ihre eigenen Stützpunkte finden, zur weiteren
Ausbreitung und Stärkung des deutschen Elements nur
förderlich sein können. Zu den Erzeugnissen der deutschen
Industrie, die sich immer mehr in den dortigen Markt ein-
führen und bereits den Negern unentbehrliche, viel begehrte
und beliebte Tauschartikel bilden, gehören namentlich sächsische
und rheinische bedruckte rothe Kattune und andere Baum-
wollcnwaaren; ferner konkurriren grobe und feine Eiseu-
(Hagen) und Messingwaaren vollständig mit den englischen.
Seit Jahren beherrscht Deutschland an der ganzen Küste den
Markt in Pulver, und erstaunliche Mengen gehen davon mit
16
Aus allen Erdtheilen.
jedem Schiffe von Hamburg und Bremen ab; auch Berliner-
Artikel, Konfektionswaaren, Lampen u. s. w. finden immer
mehr Anklang und verdrängen die sogenannten ^.rtiolss
äs Paris. Ein neuer deutscher Industriezweig hat seit
einem Jahre dem amerikanischen Import von mit Papier
und Blech verzierten Holzkoffern den Rang streitig gemacht;
es ist unglaublich, welche Mengen von diesem Artikel hier
Absatz finden. Durch Anweisungen und Drängen der Ham-
burger Exporteure sind denn unsere Fabrikanten endlich da-
hin gelaugt, diese bisher von New-Pork gelieferten Artikel
vollkommen konkurrenzfähig auf den afrikanischen Markt zu
bringen. Auch Glaswaaren (Karaffen und Gläser rc.) sowie
sächsisches Steinzeug werden in immer größeren Mengen
von Deutschland aus bezogen. Das Interesse des deutschen
Handelsstandes an Afrika ist noch immer im Steigen be-
griffen, wie die vielen Anfragen von Fabrikanten über Aus-
kunft nur zu gut bezeugen. Dasselbe ist auch vollkommen
berechtigt, da die Aussichten auf immer weitere Erschließung
des schwarzen Kontinents gegenwärtig die denkbar günstig-
sten sind.
— Im Verlage von G. Behrend (H. Förstner) in Berlin
ist soeben eine Broschüre „Die deutsche Kolonie Ga-
me run" von Dr. Anton Reichenow erschienen unter
Beifügung einer vom Verfasser aufgenommenen Orig inal-
karte. Während zweier Jahre hat der Autor die Tropen
Westafrikas und speciell die Camerungegend zum Zwecke
naturwissenschaftlicher Forschungen bereist, und gilt als einer
der besten Kenner dieses Landstriches. Die Broschüre läßt
eine scharfe Beobachtungsgabe und lebensfrische Schilderung
erkennen, und bietet das vorliegende Werk eine ebenso sach-
lich genaue und belehrende als anregende und unterhaltende
Lektüre. Der Inhalt umfaßt eingehende Schilderungen der
Landesbeschaffenheit, des Pflanzen- und Thierlebens, der
Jahreszeiten, des Klimas, der Bewohner und des europäi-
schen Handels in jenen von der Natur so bevorzugten
Gegenden, über denen jetzt die deutsche Flagge weht.
— Das kleine Kanonenboot, welches die Franzosen
zu Anfang 1884 in Bamaku auf dem oberen Niger vom
Stapel gelassen haben, ist kürzlich diesen Strom etwa 70 km
hinab bis Kulikoro gefahren und hat den Flußlauf aufge-
nommen. Die Stromschnellen unweit Bamaku konnte es
ohne Schwierigkeit passtren, und man hofft, mit ihm Tim-
buktu erreichen zu können. Uebrigens ist ein Maure, an-
geblich Abgesandter der Kaufmannschaft von Timbuktu, in
St. Louis eingetroffen, um mit dem französischen Gouver-
neur über die Eröffnung einer Handelsstraße von Timbuktu
über Bamaku, Kita, Bafulabe rc. nach St. Louis zu unter-
handeln. Bisher geht der Handel Timbuktus bekanntlich
nach Marokko.
— Dr. Oskar Lenz, Timbuktu. Reise durch
Marokko, die Sahara und den Sudan (2 Bde. 8°. Leipzig,
Brockhaus). Der lange erwartete Reisebericht des kühnen
und glücklichen Reisenden ist nun endlich in zwei stattlichen
und inhaltreichen Bänden Z erschienen, die uns ein an-
Z Dieselben enthalten 57, meist nach Photographien her-
gestellte interessante Abbildungen und 9 Karten, letztere unver-
änderte, ader leider durch sehr zahlreiche Stichfehler in den
Namen entstellte Reproduktionen des 1881 in der Zeitschrift der
Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin erschienenen Originals.
Red.
schauliches Bild entrollen von den durchreisten Ländern
Marokko, dem unabhängigen Berberlande des Usd Sus
mit seiner fanatischen räuberischen Bevölkerung, Tarudant,
der wichtigen Handelsoase Tendus und der Sahara bis
A rau an, dem gewöhnlichen Ziele der Timbuktu-Karawanen,
einer neu gegründeten, in trostloser Dünenumgebung gelegenen,
aber durch wasserreiche Brunnen hochwichtigen Stadt, die dem
Reisenden durch Hitze, Fliegenplage, Sandstürme, ungesunde
Lage und schlechte Nahrung zu einer wahren Hölle wurde.
Einige Tagereisen weiter südlich beginnt der große Mimosen-
wald , welcher die ganze Sahara nach Süden umsäumt, und
damit der Sudan. Von dem sonst so ungastlichen Timbuktu
giebt der Reisende sogar eine Ansicht; sein dreiwöchentlicher
Aufenthalt war leider vielfach durch Fieber und andere
Krankheiten getrübt und die Unsicherheit der Umgegend
gestattete nicht einmal einen Besuch von Kabara, der
Hafenstadt von Timbuktu. Hadsch,Ali, der Dolmetscher und
Reisebegleiter, spielte hier als Scherif (Lenz bestreitet ihm
diese Qualität und auch die hohe Stellung im Khuan der
Khadriya, aber Hadsch Ali kann seinen Stammbaum wirklich
bis zu den Fatimiden zurückführen und ist ein Schwester-
sohn des Emirs Abd el Kader) eine große Rolle und hatte
nicht übel Lust ganz da zu bleiben. Die Weiterreise durch heid-
nisches oder wenigstens nicht arabisches Land bewies mit
unzähligen Widerwärtigkeiten, was sein Schutz werth ge-
wesen. Lenz läßt auffallender Weise überall eine gereizte
Stimmung gegen seinen Begleiter durchblicken, obwohl er
ohne ihn niemals durch den Sus und schwerlich nach Tim-
buktu gekommen wäre. — Die Weiterreise in ganz kleiner
Gesellschaft, bei fast erschöpften Mitteln und durch Neger-
gebiet war schwieriger und gefährlicher als die Wüsten-
wanderung; bei einem Ueberfall der Ul ad el Alusch,
eines gefürchteten Raubstammes, zum Glück arabischer Ab-
stammung, gelang es Hadsch Ali nur mit Mühe, durch ener-
gisches Hervorkehren seiner Heiligkeit und vornehmen Ab-
kunft, die kleine Karawane zu retten. Unter Führung der
Räuber wurde der Weg durch die Negerländer, das Gebiet
der Bambara, der fanatischen Fulbe und dann mit einigen
marokkanischen Sklavenhändlern nach dem Senegal ange-
treten, den man am 2. November bei dem französischen Posten
Medina erreichte.
Das vorliegende Werk, auf welches wir noch zurück-
kommen, enthält außer dem Bericht über die Reiseerlebnisse
und die Schilderung der durchreisten Länder und ihrer Be-
wohner noch eine Menge hochinteressanter Notizen über die
Geologie, die Botanik und die Zoologie Nordwestafrikas und
ist unbedingt eine werthvolle Bereicherung der neueren Reise-
litteratur; wir empfehlen es allen unseren Lesern.
A u st r a l i e n.
— Die Zahl der Chinesen in Australien und Neu-
seeland betrug nach dem Census von 1881: 43 706 Indivi-
duen, wovon nur 362 weibliche. Es entfielen auf Victoria
12128, auf Neusüdwales 10205, ans Queensland 11 229,
auf Südaustralien 4151, auf Westaustralien 145, auf Tas-
manien 844 und auf Neuseeland 5004 Chinesen. Im Jahre
1859 waren in Victoria allein nicht weniger als 42 000
Chinesen an den Goldgruben, also nahezu soviel, wie heut
in allen sieben australischen Kolonien.
Inhalt: Reisen in Gurien und am oberen Kur. 1. (Mit sechs Abbildungen.) — W. Kobelt: Skizzen aus
Algerien. II. (Erste Abtheilung.) — P. E. Richter: Die sociale und politische Stellung der Frauen bei den Huronen
und Irokesen. I. — Kürzere Mittheilungen: Die Forbesffche Expedition nach Neu-Guinea. — Brasilianische Koloni-
sationsbemühungen. — Aus allen Erdtheilen: Afrika. — Australien. (Schluß der Redaktion: 2. December 1884.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
|lit besonderer HerurksichtrZung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet vor: Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 Q Q
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen. Oe. O♦
Reisen in Gurten und am oberen Kur.
Nach dem Französischen der Madame Carla Serena.
II.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Der Felsen, welcher die Burg von Gori trägt, hängt
mit dem Berge Cwernak zusammen, der sich 7 Werst weit
bis nach Uphlis-Tziche hinzieht. So heißen die Reste
einer alten Stadt und auch ein modernes Dorf, welches
auf einem zum Kur hin sich abdachenden felsigen Hügel
steht. Der obere Theil desselben ist von Höhlen in mehre-
ren Stockwerken über einander durchsetzt; es finden sich dort
Säle von der verschiedensten Größe, an deren Wänden
und Decken künstlerisch ausgeführte Reliefs, Krieger und
Thiere darstellend, angebracht sind. Diese Troglodytenstadt
soll einst die Residenz des georgischen Königs Uplos gewesen
sein, von dessen Geschichte aber sonst nichts genaues bekannt
ist. Heute liegt alles öde und verlassen da, denn die Bauern
und Fischer des Dorfes unten fürchten sich hier hinauf zu
steigen.
Im Bezirke von Gori wohnt außer den früher genann-
ten Stämmen noch eine große Zahl von christlichen Osseten,
und zwar in den Bergen. Der Bezirk beginnt 3 Werst
von Mtzchcth, der alten Hauptstadt Georgiens, und zieht
sich bis zur Station Stracha-Jakob hin, welche ans der
Domäne Borfhom, dem Eigcnthume des Großfürsten
Michael, liegt. Dieser galt der nächste Ausflug. Die
steife dorthin von Gori aus ist nicht lang; zuerst benutzt
man die Eisenbahn bis zu dem ehemaligen Flecken Kachuri,
welcher heute den Namen Michaelow führt. Vor Erbauung
der Eisenbahn bestand der Ort nur ans einigen, von armen
Globus XLVII. Nr. 2.
georgischen Bauern bewohnten Hütten, heute dagegen besitzt
er ansehnliche Häuser und einen eleganten und geräumigen
Bahnhof, den einzigen seiner Art in Kaukasien. Das ver-
dankt er der Nähe von Borfhom und dessen großfürstlichem
Besitzer. Von Michaelow führt dann wöchentlich zweimal
ein sechssitziger Omnibus nach dem 27 Werst entfernten
Borfhom, und zwar auf einer vortrefflichen Chaussee, die,
mit einem Geländer versehen, längs des Kur aufwärts
läuft. Die Gegend, sowohl unten im Thalc als auch auf
den Hügelabhängen, ist sorgfältig angebaut und reichlich
mit Dörfern besetzt, und hinter den Hügeln steigen hohe
Berge empor, auf denen zuweilen ein stolzer Thurm oder
eine zerfallende Burg den Blick auf sich zieht. Dunkles
Nadelholz bedeckt die Höhen, welche der Hauptstadt Tiflis
ihr Brennmaterial liefern; mit Vergnügen folgt das Auge
des Reisenden den mit Holz beladenen Flößen, welche ans
dem schönen Flusse unten ihrem fernen Bestimmungsorte
entgegenschwimmen.
In einiger Entfernung von einem alten Thurme, welcher
einst den Zugang zu Borfhom vertheidigte, bemerkt man
die Reste einer georgischen Brücke, deren Bogen die Felsen
zum Stützpunkte dienten; auf der ganzen Strecke giebt cs
ihrer vier oder fünf. Je weiter man kommt, um so groß-
artiger wird die Landschaft; bis zum höchsten Bergesgipfel -
hinauf nichts als kräftiger, frischer Hochwald, zwischen dessen
hundertjährigen Stämmen Villen und Landhäuser hervor-
3
18
Reisen in Gurien nnd am oberen Kur.
lugen. Nur hier und da verräth eine kleine Lichtung die
Thätigkeit des Kohlenbrenners. Zn der Zeit, als Mme.
Serena reiste, begegnete man auf der Straße nur einer
oder der anderen Perekladnaja (landesüblicher Wagen) voll
Reisenden oder einem bäuerlichen Planwagen; im Sommer
dagegen wimmelt es von Touristen, welche dem heißen
Tiflis entfliehen und Erfrischung im schattigen Borshom
suchen. Die Straße steigt ganz allmählich an, bis man
sich etwa 2300 Fuß über dem Spiegel des Schwarzen
Meeres befindet.
Das Dorf Uphlis-Tziche.
Der Name Borshom soll von einem tatarischen Worte
Herkommen und „befestigter Platz" bedeuten. Der Ort
liegt am rechten Ufer des Kur, welcher dort zwei Zuflüsse
empfängt, die durch den Zusammenfluß des Gudskareti-
tzakli und des Bakuriani-tzakli entstandene Borshomka, und
dann den Schawi-tzakli (d. i. Schwarzwasser). Borshom
Kirche über dem Troglodytendorfe Uphlis-Tziche.
heißt außerdem noch ein zerstörtes Fort, welches jenseit der
Ebene von Sur am au einer Stelle liegt, wo sich das Thal
des Kur sehr verengert.
Seit Jahrhunderten hatte Borshom der altgeorgischen
Fürstenfamilie Avala gehört, als der Statthalter des Kau-
kasus, Fürst Worontzow, die günstige Lage des Ortes für
die Ausfuhr des Holzes erkannte und ihn für die russische
Regierung zu kaufen beschloß. Die Avala willigten ein
und verlangten nur eine jährliche Rente von 1000 Rubel
für ein Besitzthum von 69 799 Desjatiucn Umfang, wovon
Reisen in Gurien und am oberen Kur
19
etwa 50 000 mit herrlichen hundertjährigen Bäumen und
zum Theil mit Urwald bestanden waren. Anstandshalber
ging Worontzow auf eine so übertrieben mäßige Forderung
nicht ein, sondern bot das Fünffache, worauf der Handel zu
Stande kam. Als Alexander II. int Jahre 1871 den
Kaukasus besuchte, schenkte er die Besitzung seinem Bruder,
dem Großfürsten Michael. Hervorzuheben ist, daß mehrere
der ursprünglichen Besitzer der Domäne heute als gcwöhn-
liche Arbeiter ans dem Boden ihrer Vorfahren beschäftigt
sind, fo einer als Chaufseearbeiter, der täglich 50 Kopeken
verdient. Da er noch nicht majorenn ist, so erhält er noch
nicht den auf ihn entfallenden Antheil an der seiner Familie
ausgeworfenen Rente; andere Mitglieder des Geschlechtes
erhalten monatlich 10, 15 oder 20 Rubel je nach ihrem
Verwandtschaftsgrade.
Wegen der Nähe von Achaltzich, das einst der Haupt-
Das Landhaus des Großfürsten Michael in Borshom.
sklavenuiarkt des ganzen Kaukasus gewesen ist, hat Borshom
viele Plünderungen über sich ergehen lassen müssen, sowohl
von Seiten der Türken, als auch von der der Lesghier, auf
deren großen Durchzugsstraße es lag. Dadurch erklärt sich
anch die Menge zerstörter Befestigungen, mit denen dieser
Erdenwinkel bedeckt ist. Zwei derselben, Petres-tziche am
linken und Gogias-tziche am rechten Ufer des Kur, gehörten
zwei Brüdern, deren Namen sic tragen und sind der Schau-
platz mancher Sage. Einem dieser Forts liegt heute eine
Kaserne mit Zinnenmauern gegenüber, welche 150 Soldaten
beherbergen kann; in der Sommerszeit kampirt diese Gar-
nison auf ihrem Exercierfelde.
Seitdem Borshom in den Besitz der Regierung gekommen
ist, hat sich sein Aussehen sehr verändert. Die warmen
Quellen der Nachbarschaft, die bis dahin nur von wenigen
Besuchern aus den untersten Ständen frequentirt worden
waren, sahen nun eine Menge vornehmer Gäste herbei-
strömen, welche die Anwesenheit des Fürsten Worontzow
3*
20
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
herbeilockte, und man fing an, elegante Villen zn errichten.
Der Fürst selbst bewohnte zuerst ein ganz einfaches Bauer-
häuschen. Heute giebt es in Borshom einen Park, eine
Badeanstalt und Promenaden jeder Art; es ist eine Art
kleiner Stadt geworden, die sich ans mehreren bestimmt von
einander geschiedenen Quartieren zusammensetzt. Das eine
derselben zieht sich längs des Kur an der Straße nach
Achaltziche hin; dort hat der Großfürst sein Schloß und die
feine Welt von Tiflis ihre Landhäuser. Ein zweites Quar-
tier liegt aus der entgegengesetzten Seite des Flusses, über
den eine schöne eiserne Brücke führt, und zieht sich terrassen-
förmig, aber in buntem Durcheinander am Berge hinauf,
an dessen Fuße die Kaserne und zwei Kirchen liegen. Ein
drittes, das bcstgelegene von allen, befindet sich in dem
Engpässe, der zn den Bädern führt; diese Villenstraße
heißt nach der Tochter des Großfürsten Anastasicwskaja.
Endlich liegt etwa ein Dutzend Häuser dem Schlosse gegen-
über unmittelbar am Ufer des Kur.
Das großfürstliche Lustschloß ist am Abhange eines
Hügels erbaut und weist eine Mischung von Stilarten auf,
welche mit seiner Umgebung und Lage ganz im Einklang
steht; prächtig heben sich seine röthlichen Mauern, seine
Balköne und Gallerten und sein Thurm von dem dunkeln
Grün der umgebenden Nadelhölzer ab. Die innere Aus-
stattung ist von bemerkenswerther Einfachheit: statt Seide
und Brokat findet man in Wohn- und Schlafzimmern ge-
blümte Cretonne. Das Speisezimmer ist mit den Jagd-
trophäen des Schloßherrn, Hörnern und Klauen, verziert,
und nur sein Wohnzimmer zeichnet sich dadurch ans, daß
es im orientalischen Geschmacke eingerichtet ist. Um das
Schloß dehnt sich ein großer, mit seltenen Pflanzen gefüllter
Garten aus. Leitungen führen ihm von den Bergen her
frisches Wasser zu, durchziehen ihn in jeder Richtung und
speisen zahlreiche Springbrunnen. Das Klima ist gut und
gesund, die Luft mit harzigem Tannendufte erfüllt und das
Bad ist ungefähr so eingerichtet, wie eine der deutschen
Gcsundheitsstationen. Die thermo - alkalinischen Quellen
haben eine Temperatur von 21» R. und werden gegen
Thal bei
Magenleiden, Katarrhe rc. empfohlen. Außerdem giebt
es Piscinen für kalte, warme und elektrische Bäder, einen
Arzt und eine Hebamme, ein hygienisches Gymnasium,
Bibliothek, Lesezimmer, Koncert- und Theatersaal, alles
zierlich und gut gehalten. Morgens und abends spielt die
Militärmnsik im Parke, und einer der malerischsten Spazier-
wege führt durch die Schlucht der Borshomka, deren schäu-
mende Wasser man ans acht Brücken überschreitet. Hundert-
jährige Bäume beschatten die Kaskaden, die sich unaufhörlich
in dem Bette des Stromes folgen, und einsame Spazier-
wege ziehen sich durch den prächtigen Hochwald nach allen
Richtungen hin.
Eine andere entzückende Promenade in Borshom ist der
Park Worontzow, wo auf dem Gipfel eines Plateaus mit
prächtiger Aussicht eine dunkle Masse von Coniferen sich
erhebt; er liegt über dem rechten Ufer des Kur, dort, wo
sich das Schwarzwasser in denselben ergießt. Einer der in
diesem Parke angebrachten Durchhaue gewährt einen Blick
aus eine Felsenspalte, aus welcher ein Bach hervortritt;
bei starkem Regenwetter führt derselbe solche Massen von
Borshom.
Saud und Geröll mit sich, daß er öfters 24 Stunden lang
den Verkehr auf der Chaussee vollständig sperrt. Daher
ihr Name: die „tolle Schlucht".
Der größte Ertrag Borshoms rührt von den Wäldern
her, welche jährlich zwischen 3O 000 und 50 000 Bretter
zn Bauzwecken, ganz abgesehen von den Klötzen zum Heizen,
liefern; all dieses Holz wird ans Flößen nach Tiflis ge-
schafft. Die Bevölkerung besteht ans einem Gemisch von
Mohammedanern, Juden, Georgiern, Griechen, Armeniern
und Russen. Es existirt dort eine Freischule, und bald nach
dem Besuche der NUm. Serena wurde auch ein Hotel er-
öffnet, während sich der Reisende bis dahin mit einer elen-
den kaukasischen Herberge hatte begnügen müssen.
Unter den von Borshom aus zn unternehmenden Aus-
flügen verdient ein Besuch des alten St. Georgsklosters
besondere Erwähnung. Dasselbe liegt einige Werst von
dem Dorfe Lykanka, das auch nach einer Privatbesitznng,
die aus einem Gutshofc, einer Theer- und Terpentinfabrik,
einer Mühle und Branntweinbrennerei besteht, den Namen
Mistigris trügt. Der Weg dorthin führt zuerst am Kur
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
21
entlang, überschreitet ihn dann ans einer Brücke und Passirt
einen Tunnel, der durch eine nackte Felsmasse gegraben ist,
auf deren Gipfel die Trümmer der Burg Petres-tziche
thronen. Dort verläßt man die Ufer des Flusses von
Tiflis und steigt in dem Seitenthale der Lykanka zu dem
Kloster St. Georg hinauf, das noch in Ruinen einen groß-
artigen Anblick gewährt. Die noch vorhandene Basis des
Glockenthurmes besteht aus einem kreisrunden Aufbau
von Steinen, die etwa % m hoch und ohne Mörtel aus
einander gelegt find; daraus erheben sich 10 Säulen, an
denen sich theilwcise noch Reste von Skulptur erhalten
haben. Der steile Fels, welcher diesen Thurm trägt, ist
mit dichtem Gebüsch und Schlingpflanzen so überwachsen,
daß man nur mit Mühe zu ihm durchdringen kann, und
in seinem Innern wächst dickes Moos. Nur ein Bächlein,
das in die Lykanka sich ergießt, unterbricht mit seinem
Ruinen des St. Georgsklosters bei Borshom.
eintönigen Murmeln die tiefe Stille dieser Landschaft,
welcher durch die verfallenen Gräber neben und in der
ihrer Kuppel beraubten Klosterkirche das Gepräge der tief-
sten Einsamkeit aufgedrückt wird.
Auf der Domäne Borshom giebt cs etwa vierzig Dörfer,
die von Georgiern, Griechen, Kleinrussen, Armeniern und
Osseten bewohnt werden; diese treiben hauptsächlich Acker-
bau und Holziransport und erfreuen sich meist eines gewissen
Wohlstandes. Die prächtigen Weiden sind an Viehzüchter
verpachtet; an Ackerfeldern giebt es etwa 20 000 Des-
jatinen.
Um Achaltziche zu erreichen, das etwa 40 km oberhalb
Borshom im Thale des Kur gelegen ist, bedarf es einer
Postfahrt von fünf bis sechs Stunden Dauer. Bei Stracha-
Jakob, einst der Grenze zwischen Georgien und der Türkei,
endet das Gebiet von Borshom; dort soll einst ein Räuber,
der „schreckliche Jakob", den Reisenden aufgelauert und sie
in Achaltziche als Sklaven verkauft haben. Jenseit dieser
23
P. E. Richter: Die sociale rc. Stellung
Station gelangt man gleichsam in ein anderes Land: an
Stelle der Nadelholzwälder treten Felsen, theils nackt, theils
mit Eichen, Nußbäumen und Birken bewachsen. Weithin
überschaut man Thäler und Ebenen bis zu den hohen
Bergen im Hintergründe, durch welche Engpässe führen,
die beiderseits von Burgen flankirt werden. Die fetzigen
Bewohner dieser Gegend sind Adscharen, mohammedanisch
gewordene Georgier, denen man vielfach auf der Straße
begegnet, wie sie kleine Saumpserde geleiten oder an der
Chaussee arbeiten. Ihre Tracht ist dieselbe, wie bei den
Lazen von Batum: kurzes Wams, Fez und türkischer Tur-
ban. Von Atzchur an, halbwegs zwischen Borshom und
Achaltziche, könnte man sich vollständig nach der Türkei
versetzt glauben. Dieser Flecken liegt am Kur am Aus-
gange einer Schlucht; aus dem rechten Ufer befinden sich
die Wohnungen der Georgier, gegenüber auf dem linken
die der christlichen armenischen Kaufleute: es sind zwei ganz
verschiedene Welten, getrennt durch Typus, Tracht und
Lebensweise. Einst befand sich in Atzchur einer der zwölf
bischöflichen Sitze der Provinz Samtzche (Ober - Karthli),
welche später von den Türken Adscharien genannt wurde.
Während des Krimkricges fand hier ein Tressen zwischen
türkischen und russischen Truppen statt, in welchem letztere
Sieger blieben.
Von Atzchur an — dieser georgische Name soll bedeuten
„da ist das Ohr!" — trifft man nur noch auf moham-
mcdanische Dörfer, manche darunter von herrlicher Lage,
wie Jtzchenis mit seinen Gärten und Obstbaumpflanzuugen
der Frauen bei den Huronen und Irokesen.
am Ufer des Kur. Daß man sich im Bereiche des Islam
befindet, beweisen die mit der weißen „Tschadra" verhüllten
Weiber, die sich beim Nahen eines Passanten verstecken und
von weitem wie Gespenster ausschauen. Merkwürdig ist
auch die Sitte vieler Bauern, verkehrt, mit dem Rücken
nach vorn, zu reiten.
Je mehr man sich Achaltziche nähert, um so kahler wird
die Gegend und um so nackter die Gipfel der Berge. Da-
für hat sie die Tradition der Georgier zur Heimath be-
rühmter Leute gemacht, indem sie hierher die Geburtsstätten
von Nebukadnezar, Mithridates und der Königin Tamara
verlegt; auch soll der Apostel Andreas selbst über die Berge
von Mingrelien her nach Ober-Karthli gekommen sein und
das Christenthum gepredigt haben. In Atzchur errichtete
er die erste christliche Kirche, an deren Stelle sich später
eine von den Türken zerstörte prachtvolle Kathedrale erhob;
ihre Ruinen sind noch vorhanden, aber nicht mehr ihr
größter Schatz, das wunderthätige Muttergottesbild von
Atzchur, welches ganz merkwürdige Schicksale erlebte. 1486
wurde es vom Chan Jakob erobert, dann für eine enorme
Summe Geldes vom Atabeg Manutschar zurückgekauft;
60 Jähre später bemächtigte sich König Bagrat von Jme-
reticn desselben und schloß es in den Thurm von Tziche
Dschwari ein, wo es bis 1562 bis zum Friedensschlüsse
zwischen dem Atabeg Knaknarc und dem König Georg von
Jmeretien blieb. Von da an war und blieb das kostbare
Bild verschwunden.
Die sociale und politische Stellung der Frauen bei den Huronen und
Irokesen.
Von P. E. Richter.
II. (Schluß.)
Die Kinder gehörten ganz der Mutter und erkannten
nur ihre Autorität an, so daß der Mann gewissermaßen nur
Gast im eigenen Hanse war, dem nur gehörte, was er auf
dem Leibe hatte, die Waffen eingeschlossen. Trennte sich
der Mann von der Frau, so standen etwa vorhandene
Kinder ans ihrer Seite, der Schimpf, den er der Mutter
anthat, erstreckte sich auch auf die Kinder, und beanspruchte
er einen Lohn, so wurde dieser Anspruch abgewiesen. —
Eine Ehe konnte nicht zwischen Gliedern desselben Ge-
schlechtes eingegangen werden. Die Eingehung derselben
wurde von den alten Frauen eingefädelt, oft ohne Wissen
und Willen der sungcn Leute, doch thaten die Mütter und
Tanten die ersten Schritte in dieser Richtung nur dann,
wenn sie fürchteten, die Mädchen könnten — sitzen bleiben.
Diese mögen nicht sehr darum besorgt gewesen sein, denn
gewisse Genüsse konnten sie sich auch außer der Ehe ver-
schaffen, dagegen erwuchsen ihnen, sobald sie sich verhei-
ratheten, gewisse Pflichten, die sie vorher nicht gekannt.
Indes stifteten die alten Frauen hier wie anderwärts gar
gern Ehen. Und wenn sie nun einen jungen Mann in
ihrem Geschlechte hatten, den sie gern beweibt sehen wollten,
so sahen sie sich nach einem weiblichen Wesen von gutem
'rltitfc, Arbeitsamkeit und gutem Charakter für ihn um.
Lcach gehöriger Besprechung mit der Freundschaft der Aus-
erlesenen wurden einige Geschenke gegeben und die Sache
war abgemacht. Vielweiberei war bei den Irokesen nicht
gestattet, doch wird von Stämmen der Huronensprache be-
richtet, welche von einer gewissen Zeit an überall, wo sie
sich gelegentlich zum Jagen aufhielten, Frauen hatten!
Dies waren indes Ausnahmen, dagegen konnten die Frauen
sich mehrere Männer zu haben erlauben.
War eine Ehe geschlossen, so wurde ihr häuslicher
Friede von den alten Frauen überwacht, und traten Strei-
tigkeiten ein, so suchten sie dieselben zu schlichten. Waren
ihre Bemühungen fruchtlos und wiederholten sich Zwistig-
keiten, so wurde die Ehe getrennt. In alten Zeiten ver-
stieß das gegen den guten Ton, später aber nahm man es
damit ganz leicht; immer ging es dem Manne jedoch dabei
sehr schlecht, man nahm ihm alles, was er besaß, zum
Theil that man ihm jeden erdenklichen Schimpf an, zer-
kratzte ihm das Gesicht, riß ihm die Haare aus und der-
gleichen. Es wird aber auch davon berichtet, daß man ihm
die Hochzeitsgeschenke zurückgegeben habe. Suchte sich ein
geschiedener Mann eine andere Frau, so mußte er sich
gefallen lassen, daß die erste diese letztere überfiel und ihr
alles wegnahm, was sie von ihrem Manne erhalten. Ueber-
haupt konnte von einer Verbesserung seiner Lage nicht die
Rede sein, er wechselte nur die Herrin. Nun hätte man
24
P. E. Richter: Die sociale rc. Stellung der Frauen bei den Huronen und Irokesen.
meinen sollen, wenigstens in Kriegsangelegenheiten wären
die Männer selbständig gewesen, aber nicht einmal darin
waren sie es, sondern die Frauen konnten, wenn die Männer
den Kriegspsad betreten wollten, es ihnen kurzweg ver-
bieten, aber umgekehrt es zu thun befehlen, wenn die Männer
nicht daran dachten es zu thun. Denn da nicht die Män-
ner, sondern die Frauen ein Interesse an der Erhaltung
eines Geschlechtes hatten, so beobachteten diese den Zeit-
punkt, wo die Verstärkung eines solchen durch Adoption
von Gefangenen wünschenswerth erschien. Wurde ein
Kriegszug befohlen, so galt dies nicht nur für die Männer
der befehlenden Frauen, sondern auch für die sämmtlichen
Verwandten männlichen Geschlechtes. Je mehr solche da
waren, desto besser für die Kriegszüge, die oft Jahre lang
dauerten und die Männer Tausende von Meilen fortführ-
ten. Brachten sie Gefangene heim, so wurden zwei oder
drei davon gewöhnlich verbrannt, die übrigen an die ver-
schiedenen Hausstände zur Adoption vertheilt, und auf diese
Weise erhielten sich die Stämme in ihrer Stärke. Bei
der Vertheilung wurden zuerst die der Männer oder Söhne
durch den Tod beraubten Frauen berücksichtigt, dann die-
jenigen, welche die Krieger mit Wampumschmuck geziert
hatten. Fehlte es an Gefangenen, so wurden wenigstens
Skalps zur Entschädigung vertheilt; war Ueberslnß an
Gefangenen vorhanden, so wurden Verbündete mit ihnen
bedacht. Eine Hüuptlingswittwe wurde nur durch einen
Häuptling oder zwei bis drei Gefangene entschädigt, letztere
wurden aber regelmäßig verbrannt. Ucbcrhaupt konnte
nichts die unglücklichen Gefangenen retten, wenn die Frauen
sie verbrannt wissen wollten. Bei der Vertheilung führte
man die Gefangenen an oder in das Hans, dem sie zu-
erkannt worden, und wurden sie in Gnaden von der ältesten
Frau aufgenommen, so traten sie sofort in die Rechte und
Pflichten derer ein, deren Stelle sie ersetzen sollten. Ver-
weigerte die Aeltestc die Annahme, so waren die Gefangenen
unvermeidlich dem Feuertode verfallen, keine Macht der
Erde konnte sie retten, während umgekehrt die Männer keine
Macht besaßen, den Gefangenen etwas anzuhaben, sobald
diese einmal angenommen waren.
Auch in Bezug auf die politische Organisation der
Huronen - Jrokesenstämme war die Stellung der Frauen
eine bedeutende, und zwar derart, daß der allerdings vor-
handene Rath der Häuptlinge und Aeltesten mehr als An-
walt der Frauen, denn als unabhängig wirkend anzusehen
sein wird. In der Regel wurden die Entschließungen der
Aeltesten beachtet, doch konnte auch der Einzelne, dem sie
nicht zusagten, seinem Gutdünken folgen. Häuptlinge gab
es zweierlei, die sogenannten Sachems und ihre Berather.
Der Name Sachcm wird von Morgan und anderen ge-
braucht, ist aber, wie Horatio Hale in der Einleitung zu:
„The Iroquois Book of Bites“ erklärt, ein Wort der
Algonguinsprache, welches die Irokesen nur schwer aus-
sprechen können. Sie selbst nennen die Mitglieder ihres
Rathes „Royaner", abgeleitet von „yaner", edel, welches
genau dem Englischen, „nobleman, lord" entspricht. Lafitan,
der, wie schon erwähnt, die klassischen Verhältnisse mit
denen unserer Wilden vergleicht, nennt sie, als ob
man eine Ableitung von dvrjg, dvögos vor sich habe,
„Royander". — Die Sachems vertraten die Angelegen-
heiten des Friedens. Ihre Stellung war, im Gegensatze
zu der der zweiten Klasse, erheblich, doch nicht ein Sohn
eines Sachems ward bei dessen Tode sein Nachfolger, son-
dern ein Sohn einer Schwester oder ein anderer Ver-
wandter seiner Mutter, ein Bruder, Vetter oder Nesse.
Die älteste Frau des Geschlechtshanses des Verstorbenen
war es, welche nach Berathung mit ihrer Familie den
Nachfolger zu bestimmen hatte. War die von der Aeltesten
getroffene Wahl von ihrer Sippe gebilligt, so wurde es
dem ganzen Dorfe bekannt gemacht, wie nicht minder den
sämmtlichen verwandten Geschlechtern und Bundesgenossen.
Feierliche Feste folgen. War der zum Sachen: Erwählte
noch Kind, so wurde ihm ein Vormund bestellt, und dieser
hatte, bis dasselbe erwachsen war, für dasselbe zu handeln
und zu sprechen. Ganz unumschränkt waren die Sachems
aber keineswegs, sondern die oben erwähnten Berather
(die Kriegshäuptlinge wollen wir sie nennen, denn sie
hießen „roskenrakehte-kowa", d. h. „großer Krieger")
waren ihnen ebenfalls von den Frauen beigegeben, und
ohne die Einwilligung ihrer Berather durften die Sachems
nichts unternehmen. Denen, die Lafitan „Agoiander"
heißen läßt, war auch die Obhut über den gemeinsamen
Schatz und dessen Verwendung anvertraut. — Wie die
Häuptlinge von den Frauen erwählt wurden, so konnten
sie auch von denselben ihrer Stellung beraubt und zurück
in die Reihen der Krieger verwiesen werden. Morgan
giebt an, das Recht zu degradiren sei von Volksversamm-
lungen ausgeübt worden; da indessen in denselben jede
Frau eine Stimme hatte, so kann ihnen kein geringer Ein-
fluß auf das Geschick der Häuptlinge beigelegt werden. —
Außer den Sachems und deren Berathern gab es noch eine
Art Gemeindebcamter, denen es oblag, die periodisch wieder-
kehrenden Festlichkeiten zu arrangiren und zu leiten. Da
sie in gewisser Weise die Moral des Volkes zu überwachen
hatten, gelegentlich religiöse Reden hielten und eine orgaui-
sirte Körperschaft bildeten, so kann man sie getrost als
Priesterschaft bezeichnen. Von ihnen gehörte fast die Hälfte
dem weiblichen Geschlecht an, und gerade dieser waren die
Vorbereitungen der bei Volksversammlungen abzuhaltenden
Festlichkeiten übertragen, wie sie auch die abendlichen Mahl-
zeiten zu besorgen hatten. — Sämmtliche Häuptlinge
waren durch kein äußeres Merkmal ausgezeichnet. (Dem
gegenüber vergleiche man Catlin, Letters and Notes
on the Manners, Customs, and Condition of tke
North American Indians: „Bei den Irokesen trugen in
der That die Häuptlinge in alter Zeit bei feierlichen
Gelegenheiten Hirschgeweihe, wie auch bei den westlichen
Indianern noch heutzutage zu sehen ist.") Sie erhielten
keinen Lohn für ihre Dienste. Zu befehlen hatten sie
nicht; wollte ihnen einer nicht gehorchen, so mochte er es
auf seine Gefahr hin thun, aber ihren Anweisungen wurde
meist prompt gefolgt, weil das gemeine Volk die von ihm
selbst gewählten Männer nicht mit scheelen Augen ansah,
wie es leider in der alten Welt so gewöhnlich ist. Es
scheint auch, als ob man den Häuptlingen mit einem ge-
wissen Respekt begegnet wäre; sie nahmen bei feierlichen
Anlässen die ersten Stellen ein. Oeffcntliche Angelegen-
heiten wurden in ihrem Namen ausgeführt, und wenn
anders kein besonderes Gemeindehaus zu Bcrathnngs-
zwecken vorhanden war, so versammelte sich der Rath in
ihrem Hause. Diese Berathungen erfolgten in der Weise,
daß sedesmal die Frauen zuerst beriethen, gleichviel welche
Angelegenheit vorlag. Sie benachrichtigten die Häuptlinge
erst von dem Gegenstände der Berathung, damit diese
ihrerseits zu einem Schlüsse kämen. Kein Sachen: durfte
eine Ansicht aussprechen, ohne mit dem oder den anderen
seiner Klasse in Uebereinstimmung und von denselben zum
Sprechen beauftragt worden zu sein. Die Klassen aber
dürften am besten mit unseren uiodernen Kommissionen zu
vergleichen sein, da sie durchaus nicht den in den ver-
schiedenen Stämmen in verschiedener Anzahl vorhandenen
Clans, Geschlechtern oder Brüderschaften des Wolfs, der
Schildkröte, des Bären u. s. w. entsprechen. Bei besonders
W. KoLelt: Skizzen aus Algerien.
25
wichtigen Anlässen beriethen Volksversammlungen, und in
diesen mußte ein Mann als Sprecher die Meinungen der
Frauen verfechten, mochte er wollen oder nicht, mochte es
gegen seine Ueberzeugung gehen oder nicht. Es kam aber
auch vor, daß Frauen selbst sprachen, sa noch mehr, es kam
vor, sie beriethen manchmal ganz allein und handelten auf
eigene Faust; so z. B. schickten sie im Jahre 1742 dem
Sir William Johnson, im Jahre 1796 dem General
Schuyler Botschaften.
Nach diesen mancherlei Ausführungen, sagt Carr, wird
man nicht umhin können, dem alten Chronisten Lafitau zu
glauben, daß unter den Irokesen und anderen Stämmen
aus dem Osten des Mississippi „nichts so einleuchtend ist,
als die Superiorität der Frauen. Sie machen den Stamm,
pflanzen den Adel des Blutes fort, erhalten den Stamm-
baum und die Erbfolge aufrecht und setzen die Familie fort.
Sie besitzen alle wirkliche Superiorität, besitzen das Land,
die Felder und die Ernten, sie sind die Seele des Rathes,
entscheiden über Krieg und Frieden, verwahren den gemein-
samen Schatz, sie erhalten die Sklaven, stiften die Ehen,
besitzen die Kinder, und aus ihrem Blute baut sich der
Stammbaum aus. Die Männer dagegen sind ganz isolirt
und ans sich angewiesen, ihre Kinder sind Fremde für sie,
mit den Frauen stirbt alles aus und nur eine Frau kann
ein Haus wieder cmporbringen; wenn aber in einem Hause
nur Männer sind, gleichviel wie viele, so mögen sie noch
so viele Kinder haben, ihre Familie erlischt, und wenn auch
ans ihrer Mitte glücklicherweise ein Häuptling gewühlt
wird, er hat doch nur die Frauen zu vertreten und das zu
thun, was die Sitte der Frauen zu thun verbietet."
Wollte man nun auch noch Zweifel in Lafitau's An-
gaben setzen, so wird man doch dem oben citirten „Iroquois
Book os Rites“ Glauben zu schenken haben, in dem cs
bezüglich der Todtenklagen heißt: „Er (der Verstorbene),
der für uns gewirkt, ist fortgegangen und er wird zu seiner
Zeit sich holen alle diese hier, die Krieger und die Frauen,
sie werden mit ihm gehen. Aber am traurigsten ist es,
wenn die Frauen sterben müssen, denn mit ihnen erlischt
die ganze Linie.“ Und so berichtet auch Pere Ragneneau
im Jahre 1648 von den Huronen, 30 Geschenke seien,
wenn ein Hurone von einem anderen getödtet worden, als
hinreichende Sühne angesehen worden, aber 40, wenn cs
sich um eine Frau handelte; denn, sagten sie, die Frauen
können sich weniger vertheidigen, sie bevölkern das Land;
ihr Leben muß für das Gemeinwohl von höherem Werthe
sein, und ihre Schwäche bedarf einer stärkeren Stütze in
der öffentlichen Gerechtigkeit.
Skizzen au
Von W.
2. Um den Dsch
(Zweiter
Am 24. April mußten wir uns endlich entschließen, das
reizende Algier, in dem wir fünf genußreiche Wochen zuge-
bracht, zu verlassen, um uns definitiv der Provinz Con-
stantine zuzuwenden. Wir schieden mit dem Gefühl des
Bedauerns, daß dieses schöne interessante Land so wenig
von Deutschen besucht wird, obwohl man dort mindestens
so bequem und billig reist, wie in dem von Touristen über-
füllten Italien. Der Entschluß zu einer Seefahrt, und sei
sic auch nur 32 Stunden lang, fällt eben dem binnen-
ländischen Deutschen noch gar zu schwer.
Wieder durchfuhren wir die Osthälfte der Mctidscha,
deren Weizenfelder nun schon im vollen Aehrenschmuck
prangten, und gelangten auf dem früher beschriebenen Wege
nach Menerville und Palestro. Dort wurde der Wagen
gewechselt; warum, muß die Direktion wissen; wir ge-
wannen so Zeit, das Denkmal noch einmal zu betrachten
und unsere originelle Wirthin zu begrüßen. Dann ging
es weiter dem Jsscrthal entlang, dem Dschurdschura ent-
gegen, der immer noch bis tief herab mit Schnee bedeckt
war. Hier ist die Kultur noch wenig eingedrungen; von
Palestro ab gehört das ganze Land noch den Uled Jsser,
einem echten Arabcrstamm, der nur Viehzucht treibt und
keine festen Ansiedelungen hat. Die Kantinen für die
Bahnarbeiter sind die einzigen europäischen Wohnungen
ans der ganzen Strecke, aber es wird schon anders werden,
wenn Ende dieses Jahres einmal die Lokomotive hier
pfeift, denn das Thal ist fruchtbar, wenn auch nicht schön.
Aus dem langen Rücken des Schnceberges wird allmählich
Globus XUVIl. Nr. 2.
s Algerien.
Kobelt.
urdschura herum.
ein spitzer Pik, dann taucht er hinter die Vorberge unter
und nun beginnt die Straße aus dem Jsserthal in langen
Serpertinen emporzusteigen. Mit der Höhe kommen auch
feste Wohnungen, anfangs einzeln, auf dem kahlen Abhange
liegend, dann immer häufiger und von Oelbäumen be-
schattet, wir nähern uns dem Kabylenlande. Auch die Ein-
geborenen, denen wir aber auffallend selten begegnen — der
Kabyle ist sparsamer mit seiner Zeit wie der Araber —
tragen ausnahmslos ein um den Kopf gewundenes, hinten
herabfallendes Tuch ohne die heilige Kamcelhaarschnur.
Noch ist die Viehzucht die Hauptsache, wie überhaupt am
Südabhange des Dschurdschura, wo die Kabylen sich viel
mehr den arabischen Sitten anbequemt haben, als in der
festen Hochburg im Bergring drinnen; das Vieh ist aber
nicht das kleine brandrothe Arabervieh, sondern ein statt-
licherer Schlag von weißlicher Färbung mit langen, spitzen
Hörnern. Hier kaufen die Bewohner der großen Kabylie
im Frühjahr das Zugvieh, das sie zur Bestellung ihrer
Felder brauchen, benutzen es den Sommer über und schlagen
es dann, wenn im Herbst das Futter knapp zu werden
beginnt, aus den großen Märkten in Menerville und
Maison Carree wieder als Schlachtvieh los.
Es dauerte ziemlich lange, bis wir die Höhe erreicht
hatten, mein Aneroid gab über 600 m an. Nun ging es
aber nicht wieder abwärts, sondern vor uns dehnte sich in
ganz schwacher Senkung die Plateaufläche aus, beherrscht vom
Dschurdschura, der nun in nächster Nähe aufragte; weiter
im Süden sah man den Dschebel Dira bei Anmale.
4
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
26
In geringer Entfernung lag ein funlelneues weißes Städt-
chen, das wir in etwa einer Stunde erreichten, Bord sch
Buira, ein Glied fener Kette von Befestigungen, mit
welchen schon die Türken die Verbindung zwischen Algier
und Constantine zu sichern suchten und die Franzosen heute
die große Kabylie von der Umgebung getrennt halten. Eine
Zeit lang war die Beleuchtung des schneebedeckten Rückens
durch die sinkende Sonne unbeschreiblich schön, dann umzog
sich der Berg und es begann sachte zu regnen, wie das
hier bis zum Hochsommer fast täglich zu geschehen pflegt;
an dem schneebedeckten Hochrücken verdichten sich die Wasser-
dämpfe, welche der Wind aus dem Süden herbeiführt, und
nur bei herrschendem Nordwind hat man über Trockenheit
zu klagen. Das Städtchen ist noch eine Neugründung,
aber seine Umgebung ist fruchtbar und zum Weinbau
ebenso geeignet, wie um Medeah, und mit der Eröffnung
der Eisenbahn wird die Hochebene sich schon mit Kolonisten
füllen. Wieder wurde der Wagen gewechselt und die ganze
schwere Ladung umgepackt, dann ging es bei schon begin-
nender Dämmerung die lange Straße hinunter zum Sahel,
dessen Lauf wir von nun an bis zu seiner Mündung bei
Bougie folgen wollten. Dieser Fluß, dessen Quellen am
Dira bei Anmale liegen, ist schon ziemlich wasserreich, da
ihm auch viel Schmelzwasser vom Hochgebirge zufließt,
aber ein eigentliches Thal hat er sich noch nicht gebildet,
sondern nur ein flache, aber steilrandige Einsenkung in der
Hochebene, durch welche er sich mit häufig wechselndem
Bett hinwindet. Die Dunkelheit verhinderte uns, die
Gegend genauer zu betrachten; sie scheint noch ganz in den
Händen der Eingeborenen; nur einmal hielten wir an
einem hochummauerten festungsartigen Karawanserai; dann
ging es wieder weiter über die Hochebene, anscheinend
immer auf ganz flachem Grunde, fort. Gegen elf Uhr
hielt der Wagen, der Kondukteur öffnete den Schlag und
meldete, wir seien in Beni Man sur angelangt. Ich
sprang heraus und sah mich verdutzt um, denn ursprüng-
lich sah ich gar nichts. Erst als mein Auge sich einiger-
maßen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte ich etwas
tiefer als die Straße ein langes niederes Gebäude ohne
Fenster, nur mit einer ganz engen Thür; durch diese ge-
langte ich in eine raucherfüllte, durchaus nicht einladend
aussehende Küche und aus dieser in einen langen unge-
pflasterten Raum, nur mit dem defekten Ziegeldach über-
deckt, mit Kisten und Fässern erfüllt, so daß nur Platz für
einen großen schmutzigen Tisch und gegenüber für ein
Kamin blieb, in dem ein tüchtiges Feuer loderte. Das
Ganze sah einer der Räuberherbergen, wie sie in den
Romanen unserer Jugendzeit eine Hauptrolle spielten, zuni
Verwechseln ähnlich, aber wenn wir nicht mit nach Setis
und Constantine weiter wollten, blieb uns keine Wahl, und
da mir die Wirthin versprach, wir sollten ein eigenes
Zimmer und Betten bekommen, stieg auch meine Frau aus
und ich ließ meinen Koffer, den ich thörichterweise mit-
genommen, abladen. Zeit genug hatten wir, denn die
sinnreiche Einrichtung, welche man hier getroffen, setzt
allem, was die Direktion der Kompagnie Bo ni ff ay
auf dieser Route geleistet, die Krone auf. Das Fort oder
Bord sch Beni Mansur liegt nämlich nicht an der
Heerstraße, sondern etwa 3 bis 4 km thalab. Wenn nun
die Diligence ankommt, wird die dorthin und nach den
Orten des unteren Sahelthales bestimmte Post ausge-
laden, auf ein Kürrnchen gepackt und nach dem Fort ge-
bracht; von dort bringt das Fuhrwerk die abgehende Post
für Setis und Constantine zurück und so lange muß die
Diligence um Mitternacht auf der Landstraße halten. Daß
man das zweckmäßiger einrichten könnte, indem man das
Kärrnchen der Post von dem Fort erst bringen ließ, scheint
der Direktion noch nicht klar geworden zu sein. Auch wir
mußten am Kaminfener sitzen, bis die Diligence wieder
abgefahren war, dann erst ließ sich die Frau Wirthin her-
bei, uns Betten zurecht zu machen. Der Wind pfiff lustig
durch den Raum, aber die Betten waren leidlich, ein paar
Reisedccken hatten wir mit, und so verging die Nacht
besser als wir erwartet.
Am anderen Morgen sahen wir uns freilich etwas ver-
wundert um in der sogenannten Stube, aber es war die
beste des ganzen Hauses und wir konnten uns nicht be-
schweren. Das Anwesen trug überhaupt die Spuren des
Verfalles. Es war ursprünglich eine Kantine für die
beim Straßenbau beschäftigten Arbeiter und hatte dann
zeitweise leer gestanden, dann wieder Leuten, die anderswo
nicht unterkommen konnten, als Obdach gedient. Auch die
gegenwärtigen Inhaber gedachten nicht lange zu bleiben,
denn in der ganzen Gegend finden sich noch keine Kolonisten.
Reisende halten bei der erbärmlichen Verbindung mit
Bougie fast niemals an und da die Diligence nachts
durchpassirt, fällt auch der geringe Verdienst für die Be-
köstigung der Passagiere weg. Es wirst ein grelles Licht
auf manche Zustünde in Algier, daß trotz ewiger Be-
schwerden der Kolonisten im Sahclthal an diesem wichtigen
Punkte, wo sich zwei Hauptrouten, die dem Sahel entlang
nach Bougie und die durch die Biban, die Eisenthore,
nach Setis und Constantine, gabeln, nicht besser vorgcsorgt
ist. Wir mußten noch froh sein, daß wir überhaupt ein
Unterkommen gefunden und nicht auf dem blanken Felde
abgesetzt worden waren, und, das muß ich anerkennend
hinzufügen, das Frühstück war so gut, als man es nur in
einem Hotel verlangen konnte.
Die Kompagnie Boniffay läßt dem Reisenden, der so
unvorsichtig war, diese Route einzuschlagen, Zeit genug,
um die Umgebung von Bern Mansur zu studiren; der
Wagen nach Akbu geht erst nachmittags um drei Uhr.
Uns war das nicht unwillkommen, denn hier waren wir
zum ersten Male im eigentlichen Kabylcnlande. Gerade
dem „Hotel" gegenüber erhob sich ein mehrspitziger Hügel-
rücken und jede Spitze trug eine Gruppe solider, weiß
getünchter Steinhäuser, dicht zusammengebaut und zur Ver-
theidigung eingerichtet, von Kaktushecken umgeben. Auch
weiterhin hängt, soweit man sehen kann, fast auf jeder
Hügelspitze ein weißes Dorf, und alles anbaufähige Land
ist mit Gerste bestellt. Im Gegensatz zu den arabischen
Feldern ist hier nicht nur das perennirende Unkraut, Deut
cku Ollion und dergleichen, bis auf einzelne Büsche am Weg
ausgerodet, sondern auch das einjährige ist sorgsam gejätet
und überall sahen wir noch die Kabylenfrauen mit Jäten
beschäftigt. Die Kabylen halten auf das Jäten (Asousi)
außerordentlich viel und sagen, daß es wichtiger ist wie
Säen und Düngen; sie nehmen sich dazu sogar Tagelöhner,
obwohl sie sonst baare Ausgaben soviel wie möglich ver-
meiden. Den Thalgrund nehmen Olivenpflanzungen ein,
die einen dichten Wald bildeten, der sich bis zum Steilhang
des Dschurdschnra, dessen Hauptgipsel Lella Kadidscha sich
gerade gegenüber zu 2308 m erhebt, erstreckt. Wir stiegen
zu dem Dorfe empor, doch schienen die Bewohner alle
draußen im Felde und es gelang uns nicht, in eins der
Häuser hineinzukommen. Von der Höhe, wo uns bunt-
farbige Geier umflogen, hatte man eine ausgedehnte Fern-
sicht über das kahle, wenig fruchtbare Hochland und das
Berglabyrinth dahinter, durch welches nur der schmale
Spalt des Eiscnthores dem Nöd Mekhlou, der bei
Beni Mansur mündet und der Heerstraße den Durchgang
gestattet. Nur mit Bewilligung der anwohnenden Kabylen-
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
27
stamme konnten die türkischen Truppen diesen Engpaß
passiren; die Franzosen haben ihn 1839 unter dem Herzog
von Orleans zum ersten Male durchzogen und eine In-
schrift erinnert an diese „Heldenthat", die in einem eigenen
Werke beschrieben ist und die ganz unblutig verlief, weil
die Kabylen damals mit den Franzosen in Frieden lebten
und nicht daran dachten, ihnen den Weg zu verlegen. Von
der Höhe stiegen wir wieder ins Thal hinab, das auch hier
nur noch eine flache Rinne mit steilen Rändern ist. Hier
waren prachtvolle Feigenbäume angepflanzt, der Hanpt-
reichthum der Kabylen, denen eine Handvoll getrockneter
Feigen gar oft zum Mahl genügen muß. Die Feige wird
darum sorgsamst gepflegt, man Pflanzt sie selbst noch an
Stellen, die ani steilen Hang kaum zugänglich sind, und
in der großen Kabylie sollen Fcigenpflanzungen vorkommen,
zu denen die Eigenthümer sich an Stricken herablassen.
Wie in allen Ländern, deren Bewohner die Feigenzucht
vou den Phöniziern überkommen haben, hält auch der
Kabyle die Kaprifikation (thadukkarth) für unbedingt
nöthig zur Erzielung guter Feigen und hängt vom Beginn
des Sommers an alle 14 Tage eine Anzahl Früchte des
wilden Feigenbaumes an die Aestc des zahmen, immer
vier zu einem Kranz vereinigt, damit die ausschlüpfenden
Insekten (Cynips) die Feigen anstechen, süßer werden
lassen und ihr Abfallen verhindern. Sie glauben an die
Nothwendigkeit dieses Verfahrens trotz der guten Resultate,
welche die französischen Kolonisten ohne dasselbe erzielen,
so fest, daß sie gern die nicht unbeträchtlichen Kosten
daran wenden und Dukkar (wilde Feigen) von den
Stämmen kaufen, welche darin einmal das Renommee
haben. Bei manchen Stämmen besteht für jeden Bürger
die Verpflichtung, jährlich eine bestimmte Anzahl von
Feigenbäumen anzupflanzen.
Gegen Mittag kam die Post von Akbn herauf, und mit
Schrecken sah ich, daß es ein kleines Corrieolo war, das
unseren unglückseligen Koffer beim besten Willen nicht
transportiren konnte. Da blieb nichts übrig, ich nahm
heraus, was wir etwa in den nächsten acht Tagen brauchen
konnten, und unsere Wirthin versprach, ihn mit der näch-
sten Diligence nach Setif zu spcdiren. Unliebsamen Erfah-
rungen in Italien eingedenk, trennte ich mich schweren
Herzens von unserem Gepäck, aber meine Sorgen waren
unnöthig, denn als wir zehn Tage später in Setif an-
langten, stand mein Koffer längst auf dem Bahnhof. Nach-
dcni das Geschäft erledigt, verabschiedeten wir uns von
unserer Wirthin und gingen voraus, um noch einiges zu
sammeln. Weit konnten wir freilich nicht laufen, denn
dicht hinter dein Fort muß der Fluß durchfahren werden
und mußten wir also den Wagen abwarten. Eine gute
halbe Stunde brachte uns an den Fnß des steinigen Hügels,
welcher sich zwischen dem Sahet und seinem Nebenfluß
Uäd Mckhlon erhebt und das Fort trägt. Es ist ein
einfaches viereckiges Mauerwerk mit Schießscharten und
einem kleinen Vorwerk vor dem Thore, wohl noch ans der
Türkenzeit herrührend; die Besatzung scheint eben, wo die
Kabylen ganz brav sind, nur aus ein paar Mann zu be-
stehen. Bis zum Thore war der Weg, wenn auch ein
schlechter Feldweg, doch immerhin erkennbar gewesen, aber
nun sah ich mich vergeblich nach einer Fortsetzung um; ein
Paar Wegspnren liefen allerdings nordwärts, verloren
sich aber bald, und schließlich mußte ich zum Fort zurück
und mich belehren lassen, daß ein schmaler, kaum fahrbarer
Pfad, der iu steilem Zickzack nach dem Flusse hinabführte,
die Straße nach Bougie sei. Hinabsteigend kamen wir an
ein paar verfallenen europäischen Häusern vorbei, die uns
belehrten, daß man auch hier einen vergeblichen Kolonisa-
tionsversuch gemacht; sie waren nun von zerlumpten Arabern
eingenommen. Am Flusse brach die Straße plötzlich ab;
wir wurden erst später darüber klar, daß die Chanssee von
Bongie herauf den Sahet überhaupt nicht hier, sondern
fast zwei Stunden weiter oben überschreitet, und dort be-
findet sich auch eine Brücke über den Fluß, aber keine
Ansiedelung und somit auch keine Poststation, und so muß
das Postkärrnchen von der Straße ab ans einem elenden
Feldwege über das Thal herüber fahren, die beiden Fluß-
arme passiren, vorausgesetzt, daß nicht Hochwasser die
Passage unmöglich macht, und sich nach dem Fort und von
da nach unserem Hotel durcharbeiten. Da ist cs kein
Wunder, wenn die Einwohner der blühenden Kolonien
Tizimalt und Akbn über Vernachlässigung klagen.
Wir hatten am Flußnfer fast zwei Stunden zu warten,
aber sie wurden uns nicht lang, da wir in dem reichlich
angeschwemmten Genist eine ganz unerwartet reiche Ernte
an kleinen und kleinsten Schnecken machten. Außerdem
wurde uns die Zeit verkürzt durch einen Kabylen, der eine
kleine Herde von Schafen und Ziegen durch die Fuhrt
treiben wollte. Hatte er mit Aufbietung aller Kraft ein
paar Stücke durch das trübe, ziemlich tiefe Wasser hinüber-
geschafft, wobei sich namentlich die Ziegen wasserscheu und
widerborstig zeigten, und watete nun zurück, um die anderen
zu holen, so kamen ihm die getreuen Thiere alsbald wieder
nachgeschwommen, und diese Sisyphusarbeit dauerte über
eine Stunde, bis endlich ein paar Landsleute zu Hilfe
kamen und die ganze Herde auf einmal hinübertrieben.
Der Hirt hatte keine Hunde bei sich; cs ist uns überhaupt
aufgefallen, daß die Herden hier meist ohne Hund ge-
hütet werden, obschon die Kabylen eine sehr hübsche spitz-
artige Hunderasse besitzen, ans der bei sorgsamer Züchtung
etwas gemacht werden könnte.
Gegen drei Uhr kam unser Kärrnchen vorsichtig den
Pfad herunter und beförderte uns durch den Fluß und ver-
schiedene Nebenarme auf das andere Ufer. Unmittelbar
über der Fuhrt mündet ein ziemlich wasserreicher Zufluß,
der direkt von der Lella Khadidscha herunterkommt und
ganz die Farbe des Schneewassers hat. Drüben beginnt
der berühmte Olivcnwald und ich muß gestehen, schönere
Oelbäume habe ich weder in Süditalien noch iu Spanien
gesehen. Es sind uralte, wunderbar verästelte, knorrige
Stämme, aber sie sind offenbar ans den Wurzelstöcken
eines noch älteren Waldes erwachsen, denn es stehen immer
drei bis vier in einem kleinen Kreise zusammen. Wer
das langsame Wachsen und die unendliche Dauer des Oel-
baumes kennt, der kann nicht zweifeln, daß mindestens die
Wurzelstöcke iu die Zeiten der arabischen Invasion zurück-
reichen, denn schon die gegenwärtigen Stämme sehen aus,
als gäben sie den tausendjährigen Saraceni bei Palermo
nicht nach. — Den Untergrund bedeckten sorgsam gehaltene
Gerstenfelder, und wo ein Bächelchcn vom Gebirge her-
unterkam, war es aufgedämmt und zur Berieselung ver-
wendet. Dörfer sah man aber im Thale keine, sie hängen
alle droben in unzugänglicher Lage in den Felsen, wo sie
leichter zu vertheidigen sind und keinen guten Boden weg-
nehmen. Die Bäume klettern hoch an den Abhängen hin-
auf, deutlich sieht man, wo die graugrünen Oelbäume
aufhören und die dunkleren Eichen beginnen, die ihren
wissenschaftlichen Namen (Huorous balluta) von Ballnt,
denl Namen der eßbaren Eichel im Arabischen, trägt.
Das Thal dehnt sich zur weiten Ebene, aber die ver-
kümmernden Oelbäume und die von Unkraut starrenden,
mit Dornbüschen durchsetzten Felder deuten auf einge-
drungene Araber, und bald sahen wir deren Zelte. Es
ist aber nur ein kleiner Stamm, der sich freilich der Ab-
4*
28
Kürzere Mittheilungen.
stammung von Mohammed rühmt und bem die Kabylen
deshalb hier freiwillig ein Stück Land eingeräumt haben,
eine Erscheinung, die sich überall im Kabylengebiete wieder-
holt. Von den beiden Berghängen leuchten überall die
weißen Berberdörfer herab. Schnurgerade läuft die recht
gut gehaltene Straße ans einen Bergvorsprung zu, der ein
französisches Fort trägt. Es ist Tizimalt, einer der
Posten, welche das Sahelthal decken, und die große Kabylie
von der kleinen trennen, besonders wichtig, weil hier die
gangbarste Straße vom Fort National herüber mündet.
Sie ist freilich nur ein Maulthierpfad, aber der Tizi-
n-Cheria, der Paß des Gesetzes, auf dem sie den
Kamm des Dschurdschura überschreitet, ist mit 1231 na
die tiefste Einsenkung im Gebirge, und eine Straße über
ihn soll bald gebaut werden. Ein Dorf hat sich im Schutze
des Forts bereits eingenistet; ein vom Berge herabkommender
Bach gestattet reichliche Bewässerung. Man war hier
gerade mit der Vorbereitung zur Fete, der Kirmes, be-
schäftigt, ein Ereigniß in diesen abgelegenen Gegenden, wo
sonst ein Tag wie der andere dahinfließt. — Auch weiter-
hin bleibt das Thal eine Ebene, an beiden Seiten von
prachtvollen Bergen eingefaßt, und wieder läuft die Straße
schnurgerade weiter, dem hohen Bergsporn zu, auf welchem
unser heutiges Reiseziel Akbu, oder wie es officiell heißt,
Metz, liegt. Wir brauchen aber reichlich zwei Stunden,
bis wir an den Fuß des Rückens gelangen, und eine halbe
weiter, bis die Serpentinen zur Höhe erstiegen sind.
Hier machen wir einen Rasttag. Der Morgen ver-
geht über einer Exkursion nach dem Piton d'Akbou,
einem isolirten Kegelberg, der sich unmittelbar gegenüber
mitten im Thäte erhebt, offenbar ehemals eine Insel, ehe
der Sahcl sich durchs Küstengebirge dnrchgefressen hat.
Früher hauste hier ein berüchtigter Räuberstamm, der wie
von einer sicheren Burg aus die Umgebung brandschatzte,
bis eines schönen Morgens der alte Pelissier den Berg
dicht umstellen ließ und dann regelrecht abtrieb. Mittags
kam ein tüchtiger Regen, aber wir verbrachten den Nach-
mittag trotzdem sehr angenehm, im Hause des Herrn
Lehrers Sabatier, den ich zufällig in Algier kennen ge-
lernt. Seine Frau, eine Straßburgerin, war zwar eine
arge Prenßenfeindin, freute sich aber kindlich, wieder ein-
mal „dütsch" reden zu können, und ich erfuhr durch Herrn
Sabatier gar vieles Interessante über die Kabylen, unter
denen er schon sieben Jahre lebte. In seiner Schule
saßen Franzosen, eingeborene Juden und Kabylen zu-
sammen, und die besten Schüler waren zwei Kabylen-
jungen, deren Schreibhefte und Zeichnungen in der That
nichts zu wünschen übrig ließen. Einer von ihnen hatte
die Ecole normale in Algier besuchen sollen, um selbst
Lehrer zu werden, aber das Heimweh hatte ihn übermannt
und zurückgetrieben. Die Kinder wurden zu einer Panse
hinausgeschickt und spielten aus dem Schulplatze; auf ein-
mal höre ich eine mir wohlbekannte Melodie singen und
als ich hinaussah, tanzen zwei Kabylenstmgen einen National-
tanz, der von dem spanischen so wenig zu unterscheiden war,
wie die Melodie. Kein Zweifel, die Spanier haben ihre
Tänze aus der Maurenzeit behalten, wie so vieles, was
uns an ihnen „spanisch" vorkommt. Auch die Alpargates,
die sandalenartigen Schuhe, trägt der Kabyle genau wie der
Spanier, und hat sie gewiß nicht von diesem überkommen.
Gern wären wir noch ein paar Tage in Akbu geblieben
und hätten mit Herrn Sabatier, der selbst eifrig sammelt,
die Umgebung durchstreift, aber die Wolken senkten sich
immer tiefer, der Regen prasselte immer ärger herunter,
und es war keine Hoffnung auf baldige Besserung. So
blieb uns keine Wahl; am Abend stiegen wir in die
Diligence und nach einer ziemlich unerquicklichen Nachtfahrt
lag am anderen Morgen das reizende Bougie vor uns.
Kürzere Mi
Ludwig Holberg als Geograph.
In den skandinavischen Reichen, sowie in verschiede-
nen anderen Ländern wurde am 3. December der 200jährige
Geburtstag eines Mannes gefeiert, den man allgemein als
den nordischen Möllere bezeichnet, Ludwig Hold erg's.
Dieser Mann ist indes nicht nur auf dem Gebiete der Lust-
spieldichtung in hervorragender Weise thätig gewesen, sondern
er hat auch, was weniger bekannt ist, sich um die Geographie
nicht geringe Verdienste erworben. Diese Thätigkeit Holberg's
ist vor einigen Tagen durch einen von Professor Erslev in
der königlich dänischen geographischen Gesellschaft gehaltenen
Vortrag in Erinnerung gebracht worden. Als Holberg im
Jahre 1730 zum Professor der Geschichte und Geographie
ernannt wurde, war es um die letztgenannte Wissenschaft
überall und namentlich in Dänemark übel bestellt. Nach den
Lektionskatalogen hatte er jede zweite Woche über Geographie
zu lesen, doch weiß man nicht mit Bestimmtheit, ob diese
Vorlesungen stattgefunden haben. Daß sein Interesse für die
Erdbeschreibung jedoch ein großes gewesen, geht nicht nur
aus den von ihm verfaßten geographischen Schriften, sondern
auch aus verschiedenen von ihm selbst hierüber gemachten An-
deutungen hervor. Holberg hat das Studium der Geo-
graphie mit großer Vorliebe betrieben. In der von ihm
geschriebenen Vorrede zu der „Reise nach Rußland" Peter's
von Howen (1743) empfiehlt er anderen, ebenfalls derartige
Reisebeschreibungen zu liefern. tDie erste von ihm selbst ver-
ttheilungen.
faßte geographische Arbeit war die im Jahre 1729 erschienene
„Beschreibung Dänemarks und Norwegens", ein Buch, das
verschiedene Auflagen erlebte; seine zweite Schrift ist die im
Jahre 1737 erschienene „Beschreibung der berühmten nor-
wegischen Handelsstadt Bergen", die man noch heutigen Tages
mit Nutzen in die Hand nehmen kann, da sie vortreffliche
Schilderungen der damaligen Zustände in der ehrwürdigen
nordischen Hansestadt in sich birgt. Sein drittes Werk ist
ein geographisches Lehrbuch, in lateinischer Sprache geschrieben;
dasselbe führt den Titel: „Ludovici Holbergii Compendium
Geographicum in usum Studiosi Juventutis“; man kennt
von demselben die in Kopenhagen 1733, 1736 und 1749,
sowie in Leipzig 1736 und 1754 erschienenen Ausgaben.
Dasselbe wurde weiter in die englische Sprache übersetzt und
im Jahre 1758 mit der kleinen Weltgeschichte Holberg's zu-
sammen gedruckt. Verschiedene der obigen Ausgaben gehören
zu den größten litterarischen Seltenheiten; von der ersten Aus-
gabe ist nur ein einziges, von der zweiten sind nur drei
Exemplare vorhanden. Die Bedeutung, welche man den
geographischen Arbeiten Holberg's beimaß, geht am besten
daraus hervor, daß bald nach seinem Tode von dem Pastor
Jonge unter dem Titel: „Baron Holberg's Geographie oder
Erdbeschreibung nach dem von Ihm Selbst herausgegebenen
kleinen lateinischen geographischen Compendium, jetzt aber
bedeutend erweitert" ein geographisches Lehrbuch heraus-
gegeben wurde, das statt der 58 kleinen Octavseiten des
Aus allen Erdtheilen.
29
Originalwerkes sieben starke Quartbände umfaßte, 10 Reichs-
thaler statt 8 Schilling kostete und 10 Millionen Buchstaben
anstatt der 38,000 des Holberg'schen Werkes enthielt.
H. Bay.
Die ostgrönländischc Expedition x).
Von Marine-Premierlieutenant V. Garde ist folgender,
von Nanortalik in Südgrönland, den 3. Oktober 1884, da-
tirter vorläufiger Bericht über die diesjährigen Untersuchun-
gen der zur Erforschung der Ostküste von Grönland aus-
gesandten dänischen Expedition in Kopenhagen eingegangen.
Am 5. Mai verließen wir Nanortalik, um unsere eigent-
liche Expedition nach der Ostküstc zu beginnen, denn das, was
im vorigen Jahre unternommen wurde — die Errichtung
eines bedeutenden Proviantdepots und die Erforschung des
südlichsten Breitengrades der Ostküste — durfte wohl nur als
vorbereitende Schritte betrachtet werden. In diesem Jahre
sollte es ernsthaft vorwärts gehen und meinen und hoffen
wir alle, daß die Ausbeute des Sommers gut gewesen ist
und daß die Aussichten für die an der Ostküste überwinternde
Hauptabtheilung der Expedition recht günstige waren.
Unsere aus vier Frauenbooten und sieben Kajaks be-
stehende Expedition hatte ungefähr dieselbe Größe wie die
vorjährige; die Anzahl der Theiluehmer betrug im Ganzen
37. Während der ersten sieben Wochen hatte die Expedition
mit verschiedenen Schwierigkeiten zu kämpfen. In Folge der
andauernden Landwinde, die oft in der Form von Stürmen
mit Schnee und Regen rasten, lag das Eis während einiger
Zeit unter 61° nördl. Br. dicht gepackt an der Küste, und
erst vorn 27. Juni an konnten wir mit etwas größerer
Schnelligkeit vorwärts kommen. Das im vorigen Jahre bei
den bei Jlnidlek wohnenden Heiden errichtete Proviantdepot
tvurde unberührt vorgefunden und die Eskimos erklärten sich
bei unserer Ankunft sofort bereit, mit uns nordwärts zu
reisen. Diese Eskimos hatten ihren eigentlichen Wohnsitz in
der Gegend unter 61° 30' nördl. Br.; dieselben waren jedoch
theils durch das von ihnen im vorigen Jahre unserem Chef
gegebene Versprechen und theils durch ungünstige Eisverhält-
nisse gezwungen worden, unsere Ankunft abzuwarten. Be-
gleitet von diesen 23 Heiden trafen wir am 2. Juli bei
Aneretok unter 61° 30' nördl. Br. eine andere aus circa
30 Köpfen bestehende Eskimogesellschaft. Einzelne von diesen
Leuten, die alle noch Heiden waren, hatten ihre Wohnsitze
nördlich von 65° 30' nördl. Br., also in der Gegend, bis
wohin Prof. Nordenskiöld im Sommer 1883 gelangte, ohne
anderes als „Spuren" von Eskimos anzutreffen; die ganze
Gesellschaft, welche im vorigen Jahre eine Handelsreise nach
der Westküste gemacht hatte, war bereit uns zu begleiten. Am
6. Juli trafen wir wieder eine Eskimotruppe, so daß wir
nun mit dieser zusammen 119 Männer, Frauen und Kinder
waren, davon waren 4 Europäer, 3 Mischlinge, 30 West-
länder und 82 Ostländer. Am 18. Juli sandten wir einen
Theil unserer Leute mit einem der Frauenboote nach Hause.
x) S. „Globus'st Bd. 46, S. 233.
Kurz darauf passirten wir den von den Grönländern so
gefürchteten Gletsch er Puisertok, der indessen weder auf
der Reise nordwärts noch auf der Rückreise südwärts der
Expedition lästig wurde. Nach einigem Kampfe mit dem
Nebel und dem dichten Eise erreichten wir am 29. Juli
Tingmiarmiut, belegen unter 62° 38' nördl. Br. Hier trenn-
ten sich die Mitglieder der Expedition gemäß dem bereits
mitgetheilten Plane. Premierlieutenant Holm und Candidat
Knutzen gingen mit zwei Frauenbooten und gefolgt von den
Eskimos nordwärts, um zu versuchen, ungefähr unter 66°
nördl. Br. zu überwintern und um diese nördlichen Gegen-
den zu untersuchen und zu vermessen; die beiden anderen
europäischen Mitglieder der Expedition gingen dagegen mit
einem Frauenboote südwärts, um die Fjorde und Küsten-
strecken südlich von Tingmiarmiut zu untersuchen und um
vor Beginn des Winters in Nanortalik zurück zu sein.
Die südwärts gehende Abtheilung hat vom 30. Jnli bis
26. September im Ganzen acht größere Fjorde untersucht;
während des ersten Monats von ganz außerordentlich guten:
Wetter begünstigt, hatte sie schließlich mit schwierigen Ver-
hältnissen zu kämpfen, indem gegen Ende August und wäh-
rend des ganzen September au der südlichsten Ostküste gar
kein Eis vorhanden war. Man möchte vielleicht annehmen,
daß dies gerade als günstig bezeichnet werden müsse. Da
das Herbstwetter aber höchst unruhig ist, indem die Stürme
zu dieser Zeit sehr häufig sind, so entsteht, weil das Eis
fehlt, längs der Küste eine schwere Brandung. Außer der
Brandung gcnirte uns schließlich auch noch der andauernde
Regen, aber am 26. September erreichten doch alle wohl-
behalten Nanortalik.
Diese „südliche Reise" hat außer den Vermessungen und
physiologischen Beobachtungen einen reichen geologischen, mine-
ralogischen und botanischen Ertrag gegeben. Ruinen oder
andere Ueberreste von europäischen Ansiedelungen sind nir-
gends gefunden worden, nur einige halbverfallene, wahr-
scheinlich von Schiffbrüchigen errichtete Steinhügel wurden
angetroffen.
Die Zeit erlaubt mir leider nicht, jetzt über diese Som-
merreise der Europäer zwischen den ganz unbekannten Heiden
zu berichten. Im bevorstehenden Winterquartier soll eine
eingehendere Beschreibung der ganzen Reise verfaßt und im
kommenden Frühjahr heimgesandt werden.
Zur Benutzung während unseres Winterquartiers hier-
in Nanortalik sind verschiedene neue Instrumente, namentlich
zu vollständigen magnetischen und Nordlichtbeobachtungen ein-
getroffen.
Im nächsten Sommer wird dann die Expedition beendet
sein. Lieutenant Holm reist nach seiner Ueberwinterung
wieder südwärts und die südliche Abtheilung, mit neuen
Vorräthen versehen, kommt ihm entgegen. Wenn möglich,
soll dann die Südexpedition die zunächst nördlich von Ting-
miarmiut belegenen Fjorde untersuchen. Glückt dies und
überstehen Lieutenant Holin und Candidat Knutzen ihre
keineswegs leichte Ueberwinterung mit den Heiden, dann
braucht Dänemark es nicht zu bereuen, daß es Geld aus-
gegeben hat für die Bootexpedition nach der Ostküste von
Grönland. W. Finn.
Aus allen
Asien.
— Ueber die sehr wenig bekannte Inselgruppe der
Malediven ist, wie das „Athenäum" (Nr. 2975) mittheilt,
kürzlich in Colombo auf Ceylon ein Büchlein von 133 Seiten
Erdtheilen.
aus der Feder von H. C. P. Bell erschienen, welcher 1879
den Archipel besuchte. Das „Reich der 12 000 Inseln" steht
zwar seit der Eroberung Ceylons durch die Engländer nnter
britischer Suveränetät, erfreut sich aber in der That ziemlicher
30
Aus allen Erdtheilen.
Unabhängigkeit; sein Sultan, der wahrscheinlich über nicht
mehr als 20 000 oder 30 000 Unterthanen herrscht (Behm
und Wagner, Bevölkerung der Erde, VII, S. 38, geben den
Malediven dagegen 150 000 Einwohner), hat einen der älte-
sten Throne im Osten inne. Nach Dr. Hunter's „Imperial
Gazctteer of Jndia" schickt der Sultan jährlich eine Gesandt-
schaft an den Gouverneur von Ceylon und bittet um den
Schutz und das Wohlwollen der britischen Regierung, indem
er einen Tribut von Kaurimuschelu, Fischen und Cakes über-
reichen läßt. Wann die Inseln zuerst besiedelt wurden, ist
ungewiß; doch steht fest, daß ihre Bewohner von derselben
Rasse sind, wie die Singhalesen. Auch ihr Sprachschatz ist
zum großen Theile singhalesisch; das geschriebene Alphabet
gleicht dem der alten singhalesischen Inschriften, und noch
mehr vielleicht dem südiudischen Vatteluttu. Geschrieben
wurde früher von links nach rechts, aber seit dem Eindringen
des Islam zu Anfang des 13. Jahrhunderts in umgekehrter
Richtung, wie gleiches auch von den Tagalen auf den
Philippinen nach der spanischen Eroberung bekannt ist. Die
Geschichte des Archipels ist ziemlich dunkel; zwei Autoren
berichten über ihn aus früherer Zeit, Jbn Batuta von
Tanger, welcher sich 1343 bis 1344 dort 18 Monate lang
aufhielt und gezwungenerweise das Richteramt ausüben
mußte, und Pyrard de Laval, der 1601 auszog sein Glück
zu machen, aber an den Malediven Schiffbruch litt und fünf
Jahre lang gefangen gehalten wurde. Vor Mr- Bell hat
nur ein Engländer die Inseln kennen gelernt, Christopher
von der indischen Marine, welcher 1834 bis 1835 die Karte
derselben aufnahm. Bell wird die von ihm erworbene
Kenntniß der Landessprache erst später wissenschaftlich ver-
werthen; daß die Kenntniß des Maledivischen für das Stu-
dium des Singhalesischen und des Prakrit von Werth ist,
haben anerkannte Forscher dargethan. Ferner hat Bell eine
Anzahl von maledivischen Münzen gesammelt, von denen
wohl keine europäischen Numismatikern bekannt ist, darunter
ein Exemplar des alten silbernen Larin oder der Fischangel-
münze, die in Mal« geprägt wurde. Der Handel des Ar-
chipels ist nicht unbedeutend und einer Steigerung fähig; er
betrifft namentlich getrocknete Fische, welche ihren Weg in
alle Bazare des Ostens finden, während die früher sehr an-
sehnliche Ausfuhr von Münzen und Kauris jetzt sehr ge-
sunken ist.
^ — Man hat öfters behauptet, daß die Franzosen in
Französisch-Cochinchina wenig gegenüber den anderen
Europäern zu bedeuten hätten. Das ist falsch. Für 1883
wurde die Bevölkerung der Kolonie zu 1 596 500 Seelen an-
genommen, welche sich folgendermaßen zusammensetzte:
Europäer . . .
Domicilirte Asiaten
Eingeborene Asiaten
Fremde Asiaten . . .
sFranzosen. . (Fremde . 1862) 65) 1927
44
lAnnamiten . 1 431 142
I Kambodjaner iMois . . 101 837 . 6 343 1 539 619
(Schams . . 297
(Chinesen . . 49 922)
Malabaren . . 490
Malaien . . . 4 463 54 910
Tagalen . . 22
(Andere Asiaten 13j
Zusammen 1 596 500.
Es leben also in Cochinchina 1862 Franzosen oder, wenn
man davon 220 Personen ans den französischen Besitzungen
in Indien in Abzug bringt, 1642 Franzosen gegenüber
65 fremden Europäern, d. h. mehr als 25 mal so viel Fran-
zosen als andere Europäer.
— Die Resultate der chinesischen Ministerberathungen —
erzählt Pfarrer Heims in „Unter der Kriegsflagge des Deut-
schen Reichs" (S. 210) — werden in der Pekinger Staats-
zeituug" veröffentlicht, die nicht etwa, wie zuweilen zu lesen,
in rother Seide in kolossalem Format in langen Zwischen-
pausen gedruckt wird, sondern täglich in der Gestalt eines
sehr unscheinbaren, sechs Zoll langen und drei Zoll breiten
Büchleins aus Bastpapier erscheint. Die Gesandtschaften und
obersten Behörden erhalten gegen ein monatliches Abonne-
ment von acht Dollars eine handschriftliche Ausgabe am
Abend vor dem Erscheinen der nachts gedruckten Exemplare,
welche morgens ausgegeben werden. Auch von diesen giebt
es zwei, dem Preise nach verschiedene Auflagen: eine bessere,
mit hölzernen und eine recht schlechte, mit Wachstypen ge-
druckte. Die nicht sehr umfangreiche Zeitung — wenn nicht
gerade besondere Publikationen vorliegen — enthält Hofnach-
richten , als: Empfänge bedeutender Würdenträger; Nach-
weisung der dem Kaiser vorgesetzten neuen Speisen des
Jahres, die dann erst vom Volke genossen werden dürfen;
ferner Bekanntmachungen über Anlegung der Winter- und
Sommerkleidung, welche danach geregelt wird; Berichte aus
den Ministerien und Provinzen; die Themata der großen
Examina in Peking und die Namen der infolge richter-
lichen Spruchs Hingerichteten unter kurzer Angabe ihrer
Verbrechen u. s. f. Diese Exekutionen werden, mit Aus-
nahme einiger Kapitalfülle, im ganzen Reiche an einem Tage
vorgenommen und arten in größeren Städten dann gerade-
zu in Schlächtereien aus, bei denen das Kopfabschneiden mit
einer gewissen Gemüthlichkeit betrieben wird. Wahrhaft be-
stialisch aber tritt die Grausamkeit des chinesischen Charakters
in den vielfachen anderen noch zu Recht bestehenden Todes-
strafen zu Tage, unter denen die „eiserne Schlange" eine
unheimliche Rolle spielt. Der Körper des Delinquenten wird
mit einem Zinkrohr in Schlangenwindungen umwickelt und
dann dieses in Verbindung gebracht mit einem Behälter,
dessen Wasser allmählich zum Sieden gebracht, in der Röhre
steigend den Unglücklichen unter schrecklichen Qualen zu Tode
brüht. Auch das Sieden in nach und nach angeheiztem Oel
wird angewendet in schweren Fällen; ebenso wie die stramme
Umwickelung des Körpers mit Eisendraht, so daß die ab-
geschnürten Fleischtheile hervorquellen, um mit Zangen zer-
rissen zu werden, eine Strafe, die übrigens auch bei uns
vorkam: so gegen die Wiedertäufer in Münster. Bekannt
ist die Todesstrafe durch Hunger, bei der die Betreffenden
im Holzkäfig in der Nähe einer Garküche ausgestellt werden
unter strenger Bewachung, daß ihnen nichts zugesteckt werden
kann. Ebenso die Schlafentziehung als Torturmittel. Auch
die Pfählung soll noch im Gebrauch sein, bei welcher der
Verurtheilte auf einen spitzen Pfahl gedrückt wird, der nach
und nach bis zum Genick vordringt.
— Ueber die Sklaverei in Korea berichtet P. Mayet
in den „Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur-
und Völkerkunde Ostasiens" (Heft 31) folgendes. Der erste
Anblick, als er in Tschemulpo landete, war ein Zug paar-
weise geordneter Sklaven, von denen jedem mit chinesischer
Tusche eine Zahl auf die Stirn geschrieben war. Sie
waren mit dem Entladen einer Dschunke beschäftigt, welche
Bleibolzen zum Verschlechtern des Kupfergeldes brachte. Die
koreanischen Sklaven sind desselben Stammes wie ihre
Herren. Manche Arten Verbrecher werden Sklaven der
Regierung, sie arbeiten in den Strüflingskolonien Quelparts
und an einigen Orten der Küste, aber auch die Familie von
manchen verfällt der Sklaverei; die weiblichen Mitglieder
derselben werden Sklaven des Richters und seiner Leute,
seines Gefolges, seiner Diener, Pferdeknechte und Gefängniß-
diener, preisgegeben jedem, dem sie eine Stunde verkauft
find. Vor wenig Monaten erst hob der gegenwärtige König
das schauderhafte Gesetz auf, daß die Familienmitglieder der
Hingerichteten, die weiblichen zu Prostituirten, die männ-
lichen zu Eunuchen zu machen seien. Hoffentlich ist damit
auch die Strafsklaverei unschuldiger Frauen und Mädchen
für minder schwere Verbrechen ihrer Familienhäupter über-
haupt aufgehoben. Den Anlaß zu diesem Kulturfortschritt
gab die Vernrtheilnng von fünf der vornehmen Empörer des
vorigen Jahres. Im übrigen vermehrt sich die Zahl der
Aus allen Erdtheilen.
31
Sklaven durch Schuldner, die unfähig sind ihre Schulden zu
bezahlen, wie dieses in alter Zeit in Japan auch der Fall
war, durch Verkauf der Kinder seitens der Eltern, nament-
lich zu Zeiten der Hungersnoth, ein Brauch, der auch außer
der Zeit der Hungersnoth in Japan trotz angedrohter Be-
strafung noch jetzt nicht ganz ausgestorben ist; ferner in
Korea durch freiwillige Uebergabe, um den Schutz und die
Fürsorge eines Mächtigen zu genießen. Endlich werden dort
Findlinge und die Kinder von Sklaven wieder Sklaven.
Ein Freier kann eine Sklavin heirathen; Knaben aus dieser
Ehe werden frei, Mädchen werden Sklavinnen des Eigen-
thümers der Frau. Die Sklaven sind größtentheils im
Besitz des alten Feudaladels, und dann gestaltet sich die Sache
meist als eine Art Leibeigenschaft. Zuweilen sind die Leute
auch im Besitze einer Dorfgemeinde oder sind Post-Sklaven.
Wir werden in diesen vielen Arten Sklaven die drei Arten
öffentlicher Sklaven und die beiden Arten Privat - Sklaven
wiederfinden dürfen, welche in dem ältesten, dem 8. Jahr-
hundert angehörenden japanischen Gesetzbuche, dem Taiho-Riü
erwähnt werden. Da dieses selbst wieder auf ein älteres
chinesisches Gesetzbuch sich stützt, so dürfte man wohl alle
diese Formen der Sklaverei auf Altchina zurückführen.
— Von der chinesischen Expedition Potanin's hat die
Redaktion der „OestlichenRundschau" aus Kuku-choto den
23. Juli 1884 einen Brief über Kalgan erhalten. Die Ex-
pedition hatte am 6. Juli Kuku-choto erreicht; der Marsch
von Peking an hatte 40 Tage gedauert. In Kuku-choto
fanden die Reisenden nur einen einzigen Europäer, einen belgi-
schen Missionar, welcher sie in sein eigenes Haus aufnahm.
Die belgische Mission wirkt schon lange in China und unter-
hält Institute zur Erziehung chinesischer Waisenkinder, welche
zum Christenthume bekehrt werden. Schon vor Kuku-choto
hatten die Reisenden das Gebirge betreten und ein Thor der
großen chinesischen Mauer passirt; A. I. Skassi nahm
Photographien der Mauer auf. Auch eine Anzahl Götzen-
tempel, welche man passirte, wurden photographirt. Man hat
bereits angefangen zu botanisiren und zu sammeln.
— Nach der Turkestaner Zeitung hat der Reisende
und Entomolog Grum-Grishimailo seine diesjährigen,
naturwissenschaftlichen Untersuchungen von Türke st au be-
endigt. Dr. Grishimailo begann seine Excursionen vom
Ferganathale aus und ging dann in das Alaigebiet, welches
er sehr genau durchforschte. Im Laufe des Sommers bereiste
er Osch, Arawan, Naukat, Utsch-Kurgan, Wuadil, Schahi-
mardan, Karakazyk, Koksu, Tekelik, die Flüsse Balykty, Kara-
muk und Zanku; auf dem Rückwege besuchte er Ljächsch,
Karamuk, Dshirgetal, Tekelik, Koksu, Sarybulak, Tuzdora,
Altynmazar und wanderte am Fuße des Trans-alai-Gebirges
bis Bor-dooba, Kyzyl-Art, Karakul, und zurück bis Sary-
tasch nach Taldyk und Zultscha. Das gesammelte geologische
Material ist sehr beträchtlich; nur allein an Lepidoptereu
wurden 17 000 Exemplare beschafft, darunter eine Menge
neuer Arten. In ethnographischer und anthropologischer Hin-
sicht muß die Expedition gleichfalls als gelungen bezeichnet
werden. Ferner sind viele Höhen gemessen und auf der
ganzen Reise thermometrische Beobachtungen angestellt worden.
Unter anderen begegnete der Reisende verschiedenen Formen,
welche, wie es scheint, die Existenz einer Gletscherperiode für
Mittel-Asien bestätigen; wenigstens läßt sich nur unter dieser
Annahme die Anwesenheit von Formen in Tiön-schan erklären,
welche bisher nur in Nordamerika (Labrador, Grönland), in
Lappland und den Schweizer Alpen gefunden worden sind.
Im nächsten Jahre gedenkt der Reisende die westlichen Aus-
läufer des Tiön-schan zu untersuchen, weil die betreffende
Gegend in geologischer Hinsicht noch niemals durchforscht
wurde.
— Eine unterhaltende feuilletonistische Lektüre gewähren
Wilhelm Petersen's Reisebriefe „Aus Transkauk-
asieu und Armenien" (Leipzig, Duncker und Humblot,
1885, Preis 3 Mk.). Der Autor unternahm seine Reise im
Aufträge der Petersburger Geographischen Gesellschaft, um
das neu erworbene Batumsche Gebiet zoologisch zu
untersuchen (übrigens ist die dortige Fauna, welche durchaus
mitteleuropäischen Charakter trägt, im Verhältniß zn der
prächtigen Flora geradezu armselig) und schlug sein Haupt-
quartier in Artwin auf, einem Orte von 5328 meist arme-
nischen Einwohnern, der sich durch seine schönen Frauen aus-
zeichnet. Seine zuerst in der deutschen Petersburger Zeitung
abgedruckten Berichte bringen die ersten zusammenhängenderen
Nachrichten aus jener Gegend und sind, wenn auch nicht
geographisch, so doch kulturhistorisch von großem Interesse.
Das Räuberwesen steht daselbst noch in voller Blüthe, ja
wird sogar von den mit der Aufrechterhaltung der Ordnung
betrauten Milizen, besonders den Guriern (S. 109, 113)
nachdrücklich betrieben. Eigenthümlich ist das Mittel, dessen
sich die Regierung zur Bekämpfung desselben bedient. Man
läßt nämlich einen Räuber, den man gefangen und seines
Verbrechens überführt hat, wie durch Zufall entspringen und
schenkt ihm provisorisch unter der Bedingung die Freiheit,
daß er die Köpfe mehrerer anderer schafft. Au eine wirklich
erfolgreiche Durchforschung dieser Gegenden wird man erst
denken können, wenn sich die öffentliche Sicherheit gründlich
gebessert haben wird, und bis dahin scheint es noch gute
Weile zu haben. Die Bevölkerung ist noch immer im Ziehen
begriffen, noch immer finden sich Wanderlustige, welche die
türkische Herrschaft der russischen vorziehen. Im ganzen aber
scheint jetzt ein Zuzug von türkischer Seite her vorzuherrschen,
trotzdem die türkischen Behörden selbst Gewaltmaßregeln
nicht scheuen, um denselben zu hindern, und stets dafür
sorgen, daß es in den Grenzbezirken an unruhigen Elementen
nicht fehlt. Vielleicht am meisten hat durch Auswanderung
das herrliche Thal des Murgül, welcher unterhalb von
Artwin von Westen her dem Tschoroch zuströmt, gelitten
(S. 99). Ueberall verlassene Dörfer mit Häusern, deren
Bauart auf große Wohlhabenheit der früheren Besitzer schließen
ließ. So ritt Petersen durch ein Dorf, in welchem von
hundert Feuerstellen nur noch acht geblieben waren; ein
anderes war ganz verlassen. Diese durch türkische Agitation
bewirkte Auswanderung ist um so mehr zu beklagen, als
gerade das Murgülthal eines der von der Natur am meisten
gesegneten vielleicht in ganz Transkaukasien ist und einem
einzigen großen Fruchtgarten gleicht. Sein Tabak erfreut
sich eines guten Rufes, der Oelbaum gedeiht stellenweise
außerordentlich üppig, die Weintrauben reifen prachtvoll und
die schönsten Aepsel, Birnen, Pflaumen, Wallnüsse und
anderen Früchte sind in Menge vorhanden, ohne daß sich
irgend ein Mensch nur darum kümmert; und doch wäre der
Export derselben nach Batum kein allzu schwieriger. Wie
stark müssen die Beweggründe gewesen sein, welche eine arbeit-
same und friedliche Bevölkerung veranlassen konnten, ein so
paradiesisches Heim aufzugeben. Sobald aber beim Moham-
medaner der Religionsfanatismus mit ins Spiel kommt
und besonders die Frauenfrage gefährdet scheint, wird alles
geopfert: das wußten die türkischen Emissäre nur zu gut.
Neben diesen Schattenseiten, der Auswanderung, der großen
Unsicherheit des Lebens und Eigenthums, der allgemeinen
Korruption (S. 96), fehlen aber auch lichtere Seiten nicht.
So darf sich Batum einer überraschend schnellen Entwickelung
rühmen; seine Bevölkerung war schon 1881 auf das Vier-
fache gestiegen, überall erheben sich stattliche Steingebäude
und selbst elegante Kaufläden. Allerdings soll man den ein-
fachen Holzbaracken, aus welchen der Ort früher ausschließ-
lich bestand, in sehr eigenthümlicher Weise, nämlich durch
Brandstiftung, zu Leibe gegangen sein.
Afrika.
— Unter den Aktenstücken zur Kolonialpolitik, welche
jüngst dem Deutschen Reichstage mitgetheilt wurden, ist der
Bericht Dr. Nachtigal's vom 16. August 1884 über seine
82
Aus allen Erdtheilen.
Thätigkeit in der Biafra-Bai von besonderem Interesse,
da er die Ausdehnung deutschen Besitzes dort etwas anders
angiebt, als man bisher annahm, und über die stille Annexions-
thätigkeit der Franzosen nördlich vom Gabun Licht verbreitet.
Danach beginnt der deutsche Besitz im Meerbusen von Biafra
am Flüßchen Mosimoselle, durch welches das Bimbia-Land
von dem eben von England besetzten Victoria-Bezirke an der
Ambas-Bai getrennt wird. Bimbia umfaßt die drei Ort-
schaften King Williams-Town, Money-Town und Dukullu-
Town, reicht vom Mosimoselle bis zum Bimbiaflusse und
zwar fünf Meilen (Seemeilen?) landeinwärts und war vor
der am 21. Juli erfolgten Aufhissung der deutschen Flagge
von den Hamburger Firmen C. Woermaun und Jantzen
und Thormählen käuflich erworben worden; eben denselben
waren durch besonderen Vertrag die Hoheitsrechte abgetreten
worden. Die dazu gehörige Insel Nicoll war von C. Woer-
mann allein gekauft worden. — Auf Bimbia folgt Camerun
mit den „Städten" der „Könige" Bell, Aqua und Dido, die
ihre Hoheitsrechte gleichfalls an jene Firmen abgetreten haben.
Südlich von Camerun folgt eine große Insel, umschlossen
von dem Meere, dem Quaqua-Flusse und dem Nordarme des
Edea (Borno-Fluße), welche möglicherweise als französisches
Protektoratsgebiet reklamirt werden wird. Malimba
ist wiederum deutsch, ebenso die Distrikte Klein-Batanga,
Plantation und Criby, welche die Küste von etwa 3° 10,6'
nördl. Br. bis circa 3" nördl. Br. einnehmen (die bisherigen
Seekarten lassen uns hier im Stiche) und etwa 10 Seemeilen
landeinwärts reichen. Auf den nun folgenden Bezirk Awuni
(etwa unter 2° 10' nördl. Br.) scheint Frankreich nicht ganz
unanfechtbare Ansprüche zu haben, weshalb auf das Auf-
hissen der deutschen Flagge einstweilen verzichtet wurde. Da-
gegen wurde das Land zu beiden Seiten des Benito-Flusses
(Mündung desselben 1° 34' nördl. Br.) unter deutschen Schutz
gestellt, auf dem Südufer allerdings mit Vorbehalt. Der
französische Gouverneur des Gabun, wohin sich Dr. Nach-
tigal darauf begab , erklärte denn auch, daß Frankreich ein
vertragsmäßiges Recht auf Küstengebiete südwärts von Ba-
tanga habe und der Besitz eines Theiles dieser Küste auch
für die Zukunft des Gabun unentbehrlich sei. Es wird also
noch weiterer Verhandlungen bedürfen, ehe wir mit Sicher-
heit unseren westasrikanischen Besitz aus den Karten werden
abgrenzen können.
— Von dem am 5. Juli 1884 unter deutschen Schutz
gestellten Togo-Lande, mit den Orten Lome (Bey Beach),
Bagida und Porto Seguro (?) berichtet Dr. Nachtigal (in
den dem Reichstage mitgetheilten Aktenstücken über West-
afrika), daß es bezüglich der in das Innere führenden Handels-
wege vielversprechend sei. Von Lome führt bereits jetzt
ein Weg nach Salaga, jenem, von dem Franzosen
Bounat 1875 zuerst besuchten Handelsplätze unweit des
oberen Volta-Flusses, wohin die Leute ebensowohl aus Tim-
buktu, als aus den Haussastaaten und selbst aus Bornu zum
Kaufe der Kolanüsse ziehen. „Bei den exorbitanten Einfuhr-
zöllen — schreibt Dr. Nachtigal —, welche in der englischen
Goldküste-Kolonie von nichtenglischen Artikeln erhoben werden,
und welche 100 Procent (Tabak, Gin), 200 Procent (Pulver)
und 25 Procent (Rum) vom Einkaufspreise betragen, würde
überdies ein daneben gelegenes Freihandelsgebiet einer
glänzenden Zukunft entgegengehen, da der englische Besitz an
der Goldküste sich, soviel ich habe in Erfahrung bringen
können, rechtlich nur über 10 Seemeilen ins Innere erstreckt
und sich also die Hinterländer aus jenem Gebiete mit den
genannten Waaren versehen würden." Es ist natürlich vom
deutschen Standpunkte aus von Herzen zu wünschen, daß der
legitime Binnenhandel des Togolandes sich kräftig entwickeln
möge, und es ist auch wohl möglich, gerade den Verkehr mit
dem wichtigen Salaga zu pflegen; aber andererseits darf
man sich nicht verhehlen, daß die englische Macht bedeutend
weiter landeinwärts reicht, als 10 Seemeilen, und daß man
sich auf eine scharfe Konkurrenz gefaßt machen muß. An
seiner schmälsten Stelle ist das unbestritten unter englischem
Schutze stehende Gebiet immer noch 44, an seiner breitesten
fast 100 Seemeilen breit, und auch auf das nördlich von dem
Protektorate gelegene Aschantireich, ja selbst auf die Land-
schaft Ganarn im Nordwesten von ersterem erstreckt sich neuer-
dings englischer Einfluß, wie die letzten Blue-books über die
Goldküste und die darin enthaltenen Berichte von Hart,
Lonsdale, Graves und anderen Beamten darthun. Haben
sich doch bereits (vergl. Globus Bd. 46, S. 192) eine Anzahl
Aschantihänptlinge an den Gouverneur der Goldküste gewendet
und gebeten, ihr Land unter englischen Schutz zu stellen.
— In der Wüstenstadt Arauan, nördlich von Tim-
buktu, giebt es (nach O. Lenz, Timbuktu II, S. 162) vielfach
kleine Steine von der Größe eines Taubeneies, welche sehr
geschätzt werden und angeblich ein vorzügliches Mittel sind
gegen Vergiftung. Etwas davon, in eine Tasse Thee ge-
rieben, soll die Wirkung des Giftes ausheben. Es sind
Knollen von phosphorsaurem Kalk, die man im Leibe
eines Emhor genannten Thieres findet, wahrscheinlich einer
Antilopenart (vielleicht auch das Zebra, da es heißt, das
Thier gleiche einem Pferde); sie werden sorgfältig gesammelt
und von Arauan aus nach allen Richtungen des mohamme-
danischen Afrika zu hohen Preisen verkauft; selbst in die
Türkei gelangen viele von diesen Steinen.
— Der französische Marinearzt Dr. Colin hat kürzlich
im Aufträge des Marineministers eine anderthalbjährige Reise
in dem Gebiete südlich von Bakel und Medina, zwischen
dem Senegal und seinem Zuflusse Faleme, vollendet, durch
welche der französische Einfluß in Senegambien wieder
bedeutend verstärkt worden sein soll. Mit den Häuptlingen
der beiden goldreichsten Landschaften jener Gegend, denen
von Tambaura und von Diebe duzn hat er Verträge
abgeschlossen, durch welche den Franzosen allein das Recht
eingeräumt wird, Bergwerke auf Gold, Wege und Baulich-
keiten herzustellen. __________
Australie n.
— Die Zahl der Deutschen (d. h. der in Deutsch-
land Geborenen) in Australien belief sich am 3. April
1881 auf 42203 Seelen (27 349 männliche, 14854 weib-
liche); davon lebten in Victoria 8571 (6144 männliche, 2427
weibliche), in Neusüdwales 7521 (5367 männliche, 2154 weib-
liche), in Queensland 11638 (6891 männliche, 4747 weib-
liche), in Südaustralien 8801 (5234 männliche, 3567 weib-
liche), in Westaustralien 71 (61 männliche, 10 weibliche), in
Tasmanien 782 (464 männliche, 318 weibliche) und in
Neuseeland 4819 (3188 männliche, 1631 weibliche). Man
bemerkt in obigen Ziffern ein außerordentliches Ueberwiegen
des männlichen Geschlechts über das weibliche; eine Folge
davon sind eheliche Verbindungen mit nichtdeutschen Frauen
und damit Aufgeben der eigenen Nationalität.
Berichtigung. Bd. 46, S. 380, Spalte 1, Zeile 4 und 35
von unten lies 2 8. September 1871 (anstatt 1878).
Inhalt: Reisen in Gurien und am oberen Kur. II. (Mit sechs Abbildungen.) — P. E. Richter: Die sociale
und politische Stellung der Frauen bei den Huroneu und Irokesen. II. (Schluß.) — W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
11. (Zweite Abtheilung.) — Kürzere Mittheilungen: Ludwig Holberg als Geograph. Von H. B ay. — Die ostgrön-
ländische Expedition. Von W. Finn. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Australien. (Schluß der Redaktion:
12. December 1884.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
/
Mit besonderer Herürbsichtignng der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Nichard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern- Durch alle Buchhandlungen und Postauflalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
Nach dem Französischen der Madame Carla Serena.
III. (Schluß.)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Wenn der Reisende Achaltziche von weitem erblickt
mit seinen modernen Kirchthürmen und alten verfallenen
Minarets, so ahnt er, daß er sich einer Stadt nähert, wo
lange Zeit Kreuz und Halbmond um die Herrschaft geran-
gen haben. Achaltziche (der Name bedeutet im Georgischen
„Neue Festung") liegt 3124 Fnß über dem Spiegel des
Schwarzen Meeres am Ufer des Potschov-tschai; sein Be-
zirk bildete ehemals die Provinz Ober-Karthli, die Domäne
der Dschagheli, welche den Titel Achaltzicheli (Herren von
Achaltziche) trugen. Im 12. Jahrhundert empfingen die-
selben noch den Titel Atabeg, wonach die Landschaft den
georgischen Namen Sa-Atabago (Land der Atabeg) annahm.
Als die Türken sich im Jahre 1579 des Landes bemäch-
tigten, beließen sie die Regierungen den titularen Fürsten;
als aber später Murad IV. das Paschalik Achaltziche er-
richtete, verlegte der neue Pascha seine Residenz von Olti,
einer kleinen, weiter südwestlich an einem Zuflusse des
Tschoroch gelegenen Stadt, nach Achaltziche, welches befestigt
wurde und seitdem der militärische und kommercielle Mittel-
punkt der alten Landschaft Samtzche blieb. Dorthin ging
das Getreide aus Kars und Erzerum, und auch ein Sklavcn-
markt wurde dort eingerichtet. 1810 vom russischen General
Parmasow belagert und 18 Jahre später vom Feldmarschall
Paskicwitsch, dem späteren Bieckönig von Polen, erobert,
wurde es im folgenden Jahre durch den Frieden von Adria-
nopel an Rußland abgetreten. In »euerer Zeit, 1853,
Globus XLVII. Nr. 3.
schlug General Fürst Andronikow auf der Ebene von Snplis
unweit der Stadt die Türken, eine entscheidende Wasfen-
that, deren Andenken durch ein dort errichtetes Denkmal
der Nachwelt aufbewahrt ist.
Ursprünglich christlich, wurde diese georgische Provinz
Ober-Karthli von einem ihrer Fürsten, dem Atabeg Rostom,
der seinerseits zum Islam übergetreten war, um Pascha
des Landes zu werden, gezwungen, gleichfalls sich dem Mo-
hammedanismus zuzuwenden. Dagegen hat sich die geor-
gische Sprache im Lande erhalten, wenigstens bis in die
jüngste Zeit, wo das Türkische Fortschritte gemacht hat.
Achaltziche besteht ans zwei Städten, der alten, haupt-
sächlich von Georgiern, Tataren und Türken bevölkerten
und der neuen, von deren rund 20 000 Einwohnern drei
Viertel Armenier, nicht wenige Juden, aber wenig Georgier
und noch weniger Russen sind. Noch existirt dort die
Familie des eben erwähnten Nostom Atabeg; sie hat sich
nach ihren etwa 12 Werst von der Stadt entfernt gelegenen
Gütern im Bezirke Koblian setzt den Beinamen Kobliansky
beigelegt und ist vollständig mohammedanisch; zu ihr gehörte
Ahmed Pascha, welcher die Moschee in der alten Festung
erbaut hat, welche die Russen später in eine orthodoxe
Kirche umgewandelt haben. Umgekehrt hat derselbe Ahmed
Pascha, ehe er zum Islam übertrat, mit zweien seiner
Brüder das Kloster Safara gegründet; dasselbe liegt auf
einem Berge 8 Werst von der Stadt Achaltziche und existirt
5
Achaltziche.
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
35
noch heute. Die dortige Kirche aber ist das ganze Jahr
hindurch geschlossen und wird nur am Tage Mariä Himmel-
sahrt den aus der Stadt kommenden Pilgern geöffnet.
Die ganze Gegend, mit Einschluß von Atzchur und dem
kleinen befestigten Dorfe Cherthwis, südöstlich von der Haupt-
stadt, erzeugt prachtvolle Aepfel und ist außerordentlich reich
an Obstgärten; ein Zufluß des Kur, des Potschow (tatarisch
Potschov-tschai) durchströmt sie in malerischen Windungen,
und ein zwiefacher Bergwall scheidet sie einerseits von
Gurien, andererseits von dem Bezirke Erzerum. Seit
1830 ist die Pest, welche früher dort häufig wüthete, nicht
mehr erschienen, und nur die noch geübte Quarantäne und
der besondere Kirchhof erinnern an jene Zeiten. 1844
brach indessen an mehreren Stellen des Kaukasus, und
namentlich in Alexandropol, eine Pestepidemie aus; später
entsandte die russische Regierung den Quarantünearzt von
Achaltzichc nach dem persischen Kurdistan, wo die Krankheit
ausgebrochen war, um ihre Ursachen und Bedingungen zu
untersuchen. Derselbe fand bei näherem Nachforschen, daß
die Epidemie ihren Ursprung in Gebirgshöhlen, die Schafen
zum Aufenthalt dienten, genommen habe; um dieselben zu
lüften, hatte man einen Schacht nach dem Gipfel des
Berges gebohrt, und gerade dort waren vor etwa 40 Jahren
Pestleichen beerdigt worden, deren Gebeine nun in die
Höhlen hinabfielen. Ein in denselben hausender Hirte war
der erste, welchen die Krankheit ergriffen hatte — ein Be-
weis dafür, wie lange Zeit der Ansteckungsstoff seine latente
Kraft bewahren kann, und wie er sofort wieder auflebte,
als er mit der Luft in Berührung kam.
Eine hölzerne Brücke über den Potschow fetzt das alte
und das neue Achaltziche in Verbindung; auf dem linken
Ufer liegt ersteres, von meist katholischen Georgiern, Ta-
taren und Türken bewohnt, auf dem rechten die zwischen den
Jahren 1830 und 1833 von Armeniern gegründete Neustadt.
Ueberall krumme, schmutzige, elende Straßen. Die frühere
Festung am Ufer des Flusses ist heute Militärhospital; die
einst von Derwischen bewohnten Arkadenbauten dienen jetzt
zur Aufbewahrung von Uniformen und die Moschee als
Unterirdische Wohnungen m Achaltzrche.
orthodoxe Kirche, in welcher die im Minaret aufgehängte
Glocke die Stimme des Muezzin ersetzt hat. Welcher Zeit
die Festung angehört, ist nicht genau bekannt; eine Tradi-
tion will sogar wissen, daß auf dem Wiesenplane, wo sie
steht, einst eine vom Apostel Andreas erbaute Kirche ge-
standen habe. Bei der letzten Belagerung haben die von
dort aus kommenden Kanonenkugeln einen Theil der alten
Stadtquartiere zerstört. Heute sind die meisten Wohnungen
unterirdisch und liegen in Terrassen über einander, indem
das Dach der einen sich vor den Thüren der darüber befind-
lichen als Weg hinzieht; so mag sich der Fremde beim
Durchwandern dieser halb begrabenen Stadt fragen, wo
denn eigentlich die Einheimischen hausen? Von Häusern
sieht er keine Spur; nur von Zeit zu Zeit stößt er auf
eine kegelförmige Erhöhung von Thonerde von 1 bis 6 m
Höhe, welche oben mit einer Art Schiebefenster von Ocl-
papier geschlossen ist. Dasselbe dient dazu, den Hauptraum
(darbazi) einer darunter befindlichen Behausung zu erleuch-
ten. Eine rohe Thür, an welcher als Gegengewicht ein
dicker Holzklotz angebracht ist — Schlösser giebt es nicht —
führt in einen finsteren Gang, und dieser durch eine zweite
Thür in den runden Wohnraum, dessen Boden der mit
Teppichen belegte nackte Fels bildet. Ringsum an den
Wänden sind Nischen mit Holzthüren angebracht, welche als
Schränke dienen. Andere mit Vorhängen versehene Ver-
tiefungen dienen als Betten für die Familienglieder; mit
Teppichen belegte Bänke und ein gußeiserner Ofen bilden
die ganze Ausstattung. Am merkwürdigsten ist die Decke, eine
nach oben zu sich verengende achtseitige Kuppel, deren Flüchen
aus je zwanzig, immer kleiner werdenden hölzernen Stufen
bestehen, gleichsam eine umgekehrte Treppe, die zu der Luke
ganz oben hinaufführt. In gleicher Höhe liegen kleinere
Kammern und andere ein paar Stufen tiefer; dieselben
haben kleine viereckige Oeffnungen, deren Holzrahmen statt
mit Glas mit geöltem Papiere verschlossen sind. Diese
Katakomben, an deren Wänden Heiligenbilder angebracht
sind, werden meist von Georgiern oder katholischen Ar-
meniern bewohnt, die sich zuweilen eines gewissen Wohl-
standes erfreuen.
Fast das einzige Gebäude in Achaltziche, welches diesem
36
Reisen in Gmien und am oberen Kur.
r
allgemein verbreiteten Typus nicht angehört, ist die Syna-
goge, ein moderner Bau aus Steinen mit schrägem Zink-
dache und wie die russischen Kirchen hellgrün angestrichen.
Die Behausungen der Juden dagegen gleichen denen der
übrigen Einwohner. In ihrer körperlichen Beschaffenheit
nähern sich die Kinder Israels mehr den Georgiern, als
ihren Stammesgenossen in Polen, Rußland, Jerusalem
oder selbst denen im Kaukasus. Ihre Frauen verstecken
sich, wenn ein Fremder naht, wie die Mohammedanerinnen
und Armenierinnen.
Die Neustadt hat zwar ein anderes Gepräge, steht aber
an Häßlichkeit der Altstadt nicht nach. Die dortigen Häuser
von Armeniern, welche in Folge des Friedens von Adria-
nopel aus der Türkei nach Achaltziche wanderten, sind nur
elende Hütten ans Lehm und Rollsteinen mit papierverklcb-
ten Fenstern. Nichts Traurigeres als diese Wohnungen,
die unreinliche, nicht gepflasterte und nicht erleuchtete Straßen
einfassen. Der Bazar entspricht ihnen gleichfalls.
Hier wie in Tiflis und anderen Städten Kaukasiens
bilden die Angehörigen verschiedener Völkerschaften, obwohl
Armenierinnen von Achaltziche.
sie anscheinend im Verkehre mit einander stehen, dennoch
ebenso viele geschlossene Gesellschaften; die Mitglieder des
militärischen Klubs sind meist Russen, diejenigen des bürger-
lichen Georgier. Der Russe verachtet den Georgier in
gewissem Grade; dieser sieht wieder den Armenier von oben
herab an, welcher seinerseits den Juden mit mitleidiger
Miene mustert. Die Frauen erscheinen nicht in derOesfent-
lichkeit; sie leben unter sich und haben ihre eigenen Gesell-
schaften, denen es nicht an Originalität fehlt. Bei den
Armenierinnen besonders herrscht trotz der äußeren Arm-
seligkeit der Behausungen ein gewisser Komfort, der sich in
dem Vorhandensein von europäischen Stühlen neben den
landesüblichen Bänken ausspricht. Die Kinder nehmen an
den Gesellschaften theil, in denen ein gemüthliches Sich-
gehenlassen herrscht; nachdem Znckerwerk und Thee gereicht
ist, finden monotone Rundtänze statt, bei denen fortgesetzt
dasselbe Wort Pari! Pari! (Tanzt! Tanzt!) ertönt. Wie
fast alle Orientalinnen haben diese Armenierinnen schöne
Augen, Haare und Zähne; dagegen welkt ihr Teint vor-
der Zeit und ihr Rücken ist meist ungraciös gekrümmt,
eine Folge ihres sitzenden Lebens und ihres ewigen Kanerns
bei geschlossenen Thüren. Ihre sehr elegante Tracht besteht
Reisen in Gurien und am oberen Kur.
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aus einem seidenen Kaftan, der vorn viereckig ausgeschnitten
ist, mit glatten engen Aermeln, aus welchen andere Aermel,
die zur Weste gehören, hervorgucken; ferner aus einer
großen, goldgestickten Schürze aus rothem Tuche, die bis
auf den Saum des Kleides hinabreicht; einem rothen Fez
mit langer Troddel und vorn mit einem Kranze künstlicher
Blumen geschmückt. Zu beiden Seiten des Gesichtes hängen
Perlenschnüre herab, an deren Ende eine Menge von alten
und darum hochgeschätzten Goldmünzen befestigt sind; die
Stirn verschwindet unter mehreren Reihen ebensolcher
Münzen, mit denen oft noch selbst Hals und Brust bedeckt
sind. Die Haare hängen in Flechten auf den Rücken
hinab. Junge Mädchen tragen keinen Schleier, aber ver-
heirathete Frauen befestigen an ihrem Fez ein Stück mit
Goldflittern besetzter rother Gaze, wie überhaupt die rothe
Farbe in ihrer Tracht vorherrscht. An den Füßen tragen
sic Pantoffeln von rothem Marroquin mit zurückgekrümmter
Spitze. Niemals zeigen sie sich öffentlich mit unverhülltem
Gesicht; beim Ausgehen werfen sie sich wie die Türkinnen
einen großen Mantel über, der sie von Kopf bis Fuß ein-
hüllt ; derselbe besteht jedoch aus weißer durchsichtiger Wollen-
gaze, die gemustert und mit dunkelblauen Franzen besetzt
ist, und läßt das reiche Kostüm nach Wunsch durchscheinen.
Diese Mäntel werden übrigens nur in Achaltziche fabricirt.
Fast 30 km oberhalb Achaltziche liegt an der Einmün-
dung des von Osten kommenden Toporowan-tschai in den
Kur das Dorf Cherthwis, über welches Mme. Serena
nach Tiflis zurückkehrte. Ein officielles Empfehlungsschreiben
Frauen von „Geisteskämpfern".
verschaffte ihr den Vorzug, beim Ortsvorsteher übernachten
zu können. Sie besuchte dort die Reste troglodytischer
Wohnungen, welche in die Felsen des gegenüberliegenden
Kurufers gegraben sind, und zu denen jenseits der Brücke,
welche den Fluß überspannt, ein ziemlich guter Weg im
Zickzack hinaufführt. Die unterirdischen Kammern sind
überaus merkwürdig, wahre fürstliche Räume, welche König
^^org von Georgien angefangen und seine Tochter, die
berühmte Königin Tamara, im 12. Jahrhundert vollendet
hat- . Eine andere Merkwürdigkeit der Gegend ist das
unterirdische Kloster Wardzia, wo derselbe König Georg
und mehrere seiner Nachfolger begraben liegen; dasselbe soll
ebenso viele Zellen enthalten, als das Jahr Tage hat. Außer
den unterirdischen Zellen, die in mehreren Stockwerken über
einander liegen, ist auch eine geräumige gewölbte Kirche
mit Seitenkapellen vorhanden. An den Wänden haben sich
Reste von Malereien, darunter das Bildniß der im ganzen
Kaukasus hochberühmten Königin Tamara, erhalten; die
reichen Verzierungen aber, von denen die georgische Chronik
spricht, sind im Laufe der Zeit und durch Kriege ver-
schwunden. An bestimmten Tagen hält ein Priester aus
der Umgegend Gottesdienst in dem alten Heiligthume ab,
welches einst ein weitum berühmtes wunderthätiges Bild
besaß, und wo noch obendrein der Leib der Tamara ruhen
soll; alsdann bringen die Gläubigen noch immer auf dein
verfallenen Altare ihre Spenden an Wachskerzen und Geld-
stücken dar.
Am folgenden Tage fuhr Mme. Serena zuerst nach
38
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
Nakalakevi, das heute ein elender Flecken, aber früher
eine Stadt von einiger Bedeutung gewesen ist; dort wird
in einer alten Kirche ein Nagel vom Kreuze Christi auf-
bewahrt. Die Chaussee von dort nach Achalkalaki ist nicht
schlecht; ganz allmählich steigt sie aus ein Plateau hinauf,
das 5545 Fuß über dem Meeresspiegel liegt. Achalkalaki,
d. i. Neustadt, hat nichts bemerkenswerthes außer seiner
Lage. Die hoch auf einem Felsen gelegene Burg überragt
den Taporowan-tschai, der von hier an den Namen der
Stadt annimmt; der dominirende Gipfel in den umliegenden
Gebirgszügen ist der Abul von ungefähr 11 000 Fuß Höhe.
Die Bevölkerung der Stadt besteht, wie in Achaltziche, aus
einem Gemisch von mohammedanischen Georgiern, Arme-
niern, Juden und Russen, während in den umliegenden
Dörfern Anhänger der verbannten russischen Sekte der
Duchobortzen (Geisteskämpfer) wohnen, die zu Ende des
vorigen Jahrhunderts in der Krim entstanden ist. Gleich
den Quäkern berufen sich die Duchobortzen auf ein inneres
Licht, legen der äußeren Kirche nebst Sakramenten, Gottes-
diensten und Priestern keinen Werth bei, leisten weder Eid
noch Kriegsdienste, verwerfen die Lehre von der Trinität
und der Gottheit Christi und glauben an eine Präexistenz
der menschlichen Seele. Ehen werden zwischen ihnen aus
die einfachste Weise geschlossen, indem das betreffende Paar
nur die Gemeinde von seinem Entschlüsse benachrichtigt;
will es sich am nächsten Morgen oder später wieder trennen,
so macht sich das ebenso leicht. Die Kinder werden getheilt
oder auf allgemeine Kosten erzogen. Alles wird unter
diesen Sektirern in freundschaftlicher Weise behandelt und
geordnet.
Im Dorfe Garielowka, 10 Werst von Achalkalaki, wohnt
die Oberin der „Geisteskämpfer", Witwe eines Anver-
wandten des Sektenstisters, die eine Art königlichen An-
sehens genießt und „Heilige Jungfrau" oder „Gottesmutter"
genannt wird. Alle durchreisenden Fremden bewirthet die-
selbe in großartiger Weise und selten fehlt bei solcher Ge-
legenheit Champagner auf der Tafel. Uebrigens stehen die
Duchobortzen im Lande im Ruse der Ehrlichkeit und Recht-
schaffenheit; sie treiben Ackerbap, Personen- und Waaren-
transport und haben eine Anzahl Posthaltereien inne, speciell
auf der Straße zwischen Achalkalaki und Alexandrapol. In
Tracht, Lebensweise und entsprechender Reinlichkeit ihrer
Wohnungen gleichen sie mehr den deutschen Kolonisten als
den Russen; von ersteren haben sie auch den in Deutschland
üblichen Baueruwagen angenommen.
Bon Achalkalaki kehrte Mme. Serena nach Tiflis zurück.
Skizzen aus Algerien.
Von W. Kvbclt.
2. Ilm den Dschurdschura herum.
(Schluß.)
Verwundert blickten wir um uns, als wir dem engen
Rumpelkasten entstiegen. Hatte uns irgend eine neckische
Fee an den Südsuß der Alpen und an einen der oberitalieni-
schen Seen versetzt? Vor uns lag ein weiter, tiefblauer
See, ringsum von mächtigen Bergen eingefaßt, deren
Schneekuppen im ersten Morgensonnenschein erglänzten.
Keine Welle regte sich in dem weiten Becken und nur die
großen Seeschiffe ane Ufer verriethen, daß es zum Mittel-
meere gehöre. Auf senkrecht abfallendem Kalkfelsen liegt
eine maurische Citadelle, und daran schließt sich am steilen
Abhänge der Stadt in üppigem Grün zerstreut, von Palmen
und gewaltigen Laubbünmen beschattet, überragt von dem
mächtigen Gonraja, der in schwindelnder Höhe ein Fort
trägt. Ich kenne keine zweite Stadt am ganzen Mittel-
meere, welche einen ähnlich freundlichen und lieblichen
Eindruck macht, wie die alte Königsstadt, die rechtmäßige
Hauptstadt Algeriens, die nur durch einen Zufall ihrer
Stellung beraubt wurde. In der geschützten Bucht, fast
dem einzigen wirklichen Naturhafen zwischen Karthago und
Mers el Kebir, hatten schon die Phönizier eine Niederlassung,
die Karthager eine ihrer Metagonitenstädte, und vom
römischen Saldae liefen Straßen ans sowohl nach beiden
Seiten der Küste entlang, als auch nach Setif und Kon-
stantine. In Saldae schlug der siegreiche Vandalenkönig
Genserich seine Residenz auf, bis ihm die Eroberung von
Karthago gelang; aber nach der Niederwerfung der Van-
dalenherrschaft scheinen auch hier die wilden Bergstämme
die Anarchie benutzt zu haben, um die gehaßte Zwingburg
niederznbrechen. Saldae verschwindet aus der Geschichte
und erst 1067 n. Chr. nimmt EnNacer den Kabylen den
Gouraja wieder ab und gründet hier seine neue Residenz,
die er nach seinem Namen En-Naceria nennt, die aber im
Volksmunde stets Suk el Bedsch'aia heißt oder einfach
Bedschaja nach dem Kabylenstamme, dem der Berg gehörte
und unter dessen Schutze auf dem Jlll Barllk, der Ebene
hinter dem Stadtberge, seit Urzeiten der große Markt für
die Kabylen abgehalten worden war. Gegen solche tausend-
jährige Gewohnheit kommt selbst der Wille eines orientali-
schen Despoten nicht ans und der kabylische Name ist der
Stadt geblieben, denn Bougie ist nur eine Verstümmelung
von Bedschaja. Beinahe vier Jahrhunderte blühte die
Maurenstadt trotz ewiger Bürgerkriege und wechselnder
Schicksale. Als die b erberisch en Hammaditen hier residirten,
hatte es in seinen 24 Quartieren, die sich hoch am Gon-
raja hinauszogen, 20 000 Häuser, und Edrisi erzählt Wunder-
dinge von der Pracht seiner Paläste und dem Reichthum
seiner Bewohner. Die Katalanen, die Genuesen, die Pisaner,
die Amalfitaner, die Gaetaner und die Provenzalen hatten
hier ihre Fonduks und trieben einen gewinnbringenden
Handel mit dein reichen Lande. Auch die mohammedanische
Wissenschaft blühte in einem Grade, daß die Stadt den
Namen Mekka es Sreira, Kleinmekka, führte, ein
Ruhm, den besonders Sidi et Tuati, ein Zeitgenosse
En Nacer's, begründete. Als aber die Spanier die Mau-
ren immer mehr aus der Iberischen Halbinsel heraus-
drängten und die Flüchtlinge nun den Krieg aufs Meer
verlegten und die Piratenfahrten begannen, wurde auch
Bougie ein Hanptsitz der Seeräuber. Sein Reichthum
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
39
nahm damit noch ungeheuer zu, aber als schließlich unter
Abd el Aziz die Sache zu arg wurde, sandte Ferdinand der
Katholische seinen Admiral Pedro de Navarra mit einer-
großen Flotte gegen sie aus. Ganz unerwartet erschien er
am 5. Januar 1509 vor der Stadt, die im Winter am
wenigsten einen Angriff erwartete und landete mit 15 000
Mann dicht an den Mauern. Im ersten Schrecken flüch-
teten die Einwohner in die Berge und überließen den An-
greifern die Stadt, hoffend, daß dieselben sich mit einer
Plünderung begnügen und dann wieder einschiffen würden,
aber die Spanier, die damals nach der Niederwerfung Gra-
nadas ernstlich an die Eroberung ganz Nordasrikas dachten,
verstärkten die alten Befestigungen, erbauten eine neue
Eitadellc und richteten sich in der verlassenen Stadt häus-
lich ein.
Es war das die Zeit, wo die Macht der Barbarossen
sich zu heben begann; die Furcht vor den Spaniern war
ihre beste Bundcsgcnossin und trieb ihnen die ganze Mauren-
bcvölkerung in die Arme. Ihrem scharfen Blick entging
die Wichtigkeit Bedschasas nicht und zweimal setzten sie ihre
ganze Macht an seine Eroberung, beide Male umsonst. Horuk
verlor dabei 1512 Flotte und Armee und seinen rechten
Arm, und drei Jahre später erging cs Haireddin kaum
besser, obwohl die Bergstämme in Scharen zu seiner Unter-
stützung herbeiströmten. Erst dann wandten sich die Türken
nach Algier und machten cs zu ihrer Hauptstadt. Bongie
blieb den Spaniern, eine nutzlose Besitzung, mehr eine Last,
denn sie verstanden cs nicht, die Bergstämme für sich zu
gewinnen und konnten sich nicht vor die Ringmauern hinaus-
wagen. Die neuen amerikanischen Kolonien nahmen Spa-
niens beste Kraft in Anspruch, die Erwerbung der deutschen
Kaiserkrone lenkte die Blicke seiner Herrscher vom Mittel-
meere ab und der Kampf gegen die Reformation nahm
sie bald so in Anspruch, daß die Städte an der Barbarcskcn-
küstc fast vergessen wurden. Als 1555 Salah Reis mit
40 000 Mann und einer starken Flotte vor Bongie erschien,
reichte die spanische Besatzung nicht aus, um die Festungs-
werke zu besetzen und mußte nach dreiwöchentlicher Ver-
theidigung des Hauptforts kapituliren. Wohl wurde der
Kommandant, Alfonso de Peralta, in Valladolid zur
Strafe enthauptet, aber die Niederlage blieb ungerächt und
Bongie, von dem eifersüchtigen Algier aus jede Weise nieder-
gehalten, verkam immer mehr und war nicht viel Anderes
als ein Haufen Ruinen, als im September 1833 der
General Trazel dort erschien und sich nach dreitägigem Kampfe
mit dem Kabylenstammc der M'zara der Stadt bemäch-
tigte. Die Einwohner wanderten bis auf wenige ans, aber
sie gaben den Kampf nicht ans. Zwanzig Jahre lang
konnte kein Franzose wagen, die Mauern zu verlassen, denn
in geringer Entfernung lauerten die Eingeborenen; erst
nach der definitiven Besiegung der großen Kabylie haben
sic sich unterworfen, aber sie gelten noch immer für un-
zuverlässig. In der Stadt wohnen heute noch vcrhültniß-
mäßig sehr wenige Eingeborene, über die Hälfte sind Euro-
päer. Noch ist der Handel trotz der beiden Straßen, welche
Bougie jetzt mit dem Jnnenlande verbinden, nicht sehr be-
deutend, da das Sahclthal noch wenig kolonisirt ist und die
Hochebene von Setif bequemer mit der Bahn über Kon-
stantine und Philippeville exportirt, während eine fahrbare
Verbindung mit der großen Kabylie ganz fehlt und die noch
kaum kolonisirte kleine Kabylie in Djidjclli einen eigenen
Hafen besitzt; doch beträgt die Hafenbewegung immerhin
schon über 4 Mill. Franken und ein bedeutender Aufschwung
ist sicher, sobald die beiden schon bewilligten Bahnlinien
eine bequemere Verbindung herstellen. Dann wird man
auch wohl das längst fertige Projekt ausführen und den
Hafen durch einen 1800 m langen Damm auch gegen den
Scirocco, dem er eben noch ausgesetzt ist, der aber als
Landwind selten gefährlich wird, decken.
Einstweilen ist Bongie eine stille Provinzialstadt, in
welcher die Besatzung fast die Hälfte der Bevölkerung aus-
macht. Nur selten kommt ein Tourist ans längere Zeit
hierher; die meisten begnügen sich ans der Fahrt von Algier
nach Philippcville-Konstantine, die wunderschöne Gegend vom
Hafen aus zu bewundern und fahren nach wenigen Stun-
den weiter. Das einzige Hotel ist in ganz Algerien als
unsauber und theuer verrufen, nicht mit Unrecht, doch ließ
cs sich schon darin eine Zeitlang aushalten und die Aussicht
aus den nach dem Hafen zu gelegenen Zimmern über die
Bucht und ans die Kette des Grand Babor, den fast
ebenbürtigen Nebenbuhler des Dschnrdschura, entschädigt für
manches, die herrliche Umgebung für alles. Nur gehört
Bongie zu den Gegenden, wo cs mehr regnet, als dem Tou-
risten lieb ist; mit ca. 1300 mm Rcgcnhöhc gehört die
Stadt zu den regenreichsten Punkten an der nordafrikanischcn
Küste und selbst tut hohen Sommer sind Gewitterregen
nicht selten. Als Ueberwinterungsstation ist darum Bougie
trotz seiner reizenden Umgegend, auch abgesehen von dem
schlechten Hotel, nicht zu empfehlen, aber ich kann jedem
Reisenden, der sich von Algier nach dem Osten begiebt, nur
aufs dringendste rathen, in Bougie auszustcigcn und von
dort aus durch Chabet cl Akra, die Schlucht des Todes, die
Bahn in Setif zu gcwinuen.
Die Stadt liegt am Abhange des 700 m hohen Dscheb el
Gouraja auf einem von mehreren tiefen, mit üppigem
Grün erfüllten Schluchten zerrissenen Plateau, das bis ins
Meer hinein vortritt und nach drei Seiten steil, fast senk-
recht abfällt. Vom Hafen aus ist die Senkung weniger
steil und führt eine Fahrstraße in steilem Anstieg zur Stadt;
eine andere hat man auf der entgegengesetzten Seite müh-
sam dem steilen Hang abgewonnen und die Verbindung
zwischen dem Hafen und der Ebene auf der Südseite, wo
sich die Unterstadt zu bilden anfängt und ein spekulativer
Kopf schon ein Cafa de la Gare suture errichtet hat, haben
schon die Mauren in den senkrechten Kalkfelsen gesprengt.
Die Häuser liegen zerstreut den Ravins entlang, alle von
Gärten umgeben, von Fruchtbäumen beschattet. Die Feigen
wie die Orangen von Bougie sind berühmt. Die mauri-
schen Wasserleitungen führen noch die Quellen vom Berge
herunter und wenig Städte in Algerien sind so überreich
an köstlichem Trinkwasser wie Bougie. Die Franzosen
wissen recht gut, daß Bougie die Achillesferse von Algerien
ist. Die geschützte Bucht gestattet jederzeit das Einlaufen
von Flotten und das Landen von Armeen, und sic wissen
genau genug, daß ihre getreuen kabylischcn Unterthanen
jedem landenden Angreifer in Masse zuströmen würden.
Darum hat man sich nicht wie in anderen Städten damit
begnügt, die beiden Plateanecken, welche auf dem steilen
Felsen ca. 50 m über dem Meere den Hafen direkt beherr-
schen, zu befestigen und die Stadt mit einer krcnclirtcn,
vielfach mit Thürmen verstärkten Mauer zu umgeben, son-
dern man hat auch in der Ebene nach der Sahelmüudung
hin ein paar Batterien angelegt, über die Rhede von Sidi
Pahia das starke Fort Abd el Kader mit zahlreichen
Blockhäusern und landein das ebenfalls starke Fort Gro-
scllcs errichtet, und schließlich den fast nncrstciglichen
Fclscngipfel mit einem Fort gekrönt, das freilich im Frieden
nur von ein paar Mann besetzt wird, aber Stadt und
Hafen völlig beherrscht und bei genügender Verproviantirung
als absolut uneinnehmbar bezeichnet werden muß. Ein
vorzüglich tracirter, bis obenhin fahrbarer Weg führt bis
zu dem senkrecht abfallenden Gipfelfelsen und bietet einen
40
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
reizenden Spaziergang. Unmittelbar vor den Thoren be-
ginnt der Bnschwald: man will offenbar im Gebiete der
Festungswerke keine Ansiedelung und hat die früher hier
Hansenden Kabylen vertrieben. Anfangs mischen sich zwischen
die Büsche noch blüthenbedeckte Oelbäume und einzelne
Johannisbrotbäume, die Ende April schon mit jungen
Schoten behängen waren, Ueberreste der maurischen Kultur;
weiter oben wird die Vegetation auf dem sonnendurchglühten
Boden magerer, bietet aber dem Botaniker reiche Ausbeute.
Der Fels ist Kalkschiefer, durchzogen von Adern von Ci-
pollin, hier und da mit kleinen Grotten, in denen sich die
heute noch am Berge lebenden Schneckenarten subfossil
finden. Nach Wirbelthierknochcn sah ich mich vergeblich
um. Kurz unter dem Gipfel liegt ein kleines Plateau,
wo man ausgezeichnete Pflastersteine und Platten aus
marmorartigem Kalk bricht. Hier liegt von Gärten und
Feldern umgeben eine kleine militärische Ansiedelung, deren
Insassen das Fort Gonraja auf der Höhe bewachen. Trüm-
mer von arabischem Mauerwerk beweisen, daß auch schon
früher hier eine Ansiedelung bestand, vielleicht bestimmt für
die Wallfahrer zu dem hochverehrten Heiligthume der L ell a
GourajaH, einer der heiligen Frauen, die man bei den
Kabylen nicht selten, bei den Arabern aber nie findet. Doch
deuten Gräben und starke Mauerfundamente auch auf die
Existenz einer maurischen Befestigung in dieser Höhe. Die
Aussicht muß bei schönem Wetter sehr umfassend sein; wir
sahen uns bei unserem Besuche schon auf diesem Plateau
in dichte Wolkennebel gehüllt und mußten, auf die Bestei-
gung des höchsten Gipfels verzichtend, froh sein, ohne gründ-
liche Durchnüssung das Hotel wieder zu erreichen.
Noch schöner ist ein Spaziergang nach dem etwa andert-
halb Stunden von der Stadt entfernten Grand Phare,
dem großen Leuchtthurme auf dem Kap Carbon. Man
verläßt die Stadt durch ein mehr nördlich gelegenes Thor.
Unmittelbar vor demselben liegt der Friedhof, ein liebliches,
von Eukalypten und Cypressen dicht beschattetes Plätzchen.
Am Wege stehen ein paar riesige Eschen, Charakterbäume
der Kabylie, wo sie von den Eingeborenen überall an-
gepflanzt werden, um mit ihrem Laube das Vieh im Winter
zu ernähren. Eine Zeitlang bleibt man dann noch in der
schmalen Zone der Oelbäume undKarruben; der Weg zieht
immer am steilen Hange der Rhede Sidi d)ahia hin, dem
sichersten Theile der Bucht von Bougie, dann übersteigt er
den schmalen Kamm, welcher weiter draußen das Fort Abd
el Kader und den kleinen Leuchtthurm trägt, und senkt sich
in eine Mulde, die, ringsum von senkrechten, unersteiglichen
Felsen eingefaßt, steil zum Meere abfüllt. Es ist ein
wunderschönes Fleckchen, von aller Welt abgeschieden, von
üppigem Grün erfüllt, mit hochstämmigen Eichen, wilden
Oelbäumen, Strandkiefern und unzähligen blühenden Sträu-
chern. Hier ist auch ein Lieblingsplatz der Affen, aber
wieder waren wir nicht so glücklich, einen zu Gesicht zu
bekommen, das regnerische Wetter hielt sie in ihren Ver-
stecken zurück. Ein guter Maulthierpfad führt durch das
Gebüsch direkt auf die Felswand zu, welche nach Westen
hi,: weit ins Meer hinein vorspringt. Eine Strecke weit
läuft er, durch eine Mauer nach der Seeseite hin geschützt,
am senkrechten Hang entlang, dann durchbricht er den Vor-
sprung in einem kurzen Tunnel, und nun steht man un-
i) Die arabische Tradition leitet den Namen der Heiligen
von dem des Berges ab, nicht umgekehrt. Der Berg soll seinen
Namen von den Vandalen erhalten haben und nach Jbn Khal-
dun bedeutet Gouraja in der „vandalischen Sprache" einen
Berg. Wahrscheinlicher dürste aber eine Ableitung aus dem
Phönizischen sein. Die Kubbah der Heiligen ist innerhalb der
Festungswerke noch erhalten.
mittelbar dem gewaltigen Felskegel gegenüber, welcher den
Leuchtthurm trägt. Nur ein schmaler, nach beiden Seiten
dachförmig steil abfallender Landrücken führt tief unten vom
Festlande hinüber und auf kurzen, steilen Serpentinen steigt
man an dem schwindelnden Hang hinab; fast die Hälfte
des Weges ist in den Felsen gehauen, es ist eine Riesen-
arbeit gewesen, diese Verbindung herzustellen. Nach beiden
Seiten hin erstrecken sich steile, senkrechte Felscnwände, von
nimmer rastender Brandung gepeitscht, absolut unzugänglich
selbst für das kleinste Boot; nur am Abhange der Landenge
ist bei günstigem Winde eine Landung möglich und ein
schwindelnder Pfad leitet von da herauf; vor Durchbruch
des Tunnels war der Leuchtthurm oft auf Wochen unzu-
gänglich und mußte immer auf längere Zeit verproviantirt
sein, wie ein Schiff ans hoher See. Auf der Landenge
selbst stehen hochstämmige Strandkiefern; mit ihren gewal-
tigen Wurzeln klammern sie sich so fest an den Schiefer-
felsen, daß ihnen auch die schwersten Stürme nichts anhaben
können, obschon es hier zwischen den steilen Wänden nicht
selten so furchtbar wüthet, daß man an beiden Seiten des
verbindenden Grates Pfade in den Felsen gehauen hat, um
immer auf einer Seite Schutz zu haben. Auch auf der
anderen Seite ist der Pfad wieder in den Felsen gehauen
und zieht sich steil ansteigend um den Felskegel herum zur
Spitze, welche den Leuchtthurm trügt. Der Aufseher nahm
die Prussiens recht freundlich auf und verabreichte uns, dem
Reglement entgegen, sogar einige Erquickungen; im Frem-
denbuche fand ich, obschon es über mehrere Jahre zurück-
ging, nicht einen einzigen deutschen Namen.
Auch nach der Landseite hin kann man sehr genußreiche
Exkursionen machen. Durch einen Hain von wunderschönen
Oelbäumen und Eschen, wie man sie eben nur in der
Kabylie sehen kann, führt die Straße in Serpenkinen auf
den Marktplatz hinunter, wo an dem Brunnen ein Pracht-
exemplar des Zirgelbaumes (Celtis australis, französisch
Micoculier oder Perpignan, kabylisch Jbikes), steht, mit
Blüthendolden bedeckt, die dem Deutschen an dem sonst ganz
eschenartig aussehenden Baume eigenthümlich vorkommen.
Dicht daneben haben die Franzosen eine große überdeckte
Markthalle für den Getreidemarkt errichtet, rings von
Lüden umgeben, die aber nur am Tage des Snk, des
Wochenmarktes, geöffnet werden; daran schließt sich von
Bäumen beschattet der Platz für den Viehmarkt, oft kaum
ausreichend für die Menge Vieh, welche von den Hochebenen
und aus dem Sahelthal zugetrieben wird. Weiterhin am
Hügelabhange sind Felder und Weinberge, hier und da mit
wilden Oelbäumen besetzt, mit deren Veredelung man eben
beschäftigt war. Die Kabylen haben dazu ein natürliches
Geschick und die Pfropfreiser schlagen regelmäßig aus, so
roh auch ihr Verfahren erscheint. Es giebt unter ihnen
Familien, die seit alten Zeiten sich mit dem Pfropfen ab-
geben, und zwar thun sie es unentgeltlich, um Allahs
willen. Nur die Kost nehmen sie dafür an. Ihnen war
die Veredelung der Bäume eine religiöse Pflicht, gerade
wie einer anderen Klasse von Kabylen die Verfertigung der
Pflüge, für die sie nichts annahmen, als die spärliche
Nahrung. Beide Klassen werden aber von Jahr zu Jahr-
seltener und werden bald nur noch der Sage angehören
und Pflüge kommen jetzt als regelmäßiger Handelsgegcnstand
überall ans die Märkte. Orangen sieht man hier nur
wenig. Die Hauptpflanzungen liegen zwei Stunden landein
beim Dorfe la Rsunión am Südhange deö Dfchebel
Tudfcha, wo die Kabylen feit Jahrhunderten sich der
Agawenkultur widmen. Es war das früher eine Aus-
nahme im Kabylenlande und die Orangenbäume galten
immer als eine Art Luxusgegenstand; im Kriegsfall machte
R. Nndree: Der fünfte Amerikanistenkongreß.
41
man sich auch gar kein Gewissen daraus, sie dem Feinde
abzuhauen, was bei Oelbaumen, Feigen und Karruben für
eine schwere Sünde gehalten worden wäre. Erst seit 1854
nimmt die Orangcnzucht im Kabylenlande zu und mit-
unter wurden uns von Landleuten ganz wunderbar schöne
Früchte zum Kauf angeboten. Doch gelten die Orangen
von Bougie für weniger haltbar, als die von Blidah.
Einen reizenden Spaziergang bietet auch die Prome-
nade aux oliviers mit ihrer Fortsetzung bis zum Cap
von Sidi Pahia, der Grabstätte der Hammaditenfürstcn.
Man geht an dem vierthürmigen Maurenkastell vorbei, das
auf nach drei Seiten senkrecht abfallendem Felsen den Hafen
nach Nordwesten abschließt. Hier entspringen dicht am
Strande zahllose kleine Quellen; sie sind meistens gefaßt
und speisen eine Wasserleitung, aus der die Schiffe im
Hafen sich versorgen. Die Straudfelsen bieten eine reiche
Conchylicnsauna und auch wer sich nicht für dergleichen
intcrefsirt, wird durch die wunderbare Aussicht auf die Bucht
und die Berge der kleinen Kabylie entschädigt. Als wir
von dort zurückkamen und durch die schmale Pforte zwischen
dem Hasendamme und dem Kastellfelsen auf den Hafengnai
hinaustraten, fanden wir ein ungewöhnliches Leben. Ein
paar Hundert Kabyleu, mit Sensen, Sicheln und Proviant
auf ein paar Tage ausgerüstet, die charakteristische Kürbis-
flasche an der Seite, warteten aus den Dampfer der Kom-
pagnie Touache, um nach Böue und La Calle zu fahren und
dort bei der Ernte zu helfen. Seit undenklichen Zeiten
steigen sie um den ersten Mai von ihren Bergen herab; die
Aussaat ist beendet, die Bäume sind in Ordnung, die Her-
den mit ihren Hirten auf den Bergweiden, und sic können
die Zeit nicht besser ausnützen, als indem sie in den heißen
Küstenebenen die Ernte einbringen helfen; sind sie dort
fertig, so kommen sie immer noch früh genug für ihre dürf-
tigen Gerstenfelder, die ihnen oft kaum die doppelte Aus-
saat und in schlechten Jahren das kaum ergeben. In die-
sem Jahre kamen sie freilich viel zu früh, die abnorme
Temperatur und die vielen Regen hatten das Reifen des
Getreides verzögert und als wir drei Wochen später nach
B6ne kamen, hatte das Schneiden noch immer nicht be-
gonnen und die armen Kerle mußten sehen, wie sie sich
durchschlugen. Ausfallend waren uns die vielen Blonden
mit hellen Augen unter diesen Bergbewohnern; „668 sont
vos fréres“, sagte mir ein Franzose, den wir kennen ge-
lernt, aber ich glaube kaum, daß man diese Eigenthümlich-
keit auf Vandalenblut zurückführen kann; viel eher möchte
ich blondes Haar für eine Rasseneigenthümlichkeit des iberi-
schen Stammes ansehen, dem auch die vielen Blondins in
Südspanieu und Sicilien zuzuschreiben sind. Beim Kabyleu
kann man als Regel annehmen, daß er nie so schwarze
Haare und schwarze Augen besitzt wie der Araber, nicht
einmal in der Wüste. Auch unter den Tuareg, bei denen
wie bei den Oasenberbern jeder Gedanke an eine germanische
Blutbeimischung ausgeschlossen ist, sollen ja blaue Augen
durchaus nicht selten sein. Handelte es sich wirklich um
deutsches Blut, so würden die Herren Kabyleu sich wohl
auch nicht mit so dürftigen Bärten begnügen müssen, wie
man sie bei ihnen beobachtet. Vielfach hat man behauptet,
daß nur einzelne Stämme blond feien und daß diese von
flüchtigen Vandalen abstammten, aber die Schawija in
den Aurss, von denen man dies besonders behauptet hat,
sind durchaus nicht blonder als die Kabylen um Akbu und
Bougie, und sind offenbar ebenso reinblütige Berber wie
diese auch. Die Mortalitütsziffern der gegenwärtigen
Kolonisten deutscher oder nordfranzösischer Abstammung
liefern den überzeugenden Beweis, daß es dem germanischen
Stamme unmöglich ist, bei Reinhaltung des Blutes in
diesen Ländern auszndauern; bei Mischung aber würde das
einheimische Element längst so die Oberhand gewonnen
haben, daß vom fremden keine Spur mehr nachzuweisen
wäre.
Der fünfte Am er
Von R. '
Amerikanistenkongresse haben in Zwischenräumen von
je zwei Jahren bisher in Nancy, Luxemburg, Brüssel,
Madrid und Kopenhagen stattgefunden. Die Geschichte,
Archäologie, Anthropologie, Ethnographie und Linguistik
Amerikas wurden aus denselben erörtert und zahlreiche
Gelehrte, meist aus den romanischen Ländern, betheiligten
sich an den Sitzungen. Ist auch manche werthvolle Ar-
beit, namentlich auf linguistischem Gebiete, zu Tagei ge-
fördert worden, so kann man doch nicht gerade behaupten,
daß diese Amerikanisteukongresse viel Neues und Wichtiges
uns darboten, ja theilweise steht es außer Frage, daß
grobe Kritiklosigkeit und selbstgefälliger Dilettantismus sich
aus denselben breit machen. Das ist namentlich in Nancy
iuid Luxemburg der Fall gewesen, weniger in Kopenhagen.
Schön ausgestattet liegt vor uns der Compte rendu der
fünften Session, die 1883 in Kopenhagen stattfand, und
über diese polyglotte Schrift, in welcher französisch, deutsch,
englisch, spanisch und dänisch mit einander wechseln, wollen
wir hier kurz Rundschau halten *).
pst Congrès international des Américanistes. Compte
rendu de la cinquième session. Copenhague 1883. (Im-
primerie de Thiele.)
Globus XLVII. Nr. 3.
ikanistenkongreß.
Andrer.
Zunächst mögen jene Vortrüge hier Erwähnung finden,
denen wir das Prädikat trauriger Kritiklosigkeit nicht vor-
enthalten dürfen und die etwa auf der Höhe von Rudolf
Falb's peruanischen „Studien" stehen. Die Analogie auf
die Völkerkunde angewendet, ist eine sehr segensreiche Sache,
mißverstanden wird sie aber zu einem gefährlichen Irr-
weiser, der in den Sumpf lockt. In einen solchen ist denn
auch Mr. B c a u v o i s gerathen mit seinem Vortrage über
die vorkolumbischen Beziehungen der Irländer
zu Mexiko, welcher in der Behauptung gipfelt, daß der
mexikanische Quezalcoatl ein Irländer und zwar ein Priester
vom Orden des heiligen Columba gewesen sei. Die Aus-
lassungen des Herrn Bamps ans Belgien über das
Zeichen des Kreuzes in Amerika in der vor-
kolumbischen Zeit, sowie über die amerikanischen
Traditionen von weißen Menschen stehen auf der gleichen
Höhe wie jene des Herrn Beauvois. Er wärmt den
Apostel Thomas wieder auf, der nach Amerika ging, dort
das Christenthum predigte und das Zeichen des Kreuzes
hinterließ. Il était très facile à des zélateurs des pre-
miers temps du christianisme de pénétrer en Améri-
que, nämlich vermittels der Insel Atlantis. Herr Bamps
vertrat die Ansicht eines gewissen Abbé Schmitz, der bereits
0
42
Spiridion Gopcevic: Streifzüge in Portugal.
in Nancy und Luxemburg sein Licht vor den Amerikanisten
leuchten ließ. Als dritter in der Reihe der Eiferer, welche das
vorkolumbische Dunkel Amerikas aufhellten, ist dann noch
Mr. Stephen Blackett aus London zu erwähnen, wel-
cher die Insel Atlantis genau beschrieb und der wußte,
daß Uranus der erste König derselben war. Die Tita-
nidcn der Alten sind die Totonaken Mexikos; Japctus,
Sohn des Titan, findet sich wieder in den Zapoteken; Dcu-
kalion ist „Coluas", ein altmexikanischcr Name; Atlas
entspricht den Aztlans, Herkules den Irokesen.
Nicht unerwähnt wollen wir lassen, daß solche Blüthen
unfreiwilliger Komik durch den verdienten französischen
Sprachforscher Lucien Adam und unseren Landsmann
W. Reiß Zurückweisungen fanden. Indessen werden in
Zukunft die kritiklosen Dilettanten von den Amerikanisten-
kongressen ganz fern gehalten werden müssen, wenn letzteren
die Würde gewahrt bleiben soll.
Gehen wir zu den erfreulicheren Resultaten des Kopen-
hagener Amerikanistenkongresses über und da ist denn
hervorzuheben, daß die Skandinavier sich mit mehreren
höchst wichtigen Beiträgen bethciligten. K. Steen-
strup beschrieb die alten normännischen Ruinen
im südlichen Grönland und legte sehr lehrreiche Ab-
bildungen derselben vor, welche der Architekt Groth an Ort
und Stelle gezeichnet hatte, und unter denen die Kirchen-
ruine von Julianehaab hervorragt; auch von Privat-
hänsern sind noch Ruinen vorhanden. Japctus St een-
strnp brachte ein anderes nordisches Räthsel zur endgültigen
Lösung; er erläuterte nämlich die Reisen und die viel-
gedcntete Karte der beiden Brüder Niccolo und An-
tonio Zeno aus Venedig. Das Resultat dieser mit
großen! Scharfsinn und großer Gelehrsamkeit durchgeführten
Untersuchung ist Folgendes. Das Frisland der Karte der
Zcni ist die Insel Island, während das Frisland im
Texte derselben unser Nordfriesland, namentlich Strand-
friesland ist. Engroueland der Karte der Zeni ist nicht,
wie man annahm, Grönland, sondern „gegrabenes Land",
aufgeworfenes, dem Meere abgewonnenes Spatenland, viel-
leicht Eiderstedt; Engroueland ist eine Mosaikbildung von
isländischen und friesischen Namen und Gestaltungen. Die
Zeni waren niemals in Grönland und alle Muthmaßungen,
daß sie 150 Jahre vor Kolumbus schon Amerika ent-
deckten, sind hinfällig.
Als eine Arbeit von originaler Auffassung und hervor-
ragender Wichtigkeit erwähnen wir den Vortrag des
Schweden Stolpe über die Ornamente der ame-
rikanischen Völker, in welchem er theils deren Origi-
nalität zeigt, theils durchaus mit Recht betont, wie unter
den verschiedensten ethnisch und räumlich getrennten Völkern
unabhängig von einander dasselbe Ornament erfunden
werden kann H.
Vor dem Kongresse entwickelte der Amerikaner Brin-
ton sein (bereits ins Leben getretenes) Unternehmen, die
Herausgabe der Denkmäler einheimischer ame-
rikanischer Litteratur, alles, was vonAboriginern in
amerikanischen Sprachen an Erzählungen, Liedern, Dramen
(wie in Peru) rc. sich erhalten hat. Dr. Maccdo ans
Lima entwarf eine sehr zutreffende Parallele zwischen dem
mexikanischen und peruanischen Kulturreiche, Monumente,
Religion, Schriftwesen, die Wissenschaften, Staatsein-
richtungen u. s. w. berücksichtigend, wobei er zu dem rich-
tigen Ergebnisse kam, daß diese alle fueron distintos en
arnbos imperios. Beide Staatswcscn hatten sich unab-
hängig und ohne Kenntniß von einander entwickelt.
U Dieses ist der springende Punkt in derlei Fragen. Wenn
ein Volk den Kreis oder das Viereck gebraucht, so ist es nicht
nöthig, daß es dieselben erst von einem anderen Volke gelernt
und entlehnt haben muß. Tausenderlei Dinge sind bei den
verschiedensten Nationen gleich, ohne daß man an Anleihen
gedacht hat. Und wenn dieses Borgsystem in seinen Konse-
quenzen weiter geführt wird, so muß man doch schließlich auf
ein einziges Volk, auf ein Individuum zurückkommen, von dem
alles ausgeht. Entlehnungen sind ja keineswegs ausge-
schlossen und oft vorhanden; wer sie aber annimmt, dem fällt
in jedem Falle die Last des Beweises zu. Der muß geführt
werden, sonst verschone man uns in der Ethnographie mit dem
recht billigen Borgsysteme.
Streifzüge in Portugal.
Von Spiridion Gopcevic.
3. Ausflüge in Bragas Umgebung.
An prächtigen Ausflügen von Braga aus ist kein Man-
gel; freilich nehmen sie viel Zeit in Anspruch. Einer der
berühmtesten Punkte in der näheren Umgebung ist die
Kapelle S. Mamede, 21 lau nordöstlich an der Straße
nach Chaves gelegen.
Zuerst steigen wir fast zwei Stunden lang durch äußerst
liebliche Landschaften bis C arv alh o d'Este, wo sich uns
eine prächtige Aussicht über Braga und Umgebung bis an
den Ocean eröffnet. Nachdem wir uns an diesem Panorama
gesättigt, setzen wir den Weg fort, indem wir den Berg
wieder hinabsteigen und das wunderschöne Bat do Geraz
zur Linken lassen — freilich mit schwerem Herzen! Die
grünen Föhren, Rhododendren, Lorbeerbäume, — diese
bunte Blumenwildniß ist gar zu verlockend!
Nach einer starken halben Stunde erreichen wir Pi-
nheiro, wo eine niedere steile Klippe die Ruine des Schlosses
bezeichnet, in welchem D. Affonso Henriquez nach der be-
rühmten Schlacht von S. Mamede (1128) seine Mutter
D. Thereza gefangen hielt. JnPinheiro nehmen wir einen
Führer nach dem noch dritthalb Stunden entfernten Sllo
Mamede. Auf diesem seitwärts der Straße liegenden
Berge steht eine Kapelle, von deren Spitze man eine der
schönsten Aussichten von Jberien genießt. Ich wäre in
Verlegenheit zu sagen, ob S. Mamede oder Sameiro den
Vorzug verdiente. Nach Westen zu liegt das waldige Thal
des Cavado zu unseren Füßen, dessen Hintergrund der
Ocean bildet. Nach Norden zu begrenzt die mächtige Serra
de Gerez (1430 m), nach Osten die sich noch stattlicher
ausnehmende, einem Riesenwalfisch gleichende Serra da
Cabreira (1220 m) den Horizont; im Süden schweift das
Auge über reizende Hügellandschaftcn. Besonders charak-
teristisch sind die ungeheueren Felsen jenseits der Kapelle,
Spiridion Gopcevic: Streifzüge in Portugal.
43
welche zusammengenommen, aus einiger Entfernung gesehen,
sich wie die Wälle einer Riesenfcstnng ausnehmen. Von
S. Mamedc sind es nur noch 18 Km nach dem wildroman-
tischen Bade Cal das de Gerez, doch erfordert das un-
wegsame Terrain einen sechsstündigen Marsch, so daß wir
es vorzogen, nach Braga zurückzukehren.
Eine meiner unvergeßlichsten Fahrten ist jene von Braga
über Ponta de Lima nach Valen^a und zurück über Ponte
da Barca. Ein portugiesischer Advokat und ich hatten uns
zusammen einen Wagen gemiethet, da die gewöhnliche Post
uns der freien Bewegung und Aussicht beraubt Hütte. Von
vier Maulthieren gezogen, rollten wir also in nordwestlicher
Richtung den Ufern des Cavado zu, welchen wir bei Ponte
de Prado überschritten. Die Gegend ist hier ganz hübsch
und konnte ich gar nicht glauben, daß Prado — ein Flecken
von 1500 Seelen — so ungesund sei, wie uns der Kutscher
glauben machen wollte. In historischer Beziehung wird
der Ort zweimal genannt: als Geburtsort des Staats-
mannes und Rathgebers D. Joäo'sl. Joüo das Reg ras
(von Herculano in seinem ausgezeichneten Werke „OMonje
de Cister“ sprechend eingeführt), und 1826 durch ein Ge-
fecht zwischen Miguelisten und Konstitutionellen, deren
Führer Graf Villaflor den Marquis Chaves besiegte.
Bei Moure beginnt die Straße anzusteigen und die
Gegend bereitet uns durch ihre immer bezaubernder
werdende Großartigkeit aus die bevorstehenden Genüsse vor.
Nachdem wir durch einen stattlichen Pinienwald gefahren,
erreichten wir bei Portella da Cabra den Gipfel der Serra.
Die Bewohner dieses elenden Dörfchens leben in einem
Paradiese. Die Erhabenheit des Panoramas läßt sich
kaum schildern und wir hielten eine Steigerung für unmög-
lich. Obschon es jetzt bergab ging und der Kutscher die
Maulthiere ausgreifen lassen wollte, gestatteten wir cs ihm
doch nicht, damit unser trunkenes Auge recht lange die Reize
der sich bei jedem Schritte unseren Blicken entrollenden
Scenerien in sich aufnehmen könne.
Endlich, nach 3^stündiger Fahrt, war die Ponte do
Lima erreicht. Ich war bereits auf Großartiges vor-
bereitet, denn man hatte mir gesagt, daß diese Brücke über
den Lima der herrlichste Punkt Portugals sei. Meine Er-
wartungen waren nach bem bisher Gesehenen schon hoch ge-
spannt, und dennoch fand ich mich nicht enttäuscht. Eine
volle halbe Stunde standen wir auf der Brücke und nahmen
die uns von der Natur gebotenen Eindrücke in uns ans,
um sie festzuhalten und nie wieder zu vergessen. Mit
Sicherheit kann ich wohl behaupten: Ponte de Lima liegt
in einem der s ch ö n st e n Punkte der Welt, ohne fürchten
zu müssen, daß mir jemand widerspreche. Wenn ich mich
hier jeder Beschreibung enthalte, hat dies seinen Grund
darin, daß keine Feder im stände ist, dem Leser auch nur
annähernd eine Idee des Panoramas zu geben. Alles zu-
sammen, Berge, Thäler, Flüsse, Wälder, Felder, Wiesen,
Gärten sind derart zu einem harmonischen Ganzen ver-
schmolzen, daß nicht die Wirkung eines einzelnen Objektes,
sondern der Gesammtcindruck der ganzen Landschaft unsere
Begeisterung hervorruft. Noch heute bedauere ich, daß cs
mir nicht möglich war, in einem Boote den ganzen Lauf
des Lima zu befahren, denn die Aussichten von den drei
Brücken (de Bianna, do Lima und da Barca) zeigten uns
doch nur einen kleinen Theil des Flußlaufes.
Der Liuia ist unstreitig der schönste Fluß Portugals,
ja vielleicht (wenigstens vcrhältnißmäßig, seinen
kurzen Lauf in Betracht gezogen), der schönste Europas.
Kein Wunder, daß ihn zahlreiche Dichter besungen haben.
Diogo Bernardes taufte nach ihm seine Liedersammlung
und spricht von ihm mit Begeisterung:
„C1ara8 aguas de nosso doce Lima“,
(„Klare Wässer unseres süßen Lima“) und an einer anderen
Stelle:
„Junto do Lima, claro e fresco rio,
„Que Lethe se chamou antiguamente“;
(„Neben dem Lima, dem klaren und frischen Flusse, welcher
im Alterthume Lethe hieß“). Die Römer wußten nämlich
seine Reize ebenfalls zu würdigen, nannten seine Umgebung
„Elysüische Felder“ und ihn selbst den Fluß der Vergessen-
heit — Lethe —, weil sie der Ansicht waren, daß seine
Reize auf den Wanderer die Wirkung der Lotosblumen
haben: Heimat und Vergangenheit zu vergessen, um an
seinen Usern das Leben zu beschließen. Daß auch die rauhen
römischen Legionäre für Naturschönheitcn eingenommen
waren, zeigt uns Livins in seiner Schilderung von Decimus
Brutus' Uebergang über den Lima. Seine Soldaten wollten
hier verweilen und weigerten sich, dieses irdische Paradies zu
verlassen. Es blieb ihm nichts übrig, als den Adler zu er-
greifen und in den Fluß zu waten, seinen Soldaten zu-
rufend: „Der Adler und euer Feldherr wollen über den
Fluß; es ist euere Pflicht als Römer und Soldaten, dem
Feldzeichen und dem Imperator zu folgen!“
Der Lima enthält Lachse, Forellen, Barben, Seeaale
(moreias), Seezungen und Lampretten. Das Städtchen
Ponte de Lima hat etwa 3000 Einwohner, große Reste
alter Befestigungen und enge schattige Straßen.
In Ponte de Lima theilte uns der Wirth mit, daß die
Straße von Labruja bis Valen^a so schlecht sei, daß wir
besser thäten, den Wagen nach Braga zurückzusenden und
nach Valentza zu reiten. Wir befragten unsern Kutscher,
welcher glcichmüthig antwortete: „Pode ser; eu näo co-
nhego o caminho!“ (Kann sein; ich kenne den Weg nicht.)
Wir trauten unseren Ohren kaum. „Das sagen Sic erst
jetzt?“ schrie ich ihn entrüstet an; „weshalb übernahmen
Sie denn die Fahrt?“ „Weil mein Herr es mir befahl“,
war die lakonische Antwort.
Nun ist es aber nicht meine Gewohnheit, mich un-
gestraft narren zu lassen. Ich berechnete daher, wie viel
wir, nach dem für die ganze Reise akkordirtcn Preise, für
die zurückgelegte Strecke schuldig wären, bezahlte den Kutscher
und schickte ihn trotz seines Protestes nach Braga zurück.
Seinem Herrn ließ ich sagen, wenn er übermorgen den
Wagen nach Ponte da Barca senden wolle, würden wir ihn
zur Rückkehr nach Braga benutzen. Dann mietheten wir
uns einen Führer und zwei Pferde und brachen am folgen-
den Morgen nach Valcnxa ans.
Bis Labruja na Serra war die Straße ganz annehm-
bar und die Herrlichkeit der Gegend ließ uns auch nicht an
Beschwerden denken. Dann aber begann der Ausstieg in
der Serra da Estrica und die Straße wurde immer
schlechter. Wie uns der Führer sagte, wimmelt es hier
von Wölfen und hielten wir daher unsere Revolver immer
schußfertig. Doch keiner zeigte sich. Der Weg ist in
Schiefer gebrochen und mit losen Steinfragmenten bedeckt.
Die Gegend wird einsamer und die Dörfer verschwinden.
Bei Rubines überschritten wir den Coura-Bach ans einer
hohen Steinbrücke und nach einer Stunde bot sich uns auf
der Höhe des Berges, nahe der Kapelle S. Bento da Porta
Albertax) der erste Anblick auf ValenZa und Tuy, welche
eine einzige Stadt zu bilden schienen. Imposant nahmen
sich die den Hintergrund bildenden Berge Galiciens aus.
Rechts ließen wir das Dörfchen Ccrdal, und eine schwache
Stunde später ritten wir in Valenxa do Minho ein, das
ich dem Leser bereits geschildert. Hier verabschiedeten wir
x) Deutsch: „Heil. Benedikt von der offenen Thüre“.
6*
44
Kürzere Mittheilungen.
Führer und Pferde und mietheten uns einen Wagen nach
Ponte da Barca, wohin wir nach einem Imbiß um 2 Uhr-
nachmittags aufbrachen.
Zunächst rollten wir um den Abfall der Serra da
Estrica herum durch liebliche Gegenden, bis der Sattel er-
klommen war, welcher die genannte Serra von der Serra
da Pcneda (Gaviarra) scheidet, nach einem Reifcbuche der
höchste Berg Portugals (7881 Fuß), während die Peter-
mann'sche Karte ihm nur 4435 Fuß giebt. Welche Ziffer
die richtige, vermochte ich nach dem Augenmaße nicht zu
entscheiden, da ich nicht wußte, wie hoch wir selbst uns be-
fanden. Die Ersteigung, wenn auch sehr lohnend, soll je-
doch sehr beschwerlich fein und 5 Stunden in Anspruch
nehmen. Seit meinen Besteigungen des Pentelikon, Mara-
naj, Vignemale, Vesuv, Snowdon und Pyrgas habe ich
jedoch das Ersteigen besonders schwieriger Bergriesen ver-
schworen.
Bei Bilella erreichten wir das Thal des Vez-Baches, in
dem wir nun bis Ponte da Barca blieben. Der einzige
größere Ort, den wir berührten, warArcos de Valdevez
mit etwa 2000 Einwohnern. Hier fand 1128 zwischen
Affonso Enrigues und Alfonso VII. von Leon eine Schlacht
statt, in welcher letzterer eine entscheidende Niederlage erlitt.
Das Thal wurde seither Beiga da Matanga genannt.
Bon Arcos aus eröffnete sich uns ein prachtvoller Blick
auf das Limathal; die Gegend wurde immer romantischer
und um 6x/2 Uhr erreichten wir Ponte da Barca, wo
bereits unser in Ponte de Lima verabschiedeter Wagen unser
harrte. Wir verschoben aber unsere Rückfahrt auf den
nächsten Tag.
Auch von hier genießt man ein überwältigend schönes
Panorama, doch kann es mit jenem von Ponte de Lima
keinen Vergleich aushalten. In der Kirche von Ponte da
Barca zeigt man das Grab einer gewissen D. Maria Lopez
da Costa, welche 110 Jahre alt wurde und 120 Nach-
kommen hinterließ. Also sind in jenem glücklichen Erden-
winkel nicht bloß der Boden, sondern auch die Weiber von
besonderer Fruchtbarkeit. Hier wurde auch der oben er-
wähnte Dichter der „Flores do Lima", Diogo Bernardes,
geboren, welcher D. Scbastiüo auf seiner unglücklichen Ex-
pedition nach Marokko begleitete und nach der Schlacht von
Alcazar el Kebir Jahre lang als Gefangener in Afrika
schmachtete.
Am folgenden Morgen kehrten wir nach Braga zurück.
Gleich nach Passiren der schönen Steinbrücke bemerkten wir
links aus einem Hügel die Schloßruine Aboim de Nobrega,
von welcher man eine überaus prächtige Aussicht über das
Limathal genießt. Bis Pico de Negalados fuhren wir auf
der ziemlich gebirgigen Straße die Serra Oural hinan,
wobei sich uns beständig die wunderbarsten Rückblicke bis
nach Ponte de Lima hin boten. Dann ging es bergab, wir
passirten den Cavado bei seiner Vereinigung mit dem Homcm
und langten endlich mittags wohlbehalten in Braga au.
Vou hier fuhr ich mit der Flügelbahn nach Nine, wo
ich in den nach Porto bestimmten Zug umstieg.
Zwischen Nine und Villanova de Famalicüo nehmen
die landschaftlichen Reize unsere Sinne gefangen. Zur
Linken schweift der Blick über prächtige Kastanienwälder,
deren Hintergrund von der Serra Catharina gebildet wird.
Bald daraus überschreitet die Bahn den lieblichen Ave-Fluß
aus einer Kettenbrücke und wir betreten den Distrikt vou
Porto. Die Anzeichen einer kompakteren Bevölkerung
mehren sich. Wir passiren noch den Lega-Fluß, welcher
zwar nur ein unbedeutender Bach ist, aber an Schönheit
seiner Ufer mit dem Lima konkurriren kann. Der Lyriker-
Sa de Miranda besingt ihn folgendermaßen:
„0 rio de lega,
Fructos em Janeiro
Nascerao primeiro
Que eu de te me esquega!
Primeiro em Agosto
Nevara com calma,
Que o tempo d’esta alma
Aparte o teu rosto !“
(O Fluß Sega, eher werden im Jänner Früchte wachsen,
als daß ich deiner vergesse! Eher wird es im August bei
Hitze schneien, als daß die Zeit dein Antlitz von dieser Seele
trennt sd. h. in meinem Herzen die Erinnerung an dich
verwischt).)
Bald darauf fahren wir in den Bahnhof von Porto ein.
Kürzere Mi
Wissenschaftliche Abschreibereix).
Von der „Urgeschichte des Menschen, ein Hand-
buch für Studireude, von Prof. Dr. A. Räuber in
Leipzig" ist int Verlage von F. C- W. Vogel in Leipzig
vor kurzem der zweite Baud 2) erschienen. Herr Räuber be-
handelt darin die urgeschichtlichen Funde in den außer-
europäischen Ländern — ein interessantes Kapitel! Da nur
wenig zusammenfassende Vorarbeiten auf diesen! Gebiete vor-
handen sind, so ließ sich hier etwas Tüchtiges leisten; freilich
ist die Arbeit eine sehr schwierige, denn eine ungemein zer-
streute Litteratur muß bewältigt werden. „Gewiß hat der
Leipziger Professor dieses gethan, und du kannst hier noch
X) Die Redaction glaubte sich vor Abdruck der vorstehenden
schweren Beschuldigungen von Seiten des Herrn Dr. Andrer
gegen Herrn Pros. Dr. Räuber zuerst von der Richtigkeit der-
selben überzeugen zu müssen und stellte deshalb die nöthigen
Vergleiche zwischen den beiden in Rede stehenden Büchern an.
Sie muß in Folge dessen leider die Richtigkeit von Dr. Andree's
Behauptungen bezeugen.
2) Vergl. über den ersten, „Globus" Bd. 46, S. 160.
t t h e i l u n g e n.
vieles lernen", sagte ich mir; hatte ich doch selbst in meinem
Buche „Die Metalle bei den Naturvölkern mit Be-
rit ck s i ch t i g u n g p r ä h i st o r i s ch e r V e r h a l t n i s s e" (Leip-
zig, Veit & Comp. 1884) vor nicht langer Zeit versucht,
alles zusammenzustellen, was sich auf das urgeschichtliche Vor-
kommen der Metalle in außereuropäischen Ländern bezog,
wobei ich natürlich auch anderweitige prähistorische Verhält-
nisse mit in Betracht ziehen mußte. Es war dieses eine sehr-
mühevolle Arbeit, zu der jahrelange Studien gehörten. Die
Unvollkommenheiten kannte niemand besser als ich, da, wie
gesagt, zusammenfassende Vorarbeiten fast ganz fehlten.
In einem Handbnche der ganzen Urgeschichte, tvie Herr-
Pros. Räuber es jetzt herausgab, hoffte ich natürlich weit
mehr zu finden, als ich geboten hatte. Nachdem ich die Ab-
schnitte über die Troas (nach Schliemauu) und über den
Kaukasus (nach Virchow) durchgegangen war, kamen Vorder-
indien, Hinterindien, China, Japan, der
Norden Asiens und Amerika au die Reihe. Je mehr
ich nun las, desto bekannter kam mir alles vor; die That-
sachen, die ich fand, und die Quellen, nach denen sie citirt
Kürzere Mittheilungen.
45
wurden, schließlich der Styl und die Worte — wiewohl
etwas anders gestellt, damit man's nicht so schnell merkte —
das hatte ich ja zum großen Theile in meinem oben erwähnten
Buche selbst niedergeschrieben! Das verhältnißmäßig wenige
und neue, welches Professor Räuber hinzufügt, ändert kaum
etwas au der Sache, daß der Haupttheil der Abschnitte Vorder-
indien, Hinterindien u. s. w. nicht von Herrn Räuber, sondern
von mir herrührt. Ich würde gegen eine so ausgiebige Be-
nutzung meines Buches schließlich nichts einwenden, wenn
Herr Räuber nur ehrlich genug gewesen wäre, seine Quelle
anzugeben. Das hat er nicht gethan, denn er erwähnt
meinen Namen in diesen Abschnitten init keiner
Silbe.
Herr Räuber, der in seinem ganzen Buche nur unregelmäßig
und ungenau Quellen citirt, der die Litteraturangaben auf-
fallend vernachlässigt, wird nun in den prähistorischen Ab-
schnitten über die außereuropäischen Länder plötzlich sehr
genau; er citirt englische und französische Zeitschriften, Ab-
handlungen u. s. w. nach Serien, Jahreszahlen u. s. w., die
er gar nicht benutzt, sondern aus meinem Buche entnommen
hat, wie aus den kleinen Ungenauigkeiten zu ersehen ist, die
ich mir zu Schulden kommen ließ, und die Herr Räuber
copirte. Hütte Herr Räuber wirklich alle jene Zeitschriften,
Abhandlungen, Werke in der Hand gehabt, die er in den
betreffenden Abschnitten (sonst aber nicht wieder in seinem
Werke!) anführt, welchen Reichthum an Material hätte er
daraus für sein Handbuch ziehen können! Aber er kannte
jene Werke gar nicht, und so ist es natürlich, daß sich bei ihm
die ganze Urgeschichte jener Länder auf die Metalle zuspitzt
(und gelegentlich die vorangehende Steinzeit), ganz einfach,
weil mir diese Beschränkung für inein Werk geboten war,
das Herr Räuber ohne Quellenangabe einfach aus- und ab-
schrieb.
Ich müßte einen Bogen im Globusformat mindestens
in Anspruch nehmen, wollte ich durch Gegenüberstellung
meines Buches und der Ranber'schen Urgeschichte hier den
Nachweis führen, in welch ausgedehntem Maße Herr Räuber
mich ausgeschrieben hat. Da dieses zu weit führen würde,
begnüge ich mich mit der Angabe der ausgeschriebenen
Seiten.
Aegypten. Der Verfasser der Urgeschichte nimmt sich
nicht einmal die Blühe, sich direkt die Lepsius'sche Abhandlung
über die Metalle bei den Altägyptern anzusehen, sondern
excerpirt Andree S.50, wobei er so gewissenhaft ist, Druck-
fehler mit zu copiren (Vauxnslin statt Vauquelin).
Vorderindien. Hier beginnt mit S. 55 Rauber's
ausgedehntes Abschreibesystem. Schon die herrenlose Fuß-
note S. 54 bei Räuber zeigt seine flüchtige „Arbeitsweise",
denn diese gehört ganz wo anders hin. Aus- und ab-
geschrieben, nur mit wenig verstellten Worten, hat Professor-
Räuber S. 55 von Andree S. 67; was er S. 56 über
Worsaae und dessen Ansichten über die Bronzeentstehung in
Indien sagt, ist von Andree S. 58 entnommen. Rauber's
S. 56 ist componirt aus Abschriften und Excerpten von
Andree S. 58, 60, 61. Dabei vermischt und entstellt er in
-liederlicher Art die Quellennachweise- Rauber's S. 57 ist
größtentheils von Andree S. 77, 78 excerpirt.
Hinterindien. Räuber S.61 ist aus Andree S. 98,
99, 84, 86 fast wörtlich abgeschrieben-
China. Wo in diesem Abschnitte Räuber durch das
Werk von Richthofen's — seine einzige benutzte Quelle —
im Stiche gelassen wird, behilft er sich mit der Ausschreibung
Andree's. So z. B. S. 65 unten von Andree S. 104; 66
oben von Andree S. 107; 67 in der Mitte von Andree
S. 106 meist wörtlich oder mit geringen Wortverstellungen,
welche letztere die wissenschaftliche Arbeit Rauber's repräsen-
tiren.
Japan betreffend, so ist Rauber's S. 71 fast ganz aus
Andree S. in, ns, 114 componirt.
Der Norden Asiens. Dieser ganze Abschnitt,
Räuber S. 72 ff., ist aus Andree S. 114 ff. ausgeschrieben,
vielfach wörtlich oder mit geringen Wortverschiebungen.
Endlich zeigt sich Ranber's Anleihesystem ohne Quellen-
angabe auch im Abschnitte Amerika, wo Räuber S. 81
aus Andree S. 151 und 153 excerpirt ist und Räuber S. 82
aus Andree S. 156 und 160.
Genug! Nach diesen charakteristischen Proben von der
Gründlichkeit und litterarischen Ehrlichkeit des Herrn Prof.
Dr. Räuber verzichte ich auf die Besprechung des übrigen
Inhalts seines Buches und überlasse es dem Leser, die rich-
tige Bezeichnung für die Handlungsweise des Herrn Räuber
zu wählen.
Leipzig. Dr. Richard Andree.
Die Erforschung des Xingü.
Ueber die von den Steinen'sche Expedition durch den
unbekanntesten Theil Brasiliens (s. „Globus", Bd. 45, S. 286
und Bd. 46, S. 336) lagen bisher nur sehr unvollkommene
Nachrichten vor, aus denen nicht einmal hervorging, ob die-
selbe den Xingü oder einen anderen Nebenfluß des Ama-
zonenstroms hinabgefahren war. Jetzt versendet die Geo-
graphische Gesellschaft in Bremen die ersten ausführlichen
Nachrichten, welche einem Briefe des Dr. Clauß. eines der
Mitglieder der Expedition, an Dr. Lindemann, ck. ä. Bahia,
11. November, entnommen sind und uns melden, daß in der
That der Xingü ganz erforscht worden ist. Die Expedition
hatte am 26. Mai 1884 Cuyabü, die Hauptstadt der brasilia-
nischen Provinz Matto Grosso, verlassen, hatte dann am
20. Juli vom Rio Batovy aus nochmals Nachricht von sich
gegeben und war Ende Oktober in ParL an der Mündung
des Amazonenstroms eingetroffen. Dr. Clauß schreibt nun
aus Bahia: „Es ist jetzt schon einen halben Monat her, daß
wir wieder unter civilisirten Menschen leben. Wir hatten
das Glück, unser Programm vollständig durchführen zu kön-
nen. Nach zweimonatlichem Marsche von Cuyaba aus in
Nordostrichtung schifften wir uns in einem ca. 50 m breiten
Flüßchen ein, das nach unseren deutschen Karten schon dem
Tingügebiete angehören mußte. Die Canocs waren von
unseren Leuten aus der Rinde des Jatobabaumes gefertigt.
Wir hatten mit den Fahrzeugen viel Malheur, indem eines
nach dem anderen auf den zahllosen Steinbarren des Flusses
brach. Glücklicherweise trafen wir Indianer, von denen wir
neue Böte bekamen. Dort im Quellgebiete des Nngü vom
15. bis 10. Grade leben zahlreiche Stämme, die noch nie
mit Weißen verkehrt haben und nur mit Stein- und Knochen-
werkzeugen arbeiten. Unter 12 Grad Breite erreichten
wir den Hauptfluß, den Xingü. Wir hatten viel von
Hunger zu leiden, die Cachoeiras (Katarakte) waren unsere
größten Feinde. Mit den Indianern wurden wir fertig."
So weit der Brief au Dr. Lindemann. Letzterer hat nun
noch von einem Verwandten eines der Reisenden Abschrift
eines weiteren Briefes des letzteren erhalten, aus dem wir
Folgendes mittheilen:
„Aus meinem von Rio Batovy Euch geschriebenen Briefe
wißt Ihr ungefähr die Gegend, wo wir uns einschifften. Es
war ca. 140 s. Br. Die Canoes, von uns selbst ans der
Rinde des Jatobabaumes gefertigt, sahen nicht nur ans wie
die echten Nußschalen, sondern erwiesen sich auch bezüglich
ihrer Leistungsfähigkeit als solche. Man durfte sich nicht
darin rühren, sonst kippten sie um und für die Beförderung
von Lasten, wie wir sie mitführten, waren sie gar nicht
geeignet.
So wurde der erste Theil der Flußreise auf dem Batovy
sehr eutmuthigend. Es war trockene Jahreszeit; der Fluß
hatte wenig Wasser, so daß jeder aus dem Grunde liegende
Stein ein Hinderniß war. Aber was die größte Schwierig-
keit bereitete, waren die zahllosen Katarakte (Cachoeiras),
wo das Wasser zwischen, unter und über Steinen derart
läuft, daß das Passiren mit Canocs unmöglich ist. Dieselben
46
Aus allen Erdtheilen.
mußten entladen werden. Die Last ging von Stein zu
Stein und die Canoes wurden gezogen; aber eins nach dem
anderen brach, und so gab es immer wieder neuen Aufent-
halt, um andere Canoes anzufertigen. So hatten wir drei
angestrengte und eigentlich recht hoffnungslose Wochen durch-
zumachen; wir kamen in unserer Route täglich nicht mehr
als 1 bis 2 Wegstunden vorwärts. Die Lebensmittel ebenso
wie unsere Sachen waren häufig ins Wasser gefallen und
verdorben, wir hatten eben noch knapp für einen Monat
Bohnen — sonst gar nichts weiter — als wir die ersten
Indianer — Baccairis — trafen. Ein zahmer Baccairi
war ja in unserem Gefolge; wir konnten uns verständigen,
bekamen Lebensmittel und neue Canoes, allerdings auch aus
Rinde, und gingen muthig weiter.
Am 30. August unterm 12. Grade waren wir auf dem
eigentlichen Xingü, er ist dort schon ein recht stattlicher Fluß,
gegen 400 in breit. Lernten neue Judianerftämme kennen;
wir mußten aufs vorsichtigste mit ihnen verkehren, um sie
nicht zu unseren Feinden zu machen und möglichst viel von
ihnen zu erlangen. Da ist am oberen Nngü (spr. Schingu)
ein Nest von Jndianerstämmen, die noch nie mit Weißen,
nie mit außerhalb ihres Bezirks wohnenden Stämmen in
Berührung getreten sind. Natürlich völlig nackt leben dort
an 30 Stämme noch in der Steinzeit. Unsere Tauschartikel
wie Messer u. dergl. waren sehr begehrt. Die letzten dieser
Indianer waren die Sugas, welche wie die Botokuden
Mund- und Ohrenpflöcke tragen. Mit dem 10. Grade kamen
wir in unbewohntes Terrain. Der Fluß, vorher prachtvoll
fahrbar, war jetzt von vielen Steinen durchsetzt; es kamen
Stromschuellen; die Lebensmittel gingen völlig aus — wir
lebten nur vom Fischfang, die Canoes wurden schlecht, hielten
auch den Wellengang auf dem jetzt schon einen Kilometer
breiten Fluß nicht mehr aus — viele unserer Leute wurden
fieberkrank — da kamen wieder Indianer, die Jurunas.
Einer derselben verstand schon einige Worte Portugiesisch,
wir erfuhren einiges über den weiteren Verlaus des Flusses,
bekamen reichlich Lebensmittel und, was das Werthvollste
war, sie gaben uns feste aus Baumstämmen gefertigte Canoes.
Der Fluß wurde wild. Nach kurzer Zeit wären alle
unsere Rindenschalen verloren gewesen. Aber unter Führung
eines der Indianer passirteu tpir in den festen Böten die
reißendsten Fälle und kamen so, von Jndianerdorf zu -dorf
weiter begleitet, am 15. Oktober glücklich bei den ersten bra-
silianischen Ansiedluugen an, 4" Breite.
Unsere Arbeiten haben wir alle glücklich gerettet; freilich
haben sie durch das Wasser vielfach gelitten. K. v. d. Steinen
hat eitle sehr hübsche Sammlung von Jndianersachen an-
gelegt; dieselbe ist bereits von Para nach drüben gegangen."
Aus allen
A s i e n.
— Die Hoffnung, zwischen Indien und Tibet über
Dardschiling eine dauernde Handelsverbindung her-
zustellen, ist, wie den „Times" am 16. November aus Cal-
cuttst gemeldet wird, wenigstens vorläufig durch einen Ver-
trag, den Tibet und Nepal geschlossen haben, zerstört worden.
Die Nepalesen, eifersüchtig auf jeden anderen Weg, haben
daraus bestanden, daß der Handel wie zuvor durch ihr Land
gehen soll; in Folge dessen muß derselbe einen großen Um-
weg machen und kann sich nicht kräftig entwickeln. Die
reichsten Provinzen Tibets liegen nur wenige Tagereisen
genau nördlich von Dardschiling, die Pässe sind dort ver-
hältnißmäßig leicht und außerdem hätte der Handel in Dar-
dschiling direkte Eisenbahnverbindung mit Calcutta. Es läge
also im gemeinsamen Interesse von England, Indien und
Tibet, die Dardschiling-Route so bald als möglich wieder zu
eröffnen.
— Von dem auf Veranlassung der niederländisch-indischen
Regierung veröffentlichten Bericht über Krakatau und den
Ausbruch, der 1883 dort stattgefunden hat, liegt uns jetzt
der erste Theil (Krakatau van R. D. M. Verbeek, mijn
ingenieur) vor. In demselben sind die drei ersten Ab-
schnitte abgedruckt, deren erster alle Mittheilungen enthält,
welche über die Insel vor dem Ausbruch von 1883 bekannt
waren; der zweite beschäftigt sich mit der Geschichte des Aus-
bruchs vom 20. Mai bis zum 26. August und der dritte
behandelt die Katastrophe der zunächst darauf folgenden
Tage. Wir empfangen in diesem Theile eine zusammen-
hängende Erzählung der Vorgänge, so gut sich eine solche
bei den einander vielfach widersprechenden Berichten der
Augenzeugen geben ließ; zahlreiche dem Anhange einverleibte
Originalberichte — Herr Verbeck verfügte im ganzen über
mehr als 1800 Mittheilungen — beweisen, wie schwer es ist,
in diesem Chaos den richtigen Weg zu finden. Nach Er-
scheinen des zweiten Theils, der Abschnitt 4 bis 7 enthalten
und die wissenschaftliche Seite besprechen soll, werden wir
ans das Werk zurückkommen.
E r d t h e i l e».
— Die Baumwollenindustrie Rußlands hat be-
kanntlich seit einigen Jahren einen ganz außerordentlichen
Aufschwung genommen, so daß die Einfuhr von Rohbaum-
wolle aus den Vereinigten Staaten in dein Zeitraume 1876
bis 1883 von 25,1 Millionen Pfund auf 173,7 Millionen
Pfund stieg, aber in noch höherem Maße ist man russischer-
seits bemüht gewesen, die Baum wolle ukultur zu heben.
Bisher wurde dieselbe im Kaukasus, im Kreise Kutais und
an den Ufern des Kur und des Araxes betrieben; bedeutender
aber war immer der Baumwollenbau in Centralasien, süd-
lich von Arys und auch bei Taschkent. Sehr entwickelt ist
derselbe in Chokand bei guter Qualität, noch besser ist aber
die bocharische Baumwolle und die von Chiwa. Die jähr-
liche Produktion Centralasieus wird in russischen Quellen
auf 3,3 Millionen Pud angegeben, wovon zwei Millionen
auf Bochara kommen. Doch steht diese Baumwolle au Rein-
heit und Güte der amerikanischen weit nach. Im Jahre
1882 entsandte daher die große Jaroslawer Baumwollen-
manufaktur Bevollmächtigte nach Turkestan, Samarkand,
Bochara, Chokand und Chiwa, um die Möglichkeit der
Anpflanzung von amerikanischen Baumwollarten zu prüfen.
Im Frühjahre 1883 kehrte die Expedition zurück und be-
richtete, daß die bisherigen Anbauversnche gelungen seien
und daß namentlich auf den der Krone gehörigen Farmen
in Chiwa ein zufriedenstellendes Resultat erzielt worden sei.
— Das Gebiet von Merw umfaßt nach einem Kon-
sularbericht aus Moskau 4900 Qnadratwerst, von welchen
ungefähr der fünfte Theil, der aus Sumpf und Sand be-
steht, sich nicht zum Ackerbau eignet. Die verbleibenden
4000 Quadratwerst bilden einen vortrefflich kultivirten Boden
von großer Fruchtbarkeit. Die Bevölkerung von etwa
20 000 Seelen vertheilt sich auf kleine Auls zu 200 bis
300Kibitken; sie ist von der russischen Regierung bisher nicht
zur Bestenerung herangezogen worden; nur für Besoldung
der Polizei werden jährlich ganz unbedeutende Beiträge ein-
gesammelt. Die Wichtigkeit der Annexion Merws liegt
nicht in seiner Fähigkeit, russische Waaren zu konsumiren,
Aus allen Erdtheilen.
47
darauf dürfte man noch lange zu warten haben, aber als
eine auf gerader Linie zwischen Rußland und Indien liegende
Etappe dürfte Merw von hervorragender Wichtigkeit werden.
Denn die kürzeste Route von Moskau nach Indien führt
über Merw bezw. Sarachs. Ist einmal die Eisenbahn-
verbindung zwischen Kizilarwat, dem Endpunkte der trans-
kaspischen Bahn, und Sibi bezw. Qucttah, dem Endpunkte
der indischen Nordwestbahn, hergestellt, so wird man in
wenigen Tagen von Moskau nach Indien gelangen können.
Augenblicklich beansprucht die Reise nach Kizilarwat 8 Tage,
nämlich von Moskau nach Wladikawkas per Bahn 3 Tage,
von dort zu Wagen nach Tiflis 1 Tag, von Tiflis per Bahn
nach Baku I Tag, von Baku nach Krasnowodsk Per Dampf-
schiff 1 Tag, von Krasnowodsk Per Dampfschiff nach dem
Michailowski-Busen 12 Stunden und von dort nach Kizi-
larwat bei einer Fahrgeschwindigkeit von nur IOWerst (10,7 km)
in der Stunde mindestens 24 Stunden. Die Entfernung
von Kizilarwat nach Herat beträgt 533, von Herat nach Sibi
599 engl. Meilen. Diese Strecke von zusammen 1132 engl.
Meilen (1811 km) würde bequem mittels Bahn in 4 Tagen
zurückzulegen sein, so daß man von Moskau nach Indien in
etwa 12 Tagen gelangen könnte. Rechnet man noch 4 bis
5 Tage für die Strecke London-Moskau, so würde man in
nicht zu ferner Zeit vielleicht in 16 bis 17 Tagen von Eng-
land nach Indien reisen können.
Afrika.
— Eine sehr interessante Sammlung von Pflanzen
hat, wie Professor Hookcr mittheilt, Joseph Thomson
von seiner letzten Reise ins M a sailand nach Kew gebracht.
Sie enthält etwa 35 Arten vom Kilimandscharo, von Höhen
zwischen 9000 bis lO OOO Fnß; ferner einige Arten von einem
Krater am See Naiwasha, aus 7000 bis 8000 Fuß Höhe;
34 vom Kapto-Platcau (lV20 s. Br.), 5000 bis 6000 Fuß;
endlich 58 ans der Landschaft Lykipia am Westsuße des
Kenia-Berges, 6000 bis 8000 Fuß. Diese Sammlung zeigt
(worauf wir durch frühere Entdeckungen vorbereitet waren)
die Vermischung von Typen der nördlich gemäßigten Zone
mit anderen, welche für Südafrika charakteristisch sind. Von
diesen sind am interessantesten, weil neu für das tropische
Afrika: eine Anemone, ein velpllimnrn (sehr verschieden von
dem abessinischcn D. dasycaulon) und ein Cerastium von
eigenthümlichem Habitus. Von südafrikanischen Formen ist
die schöne baumartige Rustacee, Calodendron capense, die
„wilde Kastanie", von Natal am bemerkenswerthesten; bisher
war sie nördlich von diesem Lande nicht angetroffen worden.
Von nördlichen Formen findet sich ein Wachholder, gleichfalls
eine dem tropischen Afrika sonst unbekannte Gattung; es ist
der abessinische Juniperus procera. Dieser Baum bildet
Haine in Höhen von 6000 bis 8000 Fnß und wird selbst
100 Fuß hoch. Ein Podocarpus, den man zugleich mit
diesem Juniperus antraf und der auch eine Höhe von
100 Fuß erreicht, ist tvahrscheinlich der Podocarpus elongata
Abessiniens; dieser oder ein naher Verwandter desselben
kommt auch in Südafrika vor. Die einzige Konifere, welche
sonst noch in den äquatorialen Gegenden Afrikas angetroffen
wurde, ist Podocarpus Mannii vom St. Thomas-Pic im
Golf von Guinea (Nature, Vol. 30, Pag. 635).
— Von großem aktuellem Interesse und durch seinen
geringen Preis (1 Mk.) leicht zugänglich ist die 1. Ab-
theilung von Dr. I. Falkenstein's „Afrikas West-
küste. Vom Ogowe bis zum Damara-Lande"
(Bd. 29 von „Das Wissen der Gegenwart", Leipzig,
G. Freytag). Dieselbe giebt eine kurze Geschichte der Ent-
deckungen, einen Abriß des Klimas, der Bodcnbeschaffenheit,
der Fauna und Flora und vor allem eine eingehende und
vorzügliche Schilderung der Bewohner jener Küsten, über
welche ja der Verfasser an Ort und Stelle jahrelange
Studien hat machen können. Die wenigen Ausstellungen,
welche wir zu machen haben, wären nur die Vernachlässigung
des eigentlich Geographischen, die veraltete Karte und dergleichen.
Auf S. 20 klagt zwar der Verfasser: „Man fragte bis dahin
und vielleicht leider auch jetzt noch bei jedem Reisenden,
welche geographische That hat er auszuweisen, nicht aber,
was hat er wissenschaftlich geleistet" — aber auch er selbst
verfällt in diesen Fehler, wie seine viel zu günstigen Urtheile
z. B. über Grandy und Cameron darthun. Doch das
nebenbei! Von ganz besonderem Interesse sind die 80 schönen
Bilder, die, fast ausschließlich nach Photographien Falkenstein's
angefertigt, uns besser als lange Beschreibungen mit dem
Charakter jener Länder, ihrer Fauna und Bevölkerung ver-
traut machen. Um auf einzelnes aufmerksam zu machen, so
erwähnen wir den Abschnitt über die sogenannten Zwerg-
völker (S. 127 bis 137), für welche der Verfasser den Namen
der „Buschmänner" verallgemeinernd anwendet. Er kommt
zu dem Schluffe: „Die Buschmänner, welche am Ogowe
Obongo, bei den Mombuttn Akka, am Kongo Batua, in
Abessinien Doquo heißen, gehören mit den Buschmännern
Südafrikas zu einer großen Völkerfamilie, die einst sehr
zahlreich, allmählich dem Andringen stärkerer Stämme
weichen mußte und wahrscheinlich dem Untergänge entgegen-
geht." — Beachtenswerth ist S. 231 der Abschnitt über die
Sklaverei, welche bekanntlich von der Berliner Kongo-Kon-
ferenz verboten werden soll. „Es kommt nicht eben selten
vor, daß an den Strecken, wo noch Sklaverei herrscht, ein
Weißer einem bevorzugten Neger den Freibrief giebt, wenn
er selbst nach Europa zurückkehrt. Da passirt es denn fast
regelmäßig, daß nach kurzer Zeit der Freigelassene in einem
anderen europäischen Hause absichtlich sich bei einem unwesent-
lichen Diebstahl ertappen läßt oder etwas vernichtet, nur um
wieder als Sklave in Dienst genommen zu werden. Er kann
eben als Freier bei weitem nicht so gut leben, als in dem
grundlos so häufig verschrieenen Joche. Er hat niemand,
der ihm Nahrung, Kleidung, ja selbst eine Frau und eine
Hütte bei recht geringer Arbeit giebt, und beeilt sich daher,
das bestehende Gesetz auszunutzen, um sein Leben wieder be-
haglich zu gestalten."
— In Hamburg ist unter der Leitung der dortigen
Firma Jantzen und Thormachlen ein Konsortium zusammen-
getreten, welches den Benne-Erforscher Eduard Robert
Flegel nach Adamana zu senden beabsichtigt, damit er dort
Vorbereitungen für das Wirken einer später zu errichtenden
Niger-Benuö-Kompagnie treffe. Die Expedition
sollte in den ersten Monaten 1885 abgehen, wird aber wohl
durch die Erkrankung des Reisenden einen Aufschub erleiden
müssen. Dieser hofft trotz seiner Verbindung mit dem Ham-
burger Hause die geplante Reise vom Benne zum Kongo
noch ausführen zu können.
— In Antwerpen hat sich eine „Societe bclge-
liberienne" gebildet mit dem Zwecke, nach der Westküste
Afrikas und speciell nach Liberia Manufakturen aus-
zuführen und Landesprodukte von dort zu importiren, nament-
lich Palmöl, Rothholz, Elfenbein, Reis, Goldstaub, Ingwer
und Kaffee. Die Anglo-African Steam Ship Company läßt
bereits ihre Schiffe Antwerpen anlaufen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Durch die Korvette „Elisabeth" und das Kanonenboot
„Hyäne" ist auf verschiedenen Stellen der Nordostküste
von Ncu-Guinea, aus Neu Irland, Neu-Bri-
tannien und den Admiralitäts-Inseln, welche
letzteren der Küste Neu-Guineas vorgelagert sind, die
deutsche Flagge gehißt worden. Dieser Liste fügt der
„Standard" noch NeU'Hannover lnordöstlich von Neu-Jrland),
die Marshall-Inseln, Duke of Uork (zwischen Neu-Jrland
und Ncn-Britannien) und Andersons?) hinzu. Die wichtigste
dieser Inseln ist wohl Neu-Britannien, welche auch
48
Aus allen Erdtheilen.
dem ganzen Archipel den Namen gegeben hat. Nachweislich
zuerst gesehen wurde dieselbe 1616 von den Niederländern
la Maire und Schonten, näher untersucht 1700 von Dampier,
der ihre Jnselnatur nachwies und 1767 von Carteret; dann
folgten 1768 Bougaiuville, 1792 d'Entrecasteaux, 1827 d'Urville,
1872 Simpson, dann unsere,, Gazelle", 1877 bis 1879 Wilfred
Powell und zuletzt 1880 Dr. Finsch. Ihren Namen gab ihr
Dampier wegen ihrer prächtig grünen Wiesen, die ihn an Alt-
England erinnerten. N e u - I r l a n d tvurde zuerst am 7. Sep-
tember 1767 von Carteret für England in Besitz genommen,
ebenso Nen-Hannover; 1879 unternahm Marquis de Ray seine
berüchtigte Koloniegründung in jenem Archipel, den er
„Nouvelle France" taufte. Er wurde für die dabei be-
gangenen Schwindeleien im Januar 1884 in Paris zu vier
Jahren Gefängniß verurtheilt. Am 4. April 1883 nahm
dann die Regierung von Queensland diese Inseln und über-
haupt alle zwischen 141° und 155° östl. L. Gr. in Besitz, ohne
daß Lord Derby diesen Akt ratificirte, und zuletzt hat sich
das Deutsche Reich zum großen Aerger der Australier dort
festgesetzt, hoffentlich dauernder als England, Frankreich und
Queensland vor ihm. Neu-Britannien, über welches wir
eine ganz neue Reisebeschreibung von Powell besitzen
(vergl. „Globus" 45, S. 327 „Powell's Aufenthalt auf Neu-
Britannien"), wird als ein Land von vielfach großer Schön-
heit und Fruchtbarkeit geschildert, als ein Paradies, bewohnt
von Teufeln. Vielleicht wird man bei näherer Bekanntschaft
und guter Behandlung ein besseres Urtheil über sie gewinnen —
vorläufig wird ihnen Argwohn, Mißtrauen, Hinterlist, Verrath,
Grausamkeit und scheußliche Menschenfresserei zum Vorwurf
gemacht. So erzählt Powell, daß Eingeborene selbst ihn ge-
warnt hätten, vor ihnen zu gehen, wenn sie bewaffnet
wären, aus Besorgniß, daß die Mordgier sie überwältigen
möchte. Es ist nur zu wahr — sagt er einmal — daß hier,
wo die Natur ihre größte Kunst angewendet zu haben
scheint, um die Erde zu verschönern, hier, wo ihre ver-
schwenderische Hand nichts gespart hat, um diese Inseln als
ihre erlesensten Lieblinge zu kennzeichnen, daß hier ihr voll-
kommenstes Werk, der Mensch, das einzige schlechte, ver-
worfene Geschöpf ist.
— In Nukualofa aus der Insel Tongatabu befindet
sich — so entnehmen wir Privatbriefen von dort — außer
den Agenturen der Deutschen Handels- und Plan-
tagengesellschaft der S üdseeiuseln (früher Godesiroy)
und der Firma Ruge & Comp., beide in Hamburg, uoch eine
Agentur der Firma Mc. Arthur & Comp, in Auckland.
Während die beiden ersteren ans dem besten Fuße mit ein-
ander stehen, ist das Verhältniß zwischen den Deutschen und
Engländern ein recht gespanntes, da letztere die ausgesprochene
Absicht haben, unsere Landsleute einfach aus deut Geschäfte
hinauszuwerfen. Zu diesem Zwecke ist die Agentur von
Mc. Arthur & Comp, vor etwa auderthalb Jahren gegründet,
hofft ihr Ziel aber in einem bis zwei Jahren zu erreichen
und damit die Früchte derjenigen Saaten zu ernten, die die
Deutschen in langjähriger Arbeit ausgestreut haben. Sind
diese beseitigt, so steht nichts im Wege, die Inselgruppe für
eine englische Besitzung zu erklären, denn das jetzige König-
reich Tonga kann sich nicht lange halten. Daß jenes nicht
schon längst geschehen ist, daran hat die Engländer nur der
Schachzug der deutschen Regierung gehindert, indem sie das
Königreich Tonga anerkannte. Hierdurch wurden sie ge-
zwungen, ein Gleiches zu thun und dem König Georg seine
Unabhängigkeit zu lassen. An der Spitze seiner Regierung
steht Mr. Baker, der zu gleicher Zeit das Amt eines Chair-
mans der englischen (wesleyanischen) Mission bekleidete. Da
er aber nicht genug im Interesse der Engländer arbeitete,
sondern auch dasjenige seines Königs ins Auge faßte und
den Traktat mit der deutschen Regierung abschloß, statt ihn
zu hindern, wurde die Mission wüthend und setzte ihn ab.
Trotz ihrer Bemühungen aber ließ sich König Georg, ein
Mann von 88 Jahren, einfach aber durchaus ehrenwerth, der
auf der Insel Vavan residirt, weil ihm die Parteistrcitig-
keiten in Nukualofa zuwider sind, nicht irritiren, sondern
behielt Mr. Baker als Premierminister bei. Die englischen
Missionen sind überhaupt nichts weiter, als Pioniere der
Annexion. Aus den intelligenten und entwickelungsfähigen
Tongauern haben sie ein heuchlerisches, eingebildetes, faules
und falsches Volk gemacht. So lange wir Deutschen mit
ihnen allein hier waren und sie unterstützten, waren die
Missionare unsere besten Freunhe. Seit sich die Engländer
hier eingenistet haben, giebt es keine Intrigue, deren sie gegen
uns nicht fähig wären. Namentlich suchen sie Mr. Baker, der
vom Kaiser mit einem hohen Orden dekorirt ist, den zu
tragen ihm aber die englische Regierung verboten hat, zu
stürzen. Die übrigen Ministerposten sind in den Händen des
Kronprinzen Wellington, des Enkels des Königs, eines
ganz charakterlosen Menschen, und einiger Chiefs. Da die
Regierung ihre Kopra kontraktlich an die Handels- und
Plantagengesellschaft verkauft und alle Waaren für Rcgierungs-
bauten u. s. w. von ihr bezieht, ist der Einfluß der Deutschen
uoch immer sehr groß, aber gesichert ist er nicht, und es wäre
sehr zu wünschen, wenn die deutsche Regierung sich ihrer
aus das Kräftigste annähme.
Vermischtes.
Der Stil und die Völker. Professor Franz
Keller-Leuzinger schreibt in einem Privatbriefe: „Sie
bemerken, daß bei den Maoris, den Indianern Nordwest-
amerikas u. s. w. sich ein gewisser originaler Ornamentstil
herausgebildet habe, den für uns in analoger Weise zu
finden wir uns vergeblich bemühen. Aber jene Völker haben
ja gerade das, was dazu nöthig ist und was uns heute
abgeht! Ein Kunststil kann sich nur da eigenartig entwickeln,
wo überhaupt die ganze Kultur sich aus sich selbst heraus
weiter bildete und wo für Einflüsse von außen her keine
allzu große, besonders keine fundamental umgestaltende Ein-
wirkung möglich ist. Wenn Japan in dein jetzt angenom-
menen Tempo der Europäisirung weiter geht, so werden in
hundert Jahren nur schwache Reste vou dem übrig sein, was
wir jetzt japanischen Stil nennen. Ich selbst habe in Bra-
silien erlebt, wie Jndianerstämme, die in den betreffenden
Missionen in nähere Berührung mit Weißen gekommen
waren und bessere Werkzeuge in die Hand bekommen hatten,
nicht nur keine besseren Erzeugnisse an Waffen, Geräthen,
Geweben u. s. w. lieferten wie früher, sondern schlechtere.
Wir Europäer sind heute viel zu kosmopolitisch durchsäuert,
um etwas Neues, Eigenartiges auf diesem Gebiete erfinden
zu können. Unsere Kunst beruht, wie unsere anderweitige
Geisteskultur, auf dem klassischen Alterthum und der Re-
naissance, und dabei muß es bleiben."
Man sieht, wie hier ein Meister des Kunstgewerbes, der
zugleich ethnographische Erfahrungen besitzt, ein Lied singt
wie Adolf Bastian. „Nützet den Tag, denn es will Abend
werden", so lautet in der Ethnographie die Parole.
Inhalt: Reisen in Gurien und am oberen Kur. III- (Schluß.) (Mit vier Abbildungen.) — W. Kobelt: Skizzen
aus Algerien. II- (Schluß.) — R. Andree: Der fünfte Amerikanistenkongreß. — Spiridion Gopoevio: Streifzüge in
Portugal. III. — Kürzere Mittheilungen: Wissenschaftliche Abschreiberei. Bon R. Andree. — Die Erforschung des
ch'ingü. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion:
20. December 1884.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berti», S. W. Lindenstraße it, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben vvn
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalteu
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1885.
Destre Charnaì/s Reise in Ancata» und dem Lande der Lacandanen ' ).
X.
In Nachilan bieten sich dem Reisenden zwei Wege dar, !
um den Sec Peten zu erreichen: entweder er fährt den
Fluß Usumacinta aufwärts, der einige Stunden von dort
den Namen Rio de la Passion annimmt, oder er folgt quer
dilrch die Wälder dem „Camino Real", der weiter nichts
ist als einer jener abscheulichen indianischen Fußpfade, die
jeder Reisende kennen gelernt hat. Gegen ersteren Weg
spricht die reißende Strömung des Flusses und der weite
Umweg, den man machen muß, ehe man Libcrtad erreicht.
Charnay zog deshalb den Landweg vor und schlug mit
seinen noch immer sehr herabgckommcncn Maulthieren einen
kleinen Pfad ein, der nach zwei Tagereisen in den Weg
nach Peten mündet. Derselbe führte sic in weiteren vier
Märschen nach Sacluc, welches heute Libcrtad genannt
wird. Cs ist der Hauptort des Distriktes Peten und der
letzte bewohnte Punkt Guatemalas, wie Tcnosique derjenige
Tabascos; in seinem Aeußeren gleicht cs durchaus den
übrigen spanisch-indianischen Dörfern der heißen Klimate
vlit dem großen grasbewachsenen Platze, der armseligen
Kirche und den wenigen Häusern daneben. An allem
herrscht in Libcrtad Mangel, und Hungersnoth scheint dort
in Permanenz zu sein; nur durch die Mahagoniholzsucher
wird ihm einiges Leben eingehaucht.
Bon dort wendet sich der Weg, der bis dahin eine ost-
südöstliche Richtung verfolgte, nach Norden; bis Flores
am isee Peten sind es 30 km. Es ist das alte Tayasal
und liegt genau an der Stelle dieser Mayastadt; schon an
’) Fortsetzung von „Globus", Bd. 46, S. 119.
Globus XLVII. Nr. 4.
sich reizend, ist es auch prachtvoll inmitten seines schönen
Sees und einer großartigen Gebirgsumgebnng gelegen. Die
alten Bewohner des Ortes, Jtzaes mit Namen, waren Ab-
kömmlinge jener Auswanderer, welche unter Führung ihres
Canck um 1440 die Stadt Chichen-Jtza in Pncatan ver-
ließen, und von denen früher des längeren die diede war.
Dort in jener wunderbaren Gegend, umgeben von gleich
sprachigen und besonders kriegerischen Stämmen, richteten
die Jtzaes ihr Bolksthnm wieder auf, und das in so kraft-
voller Weise, daß es bis gegen das Ende des 17. Jahr-
hunderts gegen den Einfluß und die Eroberungsgelüste der
Spanier Stand hielt. Ihre Häuser, Paläste, Tempel und
Pyramiden sind zwar verschwunden, aber zum Glück läßt
sich ihre Geschichte rekonstruiren und das geringe Alter der
Monumente wiederum nachweisen. Erst im Jahre 1696
glückte es dem Gouverneur von Ancatan, Martin Ursua,
sich der Stadt zu bemächtigen und die kleine Nationalität
zu zerstören. Er bedurfte dazu einer wahren Armee und
ließ eine Straße anlegen, welche sich von Campeche in
gerader Linie durch die Wälder nach dem Petensee zog.
Unterwegs traf die Expedition in Nohbecan auf eine Stadt
mit großen Gebäuden voll Götzenbilder. Als der See
erreicht war, mußte der Gouverneur, wie einst Cortez,
Brigantinen erbauen lassen, um die Stadt Tayasal belagern
zu können. Am 2. März 1696 fand der Angriff und die
Eroberung statt. In einem Augenblicke war der Ort
von seinen Bewohnern verlassen: Männer, Frauen und
Kinder flüchteten in Booten oder schwimmend über den
See und verschwanden für immer. Martin Ursua hatte
7
50
Desirs Charnay's Reise in Ducaicin und dem Lunde der Lacandonen.
nur eine Einöde erobert. Diese ungewöhnliche Thatsache
zeigt den unüberwindlichen Haß der Indianer gegen die
Spanier, erklärt uns das plötzliche Verlassen bewohnter
Städte zur Zeit der Conqnista und widerlegt schlagend alle
diejenigen, welche das geringe Alter dieser Städte bestreiten.
Tayasal enthielt im Jahre 1696 21 Tempel, 1618
dagegen erst 12, so daß im Laufe des 17. Jahrhunderts
neun neue erbaut worden sind, und darunter, wie Villa
Gutierre Soto Mayor berichtet, gerade der schönste von
allen; dies giebt uns einen Begriff von der Leichtigkeit, mit
Das Dorf Libertad oder Sacluc. (Nach einer Photographie des Mr. A. Maudslay.)
welcher die Indianer sie aufführten. „Der große Tempel
war ganz aus Stein errichtet mit seiner Spitzbogenwöl-
bung; er war von viereckiger Gestalt, mit einem schönen
Süulengange und bestand aus gut bearbeiteten Steinen;
jede seiner Seiten war 20 Varas lang und er war sehr-
hoch." Gleicht das Gebäude nach dieser Beschreibung nicht
Flores am See Peten. (Nach einer Photographie des Mr. A. Maudslay.)
durchaus dem Castillo von Chichen, das gleichfalls vier-
eckig und von derselben Größe war und einen Säulengang
besaß?
In Tayasal finden wir also eine Tochter von Chichen-
Jtza; die Mutter werden wir in Tikal kennen lernen.
Ebendaselbst werden wir Aufklärungen erhalten über den
Grund der Auswanderung der Jtzaes nach Süden, über
den Verlauf und die Wanderung der toltekischen Koloni-
sation in Pucatan und über den toltekischen Einfluß in den
südlichen Städten Guatemalas, in Eoban, Copan und
Dssirs Charnay's Reise in Jucatan und dem Lande der Lacandonen.
51
Qnirigua. Tikal liegt etwa 45 Kni nordöstlich von Flores
am südlichen Eingänge zur Halbinsel Yucatan und wurde
in letzter Zeit von zwei Forschern besucht. Der erste ist
Bernouilli, dessen Arbeiten durch seinen Tod unterbrochen
wurden und dessen Rcisebeschreibung verloren gegangen ist.
Dafür hat er uns etwa ein Dutzend geschnitzter Tafeln aus
rothem Zapoteholz hinterlassen, die er den Tempeln ent-
nahm, und welche uns gestatten, die Stadt selbst zu klassi-
ficiren und ihre Geschichte zu rekonstrnircn. Der andere
Reisende ist Alfred Mandslay, welcher die Antiquitäten
Guatemalas zu seinem Specialstndimn gemacht zu haben
scheint; von seinen Notizen und Photographien ist in
der nachstehenden Beschreibung Tikals Gebrauch gemacht
worden.
Die wichtigsten Gebäude sind die Tempel, die ans hohen
Pyramiden stehen, deren Seiten aus sich verjüngenden
Tempel und Stelen zu Tikal. (Nach einer Photographie von Mr. A. Maudslay.)
Stockwerken bestehen, wie unser drittes Bild zeigt. Vorn
führt eine große Treppe znm Tempelthore hinauf ; der
Tempel selbst erhebt sich aus dem rückwärtigen Theile der
oben befindlichen Plattform, und die Hintere Seite der
Pyramide füllt viel steiler nach unten ab als die drei
anderen; dasselbe gilt für Lorillard Eity und Palenquc.
Die Basis der Pyramide mißt 184 zu 168 engl. Fuß, die
Treppe ist 88 Fuß breit und 112 Fuß lang, die Pyramide j
90 Fuß hoch, der Tempel 41 Fuß breit, 28 Fuß tief und !
mit Einschluß der dahinter befindlichen dekorativen Mauer,
welche jetzt von Vegetation bedeckt ist, etwa 40 Fuß hoch.
Alle diese Tempel gleichen einander; was sie aber am
meisten charakterisirt, ist die enorme Stärke der Mauern,
die Nischen zu beiden Seiten des Hanptraumes und das
allmähliche Schmalcrwerdcn des Gebäudes nach hinten zu.
Das Innere besteht aus zwei oder drei schmalen, einander
parallelen Gängen, welche sich mit breiten Thüren, deren
Oberstürze aus prachtvoll geschnitztem Holze bestehen, auf
52
Dssirö Charnay's Reise in Jucatan und dem Lande der Lacandonen.
den vorderen Korridor öffnen. Innen sind die Mauern
höher als in den Palästen, ebenso die Bögen, die anch in
einen spitzeren Winkel auslaufen; dies ist wahrscheinlich
eine Folge der mächtigen dekorativen Mauer, welche aus
dem Gebäude lastet und dasselbe zerdrücken würde, wenn
nicht der Baumeister die tragenden Mauern so stark, die
Wölbung so spitz und die Räume so schmal gemacht hätte.
Maudslay behauptet, in diesen Tempeln keine Idole noch
andere Gegenstände der Verehrung gefunden zu haben;
hätte er aber Lorillard City und Palenque schon gekannt,
so hätte er anch gewußt, daß jene geschnitzten Holztafeln
religiöse Vorgänge darstellten, die Götzenbilder ersetzten und
zum Kultus gehörten. In dem prachtvollen Holzrelief,
welches untenstehende Abbildung zeigt, erkennt man unschwer
.das Gegenstück zu den steinernen Altartafeln, welche aus
Palenque bekannt sind; es hat fast dieselbe Größe (1,95 m
Höhe und 2,28 m Breite) und stellt ebenso zwei Personen
mit außerordentlichen Attributen dar. Die Zeichen der
„Inschriften" rechts und links sind sehr gut erhalten und
deuten keineswegs ans ein hohes Alter und sind identisch
Altarplatte aus einem Sonnentempel in Tikal. (Nach einem Abklatsch.)
mit denen von Lorillard, Palenque und Copan, wie wir
gleich sehen werden. Die Hauptperson, deren Stirn etwas
weniger zurückweicht als aus den Basreliefs der anderen
genannten Städte, nimmt die Mitte der Tafel ein, anstatt
die rechte oder linke Seite; das gleiche ist der Fall auf den
Platten aus Palenque. Die Person steht aufrecht, den
Kopf mit einem überaus reichen bizarren Aufputze bedeckt,
der in mächtige Federbüsche ausläuft, die an Tabasco und
Pucatan zugleich erinnern; in der Rechten hält sie einen
Scepter, den ein Vogelschweif überragt, wie er auch in
Lorillard vorkommt, und der linke Arm wird zur Hälfte
von einem Schilde verdeckt. Sie trägt das fransenbesetzte
Bischofsmäntelchen mit schwerem Halsbande aus vier Reihen
Perlen und einem großen Medaillon als Schloß, darunter
ein langes, fast bis zur Erde hinabreichendes kostbares
Gewand. Rechts unter der Inschrift finden sich symbolische
Verzierungen und ganz unten zwei treffliche menschliche
Profile; unter der Inschrift zur Linken ist eine zweite Per-
son mit ungeheuerlichem Kopfe dargestellt, welche auf einer
Art Schemel mit Rück- und Seitenlehnen sitzt. Unter den
53
Désiré Charnay's Reise in Yucatan und dem Lande der Lacandonen.
übrigen Ornamenten finden sich viele, die uns schon von
früheren Basreliefs bekannt sind; das wichtigste aber ist das
am oberen Rande über der mittelsten Figur. Es ist die-
selbe Maske mit heraushängender Zunge, welche auf dem
mexikanischen Kalendersteine, sowie der Altartafel aus dem
Sonncntempcl zu Palcngue die Sonne pcrsonificirt. Die
Flammen zu beiden Seiten lassen keinen Zweifel daran
aufkommen, so daß das Basrelief danach einem Tempel
der großen toltekischen Gottheit, der Sonne, angehört
haben muß.
Tikal gehörte demnach derselben toltekischen Civilisation
an, deren Verbreitung und Entwickelung wir von Comal-
calco bis Palenqne und Ocosingo verfolgt haben, welche bis
an die Oberläufe der Flüsse sich verbreitete, Lorillard City
gründete, nach Tikal gelangte und später sich einerseits in
Nucatan, wo sie mit einer früheren Abzweigung ihrer selbst
zusammentraf, andererseits im nördlichen Guatemala aus-
breitete und dort Eoban, Copan und Quirigna gründete.
Tikal, das von dem Ausgangspunkte am weitesten entfernt
ist, war natürlich jünger als die früher beschriebenen Städte,
aber repräsentirt doch für uns eine der
wichtigsten Epochen dieser originellen
Civilisation. Als eine Zwischenstation,
wo sich der Stamm, der diese Civili-
sation trug, gabelte, löst es uns Räthsel
und erklärt uns Ereignisse, welche bis
dahin unerklärt geblieben sind. Von
hier aus drangen die Toltcken in den
Norden Aucatans ein; das beweisen
nicht nur die Städte, welche auf ihrem
Zuge zerstreut erbaut wurden, wie das
oben erwähnte Nohbccan, sondern auch
historische Nachrichten.
Herrera erzählt uns, daß, als die
Häuptlinge des ersten Zweiges der
Toltcken, die Cocomes, herrschten,
Fremde, die aus dem Laude der La-
candonen, Chiapas u. s. w. kamen, in
das Land eindringen. Dieselben ziehen
40 Jahre lang in den Einöden Mea-
tans umher und errichten 10 Stunden
von Mayapan, in den Bergen von
Uxmal, prächtige Gebäude. Sic stan-
den unter Häuptlingen, welche Tutul-
xius hießen, und waren so friedfertig,
daß sie nicht einmal Waffen besaßen,
sondern zur Jagd sich nur der Lassos und Schlingen
bedienten. Nach Landa erzählen ferner die Indianer,
daß zahlreiche Stämme von Süden her in Mcatan ein-
drangen und daß sie anscheinend aus Chiapas stammten,
was der Schriftsteller aus zahlreichen Worten und Kon-
struktionen schließt, die in den Sprachen von Chiapas und
Ljucatan identisch waren, und daraus, daß cs dort ansehn-
liche Reste verlassener Ortschaften gab; diese Stämme zogen
vierzig Jahre lang in der Wildniß umher und gelangten
dann in die Sierra, 10 Stunden von Mayapan.
Charnay hat schon früher bei der Beschreibung von
Palcngue darauf hingewiesen, daß sich in den Basreliefs
stets eine friedliche, religiöse Tendenz ausgedrückt findet, nie
etwas, was auf kriegerische Neigungen deutet oder einer
Waffe gleicht, und er meint, daß sie bei Beginn ihrer
Wanderung, nachdem ihr Stamm fst)t ganz vernichtet wor-
den war, ihre Rolle als Eroberer aufgaben, weil sic nicht
mehr zu ihrer geringen Anzahl paßte, und dafür die von
Civilisatoren und Missionaren ergriffen. Sie zogen ans,
unterwarfen die Völker durch das Wort, lockten sie durch
Predigen an und bekehrten sic, nahmen die Sprache der
civilistrten Länder an und errichteten überall dieselben
Tempel und Paläste. Davon legen die Basreliefs in
Palenque wie die von Lorillard und Tikal ein vollgültiges
Zeugniß ab.
Nach Pucatan sind, wie Charnay sich überzeugt hat,
die Toltcken von Süden gekommen; und damit wird auch
der eigentliche Grund offenbar, warum gegen das Jahr
1440 die Stadt Chichen-Jtza von ihren Bewohnern ver-
lassen wurde: obwohl Nebcngründe dabei mit im Spiele
waren, so war doch das Hauptmotiv die noch lebendigen
Ueberlieferungen von Städten, die ihre Voreltern im Süden
der Halbinsel gegründet hatten. Tikal, das danials vielleicht
noch existirte, mußte der Mittelpunkt dieser Gründungen
sein, mit denen die Kaziken wohl noch einige Verbindung
unterhielten, und als die Wanderung nach Süden begann,
so war es gleichsam ein Instinkt, der sie zur Rückkehr in
ihre alten Sitze antrieb.
Co bau, im Herzen Guatemalas gelegen, wurde noch
von keinem Reisenden besucht und ist uns nur durch die
Mittheilungen bekannt, welche der
Pfarrer von Santa Cruz bei Quickst;
an Stephens machte; nach Charnay's
Ansicht muß cs eine Station desjenigen
Zweiges der Toltcken gewesen sein,
welcher noch weiter nach Osten vor-
drang und in der Provinz Chiguimula
die Städte Copan (an der Grenze des
heutigen Honduras) und Ouirigua
gründete. Zur Zeit der Conquista
blühte Copan noch, wie Utatlan,
Jtatlan, Xelahu, Patinamit und andere
Orte Guatemalas, die Alvarado zer-
störte; 1530 wurde Hernández de
Chaves, einer seiner Lieutenants, mit
der Eroberung der Stadt beauftragt.
Juarros zufolge, der sich auf den
Augenzeugen Francisco de Fuentes
beruft, war der große Circus von
Copan noch im Jahre 1700 unverletzt.
Die merkwürdigsten Denkmäler der
Stadt sind steinerne Idole aus einem
Stücke, wie sie ähnlich auch in Tikal
vorkommen. Copan bietet dieselben
Basreliefs und Gottheiten dar, wie
die bereits beschriebenen Städte, nur
ist es die jüngste unter allen, weil die entfernteste vom
Ausgangspunkte. Stephens hat die Monumente von Copan
nicht verstanden, weil cs Re ersten waren, die er sah; er
glaubte zuerst an eine originale Civilisation, die er mit
keiner anderen zu verknüpfen im Stande war. Er fing
mit dem Ende an, ohne es zu wissen, und konnte nicht
ahnen, daß er es mit den letzten Ausläufern einer alten
Kultur zu thun habe. Später vermuthete er indessen den
wahren Zusammenhang.
Das erste Bild, was wir aus seinem Buche reprodu-
ciren, ist ein schöner Kopf in einem gewaltigen Schlaugen-
rachen, den er für einen König erklärt, während er offenbar,
wie die Attribute, z. B. die verschlungenen Schlangen auf
dem Kopfe, beweisen, den Quetzalcoatl darstellt, Nach dem,
was uns Stephens über die Stadt berichtet, scheinen ihre
Gebäude weniger denen der bisher besprochenen Orte des
warmen Tieflandes (Comalcalco, Palenque, Chichen-Jtza,
Uxmal u. s. w.), als denen der Städte Mexikos und Gua-
temalas, also der ans dem Hochlande gelegenen, zu gleichen.
Dies kommt wohl daher, daß der pacifische (südliche) Zweig
Quetzalcoatl. (Nach Johu Stephens.)
54
Dösirö Charnay's Reise in Jucatan und dem Lande der Lacandonen.
der Tolteken seine Ueberlieferungen aus Anahuac bewahrte
und in Copan, wo er mit dem nördlichen Golfzweige (vergl.
die Karte in der nächsten Nummer) wieder zusammentraf,
in feiner Bauweise wie Lebensart zum Ausdrucke brachte.
Die Götterbilder dagegen zeigen durchweg den uns bereits
bekannten (tzcudal-toltekischen) Stil; nur find cs nicht mehr
Altarplatten, sondern enorme Monolithen von 12 bis 20 Fuß
Höhe, 4 Fuß Breite und 3 Fuß Dicke.
Wir haben schon früher bei Besprechung von Kabah
auf das Bestreben sämmtlicher Stile, auch derer der alten
Welt, hingewiesen, gegen ihr Ende hin in Ueberladung,
Affektation und schlechten Geschmack zu verfallen. Dasselbe
Gesetz befolgen die Tolteken in Copan, wie ein Blick auf die
beiden unten abgebildeten Götzenbilderzeigt; nicht nur allerlei
architektonische Motive und Ornamente, welche frühere
Künstler auf Idole, Basreliefs und Paläste vertheilten,
sondern auch die Götterbilder selber erscheinen hier gehäuft.
So lassen sich an dem von vorn abgebildeten Idole nicht
Idole aus Copan. (Nach John Stephens.)
weniger als vier toltekische Götter oder deren Abzeichen et*
kennen: in der Mitte der große Kopf im Schlangenrachcn
ist Qnetzalcoatl, doch mit den Attributen Tlaloc's; weiter
unten erscheint ein Kranz von Maiskolben, wie er sowohl
der Chalchiutlicne, der Frau Tlalocs, als der Erntegöttin
Centleotl zukommt. Die ersten drei Götter fanden sich
auch in Mexiko oft vereinigt, und ihr Fest wurde an dem-
selben Tage gefeiert. Die Ornamente des Idols finden
bei näherer Vergleichung ihre vollständigen Gegenstücke in
den Bildwerken von Jzamal, Palenque, Lorillard City und
besonders in der Holzplatte von Tikal. — Der Altar, welchen
wir nach Stephens reproduciren, mißt 6 Fuß in der Länge
und 4 Fuß in der Höhe; sein oberer Theil besteht aus 36
Hieroglyphen-Täfelchen (Katnncs). Jede Seite zeigt vier,
in orientalischer Weise aus Kissen sitzende Personen mit
dem gnatemalischcn Turban ans dem Kopfe; es sind das
für uns neue Erscheinungen, die neben alten wohlbekannten
auftreten — ein Beweis mehr dafür, daß in Copan die
* ♦ tut
f.f
Im Lande der Bass.
beiden, vielleicht seit zwei Jahrhunderten getrennten Zweige
des Toltekenvolkes wieder zusammentrafen, nachdem der
eine den Küsten des Meerbusens von Mexiko, der andere
denen des Stillen Oceans entlang gezogen war. Die Per-
Zwei Seiten des guatemalisch
zeichnen, sind rein toltekisch. Besonders aber ist die In-
schrift toltekisch, wie ein Vergleich mit der daneben ab-
gedruckten ans Lorillard City sofort lehrt; aus beiden die-
selben Zeichen mit kaum merklichen Abänderungen. Ein
„Inschrift" des Altars von Copan.
achtete, als die sonstigen Bauten der Einwohner jener Ge-
biete. „Die Ueberlieferung dieser Indianer — schreibt er
— schreibt diese Gebäude Einwanderern ausMkatan zu",
und er hält diese Angabe für richtig, weil der Stil dieser
Monumente mit demjenigen in Hukatan und Tabasco iden-
tisch ist.
sonen sind guiche-toltekisch oder guatemalisch - toltekisch, die
symbolischen Charaktere dagegen, welche theils neben den
Figuren, theils auf deren Kleidern oder Sitzen angebracht
sind und den Namen oder die Eigenschaft einer jeden be-
toltekischcn Altars in Copan.
weiterer Beweis für den toltekischen Ursprung der Reste
von Copan ist ein Brief, den Diego Garcia Palacio 1576
an Philipp II. von Spanien schrieb; er erzählt darin, daß
er die Stadt in Ruinen fand, die er für höherstehend er-
Wir sehcn also in Copan das Ende ciner altcn Kunst
und ihre Vcrmischung mit einer zweiten, gleichfalls alten;
die Vcreinigung beider hatte viclleicht cin neucs Element
in der amerikanischen Civilisation crgeben, wenn dieselbe
nicht dnrch die Ankunft der Spanicr unterbrocheu nnd ver-
nichtct wordcn ware.
I m Land e
H—r- Zu einer Zeit, wo über der Lösung der englisch-
ügyptischen Frage im Sudan noch ein unheimliches Dunkel
schwebt, muß besonderes Interesse durch cin Werk erweckt
werden, welches die Bereisung sudanischer Landstriche
kurz vor dem Ausbruch der jetzigen Unruhen zum
Gegenstände hat. Der Engländer James brachte den
Achter 1881/1882 im Sudan zu, um hier der Jagd ob-
zuliegen, nachdeni er schon vorher zu demselben Sport Wan-
derungen im tropischen Afrika unternommen hatte. Zn
der eben erwähnten Zeit hatte er sein Augenmerk ans das
fast noch unbekannte Land der Base oder Kunama ge-
der Base.
richtet, wohl des nncivilisirtesten Stammes dieser Gegenden,
welcher zwischen der ägyptischen Provinz Taka mit der
Hauptstadt Kassala und dem nördlichen Theile Abessiniens
wohnt. Der Typus der Bas« ist im Vergleich zu dem
der Nachbarstämme cin besonderer; unter anderem ist ihre
Hautfarbe dunkler, mehr zu der des reinen Negers hin-
neigend. Wenn sich nun auch James selbst in seinem
Werke „The wild tribes of the Soudan“ (London 1883)
keineswegs als Ethnologen oder naturwissenschaftlichen
Reisenden bekennt, sondern die Reise in der Hauptsache als
einen interessanten Jagdzug schildert, so enthalten seine Be-
56
Im Lande der Bass.
schreibungen doch viele werthvolle Notizen über Land und
Leute. Ein Versuch, in das wegen seines Reichthums an
Jagdwild als Reiseziel gewählte Gebiet vorzudringen,
wurde von den ägyptischen Beamten in Kairo, denen James
seine Reisepläne vortrug, für unmöglich gehalten, da die
Bas« als ein feindseliges, verrätherisches Volk gelten und
der einzige von früher her bekannt gewordene gleiche Ver-
such gleichfalls gescheitert war, indem der Engländer Powell
mit Gattin und Kind bald nach dem Ueberschreiten der
Grenze von den Basv verrätherisch hingemordet wurden.
Der Reisebericht von James zeigt, daß die einzigen
Schwierigkeiten in dem ersten Eindringen in das Gebiet
der Baso sowie in der Ueberwindung des Argwohns der-
selben lagen, ob die Expedition auch nur einen friedlichen,
besonders keinen politischen Charakter habe; durch Vorsicht
und richtiges Auftreten gelang es leicht, diese Schwierig-
keiten zu beseitigen.
Die Expedition bestand außer aus James und seinen
zwei Brüdern noch aus vier Engländern, Aylmer, Colvin,
Philipps und einem Arzt, welche alle bis auf zwei schon
Reisen in diesen Klimaten gemacht hatten, ferner wurden
als Diener ein Engländer und zwei Schweizer, Jules
Bardet und Anselmeir, sowie vier Eingeborene mitgenommen.
Am 1. December 1881 brachen die Reisenden von Kairo
auf, am 7. December schifften sie sich von Suez nach Suakin
ein, wo sie am 11. December anlangten.
Der Aufenthalt daselbst wurde zur letzten Ausrüstung
der Expedition, besonders zur Beschaffung von Kameelen
benutzt, die theils gekauft, theils für den Preis von
51/2 Dollars für die Reise bis Kassala, also auf die Ent-
fernung von 280 engl. Meilen, gemiethet wurden. Auch
einzelne Pferde waren als Reitthiere angeschafft worden,
doch bewährte sich das Kameel mehr als jene, und ist auch
auf die Dauer weniger ermüdend zu reiten. Die Kameel-
treiber waren meist aus dem Stamme der Hadendowa,
die langes, auf dem Scheitel aufrecht hochgebundenes Haar
von wolliger Textur, welches vom Hinterhaupte in Flechten
bis auf die Schulter herabhängt, tragen; über dem Ganzen
liegt eine Schicht Fett, welches in besonderen Fällen, z. B.
bei Heirathskandidaten, mit Sandelholz roth gefärbt ist.
Ueberhaupt ist das Haar bei allen arabischen Stämmen,
die sich durch kleine Merkmale in der Tragweise desselben
leicht von einander unterscheiden lassen, ein Gegenstand
großer Eitelkeit, und wird in der Hauptsache noch so ge-
tragen, wie wir es auf den Darstellungen der alten Aegyptcr,
auf antiken Tempelbauten und Gräbern sehen.
Zur Reise von Suakin nach Kassala standen drei Wege
offen: der eine folgt im Allgemeinen dem Laufe des etwas
südlich von Suakin ins Rothe Meer einmündenden Chor
Baraka (Chor ist ein Fluß, der nur in der Regenzeit
fließendes Wasser führt, während der Bahr nie verstecht),
ist zwar weiter, aber schattiger und wasserreicher als die
übrigen. Die zweite Straße geht weiter westlich einer
Hügelkette entlang, hat zwar auch reichlich Wasser, ist aber
wegen des steinigen Bodens für beladene Kamcele schwer
passirbar. Die dritte von den Reisenden gewählte Straße
liegt zwischen beiden und hat vor beiden den Vorzug der
größeren Kürze, weshalb sie auch zur Anlage der Telegraphen-
leitung gedient hat.
Nur in der Zone der Küstenregen, etwa 20 bis 30
englische Meilen landeinwärts von Suakin fand sich in Folge
des Regens aufgeschossenes Gras, später wurde die frische
Vegetation seltener. Ein furchtbarer Sandsturm bei einer
Temperatur von 113° F. (36° R.) erschwerte sehr das Fort-
kommen und legte sich erst nach mehreren Tagen. Auf der
24tägigen Wanderung bis Kassala erkrankte der schweizer
Diener Jules Bardet an Dyssenterie, wurde aber mit
vielen Schwierigkeiten mittels einer nothdürstigen Lagerungs-
vorrichtung ans einem Kameel bis nach Kassala gebracht,
wo er starb. Schaudererregend ist die Schilderung von
Todesfällen in der Wüste, wie sie oft und meist nur als
die Folge der Indolenz und Gleichgültigkeit der Eingeborenen
gegen menschliches Leiden vorkommen. So fand z. B. die
Expedition mitten in der Wüste zwei Araber, Brüder, von
denen der eine in den letzten Zügen lag, und auch kurz nach
dem Auffinden starb. Sie waren in Mekka gewesen und
im Begriff, in die Heimath zurückzukehren, setzten aber, um
das am Heimwege liegende Dschiddah, wegen der dort
herrschenden Cholera zu meiden, nach der afrikanischen
Küste über, wo sie ungefähr 100 Miles südlich von
Suakin landeten. Um der hier für alle Provenienzen aus
Arabien vorgeschriebenen Quarantäne zu entgehen, be-
schlossen sie, obgleich mittel- und proviantlos, den Weg durch
die Wüste zu machen, wo man sie in der desolatesten Lage,
den einen von ihnen als ein unrettbares Opfer des Hungers
und Ermattung fand. Noch ensetzlicher sind aber die nicht
weniger häufig vorkommenden Fälle des rücksichtslosen
Znrücklassens einzelner Unglücklicher mitten in der Wüste,
wenn sie durch Krankheit oder Schwäche den Anstrengungen
des Marsches nicht mehr gewachsen sind. Unter einer An-
zahl von arabischen Mekka-Pilgern, welche sich den Reisenden
angeschlossen hatten, war eine Frau, die überhaupt schlecht
zu Fuß war und schließlich, als sie sich nicht mehr weiter-
schleppen konnte, mit Zustimmung ihres Mannes allein
und ohne alle und jede Nahrung zurückgelassen wurde, um
so zu sterben. Wenn die Araber es nur eines Wortes
werth gehalten hätten, so würde die Unglückliche aus einem
Kameel mit Leichtigkeit haben mitgenommen und vor ihrem
schrecklichen Schicksale bewahrt werden können; so aber er-
fuhren die Reisenden erst später und ganz gelegentlich davon
und konnten zu ihrer Rettung nichts mehr beitragen. Von
dieser Verachtung des Lebens und der Gleichgültigkeit gegen
das Leiden anderer beobachtete James auch ans früheren
Reisen mehrere Beispiele. Während der Wüstenwanderung
begegnete nian nur sehr wenig Karawanen, wie diese Straße
zwischen Suakin und Kassala auch wohl nicht als eine
wichtige Verkehrsader für den Handel nach dem Sudan an-
gesehen werden kann.
Am 7. Januar 1882 langte man in Kassala an,
der größten Stadt im ägyptischen Sudan, mit einer Ein-
wohnerzahl von 15 000 Seelen außer einer ansehnlichen
Garnison. In der überaus fruchtbaren Umgebung der
Stadt gedeiht besonders Baumwolle in vorzüglicher Qualität,
doch lähmt die dem Eingeborenen eigene Trägheit und
Apathie, sowie die durch die hohen Transportkosten bedingte
Erschwerung der Ausfuhr eine sede Arbeit, die auf mehr
als den allernöthigsten Lebensunterhalt hinauszielte. Kassala
war damals das Hauptquartier einer deutschen Gesellschaft,
welche die Erwerbung und den Fang lebender Thiere für
zoologische Gärten und Menagerien betrieb I. Nachdem
hier noch eine Anzahl Leute als Diener für einen Monats-
lohn von 4 Dollars und freie Station engagirt war, so
daß die Zahl der Diener jetzt 14 betrug, erfolgte am
17. Januar 1882 der Abmarsch von Kassala nach Süd-
osten. Dem Drängen eines arabischen Schecks, der den
Reisenden auch sonst seine Unterstützung zu theil werden
ließ, nachgebend, mußten diese vier berittene Araber als
Eskorte gegen Bezahlung von 25 Dollars pro Monat und
*) Gemeint ist wohl die Hagenbeck'fche Expedition, von
welcher Josef Menge s Karte und Beschreibung in Peter-
mnnn's Mittheilungen 1884, Heft 5 veröffentlicht hat.
Im Lande der Bass.
57
Kopf mitnehmen, wovon einer sich durch die Kenntniß der
Sprache der Bass nützlich machen konnte. Nach vielfachen
Jagdabenteuern, in deren Beschreibung sich James als
passionirter Nimrod sedesmal ausführlich ergeht, und einem
mehrtägigen Aufenthalte in den Ortschaften Haikota und
Toadelook (bei Mengcs Todluk) gelangten die Reisenden
am 31. Januar in das Gebiet der Basa, fanden aber das
erste Dorf derselben von den Bewohnern verlassen; denn
wie sic ihren Nachbaren stets Schrecken einflößen, so fürchten
sic sich auch zunächst vor jedem Fremden; „sie sind jedes
Menschen Feind und jeder ist ihr Feind." Während des
Wcitcrwanderns sah man auf allen Höhen Feuer brennen,
offenbar Signale, die die Anwesenheit von Fremden im
Lande verkünden sollten. In der Nähe eines größeren
Dorfes, Kulnku, wurde das Lager aufgeschlagen und nun-
mehr versucht, mit den hier wohnenden Baso Verhandlun-
gen anzuknüpfen, welche sie der freundschaftlichen Absichten
der Reisenden versichern sollten. Eine Deputation von
ihnen, der Sohn des Schecks und drei andere Honoratioren
kamen zum Lager hinaus, bewaffnet nur mit Speer und
Schild, dabei aber so exccssiv einfach und anspruchslos ge-
kleidet, wie man cs überhaupt nur für möglich halten kann;
ein schmutziger Fetzen baumwollenen Stoffes um die Hüften
mit einer Unterlage von Leder war alles. Und doch waren
dies die Honoratioren des Dorfes und es zeigte sich später,
daß die Leute von niederem Range sich nicht einmal soweit
wie diese in bezug ans Kleidung verstiegen. Geschenke
von Kattun an die Abgesandten erweckten größte Freude
und ein mit kleinem silbernen Zierrath besetztes Stückchen
Sammt gewann das Herz des Sohnes des Schecks voll-
ständig; er begleitete denn auch die Reisenden während
ihres ganzen Aufenthaltes im Lande der Baso und bewies
stets die größte Treue und Ergebenheit. Obgleich aus
edlem Blute stammend, hielt er keine Arbeit für zu gering,
und er unterzog sich allen Dienstleistungen, wie Messer-
reinigen , Holz- und Wasserholen u. s. w. freiwillig aufs
eifrigste. Als er später von den Reisenden schied, ging es
diesen nicht weniger nahe als ihm selbst. Es dauerte nicht
lange, daß sich auch die übrigen Dorfbewohner allmählich
im Lager einfanden, darunter auch Weiber, die meist gleich-
falls ganz unbekleidet waren, nur wenige mit einem schürzen-
artig getragenen Stück Fell versehen; außerdem trugen
aber alle Perlen- und Muschclketten. Es fiel bei diesem
ersten Zusammentreffen mit den Baso eine bei diesen nnd
auch bei anderen Stämmen am Weißen Nil übliche sonder-
bare Art von Ruhestellung auf, die darin besteht, daß die
Sohle des rechten Fußes gegen das linke Knie gestemmt
wird und der Betreffende auf dem linken Beine steht, sich
dabei auf einen anderen, in gleicher Stellung Stehenden,
oder auf einen Speer stützend, eine Stellung zum Ausruhen,
wie sie den Europäern wenig bequem erscheinen wird. Auch
einige ihrer Sonderbarkeiten beim Essen konnten die Reisen-
den beobachten, als sic ihnen einiges erlegtes Jagdwild über-
ließen. Die Procedur des Essens ist nichts weniger als
appetitlich anzusehen; sie verzehren auch von großen Thieren
alle Weichtheilc bis auf die Haut und essen die Leber als
Leckerbissen roh, nachdem sie den Inhalt der Gallenblase
über das Organ ausgedrückt haben; außerdem ziehen sie
angefaultes Fleisch dem frischen vor. Abends wurde eine
kleine Vorstellung mit einer Latcrna magica gegeben, die
wie auch späterhin häufig genug die Wilden über alle
Maßen entzückte und alles Mißtrauen beseitigte. Als nach
mehrtägigem Aufenthalte die Wanderung fortgesetzt wurde,
traf man öfter auf einzelne Trupps Bass, die aber meist
vor den ihnen unbekannten Weißen die Flucht ergriffen.
Hierbei zeigte sich der Ruf „maiidah" stets als von geradezu
Globus XLVII. Nr. 4.
zauberhafter Wirkung, das Wort läßt sich nicht genau
definircn, scheint aber ungefähr „wie geht's Euch" und
„wir sind Freunde" gleichzeitig zu bezeichnen und die Be-
deutung eines Talisman zu haben: die so Angerufenen
kehrten stets sofort zurück und boten den Fremden von ihrem
berauschenden Getränk, einer aus Durrahirse gebrauten Art
Bier an. Sie bewahrten dieses, wie alle Getränke, in
Körben, welche die Weiber aus Palmblättern sehr zierlich
und sauber, vor allen Dingen auch wasserdicht, geflochten
hatten, auf. In eben solchen Körben schleppen die Weiber
auch das Wasser, welches stets in einiger Entfernung von
ihren Dörfern zu haben ist, herbei.
Beim Passiren eines verlassenen Dorfes, dessen Bewohner
von den eigenen Stammcsgenossen aus einer benachbarten
Ortschaft vertrieben waren, wie dies öfter dort geschieht,
gewahrte man in einigen Hütten auch Kochgcfäße, Trink-
becher und roh gezimmerte Bettstellen. Mit den: Scheik
des Dorfes Mai - Daro (am Flusse Mareb oder Gasch)
wurde ein Frcundschaftsbund geschlossen; des Ceremoniel
dabei bestand darin, daß jener sein Schwert in die Erde
stieß und seinen Fuß so daran legte, daß die Klinge zwischen
der Fußsohle und der Sandale stak, dann legte er die Hand
auf den Schwcrtgriff und sprach seine Friedens- und
Freundschaftsbetheuerungen aus.
Die Reiseroute lag längs des Flusses Gasch, der, in
Abessinien entspringend, nur während der Regenzeit fließt
und zwar dann als breiter reißender Strom, dessen Wässer
aber niemals das Meer erreichen, sondern sich im Sande
der Wüste verlieren. Es ist dies derselbe Fluß, der von
den Arabern des Sudan Gasch, von den Abessiniern Mareb
und von den Bass Sonah genannt wird. Die Temperatur
nahm um diese Zeit einen intensiv heißen und trockenen
Charakter an; es war im Schatten stundenlang 85 bis
950 F. (24 bis 280 R.), und in der Sonne stieg das Ther-
mometer zuweilen bis auf 164° F. (circa 49,5° 9Í.), wäh-
rend das gewöhnliche Maximum 150 bis 158° F. (38,6
bis 42,5°R.) betrug. Dem gegenüber waren die Nächte
besonders gegen Morgen sogar kühl, indem die Temperatur
bis auf 4 bis 8°R-, einmal sogar bis auf 2°N. sank; für
den Menschen ist diese Abkühlung nur von angenehmer
Wirkung, da der Körper sich gleichsam von der Hitze des
Tages erholt. Der Thau war dabei häufig so stark, daß
es morgens so feucht wie nach einer Regennacht aussah,
weshalb die Reisenden auch stets unter Zelten schliefen.
Bei einem der täglichen Jagdausflüge sahen sie ein er-
greifendes Bild menschlichen Elends: sie fanden einen alten
Bass, siech und am ganzen Leibe mit grauenerregenden
Geschwüren bedeckt, der als Aussätziger der Sitte des Landes
gemäß von seinem Stamme ansgestoßen, allein umherirrte
und hungrig üder die Eingeweide einer erlegten Antilope
herfiel. Die die Reisenden begleitenden Bass schreckten vor
jeder Annäherung an den Unglücklichen zurück und waren
entsetzt, als jene ihm die besten Stücke des Thieres über-
ließen.
Man war inzwischen in die Nähe der abcssinischcn
Grenze gekommen und mußte dies leider schmerzlich
empfinden. Bei einem Jagdausfluge nämlich, der in ein-
zelnen getrennten Partien unternommen wurde, wurden
zwei der Jäger mit ihren eingeborenen Dienern von einem
großen Trupp aus dem abessinischen Stamme der Dem-
belas feindselig überfallen und als sie angesichts der Nutz-
losigkeit jeder Gegenwehr der großen Masse gegenüber
Freundschaftsbezeugungen bekundeten, zwar selbst verschont,
aber ihrer Gewehre und eines Pferdes beraubt, während
außerdem einer der arabischen Diener, fliehend, durch Speer-
würfe so schwer verwundet wurde, daß er nach einige
8
58
Im Lande der Bass.
Tagen qualvollen Leidens starb. Bei dieser Gelegenheit
spricht James über den Werth der mitgenommenen Arznei-
mittel in diesen Gegenden. Eine wohlgcfüllte Arzneiliste,
sagt er, ist oft für den Reisenden in uncivilisirten Gegenden
von größerem Nutzen als ein Revolver, denn nichts ge-
winnt das Herz eines afrikanischen Wilden mehr als eine
tüchtige Dosis stark und rasch wirkender Medicin; eine herz-
hafte Dosis Crotonöl und Coloquinten (starke Abführmittel)
oder Brechweinstein liebt er ganz besonders, vor Schneiden
hat er um so mehr Respekt. Stellenweise, z. B. in
Kassala, wurde der Arzt der Expedition von circa
200 Menschen täglich konsultirt, denen er unter anderem
besonders sogenannte Holloway-Pillen (an Wirkung und
Reklame wohl ähnlich den Brandt'schen Schweizer Pillen)
verabfolgte. Diese Pillen sind im Sudan so populär, daß
James keine Reise in diesen Gegenden ohne einen reich-
lichen Vorrath davon unternehmen mochte.
Es wurde jetzt nöthig, verschiedene Vorräthe an Lebens-
rnitteln rmd besonders auch die Zahl der Kameele wieder
zu ergänzen, von welchen letzteren aus der bisherigen Reise
mehrere gefallen waren. James machte sich daher mit
einigen schwarzen Dienern auf den Weg nach Amideb,
mehrere Tagereisen nördlich gelegen und unter ägyptischer
Hoheit stehend. Es ist dies ein elender Ort, mehr nur ein
militärischer Posten mit 800 Mann Garnison und einigen
Geschützen, mit den übrigen Städten des Sudan telegraphisch
verbunden.
Hierher war die Kunde von dem Unfall der Reisenden
an der abessinischen Grenze bereits gedrungen, doch so un-
bestimmt und unklar, daß James fürchtete, das Ereigniß
werde durch die Weiterverbreitung des Gerüchtes in seinen
Folgen schlimmer dargestellt und schließlich als ein ganz
tragisches Schicksal der Expedition in englischen Blättern
bekannt gemacht werden. Um dies möglichst zu verhüten
und den Seinigen in der Heimath direkte Nachricht zu
geben, telegraphirte er an ein bekanntes Haus in Kairo,
von wo ans das Telegramm einer früheren Abmachung
gemäß an einen Freund in London weiter befördert
werden sollte. Durch eine fatale Verwechslung aber wurde
von Kairo aus unter James' eigener Adresse nach London
weiter telegraphirt und sein dortiger Hausverwalter hatte
nichts eiligeres zu thun, als diese Depesche uneröffnet mit
anderen Briefschaften seiner Instruktion gemäß nach Massawa
zu schicken, wo James sie später auf seinem Rückwege in
die Heimath vorfand. Ein direkter telegraphischer Verkehr
aus dem Sudan nach London existirt nicht. Nachdem mit
vieler Mühe und für schweres Geld einige Kameele und
ein Vorrath der als Futter für dieselben höchst wichtigen
Durrahirse erstanden waren, trat man den Rückmarsch zu
deni Hauptlager der Expedition und dann mit dieser vereint
den Weitermarsch an. Ein Uebelstand hierbei war, daß
die Basä abweichend von den übrigen Stämmen gar keinen
Zusammenhalt, daß die einzelnen, oft nur wenige englische
Meilen von einander entfernten Ortschaften weder befreundete
noch verwandtschaftliche Beziehungen unter einander haben,
und die Reisenden immer wieder von neuem anfangen
mußten, sich die Wilden zu Freunden zu machen. Aus dem
eben angeführten Grunde sind Ehen unter nahen Ver-
wandten sehr häufig und werden auch als selbstverständlich
betrachtet, so daß es z. B. auch nicht weiter auffiel, daß der
Scheck eines Dorfes feine eigene Schwester geehelicht und
mehrere Kinder mit ihr erzeugt hatte.
Nachdem bisher meist der Lauf des Flusses Mareb die
Richtung der Reise angegeben hatte, beschlossen die Neisen-
dcn nunmehr, andere Jagdgründe aufzusuchen und kehrten
zunächst nach Haikota zurück, um sich mit neuen Vorräthen
besonders an Brot, Zucker, Lichtern u. s. w. sowie mit
noch einigen Kameelen zu versehen. Von letzteren waren
ihnen bisher sieben gestorben und fünf andere mußten sie
als krank in Haikota zurücklassen, wo sie später noch starben.
Kameele sind überhaupt difficile Thiere; sind sie sandiges
Terrain gewöhnt, so werden ihre Füße bei steiniger Boden-
beschaffenheit leicht unbrauchbar, den aus heißeren Strichen
stammenden bekommen die kühlen Nächte nicht, und die an
Grasnahrung gewöhnten vertragen kein aus Baumlaub
bestehendes Futter und umgekehrt, dabei sind sie so stupide,
daß sie sich nicht selbst die ihnen zusagende Nahrung suchen,
sondern stets zu derselben hingeführt werden müssen; selbst
Giftpflanzen vermögen sie aus eigenem Instinkt nicht zu
meiden. Am Mareb verloren die Reisenden mehrere Ka-
meele infolge des Genusses einer von den Eingeborenen
Kikabit genannten Schmarotzerpflanze. Zu allem dem
kommen noch die Folgen nachlässiger oder übermäßiger Be-
ladung, um wieder diese Thiere für eine Zeit gcbrauchs-
unfähig zu machen. Viele Krankheitszustündc, denen sie
unterworfen sind, werden von den Eingeborenen unter dem
Namen Guffer zusammengefaßt, ohne daß darunter ein be-
stimmtes Krankheitsbild gemeint ist; manchmal geht Guffer
mit Konvulsionen und anscheinend großen Schmerzen ein-
her; die einen halten es für ansteckend, andere nicht, wieder
andere führen das Leiden auf den Biß der Tsetse-Fliege
während der Regenzeit zurück. Trotzdem giebt James dem
Kamcel auch als Reitthier in diesen Gegenden den Vorzug,
auch weil auf die Dauer das Reiten darauf weniger er-
müdend sei als auf Pferden und es sich durch eine kleine
Portion Durra in gutem Zustande erhalten läßt.
Von Haikota wurde nun eine südliche Richtung nach
dem Flusse S ettit hin eingeschlagen, zu welchem der Weg
durch eine öde, monotone, oft meilenweit nur von niedrigem,
12 bis 18 Fuß hohem Nadelholz bestandene Gegend führte.
Auch der Fluß selbst bot an der Stelle, wo man zuerst an
ihn gelangte, ein ödes Bild und trotz des großen Reich-
thums an Fischen beschlossen die Reisenden wegen des zu
spärlichen Jagdwildes weiter flußabwärts zu wandern, um
bessere Jagdgründe aufzusuchen. Die letzteren fanden sie
denn auch in der Nähe der Ortschaft Om Hagar und
zwar in einer Weise, daß James mit wahrer Begeisterung
von dieser Zeit spricht; aus seinem wörtlich mitgetheilten
Tagebuche über den Aufenthalt in diesem Landstriche (zwischen
dem 14.und 15.Grade nördl.Br. und dem 36. und 37. Grade
östl. L. von Greenwich gelegen) kann man allerdings auf
einen erstaunlichen Reichthum und große Mannigfaltigkeit
des Jagdwildes schließen. Antilopen, Büffel, Strauße und
kleinere Vogelarten waren die gewöhnliche, Löwen, Fluß-
pferde, Krokodile, Elefanten die oft genug, wenn auch selte-
ner vorkommende Jagdbeute. Das Fleisch wurde meist,
soweit es nicht zum eigenen Bedarf nöthig war, den Wilden
überlassen, vom Flußpferde wurde nicht nur das in Streifen
geschnittene und getrocknete Fleisch mitgenommen und ge-
legentlich gekocht genossen, sondern auch das Fett des Thieres
als sehr willkommener Ersatz für Butter verwerthet, zumal
letztere in diesen Gegenden, infolge ihrer Aufbewahrung in
schlecht gereinigten Ziegenfellen, einen sehr unangenehmen
Beigeschmack hat. Die Haut desselben Thieres wird von
den Arabern hochgeschätzt, weil sie daraus Peitschen und
zwar angeblich bei richtiger Eintheilung aus einer Haut
gegen 200 Stück herstellen, und schließlich lassen sich auch
die Zähne zu niedlichen Schmucksachen verarbeiten. Bei
diesem vielseitigen Nutzen des Flußpferdes ist es kein Wun-
der, daß ihm eifrig nachgestellt und es deshalb bald in
diesen Gegenden ausgerottet sein wird.
Nunmehr wurde der Rückmarsch angetreten, auf welchem
Kürzere Mittheilungen.
59
man noch das merkwürdige Basädorf Lakatekurah de- !
suchte, welches ans einem mit riesigen Granitblöcken übersäeten
Bcrgabhange liegt. Am Fuße desselben bildet ein Felsen-
thor den Eingang zu einem schmalen Gebirgspfade, welchen
erkletternd man in ungefähr halber Höhe des Berges an
die Hütten gelangt, die einfach aus den durch Uebereinander-
hhürmung von Fclsblöcken entstandenen Höhlen bestehen,
deren Fugen durch Stroh und Reisig verstopft wurden.
In den übrigen Basodörfern, die gleichfalls alle in halber
Höhe an Hügel angebaut sind, fand man aus Zweigen ge-
baute niedrige Hütten mit konisch spitz zulaufendem Dache
primitivster Art. Die Ortschaften zahlen theils der ägyp-
tischen Regierung, theils dem König von Abessinien Ab-
gaben, selbstverständlich angesichts ihrer Armuth nur sehr-
mäßige. Die Frauen werden ebenso wie Schafe und
Ziegen als Besitzthum betrachtet. Von einer Gottesidee
oder überhaupt von religiösen Vorstellungen fand James
bei ihnen keinerlei Andeutung, doch scheint ein Brauch bei
Begräbnissen auf die Vorstellung von einem Leben nach
dem Tode hinzuweisen; stirbt nämlich ein Bass, so legt
man ihm irgend einen von seinen Lieblingsgenüssen während
des Lebens, etwa Früchte vom Baobabbaume, Tabak u. s. w.
auf das Grab; sind dieselben nach einiger Zeit durch Wind
oder auch durch menschliche Beihilfe verschwunden, so nimmt
man an, daß der Geist des Todten sie an sich genommen
und mit den Seelen der Nachbargrübcr getheilt habe. Geht
das Verschwinden aber unerwartet rasch vor sich, so glaubt
man, daß die Geister anderer Verstorbener in den daneben
liegenden Gräbern sich die Gegenstände angeeignet haben,
weil sie schon lauge auf derartige Genüsse haben warten
müssen, und man veranlaßt dann deren Angehörige, mehr
Fürsorge für die Manen ihrer Verwandten aufzubieten.
Die Formalität, mittels welcher ein Basahäuptling mit
einem andern ein Bündniß schließt, schildert James folgen-
dermaßen: cs wird eine schwarze Ziege geschlachtet und
derselben von jedem der beiden abwechselnd ein Auge heraus-
genommen, ein Hinter- und ein Vorderbein abgetrennt;
eine Andeutung, daß ein Bruch des Bündnisses für den
Schuldigen den Verlust des einen oder anderen der genann-
ten Organe zur Folge haben werde. Eine Art Gottes-
gericht für Diebe besteht darin, daß dieselben zu einem
bestimmten, für heilig geltenden Baume in der Nähe des
Dorfes geführt werden, von dem sie ohne irgend ein Werk-
zeug nur mit Hilfe der Finger ein Stück Rinde abzureißen
haben; der Baum ist meist so gewählt, daß dies geradezu
unmöglich und das Urtheil des Verbrechers von vornherein
bestimmt ist.
Ueber den Ursprung der Basa brachte James nur sehr
Unbestimmtes in Erfahrung. Sie sollen, wie die meisten
Bewohner des Sudan, aus Arabien nach Afrika ciugewan-
dert sein, überhaupt nur in der Nähe von Kassala noch
etwa 20 bis 30 Familien als die einzigen direkten Nach-
kommen der Ureinwohner des Sudan existiren. James neigt
sich trotzdem mehr der Ansicht zu, daß die Basa zu den Ur-
einwohnern des Landes zu rechnen seien, wohl besonders im
Hinblick auf die viel dunklere Hautfarbe gegenüber der der
Nachbarstämme.
Die Heimwandernng ging über Amidcb in östlicher
Richtung nach Massaua zu, wobei man im ersteren Orte
durch die Möglichkeit, im Laden eines griechischen Kauf-
mannes deutsches Bier zu genießen, sehr überrascht wurde.
Der Weg führte an dem Berge Tschad-Amba vorbei, den
James im Jahre vorher als der erste Europäer bestiegen
hat. Es ist ein isolirter, steil ansteigender Bergkegel, auf
dessen höchster Spitze acht abessinische Mönche wohnen, die
niemals in die Ebene hinabsteigen, so daß einige derselben
schon seit 40 Jahren den Berg nicht verlassen haben sollen.
Ihre Nahrung soll hauptsächlich aus Feigen und Brot be-
stehen. In Senhit oder Keren besuchte man die Missions-
station des Ordens der Lazaristen, die durch sieben Brüder
und neun Schwestern dort vertreten sind. In vollständig
europäisch angelegten und eingerichteten Baulichkeiten wohnen
hier 150 meist abessinische Kinder, empfangen Nahrung
und Kleidung und werden erzogen und unterrichtet; außer-
dem wird die Schule allein noch von ca. 500 Kindern,
meist aus Senhit, besucht. Die in der Anstalt aufgenom-
menen Kinder werden in der Regel ihrer Mutter abgekauft,
so auch am Tage der Anwesenheit unserer Reisenden ein
zwei- bis dreijähriger Knabe für den Preis von drei
Dollars.
Am 15. April gelangte man in die Küsteustadt Massaua
am Rothen M^ere, wo man die Kamcclc verkaufte, die
mitgenommenen eingeborenen Diener tiach Abfütterung mit
einem langst versprochenen Ochsen entließ und sich dann
nach Suez einschiffte. Hier ging die Reisegesellschaft theils
nach England, theils nach Indien aus einander, nachdem
als Rendezvous für den darauf folgenden Winter Mexiko
bestiutmt worden, jedoch in der festen Absicht, in Bälde auch
die gesegneten Jagdgesilde des Sudan wieder zu durch-
streifen.
Kürz ere Mi
Paul Höfer über den Feldzug des Germanicus im Jahre 16.
Eine hoch interessante ergebnißreiche Schrift, auf welche
wir unsere Leser aufmerksam machen möchten, ist Dr. Paul
Höfer's „Der Feldzug des Germanicus imJahre
16 n. Chr." (Gotha 1884). Nicht nur die historische Auf-
fassung dieses römischen Rachezuges wird eine andere als
die bisher gültige, auch für die alte Geographie erwachsen
"eue Resultate. Die einzige Quelle für jenen Zug ist be-
kanntlich Tacitus, der hier, wie Höfer nachweist, ausschließlich
eine dichterische Quelle, ein Gedicht des Pedo Albinovanus
benutzt hat, der den Germanicus zu dem ausgesprochenen
Zwecke begleitete, seine in Germanien zu vollbringenden
Heldenthaten zu besingen. Aus des Tacitus eigenen Worten
t t h e i l ll n g e ii.
aber folgert Höfer, daß der römische Prinz seinen Zweck nicht
erreicht hat, vielmehr von den Cheruskern zum Rückzüge ge-
zwungen worden ist, und daß Kaiser Tiberius vollkommen
im Rechte war, auf den Prinzen ungehalten zu sein und ihn
abzuberufen. Der Verlauf des Feldzuges, der die Nieder-
lage des Varus rächen sollte, ist nach Höfer kurz folgender.
Um die Waldgebirge, die seinem Vorgänger verhängnißvoll
geworden waren, zu vermeiden, fuhr Germanicus die Ems auf-
wärts und näherte sich dem Cheruskerlande von Nordwesten
her. Nördlich vom heutigen Meppen trat er den Landmarsch au,
und zwar wahrscheinlich über die Höhe des Hümling, bei
Bühren über die Hunte und dann den sogenannten „Folke-
wech" über Mellinghausen bis Sebbenhausen au der Weser
und auf deren linkem Ufer aufwärts bis Minden, wo er ein
60
Kürzere Mittheilungen.
Lager aufschlug. Möglich, daß der Name Minden aus
munitio, der lateinischen Bezeichnung für Lager, entstanden
ist; wenigstens erwähnt Ptolemäus in jener Gegend einen
Ort Munition. Der erste Zusammenstoß mit den Cheruskern
fand auf der Wiese Jdistaoiso statt, welche Höser mit
großer Lokalkenntniß in der Porta Westfalica selbst wieder-
erkannt hat, und zwar ist es die Uferebene zwischen Weser
und Wiedegenberg, dem linken, westlichen Pfeiler der Porta,
der jetzt irrthiimlich in Wittekindstein umgetauft ist. Dort
sowohl als auf dem gegenüberliegenden Berge, dem Tönies-
berge (jetzt Jakobsberge) wurde Dounar verehrt, den die
Römer mit Herkules identificiren; eine Reihe von Sagen
weisen darauf hin, und Donnar selbst soll nach altem Glauben
die Porta geöffnet und das Weserthal oberhalb derselben
dadurch trocken gelegt und bewohnbar gemacht haben. In
der Porta Westfalica erkennt darum Höser die „Säulen
des Herkules" wieder, von denen Tacitus in der Ger-
tnania spricht.
Bei Jdistaviso hatte Germaniens die Germanen um-
zingelt , aber diese hatten seine Reihen durchbrochen; nur
weil die Römer das Schlachtfeld behaupteten, konnten sie sich
den Sieg zuschreiben. Daß es ein Pyrrhussieg war, beweist
der Umstand, daß die Römer bald daraus den Rückmarsch
nach Westen antraten. Denn die Germanen greifen sie zum
zweiten Male am Grenzwalle des Angrivaren-
land es an und dieses war an der Hunte gelegen, im
Rücken der Römer, als diese in Minden lagerten. Auch
hier gelingt es Germaniens, durch Verrath unterstützt, den
Plan der Germanen zu vereiteln und am Abende des Schlacht-
tages ein befestigtes Lager zu errichten und zu beziehen.
Dann aber wurde ihm der Boden Germaniens zu heiß, und
er kehrte zur Ems zurück, um noch zuletzt durch einen Nord-
seesturm schwer zu leiden. Den Angrivarenwall will nun
Höser, durch genaue Lokalkenntniß geleitet, beim heutigen
Wehrendorf (nordöstlich von Osnabrück, unweit Osterkappeln)
wiederfinden, eine Lokalität, die allerdings der Beschreibung
bei Tacitus sehr befriedigend entspricht. Dort waren die
Römer wie in einer Falle gefangen: zur Linken hatten sie
das 170 bis 200 m hohe Gebirge, die westliche Fortsetzung
des Wiehen-Gebirges, zur Rechten die Hunte, vor sich den
Angrivarenwall und im Rücken die feindliche Reiterei. Von
Verräthern gut bedient, konnte Germaniens einen Theil
seines Heeres über das Gebirge hinweg den Deutschen in
den Rücken senden und aus der Klemme entkommen. Sein
dortiges Lager sucht Höser in dem Gutshofe Wahl bürg,
dessen Name noch au jene Zeiten erinnert (Walahbm-c — Burg
der Wälschcn, Römer); derselbe liegt 6km westlich von dem
Punkte, wo die Hunte nach Norden umbiegt. In jener
Gegend bei Barenau, Venne, Hunteburg, Engter, sind nun
schon seit zwei Jahrhunderten (und wahrscheinlich länger)
Münzfunde, fast durchweg den letzten Zeiten der Republik
und der des Augustus angehörig, zu Tage gekommen, ans
welche Höser zuerst wieder hingewiesen hat, und die er mit
dem Aufenthalte des Heeres des Germauicus in Zusammen-
hang bringt.
Diese kurze Inhaltsangabe erschöpft natürlich bei weitem
nicht die mit tüchtiger Methode gearbeitete Höfer'sche Schrift,
die bereits weitere Früchte zu tragen anfängt. Von anderer
Seite wird nämlich die Möglichkeit betont, daß jene Münz-
fnnde von der Varus-Niederlage herrühren könnten, und so
hat die Berliner Akademie den Numismatiker Dr. Menadier
nach jener Gegend entsandt, um die Münzen zu stndiren.
Im Frühjahre sollen dann topographische Studien und Aus-
grabungen folgen.
Die Verwüstung der Wälder in Rußland.
Ueber die Verwüstung der Wälder wird in Rußland
sehr bitter geklagt, da der verderbliche Einfluß unwirth-
schaftlichen Verfahrens sich schon schwer zu rächen beginnt.
Zwar hat nach Lehr's Tabelle in Meyer's Jahressupplement
V, S. 954 das europäische Rußland und Polen immer
noch 194172 000 Hektar Waldfläche und Finland 19 818 000
Hektar, d. h. es waren von der Gesammtfläche des ersten 38,8,
von der des zweiten 66 Proc. mit Wald bedeckt, aber dieser
Wald ist sehr ungleich über das Reich vertheilt. Während
der Norden noch ungeheure Wälder besitzt, nimmt in den
Privatwaldungen Mittelrußlands die Verwüstung schon seit
Jahren ungestörten Fortgang. Der Verbrauch von Holz als
Brennmaterial für die Fabriken ist ein massenhafter; die des
Moskauer Gouvernements sollen 600 000 bis 700 000 Faden
Holz im Werthe von 5 bis 6 Millionen Rubel verbrauchen,
die Eisenbahnen verschlingen jährlich nahezu ebensoviel und
um diesen Bedarf zu decken, müssen jährlich 80- bis 100 000
Desjatinen Wald niedergehauen werden. Von 100000 Des-
jatinen Murowscher Wälder, die einst sprichwörtlich waren,
sind kaum 35 000 geblieben. Aus allen Gouvernements
Mittelrußlands werden bereits bedrohliche Erscheinungen
infolge der sinnlosen Ausrottung der Wälder gemeldet.
Während man früher im Murowschen Kreise Weizen baute,
ist jetzt nicht mehr daran zu denken. Aepfel gab es ehedem
im Ueberfluß, jetzt ist der Apfelbaum beinahe ganz ver-
schwunden und der Kirschbaum wird mehr und mehr zum
Strauch von kaum Mauneshöhe und selbst in dieser Ent-
artung koinmt er seltener vor als früher. Nüsse sucht man
vergebens; früher war im Murowschen die Gewinnung von
Nußöl ein bedeutender Erwerbszweig. Ein Konsulatsbericht
meldet, daß man auf den Demidowschen Gütern im Gouver-
nement Nischni-Nowgorod 1810 arnautischen Weizen, 1840
assyrischen Weizen und 1847 ungarische Gerste säete. Aber
mit dem Jahre 1850 beginnt die Dampfschiffahrt auf der
Wolga und das Abholzen der Wälder; von diesem Zeitpunkte
datirt die Veränderung des Klimas und die verminderte
Ertragsfähigkeit des Bodens. Schon 1853 wird kein assyrischer
Weizen mehr gesäet, jetzt kommen nur noch nordische Arten
fort. 1850 gab der Roggen sechzehufacheu Ertrag, 1855
nur noch zehnfachen, 1860 achtfachen, 1865 sechsfachen und
1870 fünffachen Ertrag. Hafer gab bis 1850 siebenfachen
Ertrag, jetzt 1 Vs fachen; Gerste lieferte bis 1850 achtfachen,
1863 nur noch dreifachen Ertrag, jetzt kommt sie gar nicht
mehr fort.
Aehnliche Erscheinungen machen sich in der Umgebung
Moskaus bemerkbar. Die Sperlingsberge, von denen man
eine so wundervolle Aussicht auf die Stadt hat, zeichneten
sich ehedem durch ihren Reichthum an Kirschen aus und
Aepfel gab es so massenhaft, daß man das Vieh mit ihnen
fütterte. Jetzt sind die Aepfelbäume erfroren und die Kirsch-
bäume zu Sträuchern zusammengeschrumpft. Die Birne
wird bald gänzlich aus Mittelrußland verschwunden sein.
Die Ertragsfähigkeit des Tschernosom, des Gebietes der
Schwarzen Erde, nimmt von Jahr zu Jahr ab, daher sind
auch die Getreideexporte von Odessa, des Ausfuhrhafens für
diese ganze Gegend, seit 1879, wo dieselben aus die enorme
Menge von 15V2 Millionen Hektoliter gestiegen waren, auf
beinahe die Hälfte gesunken.
Auch auf die Flüsse übt der Waldraubbau seine ver-
derblichen Wirkungen. Namentlich die Verseichtung der Wolga
bietet für die wirthschaftlichen Verhältnisse Rußlands eine
große Gefahr. Denn das Bassin dieser Hauptverkehrsader
des Reiches umfaßt 6 823000 Quadratwerst, aus denen
32 364 000 Menschen wohnen. Auf dem Strome werden
jährlich etwa 635 Millionen Pud Güter befördert, deren
Transport gegen 650 Dampfschiffe und etwa 3000 Barken mit
einer Ladefähigkeit von etwa 60 Millionen Pud besorgen.
Die Güter haben einen Werth von 82 Millionen Rubel und
die Transportkosten beziffern sich auf annähernd 23 750 000
Rubel. Die Erhaltung, resp. Wiederherstellung einer ge-
nügenden Tiefe des Fahrwassers ist daher eine gebieterische
Nothwendigkeit, soll nicht dieser blühende Handel vernichtet
werden. Die russische Regierung hat die Gefahren, welche
Kürzere Mittheilungen.
61
durch die rücksichtslose Vernichtung der Wälder drohen, auch
bereits erkannt und daher bereits im Frühjahre 1884 einen
Fachmann aus Petersburg entsandt, um die Ursachen der
Veränderung des Klimas, Verringerung der Ernteerträge
und Abnahme der Wassermenge der Flüsse eingehend zu
untersuchen. Ein Waldschutzgesetz dürfte jedenfalls die Folge
dieser Untersuchung sein.
Die Reise des Panditen A...k durch Tibet.
Vor etwa zwei Jahren drangen die ersten Nachrichten
über eine ergebnißrciche Reise eines indischen Forschers in
die Oeffentlichkeit (vgl. „Globus" Bd. 43, S. 112); aber erst
am 8. December 1884 gab General Walker, der frühere
Surveyor-General von Indien, in der Sitzung der Royal
Geographica! Society darüber eingehendere Aufschlüsse, wie
folgt:
Im Frühjahre 1878 wurde der Pandit A... k mit dem
Auftrage nach Tibet entsendet, die große Hochfläche von Süden
nach Norden zu durchkreuzen und in die Mongolei vorzu-
dringen; der Rückweg sollte längs einer parallelen, jedoch
neuen Linie gesucht werden. Die Ausrüstung eines bud-
dhistischen Pilgers diente dazu, seine Instrumente zu ver-
bergen, reiche Geldmittel ermöglichten ihm, Waaren zu Lhasa
einzukaufen und in der Gestalt eines reisenden Kaufmannes
aufzutreten. Gewarnt durch die Schwierigkeiten, welche
einige Jahre vorher Nain Singh und andere Forscher bei
dem Passiren der von der Regierung von Nepal znr Be-
wachung der nach Tibet führenden Himalayapässe aufgestellten
Wachen gefunden hatten, beschloß er, das genannte Land ganz
zu vermeiden und von Dardschiling durch das östlichste Thal
von Bhutan seine Reise anzutreten. Mit zwei Begleitern
brach er im April 1878 auf und erreichte über Tschnmlei und
Phari Dschong die Route, welcher Boyle 1774, Turner 1783
und Manning 1811 gefolgt waren, die aber seitdem von
keinem Europäer betreten worden ist. Auf einem niedrigen
und bequemen Passe überschritt er den Himalaya und drang
in Tibet über Giangtsche und längs jenes ringförmigen
Sees, der auf allen Karten durch die große, in ihm liegende
Insel ins Auge fällt, nach Chambabardschi, auf dem rechten
Ufer des Sangpoflusses, vor. Diesen überschritt er auf einer
an eisernen Ketten aufgehängten Brücke, die so schmal ist,
daß sie nur einem Manne genügende Breite bietet; hierauf
erreichte er im September Lhasa. Sein Aufenthalt zog sich
in die Länge; er kaufte Waaren und zog Erkundigungen
über die nächste nach der Mongolei aufbrechende Karawane
ein, um sich derselben anzuschließen; die Furcht vor Räubern
verzögerte indessen die Abreise bis zum nächsten Herbst, wo
eine Karawane von der Mongolei eintraf, deren eine Hälfte
sofort den Rückmarsch antreten wollte. Er schloß sich mit
seinen Leuten und einigen anderen Personen, die lange aus
Reisegelegenheit getvartet hatten, dieser Gesellschaft an. Wie-
wohl er ein ganzes Jahr zu Lhasa aufgehalten worden war,
hatte er diese Zeit nicht verloren; eine Aufnahme dieses
tibetanischen Rom mit seinen Tempeln und heiligen Ge-
bäuden und seinem Kloster von Potola, wo der Dalai Lama
residirt, waren die Frucht seines Aufenthalts.
Am 17. September 1879 brach die Karawane auf. Die-
selbe bestand aus etwa 100 Personen, zum größten Theile
Mongolen, von denen viele von ihren Frauen begleitet waren-
Alle Mongolen waren beritten, wie es bei diesem Volke Ge-
brauch ist, dessen Hirten selbst ihre Schafe zu Pferde bewachen.
Die Leute von Tibet gingen größteutheils zu Fuß. Alle
waren mit Speeren, Luntenflinten oder Schwertern bewaffnet,
um sich gegen Räuber zu schützen, deren drohende Nähe sie
in fortwährender Furcht erhielt; während des Marsches zogen
der Karawane Berittene voraus, um vor etwaiger Gefahr zu
warnen; man schloß enge auf, Nachzügler wurden nicht ge-
duldet. Mit Sonnenaufgang wurde aufgebrochen und nur |
am Tage marschirt; bei Nacht sorgte eine Wache von zwei
Mongolen und zwei Tibetanern für die Sicherheit der
klebrigen.
Sechzig englische Meilen von Lhasa wurde der 15 700'
hohe Lani-la-Paß überschritten, worauf die Reisenden sich
aus der Tschangtang genannten Hochfläche befanden, welche
den größten Theil von Tibet einnimmt (die eigentliche Be-
deutung des.Namens ist: nördliche Fläche). Aus einem be-
bauten Lande war man in eine Weidefläche und von ange-
sessenen Bewohnern zu einer nomadischen Bevölkerung ge-
kommen. Man kam an den Gründen vorbei, wo 300 Zucht-
stuten gehalten werden, von deren Milch ein zum Gebrauch
des Dalai Lama bestimmter Branntwein bereitet wird — der
beiläufig gesagt das einzige geistige Getränk ist, dessen diese
erhabene Person sich bedienen darf. Während der ersten 180
Meilen war man an etwa 7000 Zelten vorübergekommen,
während der übrigen 240 Meilen aber, die man auf
dem Tschangtang machte, fand man die Gegend ganz un-
bewohnt; fünf Reiter, die man für Räuber hielt, und die
Mitglieder einer einzigen Karawane, welche aus der Mongolei
nach Lhasa zog, waren die einzigen lebenden Wesen, die man
antraf. Diese Gegend bleibt den wilden Thieren überlassen;
weder aus Tibet noch der Mongolei kommen Nomaden dort-
hin. Die Höhe, auf welcher die Lagerplätze auf derTschang-
tangflüche sich befanden, wechselte zwischen 13 500 und 15 000
Fuß; der höchste Paß, den man überschritt, erreichte 16 400 Fuß.
Er befand sich in der Donglakette, welche die Wasserscheide
zwischen dem oberen Becken des Uang-tse-kiaug und dem
Mekong bildet. Nachdem die Reise in solcher Höhe fünf
Wochen gedauert hatte, kam der Pandit zu einer Kette, welche
die Eingeborenen Angirtakschia nannten. Sie bildet die
nördliche Grenze des Tschangtang und wird für eine Fort-
setzung der Kuön-lün-Kette gehalten. Die Karawane verließ
die Hochfläche durch einen Paß, der genau dieselbe Höhe wie
der Lani-la (durch den man auf dieselbe gelangt war) hatte,
und kam nun in die Ebene von Zaidam; nach wenigen Tagen
war man bis zu einer Höhe von 9000 Fuß hinabgestiegen
und befand sich in einem verhältnißmäßig warmen Klima
und einem gut angebauten und bewaldeten Lande. Man
ruhte einige Tage in Thingkali aus und war im Begriffe,
nach Hoiduthara aufzubrechen, als man von einer Schar
von 200 Räubern angegriffen wurde. Dieselben wurden
zwar zurückgeschlagen, hatten jedoch einen großen Theil der
Waaren und sämmtliche Lastthiere des Reisenden mit fort-
geführt; glücklicherweise rettete er seine Instrumente und Auf-
zeichnungen. Trotz seines Verlustes entschloß sich der Pandit,
die Zaidamebene zu durchkreuzen und kam im December 1879
nach Hoiduthara. Hier blieb er bis zumMLrz, reiste dann
auf dem Wege nach Satschn weiter, wurde jedoch, weil er
Verdacht erregt hatte, nach einigen Tagemärscheu in der
Nähe'des Lob-nor zur Rückkehr gezwungen. Er wendete
sich nun auf einer weiter östlich gelegenen Linie nach Dar-
tschendo an der Grenze Tibets und des eigentlichen Chinas.
Viele Händler, die in China Thee eingekauft hatten, dessen
Menge der Pandit auf 300 000 Pfund schätzte, befanden sich
hier auf dem Rückwege nach ihrer Heimath; von hier wen-
dete er sich nach Westen und erreichte Lithang, eine der höch-
sten Städte in der Welt (13 300 Fuß). In diesem Distrikte
herrschten die Pocken; zum Schutze gegen dieselben wurde
auf Anordnung der chinesischen Aerzte eine Art Stand ge-
schnupft, der aus getrockneten Pusteln von Pockenkranken be-
reitet war; hierdurch wurde, gerade wie durch Impfung, eine
mildere Form der Krankheit hervorgerufen, welche dem Pa-
tienten Seuchenfestigkeit gegen die gefährlichere Form gab.
In Santa, im tibetanischen Distrikt Zayul an der Grenze
der Mischmis, befand er sich nur dreißig Meilen von der
englischen Grenze, wagte jedoch nicht, das Gebiet dieses
Räuberstammes zü betreten und mußte daher den großen
Umweg über Lhasa machen.
Alle seine Beobachtungen während seiner Züge über das
62
Aus allen Erdtheilen.
Hochland beweisen, daß der Sangpo sich in den Brahma-
putra ergießt. Im November 1882 erreichte der Pandit
mit einem Begleiter — der Diener hatte ihn schon verlassen,
ehe er den Rückweg antrat — Dardschiling, nachdem er in
vier und einem halben Jahre 2800 Meilen zurückgelegt hatte;
es war ihm geglückt, eine zusammenhängende Wegeaufuahme
(die Distanzen abgeschritten, die Richtungen mit der Bussole
bestimmt) und alle seine Aufzeichnungen zurückzubringen.
Seine Nationalität und seine Kenntniß der tibetischen Sprache
ermöglichte es ihm, in Gegenden einzudringen, die allen
Europäern bis jetzt verschlossen geblieben sind.
Aus allen
Europa.
— Der Verein für Erdkunde zu Halle a. S-,
unter Leitung von Prof. Kirchhofs, entwickelt eine große
Rührigkeit in der näheren Untersuchung der thüringisch-
sächsischen Länder. Seine „Mittheilungen" für 1884
(Halle, Tausch & Grosse) enthalten außer dem bereits im
„Globus" (Bd. 46, S. 31) angezeigten Rackwitz'schen Aufsatze
„Zur Volkskunde von Thüringen" namentlich zwei Preis-
arbeiten, eine von Gustav Reichel über die orohhdrographischen
Verhältnisse des Thüringer Centralbeckens und eine zweite
von B. Haushalter, welche unter Beigabe einer Karte die
Mundarten des Harzes und Fichtelgebirges behandelt und dort
die Grenzen zwischen Nieder- und Mitteldeutsch, hier diejenigen
zwischen Obersächsisch, Ostfränkisch, Oberpfälzisch und Tschechisch
zieht. Wohl derselben Initiative verdankt man das 1. Heft
der „Beiträge zur Landes- und Volkskunde des
Thüringerwaldes", welche im Aufträge der wissen-
schaftlichen Kommission des Thüringerwaldvereins Dr. Fr.
Regel herausgiebt. Dasselbe enthält von Pros. Kirchhofs eine
Abhandlung über die Namen des Thüringerwaldes im Alter-
thume und Mittelalter und die Erstlingsergebnisse der Beant-
wortung des vom Verein umgesandten Fragebogens, welche
manches Interessante über Natur- und Bevölkerungsverhält-
nisse beibringen; ferner phänologische Beobachtungen von
Fr. Thomas.
— Charles Rabot hat seine geologischen und topo-
graphischen Arbeiten in Skandinavien während des verflossenen
Sommers fortgesetzt und im Juli die Aufnahme des großen
Gletschers Svartisen vollendet. Später im August und
September nahm er den Pasvig, den Ausfluß des Enara-
Sees in Russisch-Lappland und den Tulom von dem Noto-
zero bis zu seiner Mündung in den Meerbusen von Kola auf.
— In Betreff der „neuesten" Zählung der Bevölkerung
von Rumänien (s. „Globus" Bd. 46, S.285), welche den
„Times" entnommen war, werden wir darauf aufmerksam ge-
macht, daß in neuerer Zeit kein Census in Rumänien stattgefunden
hat. Dem Gothaer Almanach wurde officiell vom 2. Oktober 1878
geschrieben (s. Behm und Wagner, Bevölkerung der Erde VI,
S. 20) und seitdem bestätigt, daß keine andere Volkszählung
als die von 1859 bis 1860 stattgefunden habe, und man nach
dem jetzigen Gebietsumfange (d. h. mit der Dobrudscha) die
Bevölkerung annähernd auf 5 376 000 Seelen schätze, eine
Zahl, die allen statistischen Berechnungen zu Grunde gelegt
werde.
— Die ostrumelische Regierung beschäftigt sich
mit dem Projekte einer Eisenbahnverbindung zwischen
der Hauptstadt Philipp opel und dem Hafen Burgas am
Schwarzen Meere und zwar direkt über Tschirpan und Eski-
Zagra. Sie bezweckt damit, Burgas als Ausfuhrhafen zu
heben; denn dies hat viel verloren, seitdem Dcde-aghatsch am
Aegäischen Meere mit Adriauopel durch eine Bahn verbunden
und trotz seiner schlechten Rhede von der kaufmännischen
Welt zum Exportiren bevorzugt wurde. Einfacher und
billiger wäre es freilich, wenn nur zwischen Jamboli, welches
bereits durch eine Bahn und zwar ganz auf ostrumelischem
Erdtheilen.
Boden mit der Hauptstadt in Verbindung steht, und Burgas
Schienen gelegt würden.
A s i e n.
— Die persische Regierung hat in Bremen zwei
Dampfer erbauen lassen, welche zu Anfang 1885 nach dem
Persischen Meerbusen übergeführt werden sollten. Während
der kleinere, „Susa" mit Namen, der erst Basra gegenüber
bei Dubbash zusammengebaut werden wird, den Karunfluß
als Polizeiboot befahren soll, wird der größere „Persepolis"
in Buschehr stationiren, um die Perlfischereien des Persischen
Meerbusens zu beaufsichtigen und die Ueberfahrt der Pilger
von Buschehr nach Dschidda, dem Hafen Mekkas, zu bewerk-
stelligen.
— Aus Kalkutta wird berichtet, daß der Emir von Af-
ghanistan einige Beamte nach Bombay gesandt hat, um Vor-
bereitungen für die Beleuchtung seiner Hauptstadt
Kabul mit elektrischem Lichte zu treffen.
— Die räuberischen Stämme der Katsch in (Kakhyen)
oder Singphoos — nach anderer Angabe waren es Chinesen
— haben kürzlich ihre oft wiederholte Drohung wahr gemacht
und die birmanische Grenzstadt Bhamo am Jrawadi zer-
stört. Dieselbe ist zwar nur ein kleiner verpallisadirter Ort
von wenigen hundert Häusern, die von chinesischen und Schau-
Kaufleuten und einigen birmanischen Beamten bewohnt wer-
den, aber wichtig für den Handel; bis da hinauf befahren
Dampfschiffe den Jrawadi und von dort nimmt die wichtige
Handelsstraße nach Talifu in Jünnan ihren Anfang. Eine
Zeitlang hatte deshalb dort ein englischer Konsul seinen Sitz.
Die Zerstörung ist ein trauriger Beweis für die Zerrüttung,
in welche Birma durch König Thebaw's Mißwirthschaft ge-
rathen ist.
— Vom 26. Juni 1881 bis 30. Juli 1882 hat I. S.
Poljakow die wenig bekannte Insel Sachalin bereist und
dort große zoologische und ethnographische Sammlungen zu-
sammengebracht. Die Briefe, welche er vou dort aus an den
Sekretär der Petersburger geographischen Gesellschaft geschrie-
ben, hat Professor A. Arzruni jüngst aus dem Russischen
übersetzt und dadurch einem weiteren Kreise zugänglich ge-
macht (Reise nach der Insel Sachalin in den Jahren
1881—1882. Von I. S. Poljakow. Berlin, A. Asher
& Co. 1884). Die Insel ist von großer landschaftlicher Ein-
förmigkeit und hat ein rauhes, kaltes Klima, weil ihre Küsten
von kalten Meeresströmungen bespült werden; die zahlreichen
Flüsse und Bäche, welche von den 600 bis 900 m und mehr
hohen Gebirgen Herabkommen, neigen zu Ueberschwemmung
und Sumpfbildung, so daß an Ackerbau, durch welchen die
Regierung die Insel zu heben hoffte, dort nicht zu denken
ist. Mehr läßt sich von Gemüsebau und Viehzucht erwarten;
reichen Ertrag dagegen bietet die große Fischmenge (Salmo-
niden, Delphine, Walfische) in den Flüssen und im Meere,
welche jetzt hauptsächlich von Japanern ausgebeutet wird.
Auch besitzt Sachalin zahlreiche Kohlenflötze, deren Abbau in-
dessen jetzt noch nicht lohnt. Ueber die Bewohner der Insel,
sowohl die prähistorischen, welche wahrscheinlich Ainos waren,
Aus allen Erdtheilen.
63
als auch die jetzigen (Giljäken, die denselben verwandten Oro-
ken, einige Russen und Japaner an der Ostküste), hat Poljakow
viel Interessantes gesammelt, was späterer Veröffentlichung
vorbehalten bleibt. Er weist einstweilen nur darauf hin, daß
die Bewohner namentlich des südlichen Theiles von Sachalin
von den Japanern, die im Sommer dort Fischfang treiben,
stark beeinflußt werden, und daß dieser Einfluß Jahrhunderte
lang angedauert hat. In den Sagen der Giljäken fällt dem
Bären (Bujo-endur) die Rolle eines Halbgottes oder eines
Gottes zu. Nur im Sommer erscheint er in thierischer Ge-
stalt; im Winter dagegen baut er sich im Gebirge eine Jurte
und lebt wie ein Giljäk oder Orok, sich mit denjenigen Spei-
sen nährend, die er im Traume sieht. Er beschützt den
Menschen beim Fischfänge und geleitet denjenigen, der sich
unterwegs verirrt, nach Hause, unter der Bedingung, daß
der Mann eine bestimmte Zeitlang im ehelichen Leben Ab-
stinenz üben soll, widrigenfalls ihn der Tod ereilt. Auch der
Fuchs wird als Verkörperung der List, als dem Menschen
Schaden zufügendes Princip vergöttert. Er erscheint dem
Oroken oder Giljäken im Walde in Gestalt seiner Frau und
sucht ihn zu verführen, in welchem Falle aber sofort der Tod
des Sünders erfolgt. — Im Anschlüsse hieran sei mitgetheilt,
daß der Topograph Nikitin eine neue Karte von Sachalin
vollendet hat, wonach die Insel wesentlich größer ist, als bis-
her angenommen wurde, nämlich 73 529 qkm, während Reclus
63 600, Strelbizki 67 018 qkm angaben.
— Die „Nowosti" theilen mit, daß das sogenannte
Berg-Departement eine Expedition nach We st- Sibirien
ausrüsten wird. Der Zweck derselben soll eine genaue
Untersuchung der jüngst entdeckten Schwefellager sein.
Den Eingeborenen waren dieselben schon längst bekannt, nach
Rußland aber kam die erste Kunde durch den Lieutenant
Kalitin. Später wurde durch den Berg-Ingenieur
Kon sch in in einem Hügel bis zu 500 Millionen Pud
Schwefel entdeckt; solcher Hügel, in welchen man aus untrüg-
lichen Kennzeichen Schwefel erwarten darf, sind mehr als
zehn bekannt. Reiche Schwefellagcr sind im allgemeinen
selten, bis jetzt wurde Europa vorherrschend durch Schwefel
aus Sicilien versorgt. Im russischen Reiche wurden bisher
Schwefellager in Dagestan und zwar in Tschirkot, nicht
weit von Petrowsk, bearbeitet. Mit Rücksicht auf die obigen
Nachrichten, meint die Zeitung, daß in kurzer Frist die
sibirischen Schwefellager den sicilianischen starke Konkurrenz
bereiten werden. — Die geplante Expediton soll St. Peters-
burg im Februar 1885 verlassen.
— Aus Werny schreibt man: Nach angestellten Er-
hebungen sind bis zum 1. Juli 1884 aus dem Kuldsha-Gebiete
in das Gebiet von Semiretschensk übergesiedelt 4682 Dun-
ganen (1147 Familien), welche in den Ortschaften Alexan-
drowskoje, in den Städten Pischbek, Werny, Dscharkent und
in zwei Gemeinden des Kreises Werny Wohnplätze erhalten
haben; ferner 45,373 Tarant scheu beiderlei Geschlechts
(in 9752 Familien), welchen in der Umgegend von Dscharkent
und im Kreis von Werny Wohnplätze angewiesen wurden.
Im Ganzen sind es 50,055 Individuen beiderlei Geschlechts,
nämlich 21067 weibliche und 2289 männliche, welche in 10899
Familien leben. (Wostotschnoje Obosremje.)
— Nicht ohne Interesse sind die Nachrichten über die
Ausbreitung des Christenthums unter den heidni-
schen Volksstämmen im fernen russischen Ostasien.
Bis jetzt fand das Christenthum unter den Golden, Giljäken,
Tnngusen, Jakuten, Orotschonen, Tschukschtcn und Korjaken
nur sehr wenig Eingang. Die Ursache dafür lag daran, daß
die russischen Missionare ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich
darauf richteten, die Quantität der Getauften zu vermehren,
aber um die Erhaltung und Pflege der christlichen Religion
unter den neubekehrten Heiden sich nicht bemühten. In der
allerletzten Zeit nun hat die unter Leitung des Bischofs von
Kamtschatka, M a r t i m i a n, stehende Mission ihre Hauptthätig-
keit in die Uebersetzung der Heiligen Schrift in die Sprache
der Heiden und in die Erweiterung der für die Heidenkinder
bestimmten Schulen gelegt. Gegenwärtig sind schon die Evan-
gelien Matthäus, Markus und Lukas in das Koreische über-
setzt; ebenso das Evangelium Matthäus ins Goldische; ein
goldisches ABC und ein russisch -goldisches Lexikon sind zu-
sammengestellt worden, und alles soll demnächst gedruckt
werden. Schulen, welche von den Missionaren geleitet wer-
den, giebt es sieben; es werden darin etwa 200 Heidenknaben
unterrichtet. Leider haben die Schulen wegen der kargen
Mittel nur ungenügende Lehrer und Lehrmittel. Das Con-
seil der orthodoxen Missionsgesellschaft zahlt für jeden Schüler
jährlich 25 Rubel, was mit Rücksicht auf die große Entfer-
nung gewiß nicht viel ist. — Da die Eltern ihre Kinder
sehr gern in die Missionsschule schicken, so liegt es in der
Absicht, in kürzester Frist noch einige ähnliche Schulen zu er-
öffnen, namentlich am Unterlaufe des Amur — Mit be-
sonderem Erfolge verbreitet sich das Christenthum unter der
koreischen Bevölkerung. (Nowosti 1884.)
Afrika.
— Die französische Regierung hat einen Kontrakt ab-
geschlossen wegen Legung eines Kabels von Zanzibar nach
Mayotte, Nossi B«, St. Mary und Tamatave, welches im
kommenden Juni vollendet sein soll. Die Gesellschaft wird
das Kabel nach Reunion und Mauritius weiter führen.
— Im November- und Decemberheft der „Proceedings of
the Royal Geographica! Society" veröffentlicht Konsul O'Neill
in Mozambique die Beschreibung und Karte seiner vom 1. Juni
1883 bis 20. Januar 1884 dauernden Reise nach dem
Schirma- oder Kilwa-See (vcrgl. „Globus" Bd. 45,
S. 207), welche einen gewaltigen, bisher gar nicht bekannten
Theil Afrikas aufgeschlossen hat. Sein Hauptergebniß in
geographischer Beziehung ist der Nachweis, daß der Ludschenda,
der große südliche Zufluß des Rovuma, nicht aus dem
Kilwa-See, sondern aus kleineren Seen nördlich davon ent-
springt, von welchen der Kilwa wenigstens heutigen Tages
durch eine geringe Bodenanschwellung getrennt ist. Der
Kilwa mag in früheren Zeiten größer gewesen sein und dem
Ludschenda seinen Ursprung gegeben haben; heute ist er salzig,
also abflußlos und im Eintrocknen begriffen. Der Reiseweg
O'Neill's von der Küste nach dem Kilwa (zwischen 150 und
16" südl. Br.) hat sich als eine bequeme, leichte und sichere
Straße nach dem innerafrikanischen Seengebiete herausgestellt;
die Eingeborenen sind durchaus friedlich und entgegen-
kommend, die Gegend, namentlich bei dem zu 9000 Fuß an-
steigenden Namuli-Gebirge, landschaftlich schön, gesund und
für Anlage einer Station sehr geeignet. Das Innere ist
dicht bevölkert, unter 15" südl. Br. von den Lomwe, südlich
davon und längs der Küste von den Makua, zwei von ein-
ander verschiedenen Stämmen; der Küstenstrich jedoch, und
zwar 2 bis 3 Längengrade landeinwärts, ist durch den
Sklavenhandel verödet und cs wird schwer halten, Ackerbau
und legitimen Handel dort einzubürgern, weil sämmtliche
Häuptlinge am Sklavenhandel betheiligt und an seinem Fort-
bestehen lebhaft interessirt sind. Seitdem hat Mr. O'Neill
schon wieder eine neue Tour in jenen Gegenden ausgeführt,
indem er von der Missionsstation Blantyre (im Becken des
Kilwa-Sees) aus den Ruo, einen nördlichen Zufluß des Schire
und angebliche Grenze des portugiesischen Kolonialbesitzes,
untersucht hat.
— Mit ganz besonderer Liebe und größerer Ausführlichkeit
gehandelt, als andere Theile Afrikas in demselben Sammel-
werke ist Prof. Gustav Fritsch's „Südafrika bis
zum Zambesi" („Das Wissen der Gegenwart", 34. Band),
indem die erste Abtheilung desselben, die ein ganzes Bändchen
füllt, nur das Land selbst mit seinen thierischen und pflanz-
lichen Bewohnern bespricht. Hier kommen besonders Geographie
und Geologie zu ihrem Rechte, das ihnen in anderen Bänden
öfters gekürzt wird. Die genaue Sachkenntniß des Autors,
64
Aus allen Erdiheilen.
seine Kritik, sein guter Humor, vorzügliche Bilder, zum
Theil nach Photographien, das alles macht das Büchlein
zumal in gegenwärtigen Zeiten kolonialer Besitzergreisung
überaus lesenswcrth. Der Wunsch des Autors, den er in
der Vorrede andeutet, daß anstatt des öden Namaqualandes
„lachende Gefilde derselben Breiten" uns Deutschen dort zu
Theil werden möchten, scheint ja sich rasch erfüllen zu sollen.
Aber wohl ist zu beherzigen, was er von der afrikanischen
Natur sagt. „Mag sie dem Fleißigen Gold und Diamanten
bieten, Gemüthlichkeit bietet sie dem Kolonisten kaum; wer
im Lande sich wohl fühlen will, muß hart und weich ver-
tragen können: die afrikanische Natur ist bei aller Großartig-
keit in ihrem Gesammtcharakter grausam und zur Grausam-
keit hat sie die ihr zugehörigen lebenden Geschöpfe, Mensch
und Thier, erzogen."
— Die Lüderitz'sch e Expedition in dasHercro-
Land (vergl. „Globus" Bd. 46, S. 16) ist am 3. Oktober
1884 nach der Küste zurückgekehrt. Ihr Leiter, Lieutenant
Israel, schreibt von dort unter anderem: „Kamaherero auf
Okahandje, König der Damaras, erließ eine Proklamation,
wonach er das gesammte, den Topnaars, Bastards und
Swartboys gehörige Gebiet unter seine Protektion stellt.
Dr. Pechuel-Lösche und Dr. Höpfner, unser wissenschaftlicher
Berather, haben soviel wie nichts ausgerichtet, auch keine
Koncession erhalten, die Minen zu bearbeiten. Das den
Topnaars gehörende Gebiet (von der englischen Regierung
anerkannt) konnte jedoch für Rechnung Lüderitz' angekauft
werden. Wir haben massenhaft Kupfer gefunden
und halten das Land für äußerst werthvoll. Mit dem
nächsten Schiffe kommen die Herren Dr. Höpfner und Dr.
Pechuel-Lösche nach Europa, etwa zehn Tage später als dieser
Brief, also wahrscheinlich kurz nach Weihnachten." Okahandje,
eine Missionsstation, liegt ca. 250 km landeinwärts von der
Walfischbai, unter 23" südl. Br. Die Topnaars sitzen
unmittelbar östlich von dem englischen Gebiete an der Wal-
fischbai, die Swartboys einen Breitengrad weiter nördlich.
— In Leiden ist ein Bericht von der niederlän-
dischen Afrika-Expedition vom 18. November 1884
eingelaufen. Herr D. D. Beth ist endlich am 13. November
in Banana angekommen, und gegen Ende November beab-
sichtigte die Expedition nach Mossamedes, dem eigentlichen
Felde ihrer Thätigkeit, aufzubrechen.
— Die Vertreibung der amerikanischen Missionare
aus Bihö (s. „Globus" Bd. 46, S. 351) hat eine gute
Wendung genommen. Kaum hatten dieselben ihre Stationen
in Bihö und Bailunda verlassen, als von Osten her der
Glasgower Missionar F. Arnot, welcher zwei Jahre lang in
Lialui am oberen Zambesi gewirkt hatte, eintraf. Er hatte
von einem Häuptlinge gcheimnißvolle Winke erhalten, das
Land der Barotse zu verlassen, und als er das gethan, war
Bürgerkrieg ansgebrochen und sein Freund, der König der
Barotse, getödtet worden. Sein Erscheinen in Bailunda setzte
die Eingeborenen dermaßen in Erstaunen und Verwirrung,
daß er, dieselbe benutzend, ein Schiedsgericht der Aeltestcn
versammelte und die Rückberufung der Amerikaner erreichte.
Arnot beabsichtigt, an den Zambesi zurückzukehren.
— Anfang 1885 geht eine italienische Expedition,
bestehend aus den Schissen „Garibaldi" und „Vespucci" mit
300 Matrosen und 40 Officieren, nach Lagos und dem
Kongo ab. Der durch seine Reisen in Abessinien bekannte
Kapitän Cecchi, welcher dieselbe begleitet, soll mit kleinen
Dampfern bis zu den Katarakten des Kongo aufwärts fahren
und von dort in das Innere eindringen. Die Dauer der
zugleich wissenschaftlichen und politischen Expedition ist auf
anderthalb Jahre veranschlagt.
Nordamerika.
— Der Umstand, daß Panama in der Kalmcnzone liegt
und Segelschiffe sehr häufig Schwierigkeiten finden, ohne
Schlepper von dort wegzukommen, hat den englischen Kapitän
Bedsord Pim veranlaßt, ein neues Projekt zu einer Ver-
bindung der beiden Meere mit Hilfe des Nicaragua-
Sees und des San Juan-Flusses auszuarbeiten, daß
sich auf dreijährige genaue Untersuchungen an Ort und Stelle
stützt. Neu ist dabei der Gedanke', den Kanal nicht für den
vollen Tiefgang der Schiffe einzurichten, sondern ihm nur
8 Fuß Tiefe zu geben und die Schiffe auf kolossale Pontons
oder schwimmende Docks von nur 6 Fuß Tiefgang zu stellen,
welche durch Dampfmaschinen gezogen werden. Es wäre
das billiger und wohl auch bequemer und sicherer, als der
Plan des Kapitän Eads, der bekanntlich die Schiffe auf einer
kolossalen Eisenbahn über die Landenge von Tehuantepec
transportiren will. Um die vielen Krümmungen des San
Juan zu vermeiden, soll ein Kanal von seiner Mitte an
etwas oberhalb der Einmiindung des San Carlos nach
Greytown geführt werden, wo man den verschlammten
ehemaligen Hafen ohne übergroße Kosten wieder in Stand
setzen könnte. Der Rücken zwischen dem Nicaraguasee und
dem Stillen Ocean ist nur 40 Fuß höher, als das Niveau
des Sees, also unschwer zu durchstechen; bei Brito an der
Küste wäre leicht eilt Hafen einzurichten. Der Kanal würde
zwölf Schleusen erfordern, fünf auf der atlantischen und
sieben auf der pacifischen Seite. Die Differenz in der Fahr-
zeit zwischen den nordamerikanischen Häfen und Kalifornien
würde gegen vierzehn Tage betragen, da die Segelschiffe dann
den großen Umweg sparen würden, den sie jetzt machen
müssen, um günstigen Wind zu finden, in umgekehrter Rich-
tung freilich nur vier Tage. — Inzwischen ist ein anderes
Projekt des nordamerikauischen Ingenieurs A.G. Menscal,
welcher etwa auf derselben Linie einen Schiffskanal zu er-
bauen gedenkt, Gegenstand eines Vertrages zwischen den Ver-
einigten Staaten und Nicaragua geworden, und schon am
20. December 1884 hat eine „naval surveying party“ be-
hufs Vervollständigung der Aufnahmen sich von New Jork
nach Nicaragua begeben. Bei der bekannten Animosität der
Amerikaner gegen den Panamakanal ist dieses Projekt wohl
ernsthafter zu nehmen als sonst; doch läßt es sich nicht ver-
kennen, daß ihm große Schwierigkeiten zunächst politischer
Natur entgegenstehen. Denn da die Vereinigten Staaten sich
außer den beiden Häfen Greytown und Brito auch einen
Streifen Landes von je 3 Miles Breite zu beiden Seiten
des Kanals mit allen Rechten wollen abtreten lassen, so ge-
rathen sie dadurch in strikten Widerspruch mit dem Clayton-
Bulwer-Vertrage von 1850 und setzen sich daniit dein Veto
Englands aus, vielleicht auch demjenigen ihres eigenen Senates
und Congresses, welche sich außerdem mit dem Ausbringen
des erforderlichen Kapitals von einer Biertelmilliarde Mark
zu beschäftigen haben werden.
Inhalt: Dásirá Charuay's Reise in Jucatan und dem Lande der Lacandonen. X. (Mit elf Abbildungen.) — Im
Lande der Basä. — Kürzere Mittheilungen: Paul Höfer über den Feldzug des Germanicus im Jahre 16. — Die Ver-
wüstung der Wälder in Rußland. — Die Reise des Panditen A...k durch Tibet. — Aus allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Afrika. — Nordamerika. (Schluß der Redaktion: 28. December 1884.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Vraunschwcig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet vor: Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bande à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Desirö Charnay's Reise in fucata» und dem Lande der Lacandonen.
XI. (Schluß.)
Nach dem, was in dem vorigen Artikel gesagt worden
ist, wird die hier bcigcgebene Karte der toltckischen Wan-
derungen leicht zu verstehen sein. Als das Volk nach
Zerstörung seines Reiches südlich und südöstlich ziehend die
Küste des Meerbusens von Mexiko erreichte, trennte sich
tiach Torqnemada's Angabe eine Abtheilung und stieg nord-
westlich in die Huasteca hinauf, während die Hauptmasse
der Küste des Golfs folgte. Letztere gründete Blasillo, wo
sich Tempel und Paläste finden, und Comalcalco, das alte,
oben erwähnte Cenila. Hier zweigte sich wiederum ein
Theil ab, ging um die Lagune von Carmen herum und
drang über das heutige Campeche in Alicatan ein; das
war der toltekische Zweig, von dem die Cocomes her-
stammten, uub welchem man Ake, Jzamal, Mayapan u. s. w.
zuschreiben darf. Eine andere Abtheilung drang nach Süden
vor und gründete Palenque, Ocosingo, Lorillard City und
weiterhin Tikal. Dort fand wieder eine Gabelung statt, von
der wir gesprochen: ein Theil, von welchem die Tutulxius
herstammen, zog nach Norden und gründete in der Sierra
die Städte Jturbide, Labna, Kabah, Uxmal und Chichen-Jtza,
während der andere erst Coban im Süden, dann Copan
und Quirigna baute und sich dort wieder mit dem Pacific-
zweigc vereinigte. Dieser, welcher sich schon etwas von
dem Stamme von Tula unterschied, kam von Toluca und
Cnernavaca her, war durch die Landschaft Misteca, dann
durch das Land der Zapotcken und über Oaxaca und Te-
huantepec gezogen, um in Guatemala die Fürstenthümer
Utatlan, Xelahu, Jtatlan und Patinamit zu gründen und
in Copan wieder auf den nördlichen Zweig zu stoßen. Das
Globus XLV1I. Nr. 5.
sind natürlicherweise nur die allgemeinen Daten über diese
Wanderungen; eine Masse von Ortschaften, die sich noch
angeben ließen, sind hierbei übergangen, und eine ebensolche
Menge kennt man bis heutigen Tages noch nicht und wird
sie erst später entdecken. Schließlich findet man ans dem
Kärtchen noch die Rückwanderung der Jtzacs von Chichen
nach Tayasal angegeben.
* -i-
*
Charnay übergeht nun einen Theil seiner Reise in
Centralamerika, welcher etwa zwei Monate in Anspruch
nahm, und versetzt uns mit einem Sprunge von Copan an
der Grenze Guatemalas gegen Honduras westwärts nach
Oaxaca in Mexiko, um von dort aus die Ruinen von
Mitla zu besuchen. Der Weg dorthin führt bei einem
prachtvollen Kirchhofe, dem sogenannten Pantheon, vorbei,
zunächst nach dem durch seine Hahnenkämpfe berühmten
Santa Lucia; zwei Stunden weiterhin liegt, unter dem
Grün von Gusava-, Cherimosa- und Granatbäumen ver-
steckt, das hübsche Dorf Santa Maria bei Tnle,
welches eine in der ganzen Republik bekannte Merkwürdig-
keit umschließt, den alten, den Hof einer kleinen Kapelle
beschattenden Baum Sabino. Von fern läßt seine Laub-
masse auf die Existenz eines kleinen Gehölzes schließen; von
nahem aber überrascht der Baum durch seine gewaltige
Entwickelung. Der größte Durchmesser des Stammes
mißt 14 Schritt oder 13 m; an einer anderen Stelle mag
er deren 10 haben, und noch in einer Höhe von 20 Fuß
bewahrt er dieselben Dimensionen. Dort spaltet er sich,
9
66
Dssirs Charnay's Reise in Yucatan und dem Lande der Lacandonen.
und seine gewaltigen Acste, die hundertjährigen Eichbäumen
gleichen, breiten sich von da an etwa 100 Fuß weit aus.
Seine Höhe steht zu seinem gewaltigen Umfange nicht im
richtigen Verhältnisse und übersteigt wahrscheinlich nicht
90 Fuß. Außer den gewaltigen Dimensionen überrascht
den Beschauer noch besonders seine erstaunliche Lebenskraft;
er strotzt von Saft, und Einschnitte in die Rinde sind nicht
länger als ein Jahr nachher zu bemerken. Allerdings
wachen auch die Indianer darüber, daß keine profane Hand
sich an dem ehrwürdigen Pslanzenriesen vergreise; wie alles,
was mit der Vergangenheit ihres Volkes zusammenhängt,
bringen sie auch ihm eine abergläubische Verehrung ent-
gegen. Niemand darf ihn besuchen, ohne daß sie ihn be-
aufsichtigten; Tag für Tag wird der Boden um seinen
Fuß herum gefegt und gereinigt, und sie dulden nicht, daß
man auch nur den kleinsten Zweig von ihm abbricht.
Einige Reisende meinen, daß dieses Wunder von Baum
durch Zusammenwachsen von drei verschiedenen Stämmen
entstanden sei; Charnay hat ihn jedoch sorgfältig unter-
sucht und nur einen einzigen Stumpf entdecken können, dem
bei seiner Kraft noch Jahrhunderte der Existenz bevorzu-
stehen scheinen.
Oestlich von Santa Maria bei Tule verengt sich das
Thal; man passirt zuerst Tlacolula und dann Hügel mit
zu Tage liegenden Steinbrüchen, in denen sich noch Blöcke
finden, die von den alten Erbauern Mitlas halb vollendet
hinterlassen worden sind. Rechts führt nun der Weg nach
San Dionysio, dem letzten Dorfe der Ebene, links nach
einem fast gar nicht bebauten und von nackten Bergen um-
gebenen Thale, welches die Ruinen von Mitla um-
schließt. Es herrscht dort beständig ein heftiger Wind,
welcher alles austrocknet, und von Pflanzenwuchs finden
Karte der toltckischeu Wanderungen.
sich fast nur die fleischigen Pitayales, welche als Zäune
dienen und die köstliche Pitayafrucht liefern. Dieselbe hat
die Größe eines Schwaneneies, rothgelbes, mit schwarzen
Punkten durchsetztes Fleisch und einen Geschmack wie die
Erdbeere; sie dient in der Hitze als beliebte Erfrischung
und die Bewohner verdienen mit ihr auf dem Markte von
Oaxaca ein hübsches Stück Geld.
Die Ruinen von Mitla, welche zur Zeit der Conquista
einen weiten Raum bedeckten, bestehen heute nur noch aus
einer Gruppe von sechs zerfallenen Palästen und drei
Pyramiden. Das erste Gebäude im Norden auf dem Ab-
hange eines Hügels ist das sogenannte Haus des Pfarrers,
ein Durcheinander von Höfen und Gebäuden mit Zier-
rathen von Reliefmosaik von sehr reiner Zeichnung. Unter
den Vorsprüngen der Einfassungen und an jeder gegen das
Wetter geschützten Stelle im ganzen Palaste finden sich
Zieste sehr primitiver Malereien, grobe Götzenbilder und
Mäanderlinien, deren Bedeutung uns unbekannt ist. Die-
selben stechen dermaßen von der korrekten Architektur und
ihrer wunderbar gearbeiteten Mosaikausschmückung ab, daß
man fast zu dem Schlüsse kommt, so verschiedene Kunst-
übungen könnten nicht von demselben Volke herrühren.
Die daneben stehende Kirche ist durchweg aus Mate-
rialien, die ursprünglich zu diesem Palaste gehörten, erbaut.
Darunter liegt zur Linken eine indianische, abgestumpfte
Pyramide, auf welcher eine moderne Kapelle erbaut ist;
sie besteht aus Adobeziegeln und hat eine steinerne Treppe.
Der Tempel, den sie einst trug, haben die Spanier sorg-
fältig bis auf den letzten Stein fortgeräumt. Der große
Palast, welcher bis auf das Dach vollständig erhalten ist,
besteht aus einem großen Gebäude in der Gestalt eines T,
dessen nach Süden gekehrte Vorderseite das schönste, an-
sehnlichste und besterhaltene der verschiedenen Denkmäler
von Mitla ist. Sie mißt 40 rn in der Länge und um-
Gesammtansicht der Ruinen von Mitla. (Nach einer Photographie.)
Dösirä Charnay's Reise in Mcatan und dem Lande der Lacandonen.
Der große Palast in Mitla (Provinz Oajaca). (Nach einer Photographie.)
Dssirs Charnny's Reise in Jucatan und dem Lande der Lacandonen.
69
schließt einen Jnnenraum von derselben Ausdehnung, dessen
Decke von sechs monolithen Säulen von etwa 14 Fuß Höhe
getragen wurde. Drei niedrige, breite Thüren führten in
diesen Saal hinein, dessen Boden mit einer dicken Cement-
schicht bedeckt war. Zur Rechten befindet sich ein dunkler
Gang, der in einen gleichfalls cementirten, inneren, vier-
eckigen Hof führt, dessen Mauern wie die Hanptfaxade
selbst mit Mosaikfüllungcn und in Stein eingefaßten Zeich-
nungen bedeckt sind. Von dort gelangt inan in vier schmale,
lange Gänge, die von oben bis an das Dach mit Relief-
mosaiken bedeckt find. Die Thürschwellen bestehen aus
riesigen Blöcken von 5 bis 6 m Länge.
Am meisten zerstört sind das zweite und dritte Palais;
nur die Thür des zweiten mit ihrem sknlpirten Sturze und
im Innern zwei Säulen stehen noch aufrecht. Der vierte
Palast zeichnet sich durch die viel längeren Füllungen der
Ostsaxade aus; seine hier abgebildete Südseite ist eine der
elegantesten. Das dazu verwandte Material ist gestampfte
und mit großen Kieseln vermischte Erde, die mit Stein-
ziegeln überkleidet ist. Südwestlich von dieser Ruinengrnppe
liegen vier weitere Paläste, vielleicht die größten von allen;
sie sind halb abgetragen und verschüttet und sind nur noch
3 bis 4 Fuß über dem Boden hoch, dabei aber bemerkens-
werth durch ihre riesigen Steinblöcke und Lagen. Jetzt
haben sich die Indianer dieser Ruinen bemächtigt und in
den Gängen ihre Hütten errichtet.
Ueber die Geschichte Mitlas fehlt cs an Berichten; wir
kennen das genaue Alter der dortigen Denkmäler nicht.
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Südseite des vierten Palastes in Mitla. (Nach einer Photographie.)
Sic dürften aber kaum älter sein, als die früher besproche-
nen. Indessen sind sic früh zerstört worden, und zwar
nach Orozco y Bcrra (Historia antiqua de la conquista
de Mexico II, p. 377) durch Ahuizotl, d. h. zwischen 1490
und 1500. Jedenfalls besteht zwischen diesen Gebäuden
und den toltckischen und mexikanischen eine Verwandtschaft:
man findet in Mitla dieselben Masken und kleinen Thon-
figuren wie in Teotihnacan, und in den Füllungen des
großen Palastes und denen der Südseite des vierten kommen
dieselben kleinen Kreuze vor, wie auf dem Priestermantel
des Quetzalcoatl in Lorillard City. Auch Torguemada
(Buch 3, Kap. 7) schreibt diesen Denkmälern einen tolteki-
schen Ursprung zu, denn er sagt: „Nachdem sich Quetzal-
coatl nach seiner Flucht aus Tula in Cholula niedergelassen,
sandte er mehrere seiner Schüler in die mixtekischen und
zapotekischcn Provinzen, die sie civilisirten, und sie erbauten
dort die berühmten Paläste von Mitla."
Zapotckcn und Mixteken nannten sich Autochthonen;
sie kannten ihren Ursprung nicht und ebensowenig die Zeit,
wo sie sich im Lande, dessen Hauptstadt Tcotzapotlan war,
niederließen. Was Mitla anlangt, so hieß cs mexikanisch
Mictlan (die Unterwelt), zapotekisch Lyobaa (Ort der Ruhe)
und es befand sich dort ein berühmtes Heiligthum und die
Begräbnißstättc der Könige von Tcotzapotlan. Zur Zeit
seines Glanzes bestand das Heiligthum, dessen schöne Ruinen
für die hohe Civilisation seiner Erbauer Zeugniß ablegen,
ans vier oberen, schön mit Bildhauerarbeit geschmückten
Räumen, denen ebcnsoviele unter der Erde entsprachen.
70
I. C. Kubary: Ans dem samoanischen Familienleben.
Einer der ersteren diente dem Oberpricstcr zur Wohnung,
ein zweiter den Priestern, der dritte dem Könige, so oft er
nach Mitla kam, und der vierte den großen Herren. Das
Zimmer des Oberpriesters war mit größerer Sorgfalt aus-
geschmückt als die anderen; in ihm befand sich ein Thron,
dessen mit Daunen und feinen Kräutern gefülltes Kissen
und Rückwand mit Tigerfell überzogen war, während in
den übrigen Gemächern die Ausstattung nur aus feinen
bemalten Matten, gegerbten Fellen und Stoffen bestand.
Von den unterirdischen Räumen diente einer als Heilig-
thum, wo die Götzen auf einer großen, die Stelle des
Altars vertretenden Platte standen; der zweite und dritte
zum Begrübniß der Oberpriester und Könige. Der vierte,
von Säulen getragene, soll sehr groß gewesen sein und sich
weit unter der Erde hin erstreckt haben; fein Eingang war
mit einer großen Steinplatte verschlossen. Dort hinein warf
man die Leichen der Schlachtopfer und der im Kriege ge-
fallenen Häuptlinge, die von den Schlachtfeldern, und
mochten dieselben noch so weit entfernt sein, dorthin gebracht
wurden. Es fanden sich auch Fanatiker und Büßer, welche
an diesem heiligen Orte zu sterben verlangten; sobald ihre
Bitte gewährt war, bemächtigten sich die Priester derselben,
führten sie zum Eingänge, hoben die Platte auf, sagten
ihnen Lebewohl und begruben sie dann durch Schließen des
Eingangs lebendig (Burgoa, Kap. 53). Der Oberpricstcr,
welcher den Titel Huiyatoo („der alles sieht") führt, war
absolut und mächtiger als der König, der ihn fürchtete und
respektirte; ein Mann aus dem Volke durfte sein Antlitz
nicht sehen, ohne todt nieder zu fallen. Er war der einzige
Vermittler zwischen Göttern und Menschen, der einzige
Urquell aller Gnaden und Wohlthaten, ein Dalai Lama
oder Papst.
Was könnten hier systematische Ausgrabungen an wissen-
schaftlichen und anderen Schätzen noch zu Tage fördern!
„Kurz, man findet — sagt Orozco y Berra, a. a. O.
II, 2. Theil, Kap. 4 — zwar große Unterschiede zwischen
der zapotekifchen und toltekischen Civilisation; aber wenn
man sie mit einander vergleicht, scheinen sie doch aus einer
und derselben Quelle zu stammen. Sie hatten fast dieselbe
Schrift, denselben Kalender und hatten in der Baukunst
und Keramik große Fortschritte gemacht. Bei tieferem
Studium treten die Unterschiede mehr hervor; obgleich ans
denselben Principien beruhend, zeigt die zapotekische Schrift
doch andere Bilder und die Dinge hüllen sich in andere
konventionelle Formen, die Farben sind schreiender, und es
ist unmöglich, selbst auf den ersten Blick eine zapotekische
Handschrift mit einer toltekischen, acolhuanischen oder mexi-
kanischen zu verwechseln."
Charnay hat die Ruinen von Mitla nicht so genau
untersucht, wie die der früher genannten Städte; aber er
betont, daß selbst Orozco durchaus ans die Verwandtschaft
derselben mit dem toltekischen Stile hinweist.
Aus dem samoanischen Familienleben.
Von I. C. Kubary.
I.
Den Ausgangspunkt für die gesellschaftliche Einrichtung
der Samoaner bildet die „Aluga", eine Familie, und da zur
Beurtheilung derselben wie auch überhaupt des moralischen
Zustandes des Volkes die Verhältnisse der Ehe am maß-
gebendsten sein dürften, so beginnen wir unsere Betrachtun-
gen mit einem jungen Ehepaare, von welchem die Ehefrau
gerade Mutter werden soll.
Wir befinden uns im Innern eines einheimischen Hauses,
einem einzigen, länglich runden, von allen Seiten offenen
Raume; der mit Korallenstückchen ausgelegte Fußboden ist
mit Matten bedeckt. An einem Ende dieses Raumes liegt
die junge Wöchnerin, ihr Haupt auf den Knien ihres Ge-
mahls, der der Sitte gemäß bei der Geburt anwesend sein
muß, ruhend, und der die Schmerzen seiner Frau durch
zärtliche Zurede und Bestreichen und Drücken der Glieder
zu beruhigen sucht. Der Vater und wo möglich der älteste
Bruder sitzen hinter seinem Rücken, zu Füßen der Kranken
die Mutter und die Schwestern, und rund um den Raum
warten die verschiedenen Mitglieder der beiden Familien
auf die Ankunft des jungen Weltbürgers. Eine Nieder-
kunft ist ein sehr wichtiges Ereigniß für die beiderseitigen
Familien und ebenso auch für die ganze Dorfbewohnerschast.
Alle Begebenheiten und Zufälle, die sich gleichzeitig mit
der Niederkunft ereignen, werden durch die Anwesenden be-
obachtet und eifrig besprochen. Sie bilden die Vorgeschichte
des Neugeborenen, bis dieser, zum Manne erwachsen, sich
seine eigene bilden wird.
Die Verwandten des Mannes, von dem bevorstehenden
Ereignisse benachrichtigt, kommen mit Geschenken nach dem
Elternhause der Frau, wo sie so lange verweilen, bis die
ganze Sache vorüber ist. In dieser so kritischen Zeit wird
die ganze Drangsal der Lage, die Wehen der Wöchnerin,
die Verzögerung der Geburt dem Ehemanne zur Schuld ge-
legt. Wahrscheinlich lief er, während seine Frau schwanger
war, anderen Frauen nach . . . ! Wenn all das Zürnen
auf den zerknirschten Sünder nicht Hilst, beginnt man sich
zu erinnern, daß die Wöchnerin manchmal unartig gegen
ihre Schwiegereltern war. Sie war geizig mit Nahrung
oder „nutu wale“, unsinnigen Mundes. Alle dergleichen
Vergehen werden bei der Niederkunft bestraft. Während
nun alles mit begütigenden Zureden den Muth der Frau
zu heben suchen, erblickt auch endlich das Kind das Tages-
licht. Stets empfängt die Großmutter dasselbe, und sie
scheut keine Mühe und Entfernung. Sollte sic aber, sowie
andere weibliche Verwandte, der Frau fehlen, so muß der
Mann seine Frau bedienen.
Im Augenblicke der Geburt verläßt der Mann das
Haus, um ganz junge Kokosnüsse zu pflücken; er entzündet
dann ein Feuer im Kochhause und bereitet eine aus Arrow-
root bestehende Masoa-Speise, die er seiner Frau und
den Verwandten bringt. Das Kind wurde währenddem
abgewaschen und zwischen den Anwesenden herumgetragen,
die es genau betrachteten und, verschiedene Bemerkungen
machend, über seinen Namen berathschlagten. Dann wird
cs dem ungeduldig wartenden Vater übergeben.
Die Familie des Mannes überreicht dann der Familie
I. C. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben.
71
der Frau die „Fanaünga“-Geschcnke und erhält dafür nach
einiger Zeit einen weiteren Theil der Tonga-Aussteuer.
Während der ersten dann folgenden Tage bringt das ganze
Dorf kleine, in Lebensmitteln bestehende Geschenke.
Das Kind wird mit der äußersten Sorgfalt gepflegt,
und besonders wird während der ersten Tage der Kopf mit
flachen Steinen belegt, um demselben eine schöne Gestalt zu
sichern. Nach samoanischen Schönheitsbegriffen sind Köpfe
mit ausgewölbtem Hinterthcile und mit vorstehender Stirn
häßlich; sie heißen ,,úlu toi“, ,,úlu sipa“, durch das Be-
legen mit Steinen bezweckt man daher eine kurze, mehr
abgerundete Gestalt. Ebenfalls sind nicht nur Adlernasen,
sondern auch unsere gerade Nase ein Abscheu für die Sa-
moanerinnen, die sie „isu wa“ (Kahnnasen) nennen. Des-
halb wird auch die Nase ein Gegenstand längerer Mani-
pulationen, indem die Mutter während des Säugens dieselbe
mit der Hand niederpreßt und zu formen sucht.
Die Sitte des Austausches von Geburts- und Aus-
steuer-Geschenken seitens der beiderseitigen Familien hat
manchmal traurige Folgen für die Vermählten, die zuweilen
dadurch ganz getrennt werden. Ist nämlich eine Seite
mit den erhaltenen Geschenken nicht zufrieden, so entsteht
zwischen beiden Familien bitterer Zwist und es folgen In-
triguen, denen die beiden Eheleute ganz machtlos gegenüber-
stehen und wobei sie der leidende Theil sind.
„Unsere Schwiegertochter ist arm, ihre Aussteuer sehr
dürftig“, heißt es mit einem Male im Dorfe, und das Ge-
rücht verfehlt nicht, in Blitzcseile die junge Frau und ihre
Eltern zu erreichen. Die letzteren antworten mit boshaften
Bemerkungen über die „Ol6a“ des Mannes, die in keinem
Falle dem gegebenen „Tonga“ gleichen. Einmal auf den
Zungen des Dorfes, lodert der Zwist in hellen Flammen
ans und der arme Ehemann, der noch mit seiner Frau in
ihrem Elternhaufe lebt, hat schwere Zeiten zu durchleben.
Die alte Mutter, durch boshafte Verleumdungen aufgereizt,
wiederholt ihm fortwährend: „Gehe doch, gehe! Was
bleibst Du denn hier? Du Mauaiia?“ (mit Spott an-
gewandt, meint sonst einen hübschen Mann). „Gehe, suche
Dir eiue reiche Aussteuer, unsere Arme bleibt bei uns.“
Umsonst versichert der Mann, daß er mit dem Streite nichts
zu thun habe. Die spöttischen Mahnungen wiederholen sich
alltäglich, und endlich ermüdet weichend, sagt er zu seiner
Frau: „Ich werde wohl gehen; sobald Euer Zorn sich ge-
legt hat, komme ich wieder.“ Die Frau, wenn sie ihn auch
halten möchte, fürchtet ihre Verwandten, und der Vermählte,
auf beide Familien wüthend, geht nach seinem eigenen
Hause. Indessen gehört Familienkrieg bei diesem leicht-
lebigen Volke zur Lebenswürze und die Erregung äußert
sich bald in milderen Formen. Trotz des bestehenden Zwi-
stes fragt der Mann durch Vertreter nach dem Befinden
der Frau und des Kindes und endlich bittet er um letzteres
auf kurze Weile. Nachdem er es geherzt hat, schickt er es
mit Geschenken zurück. Der Arme hat wohl manche Qual
auszustehen. Manche Nacht schleicht er um das Haus
herum, in welchem sie schläft und vielleicht eben an ihn
denkt. Aufgeregt eilt er auf den Strand, um in der Seebrise,
dem Rauschen der Brandung, Kühlung und Ruhe zu er-
langen. Indessen es ist Nacht____die Zeit der Geister___
und er ganz allein im Freien! Plötzlich erschallt über
seinem Haupte der unheimliche Ruf der Eule. Es befällt
ihn ein Grausen. Zahlreiche Leuchtkerfe, wohl Geister der
Verstorbenen, kreuzen und schwirren in der Dunkelheit
umher. — Vor Angst zitternd eilt er nach Hause, ermüdet
und froh, daß ihn kein böser Geist gepackt hat.
Nach einiger Zeit muß sich aber der Zorn auf beiden
weiten legen. Die Klagen beginnen zu verstummen und
der junge Ehemann, seinen Muth zusamnlcnrasfend, begiebt
sich nach dem Hause seiner Lieben. Er geht langsam und
bedächtig, als ob er nicht sicher wäre, an welcher Seite der
Eingang sich befindet. Er bückt sich, als ob er etwas auf-
hebe; dann verliert er es wieder____ Die ganze Zeit hin-
durch jedoch bewacht er scharf das Innere, um wahrzunehmen,
welchen Eindruck seine Annäherung hervorruft. Er über-
legt genau seine Anrede, er sucht nach der besten Weise,
seine Frau aus dem Elternhause zu entfernen. Endlich
mit sich im reinen, geht er geradezu aufs Haus los und
eintretend setzt er sich schweigend und ganz bescheiden auf
den unbedeckten Boden. Weiter im Innern sitzt seine Frau,
scheinbar mit dem Kinde so beschäftigt, daß sie ihren Ge-
mahl nicht wahrnimmt. Der alte Vater bessert ein altes
Fischnetz aus; er sitzt nicht fern von dem Ankömmling, aber
das Netz fesselt seine ganze Aufmerksamkeit. Die Mutter,
dicht bei der Tochter sitzend, ist ganz in das Flechten einer
Matte vertieft. Alle schweigen, selbst der muthige Ehe-
mann, der stumm vor sich hinblickt.
Endlich beginnt der Hausherr, als wenn niemand an-
wesend wäre, seine alten Beschwerden wieder anzuheben. Alle
Grade der Erregung und des Zornes durchlaufend, und
plötzlich sich zu dem Schwiegersöhne wendend, zählt er ihm
ganz genau vor, wie viele schöne Matten, wie viele Stück
ausgezeichneten Tapa u. s. w. die „Tonga“ seiner Tochter
ausmachten. Er beweist ihm dann, daß die „Oloa“-Ge-
schenke seinerseits gar nichts taugten, und schließt damit,
daß seine sämmtlichen Verwandten gierige Lügner und
Dummköpfe sind. Der auf solche Lobrede seiner Verwandten
völlig vorbereitete Schwiegersohn schüttelt bejahend mit dem
Kopfe und wiederholt mit möglichst zufriedener Miene:
„mongi, mongi lawa!“ „Ja, das ist wirklich wahr.“ —
Der alte Vater bestellt dann etwas zum Essen, und ohne
dieses abzuwarten, eilt der wieder in Gnaden Aufgenommene
zu seinen beiden Lieben.
So ist endlich der Zwist geendet. Die Verwandten
des Mannes kommen mit weiteren Geschenken, und nach-
träglich nimmt der Mann Frau und Kind und zieht froh
und wieder beschenkt nach der eigenen Heimath.
Die Mutter säugt das Kind sehr lange, manchmal so-
gar einige Jahre, um, wie es heißt, „es in Kräften auf-
wachsen zu lassen“. Der Säugling wird auf den gekreuzten
Lenden gepflegt, wo das Schütteln derselben die Wiege ver-
tritt. Einige Monate alte Kinder werden von der Mutter
auf der Seite über einer der Hüften getragen, wobei die
Beine des Kindes den Leib der Mutter und die Arme der
letzteren den Rücken des Kindes umfassen. Trotz der über-
mäßigen Liebe, die den Kindern gezollt wird, kann man
nicht sagen, daß sie weichlich erzogen werden. Die Mutter
nimmt das ganz kleine Kind ins Wasser und zieht und
renkt ihm alle Glieder aus, eiue Behandlung, die aus die
Gesundheit und Behendigkeit desselben nur den besten Ein-
fluß ausüben kann.
Die Töchter bleiben bis zur Verheirathung bei der
Mutter, die Söhne nur bis gegen das siebente Lebensjahr,
wo sie dann unter die Aufsicht des Vaters oder eines der
männlichen Verwandten kommen. Sie saugen früh an,
das Leben und die Kunst, seine Bedürfnisse zu befriedigen,
kennen zu lernen. In dieser Zeit erhält der Knabe seinen
Namen und unterliegt einer Art von Beschneidung, einer
auch auf anderen Inseln Polynesiens geübten Sitte, die
jedoch keine religiöse Bedeutung hatte. Die Operation ge-
schieht ohne besondere Ceremonien, indem einige Knaben
zusammen zu einem sachkundigen Manne gehen, der gegen
ein Geschenk aus Matten dieselbe ausführt.
Die Kinder beiderlei Geschlechts, obgleich seit der
72
Oskar Lenz' Reise durch Nordwest-Afrika.
Die Kinder beiderlei Geschlechts, obgleich seit der
frühesten Zeit mit der Wirklichkeit des Lebens vertraut,
haben nichtsdestoweniger einen Begriff von Sittlichkeit. Sie
laufen zwar in der ersten Lebenszeit nackt und schlafen mit
den Erwachsenen zusammen, wodurch sie rasch eine Reifheit
der Sprache und der Begriffe erreichen, indessen dieser freie
Verkehr der beiden Geschlechter mit einander zieht nicht
nothwendigerweise eine sinnliche Zügellosigkeit nach sich.
Im Gegentheil, die früher bestehende Sitte des „Faiainga",
auf die näher einzugehen hier nicht der Ort, und in Aus-
übung welcher die Neuvermählte öffentlich ihre Würdigkeit
beweisen mußte, zeigt daß die Samoanerinnen die Keusch-
heit auch vor der Vermählung kannten.
Ihre Arbeiten lernend, sind die Kinder schon früh im
Hanse nützlich. Der Sohn begleitet den Vater nach den
Pflanzungen, lernt das Tarofeld bebauen und Bananen und
L)ams pflanzen. Er folgt ihm in dem Kahne aufs Wasser,
seine Hand an die Paddel, den Speer und das Netz ge-
wöhnend. Im Walde lernt er durch ihn die nützlichen
Pflanzen und wirksamen Kräuter kennen. Er erkennt ge-
sunde Stämme für Hauspfosten und für Kanoekörper, er-
lernt sie mit der Axt behauen und aushöhlen. Im Hause
lernt er das Dach nähen, Körbe flechten, Schnüre drehen,
Speere schnitzen und Angeln für Fische bereiten.
Die Tochter hilft der Mutter vor allem bei der Pflege
ihrer Geschwister und im Flechten feiner Matten, Fächer
und Taschen. Sie lernt singen und tanzen, um zu gefallen,
um von einem Tapferen geliebt zu werden; sielernt weinen,
um ihn seden Augenblick beweinen zu können.
Mit der Zeit nimmt der Knabe an Jahren zu und
fühlt, daß er auf gleicher Stufe steht mit der anderen
Jugend, die schon die Mühen und Vorrechte der Erwach-
senen theilt. Es wartet seiner aber noch eine schwere Prü-
fung!_____ Ehe es ihm die Sitte erlaubt, sich um das
Lächeln einer Schönen zu bewerben oder seine junge Hand
nach dem gefallenen Haupte eines Kriegers auszustrecken,
muß er sich der schmerzhaften Operation des Tatuirens
unterwerfen.
Trotz all der Versuche der Missionare, diese Sitte zu
ersticken, würde sich ein junger Mann schämen, in der Mitte
seiner Genossen zu erscheinen, ohne diesen Beweis seiner
Mannbarkeit aufweisen zu können. Bei dieser Probe seiner
Standhaftigkeit, die er sammt einer Anzahl Genossen gleichen
Alters unternimmt, ist er bedeutenden Schmerzen ausgesetzt,
indem der ganze Untertheil des Leibes, von unterhalb des
Nabels bis zum oberen Drittel des Oberschenkels mit einem
dichten Muster, unserer Schwimmhose gleich, bedeckt wird.
Ihrer Schmerzhaftigkeit halber wird diese Operation nicht
mit einem Male fertig vollendet, sondern nach und nach aus-
geführt, so daß einige Monate vergehen ehe sie ganz be-
endigt wird. Geschieht dieses aber, so ist der Jüngling ein
Mann geworden und er wühlt sich einen Häuptling, bei
dem er verbleiben will, wenn er nicht bei seinem Vater
bleibt.
In Samoa giebt es keine Diener oder bezahlbare Ar-
beiter und die Hausbeschäftigungen werden daher auf sämmt-
liche Familienmitglieder vertheilt. Die jüngeren befassen
sich mit dem untergeordneten Theile der Küche und mit
Herbeischaffen der Nahrung. Der eine sorgt für Feuer-
holz und den Steinbackofen, der andere geht auf den Fisch-
fang oder die Jagd. Die Hausfrau, wenn sie nicht mit
Anderem beschäftigt ist, vertauscht ebenfalls gern ihr
besseres „Lavalava" mit einem „Lapa" und geht zur
Küche, wo ihr dann natürlich das Leichteste zufällt, das
Anordnen, Lachen und vielleicht die Brotfrucht abzuschälen.
Das wirkliche Bereiten der besonderen Speisen, der schmack-
haften Balsami, Faiai u. a. liegt einem erfahreneren Mit-
gliede ob.
Gewöhnlich schon früh des Morgens ist der „Umu",
der Steinbackofen, der die gebackene Taro und Brotfrucht
für einige Tage liefert, fertig. Nach dem Morgenessen
geht der Hausherr auf Besuch oder seiner Beschäftigung
nach. Die Frauen ordnen das Wohnhaus und das Empfang-
haus und befassen sich mit Plaudern und Mattenflechten.
Die junge Welt, den ganzen Tag vor sich habend, denkt
an Schmuck, und hier sind es die Frauen, die eine gewich-
tige Nolle spielen: sie schneiden das Haar, reiben es mit
Kalk oder Oel ein, berathen über die einzusteckenden Blumen
und Guirlanden und beurtheilen das Aeußere eines geputzten
jungen Mannes, der nach dem nachbarlichen Dorfe auf eine
„Malanga" (zu Besuch) geht. Die Samoaner sind äußerst
gastfreundliche und Gesellschaft liebende Menschen, und
„Besuche machen" steht immer auf der Tagesordnung;
durch Besuche verständigen sich die Nachbarn, halten sich
die zerstreutesten Familien zusammen, werden Frieden und
Kriege entschieden.
Oskar Lenz" Reise durch Nordwest-Afrika.
Der ersten kurzen Anzeige des Lenz'schen Reisewcrkes
(s. oben S. 16) lassen wir heute einige ausführlichere
Mittheilungen folgen. Der allgemeine Verlaus der Reise
ist unseren Lesern bereits aus einigen vorläufigen Mit-
theilungen („Globus" Bd. 38, S. 88 u. 104 und Bd. 39,
S. 302) bekannt; im Folgenden heben wir einige wichti-
gere Punkte ans dem lange erwarteten Werke hervor, zu
dessen gerechter Beurtheilung man stets den schwerwiegenden
Umstand im Auge behalten muß, daß die Reise durch z. Th.
fanatisch mohammedanische Länder führte und Lenz der
Menge gegenüber sich als Mohammedaner ausgab, eine
Maskirung, die indessen nicht immer und überall aufrecht
zu erhalten war. „Das Mißtrauen der Bevölkerung —
schreibt er in der Vorrede — ging soweit, daß ich häufig
die Tagebuchnotizcn nur während der Nacht, wenn alles
schlief, schreiben konnte, und oft kam es vor, daß ich mich
nicht einmal nach dem Namen einer der durchzogenen Ort-
schaften erkundigen dwrfte; insbesondere gilt das von der
Strecke Timbuktu-Medina, die auch manche Lücke aufweist."
Der erste Band der Reisebeschreibung behandelt die
Durchwanderung Marokkos; hier ist es besonders die Ueber-
steigung des Atlas und des diesem im Süden parallel
ziehenden sogenannten Anti-Atlas, welche das Interesse
der Geographen auf sich zieht, die mit Lenz sich in dem
Bedauern vereinigen, daß die Bevölkerung bisher ein ge-
naueres Studium dieses ausgezeichneten Kettengebirges un-
möglich gemacht hat. Der marokkanische Theil desselben
besteht aus einer Anzahl ausgedehnter Längsthüler, welche
Art von Thalbildung entschieden vorherrscht gegenüber den
Ouerthülern. Von letzteren giebt es wenig; dieselben sind
kurz, schmal und wenig tief eingcschnitten. In Bezug auf
die geologische Zusammensetzung muß hervorgehoben werden,
Oskar Lenz' Reise durch Nordwest-Afrika.
73
daß nach Norden zu jüngere Schichten entwickelt sind, wäh-
rend nach Süden hin nur die ältesten Formationen auf-
treten; es hat der Atlas also nicht einen symmetrischen
Bau, wie etwa die Alpen, wo sich um einen centralen
älteren Kern nach beiden Seiten hin jüngere Formationen
anschließen. Eine aus rothem Sandstein bestehende Bil-
dung spielt im westlichen Atlas eine sehr bedeutende Nolle;
eine genauere Fixirung der Formation ist bisher nicht
möglich gewesen. Im Gegensatze hierzu scheinen im Rif-
Gcbirge am Nordrande Afrikas ältere Bildungen bis an
das Mittelmeer zu reichen und jüngere Formationen treten
nach Süden zu ans. Der marokkanische Atlas steigt von
Norden aus langsamer an und fällt nach Süden steil ab
ins Wad Sus. Beim Anti-Atlas ist cs umgekehrt; hier
füllt der Nordrand, welcher aus denselben Gesteinen wie
der Südrand des Atlas besteht, sehr steil ab, während nach
Süden zu der Anti-Atlas allmählich abfällt und sich in
eine Anzahl immer flacher und niedriger werdender Hügel-
reihen auflöst. Aehnlich wie das Thal des Wad Sus
bildet das Wad Nun noch einmal einen tiefen, aber weniger
breiten Einschnitt in die paläozoischen Schichten des Anti-
Atlas. An diesen schließen sich dann die flach geneigten
Kohlcnkalkschichten der nördlichen Sahara, welche bis tief
hinabreichen, bis in jene Region, wo Granit- und Porphyr-
durchbrüche die Grenze der reinen Sandwüste bezeichnen,
in der nirgends ein Gestein zu Tage tritt, bis erst wieder
tief im Süden, beim Abstieg ins Thal des Senegal, die
das Plateau el-Hodh zusammensetzenden Schichten sichtbar
werden.
Den Schluß des ersten Bandes machen zwei Kapitel
„Marokko alsStaat", welche, mit großem Fleiße nach ori-
ginalem Materiale gearbeitet, eine Uebersicht der Geographie,
der Bevölkerung, der Verwaltung und Rechtspflege, des
Finanzwesens, der Militärverhältnisse u. s. w. u. s. w. geben;
ein Stoff, wie geschaffen zum Zugreifen für Bearbeiter
von Handbüchern der Geographie und Statistik. Hinsicht-
lich der Bevölkerungsziffer weicht Lenz bedeutend
von G. Rohlfs ab. Dieser schätzte dieselbe 1872 (Zeitschr.
d. Ges. f. Erdk. zu Berlin 1872,, ©.56 ff.) auf 61/, Mill.,
davon zwei Drittel Berber, ein Drittel Araber, etwa
100 000 Juden, ca. 50 000 Neger, einige Hundert Rene-
gaten (meist Spanier) und 4000 bis 5000 Europäer in
den Hafenstädten. 1883 dagegen möchte er sich „viel lieber
zu der von Klöden vertretenen Ansicht bekennen, welcher
die Bevölkerung von Marokko auf nur 2 750 000 ver-
anschlagt" (Petermanu's Mitth., 1883, S. 212). Lenz
dagegen pflichtet für das gesammte Marokko, also inklusive
Tuat, Tasilalet u. s. w., der schon von Trent Cave aus-
gesprochenen Ansicht bei, daß acht Millionen Ein-
wohner nicht zu hoch gegriffen sind. Zur Begründung
dieser Annahme weist er u. a. auf die zahlreiche Berber-
bevölkerung in den Gebirgen, ans eine ganze Anzahl Städte
mit stattlicher Einwohnerzahl (Fas, Marrakesch, Miknasa,
Mogador, Oasr-el-Kebir, Wasan, Udschda, Thesa) rc. hin.
„Die am häufigsten von Touristen zurückgelegte Strecke
Tanger-Füs •— sagt Lenz (I, S. 355) — ist allerdings
verhältnißmäßig schwach bevölkert; wenn man aber z. B.
von Rabat nach Marrakesch reist, so folgt eine große
Oasbah nach der anderen und das ganze Gharb ist mit
zahlreichen Duars bedeckt. Der Kinderreichthum der Fa-
milien ist nicht gering, und wenn auch die marokkanischen
Frauen infolge einer zu frühen Verheirathung im allge-
meinen nicht viel Kinder haben, so ist doch durch die all-
mein herrschende Sitte der Mehrweiberei und durch den
Umstand, daß auch häufig Negerinnen geheirathet und deren
Kinder anerkannt werden, für Nachwuchs reichlich gesorgt."
Globus XLVII. Nr. 5.
Ueber die Zusammensetzung der Bevölkerung spricht sich
dagegen Lenz nicht direkt aus. Er nennt (I, S. 360) die
Berber den „Hanptbestandtheil der Bevölkerung Marokkos",
sagt aber andererseits (I, S. 362), daß die ackerbautreiben-
den und nomadisirenden Araber und die städtcbewohnenden
Mauren, letztere ans der Vermischung der Araber und
Berber hervorgegangen, „zusammengenommen ebenso viel Be-
wohner geben dürften als die Berber." Die Zahl der Juden
schätzt er mit Rohlfs auf 60 000, die der Neger auf etwas
höher, die der Christen in den Küstenstüdten auf einige
Tausende.
Der zweite Band wird mit der Beschreibung des be-
schwerlichen dreißigtägigen Wüstenmarsches durch die Sa-
hara eröffnet. Gefährlich erwies sich dieselbe nur für
einen Diener des Reisenden, der durch eigenes Verschulden
von der Karawane getrennt wurde und wahrscheinlich ver-
schmachtet ist. Aber durchaus anders stellt sich die Sahara
dar, als man sie sich gewöhnlich vorstellt: statt Tiefebene
— Hochebene (der tiefste Punkt des ganzen Jtinerars liegt
immer noch 120 bis 150 in über dem Meere); statt un-
endlicher Einförmigkeit — große Mannigfaltigkeit in der
Configuration; statt unerträglicher Hitze — durchschnittlich
30° E.; statt absoluter Wasserarmnth — reichliche Brun-
nen, sogar wasserführende Flüsse! Die Thierwelt ist über-
aus ärnllich, und wer etwa in der Sahara zu jagen hofft,
dürfte bitter enttäuscht werden. Nur wilde Rinder, Ga-
zellen und Antilopen finden sich in der Nähe großer Arcg-
regionen, wo Futter wächst. Das Gebiet des Löwen be-
ginnt erst in dem großen Mimosenwalde cl-Azauad, südlich
von Arauan, wo cs schon eine reichere Vegetation und
mehr Wasser giebt. Sonst traf Lenz ans Schlangen,
Schakale, große Eidechsen, Singvögel, die in einzelnen
Arcgregioncn leben, und deren anmuthiger Gesang wesent-
lich zur Erheiterung beiträgt, ferner große schwarze Lauf-
käfer, schwarze und silberglänzende Ameisen, Fliegen in
zwei Arten und Skorpione. „Es ist in der Wüste eine
außerordentlich reine und gesunde Luft, und Krankheiten
kennt man dort nicht, mit Ausnahme von Augenleiden, die
aber nur der Unreinlichkeit der Bevölkerung zuzuschreiben
sind. — Die Wüste ist schön, sehr schön, trotz der Hitze
und der Dünen. Die ungeheuere Einöde hat etwas Ge-
waltiges, Erhabenes, wie der weite unendliche Ocean. Ein
Sonnenaufgang in der Sahara oder eine milde Mondnacht
daselbst sind von unbeschreiblichem Zauber, von großartiger
Schönheit und rufen Eindrücke hervor, die unverwischbar
sind. Wer dann ausgestattet mit Empfänglichkeit für alles
Große und Schöne in der Natur und beglückt ist mit einem
leichteren Sinn, wen nicht die beständige Furcht vor etwaigen
Gefahren befangen macht in der Betrachtung all dieser
Herrlichkeit, der wird gewiß mit aufrichtiger Freude der
in der Sahara verbrachten Zeit gedenken, dankbar einem
freundlichen Geschick, welches ihn all diese Wunder bei ge-
sundem Leibe und gesunder Seele genießen ließ." Weniger
zuträglich erwies sich der achtzehntägige Aufenthalt in dem
baumlosen Timbuktn, wo Lenz viel am Fieber zu leiden
hatte, wie vor ihm Heinrich Barth, eine Folge der llcber-
schwemmungen des Niger. Die Bedeutung der Stadt,
deren Bevölkerung Lenz auf ca. 20 000 Einwohner, freilich
mit Einschluß von vorübergehend anwesenden Tuarik und
Fulbe, schätzt, liegt in ihrem Handel; es ist eigentlich nur
ein großer Markt oder Entrepüt, ein Sammelplatz von
Händlern, welche hier die Produkte des Südens und Nor-
dens austauschen, und gehört keinem Staate an, weder dem
Fnlbereiche Massina (oder Moassina, wie Lenz gehört hat),
noch den Tuarik. Beide streiten sich immer nur um das
Recht, Steuern zu erheben, während die Regierung der
10
74
Oskar Lenz' Reise durch Nordwest-Afrika.
Stadt dem Kahia oder Bürgermeister zufällt, der es stets
mit dem augenblicklich Stärkeren von jenen beiden halten
muß. Diese mißlichen politischen Verhältnisse tragen die
Schuld daran, daß der Handel der Stadt gegen früher be-
deutend herabgegangen ist.
War die allgemeine Richtung der Reise bisher eine
südliche gewesen, so wurde sie von Timbuktu aus mehr eine
westliche; sie führte fast beständig durch ebenes Land, das
fast durchweg zwischen 230 und 330 m Mcereshöhe
gelegen ist. Erst kurz vor Erreichung des Senegal liegt
der Abstieg von rund 200 m Höhe. Es ist ein Gebiet,
welches durch den Mangel an fließendem Wasser charakteri-
sirt wird und nur Dasas oder stehende Teiche besitzt, die
in der Regenzeit viel, in der trockenen Zeit wenig und
schlechtes Wasser enthalten; dabei ist es bis Bassikunnu hin
reichlich mit Futterkräutern bestanden, eine Uebergangszone
von der Sahara zum tropischen Sudan, wo verschiedene
mehr oder weniger mit Tuareg- oder Negerblut vermischte
Araberstämme, die Turmos, Uasra, Dileb und Alusch ihre
Herden weiden. Von den Turmos freundlich aufgenommen
und beschenkt, von den Alusch dagegen ausgeplündert, er-
reichte Lenz doch glücklich Bassikunnu, wo er südwärts in
die Gebiete der Neger abschwenkte. Kurz vor dieser kleinen
Stadt nahm der Boden eine andere Beschaffenheit an; an
Stelle des sandigen Lehmes traten kleine Steine ans,
Quarzitbrocken, eine eisenschüssige Quarzitbreccie, die, zu
Grus zerfallen, den Boden mit einem groben Sande be-
deckte, welcher demselben eine große Festigkeit verlieh. Ferner
fanden sich Körner und Knollen von Brauneisenstein, ge-
glättet wic Bohnerze, kurz, es war das, was man „Latent"
nennt, eine die Oberfläche des Bodens bedeckende Bildung,
die im äquatorialen Afrika, Asien und Amerika eine un-
geheuere Verbreitung hat. Ihr Auftreten hier bei Bassi-
kunnu, einem zumeist von ackerbautreibenden mohammedani-
schen Negern bewohnten Städtchen, bezeichnet gewissermaßen
die Nordgrenze der Tropenregion, welche sich außerdem auch
durch eine reichere und kräftigere Flora, dichten Waldbestand,
enorme Negerhirse, Mais, Zuckerrohr, Kürbisse, Melonen
und gurkenartige Gewächse ankündigte. Jenseits (südlich)
von Bassikunnu erschienen zum ersten Male auch fleischige
Euphorbiaccen. Von diesem Orte ans führte der Weg
etwa vierzehn Tagereisen weit durch das Gebiet der Bam-
baraneger über Sokolo (6000 Einwohner) und Gumbu
(15 000 bis 20 000 Einwohner), beides Städte, deren
Negerbcvölkerung mehr oder weniger stark mit Arabern ge-
mischt ist. Jenseit Gumbu bis Bachuinit (8000 bis 10 000
Einwohner) hin haben sogar die Assnanikneger von den
eingedrungenen Arabern deren Sprache angenommen; leider
ist hier die Reiseschilderung weniger ausführlich, weil dort
die ganze Expedition fortgesetzt von schweren Erkrankungen
heimgesucht wurde. Dazu kamen noch Erpressungen
seitens der Machthaber in den größeren Orten, knappe
Mittel, schlechte Verpflegung, um diesen Abschnitt der Reise
zu dem unbehaglichsten von allen zu machen. Besonders
widerwärtig war der Verkehr mit dem Negerstamme der
Futa, in der Landschaft Kaarta, aus welchem der Eroberer
Hadfch Omar, der Vater des fetzigen Herrschers von Segu,
stammt. Den fanatischen Religionskriegen desselben und
deren Greueln schreibt Lenz die Verwilderung der Futa zu;
er nennt sie „unruhig, herrschsüchtig und anmaßend".
Schars unterscheiden sie sich von den zwischen ihnen woh-
nenden Fulani (Fulbe, Fuls), welche erst Hadsch Omar-
auf einem seiner Kriegszüge vom Niger her als Gefangene
nach Kaarta geschleppt und dort angesiedelt hat. Die
Dörfer derselben find sehr schön, wohlhabend, groß und
gut bevölkert, ihre Felder und Herden gut gepflegt; Rein-
lichkeit und Ordnung sind unverkennbar, Bettler giebt es
nicht. Körperlich und geistig stehen eben die Fulani höher
als die sie umgebenden oder begrenzenden Neger; sie selbst
möchten sich gern von den Arabern herleiten; Ethnologen
und Linguisten (F. Müller, Krause) dagegen sehen sie als
einen Uebergang von der Negerrasse zum mittelländischen,
speciell hamitischen Typus an, und zwar nähern sie sich
dem letzteren mehr als der ersteren. Die unvermischten
Fulani haben eine lichte Haut, ein den Ariern vollkommen
gleiches Gesicht, eine schön entwickelte, schwach gebogene
Nase, gerade Stirn, feurige Augen, elegante schlanke Glie-
der, langes schwarzes Haar und hohe magere Figur. Ihre
ruhige, vornehme Haltung, die sanfte Sprache imponiren
entschieden; nur haben die meisten einen etwas düster-
fanatischen Blick im Auge, eipe religiöse Schwärmerei, die
zu einem unversöhnlichen Haß gegen Ungläubige ausarten
kann. Sie haben schon früh den Islam angenommen und
gehören zu den glühendsten Vertheidigern der Lehre Mo-
hammed's. Das Studium des Koran wird eifrig betrieben
und in jeder kleinen Gemeinde befinden sich Schulen, so
daß jeder reine Fule lesen und schreiben kann; und zwar
wird vorzüglich das Arabische gelehrt, obgleich es auch
fulanische Grammatiken giebt mit von den arabischen nur
wenig abweichenden Schriftzeichen. Bemerkenswcrth ist
ferner die außerordentliche Thätigkeit, die Werthschätzung
der Arbeit überhaupt, sowie ihre Ehrlichkeit, die mit ihrer
tiefen Religiosität in Verbindung steht. Diese Eigenschaften
finden sich selbst noch bei den Mischlingen, den schwarzen
Fulbe (so genannt im Gegensatze zu den rothen oder un-
vermischten), die bei weitem nicht die Trägheit und Hals-
starrigkeit des stumpfsinnigen Negers haben.
Als Lenz den französischen Posten Medina am Senegal
erreicht hatte, nahmen feine Entbehrungen und Strapazen
sofort ein Ende; von Seiten der französischen Behörden
und Officiere fand er überall das liebenswürdigste Ent-
gegenkommen. Mit einer sehr anerkennenden allgemeinen
Schilderung des französischen Senegambien schließt die
eigentliche Reisebeschrcibung. „Trotz der so häufig gehör-
ten Phrase, — sagt er — Frankreich verstehe nicht zu
kolonisiren, hat dieses Land in Afrika fchon sehr viel ge-
than, und man kann nur wünschen, daß die großen Pro-
jekte, die man in Senegambien hat, ihrer Realisirung ent-
gegengehen." Speciell über die Sencgaleisenbahn urtheilt
er folgendermaßen: 1) „Die technischen Schwierigkeiten
scheinen, abgesehen vom schlechten Klima, nicht bedeutend
zu sein. 2) Der Verkehr der Küste mit dem Innern
dürfte derart steigen, daß die übrigens nicht einmal so be-
deutenden Herstellungskosten der Bahn durchaus nicht als
verlorenes Kapital anzusehen wären. 3) Die politischen
Verhältnisse für die Franzosen sind nicht ungünstig und
würden vollkommen beruhigend sein, wenn es gelänge, den
schädlichen Einfluß des Sultans von Segu und seiner Fnta-
Clique in irgend einer Weise zu brechen." Bei der pro-
jektirten Saharabahn dagegen wären die technischen Schwie-
rigkeiten wohl mit Zeit und Geld zu überwinden, nicht
aber die politischen, und jede Rentabilität sei zunächst aus-
geschlossen.
Mit einem Kapitel über die ehemalige Bewohnbarkeit
und reichere Bewässerung der Sahara und einem anderen,
„Schlnßbetrachtungcn" überschrieben, welches die Bedrohung
der Afrikareisenden durch den Islam behandelt, schließt das
lesenswerthe Buch.
«... —- -
Kürzere Mittheilungen.
75
Kürzere M i
Die angebliche neue Insel bei Kap Reykjanes.
Vor einiger Zeit lief aus Island die Nachricht ein, daß
in der Nähe der südwestlichsten Landspitze der Insel, des
Kap Reykjanes, zuerst am 26. Juli d. I. eine neue Insel,
die aus dem Meere aufgetaucht, gesehen worden sei (vergl.
„Globus", Bd. 46, S. 224). Entdeckt war dieselbe von dem
Leuchtthurmwärter auf Reykjanes, der seiner vorgesetzten
Behörde einen amtlichen Bericht erstattete, nach welchem die
Lage der Insel sich etwa drei dänische Meilen (1 Meile
— 7532,48 m) südwestlich vom Kap Reykjanes in der
Richtung der Felseninsel Eldey (bekannter unter dem Namen
Melsäkken) befinden sollte. Am 24. August nahm der Kom-
mandant der französischen Fregatte „Dupleix" eine Unter-
suchung der Gegend vor, in welcher die Insel liegen sollte.
Dieselbe war von negativen Erfolgen begleitet. Glücklicher
waren zwei Officiere des französischen Transportdampfers
„La Romanche", die am 26. August vom Lenchtthurme von
Reykjanes die Insel (die inzwischen ihre Gestalt verändert
hatte und etwas zusammengesunken war) erblickten und ihre
Lage ausmachten. Wiederum gegcntheiligc Resultate erzielte
dagegen der Chef des dänischen Kriegsschoners „Fylla",
Kapitän Normann, welcher am 25. von Grönland Reykjavik
anlaufend, zwei Tage darauf, am 27. August, eiue sehr
gründliche Absuchung des in Frage stehenden Terrains be-
gann, während zweier Tage eine Fläche von 5 bis 6 Quadrat-
meilen durchforschte, trotz durchaus klarem und sichtigem
Wetter indeß keine Spur von der Insel zu entdecken ver-
mochte (vergl. „Globus", Bd. 46, S. 240), die noch am
26. August von den französischen Officiercn vom Lcucht-
thnrm zu Reykjanes gesehen worden war. Dasselbe Resultat
erzielte der Kommandant des französischen Transportdampfers
„Romanche", der zwei Tage später die Oertlichkeit unter-
suchte, wo nach dem Berichte seiner Officiere die neue Insel
liegen sollte, trotzdem der Leuchtthurmwärter auf Reykjanes
dieselbe sowohl an diesem wie an den folgenden Tagen bei
klarem Wetter zu erblicken vermochte. Wie letzterer vom
Glück begünstigt war endlich am 10. September der eng-
lische Konsul in Reykjavik, Herr Spence Paterson, der die
Insel mehrere Stunden lang, „einem Nebelfleck gleichend"
erblickte und über dieselbe zuerst am 26. September in
einem englischen Tagcblatte und weiter am 13. November
in der „Nature" Bericht erstattete, welch letzterer sogar noch
durch zwei Abbildungen verdeutlicht wurde, deren eine die
Gestalt zeigt, welche die Insel bei ihrem Entstehen besaß,
während die andere die Insel zeigt, wie sie zu Anfang
November dem Auge erschien (vergl. „Globus", Bd. 46,
S. 383).
Nach den äußerst bestimmten Angaben, die namentlich
von Konsul Paterson über die neu entstandene Insel ge-
macht worden sind, schien also die Existenz derselben unan-
fechtbar, trotzdem noch niemand einen Fuß auf die Insel
gesetzt hat. Man erklärte letzteres durch Hinweisung auf die
stürmische Witterung, die bisher an den isländischen Küsten
geherrscht hat, ein Einwand, der indeß vollständig hinfällig
wird, wenn man in Betracht zieht, daß die Kriegsschiffe
„Dupleix", „La Romanche" und „Fylla" sehr gutes Wetter
hatten und, wie aus einer Korrespondenz der Kopenhagener
„Nationaltidende" aus Reykjavik vom 18. Oktober hervor-
geht, die isländischen Fischer bis dahin sehr häufig die
Gegend besuchten, wo die Insel liegen soll- Doch weder
diese Fischer, die von ihrem Geistlichen eingehend befragt
wurden, noch auch der Führer des dänisch-isländischen Post-
Theilungen.
dampfers, der, um das Vorhandensein der Insel zu kon-
statiren, sowohl bei seiner Hin- als Rückfahrt nach und von
Island einen weit westlicheren Kours steuerte, als er sonst
üblich ist, vermochten irgend etwas von derselben zu ent-
decken. Und dies ist leicht erklärlich. Die Insel existirt
überhaupt nicht, noch hat sie jemals existirt. Der Leucht-
thurmwärter aus Reykjanes, die französischen Officiere und
Herr Paterson sind sämmtlich Opfer einer Verwechselung
geworden, die durch den Feuerwärter verschuldet ist. Vor
einiger Zeit bereits machte Kapitän Normann von der
„Fylla" darauf aufmerksam, daß eine Verwechselung mit der
äußersten der Eldeyjar (Feuerinseln, bekannter unter der
Bezeichnung Vogelscheeren), der „Grenadierkappe" oder dem
„Geirfugladrangr" vorliegen müsse. Diese Annahme hat
sich zwar nicht als zutreffend erwiesen; trotzdem ist jedoch
eine Verwechselung passirt und zwar mit der seewärts von
dem „Melsäkken" liegenden, sich etwa 30 Fuß über den
Meeresspiegel erhebenden kleinen Felseninsel „Eldeyjadrangr".
Die Officiere des französischen Stationsschiffes haben nach
einer isländischen Korrespondenz der schon oben erwähnten
Kopenhagener „Nationaltidende" vom 27. November bei
ihrer Abreise eine abermalige Inspektion der fraglichen
Meeresgegend vorgenommen und die bestimmte Erklärung
abgegeben, daß die Insel, von der sie im August voin Leucht-
thurme von Reykjanes eine Skizze entworfen, die Insel
„Eldeyjadrangr" sei, und auch Konsul Paterson ist zu der
Erkenntniß gelangt, daß die erwähnte Verwechselung vor-
liegt. Letztere ist um so leichter möglich gewesen, als der
Leuchtfeucrwärter sich erst seit dem vorigen Jahre auf seinem
Posten befindet und noch nicht genügend mit der Umgebung
seiner Station bekannt ist. Obschon es an und für sich
keineswegs zu den Unmöglichkeiten gehörte, daß eine neue
Insel entstanden sei (es sind deren in der Nähe der islän-
dischen Küste mindestens zu dreien Malen aufgetaucht), so ist
durch Vorsteheudes doch zur Genüge erwiesen, daß solches
dieses Mal nicht der Fall gewesen ist. H. B a y.
Johuston's Aufenthalt auf dem Kilimandscharo.
H. H. Johnston berichtete am 31. December über seine
zum Abschluß gebrachte Kilimandscharo-Expeditiou
(vergl. „Globus" Bd. 46, S. 111 und 224) an den Heraus-
geber der „Times" folgendes: „Die von mir jüngst unter-
nommene Expedition hat sich zu einem angenehmen und ge-
sunden Aufenthalte in einer der schönsten und interessantesten
Gegenden der Welt gestaltet. Anfangs Juni langte ich an
dem Gebirge an und ließ mich zuerst in Mandara's Gebiet
an dem Südabhauge nieder. Hier erbaute ich ein kleines
Dorf von ca. 20 Häusern und verbrachte vier Monate mit
Sammeln und zahllosen Ausflügen nach rechts und links.
Das Klima glich dem eines Devonshirer Sommers; Lebens-
mittel waren reichlich, billig und von großer Verschiedenheit,
und ich hatte nur die eine Furcht, daß diese herrliche Gegend
für mich ein Capna werden und mich von den wichtigeren
Arbeiten in größerer Höhenlage werde abhalten können. Als
ich daher von der Küste eine Verstärkung von abgehärteteren
Männern erhalten hatte, ließ ich mich in 11 000 Fuß Höhe
nieder und baute dort ein noch größeres Dorf in herrlicher
Lage; ein Gebirgsstrom rauschte hinter dem Kreise gedeckter
Hütten vorbei, die auf der Spitze einer grasigen Anhöhe
lagen. Nach Süden hin genoß man eine wunderbare Aus-
sicht auf sonnenbeschienene Ebenen und ferne Ströme, eine
10*
76
Kürzere Mittheilungen.
wahre Karte von Ostafrika, und nordwärts erhoben sich die
unsagbar großartigen Gipfel des Gebirges, der blendend weiße
Dom des Kibö und der Kimawenzi, ein gescheckter Pik von
schwarzem, zackigen Gestein, das stellenweise mit Schnee be-
deckt war. Von dort stieg ich so weit empor, als cs in einem
Tage möglich war; was mich jedoch an der vollständigen
Ersteigung eines der beiden Gipfel hinderte, war die Un-
möglichkeit, auch nur einen meiner Begleiter zu veranlassen,
mir höher als bis 14 000 Fuß zu folgen. Denn höher hinauf
litten sie so sehr von der Kälte und Bergkrankheit, daß weder
Zureden, noch Geld im stände war, sie zu weiterem Klettern
zu bringen, geschweige denn zunl Tragen von Gepäck. In-
folge dessen konnte ich mich nie über eine gewisse Entfernung
hinaus von der Niederlassung entfernen, denn wegen der
Kälte durfte ich mich nicht von der Nacht im Schnee über-
raschen lassen. Doch erreichte ich eine Höhe von 16 200 Fuß,
etwas mehr als 2000 Fuß unter dem Gipfel des Kibö
(18 800 Fuß). Ich fand warme Quellen in 14000 Fuß
Höhe, entdeckte keine Spuren früherer Gletscherthätigkeit und
war von der geringen Anzahl von Pflanzen an der Schnee-
linie etwas enttäuscht. Vögel waren in einer Höhe von
mehr als 10 000 Fuß sehr selten und unterhalb derselben sehr-
zahlreich. Eidechsen, Chamäleons und Frösche kamen bis
zur Schneegrenze hin vor. Klippschliefer waren zwischen
8000 und 13 000 Fuß Höhe gewöhnlich und nach meiner An-
sicht durch eine neue Species vertreten. Büffel und Elefanten
steigen bis 14000 Fuß hinauf. Die Gewitterstürme, welche
oft um die unteren Abhänge rasen, sind schrecklich und die
Winde zuweilen so heftig, daß sich niemand auf den Füßen
halten kann.
Die Eingeborenen, welche das Gebirge bis 6000 Fuß
Höhe bewohnen, sind lenksam und haben eine wahre Passion
für den Handel, der bei ihnen als großer Friedensstifter
wirkt. Sie gehen völlig nackt oder tragen doch selten mehr
als Lederkappen auf den Schultern. Ihre Dialekte gehören
sämmtlich zn dem großen Bantu -Sprachstamme. Ich habe
mehrere derselben sorgsam studirt und, wie ich glaube, einige
höchst interessante Punkte in ihrem Ban gefunden, welche
Licht über die archaischen Formen der Bantu-Präfixe ver-
breiten werden.
Nack, einem sehr glücklichen Aufenthalte in der lieblichen
Waldrcgion von Taveita am Fuße des Berges wurde ich
durch Mangel an Mitteln gezwungen, Ende November nach
der Küste zurückzukehren . . . Meine Sammlungen sind glück-
lich in England eingetroffen und werden hoffentlich genügen,
um den wahren Charakter und die Verwandtschaften der
Fauna und Flora des Kilimandscharo klarzulegen."
Die charakteristischen Züge der nordamerikanischcn
Vegetation.
Bemerkungen über die charakteristischen Züge der
nordamerikanischen Vegetation gab Prof.' Asa
Gray ans der letzten Versammlung der British Association-
Der erste Eindruck, welchen die atlantische Küste auf einen
europäischen Besucher hervorruft, ist die Aehnlichkeit der Flora
mit derjenigen Englands. Der größere Theil der Pflanzen
ist augenscheinlich eingeführt. Wollkraut, Leinkraut, Spitz-
wegerich, Schafgarbe und Klee wachsen überall an der Land-
straße, wie in England und vielleicht sogar in größerer
Ueppigkeit, da die Mitbewcrbnng eine schwächere ist. Je
mehr man nach Westen und Süden fortschreitet, desto merk-
licher wird der Unterschied, indem der europäische Typus
allmählich verschwindet. Aber die europäischen Ansiedlungen
dehnen sich aus und die Ansiedler nehmen ihre Pflanzen mit;
die Pflanzen sind Kinder der Zeit und reisen mit der Eisen-
bahn. Andererseits sind einige Pflanzen, aber eine weit ge-
ringere Anzahl, von Amerika nach Europa gebracht und dort
einheimisch gemacht worden. Dahin gehören Impatiens fulva
und Erigeron canadeDsis. Wenn wir uns von dem Ucber-
einstimmenden zu den Unterschieden wenden, so fällt dem
Europäer vor allem der große Reichthum an Bäumen und
Sträuchern ans. Der Grund hierfür ist wahrscheinlich in
den verschiedenen Bedingungen der beiden Coutinente während
der Eiszeit zu suchen. Die Flora von Europa ist aus-
nehmend arm an Bäumen, da bei dem Wiedereintritt eines
wärmeren Klimas die Rückkehr nach Norden für diejenigen,
welche im Süden der Vernichtung getrotzt hatten, durch das
Mittelmeer gehemmt wurde. Die fossilen Ueberreste von
Bäumen, welche zu vielen tropischen Ordnungen gehören,
werden in unseren Miocän- und Pliocänschichten gesunden;
in Amerika dagegen gab es nichts, was ihre allmähliche
Rückkehr aus dem Süden hindern konnte, und wir finden
daher vereinzelte Repräsentanten oder auch in einigen Fällen
eine große Zahl von Vertretern verschiedener tropischer Ord-
nungen unter den Bäumen der Nordstaaten. Solche sind
Menispermum (Menispermaceae), Liriodendron (Magnolia-
ceae), Diospyros (Ebenaceae), Tecoma (Bignoniaceae) und
viele andere. Diese Verschiedenheit wird auch durch die
größere Hitze begünstigt, welche den amerikanischen Sommer
im Gegensatz zu demjenigen Europas auszeichnet. Auf dem
Hochlande von Nordamerika finden sich auch viele arktische
Pflanzen, welche nach dem Entschwinden der Eiszeit zurück-
geblieben waren; aber diese Flora ist unbedeutend im Ver-
gleiche mit derjenigen Europas. Einer der interessantesten
Züge der nordamerikanischen Pflanzenwelt ist eine Region
mit echt tropischer Flora, welche sich an der atlantischen Küste
nordwärts bis zu den „Pine-Barrens" von New-Jersey er-
streckt. Für den westlichen Continent charakteristisch ist der
außerordentliche Reichthum au Kompositen, welche etwa ein
Achtel der ganzen Phanerogamenflora Nordamerikas aus-
machen; groß ist die Zahl der Arten von Aster, Solidago,
Eupatorium, Silphium und anderen Gattungen. Zwischen
der Waldregion der atlantischen und der Waldregion der
pacifischen Küste dehnt sich eine ungeheure Strecke waldlosen
Prärielandes aus, die Heimath des Büffels und vieler
Gräser; auch die Zahl der Kräuter mit farbigen Blumen-
kronen ist im Frühlinge sehr groß. Diesen Ebenen mangelt
es an Wasser; wahrscheinlich trugen sie niemals Bäume; sie
vermögen nur krautartige Pflanzen hervorzubringen, welche
in der heißen und trockenen Sommerzeit völlig verschwinden.
Die große Kette der Rocky Mountains ist an ihren Seiten
wohlbewaldet und hat auf ihren Gipfeln eine Flora von etwa
200 arktischen Arten. Wenn der Reisende die Sierra Nevada
erreicht, so betritt er vielleicht den schönsten Nadelholzwald
der Welt. Aber während die pacisische Küste an Koniferen
außerordentlich reich ist, so sind Arten aus anderen Ordnun-
gen weniger zahlreich vertreten, als an der atlantischen Küste;
die gänzliche Abwesenheit von Eichen, Eschen und Ahornen
ist besonders bemerkenswcrth. (Nature.)
Das Protektorat Englands über das südöstliche
Neu-Guinea.
8. 6r. Am 2. November 1884 traf das Admiralschiff
„Nelson" mit einem Tonnengehalt von 7323 und mit 12 Ge-
schützen , unter dem Kommodore I. E. Erskine, welcher die
aus sieben Kriegsschiffen bestehende und in Sydney stationirte
Südsee-Flotille kommandirt, in Port Moresby ein, um dort die
englische Schutzherrschaft über einen Theil des südöstlichen Neu-
Guinea in feierlicher Weise zu verkünden. Es begleiteten den
„Nelson" die vier Kriegsschiffe „Espiögle", „Raven", „Swinger"
und „Harrier". Port Moresby liegt an der südöstlichen Küste
von Neu-Guinea in 9" 27' südl. Br. und 147° 7' östlich von
Gr. und wurde im Jahre 1873 von Moresby, dem Kapitän
des englischen Kriegsschiffes „Basilisk" entdeckt. Man gelangt
in diesen schönen Hafen durch die 2,41 m breite und 8 km
vom Festlande entfernte Basilisköffnung im Great Barrier-
Reef, und findet 2 km von der Küste in einer Wassertiefe
von 1L3 m einen sicheren Ankerplatz. Port Moresby bildet
Aus allen Erdtheilen.
77
den Hauptort in dem mittleren Missionsdistrikte der Küste
von Bold Head (7° 45' südl. Br. und 14^46' östlich von Gr.)
bis zur Oraugery-Bay (10° 30' südl. Br. und 149035' östlich
von Gr.) und steht unter der Leitung der Revs. F. G. Lames
und I. Chalmers. Die Mission ist von der London Missio-
nary Society abhängig.
Der Commodore beorderte sofort zwei seiner Begleit-
schiffe nach verschiedenen Punkten der Südostküste, um von
dort so viele Häuptlinge wie möglich herbeizuholen. Sie
kehrten am 5. November zurück, und cs konnten sich fünfzig
Häuptlinge, von denen freilich der größere Theil aus Reprä-
sentanten der Mota-Stämme, welche ihren Wohnsitz um Port
Moresby herum haben, bestand, an Bord des „Nelson" ver-
sammeln. Hier wurden sie mit gekochtem und überzuckertem
Reis, der ihnen außerordentlich zu munden schien, sowie
mit Schiffszwieback regalirt. Der Kommodore machte
sie dann mit dem Zwecke der Ceremonie, welche am
nächsten Tage, dem 6. November, stattfinden sollte, näher
bekannt, und die Missionare Revs. Lawes und Chal-
mers dienten dabei als Dollmctscher. „Das Protektorat",
begann er, „besagt, daß ihr von jetzt ab unter dem Schutze
Ihrer Majestät, der Königin von England, steht. Uebel-
gesinnte Menschen sollen sich eures Landes nicht bemächtigen,
sollen euch nicht ans euren Wohnplützen vertreiben, oder euch
gar aus eurer Heimath fortführen Z. Ich bin angewiesen,
euch in dieser Beziehung des Schutzes Ihrer Majestät in
den stärksten Ausdrücken zu versichern und erkläre hiermit,
daß die, welche euch in solcher Beziehung Leid zufügen, die
strengste Bestrafung treffen wird. Das Land soll euch ver-
bleiben und eure Weiber und Kinder geschützt werden.
Sollten Weiße euch Unrecht zufügen, so wollt ihr bei den
königlichen Beamten sofort Anzeige davon machen und euch
soll Recht geschehen. Weiße dürfen sich überhaupt nur mit
besonderer Erlaubniß des High Commissioner unter euch
niederlassen und ihr wollt sie als neue Freunde und als
Unterthanen der Königin betrachten. Wer euch Unrecht zu-
fügt, darf nicht länger unter euch wohnen. Andererseits ist
es euch ebenso strenge untersagt, aus irgend einem Grunde
Rache auszuüben. Das Strafen muß allein Sache der
Beamten seht* 2)".
x) Offenbar eine Anspielung auf die Zuckerplnntagcn im
nördlichen Queensland. Es waren in letzter Zeit Fälle vor-
gckommcn, das; Eingeborene auf Inseln an der Küste von
Neu-Guinea von rohen Schiffskapitäncn gewaltsam ergriffen
und ohne ihren Willen aus die Plantagen in Queensland
geschleppt wurden.
2) Es sind dies soweit schöne Worte, wenn sie nur ge-
halten würden oder gehalten werden könnten. Der Rechts-
boden , auf welchem diese Eingeborenen und die Europäer
Gedruckte Exemplare der Proklamation in englischer
Sprache wurden dann den Häuptlingen verabreicht mit dem
Bemerken, daß UÜbersetzungen davon in der Motusprachc in
nächster Zeit nachfolgen sollten.
Am folgenden Tage fand die eigentliche Ceremonie statt.
Sie soll eine sehr imposante gewesen sein und einen tiefen
Eindruck auf die Häuptlinge gemacht haben. Von der Be-
satzung der Kriegsschiffe waren 200 Officiere, Marinesoldaten
und Matrosen gelandet. Der Commodore ernannte den
Häuptling der Motu-Stämme, mit Namen Boe Vagi, zum
Oberhäuptlinge und überreichte ihm einen Stab aus Eben-
holz, an dessen oberem Ende ein Florin, mit dem Bilde der
Königin Victoria und mit einem Silberbande umgeben, ein-
gefügt war. „Dieser Stab", begann der Commodore, „den
ich dem Boe Vagi hiermit übergebe, ist das Emblem seiner
Autorität. Der Stab repräsentirt das Haupt der Königin
von England. In streitigen Fällen haben sich die Angehörigen
der einzelnen Stämme, deren Häuptlinge hier versammelt
sind, immer zuerst an den Inhaber dieses Stabes zu wenden,
und dieser wird dann ihre Beschwerden und Klagen vor die
königlichen Beamten zur Untersuchung und Entscheidung
bringen Z. Auch habe ich noch zu erklären, daß der Besitz
von keinem innerhalb des Protektorates bisher erworbenen
Lande — wann und zu wessen Gunsten es immer geschehen
sein mag — von seiten der Königin anerkannt werden wird."
Das Protektorat soll sich auf den südöstlichen Küsten-
distrikt von 141° östl. von Gr., wo die holländische Be-
sitzung aufhört, bis zum East Cape in 10° 13' ssidl. Br. und
150° 55' östl. von Gr. erstrecken, mit Einschluß aller an-
liegenden Inseln südlich von East Cape bis Kosmann Island
und mit Einschluß der Inseln in den Goschen Straits in
10" 4' südl. Br. und 150» 55' östl. von Gr. Am Schlüsse
der Feier wurden dann noch allerlei Geschenke an die Häupt-
linge vertheilt.
Es hat in Australien, unter Führung des Mr. James
Service, Premierministers der Kolonie Victoria, großen Un-
willen erregt, daß nicht das ganze östliche Neu-Guinea unter
englisches Protektorat gestellt worden ist, und das um so
mehr, als bald darauf die deutsche Flagge an der Nordküste
aufgehißt wurde.
stehen, ist aber ein zu verschiedener, und diese Verschiedenheit
wird von den Eingeborenen nicht verstanden. Kollisionen
werden sehr bald eintreten. Okkupation, Schutzherrschast, An-
nexion und absolute Herrschaft — das sind die Stadien,
welche auch Neu-Guinea wird durchzumachen haben.
i) Diese Anordnung erscheint als unausführbar, wenn sic
für alle Stänime an der langgestreckten südöstlichen Küste von
Neu-Guinea, welche zum Theil in tödtlicher Feindschaft zu
einander stehen, gelten soll.
A u s allen
A s ie tt.
— Auf der vorjährigen Versammlung der British Asso-
ciation zu Montreal besprach der Vorsitzende, General Sir
I- H. Lefroy auch die Arbeiten der indischen Trian-
gulation und ihre Verdienste ans verschiedenen Gebieten.
Wir entnehmen diesen Mittheilungen folgendes: Die im Jahre
1800 begonnene primäre Triangulation ist jetzt thatsächlich
vollendet, wiewohl noch einige Arbeit zu thun ist, um die-
selbe einerseits bis Ceylon, andererseits bis Siam fortzu-
führen. Dagegen ist besonders außerhalb der Grenzen des
eigentlichen Indiens noch viel an der sekundären Triangu-
lation zu thun. Durch die bisherigen Arbeiten, bei welchen
Erdtheilen.
die höchsten Berge in der Welt manchmal von 120 Meilen
entfernten Stationen bestimmt worden sind, wird der Wunsch,
nach jenen Gegenden unbehindert vordringen zu können, noch
mehr erhöht. Die lange verbreitete Meinung, daß in Tibet
ein Berg noch höher als der Mount Everest bestehe, ist
durchaus noch nicht verschwunden; möglicherweise ist jedoch
dieser schneebedeckte Gipfel der „Mount Everest" der ursprüng-
lichen Aufnahme. Und dennoch macht die Wissenschaft trotz
der Hindernisse, die ihr der Fanatismus in den Weg legt,
Fortschritte; cs möge nur an die Aufklärungen erinnert
werden, die Sir H. Rawlinson vor einigen Jahren über
den oberen Oxns zu geben im stände war. Dieser Fluß
ist nun von seinen Quellen an hauptsächlich durch eingeborene
78
Aus allen Erdtheilen.
Landmesser marfirt, und eben solchen verdanken wir beinahe
alles, was wir über Nepaul wissen.
Aber auch für die Ethnographie sind die Berichte der
Officiere der indischen Vermessung, welche mit ihren In-
strumenten überallhin vordringen, von der höchsten Wichtig-
keit; wir erinnern nur an die Mittheilungen, welche Mr.
G. A- McGill 1882 über die Bishnoies von Radschputana
machte, einen Stamm, der, wie er berichtet, für sich lebt und
selten mit anderen Kasten in demselben Dorfe gefunden wird.
„Diese Menschen", sagt er, „halten alles, was lebt und nicht
lebt, für heilig, so daß sie nicht einmal einen grünen Baum
fällen; ja sie suchen auch andere davon zurückzuhalten, inso-
fern dies in ihrer Macht liegt; dies ist der Grund, weshalb
sie in Absonderung leben, um nicht zu sehen, wie ein Leben
zerstört wird. Ihren Nachbarn unähnlich, vermeiden sie es
auf das strengste, Opium zu trinken, zu rauchen oder zu
esse«, da ihnen dies durch ihre Religion verboten ist. Auch
zur Monogamie und zur pünktlichsten Erfüllung der vor-
geschriebenen täglichen Abwaschnngen sind sie durch strenge
Gesetze verpflichtet. Unter diesen Umständen bilden die
Bishnoies eine wohlhabende Gemeinde, werden jedoch von
ihren Nachbarn verabscheut, besonders da sie infolge ihrer
einfachen Gewohnheiten bald reich werden und in den Besitz
der besten Felder gelangen."
Zum Schluß eine Bemerkung technischer Art. Wie
General Walker mittheilt, zeigt sich eine immer mehr ge-
steigerte Nachfrage nach neuen Aufnahmen in großem Maß-
stabe zum Ersatz der vor einem Menschenalter ausgeführten
Vermessungen, die eigentlich nur geographische Rekogno-
scirungen waren; es ist zu hoffen, daß man in anderen
Ländern hierauf aufmerksam sein und sich nutzlose Kosten
sparen wird, daß man neue Ausnahmen von vornherein in
genügend großem Maßstabe ausführen läßt.
— Im Jahre 1883 wurden in British Indien 22 905
Personen durch wilde Thiere und Schlangen ge-
tödtet (1882 : 22 125), davon 20 067 durch Schlangen, 985
durch Tiger, 287 durch Wölfe und 217 durch Leoparden.
Fast drei Viertel aller dieser Todesfälle ereigneten sich in
Bengalen und den Nordwestprovinzen. Durch dieselben Ur-
sachen gingen 47 478 Hausthicre zu Grunde, 771 mehr als
im Vorjahre. Bemerkenswerth ist, daß, während die ganz
überwiegende Mehrzahl von Menschen durch Schlangenbiß
starben, nur 1644 Stück Vieh dadurch umkamen. An gefähr-
lichen Thieren wurden im Jahre 1883 19 890 Stück ge-
tödtet und an Prämien dafür mehr als lV2 Lakh Rupien
(288 000 Mark) gezahlt.
— Im Norden des Dorfes Warta schern (Kreis
Nucha) im Kaukasus, in der Nähe des Dorfes Arschan, ist,
wie die Zeitung „Nor-dar" mittheilt, Silber entdeckt
worden. Das gewonnene Erz giebt y3 reinen Silbers.
Zwei Werst vom Dorfe Dshalet nach Osten in den
Bergen Nawr-Bulach ist ebenfalls Silbererz entdeckt, welches
aber die Hälfte reinen Silbers giebt. Proben der Erze sind
nach Tiflis zur Untersuchung geschickt worden.
— Das Ministerium der kaiserl. russischen Reichs-
domänen will in Bälde Fachmänner zur Untersuchung der
Fischfauna des Goktschai-Sees (Gouv. Eriwan in Kau-
kasien) und der in denselben einmündenden Flüsse aussenden.
Gleichzeitig beabsichtigt man die bereits begonnenen Ar-
beiten, welche eine Beschreibung der Reichsdomänen in dem
Terek- und Kuban-Gebiete bezwecken, bedeutend zu be-
schleunigen.
Afrika.
— Clemens und Gustav Deuhardt, welche in
den Jahren 1878—79 den Unterlauf des Tana-Flusses (2V2O
bis 1° südl. Br.) erforscht haben, befinden sich seit Ende
December wieder in Zanzibar, um ihre Untersuchungen
in Ostafrika fortzusetzen,
— Vom Kongo kommt vom 15. November die Nach-
richt, daß die vor einiger Zeit von Ambrizette aus ins
Innere abgegangene deutsche Expedition durch die
Eingeborenen zur Umkehr gezwungen worden und nach Am-
briz an die Küste zurückgekehrt sei. Es ist das die „West-
afrikanische Expedition der afrikanischen Gesellschaft in
Deutschland", welche aus den Herren Schulze, Kund, Wolfs,
Büttner und Tappenbeck besteht (vergl. „Globus", Bd. 46,
S. 224).
— Portugal hält seine Ansprüche auf die afri-
kanische W e st k ü st e nördlich der K 0 n g 0 - M ü n d u u g
bis 5" 12' südl. Br. aufrecht und wird darin, wie es scheint,
von Frankreich unterstützt. Aus Lissabon wird gemeldet,
daß kürzlich ein portugiesisches und ein französisches Kanonen-
boot den Ort Landana an der Mündung des Tschiloango
besuchten, um dort Zwistigkeiten zwischen den Eingeborenen
und französischen Missionaren zu schlichten. Bei dieser Ge-
legenheit wurde der Parallel 5012', die von Portugal bean-
spruchte Nordgrenze, von den Officieren der beiden Schiffe
fixirt und darüber ein Protokoll ausgenommen.
— Im letzten Jahre betrug die Einfuhr in Ham-
burg vonWestafrika 238 813 Doppel-Centner im Werthe
von 9 105 150 Mk., und zwar Palmkerne 5 012 230 Mk.,
Palmöl 2 292 320 Mk., Elefantenzähne 346 540 Mk., Gummi
elasticum 922620 Mk., Rothholz 95 700Mk. Die Ausfuhr
von Hamburg nach dort betrug 442774 Doppel-Centner. Die
Hauptartikel waren Genevre 153 206, Rum 111 706, Salze
47 648, Reis 3961, Gebinde und andere Holzwaaren 11300,
Schießpulver 11297 Doppel-Centner. Glasperlen wurden
allein 87 800 kg ausgeführt. Außerdem geht ein Theil des
westafrikanischen Verkehrs via Bremen und Holland.
— In den schwarzen Tirailleurs haben sich, wie
O. Lenz (Timbuktu II, S. 290) erzählt, die Franzosen eine
für Sen eg ambien sehr nützliche, geradezu unentbehrliche
Truppe geschaffen; es sind zum großen Theile frühere
Sklaven, die von ihren Herren den Franzosen überlassen
wurden. Der Vorgang beim Aufnehmen der Söldlinge ist
folgender: Irgend ein Fulbe, Araber, Fnta oder wer immer
braucht Geld und will sich einiger seiner Sklaven ent-
ledigen. Er geht mit diesen zu dem nächstgelegenen Posten;
sobald der Sklave das linke (französische) User des Senegal
betritt, ist er natürlich von selbst schon ein freier Mann.
Hier werden die angebotenen Leute untersucht und. wenn
tauglich befunden, als Tirailleurs angeworben, und zwar
auf sechs Jahre. Während dieser Zeit erhalten sie Sold,
Verpflegung, eine sehr kleidsame Uniform, werden überhaupt
als französische Soldaten betrachtet; außerdem wird bei der
Werbung ein Handgeld von einigen hundert Franks aus-
gezahlt. Dieses Handgeld bekommt nun freilich der ehe-
malige Sklave nie zu sehen, das nimmt einfach sein Herr
mit fort. Uebrigens ist die Einrichtung eine sehr gute. Die
Franzosen ziehen auf diese Weise eine Menge brauchbarer
und nützlicher Menschen heran, die, sobald ihre Dienstzeit
vorüber ist, infolge ihrer Sprach- und anderen Kenntnisse im
stände sind, sich auf ordentliche Weise fortzubringen; sie
erzielen auf diese Art mehr, als die Missionare mit anderen
Mitteln zu erreichen suchen, und haben dabei auch noch den
Vortheil, eine gute, mit dem Klima vertraute Truppe zu
gewinnen.
— Der Streit um die S. Lucia-B ay, wie die Mün-
dung des Hauptflusses des Zululandes, des Umvolosi, heißt,
hat Großbritannien zur Vorsicht ermuntert. Aus Natal
wird vom 6. Januar gemeldet, daß die Küste des Pondo-
landes unter britisches Protektorat gestellt worden ist; es
ist dasselbe rings von britischem Gebiete, im Westen vom
Kaplande, im Norden vom Basutolande und im Nord-
osten von Natal, begrenzt und wird wohl von keiner Macht
England streitig gemacht werden. Etwas anders steht es
mit der S. Lucia-Bay, wo Herr Einwald^die 100000 Acres
Land für Lüderitz angekauft hat. Das--Zulugebiet wurde
Aus allen Erdtheilen.
79
freilich stets von England als so durchaus zu seiner Inter-
essensphäre gehörig betrachtet, daß es die Einmischung fremder
Mächte anscheinend für gänzlich ausgeschlossen hielt. So
bezeichnete Sir Rawson Rawson in seiner Uebersicht über
die Tcrritorialvertheilung der Küste Afrikas (Proceed. R.
Geogr. Soc. November 1884, also noch vor dem Einwald-
schcn Kaufe) die S. Lucia-Bay ohne weiteres als britisch;
ebenso geschah das z. B. ans Blatt 72 des Stieler'schen
Atlas. Auch veröffentlichen die „Times" jetzt einen Ver-
trag zwischen dem Zulukönige Panda-und dem Kommissär
für Natal, Henry Cloete, vom 6. Oktober 1843, wodurch
ersterer die Mündung des Umvolosi und die dortige Bay
(b. h. die S. Lucia-Bay) an England abtritt. Ehe man
also auf den Karten diese Bay als deutsch wird bezeichnen
können, wird es wohl noch längerer Verhandlungen be-
dürfen. Ucbrigens wird aus Natal gemeldet, daß die Küste
des ganzen Zululandes nördlich bis 26'// südl. Br., wo
der portugiesische Besitz anfängt, unter englischen Schutz ge-
stellt sei, „da jedes daran fehlende Stück Thür und Thor
für endloses Unheil in der Zukunft offen stehen ließe". Auf
Deutsch heißt letzteres, daß dann die Transvaal-Boern einen
Zugang zum Meere gewinnen und sich vom Kaplande kom-
merciell unabhängig machen würden — ein „endloses Un-
heil" wäre das eben nicht.
Nordamerika.
— Ueber den im Jahre 1883 im Beringsmeere neu ent-
standenen Vulkan Bog osla w entnehmen wir dem in
„Science" 1884, S. 432 veröffentlichten officiellen Berichte des
Hydrographie Office folgende Daten: Der genaue Beginn der
Eruption kann nicht festgestellt werden, scheint aber schon
zeitig im Jahre 1883 stattgcfnudcn zu haben; aufmerksam
wurde man erst im Oktober, als das Phänomen bereits seinen
Höhepunkt erreicht hatte. Am 16. Oktober verfinsterte sich der
Himmel nördlich von Unalaschka, und unter merklichem
Steigen der Temperatur senkte sich eine dunkle Wolke bis
dicht ans die Erde, worauf ein dichter Aschenregen alles
überdeckte. Da der Vulkan von Makushin auf Unalaschka
sich damals ganz ruhig verhielt und der Ausbruch keinem
anderen Vulkane zugeschrieben werden konnte, nahm man
die Entstehung einer neuen Insel an. Kapitän Hagne bekam
bereits im Oktober 1883 den Ausbruch zu Gesicht, konnte
aber nicht nahe genug heranfahren, um ihn genauer zn beob-
achten. Am 27. Mai 1884 sah^dcr zu genaueren Unter-
suchungen ausgesandte Lieutenant Stoney zum ersten Male
den Rauch des neuen Vulkans, und als er am folgenden
Morgen an seinem Fuße vor Anker ging, erkannte er, daß der
neue Vulkan mit der Insel Joanna Bogoslova durch eine
niedere Landenge verbunden war, welche ihm einen sicheren
Ankergrund bot; ein noch besserer Platz findet sich auf der
anderen Seite. Der Vulkan war meistens völlig in Ranch
gehüllt, welcher nicht nur aus dem Gipfelkrater, sondern auch
aus zahlreichen Seitenspaltcn hervorbrach. Flammen wurden
nur zweimal gesehen, doch ist zu berücksichtigen, daß die Mai-
nächte in diesen Breiten nicht mehr dunkel werden. Unter-
irdisches Getöse, wie ferner Kanonendonner, wurde zeitweise
gehört, auch öfter Stöße gefühlt, doch kein dauerndes Er-
zittern der ganzen Masse, wenigstens nicht ohne besondere
Instrumente; das Quecksilber eines künstlichen Horizontes
erschien dagegen in ständiger Bewegung, so daß es schwer
hielt, eine sichere Bestimmung zn machen.
Die geologischen Angaben sind leider wenig befriedigend;
die Hauptmasse soll aus einer Art Sandstein bestehen, mit
auf der Oberfläche zerstreuten großen schwarzen Blöcken;
Lava wurde nicht beobachtet, Bimsstein nur ganz einzeln. Feiner
Aschensand, in den man bis zu den Knöcheln einsank, machte
streckenweise jedes Vordringen unmöglich. Viele Felsen machten
den Eindruck, als wären sic lange der Wirkung des Wassers
ausgesetzt gewesen, doch wurden keine Muscheln daran ge-
funden. Es gelang einem Mitgliede der Expedition, den
Gipfel zu erreichen, aber der Krater war so mit Dampf er-
füllt, daß seine genauere Beschaffenheit nicht erkannt werden
konnte. Die Höhe wurde auf 357 Fuß bestimmt. Das an-
scheinend kochende Wasser erwies sich als kaum oder gar-
nicht wärmer als sonst, aber von Fischen war keine Spur
zu finden. Dagegen fanden sich auf dem alten Vulkane Un-
massen von Vögeln, welche. wenn durch einen Kanonenschuß
aufgescheucht, den Himmel verfinsterten und mitunter in der
Angst in den Qualm hineinflogen, wo sie sofort erstickten.
Auch Seelöwen lagen zu Hunderten am Ufer.
Stoney schlägt statt des von Dall dem neuen Vulkane
beigelegten Namens Grewingk den des Kapitäns Hagne, als
des ersten Entdeckers, vor.
— Längs der ganzen Nord Westküste Amerikas
wird nach Kapitän Jacobsen in ungeheuren Quantitäten
Fisch fett zubereitet und in hermetisch dichten Holzkisten
während des ganzen Winters aufbewahrt. Dasselbe stammt von
einem kleinen, überaus fettreichen Fische her, der etwa die
Größe unseres Stints besitzt und eine circumpolare Verbrei-
tung hat. Im Frühjahre steigt dieser Fisch, eine Salmonecn-
art, in unermeßlichen Zügen aus den Tiefen des Eismeeres,
wo er als Nahrung der Dorsche dient, in die Höhe, um an
seichten Stellen der Fjorde, meist am Ufer der Flußmün-
dungen, zu laichen. Dort werden die wohlgenährten, wenig
widerstandsfähigen Thiere gewöhnlich vom Strome erfaßt
und fortgerissen. Hierauf bauend, errichten die Indianer
quer durch den Strom lange, beutelartige Stellnetzc, die sich
bald mit den kleinen Fischen füllen. Ein Canoe liegt
inzwischen unmittelbar über dem Netz vor Anker; die im
Fahrzeuge befindlichen Indianer ziehen von Zeit zu Zeit die
hintere Hälfte des Netzes an Bord, binden das zusammen-
geschnürte Ende auf und schütten die Fische in den Boots-
raum. Uumittelbar am Ufer werden Feuer angezündet
und die Fische so lange gekocht, bis das Fett sich in einer
Schicht oben ansammelt. Dann füllt man es in die schon
erwähnten dichten Kisten, wirft das ausgekochte Fischfleisch
weg und beginnt die Procedur von neuem.
— Ueber die Entstehung des C h i n o o k - I a r g o n (vergl.
„Globus", Bd. 46, S. 360), welcher fast von allen den-
jenigen, welche einige Jahre an der Küste von British-
Columbien leben, verstanden wird, wird erzählt (Kapitän
Jacobsen's Reise an der Nordwcstküste Amerikas, S. 7),
daß im vorigen Jahrhundert ein Kaufmann aus China,
Namens Mcarcs, seine Schiffe nach dem Stamme der Chi-
nook-Indianer, nördlich vom Columbia-River entsandte, um
Sceotterfelle einzuhandeln. Hierbei bildete sich eine Sprach-
mischung, deren Grundstock die Chinooksprachc hergab, wozu
eine erhebliche Zahl von chinesischen, hawaiischen und eng-
lischen Ausdrücken hinzutrat. Als sich später der Handel
weiter ausdehnte und sich auch die Hudsonsbay- Kompagnie
bctheiligtc, nahm das Chinook-Jargon auch noch viele fran-
zösische Bezeichnungen auf. Gegenwärtig ist dieses Püle-
Möle so allgemein bekannt, daß sich mitunter selbst Weiße
an der Küste darin ausschließlich unterhalten. Es scheint,
daß die Chinook-Indianer, welche inzwischen bis auf wenige
Familien ansgestorbcn sind, mit den Einwohnern der West-
küste von Vancouverinsel sprachlich verwandt sind.
— Unter dem Pseudonym B. Aba hat der kürzlich ver-
storbene österreichische Minister von Kriegsau „Skizzen aus
Amerika" (Wien, C. Gerold's Sohn, 1885) herausgegeben,
welche, abgesehen von manchen Austriacismen und Härten
des Stils, eine unterhaltende Lektüre abgeben. Der Haupt-
eindruck, welchen man empfängt, ist der einer unverhohlenen
Bewundernng der noch immer mehr aufblühenden Union.
„Die lohnende Arbeit dürfte wohl — heißt es S. 231 — der
Hauptmotor für den amerikanischen Unternehmungsgeist sein.
Ein Reich, das zwei große Meere zum Schutze seiner Pro-
duktion besitzt, kann sich eben leicht schützen, und das Resultat
dieses Schutzes liegt hier offen da. Um gleich recht kühn zn
80
Aus allen Erdtheilen.
sprechen, sage ich, hier, so wie Nordamerika jetzt aussieht, ist
die sociale Frage gelöst. Jeder, der arbeiten will, findet
Arbeit, und jede Arbeit lohnt sich, d. h. jeder Arbeiter hat
dreimal des Tages reichliche Fleischkost, und der Apfelkuchen
fehlt nie; er verdient genug, um vor- und nachmittag Bier,
Wein oder Schnaps zu trinken, und erspart noch soviel, um
sich ein Lot Baugrund zu kaufen, darauf eine Hütte zu bauen,
aus der wohl nach und nach ein Haus wird, zu dem mit der
Zeit auch das Buggy (Wagen) kommt. Wer das nicht kann,
der ist kein fleißiger Arbeiter. Der Ackersmann, der Tage-
löhner arbeitet in Handschuhen, die zwei Dollars kosten und
verdient das Geld hierzu. Der ganze Mittelstand lebt im
eigenen Hause, der Reiche in Palästen, er verlebt weit mehr,
als europäische Reiche dermalen zu verleben wagen." Schade,
daß das nicht immer so bleiben wird.
Polargebiete.
— In der am 28. November abgehaltenen Sitzung der
norwegischen Gesellschaft der Wissenschaften sprach Professor
Mohn über den Weg, welchen die am 18. Juni von einem
Grönländer auf dem Eise im Julianehaabsjord ge-
fundenen, von der Jeannette-Expedit ion herrührenden
Gegenstände genommen haben könnten. Er erinnerte daran,
daß die „Jeannette" vom Tage ihres Einfrierens am 4. Sep-
tember 1879 und bis zum 13. Juni 1881, wo das Schiff
sank, von der Heraldinsel bis etwas östlich von den neu-
sibirischen Inseln mit dem Eise forttrieb, bald westwärts,
und bald ostwärts, im Ganzen genommen aber im Groß-
zirkelbogen. In den 647 Tagen wurde das Schiff 660 engl.
Meilen fortgeführt, oder beinahe 1 engl. Meile täglich. Frage
man nun, welchen Weg die gefundenen Gegenstände ferner
eingeschlagen, so erscheine der westwärts um Grönland nicht
wahrscheinlich, denn was aus dem Smith-Sound hinaus-
treibc, nehme den Weg längs der Küste von Labrador, und
unter der Küste von Südgrönland lause der Strom nach
Westen und Norden als eine Fortsetzung der kalten, eisfüh-
renden Strömung, die von Norden nach Süden längs der
ganzen Ostküste von Grönland gehe. Mit letzterer Strömung
müsse die Eisscholle mit den Sachen gekommen sein; indem
sie die Eisgrenze, wo das Eis beständig vom wärmeren
Wasser und dem Wellenschläge zerfressen werde, nicht er-
reichte, wurde sie in den inneren Theil des treibenden Pack-
eises hineingeführt. Der kürzeste Weg von den neusibirischen
Inseln bis Julianehaab gehe dicht am Nordpol der Erde
vorbei bis zur Küste von Grönland. Die Entfernung bis
hierher (80° nördl. Br.) betrage 1380 engl. Meilen und dann
bis Julianehaab 1620 engl. Meilen, mithin zusammen
3000 engl. Meilen; diese wurden in 1100 Tagen zurück-
gelegt, was eine durchschnittliche Geschwindigkeit von täglich
2% Meilen gebe. Die Strömungsgeschwindigkeit auf diesem
letzten Theile des Weges sei indessen sehr gut bekannt. Der
grönländische Polarstrom laufe in der Nähe des Landes mit
einer Geschwindigkeit von 4 engl. Meilen, aber bei der Eis-
grenze mache er 10 bis 12 engl. Meilen täglich. Rechne
man mit dem geringsten Werthe, als dem wahrscheinlicheren,
da die Eisscholle jedenfalls im inneren Packeise geblieben
sei, so hätten die Gegenstände 405 Tage gebraucht, um die
1260 engl. Meilen längs der Ostküste von Grönland zu
treiben. Der Rest von 695 Tagen würde also aus die
Fortbewegung von den neusibirischen Inseln bis zur Küste
von Grönland unterm 80° nördl. Br. entfallen. Werde der
kürzeste Weg dicht am Pole vorbei gewählt (1380 engl. Meilen),
so betrage die Geschwindigkeit durchschnittlich täglich 2 engl.
Meilen, eine Größe, welche die Mitte halte zwischen der
Fortbewegung der „Jeannette" in dem ostsibirischen Polar-
meere (1 engl. Meile) und der Strömung an der Küste von
Ostgrönland (4 engl. Meilen). Sollten die Sachen den Weg
westwärts zwischen Franz - Josephs - Land und Spitzbergen
genommen haben, so würde das eine ziemlich unregelmäßige
Linie geben, so daß der Weg bedeutend länger geworden
und mithin eine größere Geschwindigkeit erforderlich gewesen
sei. Ein Stück dieser Route sei das österreichische Expedi-
tionsschiff „Tegethofs" im Winter vor der Entdeckung von
Franz-Josephs-Land getrieben, aber die Fortbewegung des
Schiffes habe kaum % engl. Meilen täglich betragen. Der
Weg am Pol vorbei nördlich von Franz-Josephs-Land und
Spitzbergen sei deshalb der wahrscheinlichste. Das Treiben
der Jeannettesachen zeige uns, ebenso wie das ans sibirischem
Lerchenholz bestehende Treibholz auf Spitzbergen, Grönland
und Jan Mayen, daß das sibirische Eismeer seinen Beitrag
zu den Strömungen des Atlantischen Oceans liefere, näm-
lich zu dem ostgrönländischen Polarstrom, speciell scheine aber
das Forttreiben dieser Sachen die nicht unwahrscheinliche
Annahme zu bestärken, daß die Gegenden auf der euro-
päischen Seite des Nordpoles aus Meer bestehen, — freilich
beständig bedeckt mit Eismassen, welche gegen Westen und
Süden treiben. W. Finn.
— Der Dampfer „Tschishow" der Murman-Gesell-
schaft machte im Anfange dieses Sommers seine gewöhnliche
Fahrt nach Nowaja-Zemlja. An Bord des Schiffes
befand sich auch der Kommandant des Hafens von Archangel,
Koutreadmiral Fürst Uchtowskj, mit der Absicht, die Ko-
lonie und Rettungsstation Karmakuly auf Nowaja-Zemlja
zu inspiciren. Nach glücklich erfolgter Ankunft in Nowaja-
Zemlja wurde den dort wohnenden Samojeden der Vor-
schlag gemacht, mit dem Dampfer nach Archangel zu reisen,
damit sie sich die Stadt ansehen und ihre Wintervorräthe
selbst einkaufen könnten; bei der nächsten Fahrt des „Tschi-
show" sollten sie wieder nach Karmakuly zurückbefördert wer-
den. Alle Männer nahmen den Vorschlag an, so daß ans
der Insel nur die Frauen und Kinder zurückbliebcn. Der
Dampfer fuhr mit den Samojeden nach Archangel und trat
nach einiger Zeit seine zweite Fahrt nach Nowaja-Zemlja
an. Allein dieselbe glückte nicht. In der Nähe der Insel
überzeugte sich der Kapitän von der Unmöglichkeit, durch das
Eis hindurch in eine der Buchten einzudringen, um die
Samojeden und die Ladung auszuschiffen, und er mußte,
ungeachtet der Klagen der Samojeden, nach Archangel um-
kehren. Es war dies das erste Mal, daß das Polareis sich
so früh an der Westküste von Nowaja-Zemlja zeigte. Die
Lage der ans der Insel zurückgebliebenen Samojedensamilien
erschien sehr kritisch. Mit Rücksicht hierauf erbat sich Fürst
Uchtowskj telegraphisch vom Minister die Erlaubniß, ein
Kriegsschiff „Bakan" aus Archangel abfertigen zu dürfen,
um noch einen Versuch zu machen, die Samojeden nach
Nowaja-Zemlja zu schaffen. — Der Minister willigte ein,
der „Bakan" führte die Samojeden glücklich nach Nowaja-
Zemlja und kehrte wohlbehalten nach Archangel zurück.
(„Nowosti.")
Inhalt: Dosiro Charnay's Reise in Pucatan und dem Lande der Lacandonen. XI. (Schluß.) (Mit drei Abbil-
dungen und einer Karte.) — I. S. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben. I. — Oskar Lenz' Reise durch
Nordwest-Afrika. — Kürzere Mittheilungen: Die angebliche neue Insel bei Kap Reykjanes. Von H. B ay. — Johnston's
Aufenthalt auf dem Kilimandscharo. — Die charakteristischen Züge der nordamerikanischen Vegetation. — Das Protectorat
Englands über das südöstliche Neu-Guinca. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Polargebiete. —
(Schluß der Redaktion: 7. Januar 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcustraße 11, 01 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Mit besonderer Herürksichtrgnng der Anthropologie und Ethnologie.
B e g r il n d e t von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Armiti irsi tu pt r» Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1
l il U U I Uf U tiy zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. -40 0ei
Brügge.
(Nach dem Französischen des M. Camille Lemonnier.)
I.
Brügge, die Hauptstadt der belgischen Provinz West-
flandern, einst der Mittelpunkt des Welthandels, die Königin
des Nordens, ist heute eine tief gesunkene Stadt; aber in
ihrem Aenßeren hat sie ihre frühere Pracht sich bewahrt.
Zum Ausgangspunkte unserer Wanderung nehmen wir
eines jener mittelalterlichen Thore, welche in gewissen Ab-
ständen die alten Wälle durchbrechen; heute vermitteln sic
nur den Verkehr der Stadt mit dem platten Lande, aber
ihr verwittertes Mauerwerk verräth noch überall ihre ein-
stige kriegerische Bestimmung. Senkrecht erhebt es sich
ans dem Graben, der die Stadt umzieht, und steht mit
dem äußeren User nur durch hölzerne Brücken, die meist
noch ihre malerischen Ketten zum Aufwinden besitzen, in
Verbindung. Zwischen bciu Ostender- und Gcnterthore
geht man zuerst an grünen, mit Windmühlen besetzten
Erdhügeln entlang, durch deren Einschnitte man das ver-
steinerte Meer von Spitzen und Thürmen im Inneren
erblickt, während nach außen sich, soweit das Auge reicht,
feuchte, üppige Wiesen erstrecken. Allmählich verschwinden
die Hügel und an ihre Stellen treten die letzten Ausläufer
von Vorstädten, ein Durcheinander von gezackten Giebeln,
schiefen Essen, krummen Dächern und spitzen Thürmchcn,
von modernen Fagaden mit regelmäßigen Fensterreihen,
und zuletzt befindet man sich in einer Art Park, wo die
Wälle zu schön bepflanzten Anhöhen geworden sind, zwischen
denen Rasenplätze mit Blumenbeeten sich hinziehen. Dann
erblickt man durch eine Allee von Weißbuchen die kleinen
Globus XLVII. Nr. 6.
weißen Häuser des Bcgnincnklosters und steht plötzlich vor-
dem stillen poetischen „Minnewater" (Licbessec), den große
schattige Bäume umgeben, blühende Wasserrosen bedecken
und prächtig grüne Rasenteppiche einfassen. Am Ufer hin
führt ein schmaler Steg zu dem Eingänge des Beguinen-
klosters, der zu einem mit hohen Ulmen bepflanzten Erd-
anfwurfc führt. Im Schatten derselben bewegen sich lang-
sam und gebeugt dieselben Gestalten, wie in den Beguinen-
höfen Mechelns, Gents und Courtrais, mit denselben weißen
Hauben, dem Symbole der Reinheit ihres einförmigen
Lebens. Zur Frühmette und Vesper drängt sich die fromme
Frauenschar zwischen den Säulen der kleinen Kapelle,
welche neben der Eingangspforte steht, und nach Beendigung
des Gottesdienstes schleichen sie die grasbewachsenen Güß-
chen, die sie gekommen sind, wieder hinab und verschwinden
eine nach der anderen hinter den Thüren ihrer kleinen
Wohnungen, in denen sie ihre Tage mit Gebet und häus-
lichen Beschäftigungen hinbringen.
Von dem Walle, welcher sich neben dem Kloster erhebt,
hat man einen prachtvollen Blick über die Stadt; cs zeigt
sich dort dem Auge ein Bild, wie es der anspruchvollste
Künstler nur wünschen könnte, mit Vorder-, Mittel- und
Hintergrund, mit Gegensätzen von Licht und Schatten,
einem bewegten Linienspiele und allen Bedingungen jener
versteckten Schönheit, die ein echtes Kunstwerk ausmachen.
Und namentlich, wenn im Frühling das helle Grün der
jungen Blätter sich dazu gesellt, so ist die Landschaft von
11
82
Brügge.
einer unvergeßlichen Schönheit. Vorn heben sich hellrothe Bäume ab; im Mittelgrunde ein Durcheinander von Dächern
und weiße Häuser von dem Laube der den See umgebenden und Giebeln und gezackten Architekturen, zwischen denen
Eingang in den Beguinenhof von Brügge. (Nach einer Photographie.)
Die Porte Marächale. (Nach einer Photographie.)
man noch eine Strecke weit den Zug der Straßen verfolgen kompakten Blocke von Mauerwerk, den hier und da Thürme,
kann. Dann aber verdichtet sich die Häusermasse zu einem Spitzen, Dachreiter u. s. w. unterbrechen; endlich folgt im
-MmT
84
Brügge.
Hintergründe der zinnengekrönte Belfried, der riesige Zeige- der den Fremden in dem Gewirrc der Gassen und Kanäle
finger, den man ringsum am Horizonte zuerst bemerkt und Brügges stets wieder auf den richtigen Weg geleitet.
Die Porte des Baudets (Eselsthor). (Nach einer Photographie.)
Ein Brügger Kanal bei Regenwetter.
Gleich als wenn der Zufall auf einer und derselben
Stelle alles Elend und Leiden hätte versammeln wollen,
bildet der Bcgnincnhof den Mittelpunkt eines Viertels von
Spitälern und Stiftungen für allerhand Alte, Elende und
Brügge.
85
Unglückliche. Schon in Upern ist man erstaunt über die
Menge von Hilfsbedürftigen, die von den verschiedenen
milden Stiftungen unterstützt werden; die ganze Rue de
Lille wimmelt von zerlumpten Leuten, die sich nach dem
Thore der Maison Belle drängen; in Brügge aber ist ihre
Zahl noch viel größer. Im Jahre 1854 waren 22 256
Personen, fast die Hälfte der Bevölkerung, als unter-
stützungsbedürftig auf dem Armenamte eingeschrieben, und
1880 war deren Anzahl trotz der Ausbreitung des Hand-
werks nur auf 13 207 gesunken. Keine Worte vermögen
die Erschöpfung der Lebenskraft in diesen einst so blühen-
den Städten besser zu schildern als jene Ziffern. Schon
die Irrenhäuser, die God's Huysen, bilden eine kleine Stadt
inmitten der großen; hier aber stimmen.sie den Besucher
weniger traurig als anderswo, hier passen sie durchaus in
die melancholische Umgebung hinein. Dazu kommt freilich,
daß bei diesem Volke, welches Anstand und Reinlichkeit so
sehr liebt, auch die Armuth nicht in Lumpen und Schmutz
sich zeigt, wie in den Großstädten anderer Länder, sondern
daß man bis in die untersten Schichten hinab auf ein an-
ständiges Acußerc hält. Längs der Wälle sieht man auf
den Bänken zur Seite der Spazierwege eisgraue Alte, trief-
äugige, nasenlose, unter der Last der Jahre und Gebrechen
gebeugte Greise, die sich noch gewissermaßen putzen. Liegt
aber nicht eine Art Scheu in solcher Wohlthätigkeit, die sich
hinter dem Namen Gottes verbirgt und den Glauben er-
weckt, als käme die Hilfe, die sic den Enterbten bringt, vom
Himmel und nicht von Mitmenschen? Ein ebenso an-
-K ;■
KV i: . lillPi“ B ¡g¡fj
■ ..
Ein Brügger Kanal im Winter.
muthender Zug ist es, daß ein jedes dieser zwar dürftigen,
aber reinlichen, luftigen, sauber geweißten Häuschen von
einem lieblichen Blumengarten umgeben ist, wie sie sich
auch in den Beguinenklöstern finden.
Nun erreicht der Wanderer das alte Thor de la Bouverie,
das an den Aufstand Brügges gegen Philipp den Gütigen
erinnert; er war mit einem Schwarm hungriger Gesellen
ans Frankreich daher gekommen und hätte das ganze Land
aufgezehrt, wenn nicht Brügge seiner Gier sich widersetzt
hätte. Das nächste Thor ist die Porte Marächale, welche
ihren Namen zu Ehren der Hufschmiede trügt; sie zeigt uns |
eine jener Durchsichten, die in engem Raume den ganzen
Charakter und die ganze Poesie einer Stadt enthüllen.
Sie besteht aus einem Mittelgebäude, das auf zwei massiven
Bastionen ruht. Ueberschreitet man die Brücke und tritt
unter die dicke Thorwölbung, so erblickt man die Rue
Marpchale, zwei lange Häuserzeilen, die sich ganz hinten
fast berühren, ein köstlicher Wirrwarr spitzer Giebel, stufen-
förmiger Dächer und bunter Faxaden, das sich bis zum
Belfried hin fortsetzt, der ganz im Hintergründe riesig groß
in die Luft ragt. Dazu kommt, daß diese Architektur durch
die wunderbaren Farbenbrechungen, den feinen Dunst und
die halben Töne, welche die durch die Feuchtigkeit des nahen
Oceans gesättigte Atmosphäre über alle Gegenstände aus-
gießt, gewaltig gehoben wird.
Der Kanal, dem man bis hierher gefolgt ist, verlängert
sich nun in das flache Land hinein, wo die Natur rasch
wieder in ihre Rechte tritt. Links zeigt sich eine dunkle
86
I. S. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben.
Straße, über deren Bäumen die Porte des Baudets oder
Ezelpoort (Eselsthor) aufragt; der Weg fuhrt nach der
Nordsee, deren Nähe die vom Sturme nach der einen Seite
gebogenen Bäume und das verkrüppelte Gebüsch auf den
Feldern anzeigt. Von dort her brausen die Winde herbei,
welche zuweilen über Brügge und seinen Giebeldächern ein
Getöse wie am Meeresstrandc erregen.
Niemals genug kann man den eigenthümlichen Nerz
preisen, der über den Kanälen der Stadt liegt. Nach allen
Richtungen durchziehen sic die Stadt, überall spiegeln sie
den Ruhm vergangener Jahrhunderte wieder, überall aber
verbreiten sie auch einen Hauch tiefer Melancholie über die
seit nahezu drei Jahrhunderten in Todtenschlaf verfallene
Stadt. Hier gemahnt wirklich alles an den Tod und das
Leben selbst ist langsam und träge. Wenn man die Träg-
heit und Empfindungslosigkeit eines Theiles der Bevölkerung
sieht, so möchte man fast glauben, daß aus diesem mit
Ruinen bedeckten Boden nichts mehr emporwachsen könnte.
Diese körperliche Trägheit vermehrt die Zahl der Müssig-
gänger, für welche die Armenämter als Milchkühe fungiren,
und die sowohl durch das Fehlen von Arbeit als auch durch
die Ungewohntheit, Hand anzulegen, zu Bettlern geworden
sind. Zum Glücke sind nicht alle Industriezweige dermaßen
gesunken, wie diejenigen, welche körperliche Anstrengungen
erfordern; namentlich lebt noch in den Erzeugnissen einiger
Goldschmiedewerkstätten ein Anklang an jene Zeit, wo die
flandrischen Ciseleure es so wunderbar verstanden, das edle
Metall in Blätterwerk und Spitzen auszuarbeiten. Aber
die Statistik lehrt, daß Jahr für Jahr die Bevölkerungs-
abnahme wächst, daß der Ucberschuß, der schon so menschen-
armen Stadt, welche ihre Kinder nicht mehr zu ernähren
vermag, sich nach der Landeshauptstadt und der Fremde
wendet. 1854 gab es noch 51 484 Einwohner, 1880 nur
noch etwa 45 000 und seit 1878 beträgt die durchschnittliche
Abnahme der Bevölkerung etwa 100 Köpfe jährlich. Dabei
gab es im Jahre 1880 etwa 6000 Frauen mehr als Männer.
Wer nicht an einem nebeligen, regnerischen November-
tage an den Kanälen der Stadt Brügge entlang gewandert
ist, vermag die tiefe Traurigkeit, die in ihnen liegt, nicht
zu verstehen; in dem Träufeln der Dachrinnen, dem Herab-
fallen der Blätter, dem Gurgeln des Wassers unter den
Brücken glaubt der Wanderer Thränen und Seufzer zu ver-
nehmen, den Wiederhall einer dumpfen Verzweiflung, Ein-
drücke, denen sich seine Seele nicht zu entziehen im stände
ist. Seine Einbildungskraft wird auf das höchste in An-
spruch genommen, und was Zeit und Klima hier geschaffen
haben, das kommt derselben an solchen Stellen wunderbar
zu Hilfe. In der feuchten Luft nimmt das unscheinbarste,
mit Moos bewachsene Gemäuer den Spiegelglanz der köst-
lichsten Marmorarten an, vom Roste zerfressenes Eisen er-
scheint wie Hepatit, grünspanbedccktes Kupfer blitzt wie
Flußspath, und alles überzieht sich mit Licht, Farbe und
Leben. Die Jahrhunderte gestalten den Stein auf tausender-
lei Weisen um: er wird von ihnen abgerieben, zerstückelt,
ausgerändert, und so entsteht ans einem einfachen Ziegcl-
steingiebel zuletzt ein Meisterwerk, gegen welches sich slorcn-
tinische Ciselirarbeit verstecken muß. Nirgends aber voll-
zieht sich diese doppelte Arbeit von Zeit und Wetter schneller,
als an feuchten Orten, unter der lösenden Einwirkung
niederfallenden Wassers, das nach und nach Ziegelstein und
Holz angreift. Zn Hunderten tauchen längs der Kanäle
bewnndernswerthe Baulichkeiten aus den Wassern ans und
entfalten ihre Fanden, die bunt gemustert sind, wie der
Chorrock eines Priesters. In dieser Gestalt zeigte sich vor
kurzem noch, ehe sie durch eine sorgfältige Restauriruug
wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt worden war,
die ganze Reihe prachtvoller Giebel des „Franc de Bruges";
man möchte fast bedauern, daß der abgekratzte glatte Stein
denselben jetzt ein ganz junges Ansehen giebt, wenn nicht
das Abtragen der zersetzten oberen Schicht eine für die Er-
haltung der Gebäude durchaus heilsame und nothwendige
Operation gewesen wäre.
Aus dem samoanischen Familienleben.
Von I. S. Kubary.
II. (Schluß.)
Gegen Mittag bietet Samoa ein wunderbar ruhiges
Bild dar. Die mit Sand bestreuten Vorplätze, bei den
Häusern zusammentreffend, bilden den „Malae", der zu
dieser Zeit leer steht. Ueberall herrscht Ruhe. Nur die
senkrechten Sonnenstrahlen brennen ans die schlafende Natur,
und die von der Seebrise geschaukelten Palmenkronen
rauschen, zuweilen eine kleine Seria, den Sperlingspapagei
(Coryphilus fringillaceus) verscheuchend, der dann mit
seinem abgerissenen Gekreisch die herrschende Stille unter-
bricht. Selten, daß aus einem der Häuser der gedämpfte
Schall eines Liedes oder eines unterdrückten Lachens das
Ohr erreicht; dort versammelten sich ein paar Mädchen
um die Hänptlingstochter, um mit ihr zusammen Matten
zu flechten.
Wenn die Sonne jedoch dem Versinken hinter den Bergen
nahe, dann beleben sich die Wege und das „Malae" be-
völkert sich mit Gruppen lustiger Mädchen und lebhafter
Jünglinge. Die älteren, weniger laut, tauschen die Er-
lebnisse des Tages auö. Die Häuptlinge schreiten ernst in
der Mitte, Pläne machend, alte Zwiste ausgleichend oder
neue anfangend. Dazwischen laufen in der goldenen Sorg-
losigkeit der Jugend die Kinder, springen und zanken sich,
lachen, weinen und freuen sich, so viel sie nur können.
Hier, im Kranze einiger Schönen, steht ein im Kampfe
schon erprobter Jüngling. Es muß ein Manaiia sein,
sein Haar ist sorgfältig geordnet. Er riecht nach Mosooi
und lila, die sein Halsband bilden. Das Lavalava ist
frisch, der Fliegenwedel groß; er ist sichtlich der Sohn
eines reichen Vaters. Er steht aufrecht und gestikulirt mit
den erhobenen Armen derart daß der ganze Kopf schüttelt.
Er stampft mit dem Fuße, er tritt hervor und zieht sich
zurück, er streckt den Arm hervor als wäre er mit einem
Speer bewaffnet, dann wieder schwingt er ihn im Kreise
herum, als sei er im Begriffe mit einer Keule den Feind
zu zerschmettern. Zweifellos, es ist ein Krieger, der seinen
schönen Zuhörerinnen seine Thaten, seine Siege erzählt.
I. S. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben.
87
Diese sind ganz Ohr und Auge. Willenlos schütteln sie
die kleinen Köpfchen. Der brennende Blick verfolgt jede
seiner Bewegungen, aus dem halbgeöffneten Munde, dessen
Perlenreihen dicht geschlossen, entschlüpft von Zeit zu Zeit
ein kurzer Ausruf. Sie horchen, sie ergötzen sich . . . Und
als endlich der Erzähler geendigt und sich neben einer der
Schönsten niederließ, da belohnen allgemeine Ausrufe:
Malie! Malie! oute ino ino! oute fefe! (Oh, wie hübsch,
wie hübsch! Oh, wie abscheulich! Oh, ich fürchte mich!), den
tapfern Krieger und geschickten Redner. Dieser, sich
seines Erfolges bewußt, fühlt die Gunst und möchte sich
ferner dankbar erzeigen. Er erblickt einige Genossen und
fragt sie aufmunternd: „Wollen wir nicht ein Lied an-
stimmen?" und schon gruppiren sich die Chöre, und alle
Theilnehmer setzen sich dichter zusammen, einen Kreis
zwischen sich frei lassend. Unser Erzähler ist der Vorsänger,
alle Anwesenden bilden den Chor; jedoch das Singen
dauert nicht lange.
Der Krieger steht auf und stellt sich einer der schönsten
Jungfrauen gegenüber. Sie zögert, ja beinahe unwillig
läßt sie sich von ihren Freundinnen herzudrängen und von
dem hübschen Tänzer ins Freie herausziehen. Sie steht nun
im Kreise und mit niedergeschlagenen Augen, mit ihren zarten
Fingern das die üppigen Hüften umgebende Lavalava glät-
tend, stellt sie das Bild einer süßen Verzagtheit dar. Der
Chor, die Tänzer bereit sehend, ändert den Gesang und
fängt im Takte des gewöhnlichen Tanzes ein Lied an; an-
fangs langsam und leise, stufenweise lebhafter und lauter.
Schauen wir nun unsere Tänzer an.
Er erhebt seine Arme, und um sein Haupt Kreise
ziehend, schlügt er den Takt mit den Fingerspitzen. Seine
Füße bewegen sich ohne den Boden zu berühren, er scheint
ihn von sich abstoßen zu wollen. Er erhebt sich in höhere,
überirdische Regionen, seiner Tänzerin, der er die Seite
zukehrt, noch nicht gewahr. Sie schlägt ebenfalls leise den
Takt mit den Fingern und ihre Füßchen stoßen gleich ihm
den Boden ab. Beide schweben einem höheren Gebiete zu...
und hier werden sie sich gewahr. Der Ausdruck des Ge-
sichtes des Tänzers, jede Bewegung seiner Glieder, seines
ganzen Körpers drücken ein Erstaunen und Entzücken aus.
Sie, wie eine Göttin, blickt gleichgültig; ja, um sich des
Eindringlings zu erwehren flieht sie, den kleinen Mund
spöttisch verziehend, ihm aus dem Wege. Er fürchtet sie
zu verscheuchen und sucht sie durch Flehen anzulocken. Er-
steht unbeweglich, durch jede Gebcrde seines Körpers das
Bitten ausdrückend. Er streckt sehnsüchtig seine Arme aus,
er bewegt sie leer vor dem Antlitze, Abwesenheit andeutend,
er drückt seine Brust, um sie vor dem Zerplatzen zu schützen.
Er bittet und fleht. Und siehe! bewältigt durch solch
Uebermaß des Gefühls lächelt die schöne Tänzerin unmuthig.
Mit gesenktem Blicke, mit nach hinten gebeugtem Haupte
streckt sie ihre sinkenden Arme ihm entgegen ... sie ergiebt
sich! . . . Der berauschte Tänzer glaubt noch nicht seinen
Augen. Rückwärts gebogen, steht er mit aufgerissenem Auge
unbeweglich, einem Steine gleich. Jedoch nur einen Augen-
blick! Schon rast er in einem chaotischen Netze von
Sprüngen und Grimassen wie ein vom Speere getroffener
Fisch. Er ist schon neben ihr . . . aber der Unvorsichtige!
Anstatt das sich darbietende Glück zu ergreifen, beginnt er
der Willigen bittere Vorwürfe ihres Zauderns halber zu
machen. Er droht ihr mit dem Finger, er schüttelt den
Kopf, verdreht die Augen . . . und wie er sich ihr endlich
nähern, sic ergreifen will, entweicht sic ihm wie ein vom
Winde hinweggerissener Nebel und flieht höhnisch lächelnd
nach der anderen Seite des Kreises zum unendlichen Er-
götzen der Zuschauer, die die zauberische Verführerin nicht j
genügend loben und über das Unglück des ungeschickten
Bewerbers sich nicht genug freuen können. Der letztere,
natürlich ganz aus den Wolken gefallen, begreift kaum
was geschehen ... Er denkt an das vorher gesungene Lied:
leine tatú olé! Oólilaj !
Das Mädchen sprach, Oólilaj!
Komm, wir wollen eilig schreiten,
Wolle für Gespinnst bereiten. Oólilaj! Oólilaj!
O du Mund mit schönsten Lippen,
Warum sprichst du so begehrlich,
Warum lügst du so gefährlich? Oólilaj! Oólilaj!
Schmerzlich enttäuscht führt der Tänzer die verzwciflungs-
vollsten Grimassen aus, aber er sinnt auf Rache! Er-
steht wieder dicht neben ihr, aber nicht als flehender Be-
werber. Jede seiner Bewegungen athmet jetzt unverhüllte
Bosheit, mitleidslose Verhöhnung. Mit spöttisch gezücktem
Zeigefinger droht er ihr den Rücken zu durchbohren. Er
verzieht spöttisch den Mund, lacht höhnisch und prahlt hinter
ihrem drücken. Das kann das junge Mädchen nicht lange
ertragen. Sie will Aug in Auge die unwürdigen Angriffe
abweisen. Aber umsonst wendet sie sich um, Spott und
Nörgeleien verfolgen sie wie ein Irrlicht überall, von allen
Seiten. Die Arme fühlt sich besiegt, sie senkt das frühcr
stolze Haupt, sie drückt die Hände ans Herz als ob sie
dem Schmerze den Eintritt verwehren wollte. Das ent-
waffnet den rachsüchtigen Verfolger wieder. Er bekundet
Reue, er bittet um Vergebung, um Erbarmen. Das Ant-
litz unserer Verführerin erhellt sich, sie ist nicht mehr un-
willig, obwohl sic noch wankt und schweigt. Der Bittende
verdoppelt, verzehnfacht seine Bemühungen. Er umkreist
sie mit den anmuthigsten Sprüngen, er vollführt Wunder
der Geschicklichkeit ... er sieht immer, und endlich läßt sic
sich von dem Wirbel ergreifen. Sie tanzen zusannuen, sich
gegenüber, mit einer Bewegung und einem Athem. Immer
rascher . . . leidenschaftlicher . . . rasender. Ihre Körper-
scheinen zu blinken ... die einzelnen Glieder sind beinahe
nicht zu erkennen. . . Es ist ein Chaos, in welchem sich die
Beiden verstehen, ein Chaos das die ganze Versammlung
in äußerstes Entzücken versetzt. Alle tanzen im Herzen
mit. Alle sind der Erde entrückt und vergessen die Sorgen
des Lebens. Wilde Rufe: lualie! malie! lelei! lelei!
(o süß! o hübsch!) mit heftigem Händeklatschen untermengt,
übertönen die Chöre und der Tanz löst sich in allgemeinem
Wirrwarr der Zufriedenheit und des Lobpreisend ans.
Besuchen wir nun auch die anderen sich bildenden
Gruppen. Hier sitzt ein Kreis verheiratheter Frauen in
lebhaftem Gespräch begriffen. Ah! sie hecheln die Gemahlin
eines nachbarlichen Häuptlings durch die Zähne. Genug
der Klatschereien! ... laß uns weiter ziehen. Dort
schwatzen alte Frauen.... sie besprechen die Aussteuern
ihrer Urgroßmütter. Die Schilderungen sind so genau,
als seien die werthvollen Matten erst gestern geflochten
worden.
Weiter im Kreise fortschreitend, treffen wir einen er-
grauten Mann. Es muß ein alter Häuptling sein, denn
er hat den Fue und den Jli neben sich liegen (den Fliegen-
wedel und den Fächer). Er ist von Jungen und Alten
umgeben, die ihm eifrig zuhören. Ein Buch der Ver-
gangenheit, übergiebt er der Gegenwart die alten Sitten
und Sagen für die Zukunft. Er erzählt eben, wie einst
der Berg Tofua Upolu ein Freund des Tapatapao auf
Savaii war. Beide Berge waren sich gleich. Aber der
letztere wollte größer sein und cs entstand ein hcftiger
Kamps. Deshalb ragt der Tapatapao mit zerschlagener
Spitze aus den Wäldern Savaiis hervor.
Ucberall, wo wir uns umblicken, finden wir Sorglosig-
88
I. S. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben.
keil und Lebenslust. Man sieht keine umwölkte Stirnen,
denn welche Sorge sollte sie drücken? Der Fremde kommt
hier nicht, die Lebenslust zu verscheuchen und zu beschmutzen.
Die Idylle gefällt ihm nur, wenn vom Schalle des
Thalers begleitet. Auch die Götter waren dem Dorfe
gnädig, es giebt keine Kranken, keine Todten zu beweinen,
denn sonst wäre das Malae stumm und leer.
Indessen ist die Zeit der Abendgebete und des Abend-
mahles herangerückt und die Kreise zerstreuen sich. Von
allen Seiten Hallen in der Luft die Abschiedsgrüße: Tobn!
tobn! kreuz und quer und Alle gehen nach ihren Häusern.
Wer jedoch in der Nähe des sich zerstreuenden
Kreises der Tänzer war, der konnte zwischen den hin-
geworfenen Abschiedsgrüßen einige viclbedentende Worte
auffangen, „Iota inga,“, „tosa soifúa“ sind mehr als
gleichgültige Grüße, und ein rasches „tòro“ als Antwort
würde das Ohr des Horchers treffen. Mit diesem Räthsel
beschäftigt, treten wir in eins der Häuser ein, um mit einem
gemeinsamen Gebet und dem Abendmahl den glücklich durch-
lebten Tag zu beenden.
Wieder sehen wir eine Familie auf dem Fußboden im
Kreise sitzend. Alle ordnen sich und räuspern oder unter-
halten sich mit gedämpfter Stimme. Der Vater, ein
Christ, erhebt sein Haupt, hustet und überblickt seinen
Familienkreis. Alles beruhigt sich . . . Die gesenkten
Stirnen, die die Augen zudeckenden Hände bekunden die
Absicht der Beendigung profaner Gespräche. Nach been-
digtem, laut ausgesprochenem Gebet erheben sich wieder
aller Häupter und die Speisen werden in Körben herbei-
gebracht und auf Blättern zertheilt. Dies thut die Mutter,
und der erste und beste Theil wird dem Gaste, wenn einer
vorhanden, sonst dem Hausherrn dargereicht. Der Reihe
nach werden alle Anwesenden bedacht, die Kinder essen mit
den Eltern und alle von den Blättern und mit den Fingern.
Nach noch einiger Unterhaltung macht man Veranstal-
tungen zur Nachtruhe. Die aus Tapa verfertigten Tai-
namus werden ausgespannt, manchmal mehrere in einem
Hause, und in ihnen schlafen die Eltern und Kinder ge-
schützt vor Mücken. Die übrigen Verwandten suchen Unter-
kunft in den umliegenden Häusern. Sie schlafen . . . Oh,
mögen sie glücklich schlafen! Mögen ihnen ihre Geister,
die heidnischen Götter und der Gott der Christen, liebliche
Träume gewähren! Mögen die dem Grabe nahen Alten
in der Wonne der goldenen Jugendzeit aufleben! Mögen
die Jungen die Zukunft in rosigen Farben erblicken ! Mögen
sie schlafen und träumen! . .. Wir aber wollen nicht schlafen
und träumen, wir wollen weiter eilen und neue Eindrücke
suchen.
Wir erinnern uns des geheimnißvollen — tòro —
welches unser Ohr bei dem Aufbrechen der Tänzer streifte.
Tòro bedeutet Zuckerrohr, und hier neben dem Wege sehen
wir ein damit bestelltes Feld. Treten wir hinein! Der feuchte,
einem Teppich gleiche Boden dämpft unsere Schritte. Nur
der Wind lispelt in den Zuckerrohrhalmen. Wir schlängeln
uns immer weiter hinein. Es ist stacht . . . dunkel. . .
der Mond noch nicht da, sonst würden wir vielleicht das
— tòro — nicht gehört haben. Aber was ist das? Ganz
leise, kaum hörbar, ertönt der Ruf der samoanischen Eule...
von einer anderen Richtung ereilt uns wieder ein Gekreisch,
wie es die kleine Gecko-Eidechse hervorbringt... Nachts . ..
auf dieser Stelle, das ist ungewöhnlich! Plötzlich erschrecken
wir beinahe. Unfern von uns sehen wir einen Kopf zwischen
den schwankenden Halmen versteckt. Wir erkennen unseren
Tänzer. Nun, dann wird wohl auch die schöne Eidechse
nicht weit entfernt sein .. . Und wirklich, bald gleitet an uns
eine Gestalt vorbei, rasch und leicht wie ein Traum. Die
beiden Köpfe vereinigten sich, wankten, sanken und ver-
schwanden und in der Ferne erschallte dieses Mal wirklich
der Ruf einer samoanischen Eule (8trix delicutula Gld.).
Ein Zuckerrohrfeld ist des Nachts ein sicherer Versteck
für zwei Liebende. Niemand wird sie hier in der Zeit der
Geister und Gespenster stören. Unser Pärchen weiß es und'
unbesorgt um einen Lauscher kann man sie sprechen hören.
— Du weißt, Lilomajava, daß meine Eltern dich hassen;
uns bleibt nur die „awenga“ über.
— Wann und wo, meine kamaikai (Herrin)?
— Wenn der Mond um diese Zeit über diesem Felde
steht, wirst Du mich am Bache treffen. Sei aber vor-
sichtig, denn die Unserigcn haben scharfe Augen.
— Ah, meine Herrin, bis zu dieser Zeit werden noch
drei lange Nächte vergehen müssen. Warum nicht gleich?
Die morgende Sonne kann uns schon in Palauli finden.
Meine Leute sind bereit, die See ist ruhig, der Wind ist
günstig. O komm! komm! ...
Sie schweigt, aber ihr Arm windet sich kräftiger um
seinen Nacken. Er erhebt sich wie ein Niese und einem
Pfeile gleich eilt er mit feiner süßen Bürde durch die
wogenden Halme. Sie sind verschwunden. Laß uns an
den Meeresstrand gehen.
Es herrscht hier vollkommene Stille . . . kaum unter-
brochen von dem leisen Geräusch der den weißen Sandstraud
benetzenden Fluth. Nur aus der Ferne schallt das grimmige
Tosen der am Riffe zerschellten Brandung. Die kühle
Landbrife bewegt die herabhängenden Palmwedel kaum. Die
Natur ruht aus.
Auch am Strande des nachbarlichen Dorfes herrscht
Stille, aber auf dem weißen Sande bewegen sich dunkle
Gestalten. Ein Toumalua, das einheimische Reisekanoe
wird ins Wasser hinuntergeschoben. Die dunkeln Gestalten
sind verschwunden, ein aufrechtes dreieckiges Segel entfaltet
sich und dem Strande entlang gleitend entschwindet es dem
Blicke. Erst ans weiter Ferne erreicht uns der gedämpfte
Schall eines Tritonshornes, dieser Schall begleitet das
glückliche Liebespaar der Küste entlang, deren aus dem
Schlafe gestörten Bewohnern etwas Besonderes anzeigend.
Er eilt ihm voraus nach Palauli, wo die Liebenden den
Zorn der Eltern vorübergehen lassen wollen.
Am nächsten Morgen Aufruhr in beiden Dörfern. Die
Freunde des glücklichen Bräutigams durchschreiten ihr Dorf
und rufen aus: Awánga!! Awánga!! die schöne Tánetási
und der tapfere Lilomaiáva sind Awánga!! Awánga!!
Awánga!! Die stolzen Eltern der Braut hören mit ver-
bissener Wuth die öffentliche Ausrufung, die das Schicksal
ihrer Tochter besiegelt. Während einiger Zeit böses Blut
auf beiden Seiten. Die alten Väter vermeiden sich, die
jungen Männer betrachten ihre Keulen und Speere, die
hauptsächlichste Rolle spielen aber die Zungen.
Nach ein paar Wochen legt sich alles, und die Eltern
schicken ihrer Tochter eine weiße Matte, als Zeichen der Ver-
zeihung. Das Paar, das sich bis jetzt noch fremd blieb,
kommt zurück. Es wird die „feiainga“ vorgenommen und
die weiße Matte, mit Spuren der Würdigkeit der Braut,
wird gegen einen Theil der Aussteuer ausgetauscht. Der
andere wird bei der ersten Niederkunft ausgehändigt.
Heirathet das Paar nicht aus Liebe oder stehen keine
Schwierigkeiten bevor, so wird alles von den Verwandten
geordnet. Früher war die „Awánga“ (die Brautflucht)
in Samoa an der Tagesordnung.
Artesische Brunnen in Colorado.
89
Artesische Brunnen in Colorado.
Vom Commissioncr of Agricnlture beauftragt, hatten
C. A. White und S. Aughey im Jahre 1881 einen Theil
jener großen Ebenen des Staates Colorado, welche ungefähr
40 000 Quadratmeilen (engl.) umfassen, bereist, um zu
untersuchen, ob sich dort nicht artesische Brunnen und mit
deren Hilfe aus Wüste Weide und Acker herstellen lassen.
Ihre Aufgabe war eigentlich umfänglicher gewesen; handelte
cs sich doch um die ganze Fläche, welche zwischen Meridian
102 im Osten und den Rocky Mountains imWesten, und
zwischen den Nord- und Südgrenzen der Vereinigten Staaten
liegt. Aber zwingende Gründe veranlaßten die Reisenden,
sich auf das oben angegebene Gebiet, das ihnen schon von
früher her bekannt war, zu beschränken. Im Westen des-
selben steigt, steil wie eine Mauer, die Hauptkette der Rocky
Mountains, in einzelnen Spitzen bis mehr als 14 000
engl. Fuß über dem Meere, auf, die untersuchte Strecke
selbst aber, deren höchster Punkt in den als tertiäres Hoch-
land zu bezeichnenden Stellen 4450 Fuß, deren tiefster
3129 Fuß über dem Meere liegt, senkt sich 10 bis 12 Fuß
auf die Meile vom Fuße der Rocky Mountains nach Osten
zu. Durchflossen wird sie vom South Platte und dem
Arkansas, aber diese Flüsse sind durchaus nicht im stände,
an die von ihnen durchlaufenen Landschaften Feuchtigkeit
abzugeben, weil sie häufig, anstatt mit der Länge des Laufes
anzuschwellen, durch Verdunstung und Aufsaugung wasser-
ärmer werden, stetigen Zufluß aber überhaupt nur von
ihren zahlreichen, in den Rocky Mountains gelegenen Quell-
flüssen erhalten. Diese letzteren wieder verdanken ihr Ent-
stehen zahlreichen vereinzelten Lagern ewigen Schnees und
den verhältnißmäßig reichlichen Regenfällen, welche die
Berge, nicht aber die Ebenen treffen; sie sind aber nur
zum Theil das ganze Jahr wasserhaltig, andere trocknen
im Sommer ganz und gar aus. — Die großen Ebenen
haben viel Aehnlichkcit mit den großen Prärien des oberen
Mississippithales. Aber während nahrhafte Gräser und
verschiedene krautartige Pflanzen vorherrschen, bedecken sie
doch den Boden auch nicht annähernd so dicht, wie es in
den Prärien der Fall. Der Boden der großen Ebenen
ist nach den angestellten Versuchen ziemlich derselbe, wie
der der Prärien, und würde durch Zuführung von Wasser
auch dieselbe Fruchtbarkeit erreichen. Ausgenommen sind
die schon oben erwähnten, in der Nähe der gegen die Rocky
Mountains verschwindenden Vorberge gelegenen, aber von
denselben deutlich abgesetzten, von 100 bis 800 Fuß ans
den Ebenen aufragenden tertiären Hochländer, Bluffs ge-
nannt, wie z. B. Ehalk Bluff, 25 Meilen südöstlich von
der Stadt Cheyenne.
Die Geologie des untersuchten Gebietes ist sehr
einfach zu neunen. Die unterlagernden Schichten, leicht
zu sehen, weil sie bei den Rocky Mountains aufgerichtet
sind, verflachen sich ganz sanft nach Osten zu, und
zwar sind sie in nachstehender Reihenfolge gelagert:
Tertiärgestein in 200 bis 1400 Fuß, Laramie in 200 bis
1000 Fuß, Kreideformation in 2250 bis 2900 Fuß, Jura
in 400 bis 800 Fuß und Trias in 1500 bis 2000 Fuß
Mächtigkeit. Die beiden Commissiouers sind nun nach
ihrem officiellen Bericht, betitelt: „Artesian Wells upon
the great Plains, being a Report of a Geological
Commission etc.“, Washington, Government Printing
Office, 1882, 8°, dem eine nach dem Atlas of Colorado
(bearbeitet vom II. 8. Geological Survey of the Terri-
tories) hergestellte Karte beigegeben ist, zn folgenden
Schlüssen gekommen. Die weite Landschaft ist eine sehr
trockene zu nennen. Demzufolge und wegen der Undurch-
lässigkeit der obersten Schichten dürfte kein auf die Ober-
fläche des Gebietes fallendes Wasser die tiefer liegenden
Schichten in genügender Menge erreichen, um artesische
Brunnen zu liefern. Die Hauptneigung der Schichten des
Gebietes ist eine solche, daß kein Wasser sich in oder unter
denselben ansammeln dürfte, ausgenommen solches, welches
auf die aufgerichteten Enden der Schichten an den Vor-
bergen fällt, oder ein Theil von dem, welches als Strom
über dieselben wegfließt. Die sekundären Neigungen der
Schichten sind solche, daß die Bohrungen artesischer Brunnen
im östlichen Theile des Gebietes zwischen Arkansas und
South Platte River mehr Aussicht auf Erfolg haben als
anderswo. Die obersten und tertiären Ablagerungen sind
so beschaffen, daß sie zur Bohrung nicht verleiten können,
und deshalb dürften Bohrungen von nur geringer Tiefe
nirgendwo innerhalb der eigentlichen Grenzen des Gebietes
von Erfolg begleitet sein. Nur zwei der unter den großen
Ebenen lagernden Schichten dürften sich als wasserführend
erweisen, nämlich der Dakotasaudstein der Kreideformation
und der Triassandstein. Um zu ersterem zu gelangen,
müßte 1200 bis 2000 Fuß tief gegangen werden, während
das Erreichen des anderen noch 600 bis 800 Fuß mehr
erfordern würde. Möglich ist es, daß wegen gewisser
lokaler Neigungen der Schichten Bohrungen im südwest-
lichen Theile des Gebietes Erfolg hätten; es kann auch
sein, daß genug Wasser aus dem Arkansas durch den Dakota-
saudstein in die unter dem südwestlichen Theile des Gebietes
liegenden Schichten sickert, aber es dürfte nicht zu Tage
treten, wenn gebohrt würde. Jedenfalls wäre zu empfehlen,
daß, wenn einmal hier ein Versuch gemacht werden sollte,
erst streng wissenschaftliche Untersuchungen vorausgingen,
weil wiederholte mißglückte Versuche die Regierung auf
die Dauer von Bohrungen überhaupt abschrecken würden.
Wenn auch nicht sichere Schlüsse zulassend, sedenfalls aber
erwähnenswerth ist, daß man bei Fort Lyon in Colorado,
100 Meilen östlich von den Rocky Mountains am Arkansas
auf Tertiär gelegen, im Jahre 1881 bis ans 719 Fuß tief
bohrte, ohne einen anderen Wasserzuflnß zn finden, als bei
430 Fuß 3 Gallonen in der Stunde, und daß dieser
nicht einmal aushielt, sondern nach einiger Zeit verschwand.
Globus XLVii. Nr. 6.
12
90
Nekrologe.
Nekrologe.
I.
— I. F. Julius Schmidt, bekannter Astronom
und Meteorologe, geboren 26. Oktober 1825 zu Eutin, ge-
storben 8. Januar 1884 in Athen. Nachdem er seit 1842
auf den Sternwarten in Hamburg, Bilk, Bonn und Olmiitz
gearbeitet hatte, wurde er 1858 Direktor der Sternwarte in
Athen; freilich hat er seine dortigen Beobachtungen nicht
auf diesem Institute, sondern in seinem Privatobscrvatorium
angestellt, weil es auf jenem — an Instrumenten fehlte.
Abgesehen von seinen rein astronomischen Arbeiten und beson-
ders seiner großen Karte des Mondes in 25 Blättern (Berlin
1878), hat er sich große Verdienste um die physikalische Geogra-
phie, namentlich Griechenlands, erworben. 1866 beobachtete
er die vulkanischen Erscheinungen bei Santorini und ver-
öffentlichte darüber und über frühere Beobachtungen in Ita-
lien seine „Vulkanstndien" (Leipzig 1874), denen 1875 „Studien
über Erdbeben" folgten. Für Meteorologie, Hypsometrie rc.
sind seine „Beiträge zur physikalischen Geographie Griechen-
lands" (3 Bde., 1861 bis 1869) von Bedeutung.
— Paul Schumacher, Ethnologe und Archäologe, ein
Deutschungar von Geburt, starb Mitte Januar 1884 in
Gnaymas in Mexiko am Fieber. Er war einer der besten
Reisenden und Sammler der Smithsonian Institution, be-
sonders bekannt durch seine Ausgrabungen in der County
Santa Barbara (Kalifornien) und den dazu gehörigen Inseln,
und hat in den Schriften der Smithsonian Institution, so-
wie in deutschen Zeitschriften vortreffliche Arbeiten zur Ethno-
graphie und Archäologie der pacifischen Küste Nordamerikas
veröffentlicht.
— Richard Eugène Cortambert, französischer
Geograph, geboren in Paris 1836, gestorben 26. Januar
1884 in Hyöres. Er war 1856 bis 1878 bei der geogra-
phischen Abtheilung der großen Nationalbibliothek in Paris
angestellt und 1865 bis 1873 Mitglied der Commission Cen-
trale der Pariser Geographischen Gesellschaft. Besonders
suchte er die Geographie zu popularisiren und schrieb außer
einer großen Menge von Journalartikeln in den Jahren
1864 bis 1868 mehrere populäre Bücher, wie „Les Grands
Voyages Contemporains“, „Aventures d’un artiste dans
le Liban“, „Les Illustres Voyageuses“, „Impressions d’un
Japonais en France“ und „Géographie commerciale des
cinq parties du monde“.
— Arnold Henry GUyot, schweizerisch-amerika-
nischer Geograph, geboren 28. September 1807 in Neu-
châtel, gestorben 30. Januar 1884 in Princeton (New Jersey).
Er studirte in Neuchâtel, Stuttgart und Karlsruhe, wo er
mit Agassi; eng befreundet wurde, widmete sich dann mehrere
Jahre der Theologie in Berlin, wandte sich schließlich aber ganz
den Naturwissenschaften zu. Bei einer Schweizerreise im
Jahre 1838 entdeckte er zuerst die blätterige Struktur des
Gletschereises und wies nach, daß die Bewegung des Glet-
schers eine Folge der Verschiebung seiner Moleküle ist.
Sieben Sommer hindurch untersuchte er nun die Vertheilung
der Gletscherblöcke zu beiden Seiten der Alpen und be-
stimmte ihre Höhengrenzen und die Gesetze ihrer Wande-
rung. 1848 siedelte er nach Amerika über, hielt zuerst Vor-
lesungen in den Normalschnlen von Massachusetts, richtete
im Aufträge der Smithsonian Institution ein System meteoro-
logischer Beobachtungen ein und wurde 1855 Professor der
physikalischen Geographie in Princeton. Dort veröffentlichte
er 1866 „Primary Geography“, 1870 „Intermediate Geo-
graphy“ und 1873 „Physical Geography“, nebst einer
Reihe von Wandkarten.
— Heinrich Karl Berg Hans, der bekannte, über-
aus fruchtbare Geograph und Kartograph, geboren 3. Mai
1797 zu Cleve, gestorben 17. Februar 1884 zu Stettin. Von
seinem Vater und auf dem Gymnasium in Münster vor-
gebildet, wurde er schon im Jahre 1811 zum Zeichner im
Bureau des Chefingenieurs des damals französischen Lippe-
Departements angestellt und nahm an den Vorarbeiten für
einen Kanal, der Lübeck und Hamburg mit Paris verbinden
sollte, theil. Während der Freiheitskriege wurde er in der
Militärökonomie verwandt, studirte dann in Berlin, arbeitete
seit 1816 an der preußischen Landesvermessung mit und
lehrte 1821 bis 1855 an der Berliner Bauakademie praktische
Geometrie, Situationszeichnen und Maschinenbauknnst. 1839
bis 1848 leitete er bei Potsdam eine geographische Kunst-
schule, die u. a. Petermann und Hermann Berghaus be-
suchten. 1863 siedelte er nach Stettin über. Außerordentlich
groß ist die Anzahl der von ihm vorhandenen Karten und
Bücher, von seiner Karte von Frankreich (Weimar 1824)
angefangen. Die wichtigsten sind der Atlas von Asien
(15 Karten, Gotha 1833 bis 1843), der Physikalische Atlas
(93 Karten, Gotha 1837 bis 1848), die Sammlung hydro-
graphisch-physikalischer Karten der preußischen Seefahrer (1840
bis 1847) und verschiedene Karten in den Atlassen von Stieler
und Sohn. Von 1825 bis 1852 gab er fünf verschiedene
geographische Zeitschriften heraus: „Hertha" 1825 bis 1830,
„Annalen der Erd-, Völker- und Staatenkunde" 1830 bis 1843,
„Almanach" 1837 bis 1841, „Zeitschrift für Erdkunde" 1847
bis 1848, „Geographische Jahrbücher" 1850 bis 1852. Außer-
dem schrieb er: „Allgemeine Länder- und Völkerkunde"
(5 Bde), „Grundriß der Geographie", „Die Völker des Erd-
balls" (2 Bde), „Landbuch der Mark Brandenburg" (3 Bde),
„Landbuch des Hxrzogthums Pommern" und zuletzt das
„Wörterbuch der altsassischen Sprache".
— Karl Victor Müllenhoff, der hervorragendste
Germanist unserer Zeit, geboren 8. November 1818 zu
Marne in Dithmarschen, gestorben 19. Februar 1884 zu
Berlin, 1846 bis 1858 Professor in Kiel, 1858 bis 1884
in Berlin, darf in einem ethnographisch-geographischen Nekro-
loge nicht fehlen wegen seiner Abhandlungen zur alten Geogra-
phie und Völkerkunde und des ersten Bandes seiner „Deut-
schen Alterthumskunde", welcher die Kenntnisse der klassischen
Völker vom Norden behandelt. Von seinen hierher gehörigen
Schriften nennen wir außerdem: „Sagen, Märchen und
Lieder der Herzogthümer Schleswig-Holstein und Lauenburg"
(1845); 1849 veröffentlichte er in der Zeitschrift für deutsches
Alterthum „Abhandlungen über die Semnonen und die
Sudeta", 1856 das Universitätsprogramm „Ueber die Welt-
karte und Chorographie des Kaisers Augustus", 1866 die
akademischen Schriften „Ueber das Sarmatien des Ptole-
mäus" und „Ueber die Abkunft und Sprache der pontischen
Skythen und Sarmaten", 1875 im „Hermes" „Ueber die
römische Weltkarte", 1883 „Ueber den südöstlichen Winkel
des alten Germaniens" (Sitzungsberichte der Berliner Aka-
demie).
— Ernst Beym, deutscher Geograph, Mitbegründer
und seit 1878 Redakteur von Petermann’s Mittheilungen,
geboren 4. Januar 1830 zu Gotha, gestorben ebenda 15. März
1884. Er studirte 1849 bis 1853 Medicin, beschäftigte sich
dann viel mit Lektüre von Reisewerken und trat 1856 in das
Perthes’sche Institut, wo er sich bis zu seinem Tode ganz
den „Mittheilungen" widmete, die zahllose Aufsätze, Notizen
und Besprechungen aus seiner Feder enthalten. Er vcr-
Spiridion Gopcevic: Streifzüge in Portugal.
61
faßte ferner die Ergänzungshefte 8 (Das Land und Volk
der Tebu) und 19 (Die modernen Verkehrsmittel), redigirte
seit 1866 sieben Jahrgänge des geographischen Jahrbuchs,
schrieb seit 1872 mit H. Wagner zusammen die sieben ersten
Hefte der „Bevölkerung der Erde" und seit 1876 die Bevölke-
rungs- und Verkehrsstatistik im „Gothaer Almanach". Seit
1877 gab er in den Mittheilnngeu seine „Geographischen
Monatsberichte", die wohlbekannte Uebersicht über neue
Litteratur, Karten und Reisen. Von besonderer Bedeutung
unter seinen Abhandlungen ist „Dr. Livingstone's Erfor-
schung des oberen Kongo" (Mittheilungen 1872), weil er
darin die Beweise für die Zusammengehörigkeit des Lualaba
mit dem Kongo beibrachte; im Gedächtniß der meisten scheint
freilich diese wissenschaftliche That bereits wieder verwischt zu sein.
— Paul Pogge, der erfolgreiche deutsche Afrika-
reisende, geboren 27. December 1839 in Zierstorpf in Mecklen-
burg, gestorben 16. März 1884 in S. Paulo de Loanda.
Anfangs Landwirth, dann Jurist (er promovirte 1860 zum
Doktor der Rechte), unternahm er 1865 zu Zwecken der Jagd
eine Reise nach Capland und Natal, lebte dann wieder
einige Jahre als Landwirth in seiner Heimath und betheiligte
sich Ende 1874, zunächst als Freiwilliger, an der dritten
Expedition, welche die Deutsche Afrikanische Gesellschaft nach
dem südlichen Becken des Kongo aussandte. Von den fünf
Mitgliedern derselben kehrten indessen vier um, und so war
es Pogge allein, der am 9. December 1875 die Residenz des
Muata Jamwo erreichte und die ersten eingehenden Schilde-
rungen seines Reiches veröffentlichen konnte. („Im Reiche
des Mnata Jamwo". Berlin 1880.) Diese Reise sowohl
als seine zweite, mit Lieutenant Wißmann zusammen unter-
nommene, deren glückliche Durchführung ganz wesentlich Pogge
zu danken ist, sind unseren Lesern durch zahlreiche Mitthei-
lungen wohl bekannt. Als das schwerste Stück Arbeit ge-
than, Njangwe am oberen Kongo erreicht war, ließ er selbst-
los seinen Begleiter Wißmann in die civilisirte Welt zurückeilen,
um selbst nach der neubegründeten Station im Lande der
Tuschilange zu ziehen und dort noch länger als ein Jahr
auszuharren. Gerade als er die rettende Küste des Atlan-
tischen Oceans erreicht hatte, erlag er den Jahre lang er-
tragenen Strapazen und Entbehrnngen. Er war, wie einer
der erfolgreichsten, so auch einer der bescheidensten und liebens-
würdigsten Reisenden der Neuzeit.
Streifzüge
Von Spiridi
4. P
Als ich das erste Mal Porto betrat, kam ich von Lissa-
bon. Dies hatte zwar einerseits den Nachtheil, daß mein
Herz noch voll der Eindrücke der herrlichen Lisboa und
ihres noch reizenderen Sprößlings Cintra war, andererseits
brachte es aber den Vortheil mit sich, daß sich mir die
Stadt kurz vor Passircn der Eisenbahnbrücke und während
desselben von ihrer vortheilhaftesten Seite präsentirte. Un-
willkürlich rief ich aus: „Das ist ja noch schöner als
Lissabon!" und ein im Coupé sitzender Portuenser bekräf-
tigte in edlem Lokalpatriotismus: „Ja natürlich! Porto ist
ja die schönstgelegcnc Stadt der Welt!"
Ich antwortete nicht, obschon ich mir dachte: „Armer
Teufel, du hast weder Konstantinopel, noch Neapel, noch
Genna, noch Stockholm gesehen!" denn diese Städte sind
doch noch imposanter gelegen als Porto. Aber selbst mit
Lissabon kann Porto nicht so bestimmt rivalisiren. In Lissa-
bon besticht die große Ausdehnung der auf mehreren Hügeln
gelegenen Stadt, die enorme Breite des Tejo mit dem
malerisch hingeworfenen Almada ans der anderen Seite,
das in der Ferne sichtbare Meer und die anmnthigen Ge-
stade von Bclcm. Porto ist bedeutend kleiner, das Meer
bleibt unsichtbar, der Donro ist nicht sehr breit und so ge-
wunden, daß man immer nur ein kleines Stück von ihm
sieht. Der Hauptreiz Portos besteht jedoch in den un-
gemein malerischen steilen Ufern des Donro, welche, sofern
sic nicht von Häusermassen eingesäumt werden, von der
üppigsten Vegetation bedeckt sind, und in einzelnen besonders
markanten Punkten, wie dem Convento da Serra, der Eisen-
bahnbrücke, der Kettenbrücke und den aus der Häusermasse
emporragenden Gebäuden und Kirchthürmen.
Porto ist bekanntlich die zweitgrößte Stadt Portugals.
Obschon bloß 110 000 Einwohner zählend, macht sie doch
in Portugal.
on Gopcevic.
orto.
einen viel größeren Eindruck. Als Handelsstadt kann sie
sich mit den ersten Hafenstädten Jberiens messen. See-
schiffe können bis zur Brücke fahren, doch ist die Einfahrt
in den Donro wegen der vorliegenden Barre sehr schwierig
und gefahrvoll. Warum sic nicht entfernt wird, was bei
den heutigen technischen Mitteln eine Kleinigkeit wäre, weiß
ich nicht. Der Vorwand, sic trage zum Schutz Portos
gegen feindliche Angriffe bei, ist nicht stichhaltig, denn auch
nach Entfernung der Barre ließe sich durch Strandbatterien
und Torpedos der verhältnißmäßig schmale Donro leicht
schützen. Bei der großen Steilheit der Ufer genügte eine
Mörserbatterie, um durch Bewerfen des Verdeckes der
Panzerschiffs diese zum Rückzug zu zwingen. Während ich
in Porto weilte, scheiterte ein prächtiger Dampfer an der
Barre; das Wrack bot einen schaurig interessanten Anblick.
Portos, welches seit der tapferen Vertheidigung im
Erbfolgekriege der dreißiger Jahre den Titel führt: „a leal
e invicta cidade“ (die loyale und unbesiegte Stadt), liegt
am rechten User des hier gegen 300 m breiten Donro,
ungefähr sechs Kilometer von seiner Mündung in den
Ocean. Im Alterthume Portas Cale genannt, gab es
dem Namen Portugal seine Entstehung. Von den Arabern
716 erobert, fiel es ans kurze Zeit Alfonso I. von Leon in
die Hände, wurde jedoch 820 oder 825 von Almansur von
Córdoba wiedergewonnen und gänzlich zerstört. Erst Ñ48
(nach Anderen 999) siedelten sich wieder Gascogner an, von
denen die Stadt Portus Galliens oder Portus Gallorum
genannt worden sein soll. Zu Anfang des 12. Jahrhunderts
wurde Porto befestigt. In der neueren Zeit zeichnete sich
st Mit dem Artikel O Porto, „Der Hafen", in Deutsch-
land fälschlich zu Oporto zusammengezogen.
12*
92
Spiridion Gop cevic: Streifzüge in Portugal.
die Stadt durch unruhigen Geist der Einwohner aus.
1628, 1661 und 1756 kam es zu Aufständen, und auch
1807 gab Porto das Signal zur allgemeinen Erhebung
gegen die Franzosen. 1809 fand hier Wellingtons be-
rühmter Douroübergang statt, im Angesicht der von Soult
befehligten Armee. 1832 und 1833 gewann Porto un-
sterblichen Ruhm durch die Vertheidigung gegen D. Miguel's
Heer. 1836 ersetzten die Portuenser die Konstitution durch
die Charte, um 1842 wieder zur ersteren zurückzukehren,
was nicht hinderte, daß sie 1846 doch wieder die Charte
proklamirten. Es scheint also, daß das gallische Blut der
Bevölkerung noch nicht ganz in das kühlere lusitanische
aufgegangen ist.
Meinen ersten Spaziergang begann ich vom Hafen aus,
durch die belebteste Straße Portos, die Rua Nova dos
Jnglezes, so genannt nach der englischen Faktorei am Hafen.
Gegenüber derselben hat der Bischof seinen Palast. Um
die Ecke biegend gelangen wir in die Rua Nova de S. Joao,
der schönsten und regelmäßigsten der Stadt mit hohen
Häusern und bunten oder vergoldeten Balkönen. Sie steigt
sehr steil an und unter ihr fließt unter massiven Steinbogen
der Rio da Billa. Als diese Straße 1765 gebaut wurde, erließ
mau den bizarren Befehl, daß die jeweilig einander gegen-
überliegenden Häuser in demselben Stile gebaut werden
müßten. So geschah es z. B., daß auf der einen Seite
ein ebenerdiges Häuschen dasselbe prächtige Portal und die
durchbrochenen Bogenfenster hatte, wie ein gegenüberliegender
fünfstöckiger Palast. Da es in Portugal Sitte ist, daß die
verschiedenen Gewerbe je eine Straße für sich einnehmen,
so darf man sich nicht wundern, hier fast alle Gewürz-
krämer beisammen zu finden. Die Straße mündet in den
Largo de S. Domingo (die „largo«“ sind gleich den nea-
politanischen „larglii“ bloß platz artige Erweiterungen der
Straßen), wo die Kirche da Misericordia ein interessantes,
dem Gran Vasco zugeschriebenes Bild enthält, dessen
Figuren Profile des Königs D. Manuel, seiner Familie
und Zeitgenossen sind.
Rechts vom Platze biegen wir in die Rua das Flores
ein, welche eigentlich Rua do Ouro heißen sollte, da hier,
wie in der Lissaboner Rua Aurea sämmtliche Juweliere und
Goldarbeiter ihre glitzernden Lüden haben. Porto ist nämlich
berühmt durch seine Goldfiligranindustrie, und thatsächlich
kann man hier in den Auslagen die wunderbarsten Ar-
beiten sehen. Besonders stolz sind die Portuenser auf den
Feingehalt ihres Goldes.
Uns links haltend gelangen wir in die Cachada dos
Clerigos, auf derem höchsten Punkte — zugleich dem höch-
sten der Stadt — der Thurm dos Clerigos sich erhebt.
Dieser, 210 Fuß hoch und somit nach Mafra der höchste
Portugals, gewährt die schönste Aussicht auf die Stadt und
Umgebung. Von hier erst kann man die köstlichen Reize
ihrer Lage gebührend würdigen. Schade, daß ein geradezu
entsetzlicher Wind den Aufenthalt im Thurme unangenehm
machte. Die Aussicht erstreckt sich bis auf 10 Meilen
jenseits der Mündung.
Unweit der Torre dos Clerigos haben die Damen der
Halle in hölzernen Baracken ihren Stand. Auf der anderen
Seite erhebt sich die Academia. Die medizinische Ab-
theilung derselben, welche 100 Studenten und 400 bis 500
Patienten zählt, befindet sich jedoch im Hospital de S. An-
tonio. Uebrigens giebt es in Portugal eine Menge Privat-
spitäler, welche von den Jrmandades (Brüderschaften;
span. Hermandadcs) unterhalten werden. Jedermann kann
Jrmno resp. Irma werden, welcher einen Beitrag von
80 bis 100 Mark entweder auf einmal oder einen ent-
sprechenden Jahresbeitrag zahlt. Dafür wird er, so oft er
erkrankt, unentgeltlich aufgenommen und liebevoll gepflegt.
Selbst Reiche und Vornehme sind Mitglieder; so z. B.
war auch Königin D. Maria II. „Irma“ einer solchen
Brüderschaft. Das Kapital derselben vermehrt sich durch
Legate verstorbener Mitglieder in erfreulicher Weise. Alte
Leute erwerben durch Einzahlung einer bestimmten Summe
das Recht, sich bis zum Tode verpflegen zu lassen.
Ueber den Largo de S. Ildefonso, in dessen Umgebung
die Sattler und Hutmacher ihre Läden haben, gelangen
wir nun zur Italienischen Oper auf dem Largo da Batalha.
Die Arbeiter haben hier dem Musterkönig D. Pedro V.
mittelst Subskription eine Statue errichtet. Von hier ist
es nicht weit zu der mit Anlagen bepflanzten großen Praxa
de S. Lazaro, von welcher wir rechts zum Passeio das
Fontainhas hinabsteigen, einem aussichtsreichen Spazier-
gange, wie ihn nur wenige Städte aufweisen können. Er
ist in den Abfall des 90 m hohen Ufers geschnitten, aber
merkwürdigerweise nur von den unteren Volksklassen besucht.
Wir stehen gerade dem auf dem anderen Ufer malerisch
gelegenen Kloster Serra gegenüber, zu unseren Füßen
tief unten den belebten Fluß, rechts die Kettenbrücke, ein
durch seine kühne Anlage und Höhe imponirendes Werk,
links hohe, hier und da mit Bäumen bepflanzte Klippen.
Nur schwer trennen wir uns von dem bezaubernden
Panorama und suchen die Kathedrale auf, welche sich aus
der Spitze eines Hügels erhebt, der ehedem ein fuevisches
Kastell trug. Portugal ist im ganzen arm an hervor-
ragenden Kirchen, daher will es nicht viel sagen, wenn die
Kathedrale eine der interessantesten des Landes ist. Jm-
ponirender als diese nimmt sich jedoch die Jgreja de
S. Francisco aus. Sie — oder vielmehr das anstoßende
Kloster — ist berühmt durch das während der Belagerung
von 1832 dort ausgebrochene Feuer, welches zur Auf-
hebung aller portugiesischen Klöster führte. Die Pfaffen,
welche natürlich auf Seite des ehrlosen D. Miguel standen,
hatten nämlich beschlossen, gleichzeitig sämmtliche Klöster
Portos anzuzünden, um sowohl die in ihnen einquartierten
Truppen zu verbrennen, als auch um den Herzog von
Bragantzñ zu ermorden. Durch Irrthum wurde jedoch das
Kloster S. Francisco um eine Stunde zu früh angezündet,
in Folge dessen scheiterte der teuflische Plan und ver-
brannten bloß drei Soldaten mit ihrer Fahne. Von den
Pfaffen wurde einer sofort niedergeschossen, zwei andere
eingekerkert, aber trotz ihres Geständnisses sonderbarerweise
nicht hingerichtet. Dagegen dekretirte der Kaiser D. Pedro
als Regent Portugals die Aufhebung aller Klöster. So
hatte also diese Schandthat ihre segensreiche Wirkung.
Neben diesem Kloster erhebt sich die Börse, das schönste
Gebäude der Stadt und deren Stolz. Ihre Räumlich-
keiten sind so ausgedehnt, daß die Ausstellung von 1861
dort untergebracht wurde. Von der Börse haben wir nicht
weit zum Passeio das Virtudes, wörtlich: „Spaziergang
der Tugenden“, offenbar von irgend einem Spötter so ge-
tauft, denn die hier promenireuden Damen schienen mir
eher der Demimonde anzugehören. Auch dieser Passeio ist
auf einer steilen Felsenterrasse des Ufers angelegt und mit
Bäumen und Steinsitzen versehen. Man genießt von hier
eine prächtige Aussicht über die Douromüudung.
Durch die Travessa do Calvario gelangen wir auf den
großen Platz, Campo dos Martyres da Patria, dessen
schöne Bäume während der Belagerung als Brennmaterial
benutzt wurden; doch ist er jetzt wieder in einen prächtigen
Volksgarten verwandelt worden. Hier befindet sich die
Relaoäo (Gerichtshof), wo zahlreiche Sträflinge eingesperrt
sind, welche nur durch kleine glaslose Fenster Licht erhalten.
Daneben steht das Findelhaus, welches jährlich 1000 bis
Kürzere Mittheilungen.
93
2000 Besuche empfängt. Den Gesetzen der Vernunft und
Menschlichkeit gemäß, welche bei uns leider noch viel zu
wünschen übrig lassen — in diesem Punkte wenigstens —
wird bei der Aufnahme von Kindern weder gefragt noch
geforscht, man legt ungesehen das Kind in das Rad (daher
der Name ca8a de roda), zieht die Glocke und die Sache
ist abgethan. Dadurch werden jährlich Hunderte von
Müttern vor dem Verbrechen bewahrt und Kindesmord ist
unbekannt.
Im äußersten Norden der Stadt sehen wir den Riesen-
platz Campo da Ncgeneraoao mit Kasernen für 3000 Mann
und hinter diesen die Kirche N. S. da Lapa, welche, weil
sehr hochgelegen, ebenfalls eine hübsche Aussicht hat. Sie
beherbergt das Herz des Kaisers D. Pedro I., welcher 1834
starb. Von hier führt die endlos lange und gerade Rua
d'Almada mit ihrer Verlängerung Rua das Hortas nach
dem Rocio, jetzt Praoa de D. Pedro genannt, dem schönsten
Platze der Stadt. In der Mitte befindet sich eine Reiter-
statue D. Pedro's IV. (des Kaisers). Auf diesem Platze
ließ D. Miguel zwölf Liberale unter den scheußlichsten
und bestialischesten Martern, welche ein verthiertes Gemüth
ersinnen kann, hinrichten. Glücklicherweise hatte diese
Schandthat den Sturz des Elenden zur mittelbaren Folge.
Bon einem anderen Platze „Praxa dos Voluntarios da
Rainha" —in langen Namen sind die Portugiesen groß! —
gelangen wir auf die kleine Praga de Carlos Alberto, wo-
selbst der König zuerst nach seiner Abdankung residirte.
Dann besuchen wir die alte Kirche Cedofcita und kommen
nach Entre Quintas hinaus, so genannt nach fünf schönen
Quintas (Landhäuser), von denen die eine durch ihre Riesen-
magnolia berühmt ist. Der Stamm hat 15 Fuß Umfang,
60 Fuß Höhe und die Zweige bilden ein Dach von 70 Fuß
Durchmesser. In demselben Garten steht auch ein an 100 Fuß
hoher Tulpenbanm von 17 Fuß Stammumfang. In einer
anderen Quinta starb Carl Albert an gebrochenem Herzen.
Von hier begeben wir uns zum Krystallpalast, welcher
auf einem großen Platze mit schöner Aussicht steht. Er
wurde 1865 für die Weltausstellung gebaut und dient seit-
her als Bergnügnngslokal. Er enthält ein kleines Museum
und Bildergallerie, einen prächtigen Koncertsaal mit Orgel,
Restaurant, Billard-, Lese- und Toilettezimmer rc. Der
Park ist recht geschmackvoll.
Im ganzen sind die Straßen Portos gleich jenen
Lissabons steil, und in der Altstadt auch winkelig und eng.
Auch das Leben in denselben erinnert an Lissabon. Die
unzähligen Weiber, welche die Stadt durchziehen und ihre
Waaren ausschreien, sind jedoch etwas hübscher und besser
gekleidet. Sie tragen einen koketten, runden Hut von dem
Schnitte der ungarischen Münnerhnte, der ihnen aus-
gezeichnet zu Gesichte steht, schweres Goldgeschmeide in den
Ohren und um den Hals, und kurze bis an die Knie
reichende Röcke. Von Strümpfen und Schuhen sind sie
jedoch ausgemachte Feinde. Ihre Formen sind meistens voll.
Eine seltsame Art Regenmantel tragen die Fuhrleute,
Straßenkehrer rc. ; derselbe besteht nämlich ans lauter-
künstlich aneinander gereihten Strohhalmen. Etwas Komi-
scheres als einen so durch die Straßen wandelnden Stroh-
mann kann man sich nicht denken.
bürgere Mittheilungen.
Die Ansiedelung am Port Darwin.
Die Nachrichten ans der zu Südaustralien gehörigen
Ansiedelung am Port Darwin an der Nordküste von Australien
lauten wenig befriedigend, und von den glänzenden Prophe-
zeiungen, welche der jetzige Government-Resident Mr. I. L.
Parsons bei seinem Antritte machte, ist bisher eben nichts in
Erfüllung gegangen. Der Australier nimmt in solchen Dingen
den Mund immer gern sehr voll, was er, mit einem ihm
eigenartigen Ausdrucke, „blowing“ nennt. Mit Ausnahme
der Beamten an dem dort einlaufenden Kabel und am Ueber-
landtelegraphen, sowie derer im Dienste der Regierung, be-
steht die kaum 4500 zählende Bevölkerung fast nur aus
Chinesen. Die wenigen Europäer verringern sich immer
mehr und neue kommen nicht dazu. Aber die Chinesen er-
regen nun einmal die Feindschaft der Europäer, obgleich es
stille und friedliche Menschen sind und den Behörden keine
Veranlassung geben, gegen sie einzuschreiten. Als im Oktober
1884 der Kapitän des an der Nordküste stationirten Regie-
rungsdampfers seine störrigen Matrosen entließ und dafür
willige Chinesen engagirte, erhob sich darüber in der ganzen
Kolonie ein solcher Lärm, daß man hätte glauben sollen, das
Vaterland sei in Gefahr. Man möchte den Chinesen eine
sehr hohe Kopfsteuer auferlegen, um sie los zu werden, und
dagegen sogenannte Eurasians aus Ostindien auf Staats- !
kosten importiren- Man versteht darunter Ostindier, welche
von europäischen und indischen Eltern abstammen, also Misch-
linge sind. Sie sollen intelligente, fleißige und nach Ver-
sicherung von Engländern, auch brauchbarere und nützlichere
Menschen sein, als viele der ans Kosten der australischen
Kolonie aus Europa eingeführten Emigranten. Sie betreiben >
meistens ein Handwerk, sind jedoch zu arm, um die Fahrt
aus eigenen Mitteln bestreiten zu können. Wir wüßten nicht,
was für ein Gewinn aus diesem Wechsel für die Ansiedelung,
wie sie einmal ist, hervorgehen sollte, es sei denn, daß man
aus billigere Arbeitslöhne — für Gewerbe, die nicht da
sind? — rechnete. — Die Erwerbszweige, welche bisher ver-
sucht wurden, mußten, nachdem sie große Summen ver-
schlungen hatten, größtcutheils wieder aufgegeben werden.
Dies gilt namentlich von den Zuckerrohr- und anderen Plan-
tagen. Im September 1884 löste sich auch die Adelaide and
Port Darwin Sugar Company, welche im Mai 1882 unter-
großen Hoffnungen ins Leben getreten war, mit einem Ver-
luste von 20000 Pfd. St. auf, und ebenso im nächsten Oktobcr
Poett's Northern Territory Plantation Company. Ob dcr
Deutschc, Otto Brandt, welcher jetzt, angeblich im Interesse
einer großen Lagerbierbrauerei, damit beschäftigt ist, an der
Shoal Bay, in 12" 15' südl. Br. und 131" östlich von Gr.,
auf einem Areale von vorläufig 310 Hektar eine Zuckerrohr-
plantage anzulegen, besser fahren werde, als bisherige Erfah-
rungen an die Hand geben? Wir bezweifeln es. — Im
Oktober 1881 wurde am Mc Kinlayfluffe unweit Mount
Wells in ungefähr 13° 30' südl. Br. und 131° 30' östl. v. Gr.
ein Zinnlager mit Beimischung von Gold, von, wie in
allen Zeitungen ausgeschrien ward, sehr hohem Werthe ent-
deckt. Dieser hat nun darin bestanden, daß, nachdem die
Mine einige Zeit mit Verlust bearbeitet worden, die Arbeiten,
angeblich wegen der hohen Transportkosten, eingestellt wurden.
Vor ungefähr einem Jahre wollte man an der Nordküste in
der Nähe von Port Darwin reiche Perlmuschellager auf-
gefnnden haben, und große Hoffnungen wurden darauf gesetzt.
Leider hat sich aber bald ergeben, daß es auch damit nichts
94
Aus allen Erdtheilen.
ist. Die Muscheln liegen in zu tiefem Wasser, und letzteres
ist so morastig, daß die Taucher darin nicht arbeiten können.
Den einzigen Erwerbszweig bilden zur Zeit die Gold-
felder, meistens von Chinesen besucht. Sie sind nicht ergiebig
genug, um Europäer anzuziehen, abgesehen davon, das letztere
in einem tropischen Klima Arbeiten im Freien nicht lange
aushalten. Das Alluvium enthält sehr wenig Gold, und die
goldhaltigen Quarzriffe, zu deren Bearbeitung aber Geld-
mittel gehören, würden wohl einen besseren Nutzen abwerfen,
wenn nicht die Transportkosten in der Verbindung mit Port
Darwin zu bedeutend wären. Diesem Uebelstande wird, wie
es scheint, nach Verlauf einiger Jahre, wenn dann noch Gold-
felder existiren, abgeholfen sein. Das südaustralische Parla-
ment hat nämlich den Ban einer 240 km langen Bahn von
Port Darwin südlich nach Pine Creek, also bis in die Gegend
der Goldfelder, deren Kosten auf 959 300 Pfd. St. veran-
schlagt sind, genehmigt, und nähern sich die Vorarbeiten be-
reits der Vollendung. Es ist dies ein kühner Entschluß von
einer Kolonie wie Südaustralien, welche erst 315000 Bewohner
zählt und, bei zur Zeit ziemlich zerrütteten finanziellen Ver-
hältnissen, mit einer öffentlichen Schuld von bereits
15 511000 Pfd. St., also 50 Pfd. St. pro Kopf der Bevöl-
kerung, belastet ist. Kühn um so mehr, als an eine Ver-
zinsung des Baukapitals wohl auf lange Zeit hinaus nicht
zu denken ist.
Im centralen Northern Territory sind sehr ausgedehnte
Areale von mehr oder weniger zweifelhaftem Werthe zu Vieh-
weiden in Pacht genommen. Die Erfolge muß man ab-
warten. Für Schafe ist diese Gegend wenig geeignet, mehr
aber für Pferde und Rindvieh. H. Gr.
Rass en decken.
Nicht mehr einseitig auf Schädeluntersnchungen er-
strecken sich die anthropologischen Messungen. Auch das Becken
in seiner Bedeutung für die Rassenunterschiede wird neuer-
dings von den Anthropologen mehr gewürdigt, doch liegt hier
ungleich weniger Material zur Verarbeitung vor, als bei
den Schädeln. Einen fleißigen Beitrag zur Kenntniß der
Rassenbecken hat jetzt Dr. Paul Schröter in seiner In-
auguraldissertation „Anthropologische Untersuchungen
am Becken lebender Menschen" (Dorpat 1884) geliefert
und zwar ist auch hier, wie bereits in vielen anthropolo-
gischen Untersuchungen, die Anregung von Prof. L. S tied a
ausgegangen. Dr. Schröter hat im ganzen bei 271 Per-
sonen beiderlei Geschlechts und zwar bei 114 Polen, 102 Ju-
den und 55 Russen seine Messungen angestellt und die ganze
vorhandene Litteratur zum Vergleiche herangezogen, so daß
er zu einigen allgemeinen Schlüssen wohl berechtigt ist und
auch in der wichtigen Frage der Beckenneigung zu einer be-
stimmten Ansicht gelangen und zeigen konnte, daß verschiedenen
Rassen auch verschiedene Neigungsverhältnisse des Beckens
zukommen.
Schröter hat gefunden, daß das Becken der Estin und Deut-
schen ein stärker entwickeltes ist, als das der Polin und Jüdin,
daß das Becken der letzteren überhaupt das in allen Maßen
kleinste ist; und so ist es ähnlich bei den Männern, wo Russen
und Polen größere Maße als die Juden in Bezug auf das
Becken zeigen (z. B- Beckenumfang der Juden 78,6, der Po-
len 81,2, der Russen 83,6).
Was die Neigung der anthropologischen Beckenebene be-
trifft, so findet man von den untersuchten oder verglichenen
Völkern, daß die stärkste Beckenneigung bei den Deutschen,
eine geringere bei den polnischen Frauen, eine noch geringere
bei den Jüdinnen und die geringste bei den Estinnen vor-
handen ist. Und so auch bei den untersuchten Männern,
wo auch noch die Russen den Juden vorgehen.
Die Beckenneigung ist übrigens nicht bei allen Rassen
derart, daß sie bei Frauen eine stärkere als bei den Män-
nern derselben Rasse ist; bei den Polen und Juden ist näm-
lich die Beckenneigung der Frauen eine geringere als die der
Männer. Eine konstante Größe ist die Beckenneigung bei
einem und demselben Individuum auch nicht: eine Verände-
rung der Stellung des Jndividiums ruft eine Veränderung
in der Größe der Beckenneigung hervor.
Aus all e n
E n r o p a.
— In der Versammlung des Historischen Vereins von
Oberbayern am 1. December 1884 sprach Herr Johann
Freßl über die Verbreitung des bayerischen Stam-
mes. Nach der „Allgemeinen Zeitung" (3. Dec. 1884) be-
klagte er, daß die Deutschen sich wenig um ihre Urgeschichte
und die Richtigstellung verbreiteter falscher Angaben über
ihre Herkunft kümmerten. Was speciell Bayern betreffe, so
könne man in einer akademischen Festrede, die vor sieben
Jahren gehalten wurde, lesen, daß es doch wunderbar sei, daß
das heutige Bayern Königreich Bayern genannt werde, wäh-
rend doch der fränkische und schwäbische Volksstamm im
jetzigen Bayern den überwiegenden Theil des Volkes bilden.
Von der richtigen Ansicht ausgehend, daß derlei Bestimmun-
gen nur an der Hand der Sprachgeschichte und des Sprach-
gebietes gegeben werden können, legte Redner eine von ihm
entworfene Karte des Sprachgebietes des baiua-
rischeu Stammes vor. Die bayerische Sprache hat drei
Mundarten: die altbayerische, die oberpfülzische und die
wäldlerische. Zieht man nach eingehenden sprachlichen Unter-
suchungen- an Ort und Stelle die Grenze des baiuarischen
Sprachgebietes, so beginnt diese im Südwesten bei Telfs in
E r d t h e i l c u.
Tirol, zieht sich nordwärts dem Lech entlang an den Peissen-
berg, folgt der Ammer bis Diessen und erstreckt sich west-
lich bis Landsbcrg. Bruck bildet eine scharfe Grenzscheide,
Rain gehört hierher, und von dieser Stadt an zieht sich in
gerader Linie nordwärts bis Erlangen das Sprachgebiet,
von wo ans die Grenze in nordöstlicher Richtung etwa bis
Bayreuth geht, die von hier ans der Abgrenzung des jetzigen
Königreichs im Osten und Süden, entspricht. Innerhalb
dieses Rahmens ist der altbayerische Dialekt im Süden ver-
breitet, während im Nordwesten der oberpfälzische und im
Nordosten der wäldlerische sich ausgebreitet hat. Vergleicht
man aber die Bevölkerungszahl im eben angegebenen Gebiete
mit der des übrigen Theiles vom jetzigen Bayern, so crgiebt
sich ein Verhältniß von 3:2, und die ganz richtige Bezeich-
nung des heutigen Landes Königreich Bayern anstatt „König-
reich Franken" ist schon durch die Ueberzahl des baiuarischen
Volksstammes gegenüber den beiden anderen Stämmen klar
erwiesen.
— Die sechste uns zugehende Lieferung von Cha-
vanne's Physikalisch-statistischem Handatlas von
Oesterreich-Ungarn (Wien, E. Hölzel) enthält eine Karte
der Verbreitung nutzbarer Mineralien von F. Tonla, eine
solche der Zu- und Abnahme der Bevölkerung in dem Zeit-
Aus allen Erdtheilen.
95
raume 1869 bis 1880 und eine, das Geschlechtsverhältniß
der Bevölkerung darstellend, letztere beiden von Le Monnier.
Die zweite Karte ist von besonderem Interesse; sie zeigt, daß
der größte Theil der Monarchie an Bevölkerung zunimmt,
besonders die Bukowina, der östliche ruthenische Theil von
Galizien, Mähren, Ostschlesien, Nieder - Oesterreich, Istrien,
der größte Theil Dalmatiens, dann der Südwesten und die
Mitte von Ungarn. Stationär blieb die Bevölkerung im
centralen Böhmen, im Hausruckkreise Oberösterreichsim
oberen Mur- und Ennsthale, in den mittleren Bezirken
Tirols und den gebirgigen Komitaten Ungarns. Eine Ab-
nahme der Bevölkerung zeigt sich, von kleineren Thei-
len Dalmatiens, Krains, Tirols rc. abgesehen, besonders in
einem ausgedehnten, zusammenhängenden Gebiete im nörd-
lichen und östlichen Ungarn und fast ganz Siebenbürgen.
„Diese ungeheure Fläche der Volksabnahme bildet für die
Staatsmänner Ungarns, das ohnehin dünn bevölkert ist,
eine ernste Mahnung, den volksvermindernden Ursachen, inv-
besondere der starken Auswanderung aus den rumänischen
und serbischen Distrikten, sowie der großen Kindersterblichkeit
eine eingehende Aufmerksamkeit zu schenken." Ungarn hat
jetzt überhaupt unter allen Ländern Europas die geringste
jährliche Volkszunahme (0,11 Proc.), abgesehen von Irland,
wo sich die Bevölkerung in dem Jahrzehnte 1871 bis 1881
um 0,48 Procent vermindert hat. — Sehr viel schwerer ist
es, von dem Geschlechtsverhültnisse der Bevölkerung Oester-
reich-Ungarns in kurzen Worten eine Uebersicht zu geben.
In Oesterreich entfallen ans 1000 Männer 1047 Frauen, in
Ungarn nur 1018. Wie in ganz Europa, so nimmt auch in
der Monarchie das Uebcrgewicht der weiblichen Bevölkerung
von Nord nach Süd und von West nach Ost hin ab, um im
Süden und Südosten einem bedeutenden Uebcrschuß der
Männer Platz zu machen. Letzterer findet sich namentlich in
Istrien, Kroatien, Slavonien, Bosnien und dem Südosten
Ungarns. Im Bezirke Pola — um die Extreme zu nennen —
entfallen nur 694 Frauen auf je 1000 Männer, in dem ganz
nahe gelegenen Fiume dagegen 1320 Frauen. Ungefähr
gleich stark vertreten sind beide Geschlechter in der Bukowina
und Siebenbürgen (ähnliche Verhältnisse herrschen in Bel-
gien und Italien).
— „L'Exploration" (Nr. 407) bringt einen Aufsatz Han-
sen-Blangstcd's über den Wettkampf zwischen den Büu-
men in den dänischen Wälde r n. Die Hauptkombattan-
ten sind die Buche und die Birke; erstere dringt überall
siegreich vor. Die Mittheilungen beziehen sich hauptsächlich
auf den Bezirk von Silkeborg im Herzen Jütlands. Ganz aus
Birken bestehende Wälder findet man jetzt nur an öden, san-
digen Stellen; überall sonst sind die Bäume gemischt, und
wo der Boden günstig ist, wird die Birke schnell von der
Buche verdrängt; sie verliert ihre Zweige bei der Berüh-
rung mit der Buche und wendet ihre ganze Kraft auf die
oberen Theile, mit denen sic sich über die Buche erhebt. So
kann sie lange fortleben, aber schließlich unterliegt sie im
Kampfe, wenn auch oft nur aus Altersschwäche, denn die
Lebensdauer der Birke in Dänemark ist kürzer als die der
Buche. Verfasser glaubt, daß das Licht die Ursache der
Ueberlegenheit der Buche ist, denn ihr Zweigwerk ist besser
entwickelt als das der Birke, welche offener ist und den
Sonnenstrahlen gestattet, zwischen den Zweigen hindurch ans
den Boden zu dringen, während die dichte, buschige Spitze
der Buche sie zurückhält und so ihren Fuß in tiefen Schat-
ten hüllt. Kaum vermag eine junge Pflanze unter der
Buche zn gedeihen, ausgenommen ihre eigenen Schößlinge,
und während die Buche unter der Birke kräftig aufwächst,
geht letztere unter der Buche schnell zu Grunde. Die Birke
ist vor der gänzlichen Ausrottung nur dadurch bewahrt wor-
den, daß sie die dänischen Waldreviere in Besitz hatte, lange
bevor die Buche dieses Land erreichte, und daß einige Be-
zirke dem Gedeihen der letzteren ungünstig sind. Wo aber
der Boden durch die Zersetzung der Birkenblätter bereichert
worden ist, beginnt der Kampf. Die Birke gedeiht auch
noch an den Seeufern und sumpfigen Stellen, wo ihr Feind
nicht fortkommen kann.
In gleicher Weise verschwindet in den Wäldern See-
lands die Kiefer vor der Buche. Sich selbst überlassen, wer-
den die Kiefern bald durch Buchen ersetzt. Länger und
hartnäckiger ist der Kamps der letzteren mit der Eiche, denn
diese hat ein dichteres Zweig- und Blattwerk, welches dem
Durchgänge des Lichtes viel Widerstand entgegensetzt. Die
Eiche hat auch eine lange Lebensdauer, aber früher oder
später unterliegt auch sie, weil sie sich nicht im Schatten der
Buche entwickeln kann. Die ältesten dänischen Wälder be-
standen hauptsächlich aus Espen, mit denen die Birke augen-
scheinlich vergesellschaftet war. Allmählich hob sich der Boden
und das Klima wurde milder; dann kam die Kiefer empor
und bildete große Wälder. Dieser Baum herrschte Jahr-
hunderte lang und trat dann den ersten Platz an die Stein-
eiche ab, welche jetzt vor der Buche zurückweicht. Espen,
Birken, Kiefern, Eichen und Buchen scheinen die Stufen zu
sein in dem Kampfe ums Dasein unter den Bäumen Däne-
marks.
Asie n.
— In diesem Winter haben die Engländer vom Pand-
schab ans eine militärische Expedition nach Asghani-
st a n unternommen und zwar in das Z h o b - T h a l,
ein Nebenthal des Gumal, welcher unweit Dera Ismail
Chan sich mit dem Indus vereinigt. Nach den letzten Nach-
richten (vom 9. Nov. 1884) ist sowohl der wissenschaftliche
als auch der militärische Zweck erreicht worden: das Zhob-
Thal sowohl als das ihm südlich parallel ziehende Bori-Thal,
bisher gänzlich unbekannte Theile Afghanistans, wurden auf-
genommen und die Verbindung mit früheren Aufnahmen in
der Richtung auf Kandahar bewerkstelligt. Außerdem wur-
den die räuberischen Einwohner, die Zhobwals, gezüchtigt,
mußten Geißeln stellen und 20 000 Rupien Strafe zahlen
und ihr Häuptling Schah Dschehan durch seinen gefügigeren
Neffen ersetzt.
— In Turkestan beabsichtigt man von jetzt ab, auch die
Eingeborenen nach russischem Gesetz zu richten, so nament-
lich für Tödtungen. Bis jetzt wurden die des Mordes
angeklagten Kirgisen nach dem Volksgesetz der Eingeborenen
in folgender Weise bestraft: sobald in einem Aule oder in
der Steppe ein Mord verübt ist, so fangen die Verwandten
und Freunde des Ermordeten an, nach dem Mörder zu
suchen. Mitunter dauern die Nachforschungen lange, beson-
ders wenn die Leiche des Ermordeten nicht gleich gefunden
wird. Oft wird die Leiche entdeckt, indem man dem Flug
der Raubvögel folgt, oft werden andere Anzeichen benutzt,
welche von der außerordentlichen Findigkeit des Nomaden
Kunde geben. Ist der Mörder entdeckt, so haben die Ver-
wandten das Recht, von ihm einen sogenannten „ K u n " zu
erheben. Der die Blutschuld sühnende „Kun" besteht in
einer bestimmten Anzahl Kameelen, Pferden, Schafen, Gewän-
dern; einen besonderen „Kun" erhalten diejenigen Per-
sonen, welche an der Entdeckung des Mordes betheiligt
waren, insbesondere diejenige, welche den Mörder auffand,
sowie der Richter. Der „ K u n " für eine getödtete Frau ist
geringer als für einen getödtcten Mann, und im letzten
Falle verschieden je nach der Abstammung des Ermordeten:
für einen ermordeten Kirgisen (mit weißen Knochen?) wird
ein größerer Kun bezahlt, als für einen, dessen Abstammung
unbekannt ist. Wenn der Mörder nicht im stände ist, den
Kun zu erlegen, so muß die Sippe des Mörders bezahlen.
Die Uebergabc und der Empfang des 5kuns ist von einer
Menge verschiedener Gebräuche begleitet, es ist eine Art
Fest für den Aul, in welchem die Verwandten des Ermorde-
ten leben. Unter den als „Kun" abzuliefernden Hausthieren
muß unbedingt das Pferd des Mörders sein. Die Ver-
96
Aus allen Erdiheilen.
wandten des Ermordeten haben das Recht, die Annahme des
K u n s zu verweigern, sie fordern dann den Mörder zum
Zweikampf heraus. Der geforderte Mörder erscheint im Aul
des Ermordeten von Kopf bis zu Fuß bewaffnet, auf seinem
besten Roß; in einiger Entfernung von ihm nehmen die
Verwandten des Ermordeten Stellung: es beginnt ein tolles
Wettrennen. Wenn der Mörder seinen Verfolgern entkom-
men kann, so ist er gerettet und von jeglicher Strafe frei; er
darf jedoch nur bis zum Sonnenuntergang verfolgt tverden,
sobald die Sonne unter den Horizont sinkt, hört die Verfol-
gung auf. Wird der Mörder eingeholt, so wird er wohl in
den meisten Fällen niedergemacht. — Bemerkenswcrth ist,
daß kaum ein Mord uncntdeckt bleibt. Uebrigcns mordet
der Kirgise nur selten um zu rauben; gewöhnlich ist der
Mord das Ende eines Streits, oder das Resultat einer
Rache, oder ein Todtschlag im Affekt. (Oestliche Rund-
schau 1884, Nr. 44.) _________
A n st r a l i e n.
— Die Zahl der Ureinwohner des Australkonti-
nents beträgt nach dem Census von 1881 zusammen 31700
Seelen (17 235 männliche, 14465 weibliche); davon lebten in
Victoria 780 (460 männliche, 320 weibliche), in Neusiidwales
1643 (938 männliche, 705 weibliche; doch wurden hier nur
die „civilisirten" Aboriginer gezählt), in Queensland 20585
(10 719 männliche, 9866 weibliche), wogegen nach anderen
Schätzungen in dieser Kolonie 70000 Eingeborene leben
sollen; in Südaustralien 6346 (3478 männliche, 2868 weib-
liche), endlich in Westaustralien, wo aber nur die im Dienste
der Ansiedler stehenden in Anrechnung kamen, 2346 (1640
männliche, 706 weibliche). In Neuseeland begegnete die
Censusaufnahme bei den Maori großen Schwierigkeiten; sie
bezeigten fast durchweg eine große Abneigung gegen eine Zäh-
lung ihrer Familienmitglieder und verweigerten häufig jede
Auskunft, so daß die erlangte Zahl von 44 097 Seelen (24 368
männliche, 19 729 weibliche) mit Vorsicht aufzunehmen ist.
Gegen den Census von 1878 ergiebt sich eine Zunahme von
502 Seelen; da aber die mit den Angelegenheiten der Einge-
borenen in Neuseeland betrauten Beamten trotzdem dabei
beharren, daß die Rasse von Jahr zu Jahr abnimmt, so
hätte man eine genauere Erhebung vorzunehmen. Wie aus
den obigen Ziffern ersichtlich, ist die Zahl der männlichen
Ureinwohner in ganz Australien und Neuseeland uni 7409
Köpfe größer als die der weiblichen.
— Der Dampfer Whampoa beförderte im Oktober 1884
eine ans sieben Personen bestehende Expedition nach dem
Cambridge-Golf an der Nordküste von Westaustralien
in 14° 45' südl. Br. und 128° 7' östl. von Gr. Sie steht
unter Leitung des Mr. Stockdale, zweiter im Kom-
mando ist Mr. Rickardson. Die Gesellschaft wird an der
Westküste des Golfs landen und von da aus in südwest-
licher Richtung auf die Leopold Ranges in ungefähr 17° 10'
südl. Br. und 125° 30' östl. von Gr. und dann nach dem
Gleuelgflusse reisen, tvelcher in 15° 58' südl. Br. und 125° 10'
östl. von Gr. mündet. Die Reise wird also ein Gebiet be-
rühren, welches auf den Karten noch leer gelassen wird. Mr.
Stockdale, welcher am Ordflusse in 17° 30' südl. Br. und
128° 45' Weideland besitzt, hofft in diesem von ihm zu er-
forschenden Gebiete gute Weidedistrikte aufzufinden.
— Zu Anfang Oktober 1884 wurden die Deutschen Nolte-
nius, Scholler, Hauschildt und Lander, welche vom Port
Darwin aus, an der Nordküste von Australien, auf einer
Forschungsreise am Daly River, begriffen waren, von dor-
tigen Eingeborenen in scheußlicher Weise ermordet.
Es ist dem in Port Darwin stationirten Polizeiinspektor
Foelsche mit seinen Leuten gelungen, die Mörder cinzufangen,
und sie gehen ihrer verdienten Strafe, gehängt zu werden,
entgegen.
— Die Zuckerindustrie in Queensland hebt sich
trotz der Arbeiterfrage, und Mauritius, welches bisher
Australien mit Zucker versorgte, findet von Queensland eine
immer stärkere Konkurrenz. Int Jahre 1884 dürften nach
Abzug des Bedarfs dieser Kolonie gegen 40000 Tonnen
Zucker für Export nach den anderen australischen Kolonien
übrig bleiben. _____________
Vermischtes.
— Der Tertiärmensch, von ,Th en a y bei Blois
kommt zu Ehren, die anthropologische Sektion der 8ooiété
française hat gelegentlich der vorjährigen Versammlung in
Rouen die Stelle besucht, wo Abbé Bourgeoise seine
bearbeiteten Feuersteine gefunden und unter Leitung der
Herren d'Ault - Dusmenil und F. Daleau Nach-
grabnugen angestellt hat. Die Schichten sind offenbar in
Süßwasser abgesetzt, werden aber von einem versteinerungs-
reichen marinen Mergel überlagert. In der Tiefe von fast
5 Metern, unter Schichten mit Knochen von Acerotherium,
fanden sich Feuersteine, welche nicht nur die Spuren von
Bearbeitung, sondern auch von Feuereinwirkung zeigten.
Die Schichten sind entschieden als miocän zu betrachten, so-
mit noch erheblich älter als die Pliocänschichten der argen-
tinischen Pampas, in denen A me g h in o Menschenspuren
gefunden hat. Damals kannte also der Mensch schon das
Feuer, und somit muß sein erster Ursprung mindestens in
die Eocünzeit zurückverlcgt werden. Ko.
— Friedrich von Hellwald's „Naturgeschichte
des Menschen" (Stuttgart, W. Spenrann) ist jetzt mit
der 55. Lieferung zum Abschlüsse gekommen, und damit ein
von großem Fleiße und ungewöhnlicher Belesenheit zeugendes
Buch, zugleich das ausführlichste ethnographische Werk in
deutscher Sprache. Der Standpunkt des Verfassers ist zu
bekannt, um daraus näher einzugehen; man kann, tvie es ja
schon oft geschehen, über denselben mit ihm rechten. Aber
auch jeuc, welche Hellwald's Grnndanschauungen nicht theilen,
müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er vor
allem nach Wahrheit strebt und keine Mühe scheut, der-
selben nachzuforschen. Die „Naturgeschichte des Menschen"
legt von diesem Streben wiederum beredtes Zeugniß ab und
räumt auf mit einer Menge falscher Begriffe, herkömmlicher
aber wissenschaftlich unhaltbar gewordener Vorstellungen,
reinigt unsere ethnographischen Anschauungen von zahllosen
Irrthümern, und wenn sicherlich Hellwald's Buch von solchen
auch nicht völlig frei sein dürfte, so tritt doch überall das
sichtbare Bemühen zu Tage, selbst in geringfügigen Details
Fehler zu vermeiden. Einen ganz besonderen Reiz verleihen
dem Werke die vielen Hundert Bilder Keller-Lcuzinger's, die
nur Echtes in künstlerisch schöner und technisch vorzüglicher
Ausführung bieten. Keller - Leuzinger hat eigens für diesen
Zweck in den Museen von Berlin, Hamburg, Leyden, Lon-
don, Paris rc. Studien gemacht, und so wird von vielen
Völkern und Stämmen hier zum e r st e n Male ein
reiches, authentisches Material veröffentlicht.
Inhalt: Brügge. I. (Mit sechs Abbildungen.) — I. S. Kubary: Aus dem samoanischen Familienleben. II.
(Schluß.) — Artesische Brunnen in Colorado. — Nekrologe. I. — SpiridionGopeevie: Streiszüge in Portugal.
IV. — Kürzere Mittheilungen: Die Ansiedelung am-Port Darwin. — Rassenbecken. — Aus allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Australien. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion: 13. Januar 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Verlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Vraunschwcig.
Ult besonderer Herürksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände a 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Brügge.
(Nach dem Französischen des Bi. Camille Lemonnier.)
II.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Der Reiz, welchen die Kanäle von Brügge auf den
Besucher der Stadt ausüben, wird besonders dadurch erhöht,
daß dieselben alle Augenblicke umbiegen, eine Ecke machen,
im Zickzack lausen, jetzt sich dem Blicke entziehen, indem sie
eine Zeitlang unter den Häusern fortlaufen und dann
plötzlich wieder auftauchen. Das ganze Netz ihrer kleinen
Verzweigungen, welche sich durch das Innere der Stadt
hinziehen, ist fast ebenso engmaschig, wie das Geäder im
menschlichen Körper. Zuweilen fehlen die Uferstraßen, wie
bei dem reizenden Rosenkranzkanal (Canal du Rosaire),
wo die Häuser senkrecht aus dem Wasser aufsteigen; da
erblickt man kleine Treppen, deren Stufen von schwarzem
Schlamme bedeckt sind, wurmstichige Galerien hart über
dem Wasserspiegel, überhängende kleine Logen, schiefe
Giebel, die sich nur wie durch ein Wunder noch im Gleich-
gewichte erhalten, Terrassen, die von halbzerfallenen und
mit Ephcu überwachsenen Mauern gestützt werden, ein
Durcheinander kleiner, schrägstehender, krummer, baufälliger
Faxaden, welche von oben bis unten von Schimmel und
Flechten in großen Flecken bedeckt sind. Das Wasser selbst
giebt hier die Straße ab, auf welcher kleine Nachen und
Flöße verkehren, die plötzlich unter einer Brücke hervor-
kommen, zwischen den Schlammbänken, die hier und da
aus dem Wasser auftauchen, hin und her laviren, vor dieser
und jener Thüre halten, von einem Ufer zum anderen
ihren Stellwagendienst verrichten und zuletzt unter einer
Globus XLVII. Nr. 7.
tiefen Brückenwölbung wieder verschwinden. Stellenweise
rücken die gegenüberliegenden Häuserreihen so nahe an ein-
ander, daß sie den Wänden einer trichterförmigen Grube
gleichen. Ueberall aber folgt ein Kanal auf den anderen;
alle verzweigen sich, vereinigen sich wieder, senden Ausläufer
in die Häuserquadrate hinein, bilden Inseln und Aestuaricn
und sind von einer bunten Aufeinanderfolge von Hütten,
Palästen, Thürmchen, Balkönen und Terrassen eingefaßt.
Aber der Verkehr, der einst in diese Häuser und Kanäle
Leben brachte, hat längst andere Bahnen eingeschlagen; der
Zwischenhandel, welcher das ganze.Land dem allmächtigen
Brügge tributpflichtig und feine Docks zum alleinigen
Waarenlager Flanderns machte, ist verschwunden. Kaum
eine Spur hat sich erhalten von seiner Börse mit ihren
Maklern, den ersten, welche die Geschichte des Handels
kennt, und die zuerst die Neuerung des Versicherungs-
geschäftes einführten, geschweige denn von jenen Syndikaten,
welche die deutschen Städte Venedig, Genua, Mailand,
Florenz und London dort unterhielten. „Zur Zeit der
Blüthe von Brügge — schreibt Karl Braun - Wiesbaden
in einer Studie über die Häuser der Hansa in vlämischen
Landen („National-Zeitung" vom 10. Januar 1885) —
schickte hierher Preußen seinen Bernstein; Italien seine
Seide; Brabant seine Gewebe; Portugal, Spanien, Griechen-
land und Frankreich seine Weine; Deutschland die Erzeug-
nisse, welche sein Gewerbefleiß aus Horn und Elfenbein,
13
98
Brügge.
aus Holz und Glas, aus Eisen und Messing, aus Gold
und Silber herstellte; Holland seinen Haus und Flachs;
England seine Wolle; Spanien seinen Korduan und sein
Leder; die Levante ihre Teppiche, ihr Rosenöl und ihre
sonstigen Parfümerien; Afrika seine Elefantenzähne und
sein Palmöl. An der Spitze aller fremden Handelsleute
aber standen die Deutschen, von welchen der gelehrte Ar-
chivar Gilliodts van Severin schreibt, daß man sie damals
als solche sofort erkannte an der Kostbarkeit und der Ele-
ganz ihrer Kleidung und an den Waffen, welche diese
mächtige Genossenschaft überall zu führen pflegte, mit
anderen Worten: die Hanseaten, die Männer aus dem
Osten, welche man die Osterlinge nannte, und die ihr
besonderes Komptoir hier hatten, welches man das Haus
der Osterlinge nannte."
Um die ganze Kraft und Gewalt des mittelalterlichen
Brügge zu begreifen, muß man seinen Mittelpunkt und
seinen Stolz aussuchen, den Belfried, einen wahren Berg
von Stein, der in den Himmel aufragt, wie eine Leiter
von Titanen: 107^2 m hoch steigt dieser Thurm der
Fleisch- und Tuchballen empor, dessen Bau im Jahre 1291
begonnen wurde. In ein solches Meisterwerk von Kühn-
heit und Trotz fügt sich ein jeder Steinblock ein, wie das
Leben des Einzelnen in dasjenige seines Volkes. Und hier
hat ein Volk in seinem Größenwahne seine Geschichte mit
Blut niedergeschrieben. Wer denkt bei diesem überwülti-
M
Der Rosenkranzkaual in Brügge.
genden Anblicke noch an das Schweigen der verödeten
Kanäle, an den trüben Verfall der modernen Stadt? Hier
ist Brügge nicht todt, hier lebt es wieder auf! Der Bclsried
ist mehr als ein bloßer Thurm; er ist ein Kunstwerk, das
nicht einem isolirten Gedanken, sondern dem Gesammtwillcn
und dem Herzen eines ganzen Menschengeschlechtes ent-
sprossen ist. In ihm ist Gleichmaß und Regel so gewalt-
sam überschritten worden, daß der Beschauer zuerst wie
beim Anblick eines Vulkans, eines Abgrundes, irgend eines
Naturphänomens von einem Gefühl des Unbehagens er-
griffen wird; erst dann kommt ihm die Ahnung von einem
Menschengeschlechte, in welchem es anders gührte, als in
den heutigen Völkern, das ein Zuviel an Lebenskraft be-
sessen zu haben, im guten wie im bösen zügellos gewesen
zu sein scheint.
Wenige Schritte vom Belsried entfernt ändert sich alles;
ein kurzes Stück Straße braucht man nur zurückzulegen,
um sich in ein anderes Jahrhundert zu versetzen, und zwar
in eine Zeit, deren Menschen unserer modernen Anschauung
um vieles näher stehen, als die Erbauer des Bclsried. Das
zierliche, 1367 erbaute gothische Rathhaus mit seinen sechs
Thürmchen und dem reichen Statuenschmuck der Fa^ade
verräth uns eine Bevölkerung von feinerer Bildung, die an
zierlichen Eindrücken sich erfreute. Die Zeit, welche solche
babylonische Thurmbauten errichtete, ist vorüber: das Stadt-
haus weist im Gegensatze zum Hallenthurme normale Ver-
hältnisse auf, ja im Vergleiche zu anderen Rathhänsern des
belgischen Landes ist es nur ein Stern mittlerer Größe.
Es nimmt sich ans, wie ein großer Reliqnienschrein, über-
groß ist es auch durch die vollkommene Symmetrie seiner
Architektur; es erweckt die Vorstellung, daß seine Erbauer
sich eines gesicherten Wohlstandes, ruhigen Gcmlsses erfreuten
Der Belsried von Brügge
Brügge.
Brügge.
Brügge.
101
und nicht mehr nöthig hatten, drohende Belfricde zu errich-
ten. Mit ihren vorkragenden Thürmchen, mit ihren etwa
vierzig Baldachinen, Nischen und Statuen, dem engmaschigen
Rippenwcrk der Fenster und den kräftigen Spitzen der
Dachballustradc nimmt sich die Fa^ade von weitem ans,
wie ein mit Filigranarbeit besetzter kostbarer Stoss, das
Ganze ein Hans würdig der großen Kaufherren, die es
erbauten. Im Inneren nimmt eine gewölbte Halle das
ganze Erdgeschoß ein und trägt den schönen, bunt aus-
gemalten Saal des ersten Stockwerkes; dort werden in
Schränken die im Besitze der Stadt befindlichen Druckwerke
und Handschriften aufbewahrt, namentlich die ganze Reihe
von Ausgaben Collard - Mansion's (1475), etwa 500
Manuskripte und eine stattliche Menge von Gebetbüchern
des 16. und 16. Jahrhunderts. Ein anstoßender Raum
enthält die Archive, die Urkunden der Gemeinde; die In-
haltsangabe derjenigen Dokumente, welche älter als das
15. Jahrhundert sind, füllt allein sechs Quartbände.
Es ist eine Eigenthümlichkeit der Place du Bourg, an
welcher das Rathhans steht, daß sie uns in ihren Ban-
werken das wechselnde Ideal von Jahrhunderten vorführt.
Kaum hat man die Augen vom Rathhause weggewendet,
so fallen sie auf ein um zwei Jahrhunderte jüngeres Er-
zengniß des Flamboyantstiles, das Portal des heiligen
Blutes, das vom ersteren nur durch die einfache Façade
der Kapelle selbst, welche aus dem 12. Jahrhundert stammt,
aber von den Sansculotten verwüstet und erst 1829 bis
1839 wieder hergestellt wurde. In dem köstlichen Ban-
Der „Franc de Bruges“ vom Quai der Marmorarbeiter aus.
werke, das mehr einem Miniaturpalaste als dem Eingänge
zn einem katholischen Gotteshausc gleicht, hat man den
letzten Trieb einer Kunst vor sich, die an ihrem Ende an-
gelangt ist und an der Uebcrfülle und Verschwendung ihrer
Kräfte zu Grunde geht. In die wie von einem Goldschmiede
geschaffene Ornamentirung dieses Portals mit seinen logen-
artigen Balkönen scheint etwas von maurischer Zauberpracht
übergegangen zn sein, und dieser Eindruck wird noch dadurch
erhöht, daß dahinter ein durchbrochenes rundes Thürmchen
anfragt, das sich an den Seitengicbel der Kapelle anlehnt
und ganz einem Minarete gleicht. Hinter dieser wunder-
baren kleinen Fapade aber birgt sich in der That ein Schatz,
ein cingetrocknetcr Tropfen vom Blute Christi, den Dietrich
von Elsaß (Thierry d'Alsace) frommen Herzens aus dem
heiligen Lande mitgebracht hat.
Neben dem Portale liegt die alte Gcrichtsftnbe, eine
sonderbare Mischung von Flamboyant- und Renaissance-
stil; ihre beiden großen Fenster zeigen in ihrer Umrahmung
dieselben baumartigen Verschlingungen, dieselbe leichte und
bewegliche Architektur, wie das Portal, während die Bogen-
felder darüber mit Nischen und Medaillons verziert sind.
Die reine Renaissance dagegen zeigt sich auf der anderen,
linken Seite des Rathhauses, wie um den Ring der ver-
schiedenen Stile zn schließen, der im „Franc de Bruges“
mit dem 12. Jahrhundert anhebt und sich durch das 14.
und 15. bis in das 16. hinein fortsetzt. Links vom Rath-
hanse nämlich und mit diesem durch einen Bogen, durch
welchen man ans die Häuser des Rosenkranzquais einen
Ausblick hat, und ein darüber befindliches Fenster verbun-
den, steht ein Gebäude von zwei mit Säulen und Pilastern
102 A. Sartorius Freiherr von Waltershause
geschmückten Stockwerken, über welche sich ein großer
Mittel- und zwei kleinere Scitengiebel erheben, alle drei
mit allegorischen oder Heiligenstatuen gekrönt. Das
Gebäude dient heute als Lokal sür das Friedensgericht und
enthält einen getäfelten Saal mit schöner Thüre von 1544.
Uebrigens liegen zwischen der Entstehungszeil des Portals
vom heiligen Blute und des Friedensgerichts nur wenige
Jahre; jenes entstand 1629, dieses 1634. In der kurzen
Zwischenzeit von fünf Jahren ist man hier von den Bal-
dachinen, Fialen und Spitzbogen zur heidnifchen Psendo-
Latinität übergegangen.
Gerade gegenüber dem Portal vom heiligen Blute liegt
endlich noch ein gewöhnlicher Thorweg, hinter welchem stich
ein langwelliger Bau des letzten Jahrhunderts, der
„Justizpalast", verbirgt. Glücklicherweise; denn er sticht zu
jämmerlich ab gegen die übrigen Bauwerke an der wunder-
n: Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
baren Place du Bourg. Sonst aber erhebt er sich auf
derselben Stelle, wo einst die mittelalterlichen Gerichts-
herren, die harten Grafen von Flandern, Recht sprachen.
In dem ehemaligen Torturraume, der jetzt als Vorzimmer
für das Geschworenengericht dient, sieht man noch runde
schwarze Steine, an denen einst die Schand- und Marter-
pfähle befestigt waren. Wie ein schwerer Deckel legt sich
der heutige Jnstizpalast mit seinem modernen Mauerwerke
über und vor die Reste des ursprünglichen „Franc de
Bruges“; nur von dem Quai der Marmorarbeiter ans
kann man seine zierlichen Giebel aus Ziegelstein, die
Zeugen so zahlloser Hinrichtungen, noch betrachten, am
Ufer der Reie, die früher ein Fluß war, heute aber fast
nur noch eine Kloake ist, in deren schwarzen Gewässern
aber der Franc sich heute wie in den Zeiten des Glanzes
der Stadt spiegelt.
Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Von A. Sartorius Freiherr von Waltershansen.
I.
Es ist schon oft mit Recht hervorgehoben worden, daß
die Unstetigkeit der ökonomischen und socialen Thatsachen
eine Eigenthümlichkeit der nordamerikanischen Kulturent-
wickelung ist. Weite Landstriche werden dem Pfluge unter-
worfen und dann wieder verlassen, in den Gebirgen werden
großartige Bergwerksunternehmungen mit umfassenden An-
lagen errichtet und fallen nach wenigen Jahren der Ver-
gessenheit anheiln, Eisenbahnen werden mit einem enormen
Auswande an Arbeitskraft und Kapital gebaut, werfen
kurze Zeit hohe Dividenden ab, sind dann plötzlich dem
Bankerotte nahe und erholen sich finanziell, ehe man es
gedacht hat. Die Großindustrie, welche in rapider Weise
und mit unbeugsamer Konsequenz das Handwerk vernichtet,
wechselt ihren lokalen Schwerpunkt in jeder Censusperiode
und macht in einer solchen Dekade mehr technische Meta-
morphosen durch, als man es in dem doch industriell hoch
entwickelten England während des doppelten Zeitraumes
beobachtet hat. Achnlich verhält es sich mit den gesell-
schaftlichen Neubildungen. Was ist nicht schon alles auf
dem Gebiete der politischen Administration und der wirth-
schaftlich-socialen Gesetzgebung versucht worden, welche
Mannigfaltigkeit zeigt sich nicht bei den kommunistischen
Experimenten, und von wie verschiedenen Grundsätzen aus-
gehend sind nicht die Koalitivlien der Lohnarbeiter ins
Leben gerufen!
Als Grund aller dieser Erscheinungen wird wohl die
persönliche Eigenart unserer westlichen Stammesgenossen
angegeben, die Lust zum Wetten und Wagen, zum Speku-
liren und Spielen, die Neuerungssucht, die Passion zum
Schwindelhaften und Excentrischen, Charakterzüge, welche
man mehr oder weniger jedem echten Pankee zutraut. Diese
Neigungen sind in der That bei dem Volke jenseits des
Oceans häusigcr als bei uns vorhanden, aber man muß
sich doch hüten, sie unter dem Gesammtbegriff der Unstetig-
keit zusammenzufassen. Dieses Attribut kaun man wohl
der amerikanischen Volkswirthschast, aber keineswegs dem
einzelnen Unternehmer oder Arbeiter in derselben geben.
Diese wissen recht gut, was sie wollen; denn das ganze
Leben hindurch wird das energische Streben nach Besitz von
ihnen nicht verleugnet. Mit der gleichen Beharrlichkeit
wie das Ziel halten sie auch das Mittel dazu fest. So
giebt es lausend und abertausend Leute, welche seit der
frühen Jugend durch Erfindungen reich werden wollen und
welche sich auf allen Gebieten der Technik von der Pillcn-
zusammensetzung bis zur Maschinensabrikation versucht
haben. Andere sind geborene Spekulanten, die schon auf
der Schulbank mit ihrem Taschengelde Geschäfte betreiben
und im Alter noch ihr ganzes Vermögen einem einzigen,
sehr gewagten, aber vielversprechenden Unternehmen zu-
wenden. Wieder andere sind der Reklamewuth verfallen
und huldigen dem Grundsätze, daß die Dummen niemals
aussterben, ihr ganzes Leben hindurch. Die Mehrzahl aber
ist völlig davon überzeugt, daß die Arbeit am sichersten,
wenn auch nicht am schnellsten, im stände ist, den ge-
wünschten Dollar zu schaffen, und handelt dem entsprechend.
Selten jedoch finden die Amerikaner bei ihrer energischen
Thätigkeit die richtige Selbstbeschränkung, sondern mühen
sich rastlos ab, wenn es auch die erschöpfte Gesundheit ver-
bietet, und geben sich auch dann nicht der Ruhe hin, wenn
das frühe Greisenalter herannaht. Daher giebt cs so
wenig Rentiers in den Vereinigten Staaten. Wer ein
Vermögen erworben hat, mag es nicht in seinen Geld-
schrank legen und seine ökonomische Thatkraft ans Koupon-
abschneidcn beschränken.
Daß eine dauernde Unbeständigkeit der nordamerikani-
schen volkswirthschastlichen Thatsachen mit der Charakter-
festigkeit des amerikanischen Geschäftsgeistes Hand in Hand
geht, kann nicht als ein Widerspruch aufgefaßt werden.
Denn beides steht im engen Zusammenhang und Einklang
mit der für die Vereinigten Staaten bisher wichtigsten
Kulturthatsache, dem relativ hohen Reichthnme des Landes.
Es wäre verkehrt zu meinen, daß letzteres besser mit natür-
lichen Kräften und Schätzen ausgestattet sei als Europa;
im Gegentheil, unser Kontinent hat durch seine Gliederung
und durch die Gunst des Klimas einen Vorsprung, welchen
Nordamerika vermuthlich niemals erreichen wird. Trotz-
Spiridion Gopcevic: Streifzüge in Portugal.
103
dem ist aber das dortige Volk, weil einem seden ein
größeres Gebiet zur wirthschaftlichen Arbeit und zum Be-
sitzerwerb gegeben ist, als in dem dichtbevölkerten Europa,
auch in der Gegenwart noch wohlhabender, wenn sich auch
nicht verkennen läßt, daß diese Art des Reichthums im
Abnehmen begriffen ist. Die dadurch im Vergleich zu
Europa gebotene größere Möglichkeit für einen aus die
Arbeit allein angewiesenen Mann zu gutem Auskommen,
zu Besitz von Grund und Boden und Kapital, und für den
wohlhabenden zu großem Reichthum zu gelangen, ist eine
gewaltige Anregung zur energischen Bethätigung der Ar-
beitskraft und des Unternehmungsgeistes geworden und hat
somit, wenn auch nicht allein, so doch überwiegend dem
nordamerikanischen Volkscharakter eine ausgeprägte Rich-
tung gegeben und zugleich zu ungezählten wirthschaftlichen
Versuchen geführt. Das Arbeitsfeld für die Nation tritt
jedem noch als ein so unermeßliches entgegen und birgt in
seiner Tiefe noch so viele verborgene Schätze, daß er das
geheimnißvolle Dunkel der Zukunft schon entschleiert zu
haben glaubt, wenn er sich jene Thatsachen nur recht ver-
gegenwärtigt, und cs erscheint somit begreiflich, jedoch nicht
immer richtig, daß eine Arbeitsstcllung oder ein Unter-
nehmen, wenn nur irgend möglich, aufgegeben wird, sobald
etwas Neues vielleicht nur scheinbar Gewinnbringenderes
in Aussicht steht. Vieles neu Unternommene gelingt, an-
deres beruht auf einer Täuschung, immer aber stellt sich
dasselbe Resultat heraus, daß die nordamerikanische Volks-
wirthschaft einem großen Bauplatz gleicht, auf welchem
fertige und unvollendete Bauten in buntem Wechsel neben
einander stehen. Ein Glück ist es für die Vereinigten
Staaten gewesen, daß die aus ökonomisch entwickelten
Ländern und stabileren Verhältnissen ankommenden Ein-
wanderer sich der tollen Jagd nach dem Erwerbe nicht
immer angeschlossen, sondern genügsam nach dem gegriffen
haben, was andere in ungestümer Hast begonnen und wieder
verlassen hatten. So sind zahlreiche Farmen im Westen
von geborenen Amerikanern angelegt und, nachdem im
unverständigen Raubbau einige gute Ernten erzielt worden
waren, wieder aufgegeben worden. Deutsche Bauern haben
dann für ein Geringes den von den ersten Ansiedlern ver-
schmähten Boden erworben und durch rationelle Kultur
dem verwüsteten Lande zu neuer Kraft verholfen. Auch
den Chinesen in Kalifornien muß man wenigstens das
Gute nachrühmen, daß sic sich der von den stets weiter-
drängenden Goldsuchern durchforschten Flußthäler und Ge-
birge angenommen und so manches Goldkorn in den Ver-
kehr gebracht haben, welches die ihnen vorarbeitenden
Abenteurer übersehen hatten.
Die mangelhafte Konsolidirung der socialen Verhält-
nisse ist wesentlich eine Folge der wirthschaftlichen Un-
beständigkeit. Der Regierung ist cs daher schwer, ja oft
unmöglich, mit Gesetzen zu Gunsten der Arbeiter einzugreifen.
Eine flottirende Arbeiterbevölkerung z. B., welche jährlich
von dem mexikanischen Golf bis zur kanadischen Grenze
und darüber hinaus wandert, kann einem gesetzlich fixirtcn
Arbeitstage nicht unterworfen werden; Arbeiterkoalitionen
erreichen so schwer etwas Dauerhaftes, weil ihre nicht seß-
haften Mitglieder die Beiträge nicht regelmäßig bezahlen.
Der Grundbesitz kann seine politische Funktion nicht erfül-
len, weil sein Werth großen Schwankungen ausgesetzt ist
und er so oft von einer Hand in die andere geht. Auch
die politische Verfassung und Verwaltung leidet unter dem
ökonomischen Wechsel. Die Bezirke haben eine rasch stei-
gende und oft rasch sinkende Einwohnerzahl zu verzeichnen,
und ebenso variirt die Volksmasse nach Nationalitäten,
Rassen und Beschäftigung. Daß ein radikales Stadtregi-
ment einem konservativen folgt, ist daher nichts ungewöhn-
liches, ebenso daß in einer Verwaltungs- und Gesetzgebungs-
Periode alles das umgestoßen wird, was in der vorhergehenden
mit Mühe geschaffen worden ist.
Selbstverständlich sind alle diese Verhältnisse über den
ganzen Kontinent hin nicht in gleichmäßig intensiver Weise
ausgeprägt; der Osten als älteres Ansiedelungsland ist
stabiler als der Westen, und auch in diesem giebt es Ab-
stufungen genug.
Streifzüge
Von Spiridi
5. Ausflüge in die
Ueber die kühne Kettenbrücke schreitend, betreten wir
Villa Nova de Gaya, eine Art Vorstadt von Porto
und berühmt durch die Magazine, welche den köstlichen
Portwein beherbergen. Durch einen Schweden an einen
Wein-Nabob empfohlen, glückte es mir, in dessen „Armazem“
zu kommen. Er war ganz überrascht, als ich ihn dänisch
ansprach, und wurde sehr liebenswürdig. Vor 50 Jahren
in Dänemark geboren, kam er als Schiffsjunge nach Porto
und arbeitete sich zum Millionär empor, wohlgemerkt, die
Million nicht nach Reis, sondern nach Milreis gerechnet,
denn sonst kann man schon für 4000 Mark portugiesischer
Millionär sein.
Mit diesem Wein-Nabob ging ich nun durch einige
Straßen und fast auf jeden zweiten oder dritten Keller
i II P o r t u g a l.
n Gopcevic.
Umgebung von Porto.
uß.)
wies er mit den Worten: „Dok er mit! cket er ogsaa
mit! og det der!“ (das gehört mir, und das auch, und
das hier!). Von einigen Magazinen standen die Thore
offen und wir traten dann ein, um endlose Faßrcihen an-
zustaunen. Zuletzt gelangten wir in das Allerhciligste,
ein Magazin, welches die feinsten Qualitäten enthielt. Hier
lud mich der glückliche Besitzer ein, die verschiedenen Arten
zu kosten. Obwohl kein Wcinkenncr, mußte ich mir doch
sagen, daß ich nur noch viermal in meinem Leben ähnliche
köstliche Tropfen durch die Gurgel rinnen ließ: das erste Mal
echten weißen Bordeaux, das zweite Mal natürlich monssircn-
den Gumpoldskirchner im Stifte Melk gelegentlich einer
von meinen ehemaligen Professoren mir zu Ehren veran-
stalteten Tafel, das dritte Mal >,Docc de Malaga“ vom
104
Spiridion Gopcevic: Streifzüge in Portugal.
Jahre 1788 bei Scholtz in Malaga; das vierte Mal „Non
plus ultra" (Sherry) vom Jahre 1790 bei Domecq in
Jerez, von dem das Faß 10 000 Mark kostet. Nun trank
ich in Porto zum ersten (und wahrscheinlich letzten) Male
echten Portwein, die Flasche zu 20 Mark. Der Besitzer
sagte mir, daß von diesem Weine alles nach England
gehe, da man sonst nirgends seinen Preis zahlen wolle.
Bloß einige europäische Höfe machen hin und wieder Be-
stellungen.
„Ja aber bei uns giebt es doch auch Portwein", warf
ich ein; „die Flasche sogar zu 1V2 bis 2 Mark, wenn ich
nicht irre. Was ist denn das für ein Wein?"
„Portugiesischer möglicherweise, aber nicht, was wir hier
Portwein nennen, denn dieser wächst nur aus einem sehr
kleinen Gebiete."
Etwas schwankend verließ ich den Keller und begab mich
nach dem früheren Kloster Serra. Zu diesem Behufe wendet
man sich von der Hauptstraße nach links und steigt durch
ein steiles Gäßchen bergan. Bald hat man die letzten
Häuser hinter sich und es eröffnet sich unseren Blicken eine
herrliche Aussicht über die Stadt. Endlich sind wir oben;
ein paar alte demontirte Kanonen und verfallene Festungs-
werke erinnern an die Belagerung von 1832 und 1833. Die
Kirche des Klosters war geschlossen und sichtlich eine halbe
Ruine; ebenso das als Kaserne dienende Kloster. Von der
Terrasse genießt man eine herrliche, überwältigende Aussicht
über Porto. Ich sprang auf der anderen Seite über den
verfallenen Wall und gelangte aus eine Fläche in der Nähe
der Eisenbahnbrücke, einem der kühnsten Bauwerke der
Welt. Hierauf wandte ich mich rechts und kam glücklich
nach Gaya zurück.
Einen herrlichen Ausflug kann man an die Douromün-
dung machen. Ich bestieg den Tramway und fuhr längs den
Ufern nach Joüo da Foz. Dieses Städtchen liegt hart
an der Mündung des Douro und besitzt sowohl ein altes
Kastell als auch ein sehr sreguentirtes Seebad. Besonders
seit Eröffnung des Tramway ist es im Sommer Mode
geworden, hier an der Praia des Abends zu promeniren.
Während der Fahrt nach Sno Jouo da Foz bietet uns
das unvergleichliche Douro-Thal immer wechselnde be-
zaubernde Naturschönheiten. Der Tramway geht aber
noch weiter bis Mattozinhos, doch bietet die Wiese,
durch welche sie führt, nichts Anziehendes. Trotzdem unter-
lasse niemand den Besuch von Mattozinhos, welches als
Seebad sogar noch den Vorzug verdient. Besonders das
Badeleben ist sehr interessant. Die Damen, welche höchst
verführerische Kostüme tragen, werden von Männern, die'
Herren seltsamerweise von Frauen bedient. Der Strand
ist sehr flach, der Sand so weich wie in Ostende oder Llan-
dudno. Zwei kleine alte Kastelle verleihen dem Bade einen
eigenthümlichen Anstrich. Vor ihnen ragen einige Klippen
in das Meer. Durch einen Bach ist Mattozinhos vom
Seebade Leipoes geschieden. Dieser Bach ist die Mün-
dung des früher erwähnten Lepa. Auch Leipoes ist an-
genehm nud seine waldige Umgebung bietet mannigfache
reizende Promenaden.
Der köstliche Portwein, den ich getrunken, machte mir
Lust, das Paiz do Vinho (oder Vinhateiro) zu besuchen,
um die Reben zu sehen, welche den Wein liefern. Die
Bahn führt jetzt bis Pezo da Rogoa in der Provinz Traz
os Montes, der Besuch ist also sehr erleichtert. Bis Mezno-
frio, der ersten Station in Traz os Montes, durchfährt
man unmuthige Gefilde, dann nähert man sich wieder dem
Douro. Hier beginnt das „Weinland". Von den Douro-
ufern ziehen sich unzählige Weingärten die Gebirge hinan;
sie erinnern durch ihre Bauart lebhaft an die Citronen-
gärten vom Gardasee. Gleich diesen bestehen sie aus über
einander aufgethürmten mauerartigen Terrassen. In Pezo
da Róg0a, wo die Bahn mündet, haben viele Wein-
händler ihre Magazine und halten hier Messen ab, bei
denen oft für 200 000 Mark Wein verkauft wird. Von hier
machte ich zwei Ausflüge zu Wagen und zu Fuß. Die
erstere Partie ging nördlich nach Villa Real, der Haupt-
stadt von Traz os Montes. Villa Real hat 5296
(1878) Einwohner und steht aus dem Gipfel eines hohen
Hügels, auf der steilsten Seite von massiven Mauern um-
geben. Dadurch erinnert es an die vielen ebenfalls auf
Hügeln zusammengepferchten Städte des ehemaligen Kirchen-
staates. In der Stadt herrscht geschäftiges Treiben, doch
bietet sie außer einigen hübschen alten Palästen am Rocio
nichts Sehenswerthes. Gegründet wurde sie 1283 durch
D. Diniz. Der Ritt von hier nach Chaves soll groß-
artig schön sein, doch hätte er mich drei Tage gekostet und
so stand ich davon ab, kehrte nach Rogoa zurück, ließ mich
über den Douro setzen und marschirte zu Fuß nach Lamego
in der Provinz Beira alta.
In Lamego (1878: 8124 Einwohner, jetzt eine
Bischofsstadt) hielten die maurischen Könige bis 1038 Hof.
Früher war Lamego in der Geschichte durch die „Cortes
von Lamego" berühmt, welche Affonso Henrique 1144
hier zusammenberufen haben soll, um von dem ersten por-
tugiesischen Parlament seine Anerkennung als König und
den Erlaß eines Fundamentalgesetzes zu erlangen. Es hat
sich jedoch herausgestellt, daß diese Erzählung auf einer
Fiktion beruht. Lamego besitzt nichts Sehenswcrthes, etwa
die Kathedrale, den italienischen Bischofspalast, das Kastell
und die Jgreja Almacave ausgenommen. Letztere war
ehemals Moschee und der Sage nach sollen in ihr die er-
wähnten Cortes getagt haben. Im Ganzen enttäuschte
mich der schmutzige Ort, doch bereue ich seinen Besuch nicht,
wegen des herrlichen Spazierganges, den ich dabei von
Rogoa hin und zurück machte.
Nachdem ich in den vorstehenden Skizzen meine Streif-
züge in den Provinzen „Minho" und „Traz os Montes"
geschildert, dürfte es nicht überflüssig sein, etwas über deren
sonstige Verhältnisse zu sagen.
Trotz der paradiesischen Schönheit Nordportugals und
der dichteren Bevölkerung ist doch nur y4 der betreffenden
Provinzen angebaut. Abgesehen vom Wein wird haupt-
sächlich Getreide gebaut; ebenso Mais, Roggen und Hafer.
Die Umgebung von Porto ist reich an Erdbeeren. Sonst
wären von Bodenprodukten noch in Minho Flachs, in Traz
os Montes Hanf und Oliven erwähnenswerth. Die
Wälder sind reich an Obstbäumen aller Art, sowohl unseren
als jenen des Südens. Die vielen Wiesen begünstigen die
Viehzucht, welche hier bedeutend ist. In Traz os Montes
züchtet man auch treffliche Saumthiere und liefern die vielen
Seidenspinnereien geschätzte Seide..
Was die Industrie und den Handel betrifft, so ist Por-
tugal schon seit langer Zeit Vasall Englands gewesen. Um
so erfreulicher ist es, daß in letzter Zeit ernste Bestrebungen
gemacht wurden, sich von Albion zu emancipiren und gerade
Porto ging darin mit gutem Beispiele voran. Seine
Industrie kann man schon als ganz selbständig betrachten.
Ueberhaupt herrscht in Nordportugal ein viel regerer Geist
als im Süden; es wäre sogar nicht unmöglich, daß — falls
die Douromündung regulirt würde — Porto vor Ablauf
eines Jahrhunderts die Hauptstadt in jeder Beziehung über-
flügelte. Der Hauptzweig der Industrie Portos betrifft
(die Goldarbeiten abgerechnet) Seide, Wolle und Baumwolle.
Die industriellen Etablissements mehren sich auffallend
schnell. In Porto z. B. ist die Zahl der Dampfmaschinen
Das Lamakloster Tsugolsk und das Fest Churul zu Ehren Mayderi's.
105
in den letzten 30 Jahren von 12 ans 59 gestiegen, hat sich
also vcrsünfsacht. Mit Ausnahme der Staatsmonopole
(Tabak und Pulver) sind alle Gewerbe freigegeben und
kann jedermann gegen eine Jahressteuer von 5000 Reis
(22,22 Mark) Ersindnngspatente erwerben.
Der Handel läßt noch viel zu wünschen übrig. Wenn
man sich erinnert, daß im 16. Jahrhundert Portugal die
einzige Seemacht war, deren Schiffe den ganzen Handel
Europas mit Asien und Afrika besorgten, wird man über
den tiefen Verfall trauern müssen. Heute müssen sich die
Portugiesen im Verkehr mit Asien und Afrika — wo sie
doch noch Reste ihrer alten Kolonialherrlichkeit besitzen —
fremder Schisse bedienen. Selbst die Verbindung mit der
einstigen Kolonie Brasilien wird durch Gesellschaften unter-
halten, deren Kapitalien mehr brasilianisch als portugiesisch
sind. Die einzige original-portugiesische Gesellschaft
(Companhia peninsular e oriental) führt bloß zwischen
Gibraltar und Hamburg, die Häfen Cadiz, Lissabon, Porto,
Vigo, Southampton und Antwerpen berührend. Uebrigens
beginnt auch der Handel sich zu heben. Porto hat bereits
acht Banken und vier Versicherungsgesellschaften.
Auch die geistige Kultur steht im Norden Portugals
höher als im Süden. In Porto giebt es: ein Polytechnikum,
eine medizinische Akademie, eine Akademie der schönen
Künste und mehrere Industrieschulen. Die öffentliche
Bibliothek zählt über 120 000 Bände, die meist aus den
Klöstern zusammengetragen sind.
Die Sicherheit in Portugal läßt nichts zu wünschen
übrig, obschon der Polizeiapparat ein sehr geringer ist. Man
kann das ganze Land unbewaffnet zu Fuß durchwandern.
Das Lamakloster Tsugolsk und das
(Nach dem Russischen von G. Stuk
Chr. H. Das Lama-Klosterft Tsugolsk am Onon
ist 130 Werst (Kilom.) südwestlich von Nertschinsk
(Transbaikalien) und 100 Werst (Kilom.) von der mon-
golischen Grenze entfernt. In seinem äußeren Ansehen
unterscheidet es sich nur wenig von einem gewöhnlichen
russischen Dorfe; cs zählt etwa 40 Häuser und einige
Jurten, darunter sieben Verkaussläden, in welchen Chinesen
und Buräten Handel treiben. Drei steinerne Bethäuser
sind. im Bau begriffen. — Die Bevölkerungsziffer ist
schwierig zu bestimmen; die Lamas geben auf direktes Be-
fragen stets ausweichende Antworten, wie es überhaupt
feine Schwierigkeit hat, von ihnen über irgend etwas die
Wahrheit zu ermitteln. — Als Bewohner des Klosters
sind vor allen die verschiedenen Glieder der Lama-Hierarchie
anzusehen: eigentliche Lamas und dienende Brüder (Novizen?
Chowarak genannt). Die Angabe über ihre Zahl
schwankt zwischen 50 und 600. Eigentlich sollten nur
17 — etatmäßige — Lamas im Kloster leben, aber eine
große Menge außeretatmäßiger wohnt in den angrenzenden
Dörfern, wo jeder einzelne seinen eigenen Hausstand hat.
Die etatmäßigen Lamas leben von den freiwilligen Ge-
schenken der Gläubigen.
Man kann nicht sagen, daß die Beziehungen zwischen
den Buräten und ihren Lamas sehr gut sind. Erstere
erzählen, daß sie sich oft mit den Lamas zankten, ja sogar
prügelten. Es ist aber auch nicht anders möglich bei
solchen Erpressungen, wie die Buräten sie von Seiten der
Lamas zu erdulden haben. Ein sogenanntes Gur um",
das andauernde Ablesen von Gebeten, um ein Haus vor
Unglück zu bewahren, kostet den Buräten 100 bis 200
Rubel baar oder in Thieren, Pferden oder Rindern —
diesen Betrag fordern die Lamas für ihre Mühe. Es
ereignet sich aber auch, daß irgend ein Lama eine Rund-
eeise durch die Ulusse (Dörfer) macht und hier überall
Geschenke erbittet, verweigert man ihm die Gaben, so droht
er dem Hanse ein Unglück „anzubeten", ein Er-
prcssungssystcm, welches übrigens keineswegs von allen
Lamas gebilligt wird.
Durch große Rücksichtslosigkeit zeichnen sich die Lamas
Fest Churul zu Ehren Mahderi's.
ow, „Sibir" 1883, Nr. 36 u. 37.)
aus in der Art und Weise, wie sie ihre Religion, den
Buddhismus, unter den umwohnenden schamanistischen Bu-
rüten verbreiten. Folgendes Beispiel diene zum Beweis:
Ein oder zwei Lamas zogen in Begleitung zweier oder
dreier burätischer Beamten durch die Ulusse (Dörfer) der
benachbarten Schamanistcn und wiesen ein beliebiges Schreiben
als einen Befehl vom Gouverneur vor, welchem zufolge
alle Schamanisten entweder an den Fluß Olekma über-
siedeln oder sofort sich zum Lamaismus bekennen sollen.
Aus Furcht vor der Uebersiedcluug lieferten die Schamanen
sofort das Zeichen ihrer Würde ab und zeigten sich mit
ihren Glaubensgenossen bereit, den Lamaismus anzu-
nehmen. — Doch haben einige Schamanen, welche an der
Echtheit der vorgewiesenen Schriftstücke zweifelten, eine
Klage bei der Regierung eingereicht. — Gleichfalls zum
Zwecke der Ausbreitung des Lamaismns ist 60 Werst
(Kilom.) vom Kloster Tsugolsk zwischen den Flüssen Onon
und Ingo da eine Lamaansiedelung gegründet worden;
die Lamas haben um die Erlaubniß gebeten, sich ein neues
Kloster gründen zu dürfen, doch ist bis jetzt noch keine
Erlaubniß ertheilt worden. Es scheint übrigens, daß die
administrativen Behörden diese Propaganda begünstigten.
In dem Kloster Tsugolsk hat der einzige Gygen
der russischen Buräten seinen Aufenthalt. Es ist das ein
Prophet, ein Heiliger, eine Mensch gewordene Gottheit, wel-
chem deshalb göttliche Ehren zu Theil werden. Das Er-
scheinen eines Gygens findet folgendermaßen statt: die Lamas
lesen aus ihren tibetischen Büchern heraus, daß zu einer
bestimmten Zeit, an einem bestimmten Orte, von bestimmten
reichen oder armen Eltern ein „Heiliger" hervorgehen
wird, welchen man aussuchen und erziehen muß. In Be-
treff des jetzigen Gygen von Tsugolsk wird berichtet,
daß ein berühmter Lama aus der Mongolei gekommen sei
mit der Meldung, in einer Ortschaft aufwärts am Onon
werde der Gygen wieder geboren werden. In Ueberein-
stimmung mit dieser Voraussage ist der jetzige Gygen
aus 130 Kindern ausgewählt worden. Er ist 25 Werst
vom Kloster in dem Ulusse Urtuy am Onon als Sohn
eines armen Schmiedes geboren, die Eltern leben noch
jetzt. Er wurde seinen Eltern genommen, verweilte zuerst
einige Jahre im Kloster und kam dann nach Tibet oder
14
ft Ein solches Kloster heißt auf burätisch D atz an.
Globus XLVTI. Nr. 7.
106
Das Lamakloster Tsugolsk und das Fest Churul zu Ehren Mayderi's.
anderen Nachrichten zufolge nach dem Dolon-nor, um da-
selbst unterrichtet zu werden. Nach seiner Rückkehr aus
Tibet bereiste er alle Dörfer, ließ sich anbeten, reichlich
beschenken und erbaute sich schließlich mit Hilfe der Gaben
ein ausgezeichnetes Haus und Kloster; hier lebt er, nimmt
regelmäßig Opfergcschenke entgegen nnd beschäftigt sich mit
Prophezeien. Er besitzt große Herden von Pferden,
Rindern und Schafen. Der Gygen, der erst unlängst
die Verwaltung des Klosters angetreten hat, ist ein Mann
von 30 Jahren, mit offenem, sympathischem Gesicht, sehr
gastfrei nnd wißbegierig. Einigen ihn besuchenden Russen
legte er verschiedene elementare Fragen aus der Geographie
und Astronomie vor, über den Kompaß, über die Ungleich-
heit der Tage und Nächte, über den Umlauf des Mondes
und dergleichen. Seiner Ueberzeugung nach geht die Sonne
um die Erde herum. Ein junger Buräte, welcher eine
russische Schule besucht hat, übersetzt für den Gygen Lehr-
bücher der Physik und Chemie ins Burätische. Der Gygen
empfängt und bewirthet seine Gäste vollständig nach russi-
scher Sitte: Mittag und Abendessen sowie Thee wird wie
in einer russischen Familie servirt. Nur der Kumys
(ein Getränk aus gegohrener Stutenmilch), dessen Dar-
reichung dem Gaste eine besondere Ehre ist, erscheint fremd-
artig. Die Wohnung des Gygens steht nahe bei dem
eigentlichen Götzentempel; sie umfaßt drei kleine Häuser,
eine Küche und ist von einem hölzernen Zaun umgeben. Das
erste Häuschen, welches dem Hanptthore gegenüber liegt
und durch einen geschnitzten Sims ausgezeichnet ist, dient dem
Gygen als Empfangszimmer. Die Möbeln sind halb
europäisch, halb orientalisch: einige Wiener Stühle, zwei oder
drei Tische, von denen einer vor einem Bett stand, welches
auch als Divan zum sitzen dient; doch sind auch Teppiche
auf dem Boden ausgebreitet, um in orientalischer Weise
sitzen zu können. Eine Wandkarte des europäischen Ruß-
lands, ein Globus, eine Drehorgel, ein Harmonium haben
ebenfalls Platz gefunden. Die beiden anderen Häuschen
sind vom ersten durch einen Zaun getrennt, an dessen Thür
eine Inschrift zu lesen ist; das eine Häuschen beherbergt
das Betzimmer, das andere das gewöhnliche Wohnzimmer;
beide sind ausschließlich im orientalischen Geschmack aus-
gestattet. Alljährlich im Frühling verläßt der Gygen seine
Einsiedelei und reist zu einer Mineralquelle; bisweilen
besucht er auch die Stadt Tschita; zweimal jährlich muß
er den Ort seiner Geburt aufsuchen, woselbst ein Denk-
mal ihm zur Erinnerung errichtet ist.
Der eigentliche Klostertempcl ist ein hübsches zwei-
stöckiges, mit einem Mezzonin versehenes Haus, die beiden
unteren Etagen bestehen aus Stein, die Dachwohnung aus
Holz. An der Vorderfront zieht sich eine große breite
Treppe hin, welche mit Marmor- und Schieferplatten be-
legt ist; das Dach der Treppe wird von sechs hölzernen, ver-
zierten Säulen getragen. Ein Zaun ans Stein von etwa
einem Faden (2,1 m) Höhe umgiebt das Haus. Seitlich
vom Haupteingangc befindet sich im Winkel eine Art Druckerei.
Früher war hier eine wirkliche Druckerei, jetzt werden hier
nur mit Hilfe von ein- für allemal geschnittenen Blei-
platten tibetische und mongolische Gebete gedruckt. Links
vom Haupteingange steht die Küche, wo das Essen sowohl
für die Götzen wie für die Tempeldiener bereitet wird. In
einem anderen Winkel des Zaunes ist ein großer, hohler,
mit Gebeten gefüllter Cylinder mit vertikaler Axe auf-
gerichtet. Die Umdrehungen des Cylinders werden als
Gebete angesehen. Ein kleinerer Cylinder steht auf der
Treppe des Tempels; viele kleine Cylinder sind unter der
Bevölkerung des Klosters zerstreut, die sogenannten Gebet-
mühlen. Drei Eingänge führen von der Treppe in den
Tempel, dessen Inneres weder luxuriös noch hübsch aus-
gestattet ist. Jederseits rechts und links vom mittleren
Eingänge stehen sieben Reihen niedriger Bänke ohne Lehnen.
Der Mittelgang zwischen den Bänken führt zu dem Sitze
des Gygens, der Eingangsthür gegenüber: ein einfacher,
großer Stuhl mit einer hohen Lehne. Ein ebensolcher
Stuhl steht links daneben; die Buräten treten heran und
machen dem einen wie dem anderen Stuhle ihre Ver-
beugung. Vor den Bänken am Mittelgange stehen kleine
Tische, vor den anderen Bänken nicht. Während der reli-
giösen Ceremonien sitzen die Lamas aus jenen Bänken; wer
hier leinen Platz findet, sitzt im Zwischenraum. Rechts
und links vom Sitze des Gygens stehen auf Tischen unmittel-
bar an der Wand Schränke mit Glasthüren; in demjenigen
rechts befindet sich eine hölzerne Statue, welche denSakja-
Muni in sitzender Stellung fast in Lebensgröße darstellt,
im Schranke links stehen einige kleine Götzenbilder, dar-
unter die Statue des Burchans Mayd e ri, auf dem Tische
davor eine große Reihe kupferner, mit Wasser und Roggen
angefüllter Schalen, auf einer kleinen Bank davor ein
Räucherfaß. Die Decke des Tempels wird von 18 Säulen
getragen, welche zu je drei in sechs Reihen angeordnet, mit
Drachenbildern verziert und oben mit Schnitzarbeit ge-
schmückt sind. Zwischen den Säulen sind an der Decke
einige Stangen befestigt, an welchen verschiedene heilige Dar-
stellungen auf Papier oder Zeug ausgehängt sind. Außer-
dem hängt in jeder Hälfte des Tempels eine Trommel, und
nahe dem mittleren Eingänge ein Baldachin oder Schirm,
von welchem eine Unzahl langer, aus bunten Zitzlappen zu-
sammengenähter Bänder herabflattern. Einige kleinere
ähnliche Schirme hängen an der Seite; an den Wänden
befinden sich Götzenbilder. Der obere Stock ist durch ein
Gitter in zwei Hälften getheilt; die eine Hälfte ist leer, die
andere ähnlich wie der untere Stock hergerichtet; in der
Mitte und an den Wänden befinden sich etwa 10 große
und 1000 kleine Götzenbilder in Schränken. Hier oben
steht auch ein Modell des Tempels. Im dritten Stock-
werke (Dachwohnung) sind nur einige kleine Räume für be-
sondere Götzen; nur das mittlere Gemach wird gewöhnlich
gezeigt, hier hängen an der Decke allerlei Weihgeschenke,
darunter das Fell eines Tigers. Die anderen Gemächer
des dritten Stockes sind gewöhnlichen Sterblichen nicht zu-
gänglich; es sollen hier Götzenbilder ausgestellt sein, welche
den Anfang des Lebens, die Befruchtung, darstellen, dar-
unter ein Stier als Symbol der Fruchtbarkeit.
Kurz vor dem Feste fanden den Tag über religiöse
Ceremonien statt. Durch Anschlagen an eine eiserne Platte
wird zum Gottesdienste gerufen. Auf den Bänken in der
Mitte sitzen an den kleinen Tischen die Oberlamas; jcder-
seits liegen vor sechs Lamas je ein Paar Metallbecken (zum
Musikmachen). Die Enden der Bänke nehmen die Musi-
kanten ein, an einer Seite vier hölzerne Trompeten, an der
anderen vier Metallhörner. Hinter diesen Musikanten sitzt
jederseits auf der dritten Bankreihc noch ein Musikant mit
einer kolossalen, metallischen, 1y2 Saschen (3,1 m) messenden
Posaune, welche Ukyr-Trompetc (d. h. Kuhtrompete) heißt.
Alle übrigen Plätze werden von ca. 300 Lamas eingenommen,
alle sind in gelbe oder zimmtfarbige Gewänder gehüllt und
haben um die Schulter ein Stück zimmtfarbigen Stoffes
von 5 Arschin (3,5 in) Länge geschlungen. Bei einigen
Lamas sind die Arme bis zu den Schultern entblößt. Die
religiöse Ceremonie besteht in gewissen Manipulationen
des ersten Lamas, während die übrigen Lamas in einför-
migem, singendem Tone Gebete murmeln. Der Gesang
bewegt sich in einer regelmäßig aufsteigenden chromatischen
Tonleiter. Plötzlich unterbricht ihn eine schreckliche, wilde
Das Lamakloster Tsugolsk und das Fest Churul zu Ehren Mayderi's.
107
Musik: die Becken werden zusammengeschlagen, Trompeten
und Hörner geblasen, Trommeln und Cymbeln ertönen
gleichzeitig. Und abermals beginnt der einförmige Gesang,
in der Tiefe anfangend und in halben Tönen allmälig auf-
steigend zur Höhe und abermals wird er durch die wilde
Musik unterbrochen; so geht es abwechselnd eine Zeitlang
fort. Vielleicht reizt alles das die in Massen sich heran-
drängenden Buräten an; auf den Fremden macht das
Ganze einen trüben, deprimirenden Eindruck.
Am Schlüsse der Ceremonie wurde Kohlsuppe in Eimern
hcrbeigetragen: alle Lamas holten ans ihrer Brusttasche
hölzerne, gelbe Schalen hervor, füllten dieselben mit Suppe
und wie aus ein gegebenes Zeichen beginnen Alle die heiße
Suppe laut zu schlürfen.
Am Abend war eine Ceremonie, welche „das Ver-
brennen des Todes" hieß. Die Lamas, durch den
Ton der Cymbeln zusammengerufen, gingen in den Tempel
und setzten sich nieder. Die Musik spielte, Gebete wurden
gesungen. Im mittleren Gange des Tempels, nicht weit
vom Eingänge, stand ein niedriger, kleiner dreieckiger
Tisch, auf welchen! sich drei in Form von rechtwinkeligen
Dreiecken zugeschnittene, rosafarbene Papierstücke befanden.
Die durch verschiedene Ausschnitte schön verzierten Papier-
dreiecke waren 11/2 Arschin (ca. 1 m) hoch und so gestellt, daß
jedes Dreieck von einer Tischecke zur Mitte reichte. Indem
die langen Seiten der drei Dreiecke zusammenstießen, bilde-
ten sie eine gemeinschaftliche Spitze, auf welcher ein mensch-
licher Schädel, aus irgend einer Masse in verkleinertem
Maßstabe angefertigt, ruhte. Einer der Lamas setzte sich
vor der Tischecke auf den Fußboden, so, daß er dem Gygen
den Rücken zukehrte, und begann die Ceremonie: indem er
allerlei Manipulationen vornahm, Wasser aus einer Schale
in die andere goß, während gleichzeitig die Musik ertönte
und Gebete gemurmelt wurden. Sowohl der dienstthuende
Oberlama als auch die vielen Unterlamas hatten sich die
Nase verbunden, um nicht die heilige Stätte durch ihren
Athem zu entweihen. Während des Gottesdienstes treten
die Buräten heran und legen seidene Tücher (Chadaki) vor
den Dreiecken auf den Tisch. Dann wird der Apparat
(wir nennen ihn die „Darstellung des Todes") von
zwei Lamas aus dem Tempelhause in den Garten getragen
und eine Procession veranstaltet. Zu beiden Seiten des
„Todes" etwas voran schreiten Knaben, welche zwei Fah-
nen tragen; hinter den Knaben folgen jederseits Trompeten,
Trommeln, Cymbeln, Hörner; zwei Lamas tragen „den
Tod". Dahinter marschirt gravitätisch der Oberlama, mit
einem schwarzen Tuche fächelnd und mit einer Glocke klin-
gelnd; vor ihm geht ein niedrigstehender Lama, welcher ein
Stück schwarzen Zeugs ans der Erde schleift. Dann kommen
die anderen Lamas und zuletzt das Volk. Die Procession
nähert sich allmählich einem in der Nähe befindlichen Haufen
von Stroh. Die Musik macht immerfort Lärm. Die
Procession ist angelangt; der Strohhaufen wird angezündet;
der Lama nimmt den „Tod", hockt einige Male nieder und
wirft ihn schließlich ins Feuer. Die Knaben mit den
Fahnen laufen schnell von einer Seite auf die andere; alle
Anwesenden wenden sich ans einen Augenblick ab, schreien
auf, klatschen in die Hände und — alles ist zu Ende. —
Nur der Oberlama kehrt mit einem weißen Tuche in den
Händen in den Tempel zurück, der ihm vorangehende Unter-
laiua trägt ein weißes Stück Zeug.
Am anderen Morgen findet frühmorgens wie gewöhnlich
Gottesdienst statt. Dann zieht mau aus einem Vorraths-
hause einen Elefanten und einen Wagen. Der Elefant,
aus Holz gemacht, roth angestrichen, steht auf einer Platte,
welche mit etwas kleineren als gewöhnlichen Wagenrädern
versehen ist, und ist mit einer Satteldecke und mit seidenen
Tüchern behängt. Auf dem Rücken ruht statt eines Sattels
ein vergoldetes, mit Zähnen versehenes Rad. Am Halse
und am Kopfe sind schwer zu beschreibende Zierrathen an-
gebracht. Aus dem Maule ragen kleine Stoßzähnc hervor.
Der Wagen ist ein gewöhnlicher Bauernwagcn mit einer
Platte, auf dieser steht ein kleines Häuschen mit hübschem
Gesimse und gläsernen Seitenwänden. Auf dem Häuschen
thront ein Pavillon mit vielen Säulen und zierlichem Dach
und darüber ein Baldachin; von dem Dache des Hänschens
wie dem Pavillon hängen Glocken herab. Das Häuschen
wird von einer niedrigen Galerie eingefaßt, an deren Ecken
kleine Sonnenschirme ausgerichtet sind. Zwischen den Schir-
men sind au der Galerie Stöcke mit buntfarbigen Flaggen
aufgestellt, verziert mit Klappern. Vor dem Häuschen
liegen zwei gleichartige Figuren aus Bronze, ein paar hörner-
tragende Thiere. Der Elefant und der Wagen sind dem
Kloster zugekehrt. Eine große Volksmenge ist anwesend.
Der Gygen kommt. Rach einem kurzen Gebete im Tempel
trägt einer der Lamas den Mayderi herbei, eine kleine
bronzene Statuette, welche in gelblichen Stoff eingeschlagen
ist, und setzt sie aus einen im Häuschen befindlichen Pracht-
stuhl. Vor der Statuette werden aus einem Tischchen
Nahrungsmittel in kleinen Schälchen gelegt. Der Gygen
und die Lamas setzen ihre Manipulationen fort, schütten
z. B. Reis aus einem Gefäße in ein Tuch u. s. w. Die
Procession steht still. Jetzt wird der Elefant und der
Wagen zur Hauptpforte hin gerichtet und die Prozession
bewegt sich langsam, aber nicht so feierlich wie gestern, nach
Süden. — Allen voran schreitet ein Lama mit einem Ge-
fäße voll Wasser, womit er den Weg besprengt. Dem
ersteren folgt ein zweiter Lama, wie es scheint der Ober-
ceremonien- und Kapellmeister, welcher mit den Händen
herum agirt, die Cymbeln anschlägt und zuweilen sich mit
dem Gesichte zum Elefanten hinneigt. Er giebt damit
gleichsam das Zeichen, wann die übrigen Instrumente ein-
fallen sollen. — Hinter ihm folgt ein Baldachin, dann
zwei Näuchersüsser, dann der Elefant, als ob er den
Wagen zöge; in Wirklichkeit aber ziehen eine Menge Bn-
räten an den Stricken den Wagen. Zu beiden Seiten des
Wagens werden zwei Fahnen ans weißen Bändern ge-
tragen. Weiter tragen dreizehn kleine Knaben, einer hinter
dem anderen gehend, auf hohen Stangen verschiedene ans
Holz geschnittene Götterfigurcn. Jederseits gehen acht
Knaben, welche besonders gekleidet und mit einer Art Krone
auf dem Haupte geschmückt sind. Unter dem Kopfputz ragen
schwarze Fäden wie Haare vor, hinten sind sie länger,
vorn an der Stirn kürzer. Vor den Knaben gehen zwei
Leute mit Trompeten, auf denen beständig geblasen wird.
Hinter dem Wagen folgen daun die anderen Lamas, ein
Knabe mit dem Baldachin, ein Knabe mit einer Muschel,
zwei Knaben mit Cymbeln. Dann kommen abermals drei-
zehn Knaben, daun zwei Trommeln an einem Gerüste mit
Rädern, und fünf Lamas mit den Becken. Dicht hinter
dem Wagen kommt ein Baldachin und dann majestätisch
cinhcrschrcitend der Gygen mit einer Glocke, neben ihm
geht ein angesehener Lama, beide in denselben Gewändern wie
die anderen Lamas, nur in der Kopfbedeckung unterschieden; sic
tragen gelbe, glänzend lackirte Hüte mit einem vierkantigen
Knöpfchen geschmückt. Dann folgen die übrigen Lamas
und das Volk. — Die Procession bewegt sich in schönster
Ordnung, ohne Drängen und Stoßen. Zwei Cercmonicn-
meister oder Polizisten mit Stöcken in den Händen be-
gleiten jederseits den Zug und sehen auf Ordnung. In
früheren Jahren waren die Polizisten beritten und mit
Peitschen versehen. Die Procession steht stille. Fast all
14*
108
Kürzere Mittheilungen.
daran theilnehmenden Personen setzen sich dort nieder, wo
sie gerade stehen. Der Gygen und die Obcrlamas lassen
sich auf Teppichen nieder. Eine große Anzahl von Lamas
setzt sich vor dem Elefanten nieder, so daß der Wagen
von allen vier Seiten von Lamas umgeben ist. Vor dem
Gygen, die eine Seite ihm zugewandt, sitzen links vom
Wagen zwei Oberceremonienmeister, rechts vom Wagen
zehn Lamas. Für die anwesenden russischen Gäste stehen
hinter dem Lama eine Anzahl Wiener Stühle und ein Tisch.
Weiter nach hinten sitzen und stehen bis 3000 Personen
in bunten seidenen Gewändern. Auffallend ist die große
Menge von Korallen, mit welchen die Burätinnen ihren
Kopfputz geschmückt haben. Die Lamas beginnen das Lesen
von Gebeten, indem sie einander kleine Papierstreifen zu-
reichen. Man bringt Thee in Eimern und Theekannen,
und die Lamas ziehen ihre Schalen aus ihren Gewändern
hervor; auch den anwesenden Russen wird Thee mit ge-
trockneten Stücken Roggenbrotes, Konfekt und Weißbrot
gereicht. Zur Unterhaltung des essenden und trinkenden
Publikums stellen sich zwei Chowaraks (Novizen), um
eine gelehrte Disputation abzuhalten, vor dem Gygen auf:
abwechselnd legen sie einander verschiedene gelehrte Fragen
vor und antworten darauf. Jetzt wird der Elefant und
der Wagen zur Seite des Gygen gewandt: zwischen beiden
wird ein kleiner Tisch hingestellt und darauf ein kleiner,
metallischer Spiegel gelegt; zehn Lamas, welche vor dem
Gygen sitzen, beginnen an diesem Tische den Gottesdienst.
Der Gygen und die anderen Lamas bleiben sitzen: an einer
gewissen Stelle des Gottesdienstes erhebt sich das ganze
Volk und beugt sich vor dem Wagen. Nach Schluß der
Ceremonie stehen alle auf und der Zug bewegt sich in der-
selbenOrdnung nach Westen: hier findet dieselbe Ceremonie
statt. Nachdem so nach einander alle vier Seiten des
Dorfes Datsan besucht worden sind, kehrt alles in die
Umzäunung des Klosters zurück. Hier nehmen zu beiden
Seiten des Wagens auf Teppichen zwei Lamas mit der
Mayderi-Statuette Platz: das Volk kommt heran und läßt
sich segnen, auf einer Seite die Männer, auf der anderen
die Frauen, die Lamas segnen sie, indem sie das nieder-
gebeugte Haupt mit der Statuette berühren. Während der
ganzen Zeit sitzen der Gygen und die Lamas ans der Vor-
trcppe und lesen nwnotone Gebete. Schließlich wird das
Götzenbild aus dem Häuschen herausgenommen und in das
Kloster getragen. — Die religiöse Feier ist beendigt, am
anderen Tage findet ein weltliches Fest statt. Wettkämpfe
und Wettlaufen sollen vor sich gehen.
Um 2 Uhr nachmittags ist nicht weit vom Dorfe
auf dem Felde ein Zelt aufgeschlagen. Für die Lamas
sind Teppiche ausgebreitet, für die russischen Gäste stehen
Stühle bereit; der Gygen kommt in einem einfachen, mit
einem Pferde bespannten Wagen herangefahren. Es wird
Thee, dann Kumys gereicht. Das Volk sammelt sich, doch
nicht in solcher Menge wie gestern. Einige Personen beten
vor dem Gygen und lassen sich segnen: der Gygen berührt
die Häupter mit einem Bündel von Papierblüttern, auf
welchen Gebete geschrieben sind. Sehr kleine Reiter reiten
auf Rennpferden dreimal um das Zelt. Auf einer Stange
wird eine Fahne mit dem Abbilde eines rennenden Pferdes
befestigt. Das Rennen findet in 3 Werst (Kilometer) Ent-
fernung vom Zelte statt. Gleichzeitig rüsten sich die
Kämpfer vor dem Zelte. Der Zopf wird angebunden,
das Hemd abgezogen und die Hosen soweit als möglich
heraufgezogen. Die Ordner geleiten die Kämpfer zum
Zelte, wo der Gygen sie segnet, dann betreten sie die Arena.
Sie beugen sich bis zum Gürtel, beobachten sich scharf,
nähern sich einander, dabei ergreifen sie bisweilen Erde und
reiben sich die Hände damit. Sie fassen sich, gehen Wieder-
aus einander, noch einmal umfassen sie einander — der Kampf
ist beendigt: einer ist geflogen; es geht so schnell, daß kaum
zu sehen ist, wer denn eigentlich Sieger war. Ein anderes
Kämpferpaar tritt auf; und so geht es weiter fort. Einige
Kämpferpaare beendigen den Kampf schnell, andere gehen
aus einander, ohne daß der Kampf sich entscheidet. So
kämpfen die beiden ersten Athleten schon zum vierten Male
— immer resultatlos. Der eine der Athleten, aus dem
Datsan von Aginsk stammend, welcher bereits dort bei
Gelegenheit eines Festes gekämpft hatte, war in der dem
Feste vorangehenden Nacht hierher gelaufen, um mit den
Kämpfern von Tsugolsk hier sich zu messen.
Unterdessen hatte das Wettrennen seinen Fortgang ge-
nommen; das erste Pferd lief zu Ehren des Gygens, wie
immer üblich. Man führte den Sieger zum Zelte. Ein
Begleiter hält vom Pferde herab eine Lobrede auf den
Gygen und das Rennen. Das zweite Pferd lief zu Ehren
eines der russischen Gäste. Die Sieger im Wettkampfe und
im Wettlaufe erhalten Preise und damit ist das Fest beendigt.
Kürzere Mi
Begriibnißfeierlichkeitcn bei den Dajaks in Kutei.
Die Sitzungsberichte des „Bataviasch Genootschap" von
1883 enthalten einen Beitrag über den in der Ueberschrift
genannten Gegenstand, der um so interessanter ist, als er
aus der Feder des Sultans von Kutei stammt. Wir lassen
denselben hier möglichst wörtlich folgen:
Wenn Jemand gestorben ist, wird ein Gong und ein
Tarai (knpsernes Becken, auch Brcngbrengs gespalten. Der
Körper wird auf eine Planke gelegt; dann werden die schön-
sten Kleider geholt, wie der Verstorbene sie in seinem Leben
trug, und der Leiche mitgegeben.
Vom Hause bis an die Seite des Wassers wird durch
die Häuptlinge und geringen Lente eine Bambubrücke ge-
macht, um die Leiche nach dem Flusse zu bringen und auf
den Pfosten der Brücke werden Tadjau, Gong und Tarai aus-
ttheilungen.
gestellt. Wenn das alles fertig ist, dann wird die Leiche
nach dem Flusse gebracht, um gewaschen zu werden. Wenn
die Leiche wieder heraufgebracht ist, wird sie in schöne Kleider
gekleidet, danach auf ein Brett gelegt, während der Gong
und Gendang (Trommel) geschlagen werden, und diese
Musik wird Tagun buntuk genannt. Ferner gehen viele
Leute nach dem Walde und suchen einen großen Baum-
stamm aus, um davon eine Kiste für die Leiche zu machen.
Unterwegs wird auf Gong und Tarai geschlagen und der
Mann, der schlägt, trägt alte Kleider und einen alten Mandau
(Schwert). Wenn sie einen Baumstamm gefunden haben,
wird das mitgenommene Schwein geschlachtet, der Baum
gefällt, der Sarg wird gemacht und unter Musik von
Gong u. s. w. nach Hause gebracht, um die Leiche hineinzu-
legen. Unter dem Hause wird nun ein Platz in Ordnung
gemacht, wo die Leiche niedergelegt und einige Tage da bc-
Kürzere Mittheilungen.
109
wacht wird. Die Nachbaren gehen wieder in den Wald, um
Holz zu fällen und Balken und Planken für ein Häuschen
(Balai) zu holen. Für ihre Mühe erhalten sie jeder eine
Kuchenpfanne und einen Teller (Pamikir genannt) als Opfer-
gabe. Das Balai (Todtenhäuschen) wird nun errichtet und
der Sarg daraus gestellt, wobei Gong und Gendang ge-
schlagen werden. Viele folgen, wenn die Leiche nach dem
Häuschen gebracht wird, derselben in weißen Kleidern. Wenn
der Sarg aus dem Boden unter dem Häuschen niedergesetzt
ist, kommen zwei Männer in reinen Kleidern, die an der
Seite des Sarges Platz nehmen mit einem Mandan (Schwert)
in der rechten, einem Huhn in der linken Hand. Dann
werden acht, hierauf noch sieben Umgänge um den Sarg
gemacht, dann derselbe in das Häuschen gesetzt und die
Thür desselben vernagelt. Während eines Jahres dürfen
nur weiße Kleider getragen werden.
Hieran schließt sich ein Bericht aus derselben Feder über:
Die Reise nach der Ewigkeit.
Wenn ein Dajak den letzten Athemzug gethan hat, wird
seine Leiche auf einen Gong gelegt, der Rücken durch ein
Untung tuwa oder einen alten Tadjan (Topf) unterstützt und
so wird die Leiche gewaschen. Die Leiche, in neuen Kleidern,
wird auf eine Matte gelegt, auf Mund und Augen je ein
Stück Silbergeld gedrückt (bei Reichen ein Dinar). Die
Leiche wird in den Sarg gelegt mit den Geräthschaften des
Verstorbenen, der Mandan links, die Lanze rechts, eine
eiserne Kuchenpfanne und Teller an den Füßen.
Nach sieben Tagen und sieben Nächten werden Schweine
und Hühner geschlachtet, um gegessen zu werden.
Der Priester fragt eins der Familienmitglieder nach
denr Namen der bereits verstorbenen Angehörigen und ruft
deren Geister auf, um den eben Verstorbenen zu treffen und
ihm auf ihrer Rückreise den Weg zu zeigen. Unter dem
Essen sagt der Priester: „Folge dem Geiste des geopferten
Schweines und der geopferten Hühner." Nun geht der Geist
des Verstorbenen nach den: Westen und trifft:
1) Eine große Schlange und ein großes Krokodil, die
jenen auf die Probe stellen.
2) Er trifft eine Person, die Purpurholz fällt.
3) Einen Malungbaum mit vielen niederhängenden Luft-
wurzeln, worin er sich einen Augenblick wiegt.
4) Einen Baumstamm, quer über den Weg, den man
Pindun nennt.
5) Einen Katujabaum, worin allerlei sonderbare Töne
gehört werden.
6) Der Berg Pamaton wird erstiegen.
7) An der anderen Seite ist ein Fluß, über den eine
Brücke geschlagen ist; in dem Wasser schwimmt ein Fisch
(Aruwau) herum, der den Verstorbenen, wenn er ein großer
Sünder gewesen ist, auffrißt.
8) Der Berg Binturung, auf dessen Spitze ein sehr
großes Haus steht, dessen Eigenthümer Kakahungkung heißt.
9) Ein ausgestrecktes Feld.
10) Ein morastiges Land, wo viele Pedara oder Geister
sich mit dem Flechten von Vogelnetzen, dem Anbringen von
Leimruthen auf den Zweigen des Harabaums, dem Abschlagen
von Sijabawfrüchten beschäftigen und Hirsche und andere
Thiere des Waldes in Fallen fangen.
tt) Zu Paralan Sulai ist der Fluß Raja, wo die Fische
mit dem Safte der Tubawurzel gefangen werden.
12) Ein großes Haus, dessen Eigenthüiner, Jang Puthu,
sich in eine Frau verwandelt, wenn der Verstorbene ein
Mann gewesen ist, und umgekehrt.
13) Der See Pakalang Ringau, wo diejenigen, welche
an Wikat oder Kropfgeschwulsten gestorben sind, ruhen und
Fahrzeuge bauen.
14) Der See Pakalung Tagur, wo diejenigen ruhen, die
an der Krankheit Tjampah Kuduh (Lepra) gestorben sind.
15) Der Blutsee (Sandau daja), wo die Seelen der Er-
mordeten und der im Wochenbett gestorbenen Frauen ruhen-
16) Dann kommt das Höllenfeuer.
17) Der See Djawamekah, wo die Santirutblume wächst,
die eine wunderbare Kraft besitzt, und wo die ruhen, welche
an Altersschwäche gestorben sind.
18) An der anderen Seite ist der Berg Lumut, wo der
Versammlungsort aller Geister ist.
Die Goldprodnktion von Venezuela.
Ch. N. Nachdem die Minenindustrie in Venezuela seit
dem Unabhängigkeitskriege beinahe gänzlich aufgehört hatte,
kam sie in den sechziger Jahren mit der Entdeckung reicher
Waschgold- und Goldquarzlager wieder mehr zu Ehren, und
zwar haben sich seither 42 Compagnien mit einem Total-
kapital von 265600000Mk. konstituirt. Aber bloß 36 Gesell-
schaften mit einem Kapital von 214760 000 Mk. sind über
das Stadium der Existenz auf dem Papiere hinausgekommen
und von diesen sind es nur etwa 20, welche in fortwähren-
dem Betriebe stehen, während die anderen entweder inne-
halten mußten oder schon bei den Vorarbeiten stecken blieben.
Die bekannteste von allen ist diejenige, welche die welt-
berühmte Callao-Mine im YuruarydistriktZ ausbeutet, bei
welcher auch europäische Finanzgrößen wie Rothschild, Ba-
ring Brothers u. s. w. bethciligt sind. Die 32 200 Aktien
dieser Gesellschaft befinden sich in folgenden Händen:
314 Franzosen besitzen 15 193 Aktien
28 Venezolaner „ 6 681 „
33 Engländer „ 6 930 „
16 Deutsche „ 2 996 „
1 Däne „ 200 „
1 Nordamerikaner „ 100
1 Kolumbianer o o
Diese famose Mine hat bis Ende 1881 einen Ertrag
von 47 719 000 Mk. geliefert. Die monatlichen Betriebs-
kosten belaufen sich auf 128 000 Mk. und der venezolanischen
Regierung wirst sie per Jahr 120 000 Mk. durch Zoll- und
Stempclgcbühren ab. Die Monatsdivideude betrug im
August d. I. 721280 Mk. — oder 22,40 Mk. per Aktie.
Die Goldproduktion der vier wichtigsten Minen im Iuruary-
distrikte belief sich im Monat August auf:
15 953,06 Onzen aus der Callao-Mine
1211,12 „ „ „ Panama-Mine
908,65 „ „ „ Chili-Mine
429,75 „ „ „ Potosi-Mine
im Totalwerthe von 1 280 000 Mk.
Andere Gesellschaften glaubten das Glück an ihre
Unternehmungen zu fesseln dadurch, daß sic dieselben auch
Callao tauften, und so entstanden die Nainen „Neu Callao,
Callao (bis)" u. s. w., aber ohne den gewünschten und er-
hofften Erfolg.
Soweit die officicllen Daten reichen, sind seit 1866, dem
Jahre, in welchem man anfing, das ausgehende Gold in
Ciudad Bolivar zu registriren, bis zum 31. December 1883
1323 276 Onzen Gold verschifft worden, welchen etwa
500 000 Onzen, die vor 1866 gewonnen oder während dieser
achtzehn Jahre gestohlen oder mit Umgehung des Zolles ver-
schifft worden sind, zugezählt werden dürfen. Es würde dies
ein Total von 1823 276 Onzen im Werthe von 137754000 Mk.
ergeben.
Ueber den unermeßlichen Goldreichthum des venezola-
nischen Staates Guyana herrscht kein Zweifel mehr, und da
das Metall hauptsächlich durch bergmännische Ausbeutung
des Muttergesteins gewonnen wird, so ist der Ertrag viel
regelmäßiger und für viel längere Zeiten gesichert, als bei
i) 33 er gl. „Globus", Bd. 44, 6. 64.
110
Aus allen Erdtheilen.
Goldwäschereien. Diese isolirten niederen Gebirgsketten,
welche ein von den Anden ganz unabhängiges System bilden,
bergen noch ungeheure Goldfelder in sich, und werden wir
bald von neuen Entdeckungen hören. Das allgemeine Inter-
esse concentrirt sich dort mehr denn je auf Guyana, und da
dieser Distrikt anfängt, auch die Aufmerksamkeit des Aus-
landes in hohem Grade auf sich zu ziehen, so werden ihm,
im gleichen Verhältniß, die Hilfsmittel zu weiterer Ent-
wickelung dadurch geboten. Es kann aber nicht geleugnet
werden, daß das, was in anderen Goldregionen der Welt
vorgekommen ist, auch hier nicht ausblieb, nämlich, daß die
von den zahlreichen zu Tage tretenden Adern angelockten
Spekulanten Gesellschaften bilden — was ihnen nicht selten
gelingt —, aber nicht um die Minen wirklich auszubeuten,
sondern um mit den Aktien, die auf die Weltmärkte ge-
worfen werden, Agiotage zu treiben. Ein solcher Schwindel
muß natürlich den Platz in einen Verruf bringen, den bloß
jahrelange Arbeit zu beseitigen vermag. Die Regierung von
Venezuela hat, in der Absicht, dieser Industrie einen neuen
Impuls zn geben, den General Barret de Nazaris nach
Guyana abgeordnet, um Uber die in die Minengesetzgebung
einzuführenden Reformen Erhebungen zu machen.
Die bisherigen Bestimmungen, von jeder Mine (1 Hek-
tare concessionirten Terrains wird einer Mine gleich ge-
achtet) eine Steuer von 3 Pfd. St. pro Jahr, ferner 300
Psd. St. pro Jahr und pro Serie von 5 Stampfmörsern
zu bezahlen, wird nun dahin abgeändert werden, daß der
Staat in Zukunft bloß noch eine Abgabe von der wirklichen
Produktion erheben wird. Die einzige den Concessionären
auferlegte Verpflichtung wird künftighin darin bestehen, die
Arbeiten innerhalb des gesetzlich festgesetzten Termins von
18 Monaten in Angriff nehmen zu lassen, und kann die
Regierung, wenn sie es für gut findet, diesen Termin um
weitere sechs Monate verlängern. Diese Reform ist von
großer Tragweite, wenn man bedenkt, daß allein 14 Com-
pagnien Concessionen über etwa 80 000 Quadratkilometer
angeblich goldhaltigen Terrains besitzen.
Aus allen
Europa.
— In der am 17. Oktober 1884 zn Stockholm abge-
haltenen Sitzung der schwedischen Gesellschaft für Anthropo-
logie und Geographie berichtete Reichsantiquar Hild ebrand
über einen der merkwürdigsten Alterthumsfünde, der
jemals in Schweden gemacht worden ist. Als zn Anfang
dieses Jahrzehnts die einige Meilen nördlich von Upsala be-
lcgene Gemeinde Bendel ihren Kirchhof erweitern wollte,
stieß man aus ein aus dem Eisenalter herstammendes Grab,
in welchem mau mehrere interessante Sachen fand. Der
durch seine Untersuchungen auf der Insel Björkö mit dem
schwedischen Eisenalter sehr vertraute Dr. Hjalmar Stolpe
erhielt den Auftrag, den Fund in Bendel zu untersuchen.
Bei den während längerer Zeit im Jahre 1882 vorgenomme-
nen Nachgrabungen wurden 11 Gräber gefunden, von denen
jedoch nur zwei vollständig unberührt waren; die übrigen
waren bereits vor langer Zeit ausgeplündert worden. In
den Gräbern wurden große Boote gefunden, in welchen die
Leichen (alle männliche) in sitzender oder liegender Stellung
beigesetzt waren. Knochen von Pferden, Rindvieh, Schweinen,
Schafen, Hunden, Jagdfalken und Kranichen wurden gefun-
den; ferner einige reich verzierte Schwerter, davon eins mit
Griff aus vergoldeter Bronze und Silber, eingelegt mit
Emaillezierrathen, ein prachtvolles Pferdegebiß mit vergolde-
ten Bronzeplatten rc. Alles Holz der Schiffe war verfault,
aber die Eisennägel lagen alle an ihrem ursprünglichen Platze,
und da ihre gegenseitige Lage sorgfältig vermessen und auf-
gezeichnet wurde, so wird es möglich sein, Abbildungen von
den Booten zu geben. Der Fund gehört theilweise dem
älteren und theilweise dem jüngeren Eisenalter an. Ein
eigenes Prachtwerk soll über diesen großartigen Fund her-
ausgegeben werden.
— Christiania hatte nach der neuesten Zählung am
31. December 1883 eine Einwohnerzahl von 124 155,
wovon 83 225 über 15 Jahre alt waren. Da von letzte-
ren 36102 männlichen und 47 123 weiblichen Geschlechts
waren, so stellt sich mithin das Verhältniß wie 100:131.
Von der gesammten Einwohnerzahl waren 56 663 männlichen
und 67 492 weiblichen Geschlechts, mithin war hier das Ver-
hältniß wie 100:119; für das ganze Land beträgt die Vcr-
hältnißzahl 100:104,8. In dem Alter von 20 bis 30 Jah-
ren ist das weibliche Geschlecht in Christiania am stärksten
repräsentirt, denn es kommen auf je 100 Männer 134 Frauen.
E r d t h e i l e n.
— Im Laufe des Jahres 1885 soll eine Reihe groß-
artiger Arbeiten zur Vertiefung und Verbesserung des
Fahrwassers der Flüsse Wolga, Dnjepr, Weichsel
und Don vorgenommen werden. Die Kostenanschläge der
Arbeiten sind bereits dem Reichsrathe zur Durchsicht vor-
gelegt worden.
— In Betreff der im Jahre 1883 dem Schooße der
Erde entnommenen Reichthümer, sowie der der Reichskasse
dadurch zugeflossenen Einnahme sind durch das betreffende
Bergdepartement des Russischen Reiches folgende An-
gaben gemacht worden. Die Abgaben vom gewonnenen Gold
und Silber betrugen 1 977 663 Rubelst 2 Mark), vom
Platin 20 620 Rubel, vom Kupfer 384 624 Rubel. Die
Einnahmen, welche die Krone aus ihren eigenen Bergwerken
zieht, sind dabei nicht berechnet, sie machen in runder Summe
etwa 3 Millionen Rubel aus. Die Menge des im Jahre
1883 gewonnenen Kupfers war im Ural 148749 Pud (1 Pud
— 16 kg), in We st-Sibirien 19100 Pud, im Kauka-
sus 48 919 Pud. Au Eisen wurde gewonnen im Ural
15 633 588 Pud, im ersten transmoskauischen Bezirke
206 256 Pud und im zweiten 1323 169 Pud. Unabhängig
davon wurde im vorigen Jahre an Zehntensteuer für ver-
pachtete Goldwäschereien 550 430 Rubel und 25 456 Rubel
an Prozentsteuer von dem Edelmetall, welches durch Privat-
personen in den Krön - Goldwäschen gewonnen wurde,
340 249 Rubel, von Eisenerzen 3422 Rubel, von Steittkohleu-
gruben 16 000 Rubel eingenommen („Nowosti").
A u st r a l i e n.
— Australien macht im Eisenbahnwesen rapide
Fortschritte. Die fünf Kolonien des Kontinents hatten Ende
Oktober 1884 bereits 8803 kni Eisenbahnen in Betrieb, an
1661 kni gebaut und eine Reihe anderer votn Parla-
mente bewilligter Strecken war noch in der Vorbereitung
für den Bau. Davon hatte Victoria 2634V2 km in Betrieb.
Das Parlament dieser Kolonie hat Ende Oktober 1884 eine
Vorlage über den Bau von weiteren 1492 kni, deren Kosten
sich muthmaßlich auf 5 600 000 Pfd. St. belaufen werden,
und außerdem nachträglich eine nicht unbedeutende Anzahl
anderer Linien genehmigt. — Auf Neu-Südwales entfielen
fertige Strecken in der Länge von 2518V2 km. Die Regie-
rung hat ebenfalls im Oktober 1884 dem Parlament eine
Aus allen Erdtheilen.
111
Vorlage über eine lange Reihe zu bauender Bahnstrecken
unterbreitet, welche laut Veranschlagung 14 688 000 Pfd. St.
kosten werden. — In Queensland waren 1770 km dem
Verkehr übergeben und 631 km im Bau. Auch in dieser
Kolonie soll in nächster Zeit das Parlament um die Be-
willigung der Geldmittel für den Bau ausgedehnter Bahn-
linien angegangen werden. — Südanstralien besaß zu An-
fang November 1884 im ganzen 1695 km fertiger Bahnen.
Dem Parlamente lag ein Regierungsantrag über den Bau von
weiteren 420 km, deren Kosten auf 803 360 Pfd. St. berechnet
sind, vor. — Westaustralien hatte erst 185 km Bahnen in Be-
trieb und 109 km im Bau, will aber jetzt, gegen Gewäh-
rung von Ländereien am Bahnkörper entlang, durch ein
englisches Syndikat von Kapitalisten eine lange Eisenbahn-
linie, welche die Hauptstadt Perth mit Albany, im Süden
am King George Sound, verbinden soll, bauen lassen. Die
beiden Jnselkolonictt Tasmanien und Neu-Seeland besaßen
an fertigen Bahnen resp. 269 und 2382 km, während an
resp. 357 und 323 km noch gearbeitet wurde.
— In den Barrier Ranges, an der Westgrenze
von Neu-SüdWales und in 31? 15' südl. Br. und
1410 30' östl. von Gr., wurden in den Jahren 1883/84
reiche Silbererzlager aufgefunden. Eine Minenstadt,
Silverton benannt, hat sich dort bereits gebildet, und die
Minen selbst heißen die Silverton Mines. Sie liegen in
einer öden, wasserarmen und weit umher unbewohnten
Gegend. Der Verkehr geht über unwegsames Terrain und
ist kostspielig. Nach officiellcn Angaben von seiten der
Regierung von Neu-Südwales wurden bis zum 30. Sep-
tember 1884 auf diesen Minen 5117 Tonnen Silbererz im
Werthe von 116 500 Pfd. St. gehoben. Die letzten Nach-
richten aus Silverton datiren von Anfang December 1884
und lauten (wenn nicht übertrieben) sehr günstig. So lie-
ferten 400 Tonnen Erze aus der Day Dream Atine, welche
erst seit drei Monaten bearbeitet wird, einen Silberwerth
von 15000 Pfd. St. Zwölf Tonnen Erze der Christmas
and Pilgrim Mine ergaben einen Ertrag von 2000 Pfd. St.
U. s. w. Das Parlament der Kolonie Südaustralien hat am
13. November 1884 den Bau einer Eisenbahn von der
Station Petersburgh, an der Nordbahn in 32" 57' südl. Br.
und 1380 40' östl, von Gr., in der Richtung nach den Sil-
vertonminen bis zur Grenze von Neu-Südwales in der
Länge von 250 km genehmigt. Diese Bahn wird nicht bloß
ein ziemlich gutes Weideareal von 60 000 englischen oder
2822 deutschen Quadratmeilen zur besseren Ausnutzung
bringen, sondern auch durch den erleichterten und billigeren
Transport der Silbererze nach den Seehäfen die Entwicke-
lung der Silvertonminen wesentlich fördern. Es werden sich,
wenn die Bahn fertig ist, auch die ärmeren Silbererze, welche
in Masse vorhanden sind, mit Nutzen bearbeiten lassen, und
Tausende von Menschen dürften dann in diesen Minen
guten Verdienst finden.
— Am 19. November 1884 waren es 50 Jahre her,
daß die Gebrüder Edward und S t e p h e n H e n t y von Van-
diemensland aus, wie Tasmanien damals noch hieß, an der
Küste von Portland Bay in 380 21' 30" südl. Br. und 141°
41' östl. von Gr. landeten und dort die erste Ansiede-
lung in der nachherigen Kolonie Victoria gründeten.
Zum Andenken an dieses Ereigniß sollte im November 1884
eine Jubiläumsausstellung in Melbourne gehalten werden.
Besondere Feierlichkeiten sollten unter dem Präsidium des
Gouverneurs Sir Henry Brougham Loch an diesem Tage
auch in der jetzigen Hafenstadt Portland stattfinden.
Inseln des Stillen Oceans.
— Die Bevölkerung der Gambier-Inseln nimmt
reißend schnell ab. Nach Berichten der Missionare zählten diesel-
ben im Jahre 1838 noch 2141 Bewohner; Lcborgne konstatirtc
1871 noch 936 Eingeborene und stellte deren baldiges Aus-
sterben in Aussicht. Im verflossenen Jahre 1883 nun be-
suchte der französische Marinearzt Dr. Clavel den Archipel
und fand daselbst nur noch 480 Bewohner. Und was für
Menschen! ruft er ans. Fast alle waren skrophulös oder-
syphilitisch; in der Missionsschule befanden sich 35 Mädchen
und 24 Knaben, ein ganz zukunftsloses, was die Körper-
beschaffenheit betrifft, überaus trauriges und elendes Völk-
chen! Auf 12 Männer kommt jetzt nur eine Frau, auf
20 Todesfälle eine Geburt. Da ist es kein Wunder, wenn
das 20. Jahrhundert kaum noch einen Gambier-Insulaner
sehen wird („Bull. soc. d'Anthropologie" 1884, S. 490).
— Wie aus Holland berichtet wird, darf man nächstens
einer sehr interessanten Publikation über Neu-Guinea
entgegensehen. Der frühere Resident von Ternate, Herr
van B r a a m - M o r r i s ist ans einer seiner Dienst-
reisen auf dem Amberno oder Rochnssen-Fluß
einen Breitengrad nach Süden vorgedrungen. Der Bericht
mit den zugehörigen Karten wird jetzt durch den Herrn
Robidöe van der Aa für die Veröffentlichung vorbereitet,
wodurch die Arbeit nur an Werth gewinnen kann, da Herr
van der Aa wohl die ausgezeichnetste Autorität ans dem
Gebiete von Neu-Guinea ist.
N o r d a m e r i k a.
— Allgemein glaubte man, daß das hochgeschätzte Edel-
weiß nur in den Alpen vorkomme. Wie die „Times" an-
geben, ist es aber neuerdings im Tacoma-Gebirgc im Terri-
torium Washington (Vereinigte Staaten) in einer Höhe von
6000 Fuß über dem Meere gefunden worden, und ebenso eine
andere alpine Pflanze, die in der Schweiz Männertreu heißt.
— Durch die Tagesblätter läuft die Nachricht von der
Entdeckung eines großen Sees zwischen Canada und
der Hudsonsbai. Da dabei bemerkt wird, er sei eine Er-
weiterung des Ruperts-Flusses, konnte von Anfang an kein
Zweifel bestehen, daß es sich um den auf allen Karten zu
findenden Mistassini handle. Ein Bericht von Whitney
in Nr. 100 von „Science" bestätigt das vollständig. Der
See wurde bereits vor mehr als 200 Jahren von dem
Jesuiten Pore Abanel besucht und seine Angaben über den-
selben sind, obschon unvollständig, genauer als die, welche
Abbe Laflamme der geographischen Sektion der British Asso-
ciation machte und welche nur auf den unbestimmten Er-
zählungen von Jägern beruhen. Die etwas emphatische
Weise, in welcher General Lefroy in seiner Eröffnungsrede
die neue Entdeckung begrüßte, hat wahrscheinlich die Veran-
lassung zu dem Zeitungslärm gegeben. Eine genauere Unter-
suchung des Sees, dessen Größe anscheinend nicht weit hin-
ter der des Ontario zurückbleibt, wäre übrigens zu wünschen,
da seine Dimensionen und Konturen durchaus noch nicht
sicher festgestellt sind. Ko.
Südamerika.
— Im Januarheft des „American Naturalist" findet
sich ein sehr interessanter Aufsatz von Herbert H. Smith
über die physikalische Geographie d e s A m a z o n a s -
Gebietes, der geeignet ist, manche noch sehr verbreitete
Ansicht über dasselbe zu berichtigen. Wir entnehmen dem-
selben folgendes:
Die Unterscheidung zwischen Amazonas und Soli-
moos oder Alto-Amazonas ist in der Natur scharf be-
gründet. Alto-Amazonas von der Vereinigung des Soli-
moös mit dem Rio Negro bis zum Fuße der Anden ist ein
flaches, kaum über die Hochwasscrlinie erhobenes, in seiner
ganzen Ausdehnung mit Urwald bedecktes Flachland, Bajo-
Amazonas nur ein schmales Flußthal zwischen Terrassen von
mehreren Hundert Fuß Höhe, welche nordwärts zu den Ge-
birgen von Guyana, südwärts zu denen von Brasilien an-
schwellen, Sandboden mit nur einem relativ schmalen Wald-
112
Aus allen Erdtheilen.
gürtet und ausgedehnten Savannen und Buschflächen. Die
Zuflüsse des oberen Amazonas sind alle bis hoch hinauf
schiffbar, die des unteren bald durch Katarakte und Strom-
schnellen gesperrt. In Alto-Amazonas fühlt man den Passat-
wind nicht mehr, es existirt keine eigentliche trockene Jahres-
zeitmehr, nur eine mit weniger Regen; am unteren Amazonas
herrschen die Passatwinde und finden sich zwei scharf ge-
schiedene Jahreszeiten. Am Solimoös sind Fauna und Flora
viel mannigfaltiger und reicher, als am unteren Amazonas;
auch die beiden Provinzen gemeinsamen Arten sind meistens
größer. Die Trennung der Faunen ist vollkommen scharf;
der Rio Negro auf der Nordseite und der Madeira aus
der Südseite bilden, ersterer durch seine mächtige Wasser-
masse, letzterer durch sein breites Ueberschwemmungsgebiet,
für sehr viele Arten eine Verbreitungsgrenze, und da der
Hauptstrom in derselben Weise wirkt, so entstehen vier zoolo-
gische Provinzen im Amazonasgebiet, zwei nördlich und zwei
siidlich. Am unteren Amazonas ist die Scheidung der Fluß-
ebene, der Varz ea, von dem Terrassenland, der terra firme,
eine äußerst scharfe, und auch wo dichter Urwald die Grenze
bedeckt, erkennt mau sie sofort an der aus ganz anderen
Baumarten bestehenden Vegetation. Die Insel Marajo ist
rein alluvial oder wenigstens in ihrer ganzen Ausdehnung
von Alluvialschichten bedeckt; nur am Ost- und Südrande
liegen einige Streifen und Hügel (torroes) von terra firme.
Die großen Zuflüsse von Süden her, der Tapajos,
der Lingu und der freilich kaum mehr zu den Nebenflüssen
zu rechnende To c aut ins, sind klare Ströme, deren Lauf
von den letzten Katarakten an völlig seeartig ist, aber an der
Mündung in den Amazonas durch dessen Anschwemmungen
plötzlich verengt wird. Auch die Zuflüsse der rechten Seite
zeigen mehrfach ähnliche Bildung. Es scheint dies aber nicht
die Folge einer Stauung durch die Schlammmassen des Ama-
zonas zu sein, sondern der Rest aus einer früheren Zeit,
wo der ganze untere Amazonas auf 800 Miles Länge noch
ein relativ enger Golf war, welcher die Inseln von Guyana
und von Brasilien schied. Er wurde nach und nach von
den von den Anden herabkommeuden Schlammmassen aus-
gefüllt, aber die klaren Ströme hielten sich breite Buchten
bis zur Mündung frei, während die schlammigen sic bis
ans ein schmales Bett ausfüllten. — Alto - Amazonas da-
gegen war ein geräumiger See, in welchen Huallaga,
11 ca Yale, Na Po, Tigre und Solimoes und wohl
auch noch Madeira und Rio Negro mündeten und den
sie allmählich ausfüllten. Eine Zeitlang muß das Meer in
ihn eingedrungen sein und die Senkung, welche dies ermög-
lichte, muß stattgefunden haben nach der Ablagerung der
Sandsteine und Thonschichten, welche die terra firme am
unteren Amazonas bilden, aber wahrscheinlich vor der Bil-
dung des tertiären, Seemuscheln führenden Tabatinga-
thones, welcher bis zum Purus und Japura hinauf-
reicht. Spencer möchte aber annehmen, daß zur Tertiär-
zeit Guyana und Brasilien zusammenhingen und der untere
Amazonas sich erst später gebildet habe. Ko.
— Die seit kurzem im Besitze der Argentinischen Repu-
blik befindliche Osthülste des Feuerlandes und speciell die
Stateninsel macht Fortschritte. Auf dem Kap San Juan,
der Ostspitze der Stateninsel, brennt jetzt ein Leuchtthurm,
dessen Licht 15 Seemeilen weit gesehen wird; unweit davon
im San Juanhafen haben die Argentiner eine Niederlassung
gegründet und eine zweite im Beaglekanal, der das Feuer-
land im Süden begrenzt. Den Norden des Feuerlandes
beabsichtigen Engländer zu kolonisiren.
Vermischtes.
Abstammung und Zähmung unseres Haus-
Pferdes. Ganz neue und hochinteressante Gesichtspunkte
über dieses auch in anthropologischer Beziehung wichtige
Thema entwickelt Professor N eh ring in seiner Arbeit
„Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen und ihre
Beziehungen zu den lebenden Pferden" (Berlin 1884). Nach
ihm ist nämlich ein Theil unserer Hauspferde aus der Zäh-
mung diluvialer Pferde Europas hervorgegangen;
auch bezüglich der Zeit der Domestikation neigt derselbe zu
der Ansicht, daß die Anfänge derselben stellenweise in die
Diluvialzeit zu verlegen sind und daß die Domestikation ganz
allmählich geschehen ist. Nehring stellt ferner die vernünftige
Ansicht auf, daß die Zähmung der Hausthiere überhaupt
weder von einer bestimmten Gegend, noch von einem be-
stimmten Volke ausgegangen ist, sondern daß verschiedene
Völker in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten
mehr oder weniger erfolgreiche Versuche in der Zähmung
gewisser Thierarten gemacht haben. Bezüglich des Pferdes
hat Nehring eine treffliche Meinung, wie dasselbe gezähmt
wurde: er führt uns das Füllen vor, dessen Mutterstute zu
Nahrungszwecken von den Jägern der Diluvialzeit erlegt
wurde, und das nun hilflos und sich selbst überlassen von
den Jägern angenommen und deren Kindern als Spiel-
gefährte überwiesen, allmählich zur Zähmung gebracht wird.
Solches ergiebt sich aus den Knochenfunden, aus that-
sächlich vorhandenem Material. Wir brauchen nicht erst mit
dem geistreichen Victor Hehn an der Hand der Linguistik
nach Centralasien zu wandern, um von dort das gezähmte
Pferd zu holen.
— Unlängst ist ein wiederholt in früheren Bänden des
„Globus" (Bd. 27, S. 7 und Bd. 28, S. 101 bis 104) be-
sprochenes Sammelwerk vollständig geworden, welches wegen
seiner vielfachen Beziehungen zur Geographie im weitesten
Sinne, Ethnographie und Kulturgeschichte auch hier eine noch-
malige Erwähnung verdient; wir meinen das „Hand-
wörterbuch des Biblischen Alterthums für ge-
bildete Bibelleser", welches unter Mitwirkung von
Männern wie Fr. Delitzsch, Ebers, Fraas, Hertzberg, Kautzsch,
Eberh. Schräder und anderen von Prof. Riehm in Halle
herausgegeben wurde (19 Lieferungen, 1875 bis 1884, Biele-
feld und Leipzig. Velhagen und Klasing). Die zahlreichen
Pläne und Abbildungen von Landschaften und Volkstypen,
historischen Persönlichkeiten, Münzen, Naturalien, Alter-
thümern u. s. w. sind von ganz besonderem Interesse und
erleichtern das Verständniß ungemein, ebenso das sehr detail-
lirte Eingehen auf die Privat- und Staatsalterthümer der-
jenigen Großreiche, welche auf das zwischen ihnen gelegene
kleine Palästina naturgemäß den größten politischen und
kulturlichen Einfluß ausgeübt haben, nämlich Aegyptens und
Assyriens. Die Parallelen, welche uns die Monumente
dieser Länder für die Erläuterung der Bibel bieten, sind so
zahlreich und zutreffend, daß nicht nur das bloße Nachschlagen,
sondern auch selbst das länger fortgesetzte Lesen in diesem
populären Lexikon reiche Belehrung gewährt.
Jnhalt: Brugge. II. (Mit vier Abbildungen.) — A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Stadte-
grundung im uordamerikanischen Westcn. I. — Spiridion Gopeeviv: Streisznge in Portugal. V. (Schiusi.) —
Das Lamakloster Tsugolsk uud das Fest Churul zu Ehren Mayderi's. — Kurzere Mittheilungen: Begrnbnitzfeierlichkeiten
bei den Dajaks in Kutei. — Die Goldproduktion von Venezuela. — Aus allen Erdtheilen: Europa. Australien. —
Inselli des Stille» Occans. — Nordamerika. — Sudamerika. — Vermischtes. (Schlutz der Redaktion: 18. Januar
1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Braunschwcig.
%
8 Am*»**
Band XLVII.
%
J? 8.
Mit besonderer Herürbsrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
llimwsitathl
Fridi'r. <
iN'i-alm.
iArmiiii(4nin>trt Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QQP.
->Jlumi|U|IUtiy zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen. J.O0?J.
Brügge.
(Nach betn Französischen des M. Camille Lemonnier.)
III.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Brügge gleicht einem großen Museum, in welchem sich
die Kunstschätze von Jahrhunderten angesammelt haben.
Auf dieselben, namentlich die Gemälde alter Meister, eines
Memling und Johann van Eyck, wie sie sich in der Kapelle
zum heiligen Blute, im St. Johannes-Hospitale und dem
Mnseunr finden, einzugehen, ist hier nicht der Ort; aber
zwei Merkwürdigkeiten, welche zwei der eben erwähnten
Gebäude ans der Place du Bourg umschließen, seien er-
wähnt: der Religuienschrein des heiligen Blutes und der
Kamin im Franc de Bruges. Das eigentliche Kästchen,
welches den Tropfen vom Blute Christi birgt, ist nur ein
Theil des ganzen wunderbaren Kunstwerkes, das im Jahre
1616 von Johannes Erabbe aus den edelsten Metallen
und Steinen gefertigt wurde; werthvoller noch als die
Kameen, Edelsteine und Perlen aber ist die Goldschmiede-
arbeit. Ueber dem Kästchen, das auf einem mit Schilden
verzierten Untersatze ruht, tragen sechs zierliche Säulen
einen Architrav, den die feinsten Spitzen krönen, und von
welchem an Laubgewinden mächtige Perlen herabhängen;
auf demselben stehen drei Gehäuse, Laternen ähnlich, welche
kleine Statuen enthalten. Allsährlich wird diese Reliquie
in Procession durch die Stadt getragen, und zwar im
Monat Mai, und die Umzüge haben im Laufe der Jahr-
hunderte an Pracht und Glanz wenig verloren. Was in
dieser Hinsicht einst von den Zünften und Innungen, den
Grafen von Flandern und ihrem Gefolge geleistet wurde,
Globus XLVII. Nr. 8.
hat fetzt die Geistlichkeit selbst auf sich genommen, welche
an diesem Tage eine fast unglaubliche Menge von Kannen,
Kelchen, Ostensorien, Tabernakeln und mit Gold und Edel-
steinen verzierten Priestergewündern zur Schau stellt, die
zu der grauen Einförmigkeit unserer heutigen Sitten und
Trachten kaum paßt. An dem auf diesen „Umgang"
(Ommeganck) folgenden Freitage haben die Brügger Frauen
die Gewohnheit, entweder in ganzen Scharen oder einzeln
denselben Weg, wie die Procession, durch die Straßen
zurückzulegen, und das dauert zwei Stunden, sei es nun,
daß sie diese Zeit wirklich zu dem frommen Werke ver-
wenden, sei es, daß sie, wie böse Zungen behaupten, die
Freiheit dieses Tages zu verliebten Spaziergängen benutzen.
An demselben Freitage legt die Kapelle des heiligen Blutes
ihr Festgcwand an und die Reliquie wird ausgestellt; an-
dachtsvoll zieht eine gläubige Menge ununterbrochen an
derselben vorbei und berührt mit den Lippen das den Bluts-
tropfen einschließende Glas. Gleich darauf aber tritt das
alltägliche Leben wieder in alle seine Rechte: mit strahlen-
dem Antlitze, das die innere Befriedigung über die fromm
erfüllte Pflicht wiederspiegelt, erscheinen die Hausfrauen
an der Thüre der Kapelle wieder, um sofort mit ihrem
geräumigen Henkelkorbe, den sie auch beim Küssen der
Reliquie nicht vom Arm lassen, dem nahen Markte zuzu-
eilen.
So zierlich der Reliqnienkasten, so groß und gewaltig
15
114
Brügge.
ist der Kamin im Franc, ein Meisterwerk der Holzschneide-
kunst Lancclot Blondeel's. Die Mitte nimmt die beherr-
schende Figur Karl's des Fünften ein, der den Reichsapfel
in der einen, das Schwert in der anderen Hand hält und
es mit einer Würde schwingt, wie nur ein stolzer Tambour-
major der Jetztzeit sein Rohr. Diese Gestalt tritt so
mächtig hervor, daß die seitwärts zwischen Säulen, Amo-
retten, Laubkränzen und Wappenschildern angebrachten
Figuren vollständig dagegen zurückstehen müssen und, so
stolze Namen sie auch in der Geschichte tragen, dennoch als
untergeordnete Wesen gegenüber dem Hauptheros erscheinen.
Auf dem Thronsitze sind in Medaillons die Porträts Phi-
lipps des Schönen und der wahnsinnigen Johanna, an der
Reliquienschrein des heiligen Blutes in Brügge.
nicht buschiger und krauser sein, als diese wunderbare Zu-
sammenstellung von Ranken, Amoretten, Attributen, Fratzen,
heraldischen Thieren, Tritonen, Füllhörnern, Bändern, welche
im buntesten Wirrwarr die ganze eine Wand des Saales
erfüllen und sich langsam gegen die Decke hin verlieren.
Das Ganze ruht auf einem Getäfel von schwarzem Mar-
mor, der einen weißen Fries einrahmt, auf welchem in
flachem Relief die Geschichte von der keuschen Susanna
dargestellt ist. Darunter befindet sich der Herd, eingefaßt
von Säulenbündeln und mit einer schönen Platte, die das
Wappen Frankreichs trägt, geschmückt.
So wie einerseits der Burgplatz und die ihn einfassen-
den Gebäude das ganze Interesse des Besuchers auf sich
Lehne diejenigen Charles de Launoy und Margarethe's
von Oesterreich, auf den Pilastern zu beiden Seiten des
Thrones die Köpfe von Franz I. und Eleonore von Oester-
reich zu sehen; in ganzer Gestalt endlich stehen zu beiden
Seiten Ferdinand von Aragonien und Jsabella von Ka-
stilien, Maximilian und Maria von Burgund, alle den
Kopf nach dem Kaiser hinwendend und gleichsam bereit,
sich ihm als Gefolge anzuschließen. Als Symbole seiner
Größe aber ist überall eine Fülle von Wappen seiner
Besitzungen und seiner Alliirten angebracht; dieselben sind
in solcher Menge vorhanden, daß sie das Mittelstück der
Wand vollständig bedecken. Ein Weinstock mit all seinem
Durcheinander von Zweigen, Blättern und Trauben kann
Früherer Eingang des St. Johannes-Hospitals.
vereinigen und bei aller Verödung und Vereinsamung noch
heute das pulsirende Herz der Stadt zu bilden scheinen, so
verschwinden sie andererseits auch dem Wanderer nicht ans
den Augen und tauchen immer wieder vor ihm auf. Vom
Rosenkranzquai an, den die Reie bespült, bis an das Ende
des Quai Bert begleiten ihn alle die vielgestaltigen Einzel-
heiten jener Bauwerke. Zuerst sind es nur die prächtigen
Fanden des Franc, die man sieht; aber wenn man sich
weiter entfernt, so steigen über denselben Theile der anderen
Gebäude empor, zuerst ein Stück von dem Seitengiebel des
Rathhauses, dann die Krönung des gewaltigen Belfried
und immer zahlreichere Thürmchen und Spitzen, zuletzt das
Zifferblatt an dem Hallengebäude. Am Pont du Cheval
Brügge.
endlich, dessen massiver Bogen das Wasser in der Höhe des
Quai Bert überspannt und in eine entzückende enge Gasse
mit kleinen spitzdachigen Häusern führt, entrollt sich das
Panorama in seiner ganzen Ausdehnung, eine von den
Reisebüchern um die Wette gerühmte Aussicht auf ein Meer
von Dächern, Thürmen und Spitzen, die Thürmchen des
Der Quai Bert.
Rathhauses, die Giebel des Franc, die Galerien und Strebe-
pfeiler des Belfried und am Ende des Reielaufes der hohe
Zinnenthurm der Erlöserkirche (St. Salvator).
Nach dem Quai Bert, an welchem nur aus der einen
ursprüngliches Gepräge ohne sede Zuthat bewahrt haben.
Besonders ist dies an der Porte de Damme der Fall.
Aber wenn auch das Aeußere geblieben ist, so ist der In-
halt, das Leben, verschwunden. Dahin sind die reichen
Kaufleute, welche einst in diesen Häusern wohnten und von
Seite eine Straße entlang läuft, während gegenüber Gärten
und Hintergebäude an ihn stoßen, fließt der Kanal zwischen
zwei parallelen Reihen von launigen und muthwilligen
Fahnden ans dem 16. und 17. Jahrhundert hin, die ihr
der Laude ans das Entladcn der Schiffe übcrwachtcn, welche
vom Meere her langsam ans dem Kanale Zwijn („Schwein“,
franzosisch „la Suéne“) bis in die Stñdt gefñhren kamen.
Schon im Jahre 1410 wird geklagt, dah die Schiffahrt
zwischen dem Techasen Slnis (franzosisch FEcluse) und
Das Baptisterium der Liebfrauenkirche.
:t. Johannes - Hospital,
118
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Stüdtegründung im nordamerikanischen Westen.
der Stadt Brügge immer schwieriger werde; 60 Jahre
später konnten große Seeschiffe nur mit Gefahr und vieler
Mühe Brügge erreichen und mußten oft unterwegs einen
Theil ihrer Fracht an Leichterschiffe abgeben, und 1475
war der Hafen vom Sande fast ganz verschüttet. Heute
schwimmen auf den Kanälen nur noch leichte Nachen und
zahlreiche Schwäne, welche die Stadt angeblich auf ewige
Zeiten zu halten vernrtheilt wurde, zur Sühne für die
Hinrichtung des Pierre Lanchals gelegentlich ihres Auf-
standes gegen Maximilian von Oesterreich (1488).
So groß aber die Vereinsamung, so tief der Todesfchlaf
ist, in welchen die Kanäle versunken sind, so wird beides
doch noch an anderen Stellen übertroffen, z. B. in dem
dunkeln Winkel bei der Liebfrauenkirche. Dort erhebt sich
rechts eine große finstere Fahnde, die in . einen doppelten
Giebel ausläuft, und deren rechtwinklig ansetzender Seiten-
flügel den Kanal überbrückt, links verfallene Mauern, die
mit einem wahren Walde von Kamillen, Kletten, Levkosen
und anderen Pflanzen bedeckt find, und vorn die verwitterte,
von Nässe zerfressene und über und über mit Moos bedeckte
Masse von Notre-Dame mit ihren Schwibbogen und
Strebepfeilern. Das Schönste an dem Gotteshause ist die
Eingangshalle am Fuße des 120 in hohen gewaltigen roma-
nischen Thurmes, welche den Namen Baptisterimn trügt.
Dieselbe hat die Form eines großen Reliqnienschrcines, von
welchem nur drei Seiten sichtbar sind; oben wird sie durch
ein fein durchbrochenes Geländer mit aufgesetzten Spitz-
fäulen abgeschlossen, aus welchem das Dach mit seinem
doppelten Giebel aufsteigt. Zwei Thüren öffnen sich nach
dem Vorplatze zu und darüber zwischen den Nischen mit
Baldachinen und den Strebepfeilern zwei Fenster, die mit
einem dichten Netzwerke von Steinranken im Geschmacke
des raffinirtesten Flamboyantstiles überzogen sind — das
Ganze gleicht einer zweiten Kirche in Miniatur, die wie
zum Gegensatze gegen die strenge und ernste Kathedrale
neben dieselbe hingcbaut wurde.
Dicht neben diesem Baptisterium steht an einer Ver-
engerung der Straße ein verwitterter Giebel und innerhalb
desselben eine jetzt vermauerte Doppelthür (s. S. 114), noch
deutlich erkennbar an dem Mittelpfeiler und den beiden Sünl-
chen zur Seite. In den beiden Giebelfeldern unter den Spitz-
bogen haben sich zwei Hautreliefs erhalten, die in naiver
Weise den Tod und die Krönung Marias darstellen. Da-
neben führt ein breites, gewölbtes Thor in den theilweise
zum Garten umgewandelten Hof des über fünf Jahrhunderte
alten S t. I o h a n n e s - H o s p i t a l s. In seinem Inneren
enthält dasselbe unendliche Korridore, an welchen kleine
zellenähnliche Räume und größere Säle mit den Kranken-
betten liegen; durch dieselben gelangt man zuletzt in die
von massiven Pfeilern getragene Kapelle, einen friedlichen,
abgeschiedenen Raum, in welchen das Geräusch der Außen-
welt niemals hineindringt. Zu gewissen Tagesstunden
kommen Nonnen mit weißen Hauben hierher, um ihr Gebet
zu verrichten, und dann wird das tiefe Schweigen durch
das Gleiten ihrer Füße auf den Steinplatten unterbrochen,
aber nur auf kurze Zeit. Dann tritt die ursprüngliche
Stille wieder in ihr Recht.
Die lange Scitcnfaq.ade des Hospitals stößt an einen
Kanal und so herrscht auch dort die größte Ruhe; von dort
aus erblickt man am besten die hohen, theilweise zuge-
mauerten Spitzbogenfenster, das bunte phantastische Durch-
einander der vielgestaltigen kleinen Gebäude, Logen und Vor-
bauten, ihre ans- und einspringenden Winkel, die hohen
Kamine, spitzen Dächer u. s. w. Kein Ort ist mehr ge-
schaffen zur Träumerei und zum Ausruhen als dieser, und
so weiß auch die Tradition davon zn berichten, daß Mem-
ling im Jahre 1477 in diesem ehemaligen Kloster Zuflucht
suchte. Er kam in finsterer Nacht, verwundet, aus der
Schlacht von Nancy flüchtend, kaum im Stande, den Thür-
klopfer aufzuheben; und die guten Mönche pflegten ihn wie
ihr Kind. Er lernte damals den tiefen Frieden, den Trost
und die Ruhe kennen, und als feine Kräfte wiederkehrten,
fing er an zu malen, und zwar sollte sein Werk ein Denk-
mal seiner Dankbarkeit für die brüderliche Aufnahme, die
er gefunden, werden. In dem kleinen Gebäude am Ende
des Hofes befindet sich dasselbe, der Reliquienschrein der
heiligen Ursula, ein Wunderwerk an Anmuth, Gefühl und
Zartheit. Der Schrein selbst gleicht einem gothischen
Gebäude; an den Ecken vier Säulen mit Statuetten und
darüber ein leicht aufstrebendes Dach mit zierlichem Ge-
länder. Jede Längsseite ist in drei, durch kleine Säulen
von einander getrennte Felder getheilt, aus welchen der
Meister das Martyrium der heiligen Ursula und ihrer elf-
taufend Jungfrauen dargestellt hat. (Bekanntlich soll diese
britannische Königstochter mit ihren zahlreichen Gefähr-
tinnen bei Köln von den Hunnen umgebracht worden sein,
während es ziemlich wahrscheinlich ist, daß die ganze Legende
nur dem falschen Verständniß eines altrömischen Grab-
steines ihre Entstehung verdankt.) Ebenso zeigen die beiden
Giebclfeiten des Kästchens Malereien und auf jeder Seite
des Daches sind drei Medaillons angebracht. Außer
diesem Hauptwerke besitzt das Spital noch vier Gemälde
von seiner Hand, darunter zwei Flügelaltäre. Sonst
finden sich Werke von ihm, an denen trotz mancher Eckig-
keiten und Magerkeiten doch anmuthige Bewegung, zarter
Seelenausdruck, Sorgfalt in der Behandlung und vollendete
Farbengebung gerühmt wird, außer in Turin nur auf
deutschem Boden, in München, Lübeck und Danzig. Die
neuere Forschung hat jedoch die Tradition von feiner Auf-
nahme und Pflege im Kloster zerstört; man weiß jetzt, daß
er nie im Heere Karl's des Kühnen gedient und nie die
Schlacht von Nancy mitgekämpft hat, also auch niemals
verwundet und in hülfsbedürftigem Zustande im Kloster
aufgenommen worden ist.
Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Von A. Sartorius Freiherr» von Waltershanseu.
II.
Ein interessantes Beispiel von der Unstetigkeit des
volkswirthschaftlichen Lebens zeigt sich in dem raschen Ent-
stehen und Vergehen der Städte, in den riesenhaften Fort-
schritten der Entwickelung begünstigter Ortschaften und
Landstriche, und dem plötzlichen Stillstände, der dadurch
hervorgerufen wird, daß die natürlichen Hilfskräfte des
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen. 119
Landes zur Zeit erschöpft sind, oder daß eine konkurrirende
Macht dem Aufschwünge Halt gebieten konnte.
Eine charakteristische Folge dieser Vergänglichkeit ist der
allen Amerikanern eigene Lokalpatriotismus, welcher nicht
selten lächerliche und abgeschmackte Formen annimmt und
keineswegs mit der allgemeinen Vaterlandsliebe zu ver-
wechseln ist, die wir überall finden, wo nur das Sternen-
banner entfallet wird. Die Verehrung des eigenen Wohn-
ortes wird vor allem den Nachbarn gegenüber geltend
gemacht und findet gelegentlich in einer Selbstverhcrrlichung,
bei der vor pomphaften Lügen keineswegs zurückgeschreckt
wird, ihren Ausdruck. Die fortgesetzten Uebertreibungen
der Lokalpresse mögen vielleicht schließlich bei dem einen
oder dem anderen zu einer Selbsttäuschung führen, und so
das besonders stolze Gefühl, zu dieser oder zu jener Stadt
zu gehören, hervorrufen, bei den meisten aber wird man
eine wahre Empfindung nicht anzutreffen vermögen. Die
Vergötterung der heimischen Stadt entspringt vielmehr aus
der Furcht, daß die Vortheile, welche ihr Emporblühen
gefördert haben, verschwinden könnten, oder daß ein anderer
Ort so mächtig werde, daß er die eigene wirthschaftliche
Existenz bedrohe. Durch Reklame sucht man es zu errei-
chen, daß das Geschäft und der Zudrang von Einwanderern
ja nicht ins Stocken gerathe. Zu diesem Zwecke wird die
Bevölkerung und deren Zuwachs zu hoch angegeben, ebenso
die Zahl der Wohnhäuser, der Straßen, der Millionäre,
der eingelaufenen und abgefahrenen Schiffe und Bahnzüge,
der gelagerten und passirten Gütermassen, des geschlachteten
und konsumirten Viehes und dergleichen mehr. Merk-
würdigerweise heißt es auch wohl zugleich, daß Bauplätze
noch zu einem mäßigen Preise zu haben seien, und daß sich
gerade jetzt die beste Gelegenheit für verschiedene Geschäfts-
leute zur Etablirung darbiete, woraus dann der Eingeweihte
ersieht, daß man um den Zuwachs von Bevölkerung und
Reichthum doch nicht ganz ohne Sorge ist. Verdrießlich
kann cs werden, wenn jene schönen Schilderungen von der
„crescent city“ durch die Beamten der Bundesregierung
bei dem alle 10 Jahre stattfindenden Census rektificirt wer-
den- Es treten dann nüchterne Zahlen an die Stelle der
lieblichen Zukunftsbilder, wodurch bisweilen die Bevölkerung
erregt und allgemein die Behauptung gehört wird, daß jene
schlechten Censusleute im Solde der Konkurrenzstadt stünden.
Im Jahre 1880 kam es in St. Louis, der sich entthront
fürchtenden „Königin des Westens", in Folge eines solchen
Vorganges fast zu einem Aufruhr. Es hatte sich nämlich
herausgestellt, daß die Stadt etwa 100 000 Einwohner-
weniger zählte, als man der Rivalin Chicago gegenüber
immer „ofsicicll" erklärt hatte. Stürmische Meetings
wurden abgehalten, Straßenaufzüge in Scene gesetzt, und
die Losung des Tages war „ein neuer Census", den jedoch
die Bundesregierung selbstverständlich nicht bewilligen konnte.
Die Chicagoer hatten die Lacher aus ihrer Seite, zumal
da jetzt auch von ihnen die Fabel widerlegt werden konnte,
daß St. Louis der gesundeste Ort in den Vereinigten
Staaten sei. Die Todes- und Krankheitsfälle in der letz-
teren Stadt waren wöchentlich registrirt und auf die viel
zu groß angenommene Bevölkerungsziffer repartirt worden.
Dadurch erschienen jene Fülle im Vergleich zu anderen
Städten numerisch sehr gering und hatten zu der obigen
Behauptung die Veranlassung gegeben.
An der pacifischen Küste konnte San Francisco bisher
auf die kleinen Konkurrentinnen ohne Neid herabsehen,
und diese wagten es nicht, sich mit jener Handelsmetropole
zu vergleichen. Mit dem Bau der Nordpacificbahn ist es
aber anders geworden. Jetzt soll der Columbiastrom eine
größere Zukunft haben als der Sacramento, und Portland
und Astoria beanspruchen von nun an, die wahren Ver-
mittler der amerikanischen und asiatischen Kultur zu werden.
Im Süden möchte Galveston New Orleans gern den
Rang ablaufen. Um ihre Stadt zu heben, bauten die
Galvestoner ein enormes Hotel und statteten es mit Luxus
aus. Jeder wohlhabende Großkaufmann zeichnete Aktien
für den Bau des „Tremont-House". Da aber das Hotel
für den künftigen Verkehr berechnet war, konnte das Kapital
natürlich nicht rentiren. Die Gesellschaft machte Konkurs,
aber der Käufer, welcher die Masse billig erstand, machte
später Geschäfte. Die ursprünglichen Aktionäre sahen den
Laus der Dinge voraus; sic berechneten aber, daß ein gutes
Hotel, eine Seltenheit im Süden, welche nicht einmal New
Orleans aufweisen konnte — denn das dortige mit Säulen
umgebene St. Charles-Hotel hat seinen Glanz mit dem der
Sklavcnbarone verloren —, viele Fremde herbeiziehen
würde, und daß damit das Renommee der Stadt steigen
müßte, wodurch mehr Einwanderer und Kapitalisten her-
beiströmen würden. Die Begründer des Tremont-House
glaubten bei ihrer Spekulation Rechnung zu finden und
zugleich dem Lokalpatriotismus zu schmeicheln. Die Er-
fahrung hat sie in beiden Füllen nicht getäuscht.
Je größer eine Stadt ist, um so weniger Gefahr ist
vorhanden, daß sic wieder verschwinde, aber völlig aus-
geschlossen ist diese Befürchtung wohl nur bei den durch
ihre Lage begünstigten Handels- und Jndustriemetropolcn.
Bergwerksstädte sind besonderen Gefahren ausgesetzt. Im
Jahre 1876 zählte man in Virginia City (Nevada)
35 000 Einwohner und heute ist kaum noch ein Siebentel
davon vorhanden. Die Stadt verdankt ihre Berühmtheit
dem sie umgebenden Mineralrcichthume, namentlich dem
Comstockgang, dessen Ergiebigkeit an Silber so bedeutend
war, daß in dem oben genannten Jahre drei Viertel der
gesammten Silberproduktion der Vereinigten Staaten allein
aus den Staat Nevada gerechnet wurden. Damals fand
man in Virginia Privatwohnungen, deren Ban und Ein-
richtung 100 000 Dollars gekostet hatte. Es gab Kaufleute
dort, deren Geschäftskapital eine Million betrug. Zu den
Poch- und Stampfwerken sollen ähnliche Summen veraus-
gabt worden sein. Ein Hotel wurde mit einem Aufwande
von 300 000 Dollars hergestellt, und täglich wurden fünf
Zeitungen herausgegeben. Unter den Bewohnern der Stadt,
heißt es, seien 20 Millionäre gewesen, Mackay, Fair und
andere „Bonanzakönige" lebten dort. 1881 hatte Virginia
City schon viel von ihrem Glanze eingebüßt. Nur ein Pro-
zent der Bergwerke warf eine reiche Dividende ab; aber
viele Minen wurden der großartigen Anlagen wegen, zu
denen der über 5 km lange Sntrotunnel, ein Wunderwerk
amerikanischer Jngenienrkunst, gehörte, noch fortbetrieben.
Auch das mußte nach und nach aufhören und in den letzten
Jahren waren die meisten Aktien, welche in der Zeit des
„silver excitement“ mit 100 Dollars eingezahlt waren,
an der Börse zu San Francisco für 50 Cents zu kaufen.
Die heutige Bevölkerung ist auf 5000 zusammengeschmol-
zen, die reichen Leute sind fortgezogen, ihre Paläste stehen
leer, dienen als Kosthäuser oder werden auf Abbruch ver-
kauft. Die großen Lüden sind geschlossen, die Gasgescll-
schaft und die Zeitungen sind bankerott, und das Grund-
eigenthum ist ganz unverkäuflich. Landstreicher machen die
Gegend unsicher, und Arbeit erhält den geringsten Lohn,
während bei der früheren enormen Nachfrage nach Arbeits-
kräften die dortige miners union cs verstanden hatte, für
eine zehnstündige Arbeit eine Bezahlung von 5 Dollars
dauernd zu erzwingen.
Wer die Sierra Nevada oder das Felsengebirge durch-
reist, wird oft genug solche absterbende Ortschaften, söge-
120 A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Stadtegründung im nordamerikanischen Westen.
nannte jugendliche Städtegreise antreffen, aber auch der
Süden ist reich an Ruinen, und die Oelgebiete der Alle-
ghanies weisen das Gleiche auf. Im allgemeinen zeigt frei-
lich der Osten stabilere Verhältnisse, aber er ist doch noch
weit davon entfernt, sich der europäischen Ruhe und Gemüth-
lichkeit rühmen zu können.
Denn die Wanderung vom Atlantischen zum Stillen
Meere erstreckt sich keineswegs auf die überseeischen Ein-
wanderer allein, sondern es findet auch innerhalb des an-
gesessenen amerikanischen Volkes ein fortwährendes Fluthen
vom Osten nach dem Westen statt. Die Landspekulanten,
welche fast immer echte Yankees sind, führen die Spitze der
rastlos weiterdringenden Kulturpioniere, bald zum Unglück,
bald zum Segen dieser, fe nachdem sich das Neuland zu
wirthschaftlicher Unternehmung eignet oder nicht, sicherlich
aber nicht zum Nachtheil der eigenen Börse. Der Acker-
bau von Illinois, Ohio, Indiana, Iowa und Dakota hat
den der östlichen Staaten durch die Konkurrenz bedeutend
verringert. Dort stehen viele Farmen leer und sind zu
einem billigen Preise zu erwerben, andere sind zusammen-
gelegt und dienen zur Weidewirthschaft, nur ein geringer
Theil des Landes hat sich zu Obstfarmcn umgebildet oder
producirt für die nahen großen Städte Milch, Butter, Käse
und Gemüse. Viele Farmerfamilien sind fortgezogen und
haben im Westen von neuem mit dem Ackerbau angefangen.
Der Cenfusbericht von 1880 zeigt, wie alle vorhergehenden,
daß sich der Schwerpunkt der Bevölkerung von Osten nach
Westen bewegt hat. Er liegt danach 1880 in der Nähe
der Stadt Cincinnati, während er 1870 bei Chillicothe
(Ohio), 1850 einige Meilen südlich von Parkersburg (West
Virginia), 1820 bei Moorefield (W. Virginia) und 1790
Baltimore bei und zwar aus der Ostseite der Chcsapeake-
Bai zu finden war. Sämmtliche Orte liegen nahe dem
39. Breitengrade. Die Bewegung von Osten nach Westen
zeigt sich auch in den am Atlantischen Ocean gelegenen
Städten, z. B. in New Port, Philadelphia und Baltimore.
Sie dehnen sich nach Westen aus und gleichzeitig rücken die
feinen Stadtqnartiere westwärts. Am Hafen bleiben die
Comptoirs, die Speicher, die Börsen und immer größer
wird der Komplex dieser Häusergruppen. Mit seiner
Familie mag der wohlhabende Amerikaner dort nicht woh-
nen, er baut sich in dem zur Zeit modernen, ruhigen west-
lichen Stadttheil an, wo er so lange bleibt, bis ihn der
Lärm des Tages noch weiter nach Westen verscheucht. Die
von Norden nach Süden führenden Straßen der Stadt
New Port werden, mit einigen Ausnahmen in dem ältesten
Stadttheile, mit fortlaufenden Zahlen benannt, die höher
werden, je weiter westlich sie liegen. Während 1874 bei
der 13. Straße das fashionable Quartier zu finden war,
gilt heute die 57. als die vornehmste, in welcher z. B. der
junge Vanderbilt sein Palais gebaut hat, der Sohn des
Mannes, der so reich ist, daß man von ihm sagt, er könne
nicht schlafen, weil er nicht wüßte, wo er seine neu ein-
gekommenen Millionen anlegen solle.
Westlich vom Mississippi giebt cs auch schon große und
der Zukunft sichere Städte, aber abgesehen von dem, ist das
Land sehr dünn bevölkert, die Eisenbahnnetze find noch nicht
ausgebaut und daher wird gewissermaßen oft erst auspro-
birt, welche Orte sich besonders zu Verkehrsmittelpunkten
eignen. So kann man sich nicht wundern, daß Städte
bisweilen zum Wandern und Umziehen eingerich-
tet werden. Dergleichen mußte man neuerdings z.B. an
Portland und Mayville in Trail County (Dakota) erleben.
Sie hatten schon einige Zeit bestanden, als zum County-
sitz ein in der Mitte des County gelegener auch erst kürz-
lich entstandener Platz, dem man den Namen „Trail Cen-
ter" gab, auserlesen wurde. Die Bewohner jener beiden
Städtchen machten sich nun flugs daran, ihre Wohnungen
dorthin „zu mufen", wie der Deutsch - Amerikaner zu sagen
pflegt, so daß von den beiden Orten nicht einmal der Name
der Nachwelt erhalten bleiben wird. Die beweglichen Holz-
häuser sind schon seit langer Zeit eine Specialität der
amerikanischen Industrie. Reiseberichte aus den dreißiger
Jahren erwähnen dieselben schon als ein Kuriosum. Das-
selbe erklärt sich theilweise aus der eben erwähnten That-
sache der wandernden Städte, mehr aber noch aus einem
anderen Symptome der volkswirthschaftlichen Unstetigkeit,
dem Hin- und Herschwanken der Preise des städtischen
Grundeigentums. Sind dieselben vermöge der Specu-
lation Hochgetrieben, so scheut man sich, Boden zu erwerben
und zieht es vor, ihn zu mieten. Dem Eigenthümer kann
dies auch um die Nutzung seines Kapitals nicht zu ver-
lieren recht sein, wenn er zugleich in der Verfügung dar-
über nicht zu sehr beschränkt ist. Diesem Bedürfniß kom-
men die beweglichen Häuser entgegen. Soll der Bauplatz
für ein massives Gebäude verwandt werden, so wird das
bisherige Mietverhältniß gelöst und das Holzhaus „zieht
aus". Für 20 bis 25 Dollars wird der Transport eines
zweistöckigen Hauses auf die Entfernung von 500 Schritt
besorgt. Wer heutzutage in Amerika reist, kann gelegent-
lich auch steinerne Häuser aus der Wanderung antreffen.
Wenn diese auch nur 50 bis 60 Schritt marschiren, so
wird man doch die enorme Verwendung technischer Hilfs-
mittel bewundern, welche dies möglich gemacht haben. Dies
Vorrücken der Steinhäuser hängt damit zusammen, daß die
Städte ihre Straßen und ihr Gebiet nicht immer von vorn-
herein ganz genau fixirt haben. So wird es nöthig, daß
die Straßenfront etwas verlegt wird, daß öffentliche Plätze
und Promenaden erweitert werden, daß die Straßenbahnen
einen bequemen Schienenweg aufsuchen und dergleichen mehr.
Für das heutige Entstehen der Städte im Westen kom-
men zwei bezeichnende Momente in Betracht, erstens, daß
dasselbe fast durchweg auf eine bestimmte Absicht hin er-
folgt, und zweitens, daß diese Absicht von der Privatspeku-
lation ausgeht. Die Ortschaften bilden sich mithin nicht,
man möchte sagen zufällig, so daß sich eine Ansiedelung an
die andere reiht und dann, nachdem eine Anzahl Häuser
zusammengekommen ist, ein planvolles Weiterbauen nöthig
wird, sondern es wird von vornherein ausgemacht, daß an
diesem oder jenem Orte eine Stadt gegründet werden soll,
wozu ein Plan entworfen wird, welcher für eine lange Reihe
von Jahren ausreichend ist. Da ein Entwurf wie der
andere ist, weil er sich nach einer Normalschablone richtet,
so findet die langweilige Gleichheit der äußeren Physiogno-
mie der amerikanischen Städte darin theilweise eine Er-
klärung. Ans die Anlage sind die langen, breiten, in glei-
chem Abstand parallel laufenden Straßen, welche rechtwinkelig
von eben solchen geschnitten werden, zurückzuführen, ferner
die selten fehlende Broad Street, d. h. die breite Haupt-
geschäftsstraße in der Mitte der Stadt und die viereckigen oft
quadratischen, mit Bäumen gleichmäßig bepflanzten Plätze.
Die Aehnlichkeit der nordamerikanischen Städte hat aber,
beiläufig bemerkt, noch andere Ursachen. Dahin ist der
Umstand zu rechnen, daß gegenwärtig noch in allen Thei-
len der Union die Bevölkerung einen numerisch starken
Mittelstand mit ziemlich gleichem Einkommen enthält. Er
setzt sich aus Arbeitern zusammen, welche vermöge der hohen
Löhne kleine Kapitalisten und Grundeigenthümer geworden
sind. Alle diese Leute streben danach, ein eigenes Haus zu
besitzen. Da nun aber der Boden für sie nur in der
jeweiligen Stadtperiphcrie pekuniär erschwingbar ist, so sind
die Städte mit einem breiten Kranze von kleinen ein- oder
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen:
zweistöckigen Holz- oder Backsteinhäusern umgeben, von
denen die meisten nur durch die Hausnummer zn unter-
scheiden sind. Denn — und damit berühren wir einen
weiteren Grund der Stadtunisormität — ganze Stadt-
guartiere werden von derselben Spekulationsgesellschaft oder
Baugenossenschaft hergestellt und zwar so schnell, daß die
Architekten und Unternehmer gar keine Zeit haben, über
die ästhetische Individualität des einzelnen Gebäudes nach-
zudenken. Ein anderes nicht zu vergessendes Moment ist
die große Achnlichkeit der landschaftlichen Lage. In dem
weiten Becken zwischen den Allcghanies und dem Felsengebirge
ist eine natürliche Nothwendigkeit dafür vorhanden, aber
auch sonst, wo man die Wahl hatte, wurde aus Verkehrs-
rücksichten bei der Stadtanlage das ebene dem koupirten
Terrain vorgezogen. In demselben Maße wie die ameri-
kanische Stadt den Ansprüchen des Schönheitssinnes nicht
entspricht, genügt sie den Anforderungen der ökonomischen
Zweckmäßigkeit. Nirgends findet man sich so leicht zurecht
wie dort, nirgends lassen sich Straßenbahnen so einheitlich
und billig anlegen und verwalten, nirgends die Häuser so
gut mit Gas- und Wasserleitungen versorgen.
Die Privatspekulation der Städtegründung erfolgt ent-
weder auf dem Privatbesitze des Unternehmers oder auf
öffentlichem Lande. Im ersteren Falle muß jeder Ankömm-
ling, der Lust hat, sich an dem neuen Orte niederzulassen,
die Bauplätze mit dem Preise bezahlen, den der Gründer
verlangt. Für den zweiten Fall besteht die gesetzliche
Bestimmung, daß der Stadtgründer seinen Plan nach
Washington zur Prüfung und Genehmigung einzusenden
hat. Das General-Landamt bestimmt nun einen Termin
zum Verkauf der Baustellen an den Meistbietenden unter
Zugrundelegung eines Minimalpreises von 10 Dollars für
ein Bauloos. Da bereits ansässige Personen ein Vorkaufs-
recht haben, und etwaige Ansprüche auf Grundlage des
Heimstättcgesetzcs nicht berührt werden, so ist ersichtlich,
wie die Unternehmer auch bei dieser Art der Städteanlage
ein gutes Geschäft machen können *).
Die Hauptsache für den Spekulanten ist, die Landpreisc
in die Höhe zn bringen. Die Presse und die Agenten wer-
den in Bewegung gesetzt, um die öffentliche Meinung zu
bearbeiten. Die Erwerbsaussichten werden als die glän-
zendsten geschildert. Der Unerfahrene möchte glauben, daß
Millionen ohne Arbeit zu gewinnen seien. Steigen die
Bodenpreise, und wird dem wanderlustigen Publikum das
Vorhandensein der Reichthümer glaubhaft gemacht, so kommt
der neue Ort in das Stadium seiner Booniperiode. Unter
dem Worte „Boom", welches ursprünglich das plötzliche
Steigen eines Flusses bedeutet, versteht man im übertrage-
nen Sinne eine plötzlich sich verbreitende Modewuth. Die-
selbe zeigt sich in den verschiedensten Formen. Gewisse
Aktien z. B. werden von allen Seiten auf der Börse ver-
langt. Vor ein paar Jahren mußte einmal jeder eine
blaue Brille tragen, dann kam der Ulsterboom, d. h. jeder
der cs irgend erschwingen konnte, schasste sich einen bis auf
die Füße reichenden Ueberzieher an, 1881 spielte der
„Duster", d. h. der Staubmantel bei allen Reisenden dieselbe
Rolle. Auch der politische Kandidat hat bisweilen seinen
Boom. Ein auf die Städtegründung bezüglicher, bei dem
der Schwindel den Hauptaulheil gehabt hat, spielte sich kürz-
lich in dem westlichen Missouri im Bates County, 13 Mei-
len nordwestlich von Rich Hill unter dem Namen von
Walnut-City-Boom ab. Die in St. Louis erscheinende
U Vergl. im Jahrbuch für Gesetzgebung und Verwaltung
1884, II, den Aussatz von M. Gering, woselbst die gesetzlichen
Bestimmungen näher angegeben sind.
Globus XLVII. Nr. 8.
: Städtegründung im nordamerikanischen Westen. 121
Zeitung „Amerika" erzählt darüber folgendes: „In der
Umgegend der kaum entstandenen Walnut-City waren an-
geblich äußerst reiche Kohlenadcrn entdeckt worden; ebenso
sollte man Kohlenöl und natürliches Gas gefunden haben,
womit man die neue Stadt beleuchten wollte. Auch sollten
zwei Eisenbahnen zusammentreffen. Kein Wunder also,
daß im Bates und den umliegenden Counties die Leute
halb toll wurden. Ein jeder wollte in Walnut-City Ban-
plätze kaufen, die ja binnen kurzem so steigen würden, daß
sie den Besitzer zum reichen Manne machten. In den
Zeitungen wurden Artikel veröffentlicht, wonach täglich in
Walnut-City für mehr als 20 000 Dollars Bauplätze
verkauft würden; 3000 bis 5000 Leute seien anwesend,
welche dieselben zu beinahe irgend einem Preise kaufen woll-
ten, kurzum, sie würden schneller verkauft, als dieVerkanfs-
bricfe geschrieben werden könnten. Der „Boom" wurde
durch einen Herrn Thomas M. Nichol von New Port er-
öffnet. Es hieß, er vertrete ein Syndikat östlicher Kapi-
talisten. Es wurde jetzt mit den Erdarbeitcn an der Eisen-
bahn, welche den Namen Fort Scott, St. Louis- und
Chicagobahn führte, begonnen. Richter Waters von Fort
Scott war Präsident, und die Bahn sollte von Fort Scott
in Kansas aus nach einem Punkte an der Chicago - und
Altonbahn in Missouri führen. Herr Nichol kaufte
480 Acres Land zu 20 bis 35 Dollars den Acre,
legte die Stadt Walnut-City in Bauplätze aus, und es
wurden für mehr als 150 000 Dollars Bauplätze verkauft.
Zu der Zeit erschien in der „Rich Hill Mining Review"
ein längerer Artikel, welcher die ganze Walnnt-City-Unter-
nehmung als einen Schwindel und Nichol als einen Betrü-
ger bezeichnete. Nichol verklagte hierauf Thomas Irish,
den Herausgeber der Zeitung, auf Schadenersatz wegen Ver-
leumdung. Nichol war inzwischen in Columbus in Ohio
und wohnte einer Versammlung des Syndikats bei, wozu
auch Gouverneur Fostcr von Ohio gehört. Nach Walnut
getraut er sich nicht mehr. Die Arbeiter und Kontraktoren,
welche an der Bahn zwischen Butler und Walnnt gear-
beitet haben, sind seit einem Monat nicht bezahlt
worden."
Boden zum Ackerbau ist in der Nähe einer solchen Ncu-
schöpfnng nur sehr schwer zu erlangen. Wer Landwirth-
schast betreiben will, muß ein paar Stunden weit in die
Umgegend hinausziehen. Denn statt zu Gunsten der Kolo-
nisten den Anbau von den Grenzen der abgesteckten Stadt
aus allmülig in die Runde zu gestatten, läßt der Spekulant
das Land in der Nähe der Stadt wüst im Urzustände liegen,
bis die für städtisches Eigenthum üblichen hohen Preise da-
für entrichtet werden. Oesters hat man es daher beobach-
ten können, daß schon gut bevölkerte Orte, zu denen Stra-
ßen und Eisenbahnen führen, nlit einem Waldgürtel umgeben
sind, der bis an die Wohnungen der Städter heranreicht
und durch Waldbrändc ihnen Gefahr droht, während erst
in der Entfernung von einigen Meilen die Farmen be-
ginnen und sich dann über weite Strecken hin aus-
dehnen.
Hat die Stadtanlage eine wahrhafte, wirthschaftliche
Bedeutung, so beginnt, nachdem das vermessene Grundeigen-
thum zum Theil verkauft ist, der Hausbau. Steinhäuser
sind anfangs selten. Ist Holz in der Nähe, so werden
große Zimmerplätze eingerichtet, und Tag für Tag kommen
einige neue Wohnungen zum Vorschein. Fehlt es an Holz,
wie durchweg in der Prärie, so werden ans der Eisenbahn
die Gebäude aus der nächsten großen Stadt herbeigeschafft.
Sie werden dort in den einzelnen Stücken fix und fertig
gemacht, Balken, Thüren, Fenster, Fußboden, alles paßt
genau an einander und braucht nur an bcnt Bestimmungs-
16
122 A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
orte zusammengesetzt zu werden *). Zuerst entstehen Logir-
häuser, Kramladen und Trinkbuden, damit die slottirende
Arbeiterbevölkerung, welche, wenn der Boom stark genug
ist, in wenigen Tagen leicht aus einige tausend Mann an-
wächst, Unterkommen und Unterhalt findet. Ein Theil der
Ankömmlinge Hilst am Ausbau der Stadt, der größere macht
sich an die Besitzergreisung oder Ausbeutung des angeprie-
senen natürlichen Reichthums, mag derselbe nun in Kohlen,
Silber, Gold, Kupfer oder Petroleum bestehen. Mit wel-
cher Hast man vorgeht, läßt sich z. B. aus der Gründungs-
geschichte des Städtchens Kingston im County Grant
(Neu-Mexiko) ersehen, welches im Herbst 1882 aus dem
Boden hervorschoß und nach sechs Wochen schon 1200 Ein-
wohner zählte. Das „Colorado Journal" schreibt darüber:
„Der Platz verdankt sein Entstehen und seinen überaus
raschen Aufschwung der Entdeckung der reichen Erzlager im
Bezirke der Perche Minen. Kingston liegt etwa 50 Mei-
len von Nutt-Station entfernt. Von dem Tage an, als
sich die Kunde von den reichen Minen verbreitete, begann
eine förmliche Völkerwanderung dorthin. Die Zahl der
Omnibusse wuchs mit federn Tage und ebenso die der Privat-
suhrwerkc und der Frachtwagen. Zuweilen befanden sich
mehr als 100 Fuhrwerke zwischen Nutt-Station und King-
ston. Hütten und Häuser von jeglicher Größe und Form
stehen unter den Waldbäumen. Man hatte kaum Zeit zum
Bauen. Tag und Nacht wurde gezimmert. Wer kam,
suchte ein provisorisches Unterkommen und eilte in die Berge,
um einen „Claim" zu finden und abzustecken. Jeder Tag
brachte neue Wunder, neue reiche Entdeckungen. Die Auf-
regung überstieg alle Grenzen. Man konnte kaum soviel
Material zum Bauen, so viele Lebensmittel und Getränke
herbeischaffen, als verlangt wurden. Die aufs dürftigste
gebauten und ausgestatteten „Gasthäuser" konnten nicht
genug Raum schaffen. Hunderte von Menschen schliefen
in ihren Decken unter freiem Himmel. Die Kaufmanns-
güter wurden aus den Kisten verkauft und brachten den
Händlern riesige Gewinne. Mahlzeiten wurden für 50 Cents
verabreicht, „Drinks" und Cigarren kosteten „2 Bits"
(= 25 Cents). So ist es noch heute. Jetzt ist alles im
Ueberfluß vorhanden. Die älteste Geschäftsfirma Kingstons
erbaute ein großes Haus von gebranntem Lehm und er-
handelte in sechs Wochen ein kleines Vermögen. Das
Klima in Kingston kommt den Ankömmlingen außerordent-
lich zu statten. Es ist am Tage angenehm warm und die
Nächte sind kühl. Der Platz hat gutes Wasser und Holz
zum Bauen und Brennen im Ueberfluß.
Vor sechs Wochen hausten da noch die Apachesindianer,
und die wilden Truthühner in den Wäldern lebten un-
gestört. Wie die Stadt Kingston nach sechs Wochen oder
gar sechs Monaten aussehen wird, das ist schwer zu sagen.
Die Völkerwanderung dauert noch ununterbrochen fort, wie
lange, das hängt von dem weiteren Erfolge der Minen ab.
Man nennt Kingston das zweite „Leadville". Ob es das
werden wird, darüber läßt sich erst nach ein Paar Jahren
reden."
Alles muß in fliegender Eile gehen, sonst ist der Ameri-
kaner nicht zufrieden. Daher hat man auch wenig Zeit,
über einen passenden Namen für die neue Ansiedelung
nachzudenken. So kommt es, daß immer dieselben Orts-
namen wiederkehren, was den Postverkehr erheblich erschwert
und zu vielen Verwechselungen die Veranlassung gegeben
hat. Es sind z. B. über 150 Washingtons vorhanden,
auch Jeffersons, Hamiltons, Jacksons, Madisons giebt es
ft Nach Südamerika werden gegenwärtig fertige nord-
amerikanische Häuser exportirt.
in erheblicher Menge, sie stufen sich numerisch nach der
Berühmtheit des ursprünglichen Namenträgers ab. Es
existiren 37 Miltons, dazu 3 Miltonsville und 1 Milton-
burg. Sehr bequem ist es, den neuen Ort nach dem
natürlichen, wirthschastlich ausnutzbaren Reichthume zu be-
nennen, welcher die Veranlassung der Ortsgründung ge-
wesen ist. So zeigt die Karte der Bergbauregionen z. B.:
Jrondale, Jronpoint, Mineralpoint, Carbon, Coalfields,
Oil City, Leadville, Argenta, Silvermines, Silverton,
Silvercliff, Silver Creek, Silver City, Golden, Golden
City, Golden Gate. Ebenso häufig geben die Namen
naher Quellen den Namen für die Ortschaften her. Colo-
rado Springs, Hot Springs sind die bekanntesten. Andere
sind z. B. Sulphur, Naphta, White Sulphur, Silver,
Soda , Blue, Warm, Mineral, Boiling, Bubbling, Big,
Mill, Eureka, Eagle, Rattlesnake, Summit, Willow,
Morison, Mason, Baxter Springs. Auch abgesehen von
den Schätzen des Bodens verleugnen viele Ortsnamen
ihren wirthschaftlichen Entstehungsgrund nicht. Man denke
z. B. an Lumber City, Laurel Grove, Orange, Rice,
Wheatland, Cotton Plant, Cottonwood und Jndustry.
Häufig tritt auch die Eisenbahn als namengebend auf.
Daher kommen die Bezeichnungen wie Junction City, la
Junta, und die Zusätze mit -bridgc, -ferry und -crossing.
Für den Städtebau ist das Eisenbahnwesen überhaupt
von hervorragender Bedeutung gewesen. „Die Eisen-
bahnen sind die Adern des Verkehrslebens, sie sind die
Pioniere in der Wildniß, die Erzeuger der westlichen Civili-
sation", das sind Worte, die jeder, der die Vereinigten
Staaten durchreist, mehr als einmal zu hören bekommt.
Auf nichts ist der Amerikaner so stolz, als auf die eisernen
Straßen, die den weiten Kontinent jetzt nach allen Rich-
tungen hin durchziehen, deren Fortschritten nicht die großen
Sümpfe Floridas, nicht die schneebedeckten Rocky Moun-
tains, nicht die Felsenmassen der Sierra Nevada noch die
Wüsten Arizonas und Süd - Kaliforniens Halt gebieten
konnten. Wer unbefangen an das nordamerikanische Kultur-
leben herantritt, wird auch gerne zugeben, daß der Unter-
nehmungsgeist und die Energie bei dem Bau der Bahnen
ihr Bestes geleistet haben. Manche Erleichterungen, die
man nicht unterschätzen soll, sind den Unternehmern zu
Hilfe gekommen, wie das Angebot des europäischen Kapitals,
die Unterstützung der Bundesregierung und der einzelnen
Staaten, die starke Einwanderung tüchtig geschulter Juge-
nieure, die Billigkeit des Bauholzes und der Steine. Man
darf jedoch nicht vergessen, daß für die Technik Hindernisse
zu überwinden waren, zu deren Beseitigung man keine
Erfahrung hatte, und daß diejenigen Leute, welche für das
Werk wirthschastlich verantwortlich waren, Gefahren ent-
gegengingen, zu deren Bekämpfung viel Muth und rast-
loses Streben gehörte.
Oekonomische Anschauungen des praktischen Lebens ver-
dichten sich um so leichter zu Theorien, in je weiteren
Kreisen sie als zutreffend erachtet werden, und jeder wirth-
schaftliche Satz steht, so lange er einseitig gefaßt ist, im
engen Zusammenhange mit dem Boden, auf dem er er-
wachsen ist. Dies gilt auch von dem Eisenbahnwesen.
Fragt man einen Deutschen, welchem Zweck eine Eisen-
bahn von Berlin nach Hamburg diene, so wird er ant-
worten, um den Verkehr zwischen den beiden Städten zu
erleichtern und zu heben. Erkundigt man sich bei einem
Amerikaner nach der Nützlichkeit der von Duluth nach
Portland führenden Nordpacificbahn, so wird man sicher-
lich hören, daß sie die Weizenfelder Dakotas und die Berg-
werke Montanas erschließen, daß sie Ortschaften und Städte
gründen soll. Aus beiden Antworten läßt sich derselbe
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen:
Gedanke abstrahiren, welcher in seiner Zweiseitigkeit der
Wirkung aller Verkehrsmittel zu Grunde liegt, daß durch
diese die Transportkosten ermäßigt und infolge dessen neue
produktive Kräfte entstehen werden. Im ersteren Punkte
werden aber die Verkehrspunkte als vorhanden voraus-
gesetzt und durch die gegenseitige ökonomische Beeinflussung
sollen beide erstarken und sich erweitern, im zweiten da-
gegen sollen sich die Centren des Verkehrs erst bilden, und
die Produktionsstätten dort werden, wo überhaupt noch kein
wirthschaftliches Leben ist. In der älteren Nationalökono-
mie hatte man die Verkehr schaffende Bedeutung der Trans-
portmittel übersehen und nur an die Kostenersparung ge-
dacht, aber seit den grundlegenden Arbeiten Friedrich List's
hat sich die neue Anschauung Bahn gebrochen und in
weiteren Kreisen behauptet. Die heutige amerikanische
Publicistik, welche von Carey's ähnlicher Lehre der Trans-
portmittel beeinflußt ist, übersieht den Fortschritt unseres
Wissens und glaubt, wir wären nicht weiter gekommen als
damals die Gegner des Baues der Leipzig - Dresdener
Eisenbahn waren, denen List beweisen mußte, daß sich bei
der Gründung einer Bahn nicht auf Heller und Pfennig
die Rentabilität voraus berechnen lasse, weil es verkehrt
sei, den im Zeitpunkte des Bahnbaues auf der Landstraße
vorhandenen Verkehr als den der Zukunft vorauszusetzen.
In den Vereinigten Staaten gehört es zu den charakte-
ristischen Eigenschaften der Bahnen, daß sie so oft den
Weg anzeigen, wo die Ortschaften durch die Privatspekula-
tion entstehen. Betrachtet man die verschiedenen Pacific-
bahnlinien ans der Karte, so sieht man an ihnen nördlich
und südlich eine Ansiedelung neben der anderen, bald
größere, bald kleinere Orte. Je weiter man von dem
Schienenstrang abgeht, um so seltener werden die Namen,
man findet höchstens einige militärische Stationen oder
Lagerplätze der Bergleute und Jäger, welche in der Zeit,
als die Karte aufgenommen wurde, bestanden, aber jetzt
vielleicht längst verfallen sind.
Die Landstraßen haben im Vergleich zu den Eisen-
bahnen für neue Ansiedelungen wenig Werth gehabt. Sie
sind weder zahlreich noch gut. Im Osten sind sie dort
erträglich, wo sie aus der Zeit vor der Eisenbahngründung
stammen, in den Präriestaatcn dagegen sind sie durchweg
der erbärmlichsten Art und nur bei trockener Witterung
brauchbar. Bei Regenwetter verwandeln sie sich in Sümpfe,
in welchen Wagen und Pferde versinken. Im Winter sind
sie nur im festgefrorenen Zustande befahrbar, dann aber
entsetzlich holperig. Daher ist oft wochenlang der Verkehr
auf ihnen ausgeschlossen, und an ihnen sich niederzulassen,
wird der Farmer sich erst dann entschließen, wenn an der
Seite der Bahn kein Grund und Boden mehr zu kaufen
oder durch das Buudcsheimstättcgcsctz aufzunehmen ist. Die
Bahngesellschaftcn, deren Linien das anbaufähige Terrain
durchziehen, gewähren alle möglichen Erleichterungen jedem,
der ernstlich daran denkt, sich an ihren Linien ein Heim zu
gründen. Sie gewähren freie Fahrt zum Aussuchen eines
passenden Platzes. Sie liefern nach billigen Tarifen alle
Materialien, welche zum Hausbau und zur Urbarmachung
des Landes erforderlich sind. Haben sie Holz in der Nähe
der neuen Farm, so geben sie zum Bauen und Brennen
unentgeltlich davon ab. Ebenso wird den Farmern durch
die Anlage von vielen Stationen, an denen zwar die Züge
nur in der Erntezeit halten, die aber den Absatz der land-
wirthschaftlichen Produkte wesentlich erleichtern, entgegen-
gekommen. Man sucht zunächst den Ansiedler flott zu
machen, damit die Bahn recht viel zu transportiren hat.
Ist daun der Verkehr im Gange, so zeigen freilich die
Bahngesellschaftcn bald ein anderes Gesicht; es kommen die
Städtegründung im nordamerikanischen Westen. 123
hohen Tarife, durch welche die Farmer den größten Theil
ihrer mühevollen Arbeit abzugeben gezwungen sind, oder
die Bahn setzt als Käufer einen Preis für die Produkte
fest, den der Ackerbauer annehmen muß, weil er keine Wahl
hat, wenn er seine Erzeugnisse überhaupt verkaufen will.
An welcher Stelle größere Ortschaften an der Linie
entstehen sollen, hängt meist von den Bestimmungen der
Bahnunternehmer und der mit ihnen in Verbindung stehen-
den Bahnagenten ab. Mit Hinblick auf etwaige Kon-
kurrenzgesellschaften oder auf später zu errichtende Zweig-
bahnen, werden die Lokalitäten aufgesucht, das Areal wird
in der oben angegebenen Weise vermessen und verkauft.
Jeder Kaufmann, Handwerker, Zeitungsunternehmer, Dienst-
bote, Fuhrmann, welcher Lust hat, sich an dem neuen Orte
anzubauen, erhält wie der Farmer vielerlei Begünstigungen.
Andere Städtchen, welche ohne die Initiative der Bahn-
gesellschaften und gegen deren Interesse anfangen, sich her-
auszumachen, werden mit allen möglichen Chikanen ebenso
verfolgt, wie die von ihnen gegründeten unterstützt werden.
Unerschwingliche Tarife für den Import der Industrie-
waaren sind schon allein im stände, den Kaufleuten den
Aufenthalt in den geächteten Niederlassungen unleidlich zu
machen.
Daß nicht alle amerikanischen Bahnen einen für die
Aktionäre günstigen finanziellen Erfolg haben, ist bekannt.
Wie oft hat nicht schon ein Bankerott die hochgespannten
Erwartungen zu Grunde gerichtet. Die Konkursmasse
wird dann für ein Spottgeld an ein neues Konsortium
gegeben, welches dann bei seinem geringen Anlagekapital
gute Dividenden zahlen kann. Solche Vorgänge haben
aber weder die Verkehrsmittel als solche berührt, welche als
Natioualkapital nach wie vor ihre Funktionen vollziehen
können, noch auch die neuen Kulturortc wesentlich beein-
flußt, denen es gleichgültig ist, wer ihre Produkte befördert.
Wir haben in dem bisherigen verschiedene Veran-
lassungen der Städtegründung berührt. Naturschätze und
Eisenbahnen — die aber keineswegs genügend sind, um
eine jede zu erklären. Wirthschaftliche Motive sind in der
weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle maßgebend, und
verkehrt wäre es, den politischen Willen als städtegründende
Kraft zu bezeichnen. Denn die Ansiedelung geht der
politischen Verwaltung voraus, und die letztere kann daher
auch nicht die erstere bestimmen. Die Amerikaner befolgen
in ihrem Lande dieselbe Kolonialpolitik, wie sie der Reichs-
kanzler Fürst Bismarck für Deutschland als die richtige
bezeichnet hat. Der Ort wird durch den privaten Unter-
nehmungsgeist aufgesucht, während die Regierung die Grün-
dung anerkennt und ihr Rechtsschutz verleiht.
Jede Grafschaft und jeder Staat bedarf für Justiz-
verwaltung und Gesetzgebung eines Centralplatzes. Das
Princip, nach welchem bei der Wahl unter verschiedenen
bereits vorhandenen Orten in Amerika verfahren wird, be-
steht regelmäßig darin, einen solchen nicht zu nehmen, an
welchem bereits starke materielle Interessen vertreten sind.
Man hofft heutzutage zwar vergeblich dadurch die Beein-
flussung der Staatsbeamten und Abgeordneten hemmen zu
können. So ist der Sitz der gesetzgebenden Versammlung
für den Staat New Uork nicht in der großen Handelsstadt
gleichen Namens, sondern in Albany, für Pennsylvanien
nicht in Philadelphia, sondern in Harrisbnrg, für Ohio
nicht in Cincinnati, sondern in Kolumbus, für Kalifornien
nicht in San Francisco, sondern in Sacramcnto, für Illi-
nois nicht in Chicago, sondern in Springsfield, für
Missouri nicht in St. Louis, sondern in Jesferson City. Einige
Ausnahmen von dieser Regel sind vorhanden, welche sich
wesentlich ans dem Alter der betreffenden Kolonien erklären.
16*
124
Nekrologe.
Viele Lokalitäten sind durch ihre für den wirthschaft-
lichen Verkehr zweckdienliche natürliche Lage für die
Stadtanlage ganz besonders geeignet, so daß man hier
wohl von einer durch die Natur gebotenen Prädestination
sprechen könnte, wenn der Ausdruck nicht durch Peschel's
Kritik der Ritter'schen Vorstellungen so sehr in Mißkredit
gekommen wäre. In Europa, wo sich die Staaten und
Städte im Ringen der Stämme und Nationalitäten ent-
wickelt haben, fehlt oft die Berechtigung, einen Kausal-
zusammenhang zwischen wirthschastlich günstig geographischer
Lage und historischer That vorauszusetzen, bei der fried-
lichen Besiedelung des amerikanischen Kontinents aber wird
meistens der Nachweis des Zusammenseins beider That-
sachen eine wohl begründete Präsumption der ursächlichen
Verbindung gewähren. In besonderer Weise gilt dies in
den westlichen Staaten, weniger von den südlichen, in
denen noch heute die Zeiten der Sklaverei und der Plan-
tagenwirthschaft nicht vollständig überwunden sind. Wenn
wir von diesen Ländern absehen, so können die Naturthat-
sachen oft erklären, wohin sich der breite westwärts von den
Allcghanies bis zum Felsengebirge drängende Strom der
Einwanderung ergießen mußte. So kann man sehen, wie
die natürlichen Vortheile der geographischen Gestaltung —
gute Häfen, schiffbare Flüsse, trockene, gesunde Ortslage,
frische Quellen und Führten die wandernde Bevölkerung
zu sich hinlenkten, während schlechte Landungsplätze, Strom-
schnellen, sumpfige Gegenden, Wassermangel und rauhe
Winde von derselben umgangen wurden *).
Die Einfälle eroberungslustiger Kriegsscharen be-
Dies steht mit dem über die Eisenbahnen Gesagten nicht
in Widerspruch. Denn ich behaupte nicht, daß die Städte-
gründung allein aus die günstige natürliche Situation zurückzu-
führen ist, sondern nur, wo beides zusammentrifft, die letztere
fast immer als Ursache anzusehen ist. Unzweifelhaft haben sich
die Bahnen, wo sie planvoll auf das Entstehen von Ortschaften
bedacht waren, auch oft durch das Motiv der günstigen Lage
leiten lassen.
stimmten die Ansiedler im westlichen Europa solche Orte
auszusuchen, wo sich mit Erfolg Befestigungen ausführen
ließen. Wasserarme Bergrücken, kahle, zerklüftete Fels-
partien, Inseln in den Flüssen und Seen waren daher sehr-
geschätzte Orte und wurden trotz der mangelhaften wirt-
schaftlichen Situation zur Niederlassung gewählt. Auch
Klöster und Kirchen, an deren Seite bekanntlich so oft die
Städte emporgeblüht sind, mußten in den unsicheren Zeiten
des Mittelalters denselben Grundsätzen nachgehen, und
wenn auch nicht selten berichtet wird, daß die Auffindung
von Reliquien und frommen Seelen entgegengetretene
Wunder-erscheinungen den Ort angezeigt hätten, an dem das
Gotteshaus zu errichten wäre, so können wir doch annehmen,
daß sich solche Anlagemotive der Nothwendigkeit der
Sicherheit untergeordnet haben. ,
An den Grenzen der Reiche wurden Festungen gebaut
und unter denselben entstanden Dörfer und Städte. In
Nordamerika waren die Indianer die einzigen Feinde der
westlichen Farmer. Aber die hier drohende Gefahr war
nur ausnahmsweise eine so bedeutende, daß besondere Schutz-
maßregeln nöthig wurden. Ehe Illinois, Ohio, Indiana,
Iowa und Nebrasca auch nur den zehnten Theil der
heutigen Landwirthschaft aufzuweisen hatten, war der rothe
Mann schon in die nördlichen und westlichen Steppen ver-
zogen, und heutzutage sind es wesentlich nur noch einige
Distrikte von Arizona, Idaho, Montana und Utah, in
welchen militärische Stationen gegen die Einfälle der In-
dianer nothwendig erachtet werden. Diese Forts sind aber
mit den Grenzorten der westeuropäischen Länder nur hin-
sichtlich ihres Anlagezweckes, nicht aber hinsichtlich ihrer
städtebildenden Bedeutung zu vergleichen. Denn bei dem
raschen Verschwinden der rothen Nasse werden auch jene
Befestigungen nach kurzer Zeitspanne der Wirksamkeit un-
nöthig, und nur ausnahmsweise — wenn ihre Anlage
zufällig auch wirthschaftlichen Anforderungen entsprach —
hat sich ihr Name erhalten.
Nekrologe.
ii.
— Elias Lönrott, der Sammler der finischenVolks-
gesänge, geboren den 9. April 1802 zu Sammatti im Gouver-
nement Nyland (Finland) in ärmlichen Verhältnissen, war
anfangs Apotheker, studirte daun Medicin und wurde 1833
Arzt im Städtchen Kajana. Von dort aus durchwanderte
er sammelnd das östliche Finland und Theile des Archangcl-
schen Gouvernements, wo sich die alten Lieder und Sitten
am reinsten erhalten hatten, und gab seine Funde 1835 unter
dem Titel „Kalewala" (d. h. Land des Kalew) heraus; sei-
nem Volke schenkte er damit eine Litteratur und hob dessen
Sprache; der Wissenschaft erschloß er den Blick in die Art
und Weise, wie Volksepen entstehen. 1840 folgte „Kante-
ietcir" (Sangesjungsrau), eine Sammlung lyrischer Volks-
lieder, 1842 eine solche von 7077 finischen Sprichwörtern, 1844
eine von finischen Räthseln. Einen fünfjährigen Urlaub be-
nutzte er zu weiten Reisen in Lappland, Jngermanland und
Livland; 1853 erhielt er die Professur der finischen Sprache
an der Universität Helsingfors, die er bis 1862 behielt. Von
da an lebte er nur seinen Studien und dem Bestreben, die
beiden Hauptdialekte des Finischen zu einer gemeinsamen
Litteratursprache zu verschmelzen. So verfaßte er ein neues
sinisches Psalmenbuch, gab die Zauberrunen heraus, welche
einen tiefen Einblick in die schamanische Weltanschauung der
alten Finen gewähren, verfaßte eine „Flora Fennica“ und
zuletzt ein finisch-schwedisches Lexikon (1881), an welchem er
über 40 Jahre lang gearbeitet hat. Er starb hochbetagt am
19. März 1884 in seinem Geburtsorte.
— Georg vonBoguslawski, deutscher Meteorologe,
geboren 7. December 1827 bei Breslau, gestorben den 4. Mai
1884 zu Berlin. Er studirte Mathematik und Astronomie,
war als Lehrer in Berlin, Anklam und Stettin thätig und
wurde 1874 nach Berlin in das Hydrographische Amt der
Admiralität berufen, wo er die „Hydrographischen Mittheilun-
gen" und die „Nachrichten für Seefahrer" rcdigirte. Er übersetzte
Schiaparelli's Werk über die Sternschnuppen ins Deutsche,
veröffentlichte kurz vor seinem Tode das „Handbuch der
Oceanographie" und gab lauge Zeit die „Verhandlungen der
Gesellschaft für Erdkunde" zu Berlin heraus, zu deren Vor-
stande er gehörte.
— Tomczek, Afrikareisender, geboren 1860 in Tre-
mesno (Posen), gestorben 9. Mai 1884 an einer Leberent-
zündung auf der Insel Mondoleh (Camerun). Er gehörte
Nekrologe.
125
zu der Expedition des Polen Stephan von Rogozinski nach
dem Camerungebiete und entdeckte dort die Quellen des Rio
del Rey und einige Seen (vergl. Rogozinski's Brief „Glo-
bus", Bd. 44, S. 45). Er hinterlaßt ein Wörterbuch der
Krn-Sprache.
— Sir Henry Bartle Frere, englischer Staats-
mann, geboren 1815, gestorben 29. Mai 1884 in Wressil Lodge,
Wimbledon. 1833 trat er in den Civildienst der Ostindischen
Compagnie und wurde nach einander im Bombay-Dekkan
als Privatsekretär des Gouverneurs von Bombay, als Resi-
dent im Staate Sattara und als Kommissär in Sind (seit
1850) verwendet, letzteres eine überaus wichtige Stellung,
in welcher er bei dem Aufstande 1857 große Dienste leistete.
1858 bis 1862 war er Mitglied des Raths des General-
gouverneurs, 1862 bis 1866 Gouverneur von Bombay, das
ihm an öffentlichen Bauten viel zu danken hat. 1866 trat
er in das Council os India in London, ging 1872 nach Zan-
zibar zur Unterdrückung des Sklavenhandels, begleitete 1874
bis 1875 den Prinzen von Wales auf dessen Reise durch
Indien und war 1877 bis 1880 Gouverneur des Kaplandes.
Als solcher leitete er den Krieg gegen den Zulukönig Cete-
wayo und erstrebte vergeblich die Union der südafrikanischen
Kolonien. In seinen amtlichen Stellungen und als Präsi-
dent der R. Geographical Society (1873 bis 1874) unter-
stützte er die Reisen Livingstone's, Cameron's und Stanley's
und verfaßte verschiedene Abhandlungen für jene Gesellschaft
über indische und afrikanische Themata.
— Octave Pavy, Arzt und französischer Nordpol-
fahrer, geboren 23. Juni 1844 in New Orleans als Sohn
eines damals begüterten Franzosen. Seit 1861 in Frank-
reich lebend, studirte er seit 1864 Medicin, plante schon 1867
mit Gustave Lambert die Unternehmung einer Polarreise, die
jedoch infolge des Krieges von 1870 nicht zu Stande kam.
Nach Beendigung desselben ging er nach Nordamerika und
nahm dann an Lieutenant Greely's denkwürdiger Expedition
theil. Dabei erlag er am 6. Juni 1884 in Ice Fort unweit
des Kap Sabine den fürchterlichen Entbehrungen.
— Arnaud-Bey, französischer Reisender, starb im
72. Jahre am 8. Juni 1884 zu Chaton. Er war der Geo-
graph zweier Expeditionen, tvelche Mohammed Ali Pascha
1840 und 1841 Nil auswärts sandte. Auf der ersten nahm
er den Strom von Chartum an bis in die Gegend des
späteren Gondokoro (4° 42' n. Br.) auf; seine 10 Blätter um-
fassende Karte (1:90,000) soll bis auf den heutigen Tag die
genaueste und vollständigste des Nils sein, doch harrt sie
noch immer der Veröffentlichung. Später unternahm er eine
Reise nach Fazogl und betheiligte sich als ägyptischer Genie-
Oberst bei den Nivellirungsarbeiten am Isthmus von Suez
und Aegypten. In den „Mémoires de l'Institut Egyptien"
von 1862 veröffentlichte er hydrologische Beobachtungen des
Nils, welche er 16 Jahre hindurch fortgesetzt hatte.
— Charles Joseph Tissot, französischer Diplo-
inat, geboren 29. August 1828 in Paris, gestorben 2. Juli
1884 ebenda. Er studirte in Dijon das Recht, besuchte seit
1848 die Eeole d'administration und wurde dann Vicekonsul
in Tunis; als solcher bereiste er 1853 bis 1857 ganz Tune-
sien, wobei er seine besondere Aufmerksamkeit auf die Reste
des Alterthums, Inschriften, Straßen rc. richtete. Eine Reihe
von Abhandlungen über seine Funde erschienen damals von
ihm in dem „Annuaire às la Société d’archéologique de
Constantine“ und sonst, und noch ganz zuletzt (1881) schrieb
er „he Bassin du Bagrada“, eilt für antike Topographie
Tunesiens sehr wichtiges Buch. Später wurde er Konsul in
La Coruña, Saloniki, Adrianopcl und Jassy, 1866 Sous-
directeur des affaires politiques im Auswärtigen Mini-
sterium, 1869 Sekretär der französischen Botschaft in London,
1871 Mittistcrresidcnt in Tätiger. Als solcher durchreiste er
wiederholt den Norden Marokkos und entwarf dabei die
beste Karte dieses Gebietes, welche überhaupt existirt (er-
schienen im „Bulletin de la Soc. de Géogr." Sept. 1876).
Ebenso werthvoll für alte Geographie sind seine „Recherches
sur la géographie comparée de la Mauritanie Tingitanc“
(1878). 1876 kam Tiffot als Gesandter nach Athen, 1880 als
Botschafter nach Konstantinopel, 1881 nach London. Nach
seinem Tode erschien von ihm die „Exploration scientifique
de la Tunisie. Géographie comparée de la province
romaine d’Afrique“.
— Richard Lepsins, der berühmte Aegyptologe und Lin-
guist, geboren 23. December 1811 zu Naumburg, gestorben
10. Juli 1884 zu Berlin. Er studirte in Leipzig, Güttingen
und Berlin, später in Paris, war seit 1835 Sekretär des
archäologischen Instituts in Rom und führte 1842 bis 1846
auf preußische Kosten eine große Reise nach Aegypten aus.
Ueber dieselbe veröffentlichte er die „Denkmäler ans Aegypten
und Aethiopien" (12 Bände, 1849 bis 1860), wozn Heinrich
Kiepert die Karten arbeitete. Diese, seine „Briefe aus
Aegypten, Aethiopien und der Halbinsel des Sinai" (Berlin
1852) und sein „Standard alphabet" (2. Aust., London 1863)
zur Wiedergabe ungeschriebener Sprachen in europäischen
Lettern sind wohl die für die Geographie tvichtigsten unter
den zahlreichen Schriften Lepsius'. 1846 wurde er ordent-
licher Professor in Berlin, 1850 Mitglied der dortigen Aka-
demie, 1873 Obcrbibliothekar der königl. Bibliothek; auch wat-
er Direktor der ägyptischen Abtheilung der königl. Museen.
— Ferdinand von Hochstetter, Geolog, geboren
30. April 1829 zu Eßlingen (Würtemberg), gestorben 18. Juli
1884 zu Wien. Er studirte Theologie, daneben aber Mathe-
matik und Naturwissenschaften, promovirte 1852 mit einer
krystallographischen Arbeit und betheiligte sich seit 1853 an
den Aufnahmen der geologischen Reichsanstalt in Wien, 1853
bis 1854 im Böhmcrwalde, 1855 bis 1856 im nördlichen
Böhmen. 1856 habilitirte er sich an der Wiener Universität
und wurde 1857 wissenschaftliches Mitglied der Novara-Expe-
dition, von der er sich in Neuseeland trennte, um dessen
Geologie gründlich zu untersuchen. Zu Ansang 1860 nach
Wien zurückgekehrt, wurde er Professor der Mineralogie und
Geologie am Polytechnikum, 1857 Präsident der Geogra-
phischen Gesellschaft, bereiste 1869 die Centraltürkei und be-
kleidete in den letzten Jahren das Amt eines Intendanten
der neuen Hofmuseen, für deren Bereicherung, namentlich
auch durch prähistorische Gegenstände, er ungemein thätig
war. Von seinen Schriften sind besonders hervorzuheben
„Karlsbad, seine geognostischen Verhältnisse und seine Quel-
len" (1856); „Madeira" (1861); „Neuseeland" (1863); „Topo-
graphisch-geologischer Atlas von Neuseeland" (1863); „Geo-
logie von Neuseeland" (1864) ; „Paläontologie von Neuseeland"
(1864); „Geologische Beobachtungen auf der Novararcise"
(1866); „Geologie des östlichen Theiles der europäischen
Türkei" (1870); „Ueber den Ural" (1873); der geologische
Theil der mit Haun und Pokorny zusammen herausgegebenen
„Allgemeinen Erdkunde" ; „Asien, seine Zuknnftsbahnen und
seine Kohlenschätze" (1877); „Leitfaden der Mineralogie" (1877).
— Charles Huber, der aus Straßburg im Elsaß
stammende Arabienreisende, ist am 29. Jnli 1884 bei Ksar
Alia, nördlich von Dschidda, 32 Jahre alt, von seinen ara-
bischen Führern aus Ranbsncht ermordet worden. Er hat
zwei größere Reisen im nördlichen Arabien gemacht, beide
im Aufträge des französischen Unterrichtsministeriums. Die
erste, 1879 bis 1881, ging von Damaskus nach dem Dschcbel
Schammar, von dort nach Bereida und Aneize, dann west-
lich nach Cheibar, el-Alla und Teima und zurück nach Hail
und dem Euphrat, bezog sich also auf dasselbe Gebiet wie die
Wanderungen von Charles M. Doughty (1876 bis 1878).
Die Karte nnd Beschreibung dieser Reise, sowie die dabei
gesammelten Inschriften sind kürzlich im „Bulletin" der
Pariser Geographischen Gesellschaft (1884, 3. und 4. Quar-
talsheft) erschienen. Bei seiner zweiten Reise, die er 1883
bis 1884 zuerst in Gesellschaft Prof. Euting's durch dieselben
Gegenden ausführte, hatte er schon Dschidda erreicht, wollte
aber nochmals nach Hail zurückkehren, als er von Mörder-
126
Nekrologe.
Hand fiel. Seine Tagebücher hatte er glücklicherweise vorher
nach Paris gesandt.
— James Snowdon Calvert, der letzte Ueberlebende
der „Leichhardt Australian Exploring Expedition", geboren
13. Juli 1825, gestorben 29. Juli 1884 bei Sydney. Er
wurde in Manchester und London erzogen, wanderte 1840
nach New South Wales aus, lernte unterwegs Dr. Leich-
hardt kennen und schloß sich demselben bei dessen Entdeckungs-
reise von Brisbane aus (1844) an. Am 28. Juni 1845
wurde Calvert in dem heftigsten Gefechte, welches man mit
den Eingeborenen zu bestehen hatte/ schwer am Kopfe ver-
wundet, doch erholte er sich wieder und erreichte mit den
Uebrigen am 17. December 1845 abgerissen und halb ver-
hungert Port Essington. Calvert ließ sich dann bei Sydney
nieder und heirathete eine Miß Atkinson (fi 1872), die sich
als Schriftstellerin und in der Botanik ausgezeichnet hat.
— Maximilian Perty, Naturforscher, geboren
17. September 1804 zu Ohrnbau in Mittelfranken, gestorben
8. August 1884 in Bern. Er studirte 1823 bis 1826 in
Landshut Medicin, dann in München namentlich Zoologie
und war dort 1831 bis 1833 Privatdocent, dann von 1833
bis 1875 Professor in Bern. Von seinen Werken, die sich
auf zoologische, anthropologische und psychologische Themata
beziehen, seien hier genannt: „Allgemeine Naturgeschichte als
philosophische und Humanitätswissenschaft" (4 Bde., 1837 bis
1844); „Grundzüge der Ethnographie" (1859); „Anthropo-
logische Vorträge" (1863) und „Die Anthropologie als die
Wissenschaft von dem körperlichen und geistigen Wesen des
Menschen" (2 Bde., 1874).
— Albert Berg, weitgereister Landschaftsmaler, ge-
boren 1825 in Berlin, gestorben 20. August 1884 auf einer
Reise in Hallstatt. Anfangs studirte er in Genf neuere
Sprachen, reiste dann 1844 durch Italien nach Malta und
Konstautiuopel, studirte 1844 in Bonn Jura, widmete sich
aber seit 1845 ganz der Kunst. Auf A- von Humboldt's
Anregung bereiste er 1849 Neu-Granada und veröffentlichte
1854 13 seiner dort gefertigten Studienblatter unter dem
Titel „Physiognomy os tropical Vegetation in South
America“, denen gründliches Verständniß des physiogno-
mischen Charakters der landschaftlichen Vegetationsformen
nachgerühmt wird. 1853 bereiste er auf Kosten Friedrich
Wilhelm's IV. Rhodos und schrieb darüber „Die Insel Rho-
dus", einen Quartband mit 70 Originalradirungen (Braun-
schweig 1862). Dann begleitete er 1860 bis 1862 als Künst-
ler die preußische Expedition nach Ostasien; zu dem amtlichen
Werke über dieselbe lieferte er die historische Einleitung, den
Text des Reiseberichtes und ca. 130 prachtvolle Zeichnungen
und Aquarelle. Seit 1878 war er Direktor des von der
Provinz Schlesien gegründeten Museums der bildenden Künste
zu Breslau.
— Paulus Dahse, Bergingenieur, geboren 15.Oktober
1842 in Prenzlau, gestorben 29. August 1884 in Accra an
der Goldküste. Anfangs Buchhändler, dann Seemann, stand
er 1863 bis 1869 verschiedenen westafrikanischen Faktoreien
des Bremer Hauses Victor vor, mußte dann aus Gesund-
heitsrücksichten nach Bremen zurückkehren, lebte 1870 bis
1877 in Kalifornien, Nevada und Vancouver, wo er sich
praktische Kenntnisse im Bergbau erwarb, und reiste dann
im Auftrage einer englischen Gesellschaft nach der Goldküste.
Dort errichtete er 1879 in Tacquah ein Goldbergwerk; doch
erkrankte er und mußte 1882 heimkehren. Damals schrieb
er einen vortrefflichen Artikel über die Goldküste und arbeitete
eine Karte derselben aus (Deutsche geogr. Blätter V, Heft 2),
lieferte auch dem Oberbergdirektor von Gümbel in München
das Material zu dessen „Beiträgen zur Geologie der Gold-
küste". Ende 1883 wieder nach Westafrika zurückgekehrt, er-
krankte er infolge einer anstrengenden Reise und starb.
— E. Villegas, argentinischer General, starb Ende
August oder Anfang September 1884 zu Paris. Er trat
1862 als Kadett bei der Artillerie ein und wurde schon zwölf
Jahre später Obrist. Von 1879 bis 1882 befehligte er die
Rio-Negro-Expedition gegen die Indianer, die er ans einem
weiten Strich Landes zurücktrieb. Bis zum See Nachuel-
huapi rekognoscirte und Pacifirte er das nördliche Patagonien
und entdeckte dabei den Paß Bariloche, welcher eine leichte
Verbindung zwischen den Pampas und dem Stillen Oceane
vermittelt, wieder.
— Gustavo Bianchi, italienischer Afrikareifender, aus
Modena gebürtig und im dortigen Militärkollegium erzogen.
1879 bis 1880 reiste er mit Matteucci zusammen durch ganz
Abessinien von Massaua bis an seine Südgrenze, den Blauen
Nil. Seinen eigentlichen Zweck, den Reisenden Cecchi aus
den Händen der Galla zu befreien, erreichte aber nicht er,
sondern der Graf Antonelli. Anfangs 1883 begab er sich
wieder nach der Landschaft Godscham im südlichen Abessinien,
um dem Kaiser Johannes Geschenke zu überreichen und den-
selben für die Eröffnung einer Handelsstraße von der italie-
nischen Kolonie Assab am Rothen Meere durch Abessinien nach
den Gallaländern zu gewinnen. Der wiederholt unternommene
Versuch Bianchi's, einen solchen direkten Weg vom abessi-
nischen Hochlande nach Assab zu finden, endete mit seinem
Tode. Das erste Mal gelangte er im Frühling 1884 von
Seket (am Fuße des abessinischen Hochlandes) etwa 70 km
weit nach Osten ; dort zwang ihn die Desertion seiner Träger
und Führer zur Umkehr. Dann brach er am 10. Juli mit
einer kleinen Karawane wiederum von Seket aus, wurde
aber, nur noch drei Tagereisen von der Küste des Rothen
Meeres entfernt, zur Nachtzeit von den Dauakil überfallen
und erschlagen. Die That soll am 7., 8. oder 9. Oktober
geschehen sein.
— Robert Ave-L allem aut, Arzt und Reisender,
geboren 25. Juli 1812 in Lübeck, gestorben ebenda am
10. Oktober 1884. Er studirte in Berlin, Heidelberg und
Paris Medicin und ließ sich Ende der dreißiger Jahre als
Arzt in Rio Janeiro nieder, wo er Direktor des Gelbsieber-
spitals und Mitglied des obersten Gesundheitsrathes wurde.
1855 nach Deutschland zurückgekehrt, nahm er auf Humboldt's
Empfehlung an der Novara-Expedition theil, trennte sich
aber schon in Rio Janeiro von ihr und bereiste nun Brasi-
lien. Seit 1859 prakticirte er wieder in Lübeck. 1869 befuhr
er den Nil. Er schrieb namentlich „Reise durch Südbrasi-
lien" (2 Bde. 1859) und „Reise durch Nordbrasilieu" (2 Bde.
1860); „Humboldt's Aufenthalt in Paris" itt der von Bruhns
herausgegebenen wissenschaftlichen Biographie Alexander
von Humboldt's, „Wanderungen durch Paris aus alter und
neuer Zeit" (1877), ferner ein Epos, ein Drama und an-
deres mehr.
— Eugenio Balbi, Professor der Geographie in
Pavia, geboren 6. Februar 1812 zu Florenz als Sohn des
berühmten Geographen und Statistikers Adriano Balbi, ge-
storben 13. Oktober 1884 in Pavia. Er gab die „Scritti
Geografici" seines Vaters heraus (1841/42, 5 Bände) und
hat selbst mehrere Bücher (Gea, ossia la terra descritta in
7 Theilen und Saggio di geografía) verfaßt.
— I. Turubull Thomson, Generalfeldmesser von
Neuseeland, geboren in Glororum bei Bamborough in Nor-
thumberlaud (England) am 10. August 1821, gestorben
16. Oktober 1884 in Jnvercargill (Neuseeland). Sehr jung
trat er als Ingenieur und Vermesser in die Dienste der
Ostindischen Kompagnie und blieb darin 17 Jahre. 1856
ging er nach Neuseeland, um seinen Wohlstand in der Vieh-
zucht zu verwerthen, nahm aber bald seine frühere Beschäfti-
gung des Vermessend wieder auf, organisirte die Landes-
aufnahme von Otago und betheiligte sich bald persönlich
daran. Namentlich verdankt man ihm und seinen Assistenten
die Karte der „Lake Districts" und der Krouländereien, für
deren rasche Besiedelung seine Arbeiten die sichere Grundlage
bildeten. Als 1876 die Provinzialeintheilung abgeschafft
wurde, erhielt er vom Generalgouvernement den Auftrag,
alle bestehenden Surveys der Provinzen in ein einziges In-
Aus allen Erdtheilen.
127
stitut zu verschmelzen. 1879 zog er sich in das Privatleben
zurück. Er schrieb zwei Bünde „Life in thè Far East“,
verschiedene Bücher über sociale und ökonomische Themata
und viele Abhandlungen in die „Transactions" des New
Zealand Institute.
— Carlo G u arm ani, italienischer Reisender, ge-
boren in Livorno 11. December 1828, gestorben in Genua
am 23. Oktober 1884. Als Direktor der französischen Post
in Jerusalem führte er im Aufträge Napoleon’s III., beson-
ders um Pferde zu kaufen, 1864 von Jerusalem eine Reise
nach dem Dschebel Schammar aus, ein Unternehmen, das
vor ihm nur Wallin und Palgrave geglückt war, und das
erst in den letzten Jahren mehrfach wiederholt worden ist.
Er schrieb unter anderem „Sedici anni cki studi in Siria,
Palestina, Egitto e nei deserti d’Arabia“ (Bologna 1861);
„II Neged Setten trionale“ (Jerusalem 1866); das Tagebuch
seiner Reise erschien auch deutsch (Zeitschr. f. allgcm. Erd-
kunde, März 1865) und französisch (Pariser Bulletin de la
Soc. de Géogr. September—November 1865).
— Alfred Brehm, Zoologe, geboren 2. Februar 1829
in Renthendorf in Thüringen, gestorben ebenda am 11. No-
vember 1884. Im 18. Lebensjahre (Juli 1847) trat er seine
erste Reise nach Afrika an, die bis Mai 1852 dauerte. Dann
erst begann er in Jena und Wien zu studircn und veröffent-
lichte gleichzeitig sein erstes Buch, die „Reiseskizzen aus Nord-
ostafrika" (1853). Zum Studium der Vögel bereiste er 1856
Spanien, 1860 Norwegen und Lappland und schrieb 1861
„Das Leben der Vögel". 1862 begleitete er den Herzog von
Koburg-Gotha in die Bogosländer und schrieb darüber „Er-
gebnisse einer Reise nach Habesch" (1863). Dann leitete er
1863 bis 1867 den zoologischen Garten in Hamburg, rief
dann das Berliner Aquarium mit ins Leben und verfaßte
1863 bis 1868 sein mustergültiges „Leben der Thiere" (2. Anst.
in 10 Bänden seit 1874). Außerdem war er Mitarbeiter au
„Die Thiere des Waldes" und „Gefangene Vögel". 1876
reiste er mit Finsch und Graf Waldburg-Zeit nach West-
sibirien und Turkestan, 1677 nrit dem österreichischen Kron-
prinzen nach Ungarn, 1879 nach Spanien. Große Erfolge
erzielte er besonders durch seine populären Vorträge.
— Eduard Rüppell, der älteste aller Afrikareisenden,
geboren 20. November 1794 zu Frankfurt a. M., gestorben
10. December 1884 ebendaselbst. Er besuchte das Gymnasium,
mußte aber gegen seine Neigung Kaufmann werden, siedelte
dann aus Gesundheitsrücksichten nach Italien über und unter-
nahm 1817 eine neunmonatliche Reise nach Aegypten und
dem peträischen Arabien zu mineralogischen Zwecken. Um sich
zu größeren Reisen vorzubilden, studirte er 1818 bis 1821
in Pavia und übte sich in Genua in astronomischen Orts-
bestimmungen. Zu Neujahr 1822 trat er seine erste große
Reise durch das petrttische Arabien, Nubien und Kordofan
an, von welcher er erst im April 1828 zurückkehrte. Die
zweite (1831 bis 1834) ging ebenfalls nach Peträa und den
Küsten des Rothen Meeres, dann nach Abessinien. Die ans
diesen Reisen gemachten Sammlungen an Naturalien bilden
eine Hauptzierde des Senckenbergischen Museums in Frank-
furt, die Münzen, Handschriften und Alterthümer kamen in
die dortige Bibliothek. Außer zoologischen Werken veröffent-
lichte er namentlich „Reisen in Nubien, Kordofan und dem
peträischen Arabien" (Frankfurt 1829) und „Reise in Abessi-
nien" (ebenda 1838 bis 1840). Seine Namen verewigt die
1870 gegründete Rüppell-Stiftung, ans welcher wissenschaft-
liche Reisen unterstützt werden.
A u s allen
Asien.
— Die Ergebnisse des im Jahre 1881 vorgenommenen
Census vonCypern sind jetzt als „ParliamentaryPaper"
veröffentlicht worden. Da dies die erste Zählung war, welche
nach europäischer Weise vorgenommen wurde, fürchtete man
bei Ausführung derselben Schwierigkeiten, namentlich von
Seiten der Mohammedaner. Der High Commissioner hatte
daher bei Gelegenheit eines großen Empfanges im Jahre
1881 den Notabeln die Wünsche der Regierung und das bei
Vornahme des Census zu befolgende Verfahren auseinander-
gesetzt und sie ersucht, im Interesse der Sache thätig zu sein,
was auch geschah. Für die Kosten der Aufnahme wurden
1000 Pfd. St. ausgeworfen und die Zählung 1881/82 vor-
genommen, ohne daß Schwierigkeiten entstanden wären. Die
Aufnahme umfaßte folgende Rubriken: 1) Raine und Zu-
name. 2) Beziehung zum Familienhanpt. 3) Verheirathet
oder nicht. 4) Geschlecht. 5) Alter. 6) Religion. 7) Mutter-
sprache. 8) Geburtsort. 9) Geschäft. 10) Gebrechen (Taub-
heit, Stummheit, Blindheit, gestörtes Geistesvermögen oder
Aussatz). Die Hauptergebnisse der Zählung sind: Unter dem
Jnsularbesitz des englischen Reiches nimmt Cypern mit
186 173 Einwohnern die sechste Stelle ein. Die Bevölkerung
ist weniger dicht als in irgend einer Grafschaft Englands; sie
beträgt nämlich 50 per Quadratmeile; im ganzen zählte
man 46149 Häuser, so daß jedes im Durchschnitt von 4,24
Personen bewohnt wurde. Sechs Orte, Nicosia, Famagusta,
Paphos, Limasol, Larnaca und Kerynia hatten über 2000
Einwohner, davon nur der erstgenannte über 10000 Seelen.
Im ganzen zählte man 95015 Personen männlichen und
E r d t h e i l e n.
91158 weiblichen Geschlechts. Dieses Ueberwiegen des männ-
lichen Geschlechtes weicht von dem Verhältnisse in Europa
(mit Ausnahme Griechenlands und Bulgariens) ab; doch
findet man dieselbe Erscheinung in allen asiatischen Ländern.
Die Gründe dieser Erscheinung sind noch nicht aufgeklärt;
doch macht man dafür das frühe Heirathen, den Mangel an
Geburtshilfe, Entbehrungen und Anstrengungen bei der
Feldarbeit und das Abtreiben der Leibesfrucht verantwort-
lich. Von 1000 Personen, welche geboren werden, erreichen
22 ein Alter von 75, 6 ein solches von 85 Jahren. Von der
männlichen Bevölkerung über 15 Jahren waren beinahe
60 Proc. verheirathet, von den Frauen mehr als 60 Proc.
Diese Zahlen sind um 1,5 resp. 4 Proc. höher als in Eng-
land. Der Religion nach wurden % Christen, XU Moham-
medaner gezählt; erstere gehörten beinahe alle zur griechischen
orthodoxen Kirche; dazu kamen ferner 179 Kopten, 2115
Römisch-Katholische, 715 Protestanten, 68 Juden, 15 Zigeuner,
1 Freidenker und 1 Unitarier. Der Sprache nach waren
42 638 Türken und 140793 Griechen, nicht einmal je 1000
Araber und Engländer. 2238 Personen sind blind, 509
taubstumm, 504 geistig gestört, 87 mit der Lepra behaftet,
von letzteren lebten 50 in einem Leprosengchöft bei Nicosia.
— Eben ist der erste Theil eines lange erwarteten
Prachtkartenwcrkes erschienen, das deutscher Wissenschaft und
Technik zu hoher Ehre gereicht, das erste Heft von Ferdi-
nand von Richthofen’s Atlas von China (Berlin,
1885. D. Reimer), auf sechs Blättern (in 1 : 750 000) den
größten Theil der Provinzen Schan-tung, Sching-king und
Tschi-li umfassend, also den Nordosten des eigentlichen China.
Jedes der Blätter, das ein größeres Areal als das König-
128
Aus allen Erdtheilen.
reich Bayern umfaßt, ist in doppelter Ausführung, einmal
als Gebirgskarte, das andere Mal mit geologischem Kolorite,
vorhanden, und die Einleitung von Prof, von Richthofen
gewährt auch dem Laien einen Einblick in die Schwierig-
keiten, unter denen eine derartige Originalkarte zu stände
kommt. Wenn auch die vorliegenden 6 Blätter, denen noch
21 weitere folgen werden, vornehmlich für wissenschaftliche
Kreise bestimmt find, so wird doch vielleicht eines davon, die
Umgebung Pekings, bald ein großes praktisches Interesse
gewinnen und alsdann weite Verbreitung und Benutzung
finden. Möge man sich dann auch daran erinnern, daß es
hauptsächlich deutsche Wissenschaft und deutscher Fleiß waren,
die das ferne Land der Kenntniß der Mitwelt näher gerückt
haben.
Afrika.
— In der Dampfer - Subventions - Kommission des
Deutschen Reichstages machte am 19. Januar Geh. Rath
Rösing folgende statistische Angaben über den Handel
mit Afrika. Es wurden 1883 exportirt 491930 Doppel-
centncr im Werthe von 31718000 Mk., davon nichtdcutsche
Waaren 31000 Doppelcentner im Werthe von 415000 Mk.,
wobei die indirekte Ausfuhr über London nicht mitgerechnet
ist. Die Hauptartikel sind: Spirituosen für 12 Millionen (!),
Nahrungsmittel 1800 000, Schießpulver 4 500 000, Baum-
wollgewebe 2 086 000, seine Eisenwaaren und Gewehre
2 721000, grobe Eisenwaaren 1087000, Bier 836000, Tabak
723000 Mk., außerdem Lichte, Seifen, Parfümerien, Zünd-
waaren, Wollenzcuge u. s. w. Die Einfuhr betrug 1883:
470106 Doppelcentner im Werthe von 27 501000 Mk.; die
Hauptartikel waren Palmkerne für 8 979 000 Mk., Palmöl
für 3350000, Kautschuk für 1098 000 und Elefantenzähne
für 506 000 Mk.
— Seit kurzem wird in King William's Town eine
theilweise in der englischen, theilweise in der Kaffern-
sprache gedruckte Zeitung herausgegeben, welche, wenn
sie gut geleitet wird, gewiß günstigen Einfluß auf die Kaffern
üben und der öffentlichen Meinung dieses Volkes Gelegen-
heit zur Aeußerung geben wird. „Colonies and Jndia",
denen wir diese Notiz entnehmen, fügen den Wunsch hinzu,
daß das neue Blatt nicht dem Beispiel so vieler indischer
Blätter folgen möge, welche Zwietracht und Aufruhr unter
ihren Lesern zu säen suchen, anstatt die Treue zu bestärken
und die Industrie zu befördern. Eine Sammlung der in
den englischen Besitzungen in verschiedenen Sprachen erschei-
nenden Blätter würde die große Anzahl der unter dem kai-
serlichen Scepter vereinigten Rassen recht deutlich machen.
— Die'deutsche Expedition unter Lieut. Schulze
(s. oben S. 78) hat jetzt in Noki am unteren Kongo von
der Association Internationale Land für eine Station und
Magazine angekauft. Sie will nun, nachdem ihr erster Ver-
such weiter im Süden gescheitert ist, von dort aus in das
Innere eindringen, und zwar zunächst über San Salvador
und das Plateau von Zombo nach der Residenz des Muöne
Puto Kasongo. Bis zum Plateau von Zombo ist das Land
bereits von zwei Engländern, Lient. Grandy und Missionar
Comber erforscht, Sau Salvador hat Bastian besucht, den
Muöne Puto Kasongo, den Fürsten des Majakalla-Volkes,
aber Major von Mechow.
Inseln des Stillen Oceans.
— Nachdem sich die erste Aufregung, die in England und
Australien wegen der deutschen Annexionen auf Neu-Guinea
entstanden war, einigermaßen gelegt hat, dringt man jetzt auf eine
schleunige Feststellung der Grenzen. Der Untcrstaats-Sekretär
für die Kolonien hatte nämlich in seiner Mittheilung über
die englische Besitzergreifung aus der Südküste im Parla-
ment am 24. Oktober 1884 gesagt, daß die Grenze nach dem
Innern des Landes hin noch nicht augegeben werden könne,
daß sie aber so weit ausgedehnt werden würde, wie die Um-
stände dies erforderten. Jetzt wird als Linie von strategischer
Wichtigkeit ein Strich vorgeschlagen, der vom 141. Längen-
grade an unter ungefähr 6" 50' südl. Br. (Colonies and Jndia,
dem wir dies entnehmen, hat 60 und 50", was wohl ein
Druckfehler ist) gerade nach Osten bis zur Rawlinson-Kette
in der Nähe von Kap Cretin laufen soll- Diese Linie würde
England den Besitz des ganzen südöstlichen Theils der Insel
bis zum Hüoubusen sichern — allerdings aber, was man
englischerseits nicht beifügt, die englische Grenze bis in die
unmittelbare Nähe von Neu-Britannien vorschieben, welches
mit seiner südlichen Spitze sich dem Kap Cretin ziemlich
nähert. Der deutsche Besitz auf Neu-Guinea würde damit
auf die Nordküste zwischen 1410 und 147° 50' östl. Länge
beschränkt werden. — Obiger Vorschlag scheint bereits in
Thatsachen umgesetzt worden zu fein; wenigstens meldete
kürzlich ein Telegramm die englische Besitznahme der Inseln
im Hüon-Gols, d. i. der Cretininseln, Solitary Island und
Longuerue-Jnseln.
Nordamerika.
— Die Proceedings der Royal Geogr. Soc. (Januar
1885) enthalten eine von einer Kartenskizze begleitete Mit-
theilung des Kapitän Willard-Glazier (U. S.) über
die Mississippi-Quelle, eine Frage, welche die ameri-
kanischen Geographen schon lange beschäftigt hat. 1881 organi-
sirte und führte Glazier eine Expedition, um darüber Sicher-
heit zu erlangen. Er fuhr in Booten über Leech Lake und
Jtasca Lake, drang, begleitet von einem alten indianischen
Führer, von letzterem nach Süden vor und entdeckte dort
einen neuen See von ansehnlichen Abmessungen, der ohne
Zweifel die wirkliche Quelle des Mississippi ist (47° 13' 25"
nördl. Br.). Er muß wenigstens drei Fuß über dem Jtasca-
see liegen, den man bisher als die Quelle betrachtet hatte.
Demgemäß würde der Ursprung des Mississippi 1578 Fuß
über dem Atlantischen Ocean liegen und seine Länge unter
Anknüpfung an frühere Angaben 3184 Meilen betragen.
Da der Strom in der abgelegenen und wenig besuchten
Gegend zwischen Leech Lake und Red River entspringt, einen
vollen Grad südlich vom Turtle Lake, der lange Zeit als
Quelle galt, so werden seine beiden Quellarme vom Pelz-
handel nicht berührt, und das ist der Grund, warum die
wahre Quelle so lange Zeit unentdeckt geblieben ist.
Inhalt: Brügge. III. (Mit sechs Abbildungen.) — A. SartoriusFreiherrvo n W a l t e r s h a u s e n : Städte-
gründung im nordamerikauischen Westen. II. — Nekrologe. II- Aus allen Erdtheilen: Asien. Afrika. Affeln bes
Stillen Oceans. — Nordamerika. (Schluß der Redaktion-. 23. Januar 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Herücbsitbtigung der Antbropologie und Etlinologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Brügge.
(Nach dem Französischen des M. Camille Lemonnier.)
IV. (Schluß.)
Brügge ist weniger eine Stadt der Märkte und Haupt-
straßen, als vielmehr der stillen Winkel, die sich hinter
alten Mauern verstecken, der unbekannten einsamen Stellen,
über denen die Melancholie der Vergangenheit ruht, der
gewundenen Gäßchen, die am Wasser enden, der Quar-
tiere, so stumm wie Klöster, und der langen dunkeln über-
wölbten Gänge, die zu ungepflegten Gürten führen. An
solchen Stellen lernt man den Reiz und die resignirte
Traurigkeit seiner wahren Physiognomie kennen; anderswo,
in den großen Straßen, der Rue des Pierres, welche bei
dem Calvaricnberge und den Gräbern der Salvatorkirche
vorbeiführt, und der Rue Flamande, die einen so prächtigen
Blick auf den Belfried gewährt, wiegt das öffentliche Leben
vor. Dort drängen sich die Leute, besuchen die Lüden, ver-
weilen vor den Schaufenstern und entfalten in Kleidern
und Worten ihre nichtige Eitelkeit. Die ganze Thätigkeit des
Handels und Geschäfts concentrirt sich übrigens in diesen
beiden Straßen, die eigentlich nur eine bilden; das ver-
leiht ihnen auch einen Anschein von Leben und Wohlergehen,
während sich doch hinter der reichen Anordnung und dem
Aufputze der Magazine, welche nichts Vlämisches an sich
haben, sondern deutlich den Einfluß von Paris und Brüssel
erkennen lassen, in Wirklichkeit nur die Armseligkeit eines
schläferigen Geschäftes verbirgt, lind wenige Schritte seit-
wärts tritt die Einsamkeit wieder in ihre siechte; von jenen
beiden Hauptstraßen zweigt sich eine Menge kleiner Gassen
ab, wo das kleine Handwerk und Gewerbe in niedrigen
dunkeln Räumen vcgctirt und den Eindruck erweckt, als ob
Globus XLVII. Nr. 9.
es nicht leben und nicht sterben könnte. Aber in diesen
Gassen und Gäßchen und namentlich längs der Kanüle
und Wasserlüufe finden sich interessante Häuser, oft wahre
Meisterstücke der Architektur, welche auch nur aufzuzählen
zu weit führen würde. So in der Rue Espagnole ein
finsteres Gebäude, die „Nigra Casa", welche das Volk noch
immer 1a Case nennt, und die einst Sitz der Inquisition
war. Unweit davon kann sich eine schmale winkelige Gasse,
die den feinen Namen Rue Queue-de-Vache (Kuhschwanz-
Straße) führt, vier merkwürdiger Häuser ans dem Ende
des 14. Jahrhunderts rühmen. Ganze Straßen haben sich
ihren mittelalterlichen Charakter bis heute gewahrt, und
viele der Häuser mögen sich auf jenem denkwürdigen Plane
finden, auf welchem der Maler Marc Gheraerts sämmtliche
Gebäude der Stadt mit unendlicher Mühe und Ausdauer
in winzigen Silhouetten abgebildet hat und der ans dem
Rathhause aufbewahrt wird.
Eine andere Stelle, welche Erinnerungen an frühere
stolze Zeiten weckt, ist am Kanal du Miroir jener Platz,
auf welchem sich seit kurzem eine Bildsäule Johann's van
Eyck erhebt, und der auch seitdem den Namen dieses Maler-
fürsten trügt, früher aber Akademieplatz hieß nach dem
Akadcmiegebände, in welchem sich das Museum mit seinen
Schätzen altflandrischer Kunstübung befindet, und noch früher
Platz der Osterlinge; dieser Akademie, die ursprünglich eine
um die Mitte des 14. Jahrhunderts erbaute Bürgerhalle
gewesen ist, gegenüber lag nämlich das 1478 erbaute und
im vorigen Jahrhundert abgerissene stattliche Haus der
17
130
Brügge.
Osterlinge, d. h. der hanseatischen Kaufleute, von welchem
sich eine Abbildung im Kölner Stadtarchive erhalten hat.
Ein vielbesuchter Ort ist die kleine Jerusalemer Kirche,
ein einfacher, spätgothischer Bau aus dem 15. Jahrhundert,
dessen Stifter Jakob Adournes, Herr von Niewenhove,
Nieuvliet, Vyve n. s. w., der Legende zufolge dreimal nach
dem heiligen Lande gepilgert sein soll, da er beschlossen
hatte, einen Tempel nach dem Muster des heiligen Grabes
in Jerusalem zu errichten und die beiden ersten Male die
genaue Vorstellung von dessen Aussehen vergessen hatte.
Ein niedriger Gang, den man auf Händen und Fußen
kriechend passiren muß, führt zu dem Grabesraume, in
Die Rue Flamande. (Nach einer Photographie.)
welchem die Frömmigkeit der Leute den ganzen Tag über
von morgens bis abends eine doppelte Reihe von Lichtern
brennend erhält, und wo man stets Frauengestalten in
weiten Mänteln kniend lange Zeit beten sieht. Ueberhaupt
widmen die Brügger, Frauen sowohl als auch Männer,
einen ziemlichen Theil ihrer Zeit dem Kirchenbesuche. Der
Handwerker, welcher anderswo zerstreut an den katholischen
Kirchen vorbeigeht, tritt hier in Brügge einen Augenblick
ein und kniet zwischen den zahlreichen Anwesenden nieder,
um sein Gebet zu sprechen. Das mühsame Leben in dieser
Stadt, wo es mehr Armuth und Elend giebt als in jeder
anderen, das Scheitern so vieler irdischer Hoffnungen treibt
Brügge.
131
die Menschen in die Kirchen, um geistlichen und moralischen
Trost zu suchen, den Arbeit und Nachdenken ihnen nicht
vermitteln kann. Zu dieser Stimmung passen auch die
Kirchen selbst, die weit, finster und feucht sind, ohne jene
Freudigkeit, welche diejenigen zu Antwerpen, Gent und
Brüssel auszeichnet. So besitzt die Salvatorkirche (Saint
Sauveur) ein geräumiges, strenges, schmuckloses Schiff und
ist von einer feuchten, eisigen Luft erfüllt, die aus dem
Souterrain emporsteigt; diese Grabcsluft und der überall
an den Wänden angebrachte schwarze Marmor lassen dies
Gotteshaus wie einen riesigen Katafalk erscheinen, ein Ge-
fühl, das sich selbst in Notre-Dame aufdrängt, welche doch
durch ihre tiefen Bogen mehr Licht empfängt und, wie die
meisten großen katholischen Kirchen Flanderns, an Gemäl-
den und Bildhauerarbeiten so reich ist, daß fast eine jede
der zahlreichen Kapellen für sich allein ein Museum dar-
stellt. In Notre-Dame giebt cs von Erasmus Quellyn,
Peter Pourbus, van Oost dem Acltcren, Bernhard van
Orley, Gerhard Zeghens, Antonius Claeisscnß, Craeyer
und Johann Mostacrt eine ganze Reihe von Bildern, blu-
tende Christusgcstalten, büßende Magdalenen und schöne
Jungfrauen mit dem Kinde. Aber alle diese Malereien
erbleichen vor dem stolzen Besitze eines Werkes Michel
Angelo's, einer Jungfrau aus weißem Marmor in der
Kapelle des heiligen Sakramentes. Lange wurde die Echt-
heit des Werkes bestritten, obwohl nach einer Urkunde des
Archives der Kirche ein Brügger Kaufmann, Johann
Mouscroen, im Jahre 1514 dem Michel Angelo hundert
Dukaten dafür bezahlt hatte. Bei der Säkularfeier
Rafacl's hat dann ein akademisches Collegium die Authen-
ticität des Bildwerkes bestätigt, das anch ohne dieses
Zeugniß auf jeden Beschauer einen tiefen Eindruck hervor-
bringt.
Diese Maria ist dabei nicht das einzige Wunder in
dieser an Kunstwerken so überreichen Kirche: in einer
Seitcnkapcllc stehen sich zwei unvergleichliche Grabdenkmäler
gegenüber, die fürstlichen Staub bedecken, aus der einen
Seite das Karl's des Kühnen, Herzogs von Burgund, der
1477 bei Nancy fiel, und ans der anderen das seiner Tochter
Maria, welche den Erzherzog Maximilian von Oesterreich,
Der Quai dn Miroir. (Nach einer Photographie.)
den späteren Kaiser, hcirathete. Der Herzog und die
Prinzessin sind liegend dargestellt, die Hände in Brusthöhe
zusammengelegt und die Krone auf dem Haupte, sic in
einem bis über die Füße herabfallenden, faltenreichen Ge-
wände, er in einer reichen Prachtrüstung; die Seiten der
Sarkophage sind mit bronzenen Ranken und Blättern und
mit Wappenschildern in Email überdeckt. Gute Objekte
für den, der über die Eitelkeit dieser Welt nachsinnen will,
diese dahingegangenen beiden Majestäten, deren äußere Ge-
stalt die geschickte Hand eines großen Ciselenrs der Nach-
welt überliefert hat, während alles, was sie durch das
Leben begleitete, und selbst das erlauchte Haus, dem sie beide
entsprossen sind, vergangen und wie vom Winde verweht
ist. Die ganze Macht der Herzoge von Burgund, die in
Karl dem Kühnen ihren Gipfelpunkt erreichte, ruht jetzt
mit unter diesem Grabmale. Wie Ironie auf diese ver-
schwundene Herrlichkeit sieht cs aus, daß über den Chor-
stühlen neunundzwanzig Wappenschilder von Rittern des
Goldenen Vließes ausgehängt sind, welche in dieser selben
Liebfrauenkirche dem Ordenskapitel beigewohnt hatten. Der
I jetzt von Oesterreich und Spanien neben einander verliehene
Orden ist bekanntlich eine Stiftung des Vaters Karl's des
Kühnen, des Herzogs Philipp III., des Guten, welche der-
selbe am 10. Januar 1429, dem Tage seiner Vermählung
mit seiner dritten Gattin, Jsabella von Portugal, zu Brügge
machte, „zum Lob und Ruhm des Erlösers, der Jungfrau
Maria und des heiligen Andreas, wie zum Schutz und zur
Förderung des christlichen Glaubens und der heiligen Kirche,
zur Tugend und Vermehrung guter Sitte". Diese Statu-
ten haben Spanien nicht gehindert, das Vließ neuerdings
an protestantische und selbst mohammedanische Persönlich-
keiten zu verleihen; dafür hat aber Oesterreich anch niemals
den spanischen Zweig des Ordens anerkannt.
Und nun zum Abschiede von Brügge noch einmal die
Spitze des Betfrieds erstiegen und Umschau gehalten über
die altehrwürdige Stadt und ihre Umgebung, die flach wie
ein Tisch sich ringsum ausbreitet. Nach Norden hin, dem
Oceane zu, erblickt man dort zwei einzelne hohe Thürme,
in etwa 6 km Entfernung den von Damme, und weiter-
hin, mehr links, den von Liffcweghc. Sie allein find anf-
17*
132
Brügge.
recht stehen geblieben, während alles übrige Menschenwcrk
zu ihren Füßen, das einst durch Brügges Blüthe ins Leben
gerufen worden war, mit derselben zugleich vergangen ist.
Eine ganze Reihe von Ortschaften, Mare, Vive, Sint
Cruus, Wenduyne, Assebrouck, wurden damals blühend und
wohlhabend, indem sie an dem reichen Handel von Brügge
theilnahmen, und sind heute nichts als arme vergessene
Dörfer; aber gegen keine ist das Geschick härter gewesen,
als gegen Damme, das geradezu in das Nichts zurück-
gesunken ist. Es besteht nur noch aus einer einzigen Straße
mitten zwischen lauter Feldern, einem kleinen Kirchhofe und
dem verwüsteten Thurme der Notre-Dame-Kirche. Gras
wächst zwischen den Steinen der Straße, über welche des
Morgens ein kleiner Hirt einige Kühe treibt; ist derselbe
in der Ferne verschwunden, so unterbricht höchstens hin
und wieder ein Hahnenschrei die tiefe Stille, welche sich
Die Salvatorkirche (Saint Sauveur) in Brügge. (Nach einer Photographie.)
ans den Ort herabsenkt, wo im 13. Jahrhundert und später
zahllose Schiffsladungen von französischem Weine, polni-
schem Kupfer, englischen Erzen, ungarischen Fellen und
orientalischen Seidenwaaren ausgeladen wurden, wo Philipp
August 1700 Schiffe gegen die Flamänder und Engländer
versammelte. Damals besaß Damme reiche Privilegien,
Komptore der Hansa und der Lombarden, Kanäle nach
Brügge und Gent, ein eigenes Seerecht und seinen Meer-
hafen, der es zu einem begehrten Besitze für alle Fürsten
ringsum machte. Wie soll man sich aus dem dürftigen
Ueberreste der ursprünglichen Hallen, den Spitzbogen an
einigen Häusern des Marktplatzes und dem finsteren Thurme
von Notre-Dame ein Bild machen von dem einstigen Hin
und Her zwischen Brügge und Damme, den Lastzügen, den
mit Schissen zu se 20 Tonnen bedeckten Kanälen, den reichen
Wohnhäusern, den mit Waaren vollgepfropften Speichern,
den Banken, Versicherungsbnreaux und all den zahlreichen
Geschäften und Handwerken, welche sich, seien sie offen und
Brügge.
133
ehrlich ober heimlich und verabscheuenswert!), stets nach den
Brennpunkten des Verkehrs hinziehen.
Hier wurden am 3. Juli 1468 zwischen 5 und 6 Uhr-
morgens im Refectorium des Hauses des Bürgermeisters
Grabmal Karl's des Kühnen. (Nach einer Photographie.)
Karl der Kühne und Margarethe von York vom Bischöfe baren Zwijn, über welchen man heute hinüberspringen kann,
von Salisbury getraut und hielten dann längs des schiff- in prächtigen Paradewagen und von reichgekleideten Edel-
Grabmal der Marie von Burgund. (Nach einer Photographie.)
leuten begleitet ihren fröhlichen Einzug in das reichgeschmückte
“ffienige Jahr- spii.er begann der Hasen von Damm-
rasch zu versanden, und damit sank ihr Glück unwieder-
bringlich dahin. Auch die Bemühungen Albert's und Jsa-
bella's, welche 1617 die verfallenen Stadtmauern wieder
134
Brügge.
aufrichteten, halfen dem Orte nichts. Was sich ans alter
Zeit erhalten hat, ist, wie gesagt, wenig genug; hervorzu-
heben sind die Hallen, ein hübsches Gebäude aus der Mitte
des 15. Jahrhunderts, in Gestalt eines Rechtecks aufgeführt.
Auf dem kleinen Marktplatze davor steht eine Bildsäule des
„vlämischen Ennius", des gegen Ende des 13. Jahrhunderts
Aussicht auf Brügge vom Belfried.
dort gestorbenen gelehrten und boshaften Jakob de Coster Damme, in geistlicher Tracht. Vor etwa einem halben
van Maerlant, angeblich einstigen Stadtschreibers von Jahrhundert befand sich noch sein Grabstein im Chore von
Die Kirche von Damme.
Notre-Dame, auf welchem er dargestellt war mit einer Tafel für einen Spiegel hielt, den Till Eulenspiegel, der
Brille auf der Nase und auf einer Tafel schreibend, neben 1350 zu Mölln an der Pest starb und dort begraben liegt,
ihm eine Eule. Darin hatte dann das Volk, welches die ! zu erkennen geglaubt, und erst als der Grabstein verschwand,
135
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen
konnte van Maerlant wieder in seine Rechte treten und
seinen ewigen Schlaf weiterschlafen.
Die neuerdings in ein Rathhaus verwandelten Hallen
sind nur noch ein schwacher Abglanz von dem, was sie
früher waren, und gehen, wenn nicht bald Hilfe kommt,
durch den Einfluß des Wetters und der Zeit und dieNach-
lässigkeit der Menschen ihrem gänzlichen Verfalle entgegen.
Im Inneren hat sich noch einiges aus alter Zeit erhalten,
namentlich zwei ziemlich geräumige Zimmer, deren eines
noch heute dem Gemcindevorstande bei seinen Sitzungen
dient, während in dem anderen Truhen, Bänke und Brenn-
holz aufgestapelt sind; ferner ein Kamin mit einem skul-
pirten Friese aus dem 15. Jahrhundert, mächtigen Feuer-
böcken mit bärtigen Masken und einer 2 in langen Feuerzange,
sowie mit Wappen und Bildwerken verzierte Balkentopse,
: Stüdtegründung im nordamerikanischen Westen.
bei denen die im Mittelalter häufig sich findende Vermischung
des Heiligsten mit dem Profanen in derber Weise auftritt:
neben König David mit der Harfe, der Jungfrau mit dem
Kinde und einem Propheten sicht man einen knienden Mann,
der einer Sau unter den Schwanz bläst!
Notre-Dame ist jetzt nur noch ein Stück von einer
Kirche; zwischen dem Thurme, welchem die Spitze fehlt,
und dem gegenüberliegenden Abschnitte des dreischiffigen
Langhauses, welches fetzt für den Gottesdienst eingerichtet
ist, fehlt ein gewaltiges Stück des Gebäudes, breit genug,
daß ein Fluß zwischen Thurm und Kirche hindurchfließen
könnte; es ist gleichsam ein Theil des Ganzen heraus-
geschnitten worden. Aber weithin in der Ebene sichtbar
ragt der viereckige Thurmpfeiler auf, das einzige Große,
was von Damme übrig geblieben ist.
Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Von A. Sartorius Freiherrn von Waltershausen.
Als Ausnahme von dem für Amerikas Stüdtegründung
gültigen Satz, daß diese durchweg nach wirthschaftlichen
Gesichtspunkten erfolgt — mögen nun die Naturschätze, die
Verkehrsmittel oder die geeignete Lage die nächste Veran-
lassung dazu bieten —, könnte man die Mormonenansiede-
lung am großen Salzsee bezeichnen. Denn daß Brigham
Young seine Getreuen in eine bäum- und wasserlose Stein-
wüste führte und sie dort in der trostlosen Einöde sich
niederlassen hieß, möchte man kaum geneigt sein, eine zweck-
mäßige Handlung eines auf das ökonomische Wohl seiner
Glaubensgenossen bedachten Mannes zu nennen. Man
könnte vielmehr der oft ausgesprochenen Behauptung zu-
stimmen, daß der Moses der Mormonen die Absicht gehabt
habe, die Seinigcn fern von dem Treiben des amerikanischen
Geschäftslebcns, dem harten Kampfe des Daseins zu unter-
werfen, Reichthum und raffinirten Lebensgenuß von ihnen
fern zu halten, um sie desto fester an die religiösen Vor-
schriften der Sekte zu binden. Aber Brigham Young war
kein asketischer Fanatiker, sondern ein praktischer Amerikaner,
und dazu ein Mann von ungewöhnlichem, weitreichendem
Organisationstalent und Scharfblick. Er wußte recht gut,
daß in seinem Vaterlande Geld noch in höherem Maße
Macht als anderswo bedeutet, und daß keine religiöse Ver-
einigung dauernd ohne weltliche Machtmittel bestehen kann.
Das Territorium Utah entsprach seinen Zwecken sehr wohl.
Es lag damals fern von dem amerikanischen Leben und
war zudem noch mexikanisch, so daß sich die Glaubens-
gemeinschaft dort ungenirt entfalten konnte, hatte aber zu-
gleich günstige natürliche Vorbedingungen, die zwar ver-
borgen waren und deren Ausnutzung viel Arbeit kostete, die
sicherlich aber auch einen ganz besonderen Ertrag in Aus-
sicht stellten. Heute sind die Mormonen im allgemeinen
nicht bloß wohlhabend, sondern viele sind reich zu nennen,
und Millionäre giebt es in Zion ebensogut, als in New
York und San Francisco. Auch Brigham Young wurde
zu ihnen gerechnet. Als dieser merkwürdige Mann im
Jahre 1847 mit seinen 42 Genossen an dem Ufer des
großen Salzsees anlangte, da mochten die meisten wohl
zunächst nicht begreifen, wie in einer solchen Wüste, die mit
III.
den sogenannten Alkalifeldcrn, auf denen keine Pflanze
gedeiht, durchzogen, und die an besseren Stellen nur von
einem kümmerlichen Graswuchse und dein graugrünen
Sagcbusch dürftig bedeckt war, eine neue Heimath und das
verheißene Paradies zu finden sein werde. Und doch war
hier gerade die geeignetste Stelle zum Anbau, wenn über-
haupt ein abgelegener Ort in der Wüste genommen werden
sollte, weil vom Gebirge und vom Jordanfluß in Kanälen
Wasser herbcigcleitct werden konnte, weil die naheliegende
Kette der Wahsatch Mountains gegen die von Osten her
drohenden Präriestürme einen leidlichen Schutz gewährte,
weil der Boden an natürlichem Reichthum genug bot, wenn
seine unfruchtbare Salz- und Alkalihülle entfernt war, und
weil die naheliegenden Gebirge reiche Metallschützc bargen,
welche direkt durch Ausbeutung, oder indirekt, wenn Berg-
leute als Käufer mormonischer landwirthschaftlicher Produkte
auftreten würden, als werthvollc Zugabe zu betrachten waren.
Daß der geniale Führer der Sekte sich in seinen Be-
rechnungen nicht getäuscht hat, wird jeder bezeugen, der
die herrliche Oase Salt Lake City besucht hat. Ermüdet
von dem ewigen Einerlei der nackten Felsen und der grauen
Staubeinöden des unerträglich heißen Nevada oder des öst-
lichen Wyoming blickt das Auge des Reisenden freudig auf
die im frischen Grün prangenden Gürten der Stadt und
auf die wogenden Weizenfelder, welche sich bis zum Utahsee
hin ausdehnen. Es ist freilich noch immer recht warm
hier, denn der kontinentale Sommer verleugnet sich nicht,
aber die Luft ist doch nicht von der furchtbaren Trockenheit
und die Winde sind nicht mit dem alles durchdringenden
feinen Wüstenstaube geschwängert, welcher den Aufenthalt
in den amerikanischen Steppen auf die Dauer dem weißen
Manne unmöglich macht. Die Mormonen selbst behaupten,
daß sie durch die Bewässerung des Bodens und durch die
reichlichen Baumanpslanzungen das Klima ihrer Ansiedelung
erheblich verbessert haben, was in der That jedem zunächst
begreiflich erscheint, der eben dem Gluthosen des Pacific-
bahnzuges entronnen ist. Doch darf man nicht vergessen,
daß das nahe, immer mit Schnee bedeckte Hochgebirge und die
Verdunstung der Seen das ihrige zu der Temperirung der
136
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Stüdtegründung im nordamerikanischen Westen.
Wärme beigetragen haben, was freilich nicht genügt hat,
um den Obstgärten, den Gemüsebeeten und den Mais- und
Weizenfeldern ausreichende Lebensbedingungen zu verschaffen.
Ich wollte nur auf die eigenartige Lage der Mormonen-
niederlafsung aufmerksam machen und den Leser nicht den
übereilten Schluß ziehen lassen, daß die gesammte amerika-
nische Wüste zwischen dem Felsengebirge und der Sierra
unter gleichen Anstrengungen, wie sie von den „Heiligen
des jüngsten Tages" gemacht worden sind, sich kultiviren
lasse. Bei den Fortschritten unserer heutigen Technik wäre
es vermessen zu sagen, daß ein Anbau dort unter keinen
Umständen ausführbar sei, wie diejenigen Reiseschriststeller
zu beweisen suchen, welche in der Konkurrenz amerikanischer
Brotstoffe keine dauernde Gefahr für die europäische Land-
wirthschaft erblicken. Ebenso verkehrt ist aber auch das
Urtheil derer, welche in dem Mitbewerb Amerikas auf
europäischen Märkten ein nicht zu verscheuchendes Miß-
geschick sehen und sich zu dem Behufe aus die ansehnliche
Summe von Quadratmeilen wüsten Regierungslandes ver-
lassen, welche dem Pfluge noch unterworfen werden können.
Ich vermuthe, daß der Anbau in den westlichen Steppen
immer schwerer werden wird, je weiter er sich ausdehnt.
Die Kanalanlage wird theurer, je weiter das Hochgebirge
von dem Orte der Ansiedelung entfernt ist, und ob schließ-
lich das Wasser an Masse ausreicht, ist auch uoch die Frage.
Mit artesischen Brunnen kann man wohl für den Haus-
gebrauch und vielleicht für die Besprengung des Gartens
genügend Wasser beschaffen, aber die Kosten, um die Felder
damit zu berieseln, werden von den für längere Zeiten
vermuthlich niedrigen Getreidepreisen nicht gedeckt werden
können. Dann ist nicht zu vergessen, daß die Wüstenstürme,
die Tornados und die Blizzards an Jntensivität zunehmen,
je weiter man sich von den schützenden Bergketten entfernt.
Und schließlich zeigt ein Blick auf die Karte, daß die Ver-
theilung der Seen auf dem großen Hochplateau der Rocky
Mountains sehr ungleich ist. Während das westliche Utah,
in dem die Mormonen wohnen, damit versehen ist, sind
das westliche Neu-Mexiko und Arizona gänzlich davon ent-
blößt, Süd-Nevada und Idaho nur spärlich damit bedacht.
IV.
Die für ökonomische Zwecke besonders geeignete geogra-
phische Situation tritt bei den Häfen und Flüssen recht
deutlich hervor. Daß Boston, New Port, Philadelphia,
Charlcston, Savannah, Galveston, San Francisco große
Handelsstädte geworden sind, ist leicht verständlich. Ebenso,
daß Toronto und Hamilton an den westlichen Punkten des
Ontariosees, Buffalo an der Ost-, Cleveland an der Süd-
und Toledo an der Westspitze des Eriesces eine großartige
Entwickelung aufzuweisen haben. So hat auch Duluth
am Oberen See eine Zukunft. Die naturgesetzliche Bedeu-
tung von St. Louis ersieht man aus dem nahen Zusammen-
fluß der beiden größten Ströme der Vereinigten Staaten,
des Mississippi und des Missouri; Kansas City liegt an dem
Vereinigungspunkte des letzteren Flusses mit dem Kansas
River, Cairo an der Mündung des Ohio in den ersteren.
Von besonderem Interesse ist die Lage der Stadt Chicago,
deren kurze Geschichte für das rasche Wachsthum amerika-
nischer Städte ein ganz besonders frappirendes Beispiel ist.
Die ersten weißen Besucher der Gegend, in welcher die
heutige Riesenstadt gebaut ist, waren die Franzosen Joilet
und Marquctte, deren Reise in das Jahr 1673 fällt. Aber
erst im Jahre 1804 fand die erste Niederlassung mit der
Gründung des Forts Dearborn statt, welches lange Zeit
hindurch als das am weitesten nach dem Westen vorge-
schobene galt. 1812 brannten es die Indianer nieder,
1816 ward es stattlich und neu wieder erbaut, 1837 ver-
lassen und 1856 abgetragen. Heute zeigt eine an einem
Hause der frequentesten Geschäftsgegend befestigte Erinne-
rungstafel den Ursprungsort der Metropole des Westens.
Neben der militärischen Station wurde von unserem be-
rühmten Landsmann Johann Jakob Astor eine kleine
Handelskolonie angelegt, deren erste muthige Verwalter
demUeberfall der Präriesöhne zwar erlagen, die aber dann,
wieder hergestellt, einen ergiebigen Tauschhandel mit Trap-
pern und Eingeborenen betrieb. Im Frühling des Jahres
1831 bestand die Ansiedelung aus nur zehn weißen Fa-
milien; drei hielten Tavernen, die übrigen ernährten sich
durch Handel mit den Jndianerstümmen der Pattawato-
mies, Ottawas und Chippewas. In demselben Jahre
kam das erste Schiff nach Chicago, pin Schooner mit
Lebensmitteln für die Garnison des Forts, der, da es zu
jener Zeit noch keinen ausgebauten Hafen gab, eine halbe
Meile vom User Anker warf x). Bald darauf fing die
Bcvölkerungszahl der Stadt an zu wachsen. Der ausge-
brochene Jndianerkrieg veranlaßte die in der Umgegend
wohnenden Farmer, unter den Kanonen des Forts dauernd
Schutz zu suchen, und außerdem führte das 1832 im ganzen
Lande grassirende „westliche Fieber" viele Ansiedler herbei,
welche die Vortheilhafte Lage des Dörfleins erkannt hatten.
Im Herbste schlachtete ein dortiger Unternehmer bereits
200 Stück Rindvieh und 350 Schweine, welche er aus
dem Wabaschthale hatte kommen lassen — und dies war
der Anfang des enormen Fleischhandels, welcher heute im
internationalen Verkehr eine so hervorragende Bedeutung
hat und mit Millionen von Thieren rechnet. Im Jahre
1833 lebten in dem damaligen Dorfe 550 Einwohner, von
denen wohl manche nicht naturalisirte Canadier gewesen
sein mögen, denn es wurden, wie wir aus erhaltenen Wahl-
listen ersehen können, bei einer Countywahl in jener Zeit
nur 29 Stimmen abgegeben. Die Zahl der Gebäude be-
trug 175 und die Gesammtfläche des Dorfes belief sich
ans 560 Acker oder 7/s einer englischen Quadratmeile,
während die heutige Stadt ein Areal von etwa 36 Qua-
dratmeilen mit 600 000 Einwohnern umspannt. Dabei
sind die Vorstädte, welche sich unmittelbar an die Stadt-
grenzen anschließen, Hyde Park mit 60 000, Lake mit
40 000 und Lake View mit 25000 Einwohnern, nicht mit
in Rechnung gezogen. Der wirkliche Werth alles Eigen-
thums in Chicago wurde damals auf 60 000 Dollars ge-
schätzt, zum Zwecke der Besteuerung auf 19 560 Dollars.
Die gesammte Jahressteuer belief sich auf 48 Dollars und
90 Cents. „Heute", schreibt die Illinois Staatszeitnng,
„wird der wirkliche Werth des Eigenthums mit 1500 000 000
Dollars eher zu niedrig als zu hoch angegeben sein; die
Schätzung zum Zwecke der Besteuerung beträgt freilich nicht
ein Drittel, sondern ein Zehntel des wirklichen Werthes.
Es gab also vor fünfzig Jahren ehrlichere Stcucrein-
schätzer nnd wohl auch willigere Steuerzahler als heute."
Im folgenden Jahre zeigte die Wahlliste des Township
111 Namen. Mit Hinblick auf die heutige drückende
Schuldenlast erzählen sich die Chicagoer gern, daß 1834
die erste öffentliche Schuld für Anlage und Verbesserung
der Straßen im Betrage von 60 Dollars kontrahirt wurde.
Damals erließ der Gemeinderath eine Bekanntmachung,
welche von der Geldnoth der Bevölkerung ein Zeugniß
ablegt. „Die Gemeindevorsteher" — so lautet das merk-
würdige Aktenstück — „thun kund und zu wissen, daß sie
sich für keinen Schaden verantwortlich halten, der irgend
i) Atlantische Studien von Deutschen in Amerika, 1856,
Bd. 8, S. 54 sf.
A. Sartorius Freiherr oon Waltershauseu: Städtegründung im uordamerikanischen Westen. 137
Jemand bei Passirung der Brücken über den Chicagofluß
erwachsen könnte, da solche sich notorischer Weise in bau-
fälligem und lebensgefährlichem Zustande befinden, der Ge-
meindcvorstand aber keine Mittel zur Bestreitung der Re-
paratur besitzt." Am 4. März 1837 ward das Dorf zu
einer Stadt erklärt, und der bei dieser Gelegenheit veran-
staltete Census fand 4179 Einwohner, 398 Wohnhäuser,
29 Apotheken, 4 Magazine, 19 Getreide- und Viktualien-
geschästc, 10 Gasthäuser und Schenken, 28 Groceries und
5 Kirchen. Seit jener Zeit wurden regelmäßig jährlich
Volkszählungen vorgenommen, deren Resultate ich hier im
kurzen wiedergebe:
1840 : 4 470 Einwohner 1860 : 109 263 Einwohner
1845:12 088 „ 1865:187 446 „
1850 : 28 269 „ 1870 : 298 977
1855:80 023 „ 1880 : 503 053 „
Von 1837 bis 1840 war wohl die traurigste Zeit der
Stadt. Trotz der geringen Bcvölkerungszahl war dennoch
durch die Speknlationswuth das Eigenthum zu einem enor-
men Werthe cmporgeschwindelt, der zwanzig Jahre später
in Wirklichkeit noch nicht erreicht war. Dann brach plötz-
lich eine allgemeine Krisis herein, von der der Staat Illi-
nois und Chicago sich nur langsam erholten. Erst 1847
hatte die Stadt für die Einwanderer wieder einen guten
Ruf und von nun an nahm die Bcvölkerungsziffer einen
Aufschwung, der selbst für die Vereinigten Staaten als ein
ganz unerhörter bezeichnet werden muß. Von 1847 bis
1855 stieg die Einwohnerzahl von 20 000 auf 80 000,
im Jahre 1852 auf 53 allein um 57 Proc. In dieser
Epoche war der Kanal vollendet worden, welcher den
Michigansee mit dem Mississippi verbindet, und ebenso
machten sich die Eisenbahnen geltend, von denen die Ga-
lena und Chicago Union, die Rock Island und die Illi-
nois-Central allen übrigen vorangingen. Bald folgte die
Eröffnung der Michigan Central und der Süd-Michigan-
Bahn, wodurch eine schnelle und billige Verbindung nach
den Seeplätzen des Ostens gesichert war. Chicago wurde
damit der bedeutendste Getreidcmarkt der Vereinigten
Staaten und behauptet, heute der größte der Erde zu sein.
Der Handel nahm seit der Errichtung der erwähnten Ver-
kehrsmittel einen anderen Charakter an. Während bisher
der Kleinhandel für die weiten Strecken des Nordwestens
in der Stadt betrieben wurde, die Farmer jährlich einmal
kamen, um sich mit Waaren zu versehen, zog jetzt das
Detailgcschüft den Eisenbahnen und den Wasserstraßen
nach. Zunächst war es ein harter Schlag für viele Kauf-
leute, bald aber hatten sie die Kalamität dadurch über-
wunden, daß sie nun zu Engroshändlern wurden und mit
dem ihnen zur Verfügung stehenden Kredit ihre Geschäfte
bedeutend erweitern konnten. Im Jahre 1855 zählte man
in der Stadt bereits 300 Großkaufleute.
Der Bürgerkrieg im Anfang der sechziger Jahre hat
dem Fortschritt Chicagos nur wenig Abbruch gethan, wie
der oben angegebene Bevölkerungszuwachs von 1860 bis
1865 zeigt. Aus der neueren Geschichte der Stadt will
ich nur noch den großen Brand hervorheben, dessen Folgen
mit einer Schnelligkeit wieder gut gemacht wurden, wie sie
die Weltgeschichte vordem wohl niemals verzeichnet hat.
Keine That der nordamerikanifchen Kulturentwickelung hat
ein so glänzendes Zeugniß für die Spannkraft des ameri-
kanischen Unternehmungsgeistes abgelegt, als der Aufbau
der größtentheils zerstörten Stadt in dem kurzen Zeiträume
von nur zehn Monaten. Am Sonntag den 8. Oktober
1871 brach in dem westlichen Stadtthcile das Feuer aus.
Die dortigen, meist ärmeren Leuten gehörenden Gebäude ¡
GIvbus XLVII. Nr. 9.
waren hauptsächlich von Holz, und große Mengen von Bau-
und Brennmaterial waren dort an dem Flußufer gelagert.
Ein starker Wind hatte in kurzer Zeit das ganze Quartier
in ein Feuermeer verwandelt, welches nach wenigen Stunden
auch nach dem südlichen Stadttheile hinwogte, wo ein
Waarendepot neben dem anderen sich befand. Der am
Montag noch wüthende Sturm legte diesen Stadttheil, der
größtentheils aus massiven Gebäuden bestand, in Asche,
und als am Dienstag Morgen der Wind nachließ, war auch
von dem nördlichen Stadtguarticr, in welchem die Wohn-
häuser der wohlhabenden Bevölkerung lagen, ein Theil der
Raub der Flammen geworden. Ein bebautes Areal von
über 3 Vs englischen Quadratmeilen war in zwei Tagen in
einen rauchenden Schutthaufen verwandelt. 17 450 Ge-
bäude waren zerstört und 98 500 Menschen obdachlos ge-
worden. Der vernichtete Werth wurde auf 190 000 000
Dollars veranschlagt, von denen nur 30 000 000 ver-
sichert waren, eine Summe, welche aber nur theil-
weisc ausgezahlt werden konnte, da eine Anzahl der
Versicherungsgesellschaften infolge der enormen Ansprüche
alsbald sich bankerott erklären mußte. Trotz alledem
wurde das Geschäft in Chicago nur kurze Zeit unterbrochen.
Ehe es Winter wurde, halfen sich die Kaufleute mit pro-
visorisch aufgeschlagenen Holzbuden und die erhaltenen
Wohnhäuser traten in der kalten Jahreszeit an deren Stelle.
Die Umgebung der Stadt wurde zu einem großen Lager,
auf dem Tausende von Holzbaracken und Zelten aufge-
schlagen waren. Man begann sofort mit dem Forträumen
des Schuttes und dem Neubau der Stadt. Banhandwcr-
kcr und Architekten kamen ans allen Theilen der Union,
die östlichen Städte streckten den Unternehmern Millionen
an Kapital vor. Schöner, zweckmäßiger und massiver als
zuvor war in einem Jahre die Stadt neu erbaut, welche
nun die alte Bezeichnung der Empire City des Westens
mit der der Phönix City vertauschte. Gegenwärtig nimmt
man für die Stadt 600 000 Einwohner an, und rechnet
man die Vororte dazu, so kann man rund dreiviertel Mil-
lionen festhalten. Das Straßennetz beträgt 600 englische
Meilen. . Was die Stadt kommerziell und industriell bc-
bcdeutet, mögen folgende Angaben noch in Kürze darthnn.
Aus dem amtlichen Jahresberichte des Marincamts des
letzten Jahres geht hervor, daß 360 Fahrzeuge mit einem
Gesammttonnengehalt von 63 992 dem Chicagodistrikt an-
gehören. Im Hafen überwinterten im ganzen 440 Dampf-
und Segelschiffe mit einem Tonnengehalt von 146 234 und
im Laufe des Jahres kamen 4385 Dampfer und 7429
Segelschiffe an, welche einen Tonnengchalt von 3 812 464
repräsentirten. Die Ausfuhr zur See betrug 800 000 Faß
Mehl, 6 000 000 Bushel Weizen, 44 000 000 Bnshel
Mais, 5 000 000 Bushel Hafer, 2 500 000 Bnshel Rog-
gen, 1 600 000 Bnshel Flachssamen, 5500 Faß Rindfleisch,
25 640 Faß Schweinefleisch, 80 000 Eimer Schmalz rc.
Im Jahre 1883 wurden in der Stadt 5 650000 Schweine
geschlachtet, und nach dem letzten Jahresbericht der Börse
wurden versandt:
Mehl und Getreide .... 90 631 000 Pfd. St.
Lebendes Vieh..................... 93 208 000
Fleisch, Schmalz, Talg und Pökel-
schweinefleisch ......................116 160 000
Butter und Käse ..... 19 340000 „
Wolle und Felle....................... 23 645 000
Samen und Bcsenrcis ... 9 260 000 „
Verschiedene Produkte .... 13 510000 „
Der Werth der erzeugten Jndustriewaaren wird auf
30 Millionen Dollars veranschlagt. Zur Bewältigung
18
í
138 A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
des inneren Getreidchandels bestanden schon 1880 25 Ele-
vatoren- und Speichergesellschaften und 14 selbstständige
Eiseubahnrouten trafen in der Stadt zusammen.
Seine kommerzielle und industrielle Bedeutung ver-
dankt Chicago wesentlich feiner von der Natur begünstigten
Lage1). Kein Ort an dem Gebiete der großen Seen ver-
einigt so viele geographisch-ökonomische Vorzüge, und kein
Ort in dem weiten Westen überhaupt kann sich einer so
centralen Lage erfreuen. Doch trat die günstige Beziehung
zu entfernteren Gegenden und damit die gestaltende Haupt-
kraft der Größe Chicagos bis zur Mitte dieses Jahrhun-
derts zurück, und bis dahin konnten sich die auf engere
Grenzen angewiesenen Beziehungen allein bethätigen. Daß
am Südende des Michiganfecs, einem der Endpunkte des
großen Seenkomplexes, eine Stadt von erheblicher wirth-
schaftlicher Kraft entstehen mußte, war unzweifelhaft, sobald
einmal die Thatsache der Besiedelung des Westens ver-
bürgt war. An welcher Stelle aber der große Handelsver-
kehr sich halten würde, das war in den dreißiger Jahren
unseres Jahrhunderts noch sehr bestritten, und von mehre-
ren kleinen Ortschaften behauptete eine sede die Zukunfts-
stadt des Westens zu sein. Vor den meisten war die an
dem Chicagoflusfe gelegene durch den mit der Flußmündung
gegebenen Hafen bevorzugt, von den etwa konknrirrenden
Orten an anderen Häfen zeichnete sie sich durch die leichte
Verbindung mit dem Mississippi aus. Der Chicagofluß
ist von dem in den Hauptstrom Amerikas mündenden Jlli-
noisfluß nur durch eine niedrige und schmale Wasserscheide
getrennt und bietet so die natürliche Straße nach dem
Westen, welche schon von alters her von den Indianern
benutzt wurde. Seit 1848 ist diese Wasserscheide von
einem Kanal durchbrochen worden, womit die zukünftige
Größe Chicagos als entschieden betrachtet werden konnte.
Der wunderbar rasche Aufschwung der Stadt läßt sich aber
nur durch das Hinzukommen anderer mehr aus der Ent-
fernung Vortheilhaft einwirkender Ursachen erklären, ohne
welche sie wohl die Bedeutung von Buffalo oder Toledo,
aber nicht die heutige exceptionelle erhalten hätte. Von
der Verbindung mit den: St. Lorenzstrome durch den Wel-
landkanal können alle an dem großen Seenbecken gelegenen
Städte ihren Vortheil ziehen, Duluth ebenso wie Cleveland
und Milwaukee, aber kein Ort hat zu dem großen mit Wei-
zen bebauten Areal von Wisconsin, Illinois und Indiana,
und von den Hinterländern dieser Staaten Minnesota und
Iowa eine so centrale Lage wie gerade Chicago. Alle diese
Gebiete sind um die West- und Südseite des Michigansees
gruppirt und in dem Winkel desselben ist die Handels-
metropole gelegen. Von allen Theilen der genannten Län-
der führen Eisenbahnen koncentrisch auf den einen Punkt
zu und gewähren so eine deutliche Veranschaulichung des
Gesagten. Die im Westen producirten Getreide- und Vieh-
massen suchen naturgemäß die billigen Wasserstraßen der
Flüsse und der großen Seen auf, um nach dem Süden
und vor allem nach dem Osten transportirt zu werden.
Von Minnesota, Wisconsin, Iowa und Illinois er-
hält der Mississippi zahlreiche Zuflüsse, durch welche er aus
den meisten Gebieten der genannten Staaten deren Export-
massen ansammeln kann. Der östlichste Punkt des Mis-
sissippi in diesen Staaten, mithin der dem Michiganfee
nächst gelegene, liegt aus derselben Breite wie Chicago, so
daß, wenn die oben erwähnte Wafserverbindung zwischen
dem See und dem amerikanischen Hauptstrome auch nicht
bestünde, der Landverkehr zwischen beiden sedenfalls den
Weg über Chicago hätte nehmen müssen. Wenn gegen-
i) Bergt. Ausland 1871, Nr. 32.
wärtig große Quantitäten von landwirthschaftlichen Erzeug-
nissen auf ihrer Reise nach dem Osten nicht den Wasser-
weg, sondern die Bahnen aufsuchen, so wird dadurch die
Bedeutung der ersteren für unsere Beweisführung nicht
abgeschwächt, denn die Bahnen haben sich dem angeschlossen,
das ergänzt, was die Natur vorgezeichnet hat, und durch
die Konkurrenz der Wasserwege veranlaßt, den Farmern
mäßige Tarife stellen müssen. Wesentlich verstärkt wird
die gegebene centrale Lage Chicagos durch die geographische
Stellung der Stadt zu dem Osten. Dieselbe bestimmt sich
hauptsächlich dadurch, das New Uork und Chicago fast die-
selbe geographische Breite haben. Die von dem mächtig-
sten Hafen der Union direkt westlich vorgeschobenen Massen
von Einwanderern und Gütern müssen daher ihre Richtung
ans Chicago nehmen. Ebenso wichtig ist der Umstand, daß
die Südspitze des Eriesees dieselbe Breite theilt. Alles was
sich an Verkehr von den östlichen Handels- und Fabrik-
städten direkt westlich wendet, trifft, wenn die Bewegung
nach Westen genügend fortgesetzt wird, die große von Süd-
westen nach Nordosten sich hinziehende Wasserstraße des
Eriesees, des Ontarios und des St. Lorenzstromes. Ein
großer Theil der Personen und Waaren, welche in Mont-
real, Oswego, Rochester, Buffalo oder Cleveland ankommen,
benutzt um weiter nach Westen zu kommen, die sich dar-
bietende Wasserlinie und erreicht so das Südende des Erie-
sees. 'Der hier aufgestaute Verkehr geht nun von Toledo
aus nach Michigan, Indiana und Ohio strahlenförmig aus-
einander, der Hauptstrahl aber, der direkten Linie nach
Westen folgend, geht auf Chicago zu. Bon hier aus er-
gießt sich der Verkehr in derselben Weise nach den Staaten
Wisconsin, Minnesota, Illinois, Iowa und Missouri. Die
Stadt erscheint somit als der Sammelpunkt, von dem ein
dichter Strahlenbüschel ausgeht, und hat, wenn wir an das
oben gesagte zurückdenken, in doppelter Beziehung eine cen-
trale Lage. Der Export aus dem Osten nach den am
Mississippi liegenden westlichen Staaten muß über Chicago
gehen, und da die Rückfrachten denselben Weg gehen, so
müssen sie, um nach dem Osten zu kommen, ebenfalls diese
Stadt berühren. Umgekehrt schreibt es auch die Natur vor,
daß der Export von Westen über Chicago nach dem Osten
hinwandert und bestimmt auch der Rückfracht denselben Weg.
Vier Nothwendigkeiten, können wir somit sagen, treffen
zusammen, um der am Südende des Michigausees gelege-
nen Bietropole eine so intensive Verkehrsbedeutung zugeben.
Unter den von hier auslaufenden Linien geht eine der
wichtigsten direkt nach dem Westen weiter, erreicht Davon-
port am Mississippi und Omaha am Missouri. Vou bei-
den Orten aus verzweigt sich der Verkehr in derselben
Weise wie vou Toledo oder Chicago aus, natürlich ist aber
der vom Osten ausgegangene Impuls nicht mehr der
gleich starke, sondern schon bedeutend abgeschwächt, immer-
hin aber noch wichtig genug, um der von Omaha nach
San Francisco führenden Pacificbahn einen größeren Ver-
kehr zu sichern, als er schon durch die direkte Beziehung
des Atlantischen und Stillen Meeres bedingt ist. Chicagos
Lage ans der direkten Route von New ^ork nach Kalifor-
nien ist daher auch nicht zu unterschätzen.
Daß Chicago eine ganz hervorragende Handelsstadt ge-
worden ist, geht unmittelbar aus dem Gesagten hervor.
Die industrielle Bedeutung ist nur eine Rückwirkung da-
von. Die einmal geschaffene Koncentration der Bevölkerung
mußte zur Industrie übergehen, da der Handel die Arbeits-
kräfte nicht das ganze Jahr hindurch absortarte, und weil
die Eisenbahnen einmal entstanden, und ans Rückfracht
wartend die Verbreitung der Jndustrieprodukte billig über-
nehmen konnten.
A. Riis Carstensen: Die westgrönlandische Expedition.
139
Die west grün ländische Expedition.
Von A. Riis Carstensen. (Deutsch von W. Finn.)
I.
Auf einem der äußersten Holme im Distrikte Holsteinborg, 19. Juli 1884.
Wahrend der Sommermonate wird Holsteinborg sehr
viel von den Amerikanern, welche auf den nahen Banken
Heilbutten sischen, als Salzniederlage benutzt. In der
Regel kommen dieselben im Juni, lagern ihr Salz auf den
Klippen und verdingen einige Grönländer; wie behauptet
wird, treiben sie gleichzeitig auch Schmuggelhandel. Wie
cs sich hiermit verhält, will ich ungesagt sein lassen, aber
mehrere Umstände deuten darauf hin, daß es der Fall ist,
und in der letzten Zeit sind seitens der Grönländer Aeuße-
rungen über die Dänen und den königlich grönländischen
Handel vernommen worden, die früher unerhört waren;
diese Aeußerungen beweisen eine beginnende Unzufriedenheit,
und unserer Aufmerksamkeit konnte es auch nicht entgehen,
daß das Verhältniß zwischen den Eingeborenen und den
Dänen nicht das allerbeste, wenn auch kein eigentlich ge-
spanntes war. Es liegt nahe zu fragen, weshalb die Dänen
diese Fischerei, durch welche sich die Amerikaner bereichern,
nicht selbst ausnutzen. Der Fischreichthum ans den draußen
besegelten Banken und in den Fjorden ist groß, in den
letzteren stehen die „Angmagsütt", ein kleiner häringsähn-
licher Fisch, in so dichten Zügen, daß man sie mit den
Händen schöpfen kann, und doch leidet die Bevölkerung
jeden Winter Hunger und muß die Hilfe der Handels-
ctablisfemcnts in Anspruch nehmen. Die eigentlich zuin
Walfang erzogenen Leute in den Kolonien haben außerdem
zum Theil ihre ursprüngliche Grönländernatur eingebüßt
und sind infolge dessen ziemlich hilflos. Weshalb werden
dicseLeute nicht mit passenden Gerätschaften zum Heilbutten-
und Häringsfang versehen, da doch alles daraus hinweist,
daß ihre künftige Existenz hierauf beruhen wird, weil der
Vogel- und Robbenfang in der Abnahme begriffen ist?
Wie diese brennenden Fragen gelöst werden, muß die Zu-
kunft zeigen. Das Gerücht war schon verbreitet, daß ein
dänisches Kriegsschiff kommen werde, um die Amerikaner zu
verjagen; die Grönländer sprachen laut den Wunsch aus,
daß dieses Schiss versinken möge, ehe es Grönland erreiche.
Solcher Art waren meine ersten Erfahrungen bezüglich der
Loyalität der Grönländer.
Der erste Anblick eines Grönländerdorfes macht einen
merkwürdigen Eindruck, denn man glaubt nur eine Menge
Düngerhaufen zu sehen, aus welchen hier und da ein Ofen-
rohr hervorragt. In Holsteinborg giebt cs jedoch mehrere
Häuser, die mit Bretterdächern und Fenstern in den Giebeln
versehen sind; für die ganze Bevölkerung von mehr als
200 Personen sind aber nur einige zwanzig Häuser vor-
handen. Der Schnee war weich geworden und bildete in
Vereinigung mit den Abfallhaufen, in denen einige wolfs-
ähnliche Hunde umherwühlten, einen furchtbaren Morast,
in welchen man bis zu den Knien hineinsank; auf mehreren
Stellen war derselbe bis in die Häuser hineingedrungen.
Trotz dieses Schmutzes war es höchst ausfällig, so viele
geputzte Mädchen uns Neuankömmlingen entgegenziehen zu
sehen. Es war eine bunte Menge, deren kleidsame Tracht
nur helle Farben zeigte: Jacke mit Pelzbesatz am Halse
und Perlenstickerei über den Schultern, ein guadrirtes Band
als Gürtel um die Taille, sichtbare weiße Leinwand, kurze
Seehundsbeinkleider, vorn mit einigen koketten Streifen
geschmückt und weiße, blaue, gelbe oder rothe bis über das
Knie reichende, mit Pelz verbrämte und gestickte Stiefel.
Aus dem Haar wird ein Knäuel gebildet und mit Band
umwunden, dessen Farbe für junge Mädchen roth ist, für
Frauen blau, für Wittwen schwarz und grün für diejenigen,
welche keiner dieser Kategorien bestimmt angehört. Schließ-
lich wird ein buntes Tuch um Stirn und Schläfen gebun-
den. Die grünen Bänder waren jedoch sehr selten, die
rothen zeigten btc größte Zierlichkeit, während die blauen
eine Gleichgültigkeit für das eigene Aeußere bewiesen, die
häufig abstoßend wirkte. Die ganze Tracht erschien ebenso
praktisch als kleidsam, dagegen ist die Frisur die unzweck-
mäßigste für die Bewahrung des Haares, und schon im
jungen Alter bekommen die Frauen über den Ohren kahle
Stellen.
Die Ankunft unseres Schiffes war ein Fest für die
Leute und die Gesichter der jungen Mädchen drückten frohe
Erwartung aus; deu Grund hierzu entdeckte ich erst, als
ich am Abend die Matrosen der „Lncinde" ans Land kom-
men und direkt nach dem Schullokal gehen sah, das in einem
Augenblick mit jungen und alten Frauen und Männern
gefüllt war. Mit Ausnahme der drei Musikanten mit
zwei Violinen und einer Handharmonika waren die übrigen
männlichen Grönländer hier ziemlich überflüssig, da die
Grönländerinnen nun ja dänische Kavaliere hatten; bis
spät in die Nacht hinein wurde nach der Melodie .,O Su-
sanne" gewalzt, grönländische Sechstour (Arfinekpengasut)
getanzt oder unter allgemeiner Munterkeit Fangetanz ge-
spielt. Unter den Mädchen waren mehrere von wirklicher
Schönheit und einige waren ausgezeichnete Tänzerinnen,
was die Matrosen auch durch fortwährendes Auffordern
zum Tanz anzuerkennen schienen.
Meine erste Bergbesteigung war wegen des tiefen
Schnees, der noch an den Ufern einiger von uns zu pas-
sirenden Seen lag und schon weich zu werden begann, mit
Schwierigkeiten verbunden. Während 14 Stunden waren
wir von der Kolonie abwesend. Wir erreichten eine Höhe
von über 2000 Fuß, von wo aus wir eine weite Aussicht
über die Landschaft mit ihren Fjorden und Gebirgen hatten.
Daß unsere Expedition ankommen würde, war in der
Kolonie schon bekannt, und viele Grönländer machten sich
die Hoffnung, dieselbe begleiten zu können; einige hatten
sogar schon in dieser Erwartung eine Anleihe bei dem Kolo-
nieverwalter machen wollen. Für Lieutenant Jenseit,
den Führer der Expedition, war cs deshalb nicht schwer,
eine passende Mannschaft auszuwählen; dieselbe bestand aus
einer Dienerin, zwei Ruderinnen, drei Ruderleuten, einem
älteren Steuermann und zwei Kajakmännern. Die Frauen
sind auf den Reisen in diesem Lande unentbehrlich, da sie
das Schuhzeug in Ordnung halten müssen. Jeder einzelne
von unserer Mannschaft verlangte einen Vorschuß von
10 Kronen. Hierdurch war etwas Geld unter die Leute
gekommen, was am nächsten Tage bei der Oesfnung des
18*
140
A. Riis Carstensen: Die westgrönländische Expedition.
Handelsetablissements zu merken war, denn der Absatz war
nach grönländischen Verhältnissen ein ungeheurer. Dieses
sanguinische Volk denkt nicht ans Sparen, so daß alles als
Vorschuß ausgezahlte Geld sich bald in der Kasse des
Handels befand. In nur kleinen Partien wurden Kaffee,
Zucker, Reis rc. ausgewogen. In einem und demselben
Stück alter Leinwand wurden Brot, Grütze, Zucker, Pfeffer
und Tabak, alles lose durch einander liegend, geholt; die
Grönländer sträuben sich entschieden dagegen, daß das Ilm-
fchlagpapier beim Verkauf der Waaren mitgewogen wird.
Es wurde nun ein grönländisches Frauenboot von
35 Fuß Länge gemiethet; diese Fahrzeuge sind sehr leicht
gebaut, flachbodig und mit Seehundsfellen bezogen, die
Tragfähigkeit derselben ist eine sehr bedeutende, ohne daß
sie tief ins Wasser sinken. Ein kleiner Mast steht vorn
im Steven; das daran befestigte Segel kann zwar nur bei
gutem Wende gebraucht werden, x\t dann aber von vorzüg-
lichem Nutzen. In diesen meistens sehr tiefen Gewässern,
in denen ein Verankern nicht möglich ist, und wo es außer-
dem so wenige geschützte Buchten giebt, ist das Franenboot
ein praktisches Fahrzeug, denn es ist leicht aus dem Wasser
zu heben und fortzutragen. Andererseits leidet es aber an
dem Uebelstande, daß es der Felle wegen nur höchstens
einige Tage im Wasser bleiben kann; es muß dann aufs
Trockne gebracht und die Felle mit Seehundsspeck eingerie-
ben werden. Bei der Landung an flachen Küsten, wo nur
ein wenig Brandung ist, leiden diese Boote sehr, doch ist
in den inneren Theilen der Fjorde nur vereinzelt eine Bran-
dung zu beobachten; Eis und Felsenriffe sind die schlimm-
sten Feinde der Frauenboote.
Am Sonntag den 8. Juni waren unsere Vorbereitun-
gen endlich beendet. Das Boot wurde beladen und beim
schönsten Wetter und unter dem Donner der Kanonen der
„Lucinde" ruderten wir aus dem Hafen. In den ersten
Tagen hielten wir uns an der Fjordmündung zwischen den
Inseln auf, die noch hoch mit Schnee bedeckt waren. Wäh-
rend am Tage meistens eine leichte Brise wehte, wurde es
am Abend windstill, die Luft klar, und in der glatten Fläche
spiegelten sich die Gebirge nah und fern; nur ein Seehund
oder ein Zug Vögel ließen sich dann und wann an der
Oberfläche des Wassers blicken. Nachdem die Tagesarbeit
vollendet und die Zelte errichtet waren, wurde von den
Frauen aus Heidekraut, Treibholz und anderem Brenn-
material, das überall dicht zur Hand war, ein Feuer an-
gemacht. Ein Mann ruderte mit einem Kajak fort und
kam bald mit einem Bündel Fischen zurück, ein anderer
Mann nahm die Büchse und holte einen Seevogcl, einen
Hasen oder ein Schneehuhn, und während das Mahl von
den Frauen zubereitet wurde, lagerten sich die Männer
und stimmten einen Gesang, einen Psalm oder eine dänische
Melodie mit grönländischem Texte an. Wir waren nur
zwei Tage ans der Reise gewesen, als wir am Abend nach
einer Bergbesteigung unser Boot mit einem großen Loch
im Boden daliegend fanden; bei einem Versuch, dasselbe
ins Wasser zu setzen, war eins der mürben Felle zerrissen.
Ein Kajak wurde nun zu einem Manne gesandt, der eine
Meile von uns sein Zelt aufgeschlagen hatte und ein
Frauenboot besaß; das Loch in unserem Boote wurde so
weit ausgebessert, daß auch wir dahin rudern konnten. Zu
solchen Reparaturen führen die Frauen immer die nöthigen
Nadeln, Renthiersehnen und Felle mit, und selbst während
der Fahrt können sie einen Riß im Boote ausbessern.
Auf einer flachen Landzunge an der Südseite des
Amerdlokfjord fanden wir das Zelt; der Besitzer hieß
Jvar, er war ein guter Faugmann, da sein Zelt von Wohl-
stand zeugte. Sogar eine gehende Uhr fehlte ihm nicht.
Auf den Klippen lagen Fische und Fleisch zum Trocknen
und auf dem Grase waren Robbenfelle ausgebreitet. Seine
rührige Frau, ein Bild der Zufriedenheit, äußerte ihren
Verdruß darüber, von unserer Ankunft nichts gewußt zu
haben, denn sonst hätten ihre Kinder ihre neuen Anoraker
(Blousen) anziehen müssen. In der Nähe waren einige
andere Jagdzelte aufgeschlagen, wohl malerischer als dieses,
aber ohne sein ordentliches und reinliches Aussehen. Bei
den dunklen Zelten, aus denen bläulicher Rauch aufstieg,
saßen auf den mit Heidekraut und Sandhalm bewachsenen
Klippen größere Menschengruppen, im Hintergründe sah
man den Fjord mit seinen bis in die Wolken reichenden
Gebirgsstöcken. Große Flächen des Gebirges waren mit
Schnee bedeckt, und ein rauschender Wasserfall ergoß feine
Gewässer über Klippen und Eis in den,Fjord. Es glückte
uns, Jvar zu bewegen, sein mit neuen Fellen überzogenes
Boot gegen unser Boot einzutauschen.
Wir erreichten bald die am Ende des Amerdlokfjord
und circa 6 Meilen östlich von Holsteinborg belegene kleine
Handelsstation Sarfangnak; der Inhaber ist ein Grön-
länder, Namens Holger Olsen, und die Anzahl seiner Um-
wohner beläuft sich auf einige Hundert, was nach grön-
ländischen Verhältnissen eine sehr starke Bevölkerung ist.
Ein Sund führt südwärts in den weit tieferen Nachbar-
fjord Jkertok hinein, der, wie wir von der Spitze eines
Gebirgsstockes aus sehen konnten, noch mit Eis belegt war.
Beim Abstieg wurden wir Zeuge einer Seehundsjagd. Zwei
Kajakleute verfolgten einen Seehund, den sie nach kurzer
Zeit harpunirten und schon ans Land gebracht hatten, als
wir unten ankamen. Die Frauen, deren Funktion das
Ausschlachten der Seehunde ist, gingen mit Lebhaftigkeit an
die Arbeit, dicht umstanden von einer großen Schar armer
und schmutziger Kinder; in ehrerbietigem Abstande hielten
sich dagegen alle Hunde, wohl eingedenk der Prügel, die es
geben würde, wenn sie sich, ehe alles ausgeschnitten, zu
sehr der Schlachtstelle näherten, um sich um den Inhalt des
Magens zu balgen. Zuerst wurde für die Kinder gesorgt,
indem einige Scheiben Speck von zwei Zoll Breite aus
dem Bauche ausgeschnitten wurden; diese Scheiben wurden
wieder in Stücke von 3 bis 4 Zoll Länge zertheilt, von
denen jedes Kind ein Stück erhielt. An diesen Speck-
stücken leckten und sogen die Kinder, als sei es Zucker-
gebäck, und während dann und wann einige der noch am
Speck sitzenden Haare ansgespuckt wurden, fanden die
meisten zusammen mit dem Speck ihren Weg zum Magen.
Am Abend gab es Tanz, wobei unsere Mannschaft eine
ähnliche Rolle spielte, wie die dänischen Matrosen in Hol-
steinborg gespielt hatten. Durch ihre Körpergröße und
regelmäßigeren Züge waren sie auch mit einer Ausnahme
den Sarfanguaken merklich überlegen. Mir erschien es so,
daß hier die Leute im allgemeinen geringere Zeichen dä-
nischer Vermischung zeigten, als bei den Kolonien, und je
weiter wir uns von diesen entfernten, desto häufiger trafen
wir auch den reinen Eskimotypus, der in jeder Beziehung,
was das Aeußere betrifft, eine frappante Aehnlichkeit mit
dem chinesischen hat. Damit hört aber auch die Aehnlich-
kcit auf, denn in allen anderen Richtungen steht der Eskimo
dem Indianer viel näher. Ich benutzte den Abend zum
Malen und sammelte dadurch alsbald einen Znschauerkreis
um mich. — Am nächsten Morgen wurde ich durch lautes
Klagen und Jammern vieler Stimmen geweckt; wie mir
mitgetheilt wurde, war ein Knabe ertrunken und nun be-
weinten ihn alle Frauen des Dorfes.
Nach der Absicht des Leiters der Expedition sollte die
Reise durch den Sund nach dem Nachbarfjord fortgesetzt
werden, aber des Eises wegen mußte dieser Plan auf-
A. Riis Carstensen: Die westgrönländische Expedition.
141
gegeben werden; wir nahmen nun den Kurs wieder zur
Küste, wo wohl mehr Schnee das Land bedeckte, dagegen
die Gewässer zum größten Theile eisfrei waren. Mit
jedem Tage nahm die Menge des Schnees ab, obgleich es
noch immer während der Nächte fror. Wo ein bisher be-
decktes Stück Land schnee- und eisfrei geworden war, konnten
wir reife Blaubeeren in großer Menge finden; wie es mir
schien, war ihr Geschmack besser, als der in Dänemark
wachsenden. Ganz und halb reife sowie noch grüne Früchte
an ein und demselben Zweige, alle so, wie sie im vorigen
Jahre unter deut Schnee gebettet worden waren, kamen
jetzt wieder zum Vorschein, um weiter zu reifen. Am
Montag, den 16. Juni, nöthigten Schnee und Sturm uns,
aus einer sogenannten Nepiset zu verweilen und zum ersten
Male mußten wir in unseren Zelten bleiben. Wir fanden
hier eine Menge Ruinen von grönländischen Häusern und
von einem großen 108 Fuß laugen Gebäude, das wahr-
scheinlich jenes zu Anfang dieses Jahrhunderts von den
Holländern hier errichtete, aber schon im folgenden Jahre
nach seiner Vollendung wieder abgebrannte Walfänger-
etablissement war. Ileberall auf der Insel lagen Grön-
lünderbegräbnisse. Nach gewöhnlicher Manier der Grön-
länder lagen die Leichen an einer erhöhten Stelle auf der
bloßen Klippe, nur mit großen flachen Steinen bedeckt. Wir
fanden auch zwei europäische Gräber, die unser Steuermann
als die Leichen von zwei englischen Walfängern enthaltend
bezeichnete.
Unser Weg führte uns an der kleinen Handelsstation
(Udliggcrsted) Jtivdlek vorbei, die aus einem Packhause
mit Laden, Wohnung für den Vorsteher (Udligger) und
einigen Erdhütten bestand. Der Vorsteher war ebenso
wie der in Sarfanguak ein Grönländer; er hieß Jakob
Dahl. Das Aussehen dieser Leute bekundete vollständige
Zufriedenheit. In dem Jtivdlekfjord, an dessen Mündung
die erwähnte Handelsstation liegt, schlugen wir eines Tages
an der Sonnenseite einer Stelle unser Lager auf, wo das
Gebirge gleichmäßig bis zum Fjorde sich senkte. Ein Bach
hatte sich von oben her einen Weg durch das Terrain ge-
bahnt und ergoß sich an einer Stelle durch ein Birken-
wäldchen, dessen Baumbestand Mannshöhe hatte. Moos,
Flechten und Heidekraut, untermischt mit gelben und rothen
Blumen, bedeckten das Gestein, während auf der anderen
Seite die steilen Felsen schneebedeckt waren und lange
Reflexe ans das Wasser warfen. Nur ans einzelnen Stellen
an der Seite, wo wir uns gelagert hatten, fanden wir
Schnee, und obwohl der schneefreie Boden noch nicht lange
von seiner Decke befreit zu sein schien, so hatte sich doch
mit erstaunlicher Schnelligkeit trotz der verhältnißmäßig
niedrigen Temperatur ein kräftiger Rasen mit Blumen
entwickelt. Das Tag und Nacht andauernde starke Licht
trägt jedenfalls mehr zn dieser Entwickelung bei, als man
annehmen möchte. Aus den Stellen, wo etwas Humus
sich befand, war dieser zwei bis drei Zoll unter der Ober-
fläche gefroren und doch entwickelten sich die Pflanzen dar-
auf. Die Nachtfröste hatten kaum aufgehört, bevor die
Mücken aus den Wasserpsützen hervorkamen, in welchen sie
den Winter hindurch eingefroren gelegen hatten.
Das Lager an dieser Stelle wurde eines Morgens durch
den Ruf „Tugtö" (Renthiere) alarmirt. Einer unserer
-oute hatte nämlich in einer Höhe von 800 Fuß zwischen
Klippen und Moos zwei Renthiere erspäht; nach einer
halben Stunde war das eine Thier, das von allen Leuten,
die eine Büchse hatten, gejagt worden war, erlegt, während
das andere trotz längerer Verfolgung entkam. Ich kann
mir kaum denken, daß die Grönländer in einen höheren
Grad von Festesstimmung gerathen können, als in den-
jenigen, welchen sic an jenem Tage bezeigten, wo das
Renthier zum Zelte herabgcbracht und zerlegt wurde. Talg
und Knochenmark wurden zuerst verzehrt, alles in rohem
Zustande und ohne Brot. Den ganzen Tag hindurch
wurde gekocht und geschmaust; konnte einer der Leute
durchaus nichts mehr essen, dann legte er sich schlafen, be-
gann aber sofort wieder zu essen, sobald er aufgestanden
war. Ja selbst noch während der Nacht waren die Grön-
länder mit Kochen und Essen beschäftigt. Ich hatte ge-
sehen, daß sie aus dem Nenthiere den Magen sorgfältig
herausgenommen und aufgepaßt hatten, daß kein Blut sich
mit dem Inhalte desselben vermische, aber ich hatte nicht
gesehen, daß sie das im Magen enthaltene halbverdaute
Moos verzehrt hatten, das, wie mir erzählt worden war,
eine Delikatesse für sie sein solle. Der Magen war auch
nicht zum Lager herabgebracht worden, und auf meine
Frage, ob sie denselben verzehrt hätten, antworteten sie
ausweichend, daß niemand sich etwas daraus mache; ich bin
jedoch der Meinung, daß sie uns gegenüber sich schämten,
ihre Neigung in dieser Richtung einzugestehen und daß sie
in aller Heimlichkeit während der Nacht den Magen ver-
zehrt hatten.
Von einem 4500 Fuß hohen Gebirgskegel sahen wir
zwischen den gegenüberliegenden Gebirgszügen eine groß-
artige, wilde Landschaft; den Eindruck zu schildern,^welchen
die steilen Kämme, die Gletscher, die Moränen und der
Schnee auf mich machten, vermag ich nicht. Wir unter-
suchten den Fjord bis zu seinem aus zwei großen vor-
gelagerten Lehmebenen bestehenden Ende. Die eine dieser
Ebenen glich einer von Menschenhänden angelegten unge-
heuren neuen Dockanlagc oder einer Verschanzuug, und
während die Gebirge zu beiden Seiten stellenweise eine
grüne oder braune Vegetation zeigten, waren die Ebenen
durchaus unbewachsen.
Einige Tage vorher waren zwei Kajaklente mit einem
Aufträge nach Holstcinborg gesandt worden; diese Leute
stießen wieder zu uns, als wir den Fjord verließen und sie
wurden sogleich von den anderen Grönländern ausgefragt,
ob etwas Neues passirt sei. Als sie berichteten, daß zwei
amerikanische Schiffe angekommen seien, brach die ganze
Mannschaft in freudigen Jubel aus und unterhielt sich
lange in aufgeregter Stimmung. „Die Leute verkaufen
ihre Felle an die Amerikaner", sagte uns unsere Dienerin;
„sie werden mit so viel Branntwein traktirt, daß sie jeden
Tag betrunken sind." Ob dies sich wirklich so verhält,
kann ich nicht behaupten.
Wir gelangten wieder hinaus zn den Schären, wo
Eidervögel und Möven ihre Nester zu bauen begonnen
hatten. Es ist erstaunlich, in welchem Grade den ersteren
nachgestellt wird, und alles deutet darauf hin, daß es nicht
viele Jahre dauern wird, bis diese Vögel, welche zu An-
sang dieses Jahrhunderts in der Sommerhaushaltung der
Grönländer, namentlich in diesem Bezirk, eine so große
Rolle spielten, trotz der vielen ausgezeichneten Brutplätze
eine Seltenheit geworden sind. Die Möven halten sich
besser, denn sie legen ihre Kolonien ans unzugänglichen
Klippen an. Wir kamen an zwei solchen Kolonien vorbei,
in deren einer wir zugleich Alken und Scherben, sowie die
Mövenart sahen, welche bei uns Seehuhn genannt wird.
Ilm die höchste Spitze des Felsens kreiste ein Adlerpaar,
ohne daß die Möven cs im geringsten beachteten, wohin-
gegen das Erscheinen eines Falken genügte, um jede ein-
zelne Möve vom Neste zu jagen.
Da das Eis, welches wir von Sarfanguak aus im
inneren Jkertokfjord gesehen hatten, fortgetrieben war,
so begaben wir uns zu diesem Fjord. Wir erreichten zu-
142
A. Riis Carstensen: Die westgrönlündische Expedition.
nächst den nördlichsten seiner drei Arme, wo wir eine schöne
Ebene von circa 4 Meilen Ausdehnung fanden; wir
folgten einem Flusse, der die Ebene durchschneidet, und
fanden nur dann und wann Eishindernisse, indem einige
Seen in der Ebene theilweise noch mit Eis belegt waren.
Eines Abends schlugen wir unser Lager bei einem Lachs-
hofe auf, in dessen Umgebung wir viele Neberreste alter
Zeltlager, Kochstellen, Räuchereien, sowie Renthierüber-
reste fanden. Einige unserer Leute gingen, jeder mit einer
Harpune versehen, zum Flusse und kehrten schon nach einer-
halben Stunde zurück, reich beladen mit frisch gefangenen
Lachsen. Der Fluß bildet einen Wasserfall, so daß unser
Boot ein Stück Weges über Land getragen werden mußte,
doch war der Fluß nicht so bequem zu befahren, wie auf
seinem unteren Laufe; derselbe hatte ein größeres Gefälle
und wir wurden häufig durch große Steine sowie Treibeis
belästigt, so daß wir äußerst vorsichtig sein mußten. Schließ-
lich konnten wir des Eises wegen nicht weiter kommen und
schlugen deshalb circa 3 Meilen von der Mündung des
Flusses unsere Zelte auf. Die ganze Ebene um uns her
war glatt wie das Meer und nur 1 bis 2 Fuß höher als
das Eis ans den Seen. Einige Stellen waren bewachsen,
auf anderen lag grauer Thon ganz vegetationslos, und
wieder andere Plätze schienen mit Schnee bedeckt zu sein;
bei näherer Untersuchung konstatirtcn wir jedoch Salpeter-
schichten. Wir bestiegen einen circa 4000 Fuß hohen
Gebirgskegel, den einzigen einigermaßen hohen Punkt in
unserer Umgebung, von wo aus wir beobachten konnten,
daß die Höhe der Gebirge nach Osten zu abnimmt. In
der Form von Seen setzt sich die Ebene 8 bis 10 Meilen
landeinwärts fort, begrenzt von dem Jnlandseise mit ein-
zelnen niedrigen, schneelosen Felsen (Nunatakker).
Auf dem Wege zu einem zweiten Arme des Fjordes
landeten wir eines Tages bei einem auf einer Landzunge
belegenen verlassenen Dorfe; die Häuser standen noch mit
allem Inventar, wie Kachelofen und Schlafstellen. Hier
lag das Skelett eines Kajak und dort ein zerfallenes ameri-
kanisches Boot. Die Einwohner waren, wie unsere Leute
mittheilten, durch Proviantmangel gezwungen worden, mitten
im Winter das Dorf zu verlassen; die meisten waren nach
Sarfangnak geflüchtet, während nur eine Familie über das
Eis südostwärts gegangen war. Nach zweitägigem Be-
fahren dieses Fjordarmes ließen unsere Leute plötzlich den
Ruf erschallen: „Zelt, Menschen!" Da es für uns von
Interesse war zn erfahren, wer hier wohne, so wurden
unsere Kajaks ausgcsandt. Nach Verlauf einiger Stunden
kehrten sie wieder zurück und berichteten, daß es diejenige
Familie aus dem verlassenen Dorfe sei, welche landein-
wärts sich begeben habe. Im April hatte sie 2 Renthiere
gefangen, später einen Tümmler, wovon sie noch den Kopf
übrig hatte, sowie eine Menge Fische, so daß jetzt keine
Noth mehr herrschte. Ein Frauenboot besaß die Familie
nicht, nur zwei Kajaks. Nachdem wir das Innere des
dritten Fjordarmes besucht hatten, der eben so wie die
beiden anderen flaches Wasser hatte und in einer Ebene
von nicht bedeutender Ausdehnung endete, schlugen wir
unser Zelt dicht bei der Stelle auf, wo diese Leute wohnten.
Die Familie bestand aus dem Mann, Carolus mit Namen,
der Frau, einer erwachsenen Tochter, zwei Söhnen, von
denen der eine zehn Jahre alt war, und einem alten Mäd-
chen. Für die Familie war eine Erdhütte errichtet; das
alte Mädchen mußte aber im Freien zwischen einigen auf
die hohe Kante gestellten Steinen schlafen und sich mit
Renthierfellen zudecken. Kaffee, Tabak und anderen Luxus
kannten diese Leute seit langer Zeit nicht mehr, aber, wie
es schien, that dieser Mangel ihrem Wohlbefinden keinen
Abbruch. Der Mann ebenso wie die übrige Familie waren
wortkarg, nur das alte SKäbdjeit plauderte unaufhörlich.
„Haben sie nur einen Hund?", fragte ich einen unserer
Leute, und bekam zur Antwort, daß sie die anderen zum
Schlitten gehörigen Hunde in den knappen Zeiten verspeist
hätten. Jetzt lag in ihren Gesichtern nur Zufriedenheit.
Es war ja auch wieder gutes Wetter, und Proviant hatten
sie genug; Angmagsätten (kleine Häringe) lagen ringsumher
zum Trocknen auf den Klippen ausgebreitet. Nachdem wir
noch einen Fjord untersucht hatten, gingen wir wieder zn
den Schären hinaus. Verschiedene Umstände nöthigten uns
inzwischen, nach Holsteinborg zurückzukehren, das wir am
Donnerstag den 10. Juli erreichten; in seinem Hafen lag
der dänische Kriegsschooner „Fylla". Als am Montag
darauf ein havarirter amerikanischer Fischerschooner ankam,
entstand große Bewegung unter den Grönländern. Als
sie aber sahen, daß ein Boot der „Fylla" den Zweitkom-
mandirenden an Bord des Amerikaners brachte, daß dieser
dann am Abend, als die dänische Flagge gestrichen worden
war, seine Flagge dreimal senkte, und als sie ferner wahr-
nahmen, daß der Kapitän die zn ihm an Bord gekommenen
Grönländer ans Land jagte und ihnen den Zutritt für die
Zukunft verbot, da konnte man nur lange Gesichter und
verstimmte Mienen unter den Grönländern sehen.
Am Dienstag verließen wir Holsteinborg und begaben
uns nach einer der zu äußerst gelegenen Inseln, wo wir
vom Regenwetter kurze Zeit festgehalten wurden. Die
Insel war von tiefen Klüften durchzogen, welche zu dieser
Zeit von großen Scharen von Seevögeln aller Art bevöl-
kert waren. Bei jedem Schritt fanden wir Ueberbleibsel
von Eidervögelnestern, denn in diesem Sommer ist es ge-
wiß nur wenigen Vögeln geglückt, in Ruhe und Frieden
zu brüten. Wenn sich die Wolken einmal vertheilten, hatten
wir ein prachtvolles Panorama rund um uns. Die Farbe
der Klippen, welche zufolge der vielen in dem Gestein ent-
haltenen Granaten röthlich funkeln, tritt mit einer wunder-
baren Kraft hervor; auf anderen Stellen ist das Gestein
schwarz wie Kohle mit grauen oder gelblichen Schichten.
Auf schneebedeckten Gebirgszügen von 5000 bis 6000 Fuß
Höhe sahen wir auf verschiedenen Stellen Gletscher. Bis-
her waren wir vom Wetter begünstigt, indem wir nur
einige Male Schnee oder Regen während kürzerer Zeit
hatten. Leichte Brisen waren häufig, und gewöhnlich hatten
wir eine klare, trockene Luft mit einer erfrischenden Tem-
peratur von 7 bis 80 Roaumur. Nur ausnahmsweise im
windstillen Wetter stieg das Thermometer bis 14° Wärme.
Von der Sommerplage Grönlands, den Mücken, waren
wir einige Male arg mitgenommen worden, und das nament-
lich an einem Tage, als wir unser Zelt in der Ebene an
den zugefrorenen Seen aufgeschlagen hatten, wo dieselben in
unglaublichen Schwärmen sich mit größter Todesverachtung
auf uns warfen; jeder Stich verursachte eine Beule. Als
ich meine Verwunderung über ihre Menge aussprach, wurde
mir versichert, daß es noch nichts gegen das sei, was uns
im August bevorstehe; hoffentlich werden wir zn der Zeit
im südlichen Strömfjord sein, wo sie nicht so zahlreich sein
sollen; aus welchem Grunde, weiß ich nicht, wahrscheinlich
herrscht doch dort derselbe Mangel an Schwalben, wie hier.
Die Mücken kommen jedoch selbst während der schlimmsten
Zeit nur bei stillem warmem Wetter zum Vorschein; tritt
eine Wolke vor die Sonne, oder erhebt sich ein Windzug,
so verschwinden sie wie durch Zauberschlag.
Unsere Reise ist bisher eine fast ununterbrochene Reihe
von Genüssen gewesen; selbst die Art, wie wir reisen, ist so
ansprechend, daß man sich kaum eine hübschere Weise, den
Sommer zu verbringen, denken kann. Wir schlagen unser
Aus allen Erdtheilen.
143
Lager auf, wo uns gelüstet und wo sich nur eine Fläche
groß genug für die Zelte findet. Es ist auffällig, wie
wenig Menschen wir begegnen. Es können Wochen ver-
gehen, ohne daß wir einen Grönländer sehen. Den nöthigen
Proviant haben wir aus den meisten Stellen sofort zur
Hand; ein Gericht gebratener Schneevögel, Hasen, ein
frisch aus dem Wasser gezogener Lachs, kleine Häringe,
oder eine Mahlzeit Renthiersuppe, gekochte Zunge oder
Braten ist nicht zu verachten. Das Leben und Treiben der
Grönländer während des Sommers, das Umherziehen von
Ort zu Ort, scheint das Ideal ihres Daseins zu sein; und
wahrlich, hat man das Land selbst kennen gelernt, dann
begreift man ihre bekannte Sehnsucht nach der Heimath,
wenn das Schicksal sie einmal anderswohin verschlagen hat.
Ist der Winter auch streng und müssen sie das Unglaub-
lichste von Kälte und Hunger erdulden, so ist doch alles
vergessen, sobald der Frühling naht. Während des Som-
mers braucht kein Grönländer Noth zu leiden, aber sie sind
nicht vorsorglich für den kommenden Tag und erreichen in-
folge dessen selten ein hohes Alter. Vielleicht bringt das
Jagdleben diese Sorglosigkeit mit sich, denn trotzdem dieses
Volk darauf angewiesen ist, an den Mündungen der Fjorde
zu leben, besteht cs doch ausschließlich ans Jägern. Ihre
Geräthschaften zum Fange der Angmagsättcn sind höchst
unvollkommen, und obgleich sie die wenigen Gemüse, die
das Land hervorbringt, zu schätzen wissen, so ist es doch
niemals einem derselben eingefallen, dieselben zu kultiviren.
Ebenso wie andere Jägervölker, sind sie indessen nahe
daran, den Wildbestand des Landes vernichtet zu haben.
Die Renthiere nehmen bedeutend ab; die Ebenen und die
inneren Fjorde sind förmlich mit Renthiergeweihen und
anderen Ueberbleibseln bedeckt. Es wird erzählt, daß da-
mals, als die Büchse eingeführt wurde, die Jäger nur der
Felle wegen auf die Jagd gingen; das Fleisch ließ man
meistens liegen oder nahm nur soviel, als man an Ort
und Stelle verzehren konnte. Die Eidervögel werden auf
keiner Stelle in Ruhe gelassen, und ein Grönländer schont
weder die halb angebrüteten Eier noch die zarten Jungen.
Nur die Seehunde können die Leute nicht ausrotten, trotz
des Gebrauchs der Büchse und der Netze. Aber die See-
hundsfänger thun in dieser Richtung ans den Brutplätzcn
ihr Bestes. Alles, was von dänischer Seite geschehen ist,
um die Grönländer zu belehren, für den Winter und die
kommende Zeit zu sorgen, hat nichts gefruchtet. Die auf
ihre Sprache genommenen Rücksichten haben dahin geführt,
daß sie zur Erlernung der dänischen Sprache die größte
Unlust zeigen. Wohl haben sie einige dänische Zahlwörter
aufgenommen, da sie in ihrer eigenen Sprache nicht gut
über „zehn" hinauskommen können; auch haben sich einige
andere Wörter eingcschlichen und den Zusatz „mit" er-
halten, so daß sie jetzt Kafsemik, Snapsemik re. sprechen.
Dagegen kommen diejenigen, welche einige englische Worte
von den Amerikanern gelernt haben, bei jeder Gelegenheit
mit diesen Brocken zu Markt. Doch haben die Grön-
länder, wie ich mich oft zu überzeugen Gelegenheit hatte,
eine Menge dänischer Melodien singen gelernt.
Aus allen
Europa.
— Die Einwohnerzahl in Finnland betrug
nach dem letzten 1884 herausgegebcnen statistischen Jahrbuch
des statistischen Centralbureaus in Helsingfors in: Jahre
1882 2 111240 Personen (gegen 2 060 782 Ausgangs 1880).
Davon wohnten in den Städten, deren Anzahl sich auf 36
beläuft, 182190, auf dem Lande 1929050. Männlichen Ge-
schlechtes waren 1 034 505, weiblichen 1076 735. Zum luthe-
rischen Glauben bekannten sich 2 069 720, zum griechischen
39 221, zum römisch-katholischen 2299. Die Anzahl der fin-
nisch Sprechenden berechnet sich auf 1 756 381, die der schwe-
disch Sprechenden (die meisten in Nyland und Wasa) auf
234 876. Auf die Gouvernements (Lkins) vertheilte sich die
Gesammtzahl folgendermaßen: Nvland 202 086, Äbo und
Björueborg 344 649, Tavastehus 221360, Wiborg 301 975,
St. Michel 167 310, Kuopio 256 420, Wasa 358 480, Uleä-
borg 207 782. Von den Städten hatte Helsingfors 45 919
Einwohner, Äbo 23 961, Wiborg 15141, Tammerfors 14490,
Uleüborg 10296, Björneborg 8973, Nikolaistad (Wasa) 7219,
Kuopio 7173; die übrigen hatten unter 5000, 7 unter 1000,
die jüngste noch nicht lauge bestehende Stadt Kemi am nörd-
lichen Theile des Bottnischen Meerbusens nur 383. Gegen
Schluß des Jahres 1883 betrug die Einwohnerzahl nach den
Zusammenstellungen, die das statistische Centralbureau auf
Grund der Berichte der einzelnen Kirchengemeinden vor
kurzem beendet hat, uud die wir dem in Helsingfors er-
scheinenden Morgoubladet (24. December 1884) entnehmen,
2142093, weist also gegen das Vorjahr einen Zuwachs von
30853 auf. In den Städten wohnten 186 620 oder 8,7 Proc.,
auf dem Lande 1955 473 oder 91,3 Proc. Geboren wurden
1883 im ganzen 76 378 Kinder, davon 71041 ehelich, 5337 !
Erdtheilen.
! unehelich (6,98 Proc.). Es starben 44 291 Personen; 117
! wurden über 90, 3 über 100 Jahre alt (höchstes Alter 102
Jahre 8 Monate). E. A.
Afrika.
— Der englische „Egypt Exploration Fund" hat einen
schönen Erfolg zu verzeichnen, indem sein Agent, Mr.
W. M. Flinders Petrie, die lange gesuchte Lage der ersten
Griechenkolonie in Aegypten, der Stadt Naukratis, ent-
deckt hat. Als derselbe vor etwa Jahresfrist seine Ärbeit
anfing, unternahm er zuerst eine Rundreise durch das Delta
und besuchte während derselben nicht weniger als 20 alte
Stadtplätze, darunter einen mächtigen Schutthaufen, welcher
derart mit Scherben schöner bemalter griechischer Töpfer-
waaren bedeckt war, daß er bei jedem Schritte deren zer-
treten mußte. Derselbe liegt bei dem Dorfe N e b e i r a h (el-
Nelnreh) am Kanäle Abu Dibab, südlich von der Eisenbahn
Alexandria-Kairo, etwa 75 km ostsüdöstlich von Alexandria.
Mr- Petrie war der erste europäische Reisende, welcher je nach
Nebeirah gekommen ist; und als er um Erlaubniß zu Aus-
grabungen bat, kannte die Regierung in Bulak bei Kairo
nicht einmal den Namen des Dorfes. Er begann damit,
daß er einige Knaben anstellte, bemalte und beschriebene
Scherben zu sammeln. Solche von ägyptischen Thongeräthen
einer mit der ältesten griechischen Waare gleichzeitigen Periode
sind überall auf dem Boden zerstreut; archaische griechische
Scherben liegen nur an einer Stelle auf der Erdoberfläche,
finden sich aber überall in einer gewissen Tiefe; ungewöhn-
lich zahlreich sind Amphorenhenkel rhodischen Ursprungs, meist
mit Fabrikmarken, Fabrikanten-Monogrammen und Magi-
stratsnamen gestempelt. Petrie hat ihrer bereits 120 ge-
sammelt. Bechergriffe mit Münnerköpfen in Relief; Frag-
144
Aus allen Erdtheilen.
mente archaischer Vasen, schwarz und roth auf hellgelbem
Grunde mit Greifen, Schweinen u. s. w. bemalt; andere
in Schwarz oder Rothbraun von jüngerem Ursprung mit ge-
flügelten Harpyien rc. ; Stücke von hellbraunen Gefäßen mit
archaischen Thieren in Schwarz und Roth, der Grund mit
Blumen besäet; andere von höchster Vollendung mit Figuren
von Pferden, Göttinnen u. s. w., braun auf schwarzem Grunde
ausgespart, und alle die gewöhnlichen Sorten rother Töpfer-
waare mit erhabenen Mustern von Linien und Kreisen, braun
mit roth für die erhabenen Theile, schwarz auf Bronzefarben
mit aufgesetztem Chokoladenbraun und Weiß u. s. w. u. s. w.
bedecken buchstäblich den Hügel; ferner finden sich griechische
Statuetten ans Kalkstein und Alabaster, Wirtel von Thon
und Kalkstein, HDiechische und ägyptische Gewichte, Perlen,
Terracotta-Statuetten und verschiedene kleine Gegenstände
von grünem Glas. Am vierten Tage seiner Anwesenheit
fand dann Mr. Petrie in dem Hofe des von ihm bewohnten
Farmhauses fünf Zeilen einer griechischen Inschrift etwa aus
dem 3. vorchristlichen Jahrhundert, welche einen Athena-
Tempel in der Stadt Naukratis erwähnen und die Frage
über deren Lage entscheiden. Bis dahin hatte man dieselbe
stets viel nördlicher, bei Desüq am Arme von Rosette ge-
sucht und gemeint, daß ihre Spuren vollkommen verschwunden
seien. Naukratis, wo Griechen und Aegypter zuerst in
Friede und Freundschaft zusammen wohnten und Handel
trieben, wurde wahrscheinlich unter Psammetich (664 bis 616)
von Milesiern gegründet, die vielleicht durch eine noch frühere
Ansiedelung von griechischen Kriegsgefangenen, die Ramsès III.
von seinen Zügen mitgebracht hatte, dorthin gezogen wurden.
Bedeutend wurde es besonders unter Ahmes II. oder Ama-
sis (570 bis 526), da nur dort fremde Kauffahrteischiffe ihre
Ladungen löschen durften. Berühmte Produkte waren die dort
fabricirten Gefäße und Blumengewinde, welche nach allen
Theilen Aegyptens und selbst nach Italien ausgeführt wurden.
— Italien hat seine Kolonie Assab am Rothen Meere
etwas vergrößert, indem es am 3. Januar den Ort Bailul
besetzte. Derselbe liegt circa 40 km nordwestlich von dem
Dorfe Assab, und 12 km von der bisherigen Grenze des
italienischen Gebiets.
— Die Reise des französischen Schiffsfähnrichs Giraud,
welcher bereits am Bangweolo- und Tanganjikasee inter-
essante Resultate erzielt hatte (vergl. „Globus", Bd. 45,
S. 191, 272, 367), hat ein unerwartetes Ende genommen:
anstatt dem Laufe des Luapula und dem Kongo abwärts zu
folgen, meldete er unter dem 15. Oktober 1884 seine An-
kunft inQuelimane an der Zambesimündung und wird
inzwischen wohl in Frankreich wieder eingetroffen sein. Er
hatte sich in Karema, der belgischen Station am Tanganjika-
see, neu ausgerüstet, war dann nach der gegenüberliegenden
Station Mpala (am westlichen Ufer) übergesetzt und wollte
gerade nach Westen aufbrechen, als seine Karawane infolge
beunruhigender Nachrichten auscinanderlief und er so ge-
zwungen wurde, über den Njassasee, den Schire und Zam-
besi nach der Ostküste zurückzukehren. Für die Karte des
Gebietes zwischen den Seen Njaffa, Tanganjika, Bangweolo
und Moero sollen seine Reisen neues Material ergeben; das
wäre sehr zu wünschen, da bis jetzt für jene Gegenden nicht
viel Brauchbares vorliegt, nämlich abgesehen von älteren por-
tugiesischen Routen nur die, erst nach Livingstone's Tode nach
seinen Tagebüchern konstruirten Reisen dieses bedeutenden
Missionars und die des Mr. Joseph Thomson, die wenig
werth sind.
— Nach den letzten Nachrichten aus Läopoldville am
Stanley-Pool ist Kapitän Hanssens am 31. Oktober 1884
von seiner Fahrt nach dem oberen Kongo dorthin zurück-
gekehrt, hat dort eine neue aus drei Dampfern bestehende
Expedition nach den Stanleyfällen abgesendet und hat dann
seine Heimreise nach Europa angetreten. Es ist das die
dritte Fahrt nach jener oberen Grenze der Schiffbarkeit; sie
hat den Zweck, die Stationen am mittleren Kongo neu zu
versorgen und verschiedene Beamte, deren Dienstzeit abge-
laufen ist, abzuholen. — Am 16. November hat Lieutenant
Massari mit seinen Gefährten Dcanc und Delattre von
Kwamonth die Untersuchung des unteren Koango begonnen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Ueber die Neuen Hebriden wird unter dem
30. Oktober 1884 aus Numea (Neu Kaledonien) an den
„Avenir des colonies" geschrieben. „Ich habe die Sand-
wichinscl (Efat oder Vate) ganz verändert'gefunden, die eng-
lische Flagge ist verschwunden, sie weht nur noch bei den
Missionaren, überall sonst findet sich unsere dreifarbige Fahne,
selbst auf den Booten der Eingeborenen. Die Kaledonische
Gesellschaft der „Neuen Hebriden" besitzt auf der Insel
Sandwich circa 80000 bis 100000 ha; im Hafen von Ka-
vannah liegt ein altes, ihr gehöriges Kriegsschiff, der
„Chever", welches sie nach Port Sandwich auf der Insel
Mallicollo schleppen lassen will, um es dort als Hans und
Magazin für die ersten aus Numea ankommenden Ansiedler
zu verwenden. Außer den oben erwähnten am Hafen Ka-
vannah gelegenen Ländereien besitzt die Gesellschaft weitere
40000 ha auf Mallicollo; 120 000 ha in Espiritu Santo,
20000 ha auf Ayi, 20000 ha auf Vanicoro, wo La Pörouse
umgekommen ist; alles in allem beziffert sich das Eigenthum
der Gesellschaft auf 300000 ha. Wie es Heißt, bildete sich
auch ans Neuseeland eine Gesellschaft zur Ausnutzung der
Neuen Hebriden mit einem Kapital von 1000000 Pfd- St.;
die Regierung soll 5 Proc. Zinsen für diese Unternehmung,
an deren Spitze Sir Julius Vogel steht, garantirt haben."
„Glücklicherweise", fährt der (französische) Bericht fort, „kommt
sie zu spät."
Vermischtes.
— Unsere Leser werden sich der in Bd. 43 veröffent-
lichten Auszüge aus dem Tagebnche des Dr. Hans Meyer
erinnern, welche in ungemein frischer, anschaulicher Weise
seine Reisen im nördlichen Luzon schilderten. Dieses Tage-
buch, welches damals nur als Manuskript für einen engeren
Kreis gedruckt wurde, hat der Reisende jetzt als Buch unter
dem Titel „Eine Weltreise" (Leipzig, Bibliographisches
Institut 1885) herausgegeben, das er viel zu bescheiden
„Plaudereien aus einer zweijährigen Erdumsegelung" nennt.
Wir haben Reisewerke von Leuten mit sehr bekanntem Nanren
gelesen, die viel prätentiöser auftraten und viel weniger ent-
hielten als diese „Plaudereien", die obendrein mit 16 Karten
und Plänen und einer Fülle reizender und dabei authen-
tischer Bilder geziert sind; denselben liegen Photographien zu
Grunde, deren künstlerische Bearbeitung die Maler R. Pütt-
ner und Prof. Keller-Leuzinger übernahmen. Daß Dr. Meyer
mit eigenen Angen sieht und sich seine Urtheile über frembe
Völker und die Europäer in fremden Erdtheilen selbst bildet,
davon giebt er erfreuliche Beispiele genug. Seine „Welt-
reise" ist ein in jeder Beziehung nobles Buch, an welchem
der Leser seine Freude hat. Den Beschluß desselben macht
eine kleine ethnographische Monographie über die Jgorroten,
die wohl das beste ist, was bisher über diesen Stamm ge-
schrieben wurde.
Inhalt: Brügge. IV. (Schluß.) (Mit sieben Abbildungen.) — A. Sartorius Freiherr von Waltershausen:
Städtegründung im nordamcrikanischen Westen. IV. — A. Riis Carstensen: Die westgrönländische Expedition. I. —
Aus allen Erdtheilen: Europa. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion:
1. Februar 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrauuschweig.
xi besonderer Herürkslchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien').
XX.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien der Mine. Jane Dieulafoy.)
Wenn man sich der Stadt Schiraz von Persepolis her
nähert, so hat man eine ziemlich einförmige und langweilige
Gegend zu durchziehen, bis man plötzlich durch eine schmale
Schlucht zwischen röthlichen Bergen den Tengi Allahakbar
(d. h. Engpaß „Allah ist der größte") hindurch eine weite
Ebene und in derselben eine Stadt von länglicher Form,
umgeben von Befestigungen und überragt von zwiebel-
förmigen, mit bunter Fayence bekleideten Kuppeln, erblickt.
Außerhalb der Umfassungsmauern dehnen sich Gürten aus
mit Cypresscn, die ebenso schwarz und ebenso schön sind,
wie diejenigen von Ejub oder Skutari (bei Konstantinopel),
und mit einzelnen Gruppen zierlicher Palmen. Die Perser,
welche für Naturschönheiten sehr empfänglich sind, rühmen
jene Schlucht als einen der schönsten Aussichtspunkte ihres
Landes und den Namen derselben leiten sie von dem Aus-
rufe des Erstaunens und Entzückens (Allah akbar) her, der
unwillkürlich jedem Fremden entfährt, sobald er nach einem
langen Marsche zwischen öden und unfruchtbaren Hügel-
zügen aus jenem Engpässe heraustritt. Letzterer ist der
einzige, welcher einen bequemen Abstieg in die Ebene ge-
währt, und deshalb etwa 1 km vor der Stadt durch eine
Befestigung geschlossen. In dem Raume über dem Thore
derselben wird ein schöner, 100 Pfund schwerer Koran auf-
bewahrt, der ganz und gar von der Hand des Sultans
Ibrahim, Sohnes des Schah Ruch, geschrieben ist; der
fromme Derwisch, dem dieser kalligraphische Schatz an-
i) Fortsetzung von S. 310 in Bd. 46.
Globus XLVII. Nr. 10.
vertraut ist, wollte es darum auch durchaus nicht begreifen,
daß die Reisenden nach einem Ritte von 72 km unter einer
brennenden Sonne wenig Neigung verspürten, das Wunder
anzustaunen, sondern nach endlicher Rast verlangten. So
setzte das Dienlafoy'sche Ehepaar seine Reise fort, ließ zwei
in die Felswand gegrabene Reliefs, deren eines in der
Weise der sassanidischen Skulpturen Fath Ali Schah und
zwei von dessen Söhnen, deren anderes eine Heldenthat
Rustems darstellt, zur Rechten, ritt in die Ebene hinab und
erreichte endlich jenes Gebiet, welches die Perser mit Recht
als „warmes Land" bezeichnen, trotzdem es immer noch
eine Höhe von etwa 1500 m über dem Meeresspiegel hat.
Eine Allee, welche es durch ihre Breite wohl verdient,
den Zugang zu einer Hauptstadt zu bilden, führt zwischen
schönen Gärten bis zu der Stadtbcfestigung hin, welche
aus Grüben voller Unrath, eingestürzten Thürmen und
verfallenen Courtinen besteht. Jenseits des Stadtthores
beginnt ein von Bäumen beschatteter Bazar; aber in dem
Geschäftsviertel herrscht wenig Leben und Treiben. Eine
ganze Anzahl von Leuten liegen längs der Mauern aus-
gestreckt und klappern mit den Zähnen, trotzdem die Sonne
heiß hcrabschcint und sie in gefütterte Mäntel gehüllt sind;
das Fieber schüttelt sie. Als man weiter hinein in die
Stadt kam, zeigte es sich, daß von drei Lüden durchschnitt-
lich zwei geschlossen waren; mitunter sah man durch die
halbgeöffneten Läden hindurch die Kaufleute ausgestreckt
zwischen ihren Waaren liegen. Langsam windet sich die
Karawane durch die schmutzigen stinkenden Straßen und
19
146
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
gelangt auf einen großen Platz, dessen eine Seite vom
Telegraphenamte eingenommen wird. Mehrere in der
Thür sitzende Diener erheben sich und ersuchen die Reisen-
den im Namen des Vorstehers des Amtes, sich nach dem
3 km vor der Stadt befindlichen Laudhause desselben zu
begeben, wo sie weniger dem Fieber ausgesetzt sein würden
als in Schiraz. So hart es auch war, nach dreizehn-
stündigeni Ritte nochmals sich auf den Weg zu machen, so
zogen sic letzteres doch dem Schüttelfrost und der Fieber-
hitze vor, ritten wieder zum Thore hinaus in die Ebene
und erreichten durch eine breite Allee endlich einen großen
Garten, in dessen Mitte das halb im persischen, halb im
europäischen Stile gebaute Landhaus liegt. Ringsum
Beete mit europäischen Blumen und auf einer Seite Pflan-
zungen von Kohl, Artischocken und Eierpflanzen, beschattet
von kräftigen Birn- und Apfelbäumen: ein Anzeichen, daß
man sich aus einem civilisirten Fleckchen Erde befand.
Mr. Blackmaure, der Unterdirektor der Telegraphen-
station, empfing die Reisenden, wies ihnen zwei mit Tischen
und Stühlen ausgestattete Zimmer an und bat dann mit
die Erlaubniß, sich zurückziehen zu dürfen, da er gerade
einen Malariaanfall hatte und sich kaum auf den Füßen
halten konnte. „Es wohnt noch ein anderer Franke in
Schiraz", sagte ein Diener, „Dr. Odling, der Arzt für
die Angestellten des englisch-indischen Telegraphen; er wird
sicher am Nachmittag Euch aussuchen, wenn er nicht, wie
die letzten Tage, das Fieber hat."
Das war Dieulafoy's Ankunft in Schiraz; sie sahen
Eingang des Ba
und hörten von nichts, als von Fieber und Fieber-
kranken.
Am folgenden Tage machten sie die nähere Bekanntschaft
dieser beiden Herren, die beide Witwer sind. Fieber,
Hitze, Langeweile und Entmuthigung haben ihnen nach einem
Aufenthalte von einigen Jahren ihre Frauen, die muthig
neben ihnen aushalten wollten, langsam gelobtet. Anfangs
hatten dieselben versucht, spazieren zu reiten und energisch
gegen das schwächende Klima des Ortes anzukämpfen, aber
das Erscheinen von zwei unverschleierten Frauen ans den
Straßen hatte solche Entrüstung hervorgerufen, daß ihre
Männer nebst zahlreichen Dienern nicht genügt hatten, sie
vor den gröbsten Insulten zu schützen. Selbst der Gouver-
neur, an welchen sich die beiden Engländer gewandt hatten,
izars in Schiraz.
war nicht im Stande gewesen, den Aufruhr der Menge zu
bemeistern. Die Damen hätten sich vielleicht noch ent-
schlossen, die landesübliche Tracht anzulegen, um ihr Haus
verlassen zu können, aber dann hätten sie sich wiederum
nicht öffentlich in Gesellschaft von Europäern zeigen dürfen.
Müde des Kampfes hatten sie sich in ihre Gärten ein-
geschlossen und die Zurückgezogenheit den Beleidigungen
durch den Pöbel vorgezogen; im vorhergehenden Sommer
war dann Mine. Blackmaure und drei Wochen vor Ankunft
der Reisenden Mme. Odling gestorben.
O Schiraz, du Heimath der Dichter, Stadt der Rosen
und blühenden Gebüsche, in denen die Nachtigallen singen,
was ist aus dir geworden! So weit man kommt, sieht
man nur schmutzige, schlecht gehaltene Straßen und wackelnde
Dieulnfoy's Reise in Westpersien und Babylonien,
147
Moschee des Wakil.
148
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
Gebäude, deren Wände durch Erdbebenstöße Risse bekommen
haben. Und dabei ist die Stadt, welche als Kapitale von
Fars auf das früher erwähnte Jstachr folgte, noch nicht so
gar alt. Nach Angabe arabischer Schriftsteller im Jahre
695 gegründet, war es unter Dschingis Chan und dessen
Nachfolgern der Mittelpunkt persischen Lebens, der Sitz der
Künste und Wifscnschaften, sank dann unter Timnrleng und
erreichte unter Kernn Chan, dem berühmten „Wakil",
welcher in der Mitte des vorigen Jahrhunderts über Iran
herrschte, feinen Höhepunkt, um von der Kadscharen-Dynastie
wiederum vernachlässigt zu werden. Kernn Chan hatte
deshalb in Schiraz feine Residenz aufgeschlagen, um den-
jenigen Stämmen, welche ihn auf den Thron erhoben
hatten, näher zu fein. Er umgab seinen Lieblingssitz mit
Medresse
scheint, als hätten die Schirazer Künstler die Farben ihrer
Vorgänger verschmäht und sich in den Gärten der Um-
gebung ein neues Motiv für die Verzierung gesucht. Denn
auf der weißen Fayencebekleidnng der Wände sieht man
große Rosenbüsche gemalt, wobei der Karminlack vorwiegt.
Von allen Werken des Wakil ist in dieser Hinsicht das
interessanteste die neben der Moschee befindliche Schule; die
Emailplatten, mit denen dieselbe bekleidet ist, geben einzeln
und von ihrem Grunde losgelöst die entzückendsten Blnmen-
stücke, die neben den besten Werken europäischer Künstler
ihren Platz behaupten könnten.
Uebrigens verschönerte Kerim Chan nicht nur seine
Hauptstadt, sondern war auch auf das Glück feines Volkes
bedacht, was sich von dem jetzigen Herrscher Irans nicht
Befestigungsmauern, errichtete schöne Gebäude, pflanzte in
der Umgebung prächtige Gärten von Cypressen und Orangen-
bäumen, baute in demjenigen Viertel, das feinen Namen
noch heute trügt, einen Palast, den gewölbten Bazar, der-
ber schönste in der ganzen Stadt ist, ferner eine Moschee,
ein Bad und eine Medresse (Schule). Kerim Chan ist
in Schiraz ebenso berühmt, wie Schah Abbas in Jspahan:
wenn man bei einem großartigen Bauwerke vorbeikommt,
braucht man nicht nach dem Namen des Erbauers zu fragen,
denn der Führer antwortet unabänderlich: „Der Wakil hat
es errichtet, immer der Wakil."
Obwohl der Grundriß der Moscheen von Schiraz der-
selbe ist, wie derjenige der Jspahaner, so bilden doch erstere
in dekorativer Hinsicht eine ganz besondere Gruppe; es
!s Wakil.
gerade behaupten läßt; Kerim Chans Güte ist in Schiraz
nicht minder berühmt als seine Prachtlicbe. Eines Tages
hatte er Recht gesprochen und wollte sich sehr ermüdet
zurückziehen, als noch ein Mann erschien und unverzüglich
angehört sein wollte. „Wer bist du?" fragte der Fürst.
„Ein Kaufmann, dem die Räuber seinen ganzen Besitz
abgenommen haben!" „Und was thatest du, als man dich
beraubte?" „Ich schlief." „Warum schliefst du?" fragte
der Fürst voller Zorn. „Weil ich glaubte, daß du für mich
wachtest!" „Du hast Recht" — erwiderte Kerim Chan
plötzlich besänftigt. „Man führe diesen Mann 51t meinem
Schatzmeister; der soll ihm den Werth der geraubten Waaren
auszahlen. Es ist meine Sache, die Räuber anssindig zu
machen."
150 A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Seitdem haben sich die Zeiten geändert: die Provinz-
Statthalter lassen die Räuber ihr Geschäft in aller Ruhe
betreiben und glauben ihre Pflichten gegen Gott und die
Welt erfüllt zu haben, wenn sie öffentlich einen großen Ab-
scheu vor berauschenden Getränken zeigen; im Geheimen
wissen sie sich schon dafür schadlos zu halten.
Am 13. Oktober unternahmen die Reisenden in Gesell-
schaft der beiden Engländer einen Ritt durch die Ebene
nach den Ruinen eines Palastes, der demjenigen des Darms
zu Persepolis gleicht. (Mme. Dieulafoy bezeichnet dieselben
nicht näher; da sie aber sagt, daß sie der Thalrichtung folgt
lind dann nach links abbiegt, um einen Berg zu ersteigen,
so sind es offenbar die Ruinen bei dem Dorfe Abu-Rasr,
8 bis 9 km von Schiraz, welche den Namen Tacht-i-Abu-
Nasr führen.) Zuerst erreicht man einen weiten, mit
Ziegel- und Gefäßscherben bedeckten Platz, den ein von
vielen kleinen Grabkammern durchsetzter Felsen begrenzt.
Der ans einem Gipfel liegende Palast selbst besteht aus
einem viereckigen Saale mit je einer Thür an jeder Seite.
Die Einfassungen der Thüren zeichnen sich durch viele kleine
Leisten und durch eine ägyptische Krönung aus, während
auf der Bekleidung Jagdscenen angebracht sind. Leider
sind die Neste sehr zerstört, denn als vor einigen Jahren
ein Gouverneur von Schiraz einen Stein von dort weg-
holen ließ, um ihn in seinem Garten zu verwenden, und
man unter demselben altpersische Goldstücke fand, ließ er
unter sämmtlichen Thüren nachgraben, und die darauf
folgenden Winterregen vollendeten die Zerstörung. Am
anderen Ufer des am Fuße des Palastbcrges vorbeiströmcn-
den Flusses erhebt sich ein fast senkrechter Felsen, in welchen
drei Basreliefs von mittelmäßiger Ausführung eingchauen
sind. Sie stehen den Bildwerken von Naksch-i-Rüstern
bedeutend nach; die Köpfe nehmen fast den vierten Theil
der ganzen Körperlänge ein, die Gewänder sind ohne Kunst
und Wahrheit und die Erhaltung des Ganzen obencin
eine schlechte. Um so schöner aber ist die Rundschau,
welche man von jener Stelle aus genießt, und sie verdient
in der That die enthusiastischen Verse, welche ihr Hasiz
gewidmet hat. Je höher man an dem Felsen hinauf-
steigt, um so mehr entwickeln sich die schön gestalteten
Bergketten, welche das Thal einfassen, und wenn das Auge
dem gewundenen Laufe des Abi Roknabad folgt, so ruht
es zuletzt ans dcrn Salzsee, in welchem jener Fluß ver-
schwindet.
Als die Gesellschaft Abends nach Schiraz zurückkehrte,
stattete Mme. Dieulafoy den beiden Kindern des Dr. Odling
einen Besuch ab. Die Amme derselben ist eine Moham-
medanerin, welche der Doktor beim Tode seiner Frau in
Dienst genommen hat; aber welchen Widerstand galt es
dabei zu überwinden! Nur die großen Dienste, welche der
Doktor der Bevölkerung der Stadt leistete, und die Furcht,
daß er fortgehen könnte, veranlaßten zuletzt den Imam
Dschuma und den Muschteid, den Aufenthalt einer Perserin
bei dem Ungläubigen zu gestatten. Dann aber mußte der
Widerstand der Amme selbst gebrochen werden, welche lieber
einem Affen oder jungen Hunde die Brust gereicht hätte,
als einem Christenkinde. Sie wurde schließlich dadurch
gewonnen, daß man ihr monatlich einen Lohn von 100
Kran, für Fars eine ganz enorme Summe, und jede Saison
ein seidenes Kleid versprach, und außerdem sollte ihr eine
Dienerin gehalten werden, um ihre Wasserpfeife in Stand
zu halten und anzuzünden; denn das Rauchen war nach
ihrer Behauptung vorzüglich geeignet, die Milchabsonderung
zu befördern.
Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Von A. Sartorius Freiherrn von Waltershauscn.
V. (Schluß.)
Zum Schluß dürfte sich noch eine Dctailschilderung des
Lebens in einer vor wenigen Jahren entstandenen Stadt
empfehlen, welche ich drei Jahre nach ihrer Gründung
kennen lernte 0-
Im Winter 1877 auf 1878 wußte noch niemand etwas
von der Stadt Lcadville, welche im Centrum des Staates
Colorado gelegen, in gerader Linie etwa 130 engl. Meilen
westlich von Denver entfernt, gegenwärtig mit den sie um-
gebenden Ansiedelungen eine feste Bevölkerung von fast
20 000 Menschen zählt. Wollte man diese Ziffer schlecht-
hin ohne das Moment der Stetigkeit in Anschlag bringen,
so würde man schließen können, daß Leadville ebenso schnell
wie entstanden auch dem Niedergänge entgegen eile. Denn
drei Vierteljahr, nachdem die erste Silbermine an dem
westlichen Abhange des South Park Range entdeckt war,
hatten sich 40 000 Mann aus allen Theilen der Staaten
zusammengefunden, um sich an dem Bergbau direkt oder
indirekt zu betheiligen, und mit dem Beginn des Jahres
1880, als Leadville zwei Jahre existirte, zählte man nur
^ 0 Vergl. Beilage der „Allgem. Zeitung" vom 16. April
noch 25 000 Einwohner. Seit etwa zwei Jahren ist die
Bevölkerung die zuerst angegebene geworden und hat sich
seitdem erhalten. Als Väter von Leadville, d. h. als
Stadtgründer, gelten zwei Männer, welche zu den ersten
gehörten, die dem Gerücht von dem Silberreichthume folg-
ten. Ueber die Schicksale dieser beiden eine kurze Mit-
theilung zu machen, welche ich einer deutschen westlichen
Zeitung wörtlich entnehme, kann ich an dieser Stelle mir
nicht versagen, weil sie geradezu typisch sind für die Tausende
von Glücksjägern, welche den weiten unbebauten Westen
als Operationsfeld für ihre Spekulationen ausersehen haben:
„George H. Frycr kaut einst aus Philadelphia nach Colo-
rado, wo er sich mit Bergbau beschäftigte. Im Jahre 1878
befand er sich da, wo jetzt Leadville steht, und entdeckte auf
einer dortigen Anhöhe die reiche Silbermine, die dann unter
dem Namen „New Discovery Mine" bekannt geworden
ist. Die silberhaltige Anhöhe heißt ihm zu Ehren noch
heute „Frycr Hill". Gleichzeitig fanden auf dem Platze,
wo der Schnapswirth Hornee A. W. Tabor seine Berg-
manns- und Fuhrmannskneipc hielt und wo seine Frau
j als Hemdenwäscherin thätig war, ebenso bedeutende Ent-
deckungen von Silbererz statt.
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Stüdtegrnndung im nordamerikanischen Westen. 151
Der unwissende Schnapswirth Tabor hatte nach der
Silberentdeckung unter dem Beirathe seiner klugen und
fleißigen Frau Glück, wurde mehrfacher Millionär, Erbauer
des Opernhauses in Denver, Vicegonverneur von Colorado,
auf einen Monat sogar Bundessenator, und dankte seiner
Gattin, der einstigen treuen Genossin seiner Armuth, mit
skandalöser Untreue; er mußte gerichtlich gezwungen werden,
ihr einen Theil seines Reichthums abzutreten, worauf er
sich gleich nach der gerichtlichen Scheidung eine andere
nahm.
Diejenigen, welche den Reichthum für das wahre Erden-
glück halten, preisen Tabor als einen hochbeglückten Mann.
Nicht so glücklich wurde der andere Vater von Leadville,
George H. Fryer, obgleich er nicht wie Tabor blindlings,
sondern durch Glück und Kenntnisse den reichen Fund auf
dem „Fryer Hill" gemacht hatte. Er war schon seit 1860
mit Bergbau in Colorado beschäftigt gewesen, hatte dadurch
ungefähr 40 000 Dollars erworben und wieder verloren,
und legte mit gutem Bedacht die Mine auf dem jetzigen
Fryer Hill au; seine geologischen Voraussetzungen täuschten
ihn nicht, und er stieß bald auf das reichste Silbererz. Da
er aber kein Geld zum großen Bergbaubetrieb besaß, so
verlauste er einen Theil seiner Mine um den Spottpreis
von 40 000 Dollars an den Spekulanten Chaffee, der eine
Zeitlang Bundessenator von Colorado war und jetzt Mil-
lionär und Schwiegervater eines der Söhne des General
Grant ist. Aus dem übrigen Theile seiner Mine löste
Fryer ebenfalls ungefähr 40 000 Dollars. Er galt für
viel reicher, als er war, machte sich durch seine Freigebig-
keit und Liebenswürdigkeit beliebt, und einmal war die
demokratische Partei nahe daran, ihn zu ihrem Gouver-
ueurskaudidaten zu machen. Während Leadville wuchs,
wurde er armer und ärmer. Er hatte bei verschiedenen
Unternehmungen Unglück, schien dieses jedoch mit heiterem
Gleichmuts) zu ertragen. Im Jahre 1883, als es schon
rasch bergab mit ihm ging, erlaubte sich der 46jührige
Mann den Lupus der Verheirathung mit einer Modedame.
Er lebte mit ihr anscheinend flott und vergnügt in einem
Hotel in Denver. Vor drei Monaten fing er, um die ihm
immer näher rückende gänzliche Verarmung zu vergessen,
das Schnapstrinken au. An einem Abend aber verschluckte
er, nachdem er den letzten Trunk gethan, eine tödtliche Dosis
Morphium, um seinem Leben ein Ende zu machen, und
nach mehrstündigem Leiden starb er. So endete der eigent-
liche Vater der jungen, im Hochgebirge des Ceutennialstaatcs
entstandenen Wunderstadt."
Die Stadt Leadville liegt an einem weiten, von dem
Arkansasflussc langsam ansteigenden Bergabhange, 10 Mi-
nuten von den Eingängen der Bergwerke. "Nach welcher
Seite hin man blickt, überall starren einem bis zu 14 500
Fuß hohe, mit Schnee bedeckte Berghäupter entgegen, so
daß man meint, die Stadt liege in einem engen Thalkessel,
dessen Wände bald hinter den äußersten Enden der Stadt
zu steigen begännen. Die Bergspitzen sind aber doch weit
entfernt, und man überzeugt sich bei schärferer Beobachtung
leicht, daß die klare Luft die Ursache der Täuschung ist.
Der Schncefall im Winter ist oft recht bedeutend, wie sich
aus einer solchen Höhe auch nicht anders erwarten läßt.
Im letzten Winter waren viele Minenplütze des San Juan-
Bezirks im südlichen Colorado durch den Schnee von der
Welt abgeschnitten. Am 18. Februar arbeitete die Tele-
graphenleitung zwischen Silverton und Denver einige Stun-
den, dann hörte die Verbindung auf, weil Lawinen einen
Theil der Leitung zerstörten. Dieser so schnell wieder ab-
gebrochene Verkehr war der erste, welchen seit dem 3. Februar
die Welt mit Silverton hatte, und man erfuhr bei dieser
Gelegenheit, daß alle Geschäfte infolge der Schneeblockade
in Silverton, Ouray und anderen Minenplätzen stockten,
daß der Schnee auf ebenen Stellen sechs Fuß, in den
Schluchten aber, durch welche die Wege ebenfalls führen,
fünfzig bis sechzig Fuß tief war, und die dortigen Bewohner-
selbst die nächsten Nachbarn nur auf Schneeschuhen erreichen
konnten. Erst Ende April sind sie, nachdem sie über zwei
Monate von allem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen
waren, von ihrem Leiden erlöst worden. Vom 3. Februar
bis zum 20. April war in Silverton kein Eisenbahnzug
eingetroffen.
Zwei lange und breite Straßen, welche sich in der Mitte
rechtwinkelig schneiden, mit geräumigen Holztrottoirs an
den Seiten versehen, repräsentiren den feinen Stadttheil
von Leadville und die amerikanische Civilisation. Da stehen
mehrere große steinerne Wohnhäuser, einige Hotels mit
ein paar hundert Zimmern, ein geräumiges Postgebüude,
eine City- und Odd Fellows-Hall und die Geschäftshäuser,
welche unter dem Namen Groceries alles und jedes ver-
kaufen. Außerdem giebt es nur einstöckige Holzgebäude
und Blockhäuser, deren Material den hochstämmigen Fichten-
wäldern des nahen Waldes entnommen ist. Die Block-
häuser, deren ein paar Tausend vorhanden sind, sind 6 bis
8 Meter im Geviert groß, fensterlose, einzimmerige Kasten.
Die Fugen sind mit Lehm verstopft. Das Dach ist eben-
falls von Holz und die massive Thür ist mit starkem,
schwerem Schloß zugehalten. Diese Gebäude dienen als
Schlafstätten für zwei oder drei Bergleute, welche, da sie
mit ganz wenigen Ausnahmen unverheirathet sind, ihre
Mahlzeiten in Restaurants einnehmen, wo sie auch, wenn
sie nicht in Biersalons, Tanzlokalen und Spielsülen sich
Herumtreiben, ihre übrige freie Zeit verbringen können.
Alle auf die beiden erwähnten Hauptstraßen führenden
Seitengassen zeigen, daß noch nicht lauge Zeit seit der
ersten Anlage der Stadt verflossen ist. Denn nur wenige
Schritte von einander ragen aus dem Boden 3 bis 4 Fnß
hohe Baumstümpfe hervor. Man hatte keine Muße gehabt,
die Wurzeln auszuroden, sondern die hohen Stämme nur
niedergeschlagen, Blockhäuser daraus gemacht, und war dann
an die Gewinnung der Silbererze gegangen.
Die hier lebende Gesellschaft ist eine höchst eigenthüm-
liche. Sie ist eine Mischung verschiedener Rassen und ein
Durcheinander von noch mehr Nationalitäten. Weiße,
Neger, Indianer und Chinesen arbeiten in den ihnen zu-
sagenden Beschäftigungen. Die Weißen sind Staatsbeamte,
Bergwerksunternehmer, Handwerker und Grubenarbeiter,
die Schwarzen Kellner, Fuhrleute und Stiefelputzer, die
Chinesen Köche und Wäscher, die Indianer bringen Wild
und Pelzwerk aus dem Gebirge. Die geborenen Ameri-
kaner sind Besitzer von Gruben, Komptoirarbeiter und
Werkführer in den Berg- und Schmelzwerken. Die Ir-
länder, Kanadier, Italiener und Spanier sind gewöhnliche
Bergleute. Die Deutschen sind hauptsächlich im Handwerk
vertreten, als Schuhmacher, Schneider, Tischler und Schlosser,
und das Handelsgeschäft ist fast ausschließlich in den Hän-
den deutscher Israeliten.
Die Physiognomien zu beobachten, ist höchst interessant.
Mau sieht Leute mit bärtigem, verwildertem Gesicht
und mit verwegenem Ausdruck, Existenzen, deren aben-
teuerliche, leidenschaftliche, auch wohl verbrecherische Ver-
gangenheit in den Zügen zu lesen ist. Blaue Flanell-
hemden und braune Anzüge von dickem, wachstuchähnlichcm
Stoff sind die regelmäßige Tracht der Bergarbeiter. Ein
Kragen und ein Halstuch sind ein seltener Anblick in Lead-
ville. Jedermann trägt einen Revolver. Am Abend ist
ein dichtes Gedränge auf den beiden Hauptstraßen, die
152
A. Sartorius Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen.
Spielsäle, in denen Roulette, Würfel und mexikanische
Monte üblich sind, haben sich dicht gefüllt. Die Musik
aus den Theatern schallt auf die Straße, in den deutschen
Biergärten hört man das Klappern der Seidel und vor-
dem Kaufläden preisen niit heiserer Stimme die Markt-
schreier bei Pechfackelbelenchtung ihre Waare an. Jäger,
die eben aus dem Gebirge gekommen sind, in grauem mit
langen Fransen besetzten Lederanzug und hohen Stiefeln,
deren Schäfte mit silbernen Schnallen um die Waden be-
festigt sind, hören neugierig zu und bewundern die billigen
Uhrketten und Ringe von falschem Gold.
Das schöne Geschlecht ist nur sehr spärlich vertreten.
Es lebten 1881 nur 200 verheirathete Frauen in Lead-
ville, und was man sonst von der Damenwelt in den Spiel-
höllen und Tanzlokalen sieht, scheint ebenfalls, wie der
größte Theil der männlichen Bevölkerung, zum Aufsuchen
von Abenteuern und Reichthum hierher gekommen zu sein.
Da der größte Theil der Gesellschaft von Handarbeit
lebt und ein ziemlich gleiches Einkommen besitzt, so ist eine
gesellschaftliche Abstufung kaum zu merken. Es giebt keine
Bettler, denn jeder, der arbeiten will, findet setzt Beschäfti-
gung, und wer nicht arbeiten kann oder nicht will, geht,
wenn er keine sonstigen Mittel hat, zu Grunde. In der
ersten Zeit, als die Minen entdeckt wurden, konnten freilich
weit mehr Leute Verdienst finden, da die Ausbeute so leicht
und ergiebig war. Nach und nach ist aber der Bergbau
weniger produktiv, aber viel stabiler geworden, und viele
Arbeiter sind zu neuen Entdeckungen westwärts gezogen.
Gegenwärtig wird der Bergbau rationeller betrieben und
soll einer guten Zukunft entgegengehen.
Die wohlhabenderen Leute sind mit großem Luxus
eingerichtet und sehr stolz auf das Innere ihrer Häuser.
So wurde mir von einem, sobald ich ihn kennen lernte,
mitgetheilt, jeder feine Mann in Leadville habe sein
Telephon, dessen Draht nach einem Centralbureau laufe
und dort mit jedem anderen Draht in Verbindung gesetzt
werden könne. Wenn er seinen Barbier brauche, so rufe
er nur in das Telephon: „Verbindung mit Herrn N. N."
und dann kurz darauf „barbieren". Nach wenigen Minuten
sei der Gewünschte da. Ein anderer Hausbesitzer zeigte
einen Teppich, der nur einmal gewebt sei und den er sonst
nicht gekauft hätte, und zwei Bronzelöwen, die in dem
Garten standen, welche nur einmal (glücklicherweise, dachte
ich) in Italien gegossen seien. Erführe er, fuhr er fort,
daß dergleichen noch einmal existire, so würde er sofort
etwas Neues anschaffen. Diese Selbstverhcrrlichnng, welche
in so eigenthümlicher Weise hervortritt, trifft man in neuen
amerikanischen Ansiedelungen allgemein an, und man wird
sie sich leicht erklären, wenn man bedenkt, was diese ener-
gischen Leute in so kurzer Zeit geleistet, und wie sie aus
der Wildnis; in wenigen Jahren eine Kulturstätte geschaffen
haben. Staunen muß man vielmehr, wie diese Pioniere
des Westens ihren Kulturbedürfnissen so treu geblieben
sind; denn Leadville hat seine eigenen Zeitungen, Verkehr
mit allen Theilen der Union, zeitweise öffentliche Vor-
lesungen über Kunst und Wissenschaft, eigene Prediger und
Kirchen und allgemein zugängliche Lesezimmer.
Die Preise der Lebensmittel, die abgesehen von einem
Theil des Fleisches aus Denver herbeigeschafft werden
müssen, sind sehr hoch, wie auch die Arbeitslöhne für eine
zehnstündige Arbeit 3 bis 372 Dollars im Durchschnitt be-
tragen. Ein paar Stiefel zu putzen kostet 25 Cents (1 Mk.),
die kleinste Kleidungs- oder Stiefelreparatur 50 Cents. Für
1 bis 1 Va Dollars kann der Bergmann gerade leben, also
täglich 2 Dollars erübrigen, wenn er sparsam und nüchtern
zu leben gewohnt ist. Die hohen Löhne erklären sich auch
aus der harten Arbeit, welche hier von einem Bergmann
verlangt wird, und aus dem leicht möglichen Fortzng der
Arbeiter, die keine Familie haben und gern zur Unterneh-
mung auf eigene Rechnung in die Berge ziehen. Zeitweise
gab es in Leadville auch einen Gewerkverein, die Miners
Union, welche aber wegen der Fluktuation der Arbeiter-
bevölkerung keinen Bestand gehabt hat, und so auf die Höhe
der Löhne keinen Einfluß haben konnte. Im Sommer
1880 brach ein großer Strike unter den Bergleuten zur
Verkürzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden aus, weicher
zur Gründung dieser Gewerkschaft und einer Zeitung „Ulis
crisis" benannt, führte. Da die Unternehmer nicht nach-
gaben, so schien den Arbeiterführern die Anwendung von
Gewalt rathsam, und eine große Schar der Leute, mit
Revolvern und Flinten bewaffnet, suchte < unter der An-
drohung allgemeiner Verwüstung die gestellten Bedingungen
zu ertrotzen. Die genannten übrigen Bewohner der Stadt,
nicht strikende Grubenarbeiter, Handwerker, Kaufleute u. s. w.,
bewaffneten sich ebenfalls und formirten einige Regimenter.
Mehrere Tage war Leadville in zwei Heerlager getheilt,
als nach Bestrafung einiger Rädelsführer die Ruhe wieder-
hergestellt wurde. In abgelegenen kleinen Lagern, wo oft
nur Arbeiter leben, endigen solche Aufstände in der Regel
anders, und dort Grubenbesitzer oder Grubendirektor zu sein,
ist ein Beruf, der nicht selten mit dem Verlust des Lebens
und des Eigenthums verbunden gewesen ist.
Viele Bergwerke in Colorado haben nur sehr kurzen
Bestand gehabt, und mit ihnen sind dann auch die von
ihnen gegründeten Ortschaften wieder in Vergessenheit ge-
rathen. Bisweilen ist die nachlassende Ergiebigkeit der
gehauenen Erze an dem Aufgeben der Unternehmungen
schuld, bisweilen aber auch das Schwindelhafte der ur-
sprünglichen Anlage. So wurde cs kürzlich in einer Zei-
tungsnotiz bekannt, daß die Goldfelder, die beim Pikc's
Peak in Colorado entdeckt wurden, „gesalzen", d. h. ein
riesiger Schwindel zu sein schienen. Man will wissen,
daß ein gewisser Jemand in Leadville alles Goldchlorid
aufgekauft habe, dessen er habhaft werden konnte, und eine
Analyse des Kieses in den Goldfeldern am Pike's Peak hat
ergeben, daß derselbe mit dem von dem betriebsamen Manne
anderswo gekauften pulverisirten Erz gemischt ist. Die
Veranstalter dieses „Booms" hatten, noch ehe sie die Nach-
richt von den „aufgefundenen Goldfeldern" verbreiteten,
eine „Aktiengesellschaft" gegründet, und ihr ganzes Spiel
war darauf berechnet, die Aktien gut zu verkaufen. Durch
die jetzt erfolgten Enthüllungen ist den Gaunern das Spiel
verdorben, und der Auszug aus Leadville nach den neuen
Goldfeldern hat bereits aufgehört.
lieber die Zukunft von Leadville läßt sich natürlich nichts
bestimmtes sagen. Denn wie groß die noch abzubauenden
Metalladern sind, vermag niemand auch nur annähernd
anzugeben. Hört der Bergbau einmal auf, so ist feine
Aussicht vorhanden, daß die Stadt fortbestehen wird, da
jene öde hochgelegene Region des Felsengebirges andere
wirthschastliche Anziehungspunkte nicht bietet. Der Staat
Colorado verdankt sein rasches Aufblühen wesentlich seinem
Metallreichthum. Sollte dieser sich erheblich mindern, so
läßt sich befürchten, daß der Staat an ökonomischer Be-
deutung nicht bleibt, was er ist. Seine Einwohner suchen
dieser Eventualität vorzubeugen und sangen an, das östliche
Terrain, welches eine baumlose, staubige Steppe ist, zu be-
wässern und so der Landwirthschaft eine Zukunft zu sichern.
Einige gute Resultate sind schon gewonnen, und wenn auch
die für den Weizenbau zuträglichen Ländereien keine Flächen
wie Dakota und Kansas aufweisen, so sollen dieselben doch
eine Frucht von besonders guter Qualität liefern, und in
A. Riis Carstensen: Die westgrönlandische Expedition.
153
keinem Lande soll von einem Acker eine so bedeutende Masse
erzielt worden sein. Die Kosten der dortigen Knltivirung
sind groß und mit viel Arbeit verbunden. Ich wollte am
Schluß hier diese Thatsache noch hervorheben, um anzu-
führen, daß die Amerikaner sich der Unstetigkeit ihres ökono-
mischen Lebens sehr wohl bewußt sind, und daß die davon
in nachtheiliger Weise Betrossenen mit der dem Volke
eigenen Energie den für sie entstandenen Schaden auszu-
gleichen bestrebt sind. Wenn anch die natürlichen Verhält-
nisse oft stärker sind als solche Bemühungen, so darf man
doch nicht vergessen, daß die Unbeständigkeit in der nord-
amerikanischen Volkswirthschast noch weit greller zu Tage
getreten wäre, wenn nicht so tüchtige Gegenanstrengungen
gemacht wären, dieselbe zu überwinden.
Die westgrönländische Expedition.
Von A. Nils Carstensen. (Deutsch von W. Finn.)
II. (Schluß.)
Sukkertoppen, 8. September 1884.
Auf der in meinem vorigen Briefe erwähnten kleinen
Insel wurden wir von Regen und Nebel bis Sonntag den
20. Juli festgehalten und vertrieben uns meist die Zeit mit
der Jagd auf Secvögcl, welche in großen Scharen umhcr-
schwürmtcn. Wir ruderten endlich südwärts zwischen den
Schären hindurch, wo das Wasser so niedrig war, daß zur
Ebbezeit das Land meilenweit trocken lag und nur hier und
da einzelne kleine Wasscrrinncn blieben. Wir besuchten
zwei große Steinhaufen, welche zu Anfang dieses Jahr-
hunderts von einem gewissen Anders Olsen zur Bezeich-
nung des Nordrandes dieser Gründe aufgeführt worden
waren. Die Küste war niedrig, stieg jedoch in einem Ab-
stande von V2 Meile, wo einige abgerundete, knppelfömige
Gebirgszüge sich erhoben, gleichmäßig an. Das Land wurde
von einigen Flüssen durchschnitten, und bei der Mündung
von zweien derselben fanden wir die Landschaft von Zelten,
auf das Land gezogenen Booten und von eifrig mit der
Lachsfischerei beschäftigten Menschen belebt.
Am 23. Juli Mittags machten wir auf einem kleinen
Holme an der Mündung des Fjordes Halt, und am Abend
schlugen wir unsere Zelte am Ende desselben auf. Ob-
gleich seine ganze Länge nur 5 bis 6 Meilen betrug, so
war seine Umgebung doch reicher an großartigen Gebirgs-
formationcn als irgend einer der früher von uns besuchten
Fjorde. Zu beiden Seiten desselben erhob sich das Gebirge
bis zu 4000 bis 5000 Fuß Höhe. Während das Boot
weiter kam und dadurch die Scenerien abwechselten, wurde
der Blick von einem Bilde zu dem anderen gezogen, von
denen eines immer großartiger wie das andere war, aber
erst als wir den innersten Theil des Fjordes erreichten,
wurde die Landschaft wahrhaft imponircnd. Die Lust war
still und klar; ein grünes Birkenwüldchen lag im Schatten
auf der Ebene, wo wir unser Zelt ausgeschlagen hatten,
und hinter derselben erhob sich steil das Gebirge. Die
Spitzen desselben erglühten in dem Strahle der Sonne und
in den Klüften desselben schimmerte das Eis mit wunder-
barer Kraft. Einige schäumende Wasserfälle ergossen sich
an dem mit Rasen bewachsenen Fuße des Gebirges. Nach-
dem wir einige Tage an diesem interessanten Fjorde ver-
weilt hatten, begaben wir uns wieder zu den Schären hin-
aus, wo wir von Regen und Nebel empfangen wurden.
_ Am nächsten Tage begaben wir uns nach Kanga-
miut, einem kleinen Handelsplatz, wo früher die Kolonie
Sukkertoppen belegen war. Aus der Entfernung
machte der Ort einen recht lebhaften Eindruck mit seinen
wenigen aber gut erhaltenen Häusern. Im Orte selbst
Globus XI.VII. Nr. 10.
waren nicht viele Menschen anwesend, da alle arbeitstüch-
tigen Leute entweder auf die Renthierjagd oder auf die
Lachs- und Heilbuttenfischerei ausgezogen waren. Hier
wohnte ein dänischer Handelsagent und ein alter Däne, der
bereits seit dem Jahre 1838 in Grönland lebte und nun
eine Pension vom königlichen Handel erhielt. Beide Männer
waren mit eingeborenen Frauen verheirathet und hatten
ihren Kindern eine vollständig grönländische Erziehung
gegeben. Hier bot sich mir ein Beispiel, wie leicht eine
Grönländerin die dänische Sprache erlernen und sich da-
durch eine Menge Kenntnisse und eine gewisse Bildung
erwerben kann, ohne ihre nationalen Eigenthümlichkeiten
einzubüßen. Wie uns erzählt wurde, hatte hier während
des letzten Winters großer Mangel an Proviant geherrscht,
so daß selbst Kamikker (Stiefel) und Kajaksellc verspeist
werden mußten. In dem Orte befanden sich 14 Witwen
mit Kindern, deren Ernährer, fast alles gute Fanglente,
im Kajak verunglückt waren.
Nachdem wir einige Waaren an Bord genommen, und
unser Chef, Lieutenant Jenscn, einen Mann als Lootsen
im südlichen Strömfjord (einem der mächtigsten Fjorde
Grönlands, dessen Mündung unter dem 66. Grade nördl.
Br. liegt) angenommen hatte, wo unsere Leute nicht be-
kannt waren, schifften wir uns wieder ein und kamen am
1. August zwischen Felsen hindurch, deren Spitzen in
Wolken verborgen waren, während einzelne Gletscher sich
ans ihren Klüften hervordrängten. Am Abend schlugen
wir unser Zelt ans einer Moräne, zwischen Rollsteinen und
Grus aus. Die Ufer waren steil und die Strömung sehr
stark. Aus diesem Grunde waren hier nur wenige passende
Zeltplätze zu finden, so daß wir am Abend einen engen
Nebenfjord aufsuchen mußten, dessen viele schönen Partien
indessen für die gehabte Mühe entschädigten. Es war ein
behaglicher Platz, wo wir ans weichem Moose, zwischen
Heidekraut und Gehölz an einem kleinen murmelnden
Bache unser Zelt aufschlugen. Durch widrigen Wind und
die Strömung gezwungen, mußten wir den nächsten ganzen
Vormittag an der Mündung dieses kleinen Fjordes ver-
weilen. Hier fanden wir ein altes Grab, das entgegen der
allgemeinen Regel, nur einige Fuß über der Hochwasser-
linie lag. Dasselbe bestand aus einigen Steinen, welche
über die, gegen ein größeres Felsstück gelehnte Leiche ge-
legt waren. Die Knochen waren weiß und hart und
selbst für einen Europäer ungewöhnlich groß; mehrere der-
selben, darunter der des einen Oberarmes, waren gebrochen
und merkwürdigerweise fehlte der Schädel. Keiner von
20
154
A. Riis Carstensen: Die westgrönlündische Expedition.
unseren Leuten wußte Uber das Grab Mittheilungen zu
machen.
Am Nachmittage wurde der Wind günstig und, geführt
von der einwärts dringenden Strömung, kamen wir schnell
in den inneren Theil des Fjordes hinein. Bei einer plötz-
lichen Wendung des Fjordes zeigte sich eine Landschaft mit
ganz von dem früheren abweichendem Charakter. „Pinne
suzia“ („Ist das schön!"), riefen unsere Ruderinnen im
Chor; der Fjord erweiterte sich zu einem weiten Binnen-
see, die Küsten waren niedrig, hügelig und schneefrei. Auf
der Stelle, wo wir uns am Abend lagerten, befand sich ein
Elsenwäldchen von bedeutender Ausdehnung, dessen meiste
Stämme 8 bis 10 Fuß hoch waren. Der weiche Rasen
war mit mannigfaltigen Blumen bedeckt und viele kleine
Vögel, Schneehühner und Hasen ließen sich sehen. Nach-
dem wir den ganzen nächsten Tag hindurch gerudert und
gesegelt waren, erreichten wir das Ende des Fjordes; das
Wasser war klar, aber so flach, daß wir nur mit Mühe
landen konnten. Vor uns lag eine von einem breiten
Flusse mit lehmigem Wasser durchschnittene Ebene, und zu
beiden Seiten zeigten sich nur niedrige Hügel von gelb-
braunem trockenem Aussehen. An den Ufern des Fjordes
lagen unzählige Versteinerungen, größtentheils von Ang-
magsetten. Am Morgen des 6. August begaben wir uns,
im ganzen neun Menschen, zu Fuß auf die Wanderung.
Unser Zelt ließen wir von zwei Männern und einer Frau
bewacht zurück, hatten aber selbst alles zu einem längeren
Ausfluge Nöthige mitgenommen. Wir folgten einem sehr
schmalen, am Ufer des Flusses vorhandenen Steig. Bald
war das Terrain eben wie ein Fahrweg und bald ging es
auf und ab in den vom Wasser in den weichen Thon ge-
schnittenen Klüften, oder auch mußten wir über Stein-
gerölle wandern, womit die Moräne streckenweise bedeckt
war. Die Ufer des Flusses waren alle steil und wohl
gegen 150 Fuß hoch; meistens bestanden dieselben aus
Thon, aber wir passirten doch auch Sandstrecken, welche
spärlich von Sandhalm (Elymus arenarius) bewachsen
waren. Der von uns benutzte Steig war in einer Länge
von ungefähr 4 Meilen merkwürdig deutlich zu sehen, zu-
mal derselbe nur von den einzelnen Jägern benutzt wird,
welche während des Sommers sich ans demselben nach den
Renthiergegenden begeben. Abends gegen 7 Uhr erreichten
wir einen See, in dessen Nähe wir ein von zwei Jägern mit
ihren Familien bewohntes Zelt fanden. Dieselben hatten
sich hier bereits einen Monat aufgehalten und während
dieser Zeit 19 Renthiere erlegt. Der Besitzer des Zeltes
hieß Mads. „Im vorigen Jahre erlegten wir 60 Ren-
thiere", bemerkte er mit einem Seufzer.
Wir lagerten uns dort in der Nähe und wurden Zeugen
der Thätigkeit, die in Folge des bevorstehenden Ausbruches
von dem Platze unter den Grönländern herrschte. Häute
und getrocknetes Fleisch wurden verpackt, die Zeltfelle herab-
genommen und zusammengerollt. Die Kinder, welche sich
kleine Zelte gebaut hatten, gaben sich Mühe, den Ernst
und die Emsigkeit der Alten nachzuahmen. Mads ließ sich
überreden, uns am nächsten Tage als Wegweiser in das
Innere des Landes zu dienen, denn es hatte sich gezeigt,
daß der zu diesem Zweck von Kangamiut mitgebrachte
Mann die Gegend nicht kannte. Wir passirten einen See,
der keinen Abfluß hatte und doch viele Lachse enthielt.
Mads erzählte, daß noch niemand den See zugefroren ge-
sehen habe; er sei häufig im Juni hierhergekommen und,
während noch alle anderen Gewässer mit Eis belegt waren,
sei dieser See stets eisfrei gewesen. Von einem der höchsten
Gebirgsrücken, wo das Barometer circa 2000 Fuß Höhe
angab, hatten wir einen guten Ueberblick über die Um-
gegend, die nach allen Seiten hügelförmig war und eine
Menge Seen enthielt. Gegen Norden erstreckte sich dieses
Land, soweit das Auge blicken konnte; gegen Osten wurde
es von dem Jnlandseise begrenzt, das den Eindruck machte,
als sei es nur ungefähr eine halbe Tagesreise entfernt.
Als wir jedoch am Abend unser Lager aufgeschlagen, nach-
dem wir den ganzen Tag hindurch gewandert hatten, sah
es nicht aus, als ob wir dem Eise erheblich näher gekommen
seien. Mads kehrte nun zu seinen Leuten zurück, während
wir bei Anbruch des Morgens unsere Wanderung über
Hügel und an Seen vorbei fortsetzten und erst am Abend
am Rande des Jnlandseiscs unser Zelt aufschlugen. Auf
unserer Wanderung mußte es uns auffallen, daß der Hügel
am Südostrande tiefe Erdrinnen zeigte, und daß der
Boden, wo er von dem Südostwinde getroffen wurde, nur
eine kümmerliche Vegetation hervorbrachte, während die
Pflanzen an der entgegengesetzten Seite üppig wuchsen; die
Rinnen liefen parallel und glichen den von großen Ka-
nonenkugeln gemachten Furchen. Ihre Anzahl und Größe
nahm zu, je mehr wir uns dem Eise näherten, und viele
glichen den Lücken, welche der Sturmwind in die Sand-
dünen reißt. Am Tage zuvor hatten wir einen See ge-
sehen, der nur gegen zwei Stunden entfernt und mit Eis-
stücken angefüllt zu sein schien. Wir gebrauchten jedoch
einen ganzen Tag dazu, um denselben zu erreichen und
fanden, daß derselbe gegen eine Quadratmeile groß war
und daß das, was wir für Eisstücke angesehen hatten,
Felsenspitzen waren, welche bis zu 20 Fuß Höhe aus dem
Wasser hervorragten. Nach Osten zu wurde der See vom
Eise begrenzt, das wie eine weiße Mauer dastand, deren
Spalten in blauen, violetten und grünen Farben spielten.
Wo das Eis mit dem Lande zusammentraf, war dieses in
hohen Wällen wie von einem ungeheuren Schneepsluge
aufgeworfen und die Felsen waren unter seinem Drucke
zu Grus zermalmt. Auf einigen Stellen war das Eis
rein, auf anderen dagegen mit einer Erdschicht und großen
Rollsteinen bedeckt. In der nächsten Umgebung des Eises
waren einige Hügel ganz von Erde entblößt, und auf dem
nackten Gestein bemerkte man nicht einmal Moose oder
Schwämme.
Es wehte ein frischer Südostwind, der, trotzdem er aus
der großen Eiswüste kam, doch milde, ja beinahe warm
war, denn wir hatten in der Nacht bei unserem Zelte fast
8 Grad Reaumur. Lieutenant Jensen wanderte am näch-
sten Morgen in Begleitung einiger Leute zu einem Nuna-
tak, von wo er an demselben Abend wieder zurückkehrte und
ein Renthiergeweih, sowie zerrissene Kamikkcr mitbrachte.
Am 10. August Morgens traten wir die Rückreise nach
unserem Zeltplätze an, indem wir einen anderen Weg be-
nutzten als denjenigen, auf welchem wir gekommen waren.
In keiner Kluft war eine Spur von Eis oder Schnee
sichtbar, und an der Nordseite der Hügel, sowie in vielen
Thälern befand sich eine außerordentlich üppige Vegetation.
Wir passirten eine Reihe von Seen, auf welchen sich zahl-
reiche Vögel aufhielten, u. a. wilde Gänse, Lummen n. s. w.
Die Nordseite eines Sees glich einem künstlichen Damme
von Erdtorf, der 6 Fuß hoch war und eine Länge von
lU Meile hatte. Ncnthiergeweihe lagen in Menge um-
her; bei einigen alten Zeltplätzen waren diese Geweihe in
Haufen aufgestapelt und frische Spuren ließen erkennen,
daß Renthiere in der Nähe seien. Wie das Land sich hier
zeigte, wellenförmig, ohne viele steile Felsen, wohlbewässert
mit Seen und durchschnitten von Bächen des Jnlandseiscs,
sah es während dieser Jahreszeit ganz danach ans, als wenn
jeder Fleck sich eignete, unter den Pflug genommen zu
werden. Birken-, Elsen- und Weidengebüsch fand sich sehr
A. Riis Carstensen: Die westgrönländische Expedition.
155
hänfig, und große Mengen von Blaubeeren verzögerten
unsere Wanderung nicht unwesentlich, denn es war nicht so
leicht, ihrer verlockenden blauen Farbe zu widerstehen. Es
war hier die Zeit der Ernte, Gräser und Feldblumen
zeigten reife Samenkappen. Gegen 12 Uhr Nachts erreichten
wir unser Zelt am Fsord; müde und bestaubt waren wir
bald in einen stärkenden Schlaf versunken.
Im Laufe der Nacht hatte sich eine frische Brise erhoben,
die den feinen Lehmstaub hoch in die Lüfte wirbelte und
den Aufenthalt auf der Ebene fast unmöglich machte. Wir
gingen ins Boot, wurden aber vom Winde genöthigt, am
entgegengesetzten Ufer des Fjordes zu landen, wo wir wieder
mit Mads und seinen Leuten zusammentrafen, welche hier
ihre Zelte aufgeschlagen hatten, um die Gegend südwärts
nach Renthieren abzusuchen. Mads theilte uns mit, daß
nördlich voul Fjorde ein Salzwasserbinncnsee zu finden sei,
und dorthin richteten wir am nächsten Tage unseren Marsch.
Wir landeten und schlugen unser Zelt wie gewöhnlich auf,
packten dann unser Reisezelt und andere zu einem kürzeren
Ausfluge nöthigen Sachen zusammen und wanderten dem
Gebirge zu, das uns als trocken und wasserlos geschildert
war. Als wir den nächsten, wohl 1000 Fuß hohen Berg-
rücken erreicht hatten, öffnete sich unseren Blicken eine
überraschende Landschaft. Den ganzen Tag hindurch passir-
tcn wir Seen von allen Größen, einige derselben hielten
bis zwei Quadratmeilen. Bon Thieren sahen wir nur
zwei Renthiere, die unserer Büchse indeß nicht zu nahe
kamen, und Schwärme von Gänsen und anderen Seevögeln.
Nur wenige Anzeichen deuteten darauf hin, daß diese Ge-
gend von Jägern oft besucht werde, und die umherliegenden
Renthiergeweihe hatten diese Thiere zumeist selbst abgelegt.
Frische Renthierspuren waren zahlreich, woraus geschlossen
werden durfte, daß hier ein einigermaßen geschontes Jagd-
terrain sei, in dem die Thiere nicht in demselben Grade,
wie nach Osten zu, verfolgt worden sind. Am Abend
schlugen wir hier unser Zelt auf; am nächsten Morgen fanden
wir die Gewässer mit einer dünnen Eisdecke und viele von
den Hügeln mit Schnee bedeckt. Von dem von uns ge-
suchten Salzwassersee war aber nichts zu sehen, weshalb
wir wieder nach bcni Fjorde zurückgingen und mit dem
Boote nach dem anderen Arme desselben ruderten, um den-
selben so weit zu verfolgen, als die Lehmbanken es ge-
statteten. Hier besuchten uns zwei Grönländer in Kajaks,
welche von einem Zelte auf der entgegengesetzten Seite des
Fjordes kamen. Sie waren über das Jnlandseis nach
einem Nnnatak auf die Renthierjagd gewandert und hatten
auch 18 Thiere erlegt, klagten aber dennoch über den
geringen Ertrag der Jagd in diesem Jahre. Von einem
ungewöhnlichen Salzsee wußten sie nichts, doch glaubten sie,
daß das Wasser aller Seen in dieser Gegend einen etwas
salzigen Geschmack habe. Wir waren auch hier mitten in
der Blaubeerenzeit, und die Klippen rings umher, sowie
unser Zelt zeigten deutliche Spuren, daß Füchse, Raben
und Möven in den Beeren schwelgten. Als ein Beispiel,
wie wenig die Grönländer verschmähen, alle Arten Thiere zu
verspeisen, kann ich anführen, daß ich dieselben einen jungen
Fuchs kochen und verzehren sah, und das nämliche geschah
jedesmal, wenn ein zu neugieriger Rabe ihrer Büchse zum
Opfer gefallen war. Die Küste rings um uns war mit
Birken und Weiden bewachsen, die längs des Bodens in
nordwestlicher Richtung krochen. Der Herbst hatte bereits
die Blätter bunt gefärbt und namentlich zeichneten sich
die Birken durch die hellgrünen, gelben und rothen Farben
ihres Laubes ans.
Am Sonnabend Morgen, den 16. August, waren die
Bergrücken mit Schnee bedeckt, der während der Nacht ge-
fallen war. Der Tag war sehr schön, doch wegen des
niedrigen Wasserstandcs konnten wir unseren Platz erst am
Nachmittag verlassen; wir erreichten an diesem Tage nur
die entgegengesetzte Seite des Fjordes und traten dann am
nächsten die Rückreise aus demselben an. Als wir des
Nachmittags in einer Bucht ans Land stiegen, wurden wir
von Grönländern empfangen, welche hier ihr Zelt aufge-
schlagen hatten. Es war ein Katechet mit seiner Familie,
der zusammen mit einem älteren Manne hier die Lachs-
fischerei betrieb. Diese Leute und noch eine Familie, welche
zur Zeit auf der Jagd war, bildeten die ganze Einwohner-
schaft eines kleinen Ortes in der Nähe von Kangamiut.
Zu der Kleinheit der Gemeinde stand auch das Gehalt des
Seelsorgers im Verhältniß; es betrug jährlich nur 18
Kronen. Der Prediger ergriff sogleich die Gelegenheit,
für unsere Leute einen Gottesdienst abzuhalten, wobei er
ein bedeutendes rhetorisches Talent bekundete. Von ihm
erhielten wir auch Mittheilungen über den Salzwassersee,
und erfuhren, daß derselbe nicht weit von der Stelle liege,
wo wir denselben bereits gesucht hatten; der Genosse des
Katecheten erbot sich, uns dorthin zu geleiten. Wir ruderten
also ein weites Stück zurück, wurden aber von Schnee und
Regen einen ganzen Tag an der Nordseite aufgehalten.
Am Mittwoch Morgen war alles rings umher von einer
dicken Schneeschicht bedeckt, die im Laufe des Tages nur bis
zu einer Höhe von 300 Fuß Uber dem Wasserspiegel
schmolz. Der Salzwassersee wurde gefunden, und es zeigte
sich wirklich, daß er dicht an dem Wege lag, dem wir letzt-
hin gefolgt waren. Auf unserer Rückreise waren alle
Höhenzüge mit Schnee bedeckt; die Luft war dick und die
Temperatur fast bis zum Gefrierpunkte gesunken. Erft
am Sonnabend, den 23. August, wurde das Wetter wieder
besser. Am nächsten Tage verließen wir den Ström-
fjord, nachdem wir uns 24 Tage in demselben aufgehalten
hatten. Es war ein recht merkwürdiger llebergang von
dem unbelebten Fjorde zu den Schären mit ihren See-
vögelschwärmen, und auffällig war es uns, wie weit der
Pflanzenwnchs gegenüber dem im Inneren des Landes
zurückgeblieben war. Hier waren die Beeren noch ganz
grün und viele Blumen waren erst kürzlich erblüht. In
den Klüften lag noch sehr viel Eis und auf vielen Stellen
in den Buchten bemerkten wir noch solches vom vorher-
gehenden Jahre. Mittwoch, den 27. August, kamen wir
wieder in Kangamiut an. Die jetzige Physiognomie
des Ortes war sehr verschieden von derjenigen, welche er
zur Zeit unserer Abfahrt hatte; alle Lachsfischer waren
zurückgekommen, und nur die Renthierjäger fehlten noch.
Es war eine bunte Bevölkerung, deren Haarfarbe alle
Nüancen von Rabenschwarz bis zu der hellsten zeigte. Einige
der Frauen hatten so feine kaukasische Züge, daß, wenn
man dieselben in einem anderen Lande gesehen hätte, man
sie sehr wohl für englische oder amerikanische Schönheiten
hätte halten können. Andere dagegen waren von ab-
schreckender Häßlichkeit. Ebenso verschieden wie ihr Aus-
sehen war auch ihre Garderobe; während einige sehr an-
ständig gekleidet waren, bestand die Kleidung vieler nur ans
wenigen, um den Körper hängenden Felllappen. Von
Kangamiut aus besuchten wir schließlich noch den circa
12 Meilen langen Ewigkeitsfjord. Die vielen Be-
richte über die Gefahren, die mit der Bereisung dieses
Fjordes verbunden sein sollten, hatten uns hauptsächlich zu
dieser Fahrt veranlaßt. Wir bekamen einen tüchtigen
Führer von Kangamiut, zu welchem unsere Leute großes
Vertrauen hatten. Der äußere Theil des Fjordes bot
wenig von Interesse dar, aber je weiter wir in denselben
hinein kamen, desto mehr änderte sich die Scenerie. Auf
20*
156
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
einer längeren Strecke war der circa 1/2 Meile breite Fjord
von 4000 bis 5000 Fuß hohen, beinahe lothrechten Fels-
wänden eingeschlossen. Jede Kluft zwischen den einzelnen
Höhenzügen war mit größeren oder kleineren Gletschern
angefüllt, welche ununterbrochen die im Fjorde treibenden
Eismassen vermehrten; über dem Rande der steilen Klippen-
wände hingen gigantische Eismassen, deren frische Brüche
erkennen ließen, daß große Stücke herabgestürzt waren.
Nichtsdestoweniger machte sich das Thierleben recht bemerk-
bar; neugierig kamen die Köpfe vieler Seehunde an die
Oberfläche des Wassers, und große Scharen von See-
vögeln ließen auf einen ungewöhnlich großen Fischreichthum
schließen. Am Mittag, den 5. September, als wir den
innersten Theil des Fjordes verließen, wurden wir von
einer unvorhergesehenen Unannehmlichkeit überrascht; in-
folge der Windstille war der ganze Fjord mit einer dünnen
Eiskruste bedeckt. Unsere Grönländer waren darüber sehr
muthlos geworden, und es bedurfte allen Zuredens, um
dieselben zum Weiterrudern zu bewegen, denn noch eine
Nacht Frost bei stillem Wetter, und wir wären hier vom
Eise eingeschlossen worden. Spät Abends waren wir be-
reits aus dem gefährlichsten Theile des Fjordes hinaus und
in offenes Wasser gekommen. Kurz vorher hatten wir
zwei Kajakleute getroffen, welche uns nachgesandt worden
waren, um die Nachricht zu überbringen, daß das Bark-
schiff „Thorwaldsen" bereits in Sukkertoppen angekommen
sei und mit Sehnsucht unsere Rückkehr erwarte.
Mit dem Resultat unserer Expedition können wir sehr
zufrieden fein, denn das ganze eisfreie Land der Breiten-
Parallele zwischen Holsteinborg und Sukkertoppen, oder ein
Terrain von 300 bis 400 Quadratmeilen ist, mit Aus-
nahme einiger kleinen Fjorde des südlichsten Theiles, kartirt
worden. Unsere mineralogischen, zoologischen und bota-
nischen Sammlungen sind sehr reichhaltig; mehrere, früher
für Grönland sehr seltene Süßwasserschnecken sind von uns
gefunden worden, und unter den Pflanzen, befinden sich viele
wcrthvolle und einige bisher in Grönland noch nicht gefundene
Arten. Mit dem Frauenboot haben wir vom 8. Juni bis
7. September zwischen 200 bis 250 Meilen zurückgelegt.
Am 10. September verließen wir Sukkertoppen, und
nach einer sehr glücklichen Reise kamen wir am 29. Sep-
tember wieder in Kopenhagen an.
Das Rügenwalder Amt.
Von Dr. Zechlin.
I.
Zwischen dem Kösliner und Stolper Kreise dehnt
sich ein ca. 45 km von Westen nach Osten hin erstreckender
Landstrich ans, welcher größtentheils zum ehemaligen Rügen-
walder Amte gehört und jetzt den nördlichen Theil des
Schlawer Kreises bildet. Außer den Amtsdörfern liegen
noch drei Städte, Schlawe, Rügenwalde und Zanow, sowie
einige adlige Dörfer in diesem Gebiete, die wir, obgleich
sie nicht zum Amte gehören, in unsere geographische Schilde-
rung hineinziehen. Die nördliche Grenze bildet die Ostsee,
die in historischer Zeit zwar dem Rügenwalder Hafen vielen
Schaden gethan und an einer anderen Stelle manchen Fuß
Erde weggerissen, aber doch im großen und ganzen dieselbe
Küste sich bewahrt hat. Im Westen grenzt der Kösliner,
im Osten der Stolper Kreis an den Schlawer. Als Süd-
grenze nehmen wir die alte Landstraße, die jetzige Chaussee,
welche von Köslin über Zanow nach Schlawe und Stolp
führt und früher einen Theil der großen Poststraße von
Berlin nach Königsberg bildete.
Das so umschriebene Gebiet ist fast ganz eben; es füllt
sanft nach der Ostsee zu ab, über deren Spiegel es durch-
schnittlich 20 m hoch liegt. Die Ausläufer des hinter-
pommerschen Höhenzuges reichen nicht heran, nur zwischen
Nemitz und Panknin erheben sich die sogenannten Heidberge;
nördlich davon dehnt sich ein kaum hügelig zu nennendes
Land aus, von zwei Flüssen, der Wipper und der Grabow,
durchflossen, welchen die übrigen kleinen Bächlein tributär
sind. Erst 2 km von der Küste erhebt sich östlich von
Rügenwalde ein Höhenzug, der sich mit kleinen Unter-
brechungen bis zum 115 m hohen Revekohl im Stolper
Kreise hinzieht. Ich will diesen Höhenzug, der 60 bis
70 m hoch ist, den Küstenhöhenzug nennen. Bor diesem
liegen nun eine Reihe von Küstenseen, durch Wiesen und
Bäche getrennt, die sich auch im Westen des Höhenzuges
fortsetzen. Es sind dies der Buckower, Bitter und Bietziger
See. Solche Seen und Niederungen charakterisiren die
ganze Küste Hinterpommerns.
Geologisch gehört dieser ganze Landstrich dem Diluvium
an, welches auf einem zur tertiären Schicht gehörigen Thon-
lager ruht; einzelne Ausnahmen werden weiter unten er-
wähnt werden. Es besteht in unserem Distrikt ans Thon,
Mergel, Lehm und Sand, namentlich die untere Schicht
desselben bildet ein Thon, der, frei von Geschieben, heller
oder dunkler gefärbt ist. Da das Diluvium hier von dilu-
vialem Sande frei geblieben ist, gehört dasselbe zu den
gesegnetsten Landstrichen Pommerns. Mit geringen Unter-
brechungen zieht sich durch das ganze Amt von Osten
nach Westen ein breiter Streifen tiefen und reichen Weizen-
bodens, der nur mitunter an Entwässerung leidet. Daher
ist bei großer Nässe die Beackerung schwer und ebenso wird
der Acker bei großer Trockenheit hart und rissig. Doch ist
seine Fruchtbarkeit und seine Bcgetationskraft, welche noch
durch den Einfluß der Seeluft gesteigert wird, eine große. In-
folge dessen sind auch die Bewohner dieser Gegend wohl-
habend und ein behäbiger Menschenschlag; das Amt selbst
war nächst dem Kolbatzer das wichtigste in Pommern; es
brachte schon im Jahre 1780 dein Staate 40 000 Thaler
ein, nur an der Südgrenze und in einzelnen sandigen
Strichen findet sich ein leichterer Boden, der aber auch
immer sicher Roggen und Hafer trügt I.
i) Schon der alte Angelius a Werdenhagen riihmt die
Fruchtbarkeit des Ritgenwalder Amtes. Er schreibt dariiber:
Rugenwaldium in finibus maris situm propter commodi-
tatem situs Pommeranice illius partis versus Vandaliam
metropolis habetur quum inde omnis generis commercia
ad victum et amictum sapientia petantur. Schlagam
quidem habet vicinam urbem sed commoditate loci longe
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
157
Gehen wir nun nach dieser allgemeinen Charakteristik
zur näheren Schilderung über und betrachten zunächst das
Land westlich der Grabow, dann das Gebiet zwischen
Grabow und Wipper, das Wipperthal selbst mit seinen
beiden Städten, ferner den Küstenhöhenzug, der die Wasser-
scheide zwischen Wipper und Ostsee bildet, endlich die Süd-
grenze unseres Amts.
Die Grenze zwischen dem Kösliner Kreise und dem
Rügenwalder Amte bildet ein kleines Bächlein, Grenzbach
genannt, der in den Buckow'schen See mündet und der
die kleinen Rinnsel und Gräben der ganzen Gegend, die
sich mit wenig Gefäll in ihn ergießen, aufnimmt. Dicht
an der Kreisgrenze liegen die Dörfer Eventhin und
Wand Hagen, beides Abteidörfer (s. unten) und nament-
lich ersteres von fruchtbarem Ackerfelde umgeben. Ungefähr
in der Mitte zwischen Grenzbach und Grabow liegen in
der Richtung von Süden nach Norden die beiden großen
Hägerdörfer Wyk und Abtshagen, die eine lange Straße
bilden und sich unmittelbar an einander anschließen.
Man wandert fast eine Stunde an einzelnen, freundlich
gelegenen Gehöften, die von wohlhabenden Bauern besetzt
sind, vorbei. Die Einwohnerzahl beider Dörfer beträgt
gegen 1600. Wie der Name Wyk, der Seebucht bedeutet,
hier ins Innere des Landes kommt, weiß ich mir nicht zu
erklären. Möglich, daß die Einwanderung aus vorpommer-
schen Dörfern gleichen Namens erfolgte und die neuen An-
kömmlinge ans Pietät den Namen ihrer alten Heimat auch
der neuen beilegten.
Von der in Rede stehenden Gegend gilt besonders, was
schon in der Einleitung angedeutet wurde, daß der Boden
sich mehr für Roggen als für Weizen eignet, besonders
sind die südlichen Striche um K arnk ew itz herum sandiger
Natur; erst mehr nördlich wird Weizenbau mit Erfolg
getrieben. Die Bauern haben im ganzen Amte die alte
Dreifelderwirthschaft aufgegeben und die Schlagwirthschast
angenommen, allerdings nicht in so regelmäßiger Frucht-
folge wie die größeren Domänen. Diese wirthschaften ge-
wöhnlich in sechs bis acht Schlägen, in denen bei einmaliger
Düngung während der Rotation die Hälfte, bei zweimaliger
Düngung aber mehr als die Hälfte der Schläge trägt. Aus
jeder Düngung werden zwei bis drei Saaten genommen.
Wir wählen als Beispiel einer Frnchtfolge ein Gut von
sieben Schlägen: erstes Jahr: Brache (gedüngt); zweites
Jahr: Weizen (oder Rübsen); drittes Jahr: Roggen (oder
Weizen); viertes Jahr: Erbsen und Hackfrüchte (gedüngt);
fünftes Jahr: Hafer und Gerste mit Klee; sechstes Jahr:
Mäheklee; siebentes Jahr: Weideklce. Nur an den Fluß-
thälern sind gute und genügende Wiesen vorhanden, die
übrigen Dörfer und Güter haben Mangel daran.
Im Norden zieht sich zwischen den vorher genannten
Grenzen an der Küste der Buckow sch e See entlang,
im Süden von den Feldmarken Belkow, Steinort und
Büssow eingefaßt. Letzteres ist eine Domäne; in dem
sonst fruchtbaren Acker befinden sich häufig sogenannte
Riegen, das sind tiefe, grabenartige Einschnitte, welche mit
Strauchwerk besetzt sind. An den Ufern des Sees sind
schilfreiche Wiesen, namentlich erfreut Lukornns umbellatus
das Auge; in dem Schilfe nisten viele wilde Entenschwärme;
der See selbst ist reich an Fischen. Er ist 9 km lang und im
ganzen 17 437 qkm groß; da die Belkowsche Forst an
seine Ufer tritt, hat er theilwcise bewaldete Ufer. Früher
ist dies in noch größerem Grade der Fall gewesen, denn das
6am exsuperat. Est quoque terra ea aquis irrigua, dives
agris, pascuis et silvis, ut inde pecore piscibus, necessario
frumento, butyro et melle et similibus rebus ad aliquod
milliaria ubi non montosa est, satis abundet.
Dorf Buckow, das an seinem östlichen Ende liegt und dessen
Namen er trägt, bedeutet Buchenort. Auf der langgestreckten
Nehrung, die ihn vom Meere scheidet, liegen, von aller Welt
verlassen, die Fischerkathcn von Damkerort.
Oestlich, wo ein Mühlenbach in ihn mündet, liegt
das hübsche Dorf Seebuckow: schon von weitem sieht
man die alles dominirende Kirche, um welche sich das Dorf
halbkreisförmig anschließt. Die Kirche ist hübscher, als
sonst pommersche Landkirchen zu sein pflegen; sic ist drei-
schiffig und durchweg gewölbt. Das Altarbild ist drei-
theilig, Maria und die Apostel darstellend; mehr interessirt
uns auf der Rückseite das Bild des letzten Abtes Heinrich
Kresse. Bis vor kurzem befanden sich auch in der Kirche
die Originalgemälde des hier 1617 verstorbenen Herzogs
Georg III. und Bogislav XIV.; beide Bilder hat das pom-
mersche Museum in Stettin für 60 Mark angekauft. Von
den Bildern der Pastoren fällt eins auf mit der Unterschrift
ans Horaz: mors nltima linea rerum. Unter dem Schall-
deckel der Kanzel ist das Wappen des lustigen x) Bischofs
Ulrich angebracht, dessen Devise in deutlicher Schrift her-
vortritt: deus protector meus 1618i
Dicht bei der Kirche findet sich die Stelle, wo die alte
Cistercienserabtei gestanden hat; in wahrem Sinne
des Worts geht der Pflug über die Stätte; wo katholische
Mönche Hymnen sangen, düngt ein evangelischer Pastor-
sein Roggenfeld. Das Kloster wurde kurz nach dem Jahre
1248 angelegt, daun im September desselben Jahres2)
verleiht Swantepolk II. dem Kloster Dargun einen Ort
Bonsow, damit daselbst ein neues Kloster gegründet werde.
Dieses Kloster wurde Buckow genannt; wo Bonsow ge-
legen hat, ist unbekannt, vielleicht ist es das heutige Büssow,
Kantzow 3) läßt das Kloster fälschlich schon 1231 gegründet
sein; er fügt noch hinzu, daß dies die Wenden sehr ver-
drossen habe, sie hätten die Mönche verjagt und das Kloster
niedergebrochen. Denn sie sahen, daß die Sachsen, so in
Vorpommern kamen, so übermüthig und unbillig gegen
ihre Landsleute, die Wenden, handelten, daß sie dieselben
nicht allein von allen Aemtern und Würden stießen, sondern
sogar aus den Städten und Dörfern verdrängten. Aber
Herzog Swantepolk bestrafte die Thäter sehr hart, berief
die Mönche wieder und setzte sie ein. In der Folge ver-
mehrte sich der Grundbesitz des Klosters durch fürstliche
Schenkungen reichlich; von den 52 Dörfern des Rügen-
walder Amtes gehörten 24 der Abtei, welche den Namen
Abteidörfer führten und größtentheils an der Grabow
oder westlich davon lagen. Nach Einführung der Refor-
mation wurde das Kloster und seine Güter zu den herzog-
lichen Domänen gezogen. Verschiedene Fürsten des Greifen-
geschlechts residirten hier oder hielten sich längere Zeit in
dem wald- und fischreichen Reviere auf. So Georg III.,
Sohn Bogislav's des XIII., der sich in Zanow und Buckow
erbsessen nennt, und Bogislav XIV.; beide verbrachten
die Jahre 1612 bis 1614 hier, lebten wie Gutsbesitzer
damaliger Zeit, gingen auf die Jagd und luden ihre Brüder
zu fröhlichen Gelagen ein I. Zwischen Buckow und dem
Strande schlug Herzog Bogislav IV. 1295 die Polen.
Oestlich von Buckow dehnt sich von der Kolonie Fichten-
berg an ein hübscher Wald aus, der sich bis zum Wiesen-
gcbicte der Grabow erstreckt, über welches lange Dämme
zu dem gegenüberliegenden Dorfe Petershagen führen.
st Hanncke, Kamminer-Bischöfe, BaltischeStudien XXX, S. 43.
st Hasselbach, Codex Pomeraniae diplomaticus, S. 793.
st Ed. W. Kosegarten I, S. 232. Ihm folgt Steinbrück in
seiner Geschichte der pommerschen Klöster.
st v. Bülow, Briefwechsel der Herzöge Franz, Bogislav
und Georg. Baltische Studien XXVIII, S. 548 sf.
158
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
Am See selbst zieht sich ein sandiger Weg zur Küste hin;
hier liegt das Fischerdorf Neuwasser mit ärmlicher Be-
völkerung. Die Leute ernähren sich von Kartoffeln, Speck,
Fischen und trockenem Brote. Zwischen dem See und der
Grabow dehnt sich ein sumpfiges und mooriges Terrain
ans, wie denn die Grabow durch verschiedene kleine Arme
mit dem Binnensee und der Ostsee in Verbindung steht; es
ist nicht unwahrscheinlich, daß sich die Grabow in Prähisto-
rischer Zeit in dies Moor, welches früher unzweifelhaft See
gewesen ist, ergoß; denn überall, wo einmal stehendes Wasser
war, welches keinen starken Zufluß hat, so daß es sich das
ganze Jahr auf demselben Niveau erhalten konnte, da setzten
sich in: Sommer und Herbst Pflanzen an. Stets ist eine
Hauptbedingung zur Bildung solcher Moore die, daß kein
starker Abfall des Terrains am Rande des Wasserbeckens
existirt, denn sonst bleibt der Boden nicht lange genug
überschwemmt, um einer solchen Sumpfvegetation Gelegen-
heit zum Ansatz zu geben. So versumpfte allmählich der
See und es entstanden alluviale Bildungen, Torf und Moor,
wie sie sich auch in unserem Gebiete hinter den Dünen
entlang ziehen. Dieser Gefahr der Versumpfung oder
Vertorfung ist jeder Strandsee ausgesetzt. Die Grabow,
nachdem das Terrain versumpft war, durchbrach das kurze
Defila bei Suckow und ergoß sich nordostwärts in die Wipper.
Denn Suckow liegt auf einer inselförmigen Erhöhung, auch
nordwärts breiten sich alluviale Gebilde aus; daher der Name
Suckow, das heißt: trockener Ort. Es ist ein altes Dorf, schon
1205 schenkte esHerzogSwantepolk dem Bischof von Kamin *).
Später wurde es Eigenthumsdorf der Stadt Rügenwalde.
Gerade gegenüber lag das ebenfalls 'in der angezogenen
Urkunde genannte Dorf Zirawa; dasselbe ist verschwunden,
aber der Ort, wo es gestanden, wurde noch zu Brügge-
mann's Zeit2) als Dorfstätte bezeichnet. Die Bauern in
Suckow essen abweichend von den Bauern der übrigen
Amtsdörfer ohne ihre Leute, sie haben ihren Herrentisch;
jedoch Bauer bleibt Bauer, auch wenn er bis Mittag schläft,
sagt ein pommersches Sprichwort: sie decken kein Tischtuch
auf, essen aus einer Schüssel, schneiden mit ihren Taschen-
messern das Fleisch und werfen die Knochen unter den
Tisch.
Die Grabow, deren Name Weißbuche bedeutet und deren
ganzer Lauf 112 km lang ist, durchschlängelt in anmuthigem
Lause ein breites Wiesenthal, zuerst in nordwestlicher, dann
in nordöstlicher Richtung. Mit Ausnahme des ersten
Dorfes Martinshagen, welches ans ihrem linken Ufer
liegt, befinden sich alle Niederlassungen, nachdem sie den
Nenenhagcner Damm passirt hat, auf dem rechten. Denn
das Thal ans dem linken Ufer ist einerseits zu breit, anderer-
seits entsendet sie einen Mühlenbach, der fast eine Meile
parallel mit ihr läuft und sich schließlich nach dem Buckow-
schen See wendet. Zwischen diesen beiden Flüssen war es
nicht möglich, Ansiedelungen zu errichten, daher folgt auf
dem anderen Ufer eine Reihe langgestreckter Hägerdörfer,
N e u e n h a g e n, A l t e n h a g c n, P e t e r s h a g e n und
Preetz, d. h. das am Fluß gelegene.
In dem Dreieck, dessen Seiten Grabow und Wipper,
und dessen Grundlinie die Chaussee von Zanow nach Schlawc
bildet, befinden sich, abgesehen von den vorher erwähnten
Dörfern auf bcnt rechten Grabowufer, wenige Niederlassungen,
da ein großer Theil dieses Distrikts von weit ausgedehnten
Waldungen eingenommen wird. Der ganze Abschnitt wird
durch die alte Chaussee von Karwitz nach Rügenwalde in
ft Codex Pommeraniae dipi. 8. 234.
ft Brüggemann, Beschreibung von Vor- und Hinterpommern
1784, S. 831.
einen kleineren westlichen und einen größeren östlichen ge-
theilt. An das Dorf Göritz, welches am Rande des Grabow-
thales aufgebaut ist, schließt sich das Göritzer Forstrevier
mit der Unterförsterei gleichen Namens, daran das Dams-
hagener Forstrevier mit der Unterförsterei Damshagcn;
beide gehören zur Oberförsterei Neu-Krakau, welche am
Ausgange des Waldes, nicht weit vom Dorfe Altenhagcn
liegt. Zwischen beiden Waldrevieren befindet sich das große
Schlawiner Moor; die kleinen Bäche fließen zur Grabow,
nur dicht vom Dorfe Göritz aus geht die Motze zur Wipper.
In trägem Laufe fließt sie durch Sümpfe und Wiesen-
terrain, daher die Feuchte genannt, bis sie bei Schlawe in
den Hauptfluß fällt. Das langgestreckte Dorf Dams-
hagen liegt in einer morastigen Gegend. An der vorher
erwähnten Chaussee ist noch das Dorf Alt-Schlawin
zu bemerken, welches in weiterem Umkreise auf allen Seiten
von Eichen und Buchen umgeben ist.
In dem östlichen Theile zieht sich das große Alt-
Krakowsche Forstrevier hin, an welches sich der Schlawer
Stadtwald schließt; es wird im Süden durch die Eisenbahn
von Schlawe nach Rügenwalde, im Norden von der Wipper
begrenzt. Im vorigen Jahrhundert waren diese Wälder
ein Hauptaufenthalt der Wölfe, aus welchen sie ihre Raub-
züge gegen die Amtsdörfer unternahmen. Wir wollen nur
den Schaden, den die Wölfe anrichteten, für ein paar Jahre
anführen. In den fünf Jahren von 1738 bis 1744
fraßen die Wölfe im Eigenthum der Stadt Rügenwalde
52 Füllen, 1 Rind, 1 Schaf, 58 Schweine und 28 Gänse
auf; im Eigenthum der Stadt Schlawe 8 Pferde, 4 Füllen,
4 Kühe, 3 Rinder, 3 Schafe und 2 Schweine; im Amte
118 Pferde, 184 Füllen, 5 Ochsen, 19 Kühe, 27 Rinder,
54 Schafe und 206 Schweine. Da der Durchschnitts-
preis für ein Pferd 10 Thlr., für ein Füllen 5 Thlr., für
einen Ochsen 8 Thlr., für eine Kuh 5 Thlr., für ein Rind
2 bis 4 Thlr., für ein Schaf 16 Gr. und für ein Schwein
1 Thlr. 8 Gr. betrug, verursachten sie in diesen wenigen
Jahren einen Schaden von 2300 Thlrn. Noch schlimmer
wurde es während des siebenjährigen Krieges und kurz
nach demselben. In kurzer Zeit wurden im Amte
250 Pferde zerrissen. Ans der Landstraße griffen die
Wölfe sogar einen Bauer bei dem Dorfe Damshagen an,
so daß dieser mit Noth zu Pferde nach dem Dorfe in Sicher-
heit gelangen konnte. Daher war cs natürlich, daß die
Bauern dem Räuber ihres Viehs mit großem Eifer nach-
stellten und im Winter gemeinschaftliche Jagden veran-
stalteten. Nach altem Brauch verrichteten sic das Treiben
und Spüren gemeinsam, zu welchem jeder Bauer einen
Mann stellte und das Dorf Preetz die Lappen fuhr. War
ein Wolf aufgespürt, so wurden auf der Windseite Netze in
Zwischenräumen aufgestellt, die ca. 50 Schritte lang waren.
Die Netze waren mit Lappen oder Stricken verbunden;
jedes Bund Lappen hatte eine Länge von 150 Schritten, an
den Lappen waren weiße Fähnchen angebracht, um den
Wolf zu schrecken. Die Treiber trieben nun den Wolf in
die Netze, wo er erschossen wurde. Von den Prämien, die
der Staat vertheilte, wurde das Wolfszeng angeschafft und
in Ordnung gehalten ft.
Die Eisenbahn nach Rügenwaldc führt zunächst zu
dem Dorfe Rötzen Hagen, welches ungefähr 4 km lang
ist, es liegt im Motzethal und ist von Eichen, Buchen und
Wiesen umgeben. Dasselbe war ein adliges Dorf, dagegen
gehört das benachbarte Järshagen zu den Amtsdörfern,
lieber dieses Dorf und die Sitten seiner Bewohner habe ich
ft Näheres über den Wolf in Pommern bei Schmidt,
Baltische Studien XXIV.
Kürzere Mittheilungen.
159
an einer anderen Stelle in dieser Zeitschriftx) berichtet, nur
einiges bleibt noch nachzuholen. Es ist ein langgestrecktes
Dorf, durch dessen Mitte der kleine Grupenhagener Bach
laust, der, durch den großen Grupenhagener Bach verstärkt,
in die Wipper vor ihrer letzten Wendung nach Norden
fließt. Der Acker des Dorfes hat eine strenge Lehmkrume,
die Wiesen meistens torfigen Untergrund und tragen saure
Gräser. Daher wird nur wenig Viehzucht getrieben, Schafe
giebt es gar nicht. Die Bewohner sind ihren alten Sitten
treuer geblieben wie die der Nachbardörfer; sie sind am dunklen
Teint und dunklen Haaren kenntlich. Ob aber deshalb ihre
Vorfahren Wenden waren, möge dahingestellt bleiben; es
wäre doch ausfallend, daß sich in einem Dorfe mit deutschem
Namen, dessen Bevölkerung auch deutsche Namen trägt, die
wendische Bevölkerung gehalten haben sollte. Am rothen
Halstuch und an den Holzpantoffeln werden die Järshagener
Leute schon von weitem auf dem Markte zu Rügenwalde
erkannt. Im übrigen leben die Bewohner nebst ihren Leuten
gut, die Ernte wird für eine Festzeit gehalten, zu welcher
in allen Haushaltungen Kuchen gebacken wird. Das Dorf
hieß noch im Jahre 1611 Järslaffshagen. Es lagen früher
auf der Feldmark noch drei Dörfer, welche Renkenhagen,
Wnlfshagen und Kropshagen hießen, von denen aber keine
Spur mehr zu finden ist.
Das Terrain, welches bis Järshagen allmählich ge-
stiegen war, fällt setzt rascher zur Wipper ab. Der Bahnhof
Rötzenhagen liegt noch 25,5 m und Järshagen 27 m hoch,
I „Globus", Bd. 45, Nr. 18.
dagegen Schöningswalde, die letzte Bahnstation vor Rügen-
walde, nur noch 19,9 in und Rügenwalde (Bahnhof) 2,3 m
hoch. Das Dorf Schöningswalde ist ein Kolonien-
dorf und wurde im Jahre 1753 im Bezirke des Rügen-
walder Stadtwaldes angelegt und mit Familien ans dem
damaligen Westpreußen besetzt. Seinen Namen hat cs von
dem Präsidenten der pommerschen Kammer, Hans Friedrich
von Schöning (ch 1787), erhalten.
In diese und andere Dörfer des Amtes werden im
August und September Tausende von Gänsen getrieben,
welche vom pommerschen Landrücken und noch weiter östlich
aus Polen kommen, wo sie gezüchtet werden; sie werden
von den Bauern fett gemacht, geschlachtet, entfedert und
nach Rügenwalde verkauft, von wo sie dann in alle Welt-
gegenden versandt werden. Obgleich sie nicht im Amte
aufgezogen werden, zeichnen sie sich doch durch Größe und
Körpergewicht aus, daher das Sprichwort: Hei hefft synen
eignen Kopp als die rügenwollschen Gäus. In früherer
Zeit wurde eine bestimmte Quantität geräucherter Gänse-
brüste an den Königlichen Hof nach Berlin geschickt; wie
denn Friedrich Wilhelm I. (1728) an den Minister von
Massow schrieb: „Ich habe auch von dem KieselbachH aus
Rügenwalde die sechs Spickgänse bekommen und bin Euch
für die Bestellungen dieser pommerschen Delikatessen obli-
girt. Ihr werdet hiernächst die Anstalt machen, daß in
einigen Wochen wiederum welche geschickt werden."
9 Derselbe wird auf der Glocke zu Järshagen rerum
bellicarum et civilium consiliarius genannt.
Kürzere M r
Die afghanische Grenzkommission.
Die englische, zur Festsetzung der Nordgrenze Afghani-
stans von Indien ausgesaudte Kommission, welche zuletzt von
Kusan (westlich vonHerat, ander persisch-afghanischen Grenze)
Berichte sandte, scheint in wissenschaftlicher Beziehung sehr
befriedigende Ergebnisse gehabt zu haben. Der Naturforscher
Dr. A i t ch i s o n und der Geologe Herr G r i e s e b a ch sind
sehr zufrieden mit den Resultaten ihrer Forschung; selbst aus
den kahlen Wüsten von Belntschistan hat Dr. Aitchison
verschiedene wcrthvolle Funde schicken können. Ebenso hat
man sehr wichtige Nachrichten über die Verbindnngsmittel
eingezogen, und der Weg, den man zurückgelegt hat, wurde
durch die Vermessungsabtheilung (MajorHold ich, Kapt. Gore
und Lient. Talbot) aufgenommen. Wenn auch einzelne
Theile, wie Seistan und der Helmand, schon vorher kartirt
waren, war doch der nördlich von Seistan gelegene Theil,
durch den die Kommission gezogen ist, vollkommene terra
incognita, während auch zwischen Quetta und dem Helmand
nur allgemeine Rekognoscirungen ausgeführt waren. Jetzt
hat man eine nnunterbrocheue Vermessung in Verbindung
mit der indischen Aufnahme über 760 Meilen fortgeführt
und einzelne feste Punkte dort viel besser bestimmt, als durch
astronomische Beobachtungen allein möglich gewesen wäre.
Durch die ersten 300 Meilen wurde eine regelmäßige Trian-
gnlirung fortgeführt, dann war dies wegen einiger nebeliger
Tage nicht mehr möglich; doch waren später die Terrain-
gestaltung und die klimatischen Verhältnisse den Vermessungen
wieder förderlich, da die Richtung des Weges beinahe voll-
kommen nördlich war und man die direkten Messungen durch
astronomische Breitenbestimmungen leicht verificiren konnte.
t 1 h e i l u n g e n.
Die Grenzbestimmungsarbeit der Kommission hat von Kusan
angefangen, und es ist ein Glück, daß dieser Punkt direkt
mit der indischen Vermessung in Verbindung gebracht wor-
den ist.
Der Weg der Kommission führte von Quetta durch das
nördliche Belntschistan über Nuschki, Band, Gaztschah, wo
die Trapformation beginnt, nach Rudbar am unteren Hel-
mand und von dort ziemlich genau nordwärts nach Herat
und Kusan. Von Rudbar an bis nach Herat war der Weg
nicht derart, daß irgend ein General daran denken würde,
Gebrauch von demselben zu machen. Nach links hin verläuft
er längs einer Wüste; man findet nirgends Nahrungsmittel
und an manchen Stellen fehlt das Wasser. Alle Vorräthe
müssen aus den zur Rechten gelegenen Distrikten Fara und
Sebzawar herbeigeschafft werden; wenn die Bewohner jedoch
freundlich gesinnt sind, ist der Weg durch ihr Gebiet viel
kürzer; wenn sie feindlich sind, könnte keine Armee es wagen,
den Weg längs der Wüste einzuschlagen, auch wäre es un-
möglich, eine Eisenbahn längs dieses Weges anzulegen. Wenn
jemals eine Bahn über den Helmand nach Herat angelegt
werden soll, so wird sie etwa von Rudbar gerade durch die
Wüste nach Chasch und Fara laufen müssen.
Ueber das Vorkommen von Wasser in der Wüste von
Nord-Belutschistan schreibt Major Hold ich im Januarheft
der „Proceedings": Soweit die Trapformation sich erstreckt,
fand man immer Wasser in mäßiger Tiefe (zwischen 10 und
30 Filß), indem man Brunnen abteufte, und das Ausgraben
der Erde war leicht; doch sobald man diese Formation ver-
lassen hatte, war das Wasser, obwohl der Oberfläche näher
gelegen, viel schwerer zu erreichen. Die Oberfläche dieses
wellenförmigen Landes scheint das zu sein, was man in
IGO
Aus allen Erdtheilen.
Indien Kunkar nennt, oder doch eine sehr verwandte Art einer
harten Ablagerung. Die Rinde ist nicht dick, manchmal nur
einige Zoll, manchmal einen Fuß; darunter kommt feuchter
Sand und Wasser, welches wahrscheinlich hauptsächlich durch
den jährlich im benachbarten Gebirge fallenden Schnee ge-
liefert wird, außerdem aber von der Kondensation der in
den östlich und südlich gelegenen weiten Flächen (welche durch
einen gelegentlichen Regen in ausgedehnte Seen verwandelt
werden) verdampften Feuchtigkeit herrührt.
Bei Band (25 engl. Meilen von Nuschki) hatte man, wie
der Name sagt, einen Damm quer durch das Bett eines
Nullah (Wasserlauf) gebaut, so daß eine bedeutende Menge
Wasser aufgestaut wurde. Der Quantität nach bestand kein
Mangel; doch man kann sich die Beschaffenheit der Flüssigkeit
vorstellen, wenn man bedenkt, daß dieselbe auf meilcnwcitcn
Abstand den Sammelpunkt für alles, was in der Wüste
kreucht und fleucht, abgiebt. Wenn man es sorgfältig siltrirte,
konnte man wohl die Würmer und größeren Thiere ent-
fernen, aber weder Kochen noch chemische Behandlung waren
im Stande, dasselbe schmackhaft zu machen. Gewöhnlich findet
man neben den Stellen, wo Wasser angetroffen wird, keine
menschliche Wohnungen, nur gelegentlich ein Ziarat, den
Aufenthaltsort eines Einsiedlers. Um sich eine solche Hütte
vorzustellen, thut man am besten, an ein umgekehrtes Vogel-
nest zu denken, der obere Theil ist mit allerlei grob auf
Leinwand gemalten Sprüchen oder auch nur mit einigen
bunten Lappen geschmückt. Daneben sieht mau Thierhörner
von manchmal ansehnlicher Größe, die als Opfer dargebracht
sind. Im Inneren findet nian viele Gaben der Glänbigen,
bunte Steine aus der Wüste, allerlei kleineres Hausgeräth,
kleine Wiegen, welche geopfert sind, um die Erfüllung der
Wünsche mancher Gattin zu erreichen.
Manche der Ziarats find vermuthlich zum Schutz gegen
die herrschenden Winde größtenthcils in den Boden versenkt
und eine lange Rampe führt zu dem drei bis vier Fuß
unter der Erdoberfläche gelegenen Eingang. Bei einem der
Ziarats zwischen Nuschki und dem Helmand findet man das
Grab eines berühmten Einsiedlers, des Schah Ismail, um-
geben von der letzten Ruhestätte vieler frommer Mohamme-
daner, die sich hierher bringen ließen, um den letzten Schlaf
in heiliger Nähe zu schlafen. Das heilige Grab wird um-
schlossen von einer aus Lehm aufgeführten krenelirtcn Mauer
und beschattet von zwei verkümmerten Tamarisken. Die
gewöhnlichen Stangen, an denen bunte Lappen und lange
mit Schellen gezierte Wimpel flattern, dienen als Schmuck;
lustig ertönten die Glöckchen weithin in die Wüste. Eine
sehr unangenehme Beigabe der meisten Ziarats, wenigstens
für die Eingeborenen, ist der „böse Blick", den die Fakirs
häufig besitzen sollen.
Aus allen
Afrika.
— Am 2. Januar ist von Kapitän Chüden das von den
Flüssen Bramia (Bramaia) und Dubreka umschlossene Land
Capital) an der Westküste Afrikas, wo die Stuttgarter
Firma Colin interessirt ist, unter deutsches Protektorat
gestellt worden. So viel wir aus den uns zu Gebote stehen-
den Karten ersehen können, sind darunter Küstenstriche und
Inseln zu verstehen, welche etwa zwischen 9" 40' und 9° 50'
nördl. Br., nördlich von den britischen Losinseln und an der
Mündung des weit aus dem Inneren (von der Stadt Labi
her) kommenden Flusses Konkurray, liegen. Nnr die Küste
ist uns dort bisher oberflächlich bekannt, das Innere noch
ganz unerforscht; erst 200 und mehr Kilometer landeinwärts
wird man auf Gebiete treffen, welche von Engländern und
Franzosen besucht worden sind. Ueber den kommerziellen
Werth des Inneren (Fnta Djalon) find die Augenzeugen
sehr getheilter Ansicht: während die Franzosen dort ans
reichen Gewinn hoffen, schildert Dr. Gouldsbury die Zu-
stände als sehr ärmlich und elend (vergl. „Globus", Bd. 41,
S. 206). Dasselbe deutsche Schiff nahm nach neueren Nach-
richten (Berliner Tageblatt vom 7. Februar) auch Besitz vom
Lande Kob a, dem Küstenstriche nordwestlich von Capital) bis
zum Taboriaflusse. Insgesammt ist die unter deutschen Schutz
gestellte Küste etwa 60 km lang und wird sowohl im Nord-
westen als auch im Südosten von französischen Besitzungen
begrenzt. Nördlich von Koba liegt das Land Bramaja, dessen
Herrscher schon mit den Franzosen paktirt hat. Die Bewohner
E r d t h e i l e n.
jener Striche gehören zu dem großen Stamme der Susu-
Neger. Das bergigere Capitay soll reich an Metallen sein,
das flachere Koba gut angebaut. Ob sich dort Plantagen
mit Vortheil werden anlegen lassen, ist noch eine offene Frage.
Produkte sind vorzugsweise Kautschuk und Kopal, sodann die
im ganzen Sudan hochgeschätzte Kolanuß, die aber schwerlich
einen Exportartikel abgeben wird und schon an Ort und
Stelle so theuer ist, daß eine Nuß von der Größe einer
Wallnnß auf ca. 30 Pfennige nach unserem Gelde zu stehen
kommt. In dem Verkehr der Susu-Neger hat die Kolanuß
eine interessante symbolische Bedeutung: erhält der Gast von
einem Neger, dem er einen Besuch macht, zwei weiße Nüsse,
so darf er sich als gern gesehen und wohlbehütet betrachten;
eine schwarze Nuß dagegen bedeutet, daß er sich schnell
fortzumachen habe. Obwohl der dortige Handel augen-
blicklich noch ausschließlich ans dem Tausche beruht, gilt doch
bereits der Dollar als Werthbasis; es dürfte jedoch nur
kurze Zeit währen bis zur vollständigen Einführung des
Handels auf dein Münzsystem. Es wird sich dann für das
Silber ein sehr bedeutendes Abfuhrgebict eröffnen, da das
Silber bei den dortigen Bewohnern ungleich beliebter ist als
das Gold. Sehr zweckmäßig wird dann die Prägung einer
Silbermünze sein, welche dem Werthe des Dollars entspricht,
also eines Viermarkstückes, wie cs gleichwerthig die Franzosen
in dem Fünffrancsstücke bei ihrem Handel in Nordwestafrika
benutzen. — Das Klima in der neuen Kolonie soll für
Europäer durchaus zuträglich sein, d. h. nicht unmittelbar
an der Küste.
Inhalt: Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien. XX. (Mit vier Abbildungen.) — A. Sartorius-
Freiherr von Waltershausen: Städtegründung im nordamerikanischen Westen. X. (Schluß.) — A. Riis Carstensen:
Die westgrönländische Expedition. II. (Schluß.) — Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt. I. — Kürzere Mittheilungen:
Die afghanische Grenzkommission. — Aus allen Erdtheilen: Afrika. — (Schluß der Redaktion: 8. Februar 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschwcig.
(y
Mit besonderer Herüeb sich ti guno der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
XXI.
(Die Abbildungen, wenn nichts Anderes bemerkt,
Der 14. Oktober, an welchem Mr. Blackmaure fieberfrei
war, wurde zu einem Besuche der Grabstätten der beiden
berühmten Dichter benutzt, deren Geburtsort Schiraz zu
sein sich rühmt: des Saadi (gestorben 1291) und des Hafiz
(gestorben 1389). Das Grabmal des letzteren liegt in
dem Garten Hafizieh, eine halbe Stunde nordöstlich der
Stadt am Eingänge eines fruchtbaren Thales, aus welchem
ein breiter Kanal in die Ebene von Schiraz hinunterfließt.
Den Mittelpunkt dieser Anlage bildet der Sarkophag des
Dichters, in dessen Achatplatten zwei Lieder von ihm cin-
gcgrabcn sind, und ringsum haben sich schwärmerische Ver-
ehrer desselben bestatten lassen. Hafiz wurde zu Anfang
des 14. Jahrhunderts zu Schiraz in niedriger Lebenslage —
er soll Bäcker gewesen sein — geboren, schwang sich aber
durch sein Talent rasch empor, studirte Theologie und
Rechtskunde, wurde ein gründlicher Kenner des Koran und
lehrte denselben in einer Schule, die der Großvezir Hadschi
Kawameddin Mohammed Ali eigens für ihn erbaut hatte.
Seine Werke bilden eine erst nach seinem Tode veranstaltete
Sammlung von 569 Ghazelcn, die noch heute, obgleich mit
Vergleichen und Hyperbeln überladen, sehr populär sind.
Stellenweise sind sie so dunkel, daß sie neben dem Koran
als Orakel benutzt werden. Aufs Gerathewohl schlägt man
seine Lieder auf, wie im Mittelalter die Acncide Virgil's
(sortes Virgilianae), um aus dem ersten Verse, auf wel-
chen das Auge fällt, sich eine Antwort auf irgend einen
Gedanken oder einen Wunsch zu entnehmen. Zum ersten
Male soll man zu diesem Verfahren seine Zuflucht genom-
Globus XLVII. Nr. 11.
nach Photographien der Mme. Jane Dicnlafoy.)
men haben, als die Gottesgelehrten und Mollahs von Schiraz
dem Dichter ob seiner allzu freien Weltanschauung das ehr-
liche Begräbniß verweigern wollten; auf Andrängen seiner
Freunde beschloß man, seine Lieder zu befragen, und nach
einander stieß man auf zwei Stellen, in welchen er offen
seine Fehler bekannte, aber sich dennoch selbst einen Platz
im Paradiese zusicherte. Der Zufall hatte über die Bru-
talität der Pfaffen gesiegt. Noch heute wissen die Gelehrten
seine Oden auswendig und der gemeine Mann liebt es,
wenigstens die bekanntesten Ghazelcn herzusagen; selbst der
ärmste Schlucker kennt von Hafiz irgend welche mehr oder
minder geistreiche Anekdote.
In derselben nordöstlichen Richtung liegt eine halbe
Stunde weiter von der Stadt entfernt das Grab Saadi's
(1184 bis 1291), des berühmtesten didaktischen Dichters
der Perser, des Verfassers des „Diwan", des „Gulistan"
(Rosengarten), des „Bostan" (Baumgarten) und kleinerer
Gedichte. Dasselbe, ein Sarkophag von weichem, mit In-
schriften geziertem Kalksteine, erhebt sich in einer Kapelle,
vor welcher ein viereckiger Hof liegt; die ganze Anlage soll
zur Zeit Kerim Chan's erbaut oder wenigstens restaurirt
worden sein. Scheich Moslih ed-din Saadi oder einfach
der Scheich genannt, aus Schiraz gebürtig, durchreiste große
Theile von Asien, nahm an den Kümpfen gegen die Kreuz-
fahrer theil, deren Gefangener er einige Zeit lang war,
und verfaßte nach seiner Heimkehr die prosaischen und
poetischen Werke, die, leichter zu verstehen als die des Hafiz,
sich in aller Händen befinden; die Kinder lernen ebenso
21
162
Dieulafoy's Reise in Wesipersien und Babylonien.
am Gulistan, wie am Koran das Lesen. Sie sind in
reiner, zierlicher und dabei einfacher Sprache abgefaßt, und
nicht mit den bei feinen Landsleuten sonst so beliebten
Hyperbeln und schwülstigen Redefiguren überladen; nur
eine Schattenseite haben manche Lieder, welche den Persern
freilich nicht als solche erscheint und eine Folge der Reserve
ist, welche der Islam den Dichtern im Verhältnisse zu den
Frauen auferlegt: das Lob der Knabcnliebe.
Der 16. Oktober brachte eine Einladung zu dem Leib-
ärzte (Hakim Baschi) des jugendlichen Gouverneurs von
Schiraz, Sohnes des Prinzen Zelle Sultan. Der Sohn
dieses Leibarztes war einer der ersten gewesen, welcher die
Reisenden in Schiraz begrüßt hatte; obwohl Schüler des
französischen Doktors Tolozan, und erst 25 Jahre alt, gab
er sich doch nach Landcsbrauch ein möglichst würdiges An-
sehen durch einen gewaltigen Kaschmirturban, ein Gewand
von grauer Wolle und einen violettseidenen Mantel, llebri-
gens hatte auch er Aussicht auf die Stelle des Leibmedicus
des Statthalters; denn dieselbe hatte sich schon seit mehreren
Generationen in seiner Familie vom Vater auf den Sohn
vererbt. Die persische Arzneikunde ist wenig werth; denn
Anatomie dürfen ihre Jünger nicht treiben, da sie sich durch
das Blut der Leichen verunreinigen würden. Merkwürdig
ist es, daß sie dabei den Steinschnitt mit Erfolg auszuführen
verstehen. Sonst begnügen sie sich damit, einige Altweibcr-
mittel und ein paar von Avicenna mitgetheilte Recepte zu
verschreiben. Natürlich stehen sie gegen europäische Kollegen
ganz gewaltig zurück, fürchten deren Konkurrenz und erlau-
Grabmal des Dichters Saadi in Schiraz. (Nach einer Zeichnung Dieulafoy's.)
ben ihren Patienten höchstens, wenn es zum Sterben geht,
einen Europäer hinzuzurufen. Andererseits zeigen auch die
Patienten oder doch deren Familien sehr wenig Neigung,
einen fränkischen Arzt an ein Krankenbett treten und dort
seine Untersuchungen vornehmen zu lassen. Wenn man
nun einerseits von den persischen Aerzten keine großen
Kenntnisse fordert, so bezahlt man sie andererseits auch
schlecht: wenn nach langer Krankheit schließlich Heilung
erfolgt, so bezahlt der Mittelstand für jeden Besuch etwa
40 Pfennige, und wer zu handeln versteht, nur halb so
viel. Hohe Geistliche bezahlen sogar gar nichts und ver-
heißen zum Lohne nur ihren Schutz und Beistand; trotzdem
wird ihre Kundschaft von den Aerzten sehr gesucht, weil
dieselbe indirekten Nutzen gewährt.
Bei dem Besuche, den die Reisenden dem Hakim Baschi
abstatteten, führte dieser Mine. Dieulafoy in sein Anderun,
wo die Frauen des Vaters und des Sohnes, sowie junge
Mädchen ans verschiedenen Familien zusammen in guter
Eintracht zu leben schienen. Obwohl sie kurz vorher schon
gespeist hatte, mußte sie doch von den Chanums nochmals
Kaffee, Thee und dergleichen annehmen, währenddessen
dieselben ihre groben Lederschuhe untersuchten, die Riemen
daran auflösten, um die Messinghäkchen von nahem zu
besichtigen, ihren Filzhut betasteten, die Taschen umkehrten
und deren Inhalt höchlichst bewunderten. Das Taschentuch
besonders erregte ihr Erstaunen und sie hielten es für einen
Gebetteppich. Als sie dann seine Bestimmung erfahren hatten,
mußte ihnen Mmc. Dieulafoy wiederholt den Gebrauch des-
Dieulafoy's Reise in Westpersien nnb Babylonien.
163
Frauen von Schiraz.
Der junge Gouverneur von Schiraz.
selben vormachen; denn eine Perserin hält es für unmöglich,
daß man sich zu diesem Zwecke eines anderen Dinges als der
Finger bedienen könnte. Die Tracht dieser Frauen unter-
schied sich wenig von derjenigen der Jspahanerinnen; nur
ist der Rock länger und reicht bis zum Knöchel herab.
In diesem Anderem sowohl als auch Abends in Mr.
Blackmaure's Garten hatte die Reisende Gelegenheit, ihre
photographische Kunst zu üben; denn als sie heimkehrte,
fand sie dort den kleinen Prinzen, der ans Befehl seines
Vaters das Fiebcrnest Schiraz mit den gesunderen Bergen
der Nachbarschaft hatte vertauschen müssen. Doch hatte
ihn die Neugierde, die Franzosen zu sehen, in das Thal
hinabgetrieben, und so war er unter dem Vorwände eines
Spazierrittes nach Schiraz gekommen.
Am nächsten Morgen erhielten die Reisenden die ge-
wünschte Erlaubniß, sämmtliche Moscheen der Stadt zu
besuchen, und dies trotz des bekannten Fanatismus der
dortigen Geistlichkeit und der Bevölkerung. Man würde
übrigens fehlgehen, wenn man die besondere In-
toleranz der Bewohner von Schiraz etwa einer
außergewöhnlichen Frömmigkeit oder einem über-
triebenen Respekt vor ihren Gotteshäusern zu-
schreiben wollte. Der Grund liegt weit weniger
tief, nämlich in dem Umstande, daß Farsistau in
den letzten Jahrzehnten die Wiege des Babismus
geworden ist, einer Religion, welche nicht nur die
Grundlagen des Islam untergraben, sondern sich
auch gegen die königliche Gewalt aufgelehnt hat.
Seitdem tragen die Babis äußerlich einen großen
Eifer für die Religion zur Schau, um nicht
der Ketzerei und Rebellion zu gleicher Zeit angeklagt zu
werden, und die Rechtgläubigen, deren Glnth im Kampfe
gegen die Häretiker neu entflammt wurde, suchen mit jenen
darin zu wetteifern.
Der Gründer der Sekte, Mirza Mohammed Ali, trat
1843, nachdem er Mekka und die Moschee in Kufa besucht
hatte, in seiner Heimath Schiraz als Reformator und Pro-
phet auf; er gab sich für einen Nachkommen Ali's aus,
predigte öffentlich gegen die allgemeine sittliche Verwilde-
rung, die Habgier der Beamten, die Unwissenheit der
Mollahs und zeigte das Bestreben, die Perser zu der
Moral der jüdischen, christlichen oder Gebern-Religion
emporzuheben. Seinen Namen vertauschte er mit dem
Titel „Bab", d. h. Pforte, weil man durch ihn zu Gott
gelange, und bald fah er sich von zahlreichen Anhängern
umgeben, Dank seinem gewinnenden Wesen und seiner-
eindringlichen Beredtsamkcit. Seinen Schülern gestattete er
eine bisher unter Mohammedanern unerhörte Freiheit des
21*
164
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
Handelns und Unabhängigkeit; er habe nicht den Auftrag,
sagte er, die Kenntniß von der Natur Gottes zu modificiren,
sondern solle den Islam einer ähnlichen Fortbildung unter-
werfen, wie dieser sie am Christenthum vollbracht habe.
Natürlich sahen die Geistlichen diesem Treiben nicht müssig
zu, fingen an, mit dem neuen Propheten zu diskutiren und
wandten sich, als dieser sie mit Worten besiegt hatte, an
den Schah um Hilfe. Dieser kehrte sich wenig an die neue
Bewegung, verwies beide Parteien zur Ruhe und befahl
dem Bab, sich in seine Wohnung einzuschließen und dieselbe
nicht zu verlassen. Diese unerwartete Toleranz führte der
Sache neue Anhänger zu, die sich im Hause ihres Chefs
versammelten; hier erklärte dieser, daß er nicht selbst, wie
er geglaubt und gelehrt
habe, Bab sei, d. h. die
Pforte, durch die man zu
Allah gelange, sondern
übertrug diese Würde
einem Priester aus Cho-
rassan, Namens Hussein,
der von da an der große
Missionar des neuen
Glaubens wurde, nach
Jspahan zog und dort
nicht nur viele Leute aus
dem Volke, sondern sogar
zahlreiche Mollahs und
Schüler der Medressen für
sich gewann. Dann begab
er sich nach Teheran, ver-
langte Audienz beim Schah
Mohammed und erhielt
Erlaubniß, ihm seine
Lehren vorzutragen und
die Bücher des ersten Bab,
das Tagebuch der Pilger-
reise nach Mekka und den
Kommentar zur Koransure
Joseph, zu überreichen.
Inzwischen war die Be-
wegung auch in die Ande-
runs gedrungen und hatte
die Frauen für sich zu
gewinnen gewußt; stellte
sie doch die Abschaffung
der' Polygamie und des
Schleiers in Aussicht und
verhieß ihnen eine geachtete
Stellung neben, nicht unter
dem Manne. Ein Weib
aus Kazwin von großer
Schönheit und hinreißen-
der Beredtsamkeit, Zerrin
Tadsch (Goldkrone) mit Namen, stellte sich an die Spitze
und nahm seitdem den Namen Gurret el-Ain (Augentrost)
an. Aus priesterlicher Familie stammend, hörte sie täglich
religiöse und sittliche Fragen besprechen, lernte Arabisch,
betheiligte sich an der Auslegung des Koran und, als der
Bab auftrat, setzte sie sich mit ihm in Verbindung und trat
für ihn ein, indem sic öffentlich und unverschleiert in Kazwin
predigte. Zuletzt verließ sie ihre Vaterstadt, wo ihre Familie
ihr den ferneren Aufenthalt verleidete.
Mollah Hussein war inzwischen nach Chorassan gezogen,
hatte aber dort in der heiligen Stadt Meschhed einen
schlechten Empfang von Seiten der Geistlichkeit gefunden;
diese nahm die Sache ernster als ihre Kollegen in Fars
und hetzte die Bauern gegen die neuen Sektirer, welche sich
nach Mazenderan gewandt hatten. Mollah Hussein ver-
schanzte sich also in dem Grabmale des Scheich Tebersi und
schleppte dort Proviant zusammen, um seinen Anhängern
Schutz zu gewähren. Gegen diese, deren Lehren und Pre-
digten bereits mehr und mehr auf politischem Gebiete sich
bewegten, erklärte sich nun auch die Regierung; der tolerante
Mohammed Schah war gestorben, Nafreddin ihm gefolgt,
und dessen Minister, Emir Nizam, sandte Truppen gegen
die Babis in Scheich Tebersi, welches sich nach viermonat-
licher Belagerung ergeben mußte. Die wenigen Ueber-
lebendcn wurden verrätherisch ermordet, in Folge wovon
alsbald ein Aufstand ausbrach, und zwar in Zendschan,
wo der neue Bab —
Hussein, war in Tebersi
gefallen — zu Hause war.
Mehrere Monate lang
stand die königliche Armee,
18 000 Mann stark, vor
der wohlbefestigten Stadt,
ohne einen Angriff auf die
Insurgenten, welche ihr an
Zahl fast gleichkamen, zu
wagen; zuletzt entschieden
die Kanonen der Belagerer
zu Gunsten dieser. Der
Bab fiel bei der Vertheidi-
gung, und der Rest seiner
Anhänger ergab sich, um
wiederum in treuloser Weise
abgeschlachtet zu werden.
Die Wuth des durch den
heftigen Widerstand gereiz-
ten Heeres war so groß,
daß man den Leichnam des
Bab ausscharrte, an den
Schwanz eines Pferdes
band und drei Tage lang
durch die Straßen Zend-
schans schleifen ließ, um
zuletzt die übrig gebliebenen
Fetzen den Hunden vorzu-
werfen. Aber diese Grau-
samkeiten, darunter die Hin-
richtung Mohammed Ali's,
des ersten Bab, führten
dem Babismus nur neue
Anhänger zu; ein neuer
Bab, ein Jüngling von
16 Jahren, Mirza Jaja,
wurde erwählt, bereiste
die Städte des Landes,
um seinen Anhängern
Muth einzuflößen und sie vor einem bewaffneten Auf-
stande zu warnen, und ließ sich dann aus Gründen der
Sicherheit in Bagdad auf türkischem Gebiete nieder, wo
er zu den Schiiten, die die heiligen Gräber in Nedschef
und Kerbel« besuchten, leicht Beziehungen unterhalten
konnte. Aber trotz der Warnungen des Bab fand bald
darauf ein Angriff einiger Babis auf den Schah selbst
statt, welcher die Verhaftung von etwa vierzig Sektirern in
Teheran selbst zur Folge hatte, darunter diejenige der be-
rühmten Gurret el-Ain, die man einige Zeit lang aus den
Augen verloren hatte. Die Gefangenen wurden summa-
risch verurtheilt, an hohe Beamte, Mirzas u. s. w. vertheilt
und von diesen unter den ausgesuchtesten Martern vom
Babimüdchen.
165
Dieulafoy's Reise in Westpersien nnd Babylonien.
Leben zum Tode gebracht. Seitdem bekennt sich niemand
in Persien mehr öffentlich zum Babismus; seine Anhänger —
und dieselben sollen nach Millionen zählen — verleugnen
ihren Glauben und erklären ungescheut die Babs für elende
Betrüger; aber im Geheimen schreiben sie viel, lassen ihre
Schriften cirkuliren und bilden eine mächtige Gemeinschaft,
mit welcher die regierende Dynastie der Chadscharen eines
Tages noch zu rechnen haben wird, wenn sie sich nicht
herbeiläßt, die Macht der Geistlichkeit zu beschränken und
in der Verwaltung wenigstens etwas Ordnung und Recht-
schaffenheit einzuführen. Gegenwärtig lebt der Bab als
Flüchtling in Akka (St. Jean d'Acrc) in Palästina, wo
er vor Nachstellungen sicherer ist, als in Bagdad nahe der
persischen Grenze. Dort wird er vielfach von Pilgern auf-
gesucht, und wie die Babis von Schiraz versichern, sollen
viele Schiiten jetzt, anstatt nach Mekka, nach Akka wall-
Babiinüdchen zu Pferde.
fahrten. Im Jahre 1880 sandte Nasrcddin, den der stets
wachsende Einfluß des Bab erschreckte, einen seiner berühm-
testen Imams nach Akka, um durch theologischeArgumente
und festen Glauben das verirrte Schaf in die Hürde zurück-
zuführen; aber groß war seine Ueberraschung und sein
Unwillen, als das Kirchenlicht bei seiner Rückkehr erklärte,
daß Mirza Jaja's Gründe ihn überzeugt und auf den Weg
der Wahrheit geleitet hätten. Der Schah verzichtete natür-
lich darauf, einen zweiten Gesandten abzuschicken.
Die Schriften des ersten Bab enthalten eine sonderbare
Verquickung sehr liberaler Vorschriften und ganz reaktionärer
Ideen; sie verwerfen die Todesstrafe bei religiösen Ver-
gehen, empfehlen die Ehe als den besten Zustand, ver-
werfen Polygamie und Konkubinat und gestatten dem
Gläubigen nur in einzelnen Ausnahmcfällen eine zweite
Frau zu nehmen. Ehescheidung und Tragen des Schleiers
wird verboten, dagegen von den Männern gefordert, sich
gegenseitig in Anwesenheit der Frauen zu besuchen. Ein
166
Dieulafoy's Reise in Westpersien nnd Babylonien.
Gebet am Morgen soll an die Stelle der fünf von Mo-
hammed geforderten treten, die Dauer der Fasten abgekürzt
werden, freundschaftlicher Handel und Verkehr mit den
Christen erlaubt sein. Die Abwaschungen und der Bettel
werden verboten, doch Almosengeben empfohlen, das gewalt-
same Eintreiben von Steuern, die Verhängung von Todes-
strafe, Folterung und Bastonnade den Beamten untersagt.
Dagegen legt der Bab großen Werth auf Talismane nnd
Amulette, deren Form er genau beschreibt, und fordert die
Ausschmückung der Tempel, die Anlage von Kapellen in
Privathäusern, pomphafte Gottesdienste u. f. w.; feine
Anhänger follen schöne Kleider tragen, den Bart rasiren,
dürfen keine Wasserpfeifen rauchen, das Land nicht ver-
lassen, nicht reisen und, was das schlimmste ist, sich mit
keiner menschlichen Wissenschaft befassen, die nicht Bezug
zur Religion hat. Aber trotzdem muß man wünschen, daß
der Babismus den Sieg davon trage; denn gegen den ver-
knöcherten Islam ist er immerhin ein gewaltiger Fort-
schritt. Wie seine Wiege, so ist auch noch heute sein Haupt-
sitz Schiraz, das jeden Augenblick der Herd eines neuen
Aufstandes werden kann. Mehr als die Hälfte der dor-
tigen Bevölkerung soll der verbotenen Lehre anhängen.
Obgleich, wie oben gesagt, die Bewohner von Schiraz
nach außen großen Fanatismus heucheln, so geht derselbe
doch nicht so weit, daß sie zur Erhaltung ihrer Moscheen
Geld hergäben; denn dieselben sind sämmtlich mit alleiniger
Ausnahme der Moschee des Wakil in wahrhaft jämmer-
lichem Zustande. Die älteste und interessanteste von allen,
Masdsched Dschuma in Schiraz.
die Masdsched Dschuma, wurde 875 unter Amer ben Leis
erbaut, der sich gleicherweise durch feine Frömmigkeit wie
durch seine Kriege gegen die Nachfolger des Propheten be-
rühmt gemacht hat. Trotzdem ihre Bogen, Mauern und
Sänlengänge durch Erdbeben schwer gelitten haben, so ist
der alte Tempel doch immer noch von gewaltiger Wirkung.
In der Mitte des Hofes, wo sonst die Wasserbecken zu den
Abwaschungen sich befinden, steht hier ein kleines vier-
eckiges Gebäude aus Stein, an jeder Ecke mit einem nie-
drigen Thurme, angeblich eine Nachahmung der Kaaba in
Mekka; das Dach fehlt und die Seitenwände sind zum
Theile eingestürzt. Nach einer Inschrift von türkisblauem
Email, welche sich um die Thürme herumzieht, stammt das
Gebäude, Choda Chane (Haus Gottes) genannt, aus dem
Jahre 1450; wahrscheinlich aber hat dort schon lange vor-
her ein Heiligthum gestanden. Denn an der Außenwand
des Choda Chane wurde den Reisenden ein großer schwarzer
Stein gezeigt, welcher den prosaischen Namen „Kochtops"
führt und eine ähnliche Rolle spielt, wie der schwarze Stein
in der Kaaba; derselbe ist ein Porphyrblock, der in Ma-
terial, Gestalt und Verzierung durchaus den Basen der
achämenidischen Säulen in Persepolis gleicht. Es wäre
wohl möglich, daß dieser Stein der einzige Rest einer
antiken Ansiedelung und daß Schiraz keine so junge Stadt
wäre, wie die arabischen Autoren berichten.
Der älteste Theil der Moschee ist ein langer, schmaler Saal,
an dessen einem Ende sich ein alter, roh ans Stein gehauener
Mirhab befindet; die beiden Seiten desselben sind verschieden
Dieulasoy's Reise in Westpersien nnd Babylonien.
167
gebildet. Ueber diesen Rest barbarischer Kunst spannt sich
aber eine entzückende Mosaikdecke aus Cedernholz und
Elfenbein aus, die ein hohes Alter hat und dabei gut er-
halten ist. Dicht neben der Eingangsthür steht unter
einer ziemlich dunkeln Nische eine schöne zwölfeckige Por-
phyrschale; jede Seite derselben ist von der anstoßenden
durch eine kleine Säule getrennt, deren Basis eine Vase
von schönen Verhältnissen bildet. Kurzum, die Masdsched
Porphyrbecken in der Masdsched Dschuma. (Nach einer Zeichnung Diculafoy's<)
Dschuma ist trotz ihrer Versallenhcit, der vielfachen Ver-
stümmelungen und Zuthaten, welche dem Ganzen seinen
einheitlichen Charakter rauben, noch immer eines der inter-
essantesten mohammedanischen Bauwerke Persiens; die
Kaaba in der Mitte des Hofes, die achämenidische Säulen-
basis an derselben, der alte Saal mit dem Mirhab und
der prachtvollen Decke und das vielleicht aus einem antiken
Gebäude herrührende Porphyrbecken empfehlen diese Mo-
schee der ganz besonderen Aufmerksamkeit der Archäo-
logen.
168
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Ami.
Das Rügenwalder Amt.
Von Dr. Zechlin.
II.
Gehen wir nun zur Betrachtung des Wipperthals
über. Gleich am Anfang, wo sie in unser Gebiet tritt,
liegt die Stadt Schlawe, d. h. die berühmte. Sie ist
eine Station der Stettin-Danziger Bahn; von hier zweigt
sich eine Sekundärbahn nach Rügenwalde und eine nach
Bütow ab. Vom Bahnhöfe führt uns eine ziemlich enge
Straße durch das gut erhaltene Kösliner Thor aus den
Markt, der ein regelmäßiges Viereck bildet und auf dem
au den Wochenmärkten ein reger Verkehr ist. An dem-
selben befindet sich das Rathhaus mit offener Halle und
einer Wache. Es stand früher, wie die meisten Rath-
häuser in kleinen Städten, in der Mitte des Marktes, wurde
aber im siebenjährigen Kriege von den Russen verwüstet
und daher im Jahre 1768 neu den übrigen Häusern des
Platzes eingereiht. Jenseits des Marktes kommt man zum
Stolper Thor. Beide Thore sind mit hohen Fenster-
blenden versehen und stammen aus dem 14. oder 15. Jahr-
hundert. Von hier ans führt eine Brücke über die Motze
und dann eine zweite über die Wipper, außerdem führen
noch eine Anzahl Brücken für Fußgänger über den Fluß.
Rings um die Stadt zieht sich eine Promenade, die künst-
lich ans den Wiesen angelegt ist; von derselben erblickt
man noch einige erhaltene Mauerreste.
Dicht am Markt befindet sich die Marienkirche, die
einzige Kirche, die Schlawe hat. Sic gehört dem gothischen
Stil des 14. Jahrhunderts an, aus dessen Mitte sie etwa
stammt. Sie ist dreischiffig, aber die beiden Seitenschiffe
sind bedeutend niedriger als das mittlere. Die Pfeiler,
welche die Schiffe trennen, sind schwer und kompakt, so
daß die niedrigen Seitenschiffe einen beengenden Eindruck
machen. Sie sind bis zu den Seiten des Thurmes vor-
geführt und mit der Halle desselben verbunden. Alle
Räume der Kirche sind mit Sterngewölben überspannt.
Bemerkenswerth ist ferner das große Altarbild aus dem
Anfange des 17. Jahrhunderts. Nicht weit von der Kirche
nach der Wipper zu steht das Progymnasium.
Die Einwohnerzahl der Stadt hat sich bedeutend ver-
mehrt; im Jahre 1740 hatte sie 1453, 1880 5565 Ein-
wohner; aus hundert Einwohnern des Jahres 1780 sind
347 des Jahres 1880 geworden, sie hat also gerade die
durchschnittliche Vermehrungszahl der pommerschen Städte
erreicht. Von Fabriken sind verschiedene Oel- und Dampf-
mühlen, sowie zwei Eisengießereien mit Maschinenbau zu
nennen, die Mühlen vermahlen täglich 500 Scheffel Ge-
treide; auch wird starke Leinweberei in Stadt und Um-
gegend getrieben, wie denn der Schlawer Kreis viel Flachs
producirt.
Es zeugt von dem praktischen Blick deutscher Kolonisten,
gerade an dieser Stelle eine Stadt gegründet zu haben,
denn sie war von Natur eine Festung. Am linken Ufer
der Wipper breitete sich ein ebenes, zur Niederlassung
geeignetes Terrain aus, an der nördlichen Seite floß die
Motze in dieselbe, von der Motze gingen um die Stadt
Gräben, so daß sie von allen Seiten von Wasser umgeben
war; hinter den Gräben und Flüssen dehnten sich Wiesen
und Sümpfe ans. Traten nun die Flüsse aus ihren Usern,
so ragte die Stadt wie eine Insel aus den sic umgebenden
Wassern hervor. Schon aus diesem Grunde wurde die
wendische Burg Schlawe, die 3 km weiter nördlich an der
Wipper liegt, nicht zur Stadtanlage benutzt. Dazu kam
noch, daß die uralte Handelsstraße Köslin - Stolp schon
damals nicht über den Burgflecken ging, denn nach einer
Urkunde H aus dem Jahre 1333 wurde sowohl bei der
Wipperbrücke als auch bei der Fuhrt ein Zoll erhoben. Die
Brücke befand sich bei der Burg, die Fuhrt aber bei der
Stadt, wo erst später eine Brücke gebaut wurde, da, wo
heute die Chaussee nach Stolp den Fluß überschreitet. Da
nun bei der Fuhrt ebenso ein Zoll entrichtet wurde, so
muß man annehmen, daß die Durchfahrenden den Weg
über den Burgflecken und die Brücke vermeiden wollten
und daß also die Hauptstraße durch die Fuhrt ging. Es
wird daher an dieser Stelle schon vor Gründung der
deutschen Stadt Schlawe sich eine kleine Niederlassung be-
funden haben. Diese Niederlassung nun wurde am 22. Mai
1317 zur deutschen Stadt erhoben. Damals waren drei
Brüder, Jasko von Schlawe, Peter von Neuenburg und
Lorenz von Rügenwalde, Herren des Landes Schlawe, sic
waren die Söhne des Grasen Swenzo, Woiwoden von
Danzig, eines Mannes, der großes Ansehen bei Herzog
Mestwin besaß. Vater und Söhne waren im Jahre 1307
von den brandenburgischen Markgrafen, die vorübergehend
das Land Schlawe besaßen, mit diesem Lande und den
darin liegenden Schlössern Rügeuwalde, Slawe und Pollnow
belehnt worden. Vierzig Jahre behauptete diese Familie
eine ziemlich unabhängige Stellung; namentlich nennt sich
Jasko immer Herr von Schlawe. Sie bewidmeten die
Stadt mit Lübischem Recht und gaben ihr zweihundert Hufen
für ewige Zeiten zum Eigenthum. Auch Freiheit des
Wassers bis in die Salzsee wurde ihr verliehen. Sie
wurde bald ein blühendes Gemeinwesen, daß in den vierzig
Jahren seines Entstehens seinen Besitz bis zu 1,2 Quadrat-
meilen vermehrte. Nach dem Erlöschen des mächtigen
Geschlechts Swenzo's, welches um 1357 aus der Geschichte
verschwindet, zogen die pommerschen Herzöge von der
Wolgaster Linie als Oberlehnsherren die Herrschaft Schlawe
als erledigtes Lehen ein und schufen aus ihr die Landvogtei
Schlawe. Dem Herzog Bogislaw VIII. verschloß die Stadt
im Jahre 1402 die Thore, sie war übermüthig genug,
zum Streite gegen ihn auszuziehen und das herzogliche
Schloß zu Altschlawe mit Feuer und Schwert zu zerstören.
Sie mußte dafür büßen. War auch die Stadt selbst hinter
ihren Mauern sicher, so waren doch ihre Dörfer und
Bürger, sobald sie sich ins Land hinauswagten, den An-
füllen der raublustigen Ritter preisgegeben^). Erst im
nächsten Jahre gewährte ihnen der Herzog Verzeihung:
„Wir wollen den Bürgermeistern und dem Rath von
1) Becker, Uebersicht der ältesten Geschichte des Landes
Schlawe nebst Urkunden. Progrannn des Progymnasimns.
1875 und 1876.
2) Becker, a. a. O., Theil III, 1877, S. 6.
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
169
Slaw und Gilden und Werken und der ganzen Gemeinde,
Arm und Reich, Jung und All, die zu Slaw in der Stadt
wohnen, allen Unmuth, Zorn, Haß und Ungunst erlassen.
Wir geben ihnen und ihren Erben unsere Gnade und
Gunst wieder und nehmen sie zu Gnaden und wollen ihr
günstiger, gnädiger Herr sein und sie sollen unsere armen,
treuen Bürger bleiben und sollen uns und unsere Erben
mit Redlichkeit und Treue lieben." Noch einmal kam die
Stadt in demselben Jahrhundert mit den Herzögen von
Pommern in Konflikt, 1485 hatte nämlich der dortige
Rath einen herzoglichen Lehnsmann, Borchart Wiuterfeld
von Wintershagen, enthaupten lassen. Der Vetter des
Hingerichteten, der Abt von Belbuk, erhob bei Bogislaw X.
Klage und dessen Hofgericht verurtheilte die Stadt zu
250 rhein. Gulden Buße. Noch empfindlicher war die
Strafe, daß sie ihr vom Herzog völlig unabhängiges
Stadtgericht verlor. Doch trug die Stadt dem Herzog
dies nicht nach; als er sich 1490 mit der Prinzessin Anna
von Polen vermählte, schenkte sie ihm als Hochzeitsgeschenk
einen „vergüldeten Beker". Weitere allgemein interessante
Momente hat die Geschichte der Stadt Schlawe nicht auszu-
weisen.
Die Wipper, d. h. Eber, welche bei Schlawe circa 20
bis 25 m breit sein mag, ist ein wasserreicher Fluß. Die
ganze Länge ihres Laufes beträgt 150 km. Da Schlawe
24 m über dem Spiegel der Ostsee liegt, hat sie ein ebenso
großes Gefälle bis zu ihrer Mündung zu überwinden. Sie
fließt zunächst in nördlicher Richtung; etwa 3 km von der
Stadt liegt am linken User derselben das Dorf Alt-
Schlawe. Unmittelbar am Ufer erhebt sich der Schloß-
berg ; auf demselben stand die landesherrliche Burg Schlawe.
Noch jetzt ist an der Bodenerhöhung ihr ehemaliger be-
deutender Umfang, der umschließende Graben und Wall,
deutlich zu erkennen. Diese Burg war die Residenz der
herzoglichen Linie der Ratiboriden, und von hier aus wurde
die ganze Kastellanci Schlawe regiert. Auch befand sich
in der Burg das Johanniterordenshaus, in welchem einige
Priesterbrüder des Ordens unter einem Komthur zusammen
lebten. Bald nach Gründung der Stadt Schlawe ver-
ließen die Brüder die Burg und bauten sich ein Haus in
der Mühlenstraße der Stadt. Wann die Burg zerstört
wurde, ist vorher erwähnt.
Dicht hinter dem Dorfe Altschlawe kommt von der
rechten Seite der Wipper ein kleiner Mühlenbach zu, an
dem das Dorf Freetz liegt. Der Boden ist hier leicht
und sandig, daher nördlich von dem Dorfe sich ein Distrikt,
die Freetzcr Heide genannt, hinzieht, östlich vom Dorfe
befindet sich ein Elsbruch, aus welchem der vorher erwähnte
Bach kommt. Bei St em nitz, etwa 5 km von Altschlawe,
überschreitet am Wipperkathen die alte Landstraße von
Rügenwalde nach Stolp den Fluß. Etwas weiter nörd-
lich nimmt die Wipper an der rechten Seite den Motz-
bach — nicht etwa mit der Motze zu verwechseln — aus.
Er kommt von dem Südabhange des Küstenhöhcnzuges
und fließt durch das Dorf Peest, welches er in zwei
Theile theilt, mitten im Dorf bildet er einen großen Teich,
treibt verschiedene Mühlen und fällt dann circa 1000 m
vom Dorfe in die Wipper. Peest ist ein großes Dorf
von 900 Einwohnern, es ist das alte Stammhaus der
Familie von Bclow, welches Gerd von Below, der gemein-
schaftliche Stammvater aller von Below, schon 1335 be-
saß. Es hat guten Acker und fruchtbare Wiesen. In
dem Peester Forstrevier giebt es auch eine Wolfsschlucht,
in der noch 1813 mehrere Wölfe gewesen sind. Nicht
weit vom Dorfe befindet sich ein circa 1100 Morgen
großer See, der Massowsee genannt wird. Der Sage
Globus XI.VII. Nr. 11.
nach soll an dem Ufer des Sees eine Raubritterburg
gleichen Namens gestanden haben, die später zerstört und
von den Fluthen des Sees bedeckt worden ist.
Bald nach dem Einfluß des Motzbachs tritt die Wipper,
durch die Ausläufer des Küstenhöhenzuges gezwungen, die
allen deutschen Flüssen eigenthümliche Wendung nach
Westen an; auf ihrer linken Seite liegt das Dorf Wil-
h elmine. Schon der Name dieses und des benachbarten
Coccegendorf verräth, daß es Koloniedörfer sind. Beide
wurden im Jahre 1749 angelegt. Das Dorf Wilhelmine,
welches den Namen der Lieblingsschwestcr Friedrich des
Großen, Wilhelmine, der späteren Markgräfin von Baireuth,
trägt, wurde auf einer Radung des Stemnitzer Waldes
angelegt und mit 16 Pfälzer Familien besetzt. Durch
zwei sich kreuzende Straßen wird cs in vier regelmäßige
Vierecke getheilt. Coccegendorf, dessen Name an den
berühmten Juristen und Minister Friedrich des Großen,
Samuel von Coccegi, erinnert, wurde in demselben Jahre
auf der wüsten Feldmark Swenzenhagen erbaut. Es ge-
hört zu den Eigenthumsdörfern der Stadt Schlawe und
wurde ebenfalls mit Pfälzern besetzt. Noch heute werden
solche Dörfer von den älteren Landesinsassen „Neudörfer"
genannt, und ihre Bewohner von den übrigen gering ge-
schätzt. Die Bevölkerung obiger Dörfer gehört der resor-
mirten Kirche an, daher predigte der berühmte Theologe
Schleiermacher, so lange er in Stolp statiouirt war, den
Bewohnern dieser Dörfer in der Kirche zu Alt-Krakau „zu
einer Zeit, da der lutherische Gottesdienst nicht gestört
wurde" I.
Die Wipper tritt, nachdem sie noch Kuddezow passirt
hat, in das große königl. Forstrevier, welches sich zu
beiden Seiten, hauptsächlich aber auf der linken des Flusses
erstreckt. Die Ufer desselben sind hier von einzelnen Höhen
eingerahmt, welche mit ihrem grünen Baumschmuck einen
romantischen Eindruck machen, ungefähr in der Mitte der
Forst liegt an der Wipper das vorher erwähnte Dorf
Alt-Krakau, dicht dabei die Oberförsterei gleichen
Namens; am Ausgang des Waldes das Dorf Kugel-
witz auf hohem Ufer. Von hier erweitert sich das Wipper-
thal zu einem breiten Wiesenthal; sie fließt nun, durch
einige Bäche verstärkt, an dem Dorfe Sellen vorbei;
dasselbe war Eigenthum der Stadt Rügenwalde, von der
es 1325 für 24 Mk. gekauft wurde. Kurz vor der Stadt
biegt die Wipper nach Norden um, in der Verlängerung
der westlichen Richtung zieht sich ein sumpfiges Thal bis
an die Grabow hin; es ist nicht unmöglich, daß hier der
ursprüngliche Lauf des Flusses ging oder wenigstens schon
hier eine Vereinigung zwischen Wipper und Grabow stattfand.
Rügenwalde liegt am rechten Ufer der Wipper.
Man geht vom Bahnhöfe aus über die Wipperbrücke an
der Hospitalkirche vorbei in die Stadt. Das Schloß bleibt
rechter Hand liegen. Die Langestraße geht durch die ganze
Stadt bis zum nördlich gelegenen Steinthor, dem einzigen
Thor, welches die Stadt aus dem Mittelalter gerettet hat.
Ungefähr in der Mitte der Straße liegt der Markt, dessen
Ostseite von ihr gebildet wird. Derselbe ist viereckig; an
seiner westlichen Seite steht das niedrige Rathhaus, über
dessen Eingangsportal eine Inschrift prangt, die zwar nicht
in klassischem Latein geschrieben, doch Zeugniß ablegt von
den vielen Feuersbrünstcu, welche die Stadt verheert haben:
ha6c civitas locata privilegiis adaucta ter ignibus
b Brüggemann a. a. O., S. 840. Daß Schleicrmacher
in Alt-Krakau gepredigt habe, erzählt Pctrich (Pommersche
Lebensbilder, Theil II, S. 25); dagegen wurde mir mündlich
durch den dortigen Pastor mitgetheilt, daß er nicht in Krakau,
sondern in Stemnih amtirt habe.
22
170
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
cremata toties resuscitata deo ducique grata sis perpe-
tuum beata. Rechts von dem Stadtwappen stehen
einige Jahreszahlen, dann folgt: cresce, flore civitas,
te deus felicitet, dux diu te protegat. Unter dem-
selben : sed prob. dolor flammis iterum devastata anno
1679 et 1722 et hie (!) domus publica noviter exstructa
1722 sit ultimum (!).
Nicht weit vom Rathhanse steht die Marienkirche,
welche dem gothischen Stile der letzten Hälfte des vier-
zehnten Jahrhunderts angehört. Der Banstil ist ähnlich
dem ihrer Schwesterkirche in Schlawe. Sie ist ebenfalls
dreischiffig und hat niedrigere Seitenschiffe. Vor dem
großen Altar befand sich das fürstliche Gewölbe, in wel-
chem die Gebeine des Königs Erich, des einzigen Königs,
der in Pommern begraben ist, sowie der Fürstin Elisabeth,
der Gemahlin des letzten Herzogs von Pommern, und der
Fürstin Hedwig, Wittwe von Herzog Ulrich, ruhen; augen-
blicklich stehen die Särge in einer Seitenkapelle der Kirche.
Die bedeutendste Sehenswürdigkeit ist das Altarbild, ein
schönes Denkmal der Kunstliebe Philipp's II. Dasselbe
besteht aus einer sehr sauber und tüchtig gearbeiteten
Barockarchitektur von Ebenholz, die mit einer bedeutenden
Anzahl kleiner in Silber getriebener Reliefs geschmückt ist.
Die größte dieser Silberplatten ist circa 30 cm hoch und
21 cm breit und stellt den König David dar, zur Harfe
singend, umgeben von einem Reigen tanzender Engel-
knaben. Die übrigen Platten haben Scenen aus der alt-
und neutestamentlichen Geschichte zum Gegenstände ihrer
Darstellung, namentlich sind noch zwölf Platten mit der
Passionsgeschichte Christi erwähnenswerth. Das Bild steht
in festem Verschluß in einem hölzernen, schwarzen Schrein,
dessen Flügel bemalt sind. Der größte Theil dieses Pracht-
werkes, wenigstens die Platten, ist von Johann Körver
aus Braunschweig verfertigt, der 1607 über der Arbeit
in Stettin starb r). Außerdem bewahrt die Kirche noch ver-
schiedene Antiquitäten, z. B. einen Ofen, den in diesem
Sommer das Kunstgewerbemuseum in Berlin für 250 Mk.
angekauft hat.
Vor dem Steinthor an der Chaussee nach Stolpmünde
liegt der Kirchhof. Außer einigen ansehnlichen Erbbegräb-
nissen befindet sich die zwölfeckige Gertrndskapelle auf dem-
selben. Sie gehört zu den besseren Werken des vierzehnten
Jahrhunderts und hat Aehnlichkeit mit der Kapelle in
Wolgast. Das Innere besteht aus einem sechseckigen
Hauptraume, dem sich die Seitenräume als Umgang an-
schließen. Der Hauptraum wird durch sechs achteckige
Pfeiler gebildet, die durch einfache Spitzbögen verbunden
sind. Mittel- und Seitenräume sind durch Sterngewölbe
bedeckt. Auch die Kanzel füllt in die Augen, sie stammt
eigentlich aus der Schloßkirche und ihr Holzwerk ist von
Schnörkeln, Masken, Hermen und Nymphen umgeben.
Alle Figuren sind mit fröhlichen Farben bemalt und ver-
goldet.
Von dem Steinthore führt an der westlichen Seite der
Stadt auf dem alten Wall eine hübsche Promenade nach
der Wipper; die ganze Stadt liegt auf der abfallenden
westlichen Seite eines langgestreckten Hügels, der bei dem
vorher erwähnten Thore seinen Höhepunkt erreicht; das
Trinkwasser ist wegen des sumpfigen Untergrundes schlecht,
daher auf den meisten Pumpen der Stadt der eigenthüm-
liche Anschlag: Kein Trinkwasser.
Die Einwohner ernähren sich von Ackerbau, Handel
und Schiffahrt. Da dicht bei der Stadt in den Ziegel-
ei Eine genaue Beschreibung des Altarwerkes giebt Kugler,
Pouuucrsche Kunstgeschichte, S. 241 flg.
gruben blaugrauer Thon aufgeschlossen ist, ist eine Cement-
fabrik gegründet worden, die in ziemlicher Blüthe steht.
Außerdem befinden sich einige Damast- und Segeltuch-
fabriken am Orte. Schon Friedrich der Große gab im
Jahre 1778 über 9400 Thaler zur Unterstützung dieses
Rügenwalder Geschäftszweiges. Die Schiffahrt selbst geht
immer mehr zurück, obwohl durch die Bahn das Hinterland
erschlossen ist. Die Segelschiffe können mit den Dampfern
nicht konkurriren; noch im Jahre 1863 liefen 1064 Schiffe
mit 32 152 Last ein und aus, 1867 nur noch 904 mit
25 324 Last, 1875 636 Schiffe, 1882/83 gingen 224
Schiffe von 33 858 cbm Raumgehalt ein und 215 Schisse.
mit 28 773 cbm Raumgehalt aus. Der Bestand der
Rhede ult. März 1883 betrug 46 Schiffe (darunter
5 Dampfer), 10 837 Reg. Tons enthaltend. Die Aus-
fuhr erstreckt sich hauptsächlich auf Getreide, Kartoffeln,
Eisenbahnschwellen, Brenn- und Stabholz, Leinwand und
Tafelglas, die Einfuhr auf Kolonialwaaren, Steinkohlen,
Eisen- und Töpferwaaren, Kalksteine und Dachpappe;
ins Binnenland hinein wird ein lebhafter Handel mit
fetten Gänsen, geräucherten Gänsebrüsten und Lachsen ge-
trieben. Mit dem Rückgänge der Schiffahrt hängt auch
der Zurückgang oder vielmehr die geringe Zunahme der
Bevölkerung zusammen. 1740 hatte die Stadt 1983 Ein-
wohner, 1782 2255, 1880 5442; aus hundert Ein-
wohnern des Jahres 1780 sind 241 des Jahres 1880
geworden, während die durchschnittliche Zunahme der pom-
merschen Städte 340 Einwohner beträgt. Kantzow be-
richtet um 1540 von ihr: „Rügenwalde ist eine ziemliche
Stadt, hat viele steinerne Häuser, doch nur eine Pfarr.
Die Einwohner sind an Art und Sitten denen von Stolp
nicht fast ungleich, halten auch was mehr von den Studiis
wie andere Städte. Darum hat uns diese Stadt immer
auch viele sürnehme Leute gegeben, beide im geistlichen und
weltlichen Regiment." Ihre Namen verdienen wohl nicht
der Nachwelt aufbewahrt zu werden; aus neuerer Zeit ist
Rügenwalde als Geburtsort des Litterarhistorikers Kober-
stein zu merken.
Unzweifelhaft war die Nähe der See die Veranlassung
zur Gründung der Stadt. Die Wipper bildet hier eine
Insel, ans welcher eine Burg errichtet wurde. • An die
Burg, welche von allen Seiten durch Wasser geschützt ist,
schloß sich die Stadt als Suburbium an. Diese feste Lage
fehlte der alten Wendenburg Dirlow, daher siedelten sich
die deutschen Kolonisten nicht bei derselben an, sondern
wählten sich an einer passenderen Stelle ihr neues Heim.
Die Burg besteht aus vier an einander hängenden Gebäuden,
die ein Viereck ausmachten und einen geräumigen Hof ein-
schließen, zu dem zwei Thore führten. Diese Gebäude
sowie ein Thor sind heute noch vorhanden. Die Burg
war bereits im dreizehnten Jahrhundert vorhanden-, in
diesem wurde sie nach dem 1295 erfolgten Tode des Her-
zogs Mestwin von Herzog Bogislaw IV. in dem Kriege
wider die Polen eingenommen und geplündert.
Wiederholentlich ist das Rügenwalder Schloß der Wohn-
sitz fürstlicher Persönlichkeiten gewesen. In demselben
residirte König Erich. Er war der Großneffe der be-
rühmten Margaretha, der Stifterin der Kalmarischen
Union, und war nach ihrem Tode der erste Unionskönig.
Da er aber nicht die Liebe seiner Unterthanen sich erwerben
konnte und von allen seinen Besitzungen ihm nichts weiter
als sein pommersches Erbe übrig geblieben war, zog er sich
nach Rügenwalde zurück und verlebte hier die letzten zehn
Jahre seines Lebens als König ohne Land. Zuerst wollten
ihn die Rügenwalder nicht aufnehmen und verschlossen die
Thore vor ihm, aber er lachte ob ihrer Thorheit und ver-
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
171
gab ihnen ihren Uebermuth. Und lebte danach mit seinen
Unterthanen in großer Liebe und Eintracht und kümmerte
sich um Weltsachen nicht mehr, sondern war stets zu
Buckow im Kloster oder in der Karthans und diente da-
selbst in Fried und Stillheit Gotte. Er starb 1459, des
Glückes Spiclball, wie Kantzow ihn nennt.
Ihn beerbte Sophie, die Gemahlin Herzogs Erich II.
Obgleich dieser einer der schönsten Männer seiner Zeit
war — ihm wallte das goldgelbe Haar bis auf die Hüfte —
so konnten sich doch die Ehegatten nicht vertragen und
Sophie zog sich nach Rügenwalde zurück; sie übertrug den
Haß, den sie zu ihrem Gemahl hegte, ans seine und ihre
Kinder. Sie hatten drei Söhne, Kasimir, Wartislaw und
Bogislaw X., außerdem fünf Töchter. Wie sich ihre Kin-
der in zcrissenen Schuhen und zerlumpter Kleidung in den
Straßen Rügenwaldes umhertrieben und ihnen von mit-
leidigen Bürgern Speise gereicht wurde, wie dann der
Bauer Hans Lange sich Bogislaw's X. — die anderen
Brüder starben bald — annahm, ist in pommerschen Gauen
zu bekannt, als daß es noch einmal erzählt zu werden
brauchte. Als die Mutter ihn mit einem Butterbrote ver-
giften wollte, warnte ihn der Hofnarr mit den Worten:
„Frett nicht, dar is wat in"; da floh er zu seinem Vetter,
mit dessen Hilfe er seiner Mutter das Regiment abnahm.
Seine Schwestern, die große und starke Damen waren,
wurden theils verheirathet, theils in ein Kloster gesteckt.
Wie es ihnen erging, mag hier noch mit den Worten
Kantzow's eingeflochten werden. Die eine, Katharina,
war mit dem Herzog Heinrich von Braunschweig vermählt.
Ihr reichte der Herzog kaum bis an die Achsel, und da die
kleinen Leute bald voll Zornes überlaufen und er auch ein
zorniger Fürst gewesen ist und er sie bisweilen hat schla-
gen wollen, hat sie ihn ergriffen und mit Gewalt nieder-
gesetzt und gesagt: „Lieber Herr, sitzet und zürnet auch so
leichtlich nicht" und hat ihn nicht eher losgelassen, er habe
ihr denn Frieden zugesagt, den er oft doch nicht gern hielt.
Von derselben Fürstin hat er weibliche große und lange
Kinder gehabt, darunter Christoph von Bremen, wohl zehn
gewöhnliche Schuh lang. Zwei andere Schwestern, Elisa-
beth und Maria, waren Aebtissinnen, die eine zu Verchen,
die andere zu Wollin. Und wie ich von denen gehört, er-
zählt Kantzow, der sie gekannt, ist es schade gewesen,
daß sie im Kloster gewesen sind, sie sollen oft mit
Herzog Bogislaw darum gezürnt haben und gesagt: er
hätte sie mehr einem Grafen oder einem Edelmann mögen
geben, als daß er sie in das Leichhaus gesteckt habe.
Skizzen aus Algerien.
Von W. Kobelt.
3. Durch die Schlucht des Todes.
Der Verkehr von der Hochebene von Setif zum Hafen
von Bougie ging früher auf weiten! Umwege bergauf,
bergab über die sogenannte Route Par les Caravanserais
durch das obere Gebiet des Uöd bu Sellam und dann
den U ö d Am affine hinunter ins Sahelthal. Mit der
zunehmenden Besiedelung wollte diese Straße durchaus nicht
mehr genügen und man nmßte auf eine andere Verbin-
dung denken. Die direkte Linie führte durch das Thal
des U öd A gr iun, der etwa vierzig Kilometer von Bougie
entfernt am Ostrande des Golfes einmündet, aber für eine
Strecke von 8 Kilometern fließt dieser Bergstrom durch eine
Schlucht, die damals noch nie der Fuß eines Europäers
betreten und die selbst dem Eingeborenen eine unheimliche
Stätte böser Geister war, die er nicht umsonst CH ab et el-
Akhra, die Schlucht des Todes, nannte. Im Jahre 1864
entschlossen sich ein paar französische Officiere, den Versuch
zu wagen; von einer Anzahl Turkos, berggewohnten Ka-
bylen aus der Umgegend, begleitet, drangen sie in den Schlund
ein und erreichten nach dreitägigen Anstrengungen glücklich
den Ausgang. Ihr Bericht war ermuthigend, Ingenieure
folgten ihnen, und im Jahre 1870 rollten die ersten Last-
wagen über die neue Route von Setif nach Bougie. Es
ist ein Riesenwerk, das die Administration des Ponts et
Chaussöes da geschaffen, und wenn auch seit der Eröffnung
der Bahn von Setif nach Constantine die Straße verödet
ist und es geraume Zeit dauern wird, bis die Gegend so-
weit besiedelt ist, daß sie neues Leben gewinnen wird —
die projcktirte Bahn Setif-Bougie wird wahrscheinlich der
alten Route folgen —, so wird der Tourist der französischen
Regierung doch immer von Herzen dankbar sein, daß sie
eine der schönsten und imposantesten Partien Algeriens
zugänglich gemacht hat. Eine Diligence verbindet gegen-
wärtig Bougie und Setif und legt die Entfernung in fünf-
zehn Stunden zurück. Wer die Schönheiten der Schlucht
aber recht genießen will, der thut klug daran, unserem Bei-
spiel zu folgen und die Tour in zwei Tagen zu machen; das
gute Hotel du Chabet in K er ata, unmittelbar am Aus-
gange der Schlucht gelegen, ist dazu ganz vorzüglich geeignet;
man kann dann am Eingänge der Schlucht aussteigen und
sie in etwa l1^ Stunden bequem zu Fuß durchwauderu.
Freilich muß man ziemlich früh aufbrechen — Nachts
um zwei Uhr —, aber der erste Theil des Weges ist auch
wenig interessant. Als es am Morgen des zweiten Mai
zu dämmern begann, durchfuhren wir einen wahren Urwald,
prachtvolle hochstämmige Bäume mit undurchdringlichen!
Unterholz, aus welchem verwilderter Wein bis in die höchsten
Wipfel hinaufrankte. Der Boden ist sumpfig, wie gemacht
für wilde Schweine und den sie jagenden Panther, dem
Menschen heute noch feindlich, fast unbewohnbar. Zer-
fallene Häuser, wieder halb überwachsene Lichtungen be-
kunden, daß mehr als ein Kolonist, von der wunderbaren
Fruchtbarkeit angelockt, der tückischen Malaria erlegen ist;
selbst die Eingeborenen scheuen die Küstenebene, und die
Eigenthümer der prächtigen Oelbäume, die sich hier und da
an trockenen Stellen erhalten haben, wohnen droben am
steilen Berghange in einer Höhe, zu der die giftigen Aus-
dünstungen nicht hinaufsteigen. Aber gerade so war es
einst um Maison Carröe und in der Metidja. Würden
die kleinen Flüßchen, die hier münden und das Land ver-
sumpfen, regulirt, was gar keine Schwierigkeiten zu bieten
scheint, so würde diese Küstcnebene bald die üppigen Vegas
Südspaniens und selbst die Goldmuschel von Palermo in
22*
172
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
den Schatten stellen. Bis jetzt macht freilich die Regie-
rung noch gar keine Anstalten dazu und man sollte wirklich
manchmal meinen, die Bewohner von Bougie hätten nicht
so ganz Unrecht, wenn sie behaupten, man vernachlässige
die Gegend absichtlich, um das Aufblühen ihrer Stadt zu
verhindern.
Noch eine Zeit laug bleibt der Strand eben, dann
springt das Kap Aokkas, aus dem sich ein Kolonisten-
dorf zu bilden beginnt, scharf in die See hinein vor, noch
ein paar ähnliche Vorgebirge werden umfahren; dann öffnet
sich ein weites Thal zwischen bewaldeten Hängen und die
Straße wendet sich in rechtem Winkel nach Süden landein.
Bald hoch oben, bald wieder tief unten am Flußufer folgt
sie dem linken Gehänge, beschattet von prachtvollen Kork-
eichen; krystallklare Bäche und Quellen rieseln überall
herab, in den Ecken zwischen Brombeergebüsch und Schling-
pflanzen wuchert ein prächtiges Farrnkrant (Pteris longi-
folia). Die Thalsohle deckt eine wüste Anhäufung von
Rollkieseln, zwischen denen der Fluß sich, noch ungcbttndigt,
seinen Weg sucht, wie er will. Gegenüber steht ebenfalls
dichter Eichenwald am unteren Hange, darüber ans flacherem
Grunde leuchten weiße Kabylendörser, fast versteckt in
Olivenwäldern, und über sie hinweg ragen schroffe nackte
Kalkkämme, durch deren Lücken die Schneehäupter des Babor
ernst herunterschauen. Es ist eine Landschaft, wie in der
Schweiz, aber wo in den Thalwinkeln sich Kolonisten an-
gesiedelt haben, umgeben Orangenwälder und Weinberge
die Gehöfte. Das Gebiet östlich von hier bis nach Phi-
lippeville, die sogenannte kleine K ab y lie, ist vielleicht
der schönste Theil Nordafrikas, aber außer einer Route
stratégique von Constantine nach Djidjelli durchzieht noch
keine Straße das Waldgebiet, und von Bougie aus ist es
nur auf einem Saumpfade möglich, nach Djidjelli zu ge-
langen.
Fast zwei Stunden geht es dem Thale entlang, vorbei
au einem einsamen Forsthaus, das von einer reichen Aus-
wahl exotischer Hölzer umgeben ist. Dann erweitert sich
das Thal zu einem Kessel, ringsum mit hohen Steil-
gehängen, und vergeblich sieht man sich nach einem Aus-
gange um. An einem vorspringenden Bergsporn, der den
Kessel in zwei Abtheilungen scheidet, liegt ein ganz neues
Dörfchen, von Eukalypten, Kasuarinen und Mimosen um-
geben; seine Ziegeldächer sind mit schweren Steinen be-
lastet, wie im Schweizer Hochgebirge, und einzelne ent-
wurzelte und selbst umgebrochene Eukalypten — eine große
Seltenheit, denn dieser Baum trotzt wie die Cypresse den
schwersten Orkanen — zeigen, mit welcher Heftigkeit hier mit-
unter Luftströme von den hohen Bergen herabstürzen mögen.
Noch eine kurze Strecke und wir stehen vor einem
engen Felsenspalt in senkrechter Wand, in dem Fluß und
Straße verschwinden. Am rechten Eingangspfeiler ist die
lakonische Inschrift eingemeißelt: Ponts et Chaussées. Setif,
Chabet el-Akhra. Travaux exécutés de 1864 à 1870.
Gegen tausend Fuß hoch steigen die Kalkfelsen auf beiden
Seiten empor und auf mehr als sieben Kilometer ist die
Straße in den Felsen gehauen, oft als Galerie, oft durch
stehengebliebene Gesteinsmassen nach dem Flusse hin ge-
schützt, ein Riesenwerk. Sie führt rasch ansteigend an-
fangs dem linken Ufer entlang; hier sind die Wände feucht
und an vielen Punkten rieseln Quellen herab. Dann, fast
in der Mitte, überschreitet sie ans einer schönen Stein-
brücke den Fluß und zieht am rechten Ufer weiter. Hier
ist das Gestein schieferiger und kein Tropfen Wasser zu
finden; die Wände sind nackt und kahl, nur wo im Winter
bei der Schneeschmelze Sturzbäche hernnterrauschcn und
kurze steile Seitenschlnchten ausgewaschen haben, hat sich
einige Vegetation angesiedelt. Ihren Höhepunkt erreicht
die Scenerie am sogenannten Znckerhut, wo an der Ein-
mündung einer größeren Seitenschlucht ein majestätischer
Felskegel sich nackt und senkrecht weit über tausend Fuß
erhebt. Hier ist ein Lieblingsaufenthalt der Affen, aber
wir sollten auch hier nicht so glücklich sein, eins dieser
Thiere in der Freiheit zu erblicken; sie kommen sonst regel-
mäßig zum Trinken an den Fluß herunter, aber in diesem
feuchten Frühjahr fanden sie auch oben noch hier und da
Wasser und brauchten sich nicht zu bemühen. Auch sonst
ist die Schlucht an Thierleben nicht arm; unter den über-
hängenden Wänden nisten die Vögel in voller Sicherheit
und ganze Scharen von Tauben, Dohlen und Schwalben
umflattern den Felsen, unbekümmert um die Thurmfalken,
die einzeln unter ihnen nisten. Alle mir bekannt gewor-
denen Beschreibungen von Chabet el-Akhra stimmen darin
überein, daß die Schlucht so eng sei, daß kein Sonnenstrahl
zwischen ihren himmelhohen Wänden den Boden erreiche.
Da es nun selbst in Bougic noch ziemlich frisch war, hatten
wir Winterkleider anbehalten, aber ich rathe meinen etwaigen
Nachfolgern auf dieser prächtigen Route, daran zu denken,
daß die Schlucht ziemlich genau von Norden nach Süden
läuft und demgemäß schon gegen halb zehn Uhr jede Spur
von Schatten in ihr verschwunden ist, und daß dann die
Sonne mit einer Gluth brennt, die den Mangel von Wasser-
doppelt schwer empfinden läßt.
Weiter nach oben hin wird der Fels immer schieferiger
und brüchiger, und für eine ganze Strecke hat man die
Straße überwölben müssen, um die Passanten vor herab-
stürzenden Steinen zu schützen. Dann weichen plötzlich
die Wände auseinander und vor sich sieht man die ersten
Häuser von K er ata. Das dicht am Ausgange gelegene
alte Wirthshaus ist aber jetzt verlassen, und man hat noch
eine Viertelstunde zu gehen, bis man das Hotel in dem
neuen Dörfchen erreicht. Kerata verdankt seine Entstehung
zwei spekulativen Franzosen, die schon, als noch niemand
an eine Straße durch die Schlucht dachte, die mächtige
Wasserkraft des Ued Agrian nutzbar machten und hier
eine Mühle anlegten, die den überlebenden Theilhaber —
beide waren hartgesottene Junggesellen und hatten sich
gegenseitig zu Erben eingesetzt — zu einem reichen Mann
gemacht hat. Der bestgepflegte Obstgarten in Algerien
umgiebt seine Besitzung; neben Oelbäumen, Karruben, Bam-
bus und Orangen gediehen hier Aepfel, Birnen, Pflaumen,
Reineclauden, Pfirsiche, Mandeln, Kirschen und Mispeln;
auch Haselnüsse sahen wir, eine Seltenheit in Algerien.
Wallnüsse und Magnolien bildeten am Abhange mit Euka-
lypten und Kasuarinen einen förmlichen Wald. Dazwischen
blühte ein Rosenstar, von dessen Ueppigkeit man sich bei
uns nur schwer eine Vorstellung machen kann. Trotz dcr
sorgsamen Pflege — der Besitzer läßt an die Bäume keine
fremde Hand rühren — kümmerten aber doch viele der
Bäume. Mir scheint es nach dem, was ich später in Tune-
sien beobachten konnte, wo die Nachkommen der andalu-
sischen Mauren einen Theil ihrer Ueberlieferungen bezüglich
der Gartenpflege bewahrt und den alten Schnitt beibehalten
haben, als eigne sich die französische Schnittmethode nicht
recht für den glühenden Sonnenbrand Algeriens und dürfe
man dort so wenig wie möglich an den Obstbämnen
schneiden. Die Mandelbäume hatten hier seltsamerweise
schwer von einem Frost gelitten, der Orangen und Bam-
bus nicht im mindesten geschädigt. Kirschen — der
Araber nennt sie Hab el Melek, Königsbeere, der Ka-
byle, der für alle einheimischen Pflanzen seinen eigenen
Namen hat, Ardrim — waren zum Theil schon mit
reisen Früchten beladen, aber ein anderer Theil stand noch
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
173
in voller Blüthe dicht daneben, für uns ein eigenthümlicher
Anblick.
Auch das Hotel gehört dem Besitzer der Mühle, ebenso
ein paar Weingüter in der Nähe und ein großes Gut
weiter oben, aber sein Beispiel hat bis jetzt auf die Kolo-
nisten noch wenig Wirkung gehabt. Umsonst sah ich mich
in der Umgebung des Dorfes nach europäisch bestellten
Feldern um, umsonst nach Vieh und Dungstätten, nach
Wagen und Pflügen; nur hier und da sah man bescheidene,
kaum nennenswerthe Anfänge von Gärten. Es war der
unglückselige Zwitterzustand, den man so überaus häufig
in Algerien trifft, Kolonisten, die vom Landbau und vom
Gartenbau gleich wenig verstehen, und nicht die geringste
Lust zum wirklichen Arbeiten haben, die nur auf ihrer
Kolonistenstelle, die sie durch irgend welche gevatterschaft-
liche Begünstigung erhalten haben, wohnen, bis sie die
definitiven Besitztitel erlangt haben und sie verkaufen
können, und bis dahin knapp von dem Pacht, den ihnen
eingeborene Unterpächter (Khrammes) zahlen und von
gelegentlichen Nebenverdiensten, wie sie in dem Centrum
einer ausgedehnten Commune mixte, wo ein Administra-
teur wohnt, sich immer finden, leben. Und doch sind das
nach Ansicht der Behörden immer noch Colon« serieux,
denn sie wohnen wenigstens auf ihren Kolonistenstellen.
Wenn man die Weinbauern aus Südfrankreich ansnimmt,
denen es mit der Ansiedelung wirklich ernst ist, sind minde-
stens drei Viertel der französischen Ansiedler von demselben
oder noch schlechterem Schlage wie die in Kerala. Fremde
betrachtet man aber mit Mißtrauen; Deutsche bekommen
Kolonistenstellen von der Regierung natürlich überhaupt
nicht, aber auch Spaniern und Italienern macht man alle
möglichen Schwierigkeiten, und so ist es kein Wunder, daß
die Kolonisation Algeriens so langsam voranging, bis in
den letzten Jahren die Weinkonjunktur einen hoffentlich
dauernden Umschwung brachte.
Das Hotel du Chnbet liegt wunderschön; vom Balkon
aus hat man gerade gegenüber den Eingang zur Schlucht,
an beiden Seiten flankirt von mächtigen Felsenmassen, an
denen nur hier und da ein Absatz oder eine Kluft spär-
licher Vegetation einen Halt bietet. Aus der rechten Seite
erheben sich hohe Bergmassen, von denen eine tiefe Runse,
durch das Abstürzen der Blöcke einer leichter verwitternden
Schicht entstanden, gerade aufs Dörfchen zuführt und eine
nackte Schutthalde bis fast an seine Häuser heran anfge-
hüust hat. Davor dehnt sich das Dörfchen im Grünen,
allenthalben durchsetzt von Eukalypten und Kasuarinen, be-
herrscht von dem schloßartigen Wohngebäude des Admini-
strateur der Commune mixte. Hier, wo Kasuarinen
und Eukalypten durch einander gepflanzt sind, kann man sich
überzeugen, daß erstere den letzteren an Schnelligkeit des
Wachsthums kaum nachgeben.
Von Kerata aus folgt die Straße nach Setif noch
längere Zeit dem Thäte des Ued Agriun, dann steigt sie in
endlosen Serpentinen hinauf zum Col de Takitunt, der
von dem gleichnamigen Fort beherrscht wirdund wieder
hinunter in ein Seitenthal, vorbei an Takitunt, dem
algerischen Selters. Auf der Höhe ist der Boden ein
grisfeliger Schiefer, fast vegetationslos, ausgenommen, wo
er mit Thon ausgefüllte Mulden bildet. Trotzdem hat
man oben ein Dörfchen angelegt, bei dem von Gedeihen
natürlich keine Rede sein kann. Der Punkt ist eben nur
seiner „strategischen Wichtigkeit" wegen gewählt worden.
Im Thale dagegen ist fruchtbarer Boden und liegen ein
paar besser gedeihende Ansiedelungen, aber bald geht es
wieder hinauf zum 1300 m hohen Maghriz. Hat man
die Höhe erreicht, so sieht man vor sich die schwachwellige
Hochebene von Setif, die sich in einer mittleren Höhe von
ungefähr 1000 bis 1100 m endlos erstreckt. Die Straße
führt durch eine schwache Einsenkung, in welcher einer
der Quellbäche des Ued bu Scllam rinnt, der, durch
eine Reihe von Gorges, die Chabet el-Akhra an Groß-
artigkeit nicht nachstehen, bei Tizimalt den Sahet erreicht.
So flach aber die Mulde ist, so bezeichnet sie doch eine
wichtige Grenzscheide; zur Rechten erstrecken sich Getreide-
felder, die nichts zu wünschen übrig ließen, auf denen aber
Weizen und Gerste nicht weiter entwickelt waren, als bei
uns auch im Mai; zur Linken sind, soweit das Auge reicht,
nackte trostlose Schiefergehänge, mit einzelnen dickeren Kalk-
bänken dazwischen, deren Biegungen und Windungen das
Auge, unbehindert durch Vegetation, stundenweit verfolgen
kann. Kaum daß ein paar Schafe hier nothdürstige Weide
finden, und trotzdem hat die Regierung auch hier ein paar
Dörfer angelegt, von denen freilich jetzt nur noch Ruinen
übrig sind.
Setif präsentirt sich von dieser Seite gerade nicht son-
derlich; man kommt an dem städtischen Kehrichtplatze vor-
über, wo verkommene Araber, Schweine, Hunde, Raben
und Geier sich die Abfälle der Stadt streitig machen. Die
erwachsenen Araber und die Schweine sind die Herren hier
und wahren sich das Recht der ersten Auslese, Kinder,
Hunde und Raben kommen in zweiter Linie, den Geiern
bleibt die Nachlese. Weiterhin passirt man den Exercier-
platz, dann das Militärviertel, an dessen Kasernendächern
Hunderttausende von Schwalben ihre Nester angeklebt haben,
und dann erst gelangt man in die Stadt mit ihren geraden
baumbepflanzten Straßen. Sie hat von der Herrlichkeit
des altrömischen Sitifi wenig genug bewahrt. Wer von
Bougie kommt, der sieht hier auf den ersten Blick, daß er
sich wieder in Arabergebiet befindet. Dort sah man Ein-
geborene nur auf dem Markte und bei der Arbeit, hier
lungern sie wieder überall truppweise auf den Straßen
herum und vor allen Thoren stehen schwarze, zerlumpte
Zelte, deren Bewohner sich auf irgend eine mühelose Weise
durchs Leben zu schlagen suchen. Dem Touristen bietet
die Stadt so wenig wie ihre Umgebung, und so beeilten
wir uns, am nächsten Tage Constantine zu erreichen.
Die Umgebung von Setif gilt für fruchtbar, aber von
der Eisenbahn aus merkt man nichts davon. Der oben
erwähnte schroffe Unterschied zwischen fruchtbarem Lehmboden
und dem sterilen Schieferbodcn dauert auch hier noch fort
und die Bahn führt fast ausschließlich über letzteren. Fast
drei Bahustunden lang bleibt die Vegetation höchst kümmer-
lich, selbst der Asphodill, dieses unvertilgbare Unkraut, ist
hier zwerghaft und verkümmert; von Bäumen keine Rede.
Nur ein knorriger uralter Dornstrauch stand früher hier,
der einzige Baum auf dem Hochplateau, darum heilig ge-
halten auf weit und breit; wer vorüberzog, riß einen Fetzen
von seinem Burnus und hing ihn daran, glückliche Heim-
kehr von den Dschin, den Dämonen, der Wüste erflehend.
Erst an den obersten Anfängen des Rummelgebietes be-
ginnt wieder eine üppigere Vegetation, Gerstenfelder, den
Abd en-Nur gehörend, einem Mischstamme, der früher
nach Arabersitte die ganze Hochebene nomadisirend durch-
zog. Seitdem ihnen aber die Franzosen den größten Theil
ihrer Ländereien abgenommen, haben sie sich dem Ackerbau
zuwenden müssen und feste Dörfer angelegt, in denen Zelte
für die Menschen die Arabersitte, Gurbis fürs Vieh die
Berbersitte vertreten. Die Felder sind mit einer gelben
Crucifere dicht überdeckt; man ist eben energisch am Jäten,
aber die gejäteten Felder scheinen durch die Unmassen blühen-
den Ackermohns in wahre Blumenbeete verwandelt. Disteln
sieht man fast keine, aber weiter unten, wo Araber wohnen,
174
Kürzere Mittheilungen.
nehmen sie mit ihren breiten Blättern, die kein Getreide
aufkommen lassen, vielfach fast die Hälfte der Felder ein
und ihre Samen erfüllen stellenweise die Luft fast wie
Schneegestöber; sie sind eine der schlimmsten Plagen der
Landwirthschaft in diesen Gebieten.
Je näher man Constantine kommt, um so civilisirter
wird das Aussehen des Landes; das Thal des Bn Mer-
zn g vertieft sich und wird zu einem sumpfigen Wiescn-
grunde, Landhäuser und Parks treten auf und endlich er-
scheint in der Abenddämmerung ans einem niederen Plateau
zwischen zwei Bergen unser Reiseziel, die alte Königsstadt
Mauretaniens, Constantine, von dieser Seite durchaus nicht
den imposanten Eindruck machend, wie ihn die Beschrei-
bungen erwarten lassen.
Kürzere Mr
Das Protektorat Englands über das südöstliche
Neu - Guinea.
Daß am 6. November 1884 in Port Moresby die feier-
liche Proklamation des englischen Protektorats über das süd-
östliche Neu-Guinea stattfand, haben wir oben S. 76 be-
richtet. Außer in Port Moresby wurde das Protektorat
noch an anderen acht Orten der Küste, nur mit weniger
Ostentation, verkündet; zuletzt in Teste Island und in
Milne Bay. Wir entnehmen aus einer Korrespondenz
folgende Mittheilungen darüber.
Teste Island (10° 57' südl. Br. und 151° 5' östl. L.
Gr.) wird von aus dem Meere hervorragenden Fels-
spitzen umgeben, unter denen der Bell Rock, so genannt
wegen seiner Glockenform, der bedeutendste ist. Die Insel
umfaßt mehrere englische Quadratmeilen und ist voller Hügel,
die mit tropischer Vegetation, namentlich Kokospalmen, be-
deckt sind. An der südlichen Meeresküste liegt ein Dorf mit
ungefähr 500 Eingeborenen, und hier befindet sich eine
Missionsstation.
Milne Bay (10° 17' südl. Br. und 150° 35' östl. L.
Gr.) gehört der Region des Kannibalismus an.
Die dortigen Stämme, mit denen bisher wenig Verkehr von
seiten der Europäer stattfand, leben in stetem Kampfe mit
einander, und die dabei Gefangenen und Getödteten werden
ohne Ausnahme gekocht und gegessen. Sie sind Kannibalen
nicht so sehr, weil sie auf Menschenfleisch gierig sind, wie-
wohl sie aussagen, daß dessen Geschmack für sie viel feiner
ist, als der von Schweinefleisch, sondern um ihr unersätt-
liches Gelüste nach Rache zu befriedigen. An dem Morgen
des Tages, wo der Commodore Jas. E. Erskine mit der
englischen Flotte an den an der nördlichen Küste von Milne
Bay gelegenen Killerton Islands vor Anker ging, hatte ein
dortiger Stamm der Eingeborenen im Kampfe mit den
benachbarten Robis zwei Männer und eine Frau derselben
getödtet und sich sogleich daran gemacht, wenigstens die beiden
Männer zu verzehren. Als man auch den Häuptling dieses
Stammes, genannt Cannibal Jack, auf das Kriegsschiff
Nelson holen wollte, um der Aufhissung der englischen
Flagge u. s. w. beizuwohnen, war das kannibalische Mahl
eben vorüber. Es gelang unserem Korrespondenten, sich
über die Vorgänge dabei näher zu informiren, und er be-
richtet darüber, wie folgt.
Sobald der Körper über Feuer abgesengt ist, wird er
vor den Häuptling gebracht, und dieser ordnet die Zerthei-
lnng an. Die Portionen werden dann entweder in Töpfen,
welche später nie wieder gebraucht werden dürfen, gekocht
oder in Bananenblätter gewickelt und aus heißen Steinen
geröstet. Die Männer bereiten sich dann für das Mahl vor.
Sie scheeren sich einen Theil des Kopfhaares ab und be-
malen das Gesicht in scheußlicher Weise — zunächst pech-
schwarz und darauf wird ein weißer Strich von der Stirn
t h e i l u n g e il.
herab über die Nase und um die Augen herumgezogen. Als
besondere Leckerbissen gelten Brust und, wegen des Markes,
Schienbein. Diese fallen immer den Häuptlingen zu, alles
klebrige, mit Ausnahme des Kopfes, dem Volke. Nachdem
der Schädel gereinigt worden, wird er als Trophäe an der
Wohnung des Häuptlings aufgehängt. Während dies vor-
geht, stehen die Weiber und Kinder in gleicher Aufregung
umher, nehmen aber an dem Mahle weiter keinen Antheil.
In der Anrede, welche der Commodore Erskine bei der
Verkündigung des Protektorats an die Häuptlinge und die
übrigen Eingeborenen, welche in der ungefähren Zahl von
fünfzig, zum Theil noch mit ihren kannibalisch gefärbten
Gesichtern, auf dem Kriegsschiffe Nelson versammelt waren,
hielt, hieß es: „Es ist der ernste Wille Ihrer Majestät der
Königin von England, daß hinfort keine Menschenfresserei
mehr unter euch stattfinde, und daß ihr in Frieden neben
einander und mit einander lebt." Nachdem die Worte des
Commodore verdolmetscht waren, entgegnete Cannibal Jack,
halb verächtlich, halb unterwürfig, daß er alles verstanden
habe und es seinem Stamme mittheilen wolle.
Der Commodore ernannte dann noch den anwesenden
Häuptling des Varga Varga-Stammes zum Oberhäuptling,
durch welchen in Zukunft Wünsche und Beschwerden der
Eingeborenen vor den königlichen High Commissioner gebracht
werden müßten, und dekorirte ihn, zum Zeichen seiner Würde,
mit einem porzellanenen Armbande. Nachdem zum Schlüsse
allerlei Geschenke vertheilt worden waren, wurde die Schar
wieder ans Land geschafft.
Vor einiger Zeit waren an diese Küste von Neu-
Guinea 26 Eingeborene von einem sogenannten labour-
vessel — Sklavenschiffe, sollte man sagen — eingefangen und
auf die Zuckerplantage im nördlichen Queensland geschleppt
worden. Der Commodore, davon benachrichtigt, hatte sich
dieselben wieder ausliefern lassen und brachte sie nun zu den
ihrigen zurück. Dies machte sichtlich einen sehr guten Ein-
druck auf die Eingeborenen und erweckte ihr Vertrauen aus
das Protektorat.
Interessant ist die Schilderung, welche unser Korrespon-
dent von dem Häuptling Cannibal Jack entwirft. Er ist,
heißt es, in jeder Beziehung ein sehr schlechter Typus eines
Naturmenschen. In seinem Gesichte drücken sich Grausam-
keit und Verrath aus. Er hat kleine, glänzende, schwarze
Augen, welche unter ungewöhnlich starken Brauen hervor-
lugen, einen großen Mund und dicke vorgestreckte Lippen,
während das Kinn zurücktritt. Die tiefen Furchen der
Stirnhaut reichen fast bis auf die Nase herab. Mit Aus-
nahme eines Gürtels geht er nackend, und seine Glieder
sind zwar nicht muskulös, aber sehr gelenkig. Sein schwarzes
Haar ist fast wollig und hängt in zwei schmutzigen Bündeln
im Nacken herab. Vorn in seinen Haaren bemerkt man eine
Art Kamm, zum Zeichen des Friedens; steckte er aber den
Kamm zu Seiten des Kopfes, so bedeutete das Kampf. An
Aus allen Erdtheilen.
175
seinen Armen trägt er zwei breite, schwarze, aus Gras an-
gefertigte Armbänder, in den Ohren kleinen Schildkröten-
schmuck und rothe Muscheln, und um den Hals ein schwarzes
Geflecht. Rechnet man dazu noch die kannibalische Be-
malung seines Gesichtes, in welcher er erschien, so ist die
diabolische Erscheinung fertig. Henry Greffrath.
Aus allen
Europa.
— Als Vorläufer des in der Osterwoche zu Hamburg
sich versammelnden fünften Geographentages sind unlängst
die „Verhandlungendes vierten Deutschen Geo-
graph e n t a g e s zu München" (Berlin, D. Reimer, 1884)
erschienen, die namentlich für die Freunde der physikalischen
Geographie Beachtcnswerthcs enthalten. Die Vorträge von
Neumayer, Koldewey und Borgen behandeln die Polarfrage,
die von Bauernfeind, Günther und H. Wagner den einheit-
lichen Meridian, Eiszeit und Gletscher besprechen Penck,
Richter und Gerland.
Ein anderes Zeichen der Thätigkeit der Geographentage
sind die „Forschungen zur deutschen Landes- und Volks-
kunde", mit deren Herausgabe eine Centralkommission be-
traut wurde. Von diesen Forschungen liegt jetzt das 1. Heft
von 32 Seiten vor, eine Arbeit des Rostocker Professors
E. Geinitz „Der Boden Mecklenburgs" enthaltend (Stutt-
gart, I. Engelhorn).
— Aus Bömmelöen, einer bisher unbewohnten Insel
des herrlichen Hardanger- Fjords in Norwegen, sind jetzt
zahlreiche englische und norwegische Arbeiter beschäftigt,
Häuser für Menschen und Maschinen zu errichten und
Stollen und Schächte in die Felsen zu bohren; es handelt
sich um die Storhangenmine, welche auf Kupfer bearbeitet,
und wo 1882 Gold gefunden wurde, nachdem ein
1862 gefundenes Stück reinen Goldes unbeachtet geblieben
war. Nun kaufte eine englische Firma die Grube. Das
Gold wird in Quarz gefunden, der in Gängen von nicht
mehr als 6 Fuß Dicke vorkommt und unter Chloritschiefer
liegt; der Grünstem, aus welchem die Insel besteht, unter-
scheidet sich von demjenigen in anderen Theilen Norwegens
und enthält Glas und verschiedene typische vulkanische Pro-
dukte. Das Vorgehen jener englischen Firma, die den
Rainen „Oscar Gold Mining Company" führt, hat übrigens
mehrfach zum Suchen noch Gold in Norwegen angeregt, und
bereits werden ähnliche Funde aus Stegen in Norrland,
Swcen im Bergenamt und aus der Gegend von Stavanger
gemeldet.
A s i e n.
— Mr. Holt Hallett ist Anfangs Februar in Kal-
kutta eingetroffen, nachdem er etwa ein Jahr lang die
G r e n z st r i ch e z w i s ch e n B r i t i s ch - B i r m a u n d S i n m,
namentlich die Thäler des Salwen und Meping. bereist hat,
um sich über die Ausführbarkeit der von Mr. Colguhoun
projcktirten Eisenbahn von Moulmein nach dem mittleren
Mekhong ein Urtheil zu bilden. Den größten Theil des von
ihm bereisten Landes schildert er als fruchtbar und dicht be-
völkert, und die ganze Bevölkerung von Siam und seinen
Vasallenstaaten schätzt er auf 7 500 000 Menschen. Die von
England zu erbauende Strecke, welche Moulmein mit der
dereinst von Bangkok nach dem mittleren Mekhong führenden
Bahn verbinden soll, würde etwa 930000 Pfd. St. kosten, der
Verkehr auf derselben enorm sein. Holt Hallett begiebt sich
jetzt nach England, um den dortigen Handelskammern Be-
richt zu erstatten.
E r d t h e i l e n.
— Am 21. December vorigen Jahres ist in Franzö-
sisch-Cochinchina die erste Eisenbahn eröffnet wor-
den. Dieselbe verbindet die Hauptstadt Saigon mit Mytho
am nördlichsten Mündungsarme des Mekhong und berührt
die Ortschaften Chelon, Ben-lüc, Tenom und Tom-Hyeg.
Afrika.
— Die neuesten Besitzergreifungen Frankreichs (Tad-
schura, Sagallo und vielleicht Schech Said) und Italiens
(Assab und Beilul) veranlaßten den Präsidenten der Lon-
doner Statistischen Gesellschaft, Sir Rawson W.Rawson
zu einer Untersuchung über die Eigenthumsverhältnisse an
den Küsten des Rothen Meeres (vergl. Proceedings R. Geogr.
Soc. 1885, Februar). Er kommt zu dem Schluffe, daß die
Türkei die legale Besitzerin des Rothen Meeres ist; denn
1517 besiegte Selim I. die Aegypter und nahm Besitz von
deren Lande und dessen Küsten siidwärts bis etwa zum
Wendekreise des Krebses, und 1558 vertrieben die Türken
die Portugiesen aus dem Rothen Meere, dessen sämmtliche
Küsten und Häsen nun ihnen gehörten. Dies ist auch bis
in die zweite Hälfte des laufenden Jahrhunderts nie be-
stritten worden, und bis heute hat die Türkei nie aufgehört
dieses ihr Recht, so oft es nöthig erschien, ausdrücklich zu
betonen, so zuletzt noch in einem Firman von 1875, durch
welchen die Pforte Zeila an ihren Vasallenstaat Aegypten
abtrat. Gegen die britische Okkupation von Aden, Perim,
der Inseln Muschah und Esat (im Golfe von Tadschura)
hatte die Pforte angeblich nichts einzuwenden, da diese
Punkte — Perim doch tvohl ausgenommen — außerhalb des
Rothen Meeres liegen; auch die Besetzung der Insel Kama-
ran (an der arabischen Küste, zwischen Lohcia und Hodeida),
behufs Anlage einer Kohlenstation ließ sie 1858 stillschweigend
durch England ausführen, welches dagegen 1867 anläßlich
seines abessinischen Feldzuges um Erlaubniß bat, türkisches
Gebiet an der Annesley-Bai passiren zu dürfen. In demselben
Verhältniß zur Pforte, wie die Mehrzahl der britischen Be-
sitzungen, befindet sich die französische Kolonie Obock, welche
im April 1862 besetzt wurde, und die Orte Obock, Tadschura
und Sagallo an der Nordküste der Tadschura-Bai umfaßt:
sie liegen außerhalb des Rothen Meeres und der nominellen
Machtsphäre der Türkei. Mit der italienischen Kolonie Assab
steht die Sache anders. Dieselbe entstand durch private Land-
käufe, welche das Haus Rubattino in den Jahren 1869
bis 1880 machte; 1882 übernahm die italienische Regierung
die Kolonie, nicht ohne daß Aegypten protestirte und Eng-
land, dessen Rechte auf die Insel Kamaran um nichts besser
sind, den Protest unterstützte. Die Sache liegt mithin so,
daß die Pforte die legale Herrin des Rothen Meeres ist,
daß sich aber England, Frankreich und Italien für gewöhn-
lich um deren Rechte nicht kümmern, und höchstens England
türkischen Protesten sekundirt, wenn eine andere Macht sich
ebenso viel herausnimmt, als eben England. Das ist soge-
nanntes „Völkerrecht".
— Die „Weserzeitung" veröffentlicht im allgemeinen
Interesse und „zum Wohle aller Auswanderungswüthigcn
und derer, welche durch die neuerlichen Sirenengesänge Stan-
leys bethört sind", die Bestimmungen des Kontraktes,
176
Aus allen Erdtheilen.
welchen die Association Internationale du Congo mit ihren
Angestellten (natürlich nicht mit allen) abschließt und der so
hart und unmenschlich ist, daß alles, was die Brüsseler
„Reforme" und die „Deutsche Rundschau für Geographie
und Statistik" gegen die Association geschrieben haben (vergl.
„Globus", Bd. 46, S. 256 und 384), nur allzu glaubwürdig
erscheint. Der Anzustellende verpflichtet sich, 3 Jahre der
Gesellschaft zu dienen, kann aber von dieser schon nach einem
Jahre entlassen werden; dafür erhält er ganze 1600 Mark
jährlich, davon nur die Hälfte baar, während die andere
Hälfte in eine Sparkasse gezahlt wird, damit die Gesellschaft
stets ein Pfand in der Hand behält. Irgend welche Mit-
theilungen wissenschaftlicher, kommerzieller oder sonstiger Art
über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu machen, ist den
Angestellten bei 20000 Francs Strafe verboten (daher die
Schweigsamkeit der Congoreisenden!); eine gleiche Strafe soll
die Verwandten treffen, welche etwa aus hinterlassenen Tage-
büchern eines in Afrika Verstorbenen etwas publiciren. Die
Gesellschaft verlangt unbedingten Gehorsam, sorgt zwar für
Nahrung und Wohnung der Reisenden, aber „nur so weit
und in der Weise, wie die Umstände es gestatten" (wie elend
die Verpflegung sein kann, wissen wir aus dem Tagebuche
des unglücklichen Schaumann). Wer vor Ablauf seines
Kontraktes heimkehrt, trägt die Kosten der Rückreise und
zahlt 5000 Francs Strafe; wer in Afrika erkrankt, hat auf
Pension keinen Anspruch. Wer aus den Diensten der
Association in die einer anderen am Kongo interessirten
Gesellschaft oder eines Handelshauses übertreten will, darf
dies bei 20000 Francs Strafe erst 3 Jahre nach Ablauf
seines Kontraktes thun. Die schwarze Sklaverei hat die
Konferenz im Congo-Gebiete beseitigen wollen; aber die der
Weißen scheint die Association dafür einführen zu wollen.
Da verdient Portugal schließlich noch die volle Anerkennung
aller Menschenfreunde dafür, daß es der Association das
Leben sauer macht.
— Die beiden Reisenden, Dr. C. Passavant aus der
Schweiz und Dr. Pauli, hatten den letzten Sommer in
Camerún zugebracht, um sich zu akklimatisiren und Sprach-
und andere Studien zu machen. Im Oktober hatte dann
Passavant in Lagos 80 Neger, meist Mohammedaner, ange-
worben, wobei ihm die englischen Behörden alle möglichen
Hindernisse in den Weg stellten. Nach Camerún zurück-
gekehrt, wurde er durch die bekannten blutigen Ereignisse am
Antritt seiner Reise gehindert, zumal sein Freund King Bell,
dessen Verbindungen weit hinauf am Camerunflusse und am
Mungo für ihn vom größten Interesse sind, am Mungo aus-
wärts hatte flüchten müssen. Bereits im vorigen Frühjahre
hatten die Reisenden mit King Bell eine Tour mehrere
Tagereisen den Mungo aufwärts gemacht und dabei seine
Gastfreundschaft genossen; ans jeder Handelsstation steigt
derselbe nämlich in seiner eigenen Haushaltung und Familie
ab. Bei den Kämpfen gegen die aufständischen Neger lei-
steten die beiden Reisenden in ihrer Eigenschaft als Aerzte
den Deutschen Hilfe. Dr. Passavant hofft, Mitte Januar
seine Reise am Mungo aufwärts in das Innere antreten zu
können und denkt ein bis anderthalb Jahre auf dieselbe zu
verwenden.
Inseln des Stillen Oceans.
— Die Angaben über die Ausdehnung des deutschen
Protektorates aufNeu-Guinea, welche der „Globus"
auf S. 128 dieses Bandes brachte, sind nach dem am 5. Fe-
bruar d. I. ausgegebenen deutschen Weißbuche dahin richtig
zu stellen, daß das Deutsche Reich auf die ganze Nordküste
der Insel vom 141. Längengrade an bis zur Ostspitze An-
spruch erhebt und die englische Besitznahme des Huon-Golses
(gegenüber von Neu - Britannien) nicht anerkennt. Die eng-
lische Regierung hatte selbst am 9. Oktober v. I. beschlossen,
ihr Protektorat auf die Südküste mit Einschluß der vor-
liegenden Inseln zu beschränken, und diesen Beschluß der
deutschen Regierung mitgetheilt, dann aber ihre Ansicht
geändert und Befehl zur Annexion der ganzen Nordostküste
vom Huon-Golfe an ostwärts gegeben, wogegen das Deutsche
Reich dann am 26. Januar 1885 protestirte.
Nordamerik a.
— Das archäologische (Peabody) Museum in Cambridge
hat von dem unermüdlichen Erforscher Centralamerikas, Dr.
Earl Flint, vier Tuffblöcke mit eingedrückten
menschlichen Fußspuren erhalten, die aus einem Tuff-
lager am Managuasee in Nicaragua, 16 Fuß unter der Ober-
fläche, geschnitten wurden. Da oberhalb in demselben Lager
eine Menge Blattabdrücke gesunden wurden, wird es mög-
lich sein, das Alter des Tuffs zu bestimmen. Herrn Flint's
Angaben müssen übrigens mit einiger Vorsicht betrachtet
werden; er behauptet, in einer Höhle, die nach ihrer Bildung
von tertiärem (!) Sandstein ausgefüllt wurde, nach Ent-
fernung des Sandsteins, Inschriften und eingegrabene Bilder
gefunden zu haben. (American Naturalist.)
— Als die hauptsächlichste Folge der spanischen Erobe-
rung von Guatemala ist nach Dr. Stoll (vergl. „Globus",
Bd. 46, S. 270) eine Mischung der verschiedenen Rassen und
ein Rückgang der indianischen Rasse zu bezeichnen. Nehmen
wir an, daß im Jahre der Eroberung (1524) Guatemala von
etwa 1 200 000 Einwohnern von rein indianischer Rasse be-
wohnt war, so finden wir nach hundert Jahren die india-
nische Bevölkerung schon sehr zurückgegangen, etwa auf
700 000 Köpfe, während wir etwa 20000 Spanier und 30 000
Neger zählen. Nach der Volkszählung von 1880 betrug die
Gesammtbevölkerung von Guatemala 1200000, und es kamen
ans 1 Quadratkilometer 10 Einwohner, also siebenmal weniger
als in der Schweiz. Unter diesen finden sich reine Weiße
5000, die Neger sind verschwunden; dazu kommen 800 000
reine Indianer und 400000 Mischlinge. Nach Jahrhunderten
werden die Indianer in den Mischlingen aufgegangen sein.
Man muß sich aber von diesen nicht die Vorstellung machen,
als ob es ein herabgekommener Menschenschlag wäre; vielmehr
finden wir die Mischlinge auf allen Stufen der socialen Ent-
wickelung, vom Präsidenten bis zum Hirten herab. Wenn
sie geistig noch nicht so entwickelt sind wie wir, so kommt
das daher, daß die Noth des Lebens noch nicht ihre Lehr-
meisterin geworden ist. Aber auch ihre Zeit wird kommen,
und wir dürfen überzeugt sein, daß sie dann den Kampf ums
Dasein ebenso kräftig und erfolgreich bestehen werden, wie
wir Angehörige der europäischen Civilisation.
(„Nene Züricher Zeitung.")
Inhalt: Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien. XXI. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr. Z echi in :
Das Rügenwalder Amt. II. — W. Kobelt: Skizzen aus Algerien. III. Durch die Schlucht des Todes. — Kürzere
Mittheilungen: Das Protektorat Englands über das südöstliche Neu-Guinea. Von Henry Greffrath. — Aus allen
Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. — Nordamerika. (Schluß der Redaktion:
14. Februar 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Vrauuschwcig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalteu
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
DieulafoPs Reise in Westpersien und Babylonien.
XXII,
Die Masdschcd Dschmua scheint übrigens allen Moscheen
von Schiraz als Vorbild gedient zu haben, und im Beson-
deren der Masdschcd -i-Nau (Neue Moschee), welche stets
mit diesem Namen bezeichnet wird, obgleich sie schon,etwa
um das Jahr 1300 unter dem Atabeg von Fars, Ali bu
Siad, erbaut wurde. Dieses Gebäude, von kolossaler Aus-
dehnung — es bedeckt mehr als eine Hektare Landes —
scheint von den häufigen Erdbeben nicht gelitten zu haben;
denn von einigen Rissen in den großen Bogen abgesehen,
ist es in ziemlich gutem baulichem Zustande und unterscheidet
sich durch seine verhältnißmäßige Reinlichkeit Vortheilhaft
von der Masdschcd Dschmna.
Die Medresse Chan wäre von der Neuen Moschee
ziemlich weit entfernt, wenn man sich, wie in europäischen
Städten, auf den Straßen dorthin begeben müßte; in der
Heimath des Hafiz jedoch kann man einen näheren Weg
einschlagen und über die flachen Dächer der Häuser hinweg
dorthin gelangen. Gärten sind nämlich im Inneren der
Stadt sehr selten, und die ohnehin engen Straßen sind zum
Theil überdeckt, so daß es doppelte Verkehrswege giebt:
jeder gute Schirazer findet sich auf den Dächern ebenso
leicht zurecht, wie unten in den Bazaren und Straßen, und
den Staub der letzteren schluckt er nur, wenn er zu Pferde
steigt oder schon bei Sonnenaufgang sein Haus verlassen
muß. Aus dieselbe Weise wurden die Reisenden von der
Neuen Moschee nach der Medresse Chan (Chan-Schule),
welche in der Mitte des Gemüsemarktes liegt, über die
Dächer geführt. Die in einem Rechtecke aufgeführte Schule
ist von gewaltiger Größe; auf den mit prächtigen Bäumen
bepflanzten Hof öffnen sich die Zimmer der Zöglinge, vor
Globus XLVil. Nr. 12.
welchen sich breite Gallcricn hinziehen. Alle diese Zimmer
stehen leer; Schutt bedeckt den Boden der Gänge, die
Fayenceplatten, welche einst die Wände schmückten, liegen
ans der Erde und stellenweise sind die Mauern selbst in-
folge von Erdbeben zusammengestürzt. Wie in der Mc-
dresse des Wakil hocken auch hier nur ein paar Jungen auf
dem Boden und hören mit halbem Ohre den Worten eines
Mollah zu, der vielleicht noch zerstreuter ist als seine
Schüler. Der besterhaltene und interessanteste Theil der
Medresse ist die Säulenhalle am Eingänge, welche alter
als das eigentliche Bauwerk zu sein scheint. Vier große
von Nischen durchbrochene Bogen ans grauem Stein tragen
eine flache Wölbung, welche mit einem schönen, dunkelblau
grundirten Fayencemosaik, ähnlich demjenigen in der Moschee
von Tabriz, überzogen ist; diese ans sehr kleinen Stücken
bestehende Verzierung wird in harmonischer Weise von
einem mit Inschriften bedeckten Friese und von dem grauen
Stein der Bogen eingefaßt. Das ganze Gebäude mit
Ausnahme dieser Eingangshalle und der Minarets zu beiden
Seiten des Thores ist, wie eigentlich selbstverständlich, ein
Werk des Wakil, und dasselbe ist der Fall mit dem pracht-
vollen Bazare, durch welchen die Reisenden nach ihrer
Wohnung zurückkehrten.
Seit ihrer Ankunft in Schiraz hatten sich Dieulafoy's
mit dem Wege beschäftigt, den sie von dort ans nach dem
Persischen Meerbusen einschlagen würden. Seit ihrem
Mißerfolge in Eklid (siehe „Globus", Bd. 46, S. 258)
hatten sie darauf verzichtet, durch das Gebirge der Bachti-
jaren nach Susiane zu gelangen, in der Hoffnung, vielleicht
später auf einem weniger gefährlichen und bequemeren
23
178
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
Wege in dasselbe eindringen zu können. So blieben ihnen
noch zwei Routen nach Buschir, eine Uber Kazerun und
Schahpur, welche von allen Karawanen, allen Reisenden
und der Post eingeschlagen wird, und eine zweite längere
Uber Firuzabad, welche für sie wegen der gewölbten Bau-
werke bei dieser Stadt ein besonderes Interesse darbot.
Außerdem konnten sie beim Einschlagen dieser zweiten
Route durch eineu Umweg von einigen Tagen dazu gelangen,
den Palast von Sarvistan, von dem man ihnen schon in
Persepolis erzählt hatte, und die Ebene von Darab zu sehen.
Sie entschlossen sich also zu derselben, trotzdem sie die
Reisedauer um drei Wochen verlängerte und sie größeren
Strapazen aussetzte; sie mußten darauf gefaßt sein, daß sie
unterwegs keine Hilfsmittel antreffen wUrden, und sich selbst
Maulthiere und Pferde mieten. Um sich nicht großen
Verlusten durch Räuber auszusetzen, sandten sie das große
Gepäck auf der direkten Straße nach Buschir voraus, be-
hielten nur den photographischen Apparat, das Kochgeräth,
Kleider zum Wechseln und ihre Decken bei sich und mieteten
zuletzt kräftige Pferde. Dabei zeigte sich jedoch die Ver-
logenheit der modernen Perser, eines ihrer hervorstechendsten
Laster, im hellsten Lichte. Am Morgen des 26. Oktober
sollten die gemieteten Pferde sich einstellen, aber erst um
3 Uhr Nachmittags erschienen sie; aber statt der kräftigen
Thiere, welche der Vermieter ihnen beim Abschlüsse des
Geschäftes vorgeführt hatte, waren es elende, magere
Klepper, der eine einäugig, der andere lahm, und beide von
Packsätteln durchgescheuert. Die beiden starken und gesun-
den Pferde, welche man den Reisenden zuerst gezeigt hatte,
waren von dem Vermieter, der mit dem Diener Dieu-
lafoy's unter einer Decke steckte, nur zu dem Zwecke der
Täuschung geborgt worden. Hätten die Franzosen nicht
das Verlangen gehabt, das fieberschwangere Schiraz so bald
wie möglich zu verlassen, und wäre das Mieten neuer
Pferde nicht mit einem Zeitverluste von mehreren Tagen
gleichbedeutend gewesen, so hätten sie wohl die schlechten
Gäule zurückgeschickt. So aber verabschiedeten sie sich von
ihren neu gewonnenen Freunden und machten sich aus den
Masdsched-i-Nau in Schiraz. (Nach emer Photographie der Mme. Dieulafoy.)
Weg, von zwei Gholams des Untergonverneurs begleitet;
diese Soldaten sollten ihnen, den Christen, den Zutritt zu
den fanatischen Dörfern und das Einkäufen von Lebens-
mitteln ermöglichen. An den verfallenen Stadtmauern
führte der Weg hin, dann durch die Weinberge, welche den
berühmten, aber schlecht schmeckenden, von Juden bereiteten
Schirazweiu erzeugen, bei der BrUcke Pul-i-Fasa vorbei;
das erste Nachtquartier wurde in einem reizend gelegenen
Pavillon am Eingänge eines prachtvollen Gartens genom-
men, der dem Gouverneur von Fars gehört.
Da der Marsch des nächsten Tages ein ziemlich langer
war, und man Kerabad noch vor Eintritt der Hitze erreichen
wollte, so hatte man beschlossen, schon um Mitternacht auf-
zubrechen; aber es wurde wiederum 6 Uhr Morgens, ehe
Soldaten, Maulthiertreiber und Diener, die im Einver-
ständuiß mit einander waren, ihren Thee getrunken und die
Thiere beladen und gesattelt hatten. Schon nach einigen
hundert Schritten aber brach das Pferd der Mme. Dieu-
lafoy zusammen, und diese konnte von Gluck sagen, daß sie
bei dem Sturze ohne anderen Schaden davonkam, als mit
einigen Rissen in den Kleidern und einem verbogenen
Flintenlaufe. Aber sie wagte es nicht, den Gaul von
neuem zu besteigen und tauschte mit dem spitzbübischen
Diener Arabet, der ein sicheres, munteres Maulthier ritt,
trotzdem dieser in seinem Aerger heftig dagegen protestirte,
daß eine so hochgestellte Dame ein so niedriges Thier ritt.
Die Karawane fetzte sich wieder in Gang und gelangte
bald in ein wildes, zum Theil mit knorrigem, verwachsenem
GestrUppe bedecktes Gebirge; Überall liefen dort, wie Hühner
in einem Gehöfte, zahlreiche rothe Rebhühner umher, die
viel mehr durch das Getrampel der Pferde, als durch die
Flintenschüsse erschreckt wurden, die der jüngste der beiden
Gholams, ein hübscher Junge aus Luristan mit Locken und
klugen Augen, ihnen nachsandte. Blindlings verpuffte er
das schlechte Pulver Seiner persischen Majestät und benutzte
dabei statt feinen Schrotes in vier Theile geschnittene
Kugeln.
Nach zwei Stunden Marsches bog der Zug um eine
Felsecke herum und befand sich plötzlich einem wunderbaren
Anblicke gegenüberauf dem Grunde eines Kessels, den hohe
180
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
Berge von majestätischen, strengen Umrissen einschließen,
breitet sich ein dunkelblauer See aus; ihn unigiebt ein strahlend
weißer Kranz einer Masse, die man im ersten Augenblicke
für Schnee zu halten geneigt ist, und der prächtig zu dem
finsteren Tone des Wassers und der warmen Färbung der
umgebenden Felsen paßt. Es ist der Dariatscha (Kleines
Meer; wohl der Mahlusasee oder Darja-i-Nemek mancher
Karten), der im Winter, durch seine Zuflüsse vergrößert,
die ganze Ebene bedeckt. Im Sommer aber zieht sich sein
Wasser langsam zurück und läßt dann beim Verdunsten
jene dicke, leuchtend weiße Salzschicht an den Ufern zurück.
Die Umgebung des Sees ist natürlich wenig fruchtbar;
doch treibt ein kleiner Stamm, der unter Zelten ans Ziegen-
haar oder unter Strohmatten, die von einigen Pfählen
gehalten werden, haust, dort Tabaksbau; die sammetweichen
Blätter der Pflanzen sind das einzige Grün an dem glitzern-
den Gestade. Wie glückliche Völker hat der See weder
eine Geschichte, noch wird eine Legende von ihm erzählt;
sein tiefes Wasser hat niemals bei einem Verbrechen mit-
gewirkt, denn es ist so schwer, daß ein menschlicher Körper-
auf der Oberfläche schwimmt, und daß kein Unglücklicher
jemals in ihm sich hat ertränken können. Dagegen braucht
man nur einen Augenblick darin zu baden, um über und
über mit weißen Krystallen bedeckt zu werden, wie eine in
Streuzucker gewälzte Gummikugel.
Inzwischen war die Hitze unerträglich geworden und
die Augen wurden von der von dem Salze reflektirenden
Sonne geblendet; da brach das Pferd, welches Mme. Dien-
Svldat aus der Umgebung des Untergouverneurs von Schiraz.
(Nach einer Photographie der Mme. Dieulafoy.)
lafoy am Morgen geritten hatte, unter einem Sonnenstiche
zusammen. Alles Entladen und Prügeln nutzte nichts; es
war nicht mehr möglich, das arme Thier bis Kerabad zu
bringen, dessen Umfassungsmauern in der Ferne schon zu
sehen waren. Die Reisenden ließen ihre Leute bei dem
Pferde zurück, um ihm die Hufeisen abzureißen, und ritten
nach dem Dorfe voraus, wo sie todtmüde um 7 Uhr Abends
eintrafen. Sie hatten an diesem Tage nach Angabe ihres
Wirthes acht Farsachs zurückgelegt; aber wie viel Kilometer
in dieser weltabgeschiedenen Gegend ein Farsach mißt, sechs,
acht oder gar zehn, das wußte niemand. Auch mit dem
Abendessen sah es schlecht aus: infolge der großen Hitze
war das mitgenommene Fleisch verdorben, und es war schon
Grab des Scheichs Jussef ben-Jakub.
(Nach einer Photographie der Mme. Dieulafoy.)
zu spät, um noch einen Hammel zu schlachten, so daß sie
sich mit einigen Gurken und einer großen Schale saurer
Milch begnügen mußten.
Das Unglück verfolgte jetzt die Reisenden in ungewöhn-
lichem Maße. Marcel Dieulafoy nahm am folgenden
Tage, weil er sich schwach fühlte und einen Fiebcranfall
befürchtete, eine zu starke Dosis Chinin, was ihm nach
einiger Zeit derartige Schmerzen verursachte, daß er sich
zu Boden warf und erklärte, nicht weiter reiten zu können.
Aber die Hitze nahm immer mehr zu; es fand sich weit
und breit kein Holz, kein Wasser, und so setzten die Diener
den Reisenden auf ein Lastthier und schafften ihn so nach
einer mit Thürmen besetzten Umwallung, welche aber keine
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
181
Häuser umschloß, sondern nur elende Maulwurfshaufen,
aus denen ab und zu wilde, zerlumpte Bauern auftauchten.
Hier verfiel der Reisende in einen tiefen Schlaf, aus dem
er erst gegen Abend erwachte; dann aber erschien ihm die
Umgebung, in welcher er sich befand, so unheimlich, daß er
selbst verlangte, noch nach dem etwa 20 km entfernten
großen Flecken Sarvistan (Selwistan) zu reiten. Dort
empfing sie der durch einen der Soldaten im Voraus be-
nachrichtigte Ortsvorstehcr mit grämlicher Miene und wies
ihnen als Unterkunft ein schwarz geräuchertes, dunkles Loch
an. Das Betragen des Mannes wurde noch unhöflicher,
als sich die Schmerzen bei dem Kranken wieder einstellten
und sich bei jeder Bewegung steigerten, so daß er weder
sitzen, noch irgend welche andere Nahrung, als Neiswasfer
und Granatensaft zu sich nehmen konnte. Der Grund
davon war, daß der vorausgeschickte Soldat eine sehr trübe
Beschreibung von dem Zustande des Kranken gemacht hatte,
und daß der Ortsvorsteher an dessen baldigen Tod glaubte,
worin ihn das schlechte Aussehen des Reifenden nur be-
stärkte. Nun hatte er sich schon ausgerechnet, wie theuer
ihm das Abkratzen, Waschen und Weißen des Hauses, das
durch den Tod eines Ungläubigen besudelt worden wäre,
zu stehen kommen würde, und die Summe hatte ihn in
Wuth versetzt. Direkt zu vertreiben wagte er die Fremden
nicht, weil er den Gouverneur in Schiraz fürchtete; aber
er suchte sie um jeden Preis aus seinem Hause zu entfernen,
Salzsee Dariatscha. (Nach einer Skizze von Marcel Dieulafoy.)
indem er das Klima und Wasser von Sarvistan in den
schwärzesten Farben schilderte. Und als ihm Mme. Dicu-
lafoy die Thür wies, nahm er seine Zuflucht dazu, daß er
seinen Dörflern verbot, den Fremden oder ihren Dienern
irgend welche Lebensmittel zu verkaufen. Da erfolgte zum
Glück ein Umschlag in dem Zustande Marcel Dieulafoy's,
und die Wendung zum Besseren wurde nicht wenig dadurch
unterstützt, daß einer der Dorfbewohner Kenntniß von den
„sehr alten Kuppeln", den Palastruinen nämlich, zu haben
erklärte, während bis dahin niemand etwas von denselben
wissen wollte. Gleichzeitig änderte sich auch das Benehmen
des Ortsvorstehers: er wurde geschmeidig, und Hühner, Eier
und Hammel gab es wieder in Menge.
In Sarvistan giebt es, abgesehen von den schönen
Blumen- und Baumgärten, nur das verfallene Grabmal
des Scheich Jussef ben-Jakub zu sehen, welches im Jahre
1341 erbaut, aber seitdem verändert und vergrößert worden
ist. Ein Theil des Bauwerkes besteht aus Stein; um den
Grabcsraum zieht sich ein schönes Getäfel metallisch glän-
zender Fayencen, bestehend aus kupferfarbigen Sternen, die
durch Kreuze von türkisblauem Email mit einander ver-
bunden sind. Der Gesammteindruck dieser Verzierung ist
reizend; wenn man aber die Sterne unter einander ver-
gleicht, so bemerkt man, daß der metallische Schmelz mit-
unter zu stark, oft aber nicht genug gekocht worden ist, und
daß selbst die am besten ausgefallenen Platten nicht die
Schönheit der Emaillen von Kaschan oder Weramin haben
und einer Periode des vollen Verfalls angehören.
182
Das Togo-Gebiet.
Das Togo-Gebiet.
Hugo Zoller, der Weltreisende der Kölnischen Zeitung,
veröffentlicht in genanntem Blatte (December 1884 und
Januar 1885) eine Reihe von Artikeln über die Westküste
von Afrika, die nicht nur augenblicklich Aufmerksamkeit er-
regen, sondern auch geographische und ethnographische Mit-
theilungen bringen, die ein dauerndes Interesse beanspruchen
dürfen. Wir machen in den folgenden Spalten den Ver-
such, das Wichtigste aus einer Reihe von Artikeln zu-
sammenzustellen, die er über das Togogebiet geschrieben
hat; wenn wir auch das faltenreiche Gewand des Feuilleton
natürlich aufopfern mußten, glaubten wir doch nichts
Wesentliches übergehen zu dürfen, weshalb der Leser die
gedrängte Form entschuldigen wolle, die wir zu wählen ge-
zwungen waren. An der Bai von Benin dehnt sich das
unter deutschen Schutz gestellte Togogebiet von 1° 10'
bis 1° 30' östl. L. Gr. ans, im Inneren des Landes liegt
die Grenze noch weiter östlich. Auf der schmalen Nehrung
liegt Bagida und hinter derselben parallel mit dem Meere
läuft die sogenannte Lagune, die sich namentlich bei dem
Hanptorte Togo zu einem Binnensee erweitert, der aber bei
weitem nicht die Abmessungen besitzt, welche ihm nach dem
Vorgänge der englischen Seekarte auch auf deutschen Karten
gegeben worden sind. Wie man bisher annahm, bedeckt
diese Avon-Lagune beinahe das ganze Togogebiet und
macht den Theil des Landes, den sie nicht direkt über-
sluthet, zu einem ausgedehnten Sumpflande; da Zoller bei
verschiedenen Ausflügen ins Innere, auf denen er bis
15 Kilometer weit vordrang, nichts von einer solchen La-
gune, wie die Karten sie zeigen, bemerkt hatte, beschloß er,
die Sache an Ort und Stelle zu untersuchen. Wie schon
oben bemerkt, zieht sich an der Togo- ebenso wie beinahe an
der ganzen Sklavenküste eine Lagune parallel dem Strande
hin; die einzelnen Lagunen stehen aber nicht immer mit
einander im Zusammenhang, so daß sie auch ihren höchsten
und tiefsten Wasserstand zu verschiedenen Zeiten erreichen;
die Lagune im Gebiete von Togo zieht sich weit hin bis in
das Gebiet von Groß-Povo hinein, wo sie mit dem Meere
durch zwei Mündungen Verbindung hat, die außerdem auch
durch einige künstliche Durchstiche bei Klein -Povo her-
gestellt wird. Der Wasserspiegel verändert seine Höhe um
4 bis 5 m. Bei höchstem Wasserstande ein nicht unbe-
deutender See, bildet die Lagune bei niedrigem Wasserstande
ein Gewirre von theilwcise sehr flachen Wasserarmen, ans
denen mit Schilf und Rohr bewachsene Inseln sich erheben.
Bei einem Wasserstande von etwa 3 m war die Fahrt,
welche Zöller in Gesellschaft zweier deutscher Kaufleute von
Klein-Povo aus unternahm, durch die sich in vielfachen
Krümmungen dahin windende Lagune ziemlich schwierig
und wurde noch mehr durch die vielen Fischzäune gehindert,
an deren Enden sich nur schmale, im Interesse der Schiff-
fahrt angebrachte Oeffnungen befinden; bei dem niedrigen
Wasserstande verwickelte das Boot sich häufig in den Schlepp-
netzen. Beinahe unmittelbar an der Lagune erhebt sich das
Ufer wellenförmig bis zu einer Höhe von 15 bis 25 ra.
Diese Bodenwellen sind dem Togolande eigenthümlich, sie
erreichen weiter von der Küste 60 bis 70 m Höhe; nie
aber sieht man vereinzelte Berge oder Hügel.
Bei Gredji zweigt sich ein breiter Arm nördlich nach
dem Bnschmarkte Wo ab; unser Reisender folgte dem an-
deren Arme nach Westen und kam hinter Agoda, kurz vor
der Grenze des deutschen Gebietes an einen Zollzaun, deren
es jetzt auf dem Gebiete von Togo und Povo nur noch zwei
giebt; sie erinnern an die Flußsperren zur Zeit des Faust-
rechts; denn auch sie dienen dazu, um mit List oder Ge-
walt Zölle zu erheben.
Nach längerer Fahrt erreichte man Togo, einen aus
einer 13 bis 16 na hohen Wand von dunkelrothem Thon,
in den die starken Regengüsse tiefe Rinnen gerissen, ge-
legenen Komplex von fünf Dörfern, den Hauptort der
deutschen Schutzherrschaft. Wie überall im Innern ge-
währen ganze Wälder von Kokospalmen und anderen Frucht-
bäumen den lang ausgedehnten Dörfern ein freundliches
Aussehen. Von hier aus sollte die eigentliche Erforschung
des sich bei Togo verbreiternden Fahrwassers vor sich gehen;
man vermuthete um so eher die bewußte Lagune hier, als ans
der erwähnten Seekarte auch angegeben war, daß die Ein-
geborenen die Avonlagune auch Haccolagune nannten, und
man einen ähnlichen Namen (Haho oder Hacho) im Munde
der Togoleute gehört hatte. Die Lagune erweiterte sich zu
einem auf allen Seiten von niedrigen Höhenzügcn um-
gebenen See, dessen Abmessungen von Nord nach Süd
auf 10, von Ost nach West auf 10 bis 11 km ge-
schätzt wurden; es würde sich demnach nur eine Oberfläche
von 100 bis 120 qkm (anstatt der auf der Karte an-
gegebenen von circa 2600 qkm) ergeben. Auch in anderer
Beziehung scheint die von den Ofsicieren des Avon (1846)
verfertigte Aufnahme nicht sehr korrekt; sie geben an, daß
die Lagune wahrscheinlich von einem Arme des Volta ge-
speist werde, was nach der von der Bremer Missions-
gesellschast veröffentlichten Karte des Ewegebiets beinahe
unmöglich ist.
Nachdem man Togo etwa drei Stunden verlassen hatte,
sah man in nördlicher Richtung dem Lande parallel eine
25 bis 30 m hohe, wellenförmige Bodenanschwellung. Als
man inGbome landete, konnte man allerdings von einem
Baume aus in nördlicher Richtung einen nach dem Inneren
sich hinziehenden Wasserstreisen entdecken, über welchen die
Eingeborenen jedoch keine nähere Auskunft geben konnten.
Am anderen Morgen wurde mit vieler Mühe auf dem
30 bis 50 m breiten, sich vielfach krümmenden Wasserarm
die Reise fortgesetzt, bis es beinahe unmöglich schien, das
Rohr und die Wasserpflanzen weiter zu durchbrechen; die
Miasmen wurden unerträglich und wiederholt auftauchende
Krokodile machten die Fahrt unbehaglich. Etwa 1 bis
1V2 km voraus lag festes Land, auf dem sich Höhcnzüge
so hoch und so geschlossen erheben, daß die Möglichkeit, die
Lagune könne sich in nördlicher Richtung weiter ausdehnen,
dadurch völlig ausgeschlossen wurde. Alan fuhr nun nach
dem östlichen Rande des Sees, nach Seva, welches ans
den Karten als Insel dargestellt wird; dies ist unrichtig,
denn auch bei dem höchsten Wasserstande kann es nicht zur
Insel werden. Man mußte alle weiteren Anstrengungen,
das nördliche Ende der Lagune zu Wasser zu erreichen,
aufgeben und versuchte cs nun auf dem Landwege, jedoch
zunächst ohne Erfolg, indem man vor Erreichung der Nord-
spitze der Lagune umkehren mußte. Erst bei einer zweiten
Expedition gelang es Zöller und seinen Begleitern, die
Lagune ganz zu nmwandern und den in ihr nördliches
Das Togo - Gebiet.
183
Ende einmündenden, von Urwald umstandenen Haho-
Fluß zu entdecken. Es war ein interessanter, aber an-
strengender Marsch, den man unter den glühenden Sonnen-
strahlen durch ein nur zum kleinsten Theil bebautes, aber
überall mit dichter Vegetation bedecktes Land machte; die
kleinen, nur y4 bis y2 Morgen haltenden Grundstücke
sprachen für den Fleiß der Bewohner. Trotzdem das ganze
Ackergeräth nur aus einer an einem Stocke befestigten
kleinen Eisenplatte besteht, mit der man nur Löcher aus-
werfen, doch den Boden nicht eigentlich umarbeiten kann,
wissen die Neger demselben Kassaven, Mais, Bataten (süße
Kartoffeln), hier und da auch Ananas und allerlei andere
auf Bäumen und Sträuchern wachsende Früchte abzu-
gewinnen. Nur der kleinste Theil des Landes ist ange-
baut; das übrige ist entweder mit Rohr und hohem Gras
bewachsen, was nicht nur in der Nähe des Wassers, son-
dern auch 100 m über demselben vorkommt, oder mit
dickem, hier und da von einzelnen hohen Bäumen über-
ragtem Buschdickicht bedeckt. Bierfüßiges Wild, mit Aus-
nahme von Affen, bekam man im ganzen Togogebiete nicht
zu Gesicht, hörte aber einmal einen Leoparden. Vielleicht
trägt hierzu die Gewohnheit, im Dickicht neben den Wegen
Fallen aufzustellen, das ihrige bei; dagegen wimmelt es
überall von Flügelwild und der Fischfang giebt einen guten
Ertrag. Die Fische werden mit selbstverfertigten Schlepp-
netzen gegen die oben schon erwähnten Fischzäune angetrieben
und durch bis an die Brust im Wasser stehende Männer
mit Körben herausgeschöpft. Termitenhügel wurden nicht
so vielfach wie z. B. in Australien gesehen. Zunächst der
Küste findet man grauen Boden, weiterhin eine dunkel-
rothe, sehr fruchtbare Thonerde, die übrigens auch Wasser
zu führen scheint. Von Steinen giebt es nur Knollen-
eisenstein bei Togo und Felsen bei Porto Seguro am Meere
und Sandstein in der Lagune bei Klein-Povo.
Die Bevölkerung des Landes ist, wenn auch nicht gerade
dicht, doch immerhin recht ansehnlich; sie lebt meistens,
wohl der Streitigkeiten wegen, in größeren Dörfern, die
im allgemeinen etwa eine Stunde von einander entfernt
liegen. Da die Küstenlinie auf 36 (auf der Karte sind es
391/2), die Ausdehnung nach dem Inneren auf 37 km an-
gegeben wird, berechnet sich die Oberfläche des Schutzgebietes
auf ca. 1300 qkm, die von etwa 40 000 Menschen bewohnt
sein sollen, was eine Bevölkerung von 30 Köpfen per Quadrat-
kilometer ergäbe; die Einwohnerzahl in Togo, Klein - und
Groß-Povo wird auf 120 000, die Bevölkerung des Hinter-
landes auf eine gleiche Anzahl Seelen veranschlagt.
Ob das Land Togo (Togo heißt „jenseits der Lagune")
sich bis zu den Landschaften Ana und Kposo ausdehnt,
welche der Bremer Missionar Hornberger durchreist hat,
ist nicht bekannt; sicher aber ist es, daß Aschanti und Da-
home nicht nördlich vom Togosee an einander grenzen, wie
es bisher auf den Karten angegeben ist *), sondern daß das
Schutzgebiet noch eine ganz ansehnliche Tiefe hat. Daß
unsere neuen afrikanischen Mitbürger, namentlich was das
weibliche Geschlecht angeht, in ihrer Kleidung etwas sehr-
primitiv sind und sich größtentheils auf das Allernoth-
wendigste beschränken, ist bekannt, ebenso daß die Frauen
etwas leichtsinniger und leichtlebiger Natur sind; der weiße
Reisende entgeht oft nur mit Mühe den Anschlägen einer-
afrikanischen Mama, die ihre Tochter in nähere Berührung
i) Aus englischen Blnubüchern rc. ist es schon seit einigen
Monaten bekannt, daß das Aschanti-Reich letzthin an Umfang
ganz bedeutend abgenommen hat. Nach Brandon Kirby's
Karte (Proc. R. G. S., August 1884) liegt jetzt der fernste
Punkt des Reiches noch nicht 110 km von der Hauptstadt
Kumassi entfernt, während es sich früher nach Westen über den
Volta hinaus erstreckte und dort allerdings an Dahome grenzte.
Die Red.
184
Das Togo - Gebiet.
mit dem Europäer bringen möchte. Die Neger der Küste
und an den Lagunen, namentlich die Frauen, sind im allge-
meinen in Bezug aus ihren Körper, dem sie die Wohlthat
eines Bades häufig zukommen lassen, sehr reinlich; weniger
sind sie es in Bezug auf ihre Wohnungen und werden in
dieser Hinsicht von den Negern des Inneren weit über-
troffen. Vielleicht hängt es mit dem häufigen Baden an der
Küste zusammen, daß man dort Hautkrankheiten seltener
sieht, als im Inneren; am häufigsten ist wohl der unter
dem Namen Krockro vorkommende, äußerst ansteckende,
aber auch leicht heilbare Flechtenausschlag; manche Kinder
sind mit Beulen und Schorf völlig überdeckt. Unange-
nehmer noch als die Hautkrankheiten sind für die Augen
des Fremden die Verunstaltungen des Nabels, welche häufig
vorkommen; unter 65 Kindern, die ihn umstanden, zählte
Zöller einmal deren 29, welche mit Nabelbrüchen behaftet
waren; allerdings scheinen diese Brüche mit vorschreitendem
Alter häufig zu verwachsen. Außer dem gewöhnlichen
Negertypus findet man, wenn auch nicht gerade häufig, so
doch in jedem Dorfe Individuen mit gelber Hautfarbe und
rothem Haar (ohne daß man an Beimischung europäischen
Blutes denken könnte); daneben kommt eine Erkrankung der
Haut vor, bei welcher dieselbe Flecken zeigt, welche ganz so
weiß sind, wie die Haut des Europäers. Plakku selbst, der
Stnbtrüger des verstorbenen Königs Mlapa, die Autorität
der Hauptstadt, hatte derartige große weiße Flecke an Armen
und Schenkeln. Es scheint dies die Folge einer allge-
meinen Erkrankung zu sein, wiewohl derartige weiße Flecke
auch durch örtliche Einflüsse entstehen können; so z. B.
bilden sie sich, wenn ein Verbrecher in heißes Oel hinein-
greifen muß, an der verbrannten Stelle.
Man muß sich hüten, diese Negerstämme als Wilde zu
betrachten; dieselben besitzen manche Kunstfertigkeiten und
wenn sie auch nicht, wie die Leute von Cape Coast Castle
und Acra künstliche Goldgeschmeide zu verfertigen verstehen,
so wissen sie doch mit Hilfe der Töpferscheibe kunstreiche
Gefäße zu formen, Leder zu gerben und auf selbstgefertigten
Webstühlen künstliche, bis zu zweidrittel Fuß breite Zeug-
streifen zu erzeugen. Alles dies sind Fertigkeiten, die sich
bei den Negern selbst entwickelt haben und nicht etwa von
den Europäern erlernt sind; bei den unmittelbar an der
Küste wohnenden Schwarzen sind diese Industriezweige bei-
nahe ganz erloschen, da sich diese Leute meistens dem Handel
widmen, zu dem der Neger von Natur berufen scheint;
jeder König und jede seiner Frauen, jeder seiner Sklaven,
ja die Sklaven der Sklaven treiben mehr oder weniger
ausgedehnten Handel. Der Hausrath der Häuser ist aller-
dings einfach genug, umfaßt jedoch immer noch weit mehr,
als man sich in Europa manchmal vorstellt. Hübsch ge-
flochtene Strohmatten dienen den Eingeborenen Nachts
zum Lager, Kalebassen und andere ans Thon oder Kürbis-
schalen gefertigte Gefäße in allen Formen und Größen,
riesige in langen Reihen eingegrabene Fässer zur Auf-
nahme des Wassers, ähnlich den antiken Gefäßen, Schwerter,
Messer, Dolche, gekaufte und selbstgewebte Stoffe bieten
dem Auge Abwechslung; die Civilisation ist vertreten durch
halbleere Rumfässer, alte Kisten und leere Blechbüchsen.
Die Begierde nach Spirituosen ist leider sowohl bei Män-
nern als auch bei Frauen sehr groß, obwohl der von Ham-
burg bezogene Gin kein allzu verlockendes Getränk ist.
Die Flasche davon kommt den Kaufleuten auf zwanzig
Pfennig und ihr Inhalt, wenn man die Auslagen für
Flasche, Aufschrift, Farbe, Fracht u. s. w. abrechnet, auf
7 bis 8 Pfennig zu stehen; daß dafür kein ordentlicher
Branntwein geliefert werden kann, liegt auf der Hand.
Wie man behauptet, enthält der hier verkaufte Gin außer
ein ganz klein wenig Alkohol bloß Terpentinöl und
Vitriol, welches den durchaus nothwendigen kratzenden Ge-
schmack hervorbringt; übrigens sei es zur Ehre der dortigen
Neger gesagt, daß sie, wiewohl sie gern trinken, sich doch
nur selten betrinken.
So verschieden in ihrer Bauart die an der Küste ge-
legenen Ortschaften sind — in der heiligen Stadt Be sind
die Hütten rund, in Bagida und Lome sind sie viereckig,
jedoch nur aus Binsen geflochten — so gleichförmig, sowohl
was Bauart als auch Reinlichkeit angeht, sind sie im
Inneren. Nicht nur werden Straßen und Höfe reinlich
gehalten, sondern in der Nähe jeden Dorfes sind große
Löcher gegraben, welche allen Unrath und Abfälle auf-
nehmen und später zugeschüttet werden. Gewöhnlich werden
die Wände der Hütten in der Art gebildet, daß man ans
der rothen Thonerde, der man durch Zusatz von Stroh
und Binsen eine gewisse Haltbarkeit giebt, mächtige Quadern
formt, die man aufeinander thürmt; über diese Wände
kommt eine mit Reisig gedeckte Balkenlage, die, im Falle
ein zweites Stockwerk angebracht werden soll, mit einem
Lehmschlag bedeckt wird. Hierüber kommt das schräg liegende,
unseren Strohdächern ähnliche Dach; die eigentliche Be-
dachung von Binsenstroh erhält eine Dicke von etwa 15 cm.
Manchmal haben die Häuser kleine Fenster (natürlich ohne
Glas). Wenn eine Treppe vorhanden ist, wird entweder
jede Stufe auf zwei besondere Stützen gelegt oder man
legt die ganze Treppe zwischen vier Balken, die an beiden
Enden, je zu zwei, angebracht sind. Wer es einmal ver-
sucht hat, eine solche Treppe hinauf- und hinabzusteigen, ver-
liert leicht die Lust, den Versuch zu wiederholen. Da die
Häuser gewöhnlich zwei bis drei Zimmer in einem Stockwerke
haben, genügen sie meistens nicht für die ganze Familie,
wozu aber auch die Sklaven und deren Kinder gerechnet
werden; gewöhnlich liegen daher mehrere Gebäude in einem
Gehöft, auch wenn dasselbe, was nicht immer der Fall ist,
nur von einer Familie bewohnt sein sollte. Umzäunt ist
das Ganze mit mehr als mannshohen Geflechten von Mais-
stroh, zwischen denen die endlos gewundenen Fußwege zum
Hause führen. Wie klein ein Negerdorf auch sein mag,
es besitzt mehrere öffentliche Gebäude, wie Gerichtshalle,
Palaver- und Fetischhäuser. Erstere sind gewöhnlich an
der höchsten Stelle des Ortes errichtet und es macht sich
in denselben ein gewisses Kunstgefühl, ein Streben nach
architektonischen Formen merkbar; die Fetischhäuser sind
nur an der Rückseite geschlossen, an der Vorderseite trennt
eine etwa 0,30 cm hohe Mauer den heiligen Raum von
der profanen Erde; die Wände sind in Hellen Farben be-
malt, die von dem dunkeln Thongrnnde grell abstechen.
Der Hauptort Togo zählt etwa 2500 bis 3000 Ein-
wohner, ihm folgt Bc mit circa 2000 Seelen; außerdem
werden zehn weitere Orte genannt, deren Bevölkerung die
Zahl 1000 erreicht.
Im allgemeinen scheint der Neger dem weißen Manne
freundlich gesinnt, sobald er in demselben keinen Sklaven-
jüger und keinen Konkurrenten in seinen Handelsgeschäften
sieht; wenn das der Fall ist, versucht er es zunächst mit
passivem Widerstande. Auf einem der Ausflüge z. B., die
Zöller unternommen, um möglichst weit zur nördlichen
Grenze vorzudringen, konnte er nur das Dorf Agome
erreichen; man weigerte sich hier unter allerlei Ausflüchten,
ihm Führer nach dem nächsten Orte, Adangbe, mitzugeben;
als wahrscheinlichste Erklärung wird mitgetheilt, daß die
Häuptlinge für ihr Monopol des Zwischenhandels fürchteten.
Die aus dem Innern kommenden Waaren gehen durch
viele Hände, ehe sie die an der Küste wohnenden Kaufleute
erreichen, und jeder weitere Tagemarsch nach dem Innern
Thorvaldur Thoroddson: Die Erforschung des Inneren von Island.
186
führt zu einer anderen Linie von Zwischenhändlern, die
ihre Rechte sorgfältig hüten. Wenn einmal dieser 60 bis
100 km breite Küstengürtel durchbrochen ist, hört diese Schwie-
rigkeit auf, da dann an Stelle der vielen kleineren Staaten-
bildungen im Küstcnlande größere Landstriche treten, die einem
Herrn gehorchen, wo also die Verhandlungen leichter sind.
Zoller hält eine Polizeimacht von 50 bis 100 fremden
Negern für genügend, um die Ordnung im Togogebiete auf-
recht zu erhalten; Leute aus Camerun oder Klein-Povo
kommen ihm am geeignetsten vor, da die Haussas zu sehr
gefürchtet, die Kruneger wegen der schweren Arbeit, die fie
thun, verachtet sind. Ueber den Umgang mit den Negern
macht er eine Bemerkung, die gewiß Beachtung verdient.
Nachdem er die Stellung des Weißen in den Augen der
Neger mit derjenigen verglichen hat, welche die alten Götter
Griechenlands in den Augen der Hellenen einnahmen, fährt
er fort: „Wer dies natürliche Verhältniß untergräbt, wie
die Engländer dies in Sierra Leone thun, der macht aus
der den Küstennegern bereits halbwegs aufgepfropften
europäischen Kultur ein Zerrbild, der züchtet ein Unkraut,
das ihn ins Gesicht schlagen wird, wie der ungerathene
Sohn seinen Vater."
Die Erforschung des Inneren von Island.
Von Thorvaldur Thoroddson.
(Uebersetzt nach dem „Sydsvenska Dagbl. Snallposten" von Heinrich Martens.)
Die großartige Natur Islands hat schon seit Jahr-
hunderten die Aufmerksamkeit fremder Nationen erregt, und
trotzdem ist die merkwürdige Insel im Auslande nur wenig
bekannt. Die höchstbelegenen Theile des Inneren von Is-
land werden von gewaltigen „Jökul" (Gletschern) bedeckt,
die zusammen ein Areal von 268 geographischen Quadrat-
meilen haben. Obgleich eine Untersuchung derselben für
die Geologie von größter Bedeutung sein würde, sind sie
noch vollständig unbekannt. Besser kennt man die Vulkane
Islands, obgleich auch in dieser Hinsicht noch Vieles zu
thun übrig bleibt. Island hat in der historischen Zeit
Ausbrüche von etwa 30 Vulkanen aufzuweisen, aber es hat
ausgebrannte Vulkane zu Hunderten. Die Ausbrüche haben
oft die gefährlichsten Folgen für das ganze Land gehabt;
ich brauche nur an den Ausbruch bei Skapta im Jahre
1783 zu erinnern, dessen Lavastrom 11 Meilen lang und
3 Meilen breit war und einen Kubikinhalt von der Größe
des Mont Blanc hatte. Das ganze Land wurde mit Asche
bedeckt, und das Vieh, welchem es infolge dessen an genügen-
dem und gesundem Futter fehlte, starb massenhaft; alsdann
traten Hunger und Krankheiten bei den Menschen ein und
fast ein Fünftel der Gesammtbcvölkerung des Landes starb
aus. Der berühmteste Vulkan Islands ist bekanntlich
Hekla, von welchem Kaspar Pcucerus, ein Schwiegersohn
Melanchthon's, zu erzählen weiß, daß man eine Meile von
dem Berge entfernt das Jammern, Heulen und Zähne-
klappern der Verdammten im Inneren desselben hören kann.
Vom Hekla kennt man in der historischen Zeit etwa acht-
zehn Ausbrüche. Längs der Südküste Islands giebt es
mehrere Vulkane, welche mit ewigem Eise bedeckt sind.
Man kann sich kein furchtbareres Naturereigniß denken, als
Ausbrüche dieser Vulkane. Die Jökuldecke schmilzt und
plötzlich wird das umliegende Land von gewaltigen Wasser-
strömen mit Eisstücken von der Größe eines Hauses über-
fluthet, welche alles wegfegen, was sie aus ihrem Wege
vorfinden; so wurden 1360 zwei Kirchspiele mit vierzig
Bauerhöfen eines Morgens infolge eines Ausbruches des
Oräfajökul buchstäblich fortgcspült.
Eine Reise in Island muß zu Pferde geschehen, weil
es dort keine anderen Wege als Rcitsteige giebt. Die
Bauern begeben sich in langen Karawanen von 40 bis 50
Pferden nach den Handelsplätzen, um ihre Bedürfnisse zu
holen, und weil eine solche Reise oft zwei bis drei Wochen
Globus XLVII. Nr. 12.
erfordert, wird sie nicht mehr als einmal im Jahre gemacht.
Futter für die Pferde, Zelte, Proviant und manche andere
Sachen müssen mitgeführt werden, da man mehrere Wochen
jeglicher Verbindung mit der übrigen Welt entbehrt.
Im Jahre 1881 beschloß das isländische „Althing"
(Volksvertretung), daß das Innere Islands erforscht werden
solle. Man beauftragte mich damit. Im folgenden Jahre
durchreiste ich die östlichen Theile Islands, 1883 unter-
suchte ich die vulkanische Halbinsel Reykianäs und Umgebung,
und 1884 die große Lavawüste Odüdahraun, oder
den Theil des inneren Hochlandes von Island, der sich
zwischen den an der Nordküste mündenden Flüssen Skjal-
fandafljot und Jökulsä bis zum Vatnajöknl hinauf erstreckt
und der bisher wegen seiner Natnrverhältnisse fast voll-
ständig unbekannt war. Von dieser meiner letzten Reise
soll in Nachstehendem die Rede sein.
Odüdahraun ist Europas größtes Lavafeld. Diese
Wüste, welche an einigen Stellen kaum zu Fuß passirt
werden kann und an anderen Stellen mit Flugsand bedeckt
ist, zeigt nirgends auch nur das geringste Pslanzenlcben; der
Mangel an Gras und Wasser erschwert in hohem Grade
das Vordringen in diesen Gegenden, welche so hoch belegen
find, daß man mitten im Sommer von Schneestürmcn
oder, was noch gefährlicher ist, von Sandstürmen überrascht
werden kann. Dazu kommt noch, daß der Kompaß an
mehreren Stellen nicht zuverlässig, weil der Erdboden
eisenhaltig ist. Man hat mehrfach Versuche gemacht, diese
Wüste zu untersuchen, jedoch ohne das erwünschte Resultat
zu erzielen. Der einzige, welcher einen einigermaßen guten
allgemeinen Begriff vom Aeußeren derselben gegeben hat,
ist der große Kartograph Islands, Björn Gunnlaugsson,
welcher dort während der Jahre 1838 und 1839 reiste I.
Die Bevölkerung Islands knüpft an diese Wüste verschie-
dene abergläubische Vorstellungen; es sollen hier u. A. gras-
reiche Oasen zu finden sein, die von Geächteten bewohnt
werden. So ganz aus der Luft gegriffen ist dieser Glaube
nicht, denn Verbrecher haben sich Mehrfach dorthin geflüchtet
und sich dort zeitweilig unter unglaublichen Entbehrungen
und Leiden aufgehalten, und die Ueberzeugung, daß sich dort
U 1881 haben auch die Engländer Cuthbert E. Peek,
Dolmar Morgan und Coles diese Gegenden bereist und darüber
berichtet (vergl. Proc. R. Geogr. Soc. 1882, März). Red.
24
186
Thorvaldur Thoroddson: Die Erforschung des Inneren von Island.
Geächtete befinden, war im Volke noch in der Mitte unseres
Jahrhunderts eine so tief eingewurzelte, daß Gunnlaugsson
das Gegentheil durch die Zeitungen beweisen mußte.
Auf einer Reise in das Innere Islands, wo man
mehrere Wochen ausschließlich auf sich selbst angewiesen ist,
muß man eine ziemlich große Bagage mitnehmen, und da
alles auf Pferderücken befördert werden muß, ist das Reisen
hier sehr theuer. Ich bedurfte auf meiner Reise gewöhnlich
7 bis 10 Pferde und hatte zwei Begleiter. Wir führten
ein gewöhnliches norwegisches Soldatenzelt sowie ein Stück
gefirnißten Segeltuches mit uns; das letztere, um es auf
der Erde unter dem Zelte auszubreiten, weil man sich sonst
während der Nachtruhe die Körperwärme nicht erhalten
kann. Matratzen hatten wir nicht, sondern wir hüllten
uns in Mantel und Rcisedecke und bedienten uns des
Sattels als Kopfkissen. Unser Proviant bestand aus ge-
kochtem Lammfleisch, Brot, Käse, Kaffee und Fleischextrakt,
sowie einigen Flaschen Cognac; unsere Küchcngeräthe waren
ans die nothwendigsten und einfachsten beschränkt. Auf einer
solchen Reise ist nichts dringender geboten, als die Pferde
in gutem Stande zu erhalten, denn wenn man die verliert,
ist man auch selbst rettungslos verloren.
Nachdem die nöthigen Vorbereitungen getroffen waren,
reiste ich von Oefjord nach dem See Myvattn (nördlich
von der Lavawüste Odádahraun) ab, wo ich einige Zeit
blieb, um nahe belegene Vulkane und Gletscher zu unter-
suchen. Am 16. Juli brach ich nach dem Inneren auf,
und zwar hatte ich beschlossen, zunächst einige Grasgegenden
beim Berge Herdubreid zu besuchen. Unsere Reise
ging über den sogenannten Myvattensöknen mit seinen
Lavafcldern und Kratern, von welchen einige 1875 gebildet
wurden. Das Wetter war rauh und kalt, mit Schnee und
Regen, die Landschaft nichts weniger als einladend: häufig
eine gelbgraue Flugsandcbcne. Der geringste Wind setzt
diesen Sand in Bewegung, füllt Augen und Ohren und
treibt ihn in die Kleidung, Koffer und Instrumente. Hier
und da bemerkt man Skelette von Pferden und Schafen,
die in dieser Wüste umkamen. Die Nacht verbrachten wir
in einer vulkanischen Einsenkung. Obgleich es Mitte Juli
war, tobte in der Nacht bei 1 Grad Külte ein Schneesturm,
und das Feld wurde mit einer dicken Schneedecke belegt.
Am solgenden Tage war das Wetter nicht besser. Abends
erreichten wir nach einer beschwerlichen Reise südwärts
längs der JökulsL unseren Bestimmungsort, die Gras-
gegenden beim Herdubreid. Hier ist die Vegetation ver-
hältnißmäßig üppig, so daß die Pserde für längere Zeit
gute Grasweiden halten. Die Natur ist hier von einer
eigenthümlichen Schönheit. Der nahe 5300 Fuß hohe,
riesenhafte Herdubreid gehört zu den herrlichsten Berg-
formationen, die man sehen kann; im Süden hat man die
Schneegegenden des Vatnajökul, im Norden die endlose
Ebene, welche am Abend beim Sonnenuntergang eine un-
beschreibliche Farbenpracht darbietet und zur Mittagszeit,
wenn die Sonne scheint, dem Auge die herrlichsten Fata
Morgana-Bilder zeigt: die Ebene scheint dann gleichsam
mit kleinen Seen übersäet zu sein, um welche die Stein-
blöcke sich gleich kleinen Häusern oder langen Karawanen
von Lastthieren gruppiren.
Unser erster Ausflug vom Zelte galt einem gewaltigen
Vulkane nördlich vom Herdubreid, Namens Dyngsa, der
niemals zuvor von Menschen betreten worden ist. Er hat
eine Höhe von 3600 Fuß und besteht aus aus einander
gelagerten Lavaströmen. Nach ck^stündigem Ritte über
die Lava erreichten wir den Vulkan und begannen den
Aufstieg. Die Lava an den Seiten des Berges ist zu den
wunderbarsten Gestalten geformt, hohe Pyramiden wechseln
mit Lavaröhren, Vertiefungen u. s. w. ab. Auch findet
man mehrere Seitenkrater, und die Spitze des Vulkans ist
ein gewaltiger Krater von 1500 bis 1600 Fuß im Durch-
messer. Während wir den Berg bestiegen, begann es zu
schneien, und als wir oben anlangten, war alles mit Eis
und Schnee bedeckt; ich mußte, zitternd vor Külte, andert-
halb Stunden bei meinen Instrumenten warten, bis es
etwas heller wurde. Dann schritten wir über die Lava-
ebene des Kraterbodens und standen plötzlich am Rande
eines schwindelnden Abgrundes — es hatte sich nämlich ein
neuer Krater innerhalb des alten gebildet. Es ist schwer
zu beschreiben, wie imponirend dieser Krater ist. Man
denke sich einen ungeheuren Kessel von 600 bis 700 Fuß
Tiefe, dessen jäh abfallende Wände von oben bis unten
mit einer schneeweißen Eiskruste bekleidet sind, so daß das
Ganze wie aus Marmor gefertigt zu fein scheint; aus dem
Boden erblickt man einige hinabgefallcne Steinblöcke, die
kleinen schwarzen Punkten auf weißem Grunde gleichen.
Südlich von diesem Vulkane befinden sich kleine Tuffberge.
Auf einem derselben tritt der Tuffstein in den wunderlich-
sten Formen auf: der Bergrücken ist mit einer Menge
Pfeiler besetzt, die eine Höhe von mehr als 100 Fuß haben,
so daß der Berg von weitem einem kolossal großen Stachel-
schweine gleicht. Außer kleineren Ausflügen machte ich
auch eine Untersuchuugsreise nach dem Herdubreida-Gebirge,
nördlich vom Dyngja, welches zuvor nicht besucht und auch
nicht aus der Karte verzeichnet ist. Auf dem Wege dort-
hin entdeckten wir zu unserer Verwunderung alte Wege-
zeichen von gleicher Art, wie sie noch jetzt auf Island
gebräuchlich sind, und hatten somit einen längst vergessenen
Reitstcig gefunden. In der Nähe des Berges mußten wir
über einen breiten Lavastrom, welcher zu Pferde unpassirbar
war und mit Noth zu Fuß überschritten werden konnte,
weshalb wir unsere Pferde am Rande eines Abgrundes
festbanden und uns dann auf den Weg begaben. Bei
Sonnenaufgang waren wir nach vielen Beschwerden ans
der Höhe angelangt, wo wir eine vortreffliche Aussicht
hatten und ich meine Vermessungen anstellen konnte. Nach-
dem wir hier die helle Sommernacht verbracht und häufig
auf allen Vieren die jähen Tuffstcinspitzeu umkrochen hatten,
kehrten wir am Morgen mit zerrissenen Kleidern und rui-
nirtem Schuhzeug zu unseren Pferden zurück, die uns auf
ihrem ungastlichen Halteplatz lange erwartet haben mochten
und einen elenden Anblick boten.
Inmitten der Wüste liegt hier der große Vulkan
Askja, der 1875 einen der schwersten Ausbrüche hatte,
die man auf Island kennt; 17 Bauernhöfe im Osten der
Insel wurden zerstört und ganze Kirchspiele wurden mit
Asche überschüttet, die sogar in Norwegen und Schweden
bemerkt wurde. Nach diesem Vulkane reiste ich am 25. Juli
auf einem bisher noch nicht versuchten neuen Wege. Die gewal-
tigen Lavamasscn, über welche wir hinüber mußten, waren
vor 1875 unpassirbar, aber die Bimsstcinasche hatte jetzt
alle Löcher und Rinnen ausgefüllt. Unsere Pferde wurden
jedoch durch die scharfen Bimssteinstücke, die meistens eine
Größe von mehreren Kubikfuß haben, oft an dcu Beinen
verwundet. Und diese Stücke sind aus einem Vulkane
gekommen, der zwei bis drei Meilen entfernt ist! Wir
konnten nur bis zur Mündung des Askja kommen, denn
in der Nähe derselben verschwand der Bimssteinkies und
der Lavastrom war nicht mehr zu passiren. Wir gingen
jedoch über den Schnee, der in den Rinnen zwischen den
Lavarücken lag, und erreichten schließlich die neuen Krater
bei der großen Einsenkung in der südöstlichen Ecke des
Askja. Askja ist ein großes Thal, etwa eine Quadratmeilc
im Umfange und umgeben von steilen Bergen. Der Boden
Thorvaldur Thoroddson: Die Erforschung des Inneren von Island.
187
des Thales ist von Lavaströmen bedeckt, welche den un-
zähligen Ausbrüchen aus den Seiten des Thales entsprungen
sind. Hier, in der 700 Fuß tiefen Einsenkung, befinden
sich der große Krater, welcher 1875 die großen Bimsstein -
massen über das östliche Island auswarf, sowie verschiedene
andere Krater, die etwas früher Ausbrüche hatten; hier
bricht an unzähligen Stellen der unterirdische Wasserdampf
hervor, und dessen Brausen wird in weiter Entfernung
vernommen, gleichsam als ob er aus einer ungeheuren
Zahl von Lokomotiven gelassen würde; hier liegt schließlich
inmitten der Einsenkung ein warmer See, welcher, nachdem
er seit 1876 über seinen ursprünglichen Rand herausgetreten
ist, setzt fast den ganzen Boden der Einsenkung bedeckt. Die
Temperatur des Wassers, welche damals 22° war, ist jetzt
140 C. Die ganze Scenerie, die schneebedeckten Berge, die
Krater, die unzähligen Dampfquellen (Fumarolen), die
Schwefelquellen, die Klüfte und der stille grünliche See,
giebt dem Ganzen ein so imponirendes Gepräge, daß es
sich nicht beschreiben läßt. Der Vulkanismus arbeitet hier
beständig und in großem Maßstabe.
Als wir diese merkwürdige Nachbarschaft in Augenschein
genommen hatten und wieder in unserem Zelte anlangten,
waren wir ununterbrochen 36 Stunden auf den Beinen
gewesen und fast übermüdet.
Nach einigen kleineren Ausflügen legte ich den Rückweg
nach Myvattn über den nördlichen Theil der Wüste zurück.
Die Reise wurde infolge der vielen Lavaklüfte, die sich in
diesen Gegenden befinden, beschwerlich. Nördlich vom
Herdubreida trafen wir eine bisher unbekannte Einsenkung
von 1/4 Meile Breite und 4 bis 5 Meilen Länge, mit
Wänden bis zur Höhe von 150 Fuß. Als diese passirt
war, glaubte ich das Schlimmste überstanden zu haben, aber
bald gewahrten wir einen neuen, kohlschwarzen Lavastrom,
welcher 1876 gebildet wurde, ohne daß Jemand in der
nahen Umgebung eine Ahnung davon gehabt hat. Hier
wurde uns der Weg durch ein vollständiges Netz von Klüften
versperrt, und erst nach zweistündigen Anstrengungen glückte
es uns, über dieselben hinweg zu kommen, indem wir die
Pferde über einen Theil derselben springen ließen und die
anderen auf verräthcrischcn, ans Steinen hergestellten Brücken
passirten. Es war ein seltenes Glück, daß wir keines der
Pferde verloren. Ueber den eigentlichen Lavastrom zu
kommen, war uns jedoch unmöglich. Wir nmßten das
südliche Ende desselben umgehen. Aber hier stellte sich uns
eine gewaltige Kluft entgegen, die sich ins Unendliche aus-
zudehnen schien. Erst in der Nacht, nach fünfstündiger
Anstrengung, passirten wir die südlichen Ausläufer derselben.
Es war nothwendig, diese unwirthliche Gegend so rasch wie
möglich zu verlassen, denn wir hatten weder Proviant noch
Futter für die Pferde. Der Tag war sehr warm gewesen,
und wir wurden von einem gefährlichen Durste geplagt;
als daher in der Nähe eines Schneehügels, der sich in der
Lava angesammelt hatte, eine kleine Wasserpfütze entdeckt
wurde, war alle Müdigkeit gleichsam verschwunden. Nach
kurzer Weile ging es wieder vorwärts. Wir erreichten am
nächsten Tage eine Grasgegcud, mußten aber nach wenigen
Stunden Aufenthalt vor einem Unwetter flüchten; dann
hatten wir einen Sandsturm zu bestehen, gelangten aber
doch am Abend nach Myvattn.
Am 12. August, nach längerer Rast, trat ich eine neue
Reise an, deren Zweck speciell eine Untersuchung der west-
lichen und südlichen Theile der Wüste war; diese Reise
wurde infolge der hohen Lage der Gegend und der weiten
Entfernung derselben von bewohnten Orten noch beschwer-
licher. Ich reiste längs des Skjalfandaflusses hinauf nach
einem Thale, wo sich etwas Gras befindet, und wo ich
einige Tage verweilte, um die Umgegend zu untersuchen.
Mein erster Ausflug galt dem großen Vulkane Trolla-
dyngja, einer der größten Lavaquellen Islands. Der
Vulkan hat eine Höhe von 5000 Fuß und mißt int Quer-
schnitt am Fuße 21/% Meilen. Seine Abdachung ist sehr-
gering, und als wir am Fuße desselben angelangt waren,
beschloß ich, zur Höhe hinauf zu reiten, indem wir, soweit
möglich, den Schneeansammlungen folgten. Es ging lang-
sam und mit Vorsicht aufwärts; die Pferde sanken wieder-
holt bis zum Bauche in den Schnee und hatten Mühe, sich
wieder herauf zu arbeiten. Meine Vermessungen, die ich
oben anstellte, wurden durch Nebel und Schueefall unter-
brochen, der sich während unserer Rückfahrt in strömenden
Regen verwandelte. Wir hatten keinen trockenen Faden
am Körper, als wir zur Nachtzeit wieder unser Zelt erreich-
ten. Dieser Vulkan scheint in der historischen Zeit keinen
Ausbruch gehabt zu haben, dagegen hat er in alter Zeit
ungeheure Lavaströme ergossen. Ein solcher Strom z. B.
erstreckt sich 16 Meilen nordwärts fast bis zum Meere.
Am folgenden Tage setzten wir die Reise südwärts längs
der östlichen Seite des Flusses fort. Die Expedition ging
über ein wellenförmiges, von losen Steinblöcken übersäetes
Terrain. Gras war nicht viel zu bemerken, jedoch fand
sich an einigen warmen Quellen, die wir unterwegs antrafen,
eine dürftige Vegetation. Diese Gegenden haben ein ganz
anderes Aussehen, als man nach der Karte vermuthen
sollte. Am Abend erreichten wir einige kleine Seen in
Vonarskard, in deren Umgebung sich etwas Graswuchs
zeigte; von hier untersuchte ich die Umgegend und fand
unter anderem, daß der westlichste Theil des Vatnajökul
über 6000 Fuß hoch, somit der höchste Lavakegel auf Is-
land ist. Das Wetter war während der ganzen Zeit rauh
und kalt, mit starkem Frost während der Nacht, und höch-
stens 6 bis 7° Mittags; der scharfe Wind vom Jökul führte
eine eisige Kälte mit sich. Ein Thicrleben giebt cs hier
kaum. Drei Möven flogen vorbei, und vier bis fünf
Fliegen sah ich im Grase kriechen — das war alles.
Von dieser Station setzten wir die Reise ostwärts längs
des Jökulrandes fort. Die Erdoberfläche ist hier durch die
Thätigkeit der unterirdischen Kräfte übel zugerichtet: Krater,
Lava, Klüfte, Moränen u. s. w. wechseln hier in buntem
Wirrwarr. Am Kistefjell hatten wir einige Zeit gegen
einen Sandsturm zu kämpfen. Die südlichen Stürme
müssen hier eine gefährliche Stärke haben, denn die Felsen
sind überall aus der Südseite von dem Saude und den
kleinen Steinen, die fortwährend gegen dieselben peitschen,
glatt geschliffen. Oestlich vom Kistefjell ist ein gewaltiger
Gletscher auf die Sandebene herabgestürzt; derselbe bedeckt
ein Areal von 20 Quadratmeilen und ist wahrscheinlich
der größte Sturzgletscher auf Island. Von weitem gleicht
er einem Kiesfelde oder Lavastrome, da er vollständig von
losen Massen bedeckt ist. Erst bei genauerer Untersuchung
bemerkt man das Eis. Der sechs Meilen lange Jökulrand
wird eingefaßt von großen Moränen, welche mit Stein-
blöcken überstreut sind, deren Größe nur nach Kubikfaden
gemessen werden kann. Der unterste Theil des Jökul ist mit
einer Menge Eispyramiden bis zu einer Höhe von 100 Fuß
besetzt, welche von klaffenden Abgründen getrennt sind,
durch die der Jökulfluß in wilder Flucht herabstürzt. Weiter-
östlich sind die Eispyramiden nicht so hoch, sondern hier
besteht die Oberfläche des Jökul aus unzähligen kiesbedeckten
Eisrücken in den wunderlichsten Formen. Wo die Flüsse
aus dem Jökulrande herausströmen, giebt es mehrere große
Eispforten; sieht man in dieselben hinein, dann scheinen die
blaugrauen Farbentöne nach und nach in die schwärzeste
Finsterniß überzugehen. Unterhalb des Jökulrandes liegt
24*
188
Thorvaldur Thoroddson: Die Erforschung des Inneren von Island.
eine nackte Lehmebene, von unzähligen weißgelben Flüssen
marmorirt, welche nach allen Richtungen darüber hin-
strömen. Die Reise längs des Jökulrandes war sehr
beschwerlich, da die Lehmflächen derart von Wasser durch-
zogen sind, daß die Pferde jeden Augenblick tief einsinken.
Zuweilen bedeckte der Schlamm Lavamassen, welche die
Pferde an den Beinen verwundeten, indem sie die
weiche Masse durchtraten. Es ging langsam vorwärts,
und wir mußten daher die Nacht auf dem Jökulrande
selbst zubringen, wo wir unser Zelt in einer Kluft
zwischen den Eispyramiden aufschlugen. Wir konnten vor
Kälte kaum ein Schläfchen machen und hatten am Morgen
kein anderes Wasser zu unserem Kaffee, als das trübe
Jökulwasser, welches selbst fast dem Kaffeebodenfatz glich
und nichts weniger als wohlschmeckend war. Am nächsten
Morgen setzten wir die Reise über die versandete Jökulsa
fort, welche sich in viele Arme getheilt hat und deren
einzige Fuhrt wir passirten. Auf dem ganzen Wege sah
ich keinen einzigen Grashalm, nicht einmal einen Moos-
hügel. Wir passirten eine vulkanische Gebirgsstrecke, die
zu den eigenthümlichsten gehört, die ich auf Island gesehen
habe. Sie besteht nämlich aus unzähligen Steinpyramiden
von 1200 bis 1500 Fuß Höhe, zwischen welche sich die
Lava aus einer Menge Krater hindurchgewälzt hat. Klüfte,
Krater, Schlackenhalden, Thäler und Einsenkungen wechselten
ohne Ende mit einander ab. Nach unzähligen Umwegen
erreichten wir jedoch Nachmittags den Weideplatz H v a n n a -
lindir, wo sich Gras genug für unsere Pferde fand, und
wo ich auch einige Tage verweilte, um die Umgebung zu
besehen. Am Rande eines Lavastromes findet man hier
Ueberreste von einigen Hütten; die einzigen Reste, welche
daran erinnern, daß Geächtete sich in diesen Gegenden
aufgehalten haben.
Mein hauptsächlichster Ausflug von hier sollte der nach
dem großen Vulkan Kwerkfjell sein, aber unaufhörliche
Schneestürme verzögerten diese Expedition. Endlich ver-
ließen wir früh am Morgen unser Zelt und befanden uns
nach einem scharfen Ritt inmitten der Steinpyramiden, als
ein solcher Schneesturm ausbrach, daß wir nach dem Zelte
zurückkehren mußten und uns glücklich preisen konnten, daß
wir es rechtzeitig gethan hatten, denn in einem derartigen
Wetter wären unsere Pferde auf dem Jökul umgekommen
und vielleicht hätten wir selbst das Leben einbüßen müssen.
Während der ganzen Nacht tobte dieser gewaltige Sturm
bei einer Temperatur von — 4" C., und unser Zelt war
jeden Augenblick dem Zerreißen nahe. Einige unserer
Pferde hatten Schutz beim Zelte gesucht, und bemühten
sich am Morgen vor Külte zitternd mit den Vorderbeinen
die fußdicke Eis- und Schneedecke wegzuscharren, um das
darunter befindliche spärliche Gras zu erreichen. Abends
als der Sturm sich etwas gelegt hatte, bereiteten wir uns
zum Aufbruch am nächsten Morgen vor, weil unsere Lage
hier eine vollständig unhaltbare geworden war.
Am 22. August trat ich die Rückreise quer über die
Lavawüste an. Es war sehr stürmisch und wir hatten ein
drei Meilen langes Flugsandfeld zu passiren. Diese Expedi-
tion war die schwierigste der ganzen Reise. Die Luft war
so voller Sandstoffe, daß wir kaum 20 Schritt weit sehen
konnten, und der Kies peitschte uns derart um die Ohren,
daß wir unmöglich hätten weiter kommen können, wenn wir
nicht den Wind im Rücken gehabt hätten. Wir jagten
wie wahnsinnig dahin und hatten endlich nach Verlauf von
21/2 Stunden die Sandebene hinter uns; wir waren am
Strande eines bisher unbekannten großen Sees unmittelbar
unter dem Dynggebirge. Als im Jahre 1880 diese Gegen-
den besucht wurden, existirte der See noch nicht, sondern ist
erst später von Gletscherflüssen gebildet worden, welche sich
einen Weg über die Sandebenen gebahnt haben. Als wir
die nordöstliche Verzweigung des Dynggebirges erreicht
hatten, stellten wir unser Zelt für die Nacht ans und reisten
am nächsten Tage längs des Gebirges quer über die Mittel-
Partie der Wüste weiter. Die Lava ist hier auf dem alten
Wege nach Askja eben und leicht zu passiren. Spät am
Abend erreichten wir Bardardalen, und damit war
die Reise in der Odádahraunwüste beendet. Nachdem ich
einige Tage ausgeruht hatte, reiste ich nach Myvattn und
untersuchte die wenig bekannten Gegenden nordöstlich von
diesem See. Am 4. September kehrte ich nach Oefjord zurück.
Die ganze Reise hatte 10 Wochen gedauert, von welchen
ich fünf in unbewohnten Gebirgsgegenden zubrachte. Ich
hatte ungefähr 213 Meilen zu Pferde und zu Fuß zurück-
gelegt und ein Areal von etwa 240 Quadratmeilen unter-
sucht, wovon die Hälfte fast unbekannt war. Die Lavawüste
Odádahraun wurde so gut wie möglich vermessen, zu wel-
chem Zwecke ich etwa 200 barometrische Höhenmessungen
vornehmen mußte. Die wenigen Pflanzen und Insekten,
welche sich vorfanden, wurden eingesammelt, aber das
Hauptgewicht wurde doch darauf gelegt, einen allgemeinen
geographisch-geologischen Ueberblick zu erhalten. Die hydro-
graphischen Verhältnisse in diesen Gegenden sind nicht so
ganz, wie man sich dieselben bisher gedacht hat. Die
Jökulsu gilt als der längste und die Thiorsá als der nächst
längste Fluß mit resp. 25 und 24 Meilen. In Wirklich-
keit ist die Jökulsä nur 24 Meilen, die Thiorsá dagegen
fast 30 Meilen lang. Der Skjalfandafluß entspringt
östlicher, als man angenommen, und hat eine Masse
größerer und kleinerer Nebenflüsse, welche aus der Karte
nicht angegeben sind. Mehrere dieser Gletscherflüsse auf
Island führen eine große Wassermasse ins Meer, und ich
erinnere mich, sehr erstaunt gewesen zu sein, als ich zum
ersten Male den Rhein sah und diesen nicht einmal so
bedeutend fand, als verschiedene unserer Gebirgsflüsse.
Die ganze Lavawüste ist durch eine Menge Ausbrüche
aus unzähligen Kratern zu verschiedenen Zeiten gebildet
worden. Der Hauptzug der geologischen Bildung derselben
ist sehr einfach und übereinstimmend mit den Vorlanden
auf Reykianäs. Der Untergrund besteht überall aus Pala-
gonittuff und Breccia, welche Bergarten neben Basalt-
lagern sich zugleich in den aufsteigenden Bergknoten zeigen.
Die Breccia wird unmittelbar von einer grauen, grob-
körnigen Lava bedeckt, die vor der Eiszeit ausströmte, wie
man das an verschiedenen sehr deutlichen Merkmalen des
Eises sehen kann. Diese Lava ist wiederum von einem
mindestens 200 bis 300 Fuß mächtigen Lager moderner
Lava bedeckt. Die Vulkane bestehen entweder aus regel-
mäßigen Kuppen oder Kegeln mit großen Kratern auf der
Spitze, oder auch aus kleinen Kratern längs der Seiten
des Tuffberges. Im westlichen Theile der Wüste folgen
die Krater meistens einer Linie von Südwesten nach Nord-
osten, im östlichen Theile findet man sie dagegen in Reihen
von Norden nach Süden.
* -l-
*
Es giebt auf Island noch ungeheuer Vieles zu unter-
suchen, und erwünscht wäre es, wenn die Naturforscher in
noch höherem Grade als bisher ihre Aufmerksamkeit auf
diese Insel richten möchten. Reisen in das Innere Islands
sind allerdings kostspielig und beschwerlich, aber es würde
von großer Bedeutung für die Wissenschaft sein, wenn die
Gletscher und Vulkane des Landes näher untersucht würden.
Nekrologe.
189
Nekrologe.
— Dr. Oskar Stroebelt, deutscher Naturforscher,
der iu Münster studirt und sich Mitte 1884 im Dienste der
Association Internationale du Congo nach dem Congo be-
geben hatte, ist am 21. November 1884 in der Hauptstation
Vivi dem tückischen Klima erlegen.
— Peter Christian Asbjörnsen, norwegischer
Sagensammler, geboren 15. Januar 1812 in Christiania, ge-
storben ebenda 6. Januar 1885. Er studirte Medicin und
Naturwissenschaften, erforschte dann 1846 bis 1853 verschiedene
Theile der norwegischen Küste, studirte 1856 bis 1858 in
Tharand Forstwesen und war 1860 bis 1864 Forstinspektor
in Drontheim. Dann bereiste er im Auftrage der Regie-
rung Holland, Deutschland und Dänemark, um die Torf-
gewinnung kennen zu lernen und überwachte nach seiner
Rückkehr bis 1876 als Beamter die Herstellung dieses für
die norwegischen Bauern so werthvollen Brennmaterials.
1842 gab er mit Moe zusammen die aus dem Munde der
Landleute gesammelten „Norske Folke Eventyr", Sagen,
Märchen u. dergl., heraus, welche geradezu eine neue natio-
nale Aera in der norwegischen Litteratur eröffneten. Diesen
folgten 1845 der erste Band der „Huldre Eventyr og Folkesage"
oder Fecnsagen, 1848 der zweite Band derselben und 1871 der
zweite Band der Folke Eventyr, die zu den verbreitetsten
Büchern der norwegischen Litteratur gehören und zum Theil
in andere Sprachen übersetzt worden sind.
— Karl Sonklar Edler von Jnnstätten, öster-
reichischer General und Geograph, geboren 2. December 1816
zu Weißkirchen, gestorben 10. Januar 1885 in Innsbruck.
Er war seit 1832 Lehrer an der Militärschule in Karan-
sebes, von 1839 bis 1848 Officier der Infanterie in Agram,
Graz, wo er an der Universität Physik und Chemie hörte,
und Innsbruck, 1848 bis 1857 Erzieher des Erzherzogs
Karl Victor in Schönbrunn, zuletzt 1857 bis 1872 Lehrer
an der Militärakademie in Wiener-Neustadt. Sein Haupt-
wandergebict waren seit 1857 stets die Alpen, die er auch
besonders iu seinen Schriften behandelt hat. Außer militä-
rischen und einer kunsthistorischen Schrift verfaßte er „Reise-
skizzen aus den Alpen und Karpathen" (Wien 1857); „Die
Oetzthaler Gebirgsgruppe" (Gotha 1861; mit Atlas); „Die
Gebirgsgruppe der Hohen Tauern" (Wien 1866); „Allge-
meine Orographie oder Lehre von den Reliefformen der
Erdoberfläche" (Wien 1873) ; „Die Zillerthaler Alpen" (Gotha
1877). Für die vom Alpenverein herausgegebene Anleitung
zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen verfaßte er
den Theil über Orographie, Topographie, Hydrographie und
Gletscherwesen (München 1879) und schrieb zuletzt ein auf
gründlichen archivalischen Studien beruhendes Buch: „Bon
den lleberschwemmungen" (Wien 1883).
— François Elie Roudaire, französischer Dra-
goneroberst, geboren 6. August 1836 zu Guéret (Departement
Creuse), gestorben ebenda am 14. Januar 1885. Er machte
den Krieg 1870/71 mit und wurde bei Wörth verwundet.
Später arbeitete er bei der Triangulirung des südlichen
Algerien mit und kan: auf die Idee, durch Unterwasser-
setzung der dort konstatirten Depressionen ein Binnenmeer zu
schassen, einen Gedanken, den er zuerst 1874 in einem Ar-
tikel der „Revue des deux Mondes" aussprach. Nun er-
forschte er 1874 bis 1875 eingehend die Schotts (Salzsümpfe)
von Algerien, 1876 die von Tunesien und machte 1878 bis 1879
Sondirungen ans dein Isthmus von Gabes. Sein Projekt
fand so viele Gegner und erwies sich als so kostspielig, daß
es, trotzdem Lesseps energisch dafür eintrat und die Unter-
suchungen an Ort und Stelle noch immer andauern, seiner
Verwirklichung bisher nicht näher rückte. Der Wissenschaft
jedoch verbleibt der Gewinn, daß jenes ganze Depressionsgebiet
genau vermessen und nivellirt worden ist (vergl. „Archive des
Missions Scientifiques" 1881, Bd. 7).
— FrederickGustavusBurnaby, englischer Oberst-
lieutenant und Commandeur der Royal Horse Guards,
geboren 1842, gefallen in der Schlacht bei den Abu Klea-
Brunnen in der Bajudawüste am 21. Januar 1885. Er
wurde in Harrow und Deutschland erzogen und trat 1859
in das Regiment, als dessen Befehlshaber er gefallen ist.
In England war er eine allbekannte Persönlichkeit, beliebt
und angesehen wegen seiner Neigung zu athletischem Sport und
seines unerschütterlichen Muthes, ja Tollkühnheit. Während
des letzten Karlistenkrieges war er militärischer Korrespon-
dent der „Times" beim Heere des Don Carlos; 1875 unter-
nahm er unter den größten Schwierigkeiten seinen bekannten
Ritt nach Chiwa (vergl. sein Buch: „A Eide to Khiva. Tra-
vels and adventures in Central Asia.“ London 1876),
wobei ihn nur der Argwohn und die Eifersucht der Russen,
die seine Rückberufung in England durchsetzten, hinderte,
Buchara und Samarkand zu erreichen. 1876 führte er einen
Ritt durch die asiatische Türkei nach Persien aus und kehrte
längs der Südküste des Schwarzen Meeres nach Konstauti-
nopel zurück (vergl. sein Buch: „On Horseback through Asia
Minor.“ London 1877). Auch eine gefährliche Ballonfahrt im
März 1882 von Dover nach Envermeau in der Normandie ist
unter den Wagestücken zu nennen, die seinen Namen in aller
Mund brachten. 1884 gehörte er zum Intelligence Departement
des Graham'schen Heeres bei dessen Feldzuge im Sudan und
wurde in der Schlacht von el Teb schwer verwundet.
— Martin Ludwig Hansal, geboren 1823zuGroß-
Tajax in Mähren, erschossen bei der Einnahme Chartums
durch die Armee des Mahdi am 26. Januar 1885. Er war
anfangs Schullehrer, wurde 1853 Sekretär des Pater Ignaz
Knoblecher und unterrichtete fünf Jahre lang an den Mis-
sionsschulen in Chartum und Gondokoro, von wo aus er
verschiedene Exkursionen unternahm, so 1855 mit Kirchner
und Peney nach den Rera- und Manderabergen. 1861 be-
gleitete er von Heuglin als Sekretär und Dolmetsch aus
dessen Expedition, kehrte jedoch schon von Keren aus zurück,
und 1874/75 besuchte er in Marno's Gesellschaft nochmals
das nun ganz verlassene Gondokoro. Er war ein guter
Kenner des Arabischen und der Bari-Sprache, heirathete
auch später eine Araberin und stand mit den Eingeborenen
aus gutem Fuße; lange Jahre hindurch war er österreichisch-
ungarischer Honorar-Konsul in Chartum, wo er sich auch wäh-
rend der kriegerischen Zeitläufte der letzten Jahre vollkommen
sicher fühlte; verschiedene Aufforderungen von Wien aus,
die gefährdete Stadt zu verlassen, ließ er unbeachtet. Hansal
schrieb zahlreiche Berichte, die in den Mittheilungen der
Wiener Geographischen Gesellschaft, Petermann's Mitthei-
lungen und der österreichischen Monatsschrift für den Orient
erschienen, ferner „Briefe aus Chartum in Centralafrika an
F. K. Jmhos" (1856). Th. Kotschy veröffentlichte 1858 nach
seinen Briefen „Umrisse aus den Uferländern des Weißen Nils".
— Paul Jwanowitsch Ogorodnikow, russischer
Reisender und Schriftsteller, gestorben im Januar 1885 im
Alter von 58 Jahren. Ursprünglich zum Officier bestimmt,
nahm er angeblich an politischen Umtrieben theil und wurde
auf der Festung Modlin internirt. Nach seiner Freilassung
wurde er Beamter bei der Eisenbahn und unternahm dann
eine Reise durch Europa und Nordamerika, deren Beschrei-
bung er veröffentlichte. Später wurde er Korrespondent der
Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft im nordöst-
lichen Persien, über welches er seine interessantesten Bücher ver-
faßte: „Reisen in Persien und dessen kaspischenProvinzen" (1868),
„Skizzen in Persien" (1868) und „Das Land der Sonne" (1881).
190
Kürzere Mittheilungen.
Kürzere Mi
Das Neujahrsfest in Lhassa.
Ein kurzer Bericht über des Panditen A... k Reisen in
Tibet (vergl. oben S- 61) ist jetzt im Februarheft der „Pro-
ceedings os the R. Geogr. Soc." erschienen, aus welchem wir
nachträglich einige interessante Stellen hier mittheilen. Der
Pandit ward bekanntlich ein volles Jahr in Lhassa, der
Hauptstadt Tibets, aufgehalten und hatte dort Gelegenheit,
die Festlichkeiten des Neujahrs, welches etwa in die Mitte
Februars fällt, kennen zu lernen. Man glaubt, daß zu dieser
Zeit alle Götter und Göttinnen anwesend sind, und deshalb
strömen eine Menge von Tibetern zusammen, um ihnen zu
huldigen und für die Wohlfahrt des Landes zu beten. Für
einen ganzen Monat lang geht die Regierung der Stadt aus
den Händen ihrer gewöhnlichen Oberhäupter in diejenigen
eines Lamas aus dem Kloster Daibung über, welcher wäh-
rend dieser Zeit den Titel Dschalno führt und die Pflicht
hat, die Lebensweise der Bürger genau zu untersuchen und
sie für ihre bösen Thaten zu strafen; zu diesem Zwecke legt
er ihnen in oft sehr willkürlicher Weise und mit großer
Strenge Geldstrafen auf, deren Ertrag er ganz für sich be-
halten darf. Wohlhabendere Leute, welche in irgend einer
Weise sein Mißfallen erregt haben können, verlassen alsdann
die Stadt und wohnen in den Vorstädten, während die
Aermeren, welche stets schmutzig sind und nie ihre Kleider
wechseln, nun ihre Wohnungen fegen und reinigen, um nicht
wegen Unreinlichkeit bestraft zu werden. Am Ende des
Monats wird zur Versöhnung der Götter ein stellvertreten-
des Opfer gebracht, und zwar in Gestalt eines Mannes, der
von dein Dschalno speciell dazu bezeichnet wird. Beide wür-
feln mit einander; gewinnt der Mann, so gilt das als Vor-
zeichen großen Unheils; andernfalls ist der Jubel groß, da
man glaubt, daß die Götter damit ihre Zustimmung dazu
gegeben haben, daß der Mann die Sünden aller Bewohner
Lhassas auf sich nehme. Dann wird ihm sein Gesicht halb
schwarz und halb weiß angemalt, ein lederner Rock über-
geworfen und er aus der Stadt geführt, wobei ihm die ganze
Volksmenge schreiend und jauchzend folgt; indessen wird er
nicht, wie der Sündenbock der Israeliten, in die Wildniß
getrieben, sondern in ein entferntes Kloster gebracht, wo er,
wenn er es richtig macht, binnen der nächsten 12 Monate
stirbt; denn das gilt als günstiges Zeichen. Bleibt er am
Leben, so scheint das gutmüthige und mitleidige Volk der
Tibeter ihm es nicht nachzutragen, daß er ihre Hoffnungen
getäuscht hat, sondern man gestattet ihm, am Ende des Jahres
zurückzukehren und nochmals die Rolle des Sündenbocks zu
spielen. Nach Beendigung der Festlichkeiten und Ceremonien,
welche das neue Jahr einleiten und etwa einen Monat lang
dauern, gelten die Bürger als an Seele, Körper und Be-
hausung gereinigt; das Werk, für welches der Dschalno mit
temporärer Gewalt bekleidet war, ist beendigt, er kehrt in die
Dunkelheit seines Klosters zurück und die Regierung der
Stadt fällt wieder an den Radschah und dessen vier Minister,
welche die Verwaltung des Landes unter dem Dalai Lama,
ihrem geistlichen Oberhaupte, leiten. —
An der Quelle des bei Lhassa vorbeiströmenden Flusses
Kitschu fand der Pandit die Nomaden damit beschäftigt, Vieh
zu verbrennen, das an einer durch ein Insekt verursachten
Krankheit zu Grunde gegangen war. Es scheint das eine
Art flügelloser Käfer zu sein, einen halben Zoll laug, mit
schwarzem Kopfe und dunkelgelbem Leibe, der in ganz Tibet
gemein ist. Derselbe scheint durch sein bloßes Vorkommen
die ganze Umgegend zu vergiften; er kommt in Menge unter
ttheilunge n.
dem Grase vor, welches auf eine gewisse Entfernung hin so
gefährlich wird, daß dort weidendes Vieh sofort von einem
Fieber ergriffen wird. Dasselbe wirkt dann ansteckend und
ergreift anderes Vieh, die Hirten und Leute, welche von dem
Fleische kranker Thiere essen; von den erkrankten Menschen
wie Thieren aber genesen nur sehr wenig. Das einzige
Mittel, welches die Eingeborenen dagegen 'anwenden, ist
prophylaktisch; sie essen geröstete Käfer, wodurch ihr Körper
gegen die giftige Wirkung der lebenden Insekten gestählt wird.
Man findet dieselben nicht leicht, da sie sich stets unter dem
Grase verbergen; nur im Winter sind die Stellen, wo sie
sich gesammelt haben, daran zu erkennen, daß der darüber-
liegende Schnee rasch fortschmilzt. Dann zündet man ein
Feuer über ihnen an und verabreicht die so gebratenen mit
Salz an Menschen und Vieh als Prophylaktikum; e i n Käser
gilt als genügend für einen Mann. (Schon die Alten, Ni-
kander, Plinius und andere kennen den Käfer Buprestis, der,
von Rindvieh gefressen, Entzündung, Aufschwellung rc. her-
vorruft, und Belon berichtet Aehnliches vom Berge Athos;
diese Käfer, ebenso wie die tibetanischen, gehören wahrschein-
lich zu den N^ladrickae.)
Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung.
Ueber Kolonien und Kolonialpolitik ist in den letzten
drei Jahren ganz außerordentlich viel geschrieben worden,
manches Gute, vieles Mittelmäßige. Man könnte eine kleine
Bibliothek aus alle den Bänden und Bändchen, Broschüren
und Flugblättern zusammenstellen, gar nicht von den zahl-
losen Aufsätzen zu sprechen, welche die periodische Presse zu
Tage gefördert hat. Wir Deutschen sind gerade am aller-
eifrigsten in dieser Vielschreiberei gewesen, hauptsächlich
darum, weil alle die Schriften der genannten Jahre Agita-
tionsmittel sein sollten, um eine Stimmung im deutschen
Volke hervorzurufen, die allerdings schon früher einmal da-
gewesen, dann aber infolge von mancherlei Fehlgriffen fast
gänzlich verschwunden war, heute aber bereits wieder so leb-
haft erwacht ist, daß dieselbe eher eines Dämpfers als einer
Ermuthigung bedarf.
Eine große Zahl jener meist schon wieder der Ver-
gessenheit anheimgefallenen Schriften fußte auf dem Buche,
das augenblicklich vor uns liegt. Roscher's „Kolonien, Kolo-
nialpolitik und Auswanderung" sind seit lange ein stanckai-ä
work der Deutschen gewesen. Auch diejenigen, welche nicht
voll und ganz mit dem gelehrten Verfasser in allen seinen
Ausführungen zu gehen vermochten, mußten zugestehen, daß
hier in nirgends sonst versuchter Weise eine streng wissen-
schaftliche, unparteiische, klare und durchaus gemeinverständ-
liche Darstellung der beregten Fragen gegeben sei. In seiner-
neuen, dritten Auflage hat das Werk sehr bedeutend gegen
seinen letzten Vorgänger gewonnen. Manche Ansicht hat eine
Modifikation erfahren oder ist doch zurückgetreten gegen neue,
aus der Entwickelung der Dinge hervorgegaugene An-
schauungen. Aber noch immer blickt Roscher hoffnungsvoll
nach Osten, der, wie er einst sagte, so Gott will, einmal das
Erbe Deutschlands werden soll. Freilich erscheint es heute
bei dem Anstürmen von Magyaren und Slaven nebst allen
ihnen zugehörigen Volkspartikeln, von denen jedes den Mund
voll genug zu nehmen versteht, als ob diese Hoffnung in
weite Ferne gerückt sei. Doch müssen wir für unser Theil
bekennen, daß wir diese Hoffnung voll und ganz theilen, wir
Aus allen Erdtheilen.
191
meinen, unser Tag wird schon noch kommen. Bleiben wir
nur fest auf unserem Posten und helfen wir anderen, daß sie
auf dem ihrigen ebenso fest ausharren können.
Roscher hat sich bei dieser neuen Auflage einen Gehilfen
gesucht. Er hat mit Meisterschaft die Naturlehre der Kolo-
nien, d. i. die verschiedenen Arten ihres Entstehens und
ihres Charakters, sowie die Kolonialpolitik der verschiedenen
Nationen systematisch dargestellt; die Aufgabe aber zu erörtern,
wie eine deutsche Kolonialpolitik sich zu bethätigen habe, wie
und wohin unsere deutsche Auswanderung geleitet werden
müsse, wie endlich Handel und Kolonisation in engster, sich
gegenseitig befruchtender Wechselwirkung stehen, lauter Fragen,
die jeden patriotischen Deutschen heute aufs Lebhafteste be-
wegen, hat er einer jüngeren Kraft R. Jannasch übertragen.
Seine Arbeit lehrt uns den Verfasser als Theoretiker wie
als Praktiker kennen. Wenn in derselben uns etwas beson-
ders sympathisch gewesen ist, so ist es die ruhige, durchaus
objektive Behandlung der ihrer befriedigenden Lösung heute
immer noch harrenden Fragen. Namentlich seine Ausfüh-
rungen über die Regelung des Auswanderungswesens möchten
wir unseren Staatsmännern und Gesetzgebern auf das
Angelegentlichste empfehlen. Nur auf dem von ihm vorgezeich-
neten Wege werden wir endlich einmal aus einem für ein
großes Volk wahrhaft beschämenden Mißstande herauskommen.
Mit großer Befriedigung haben wir das gelesen, was Jan-
nasch über das Konsulatswesen sagt. Es ist in jüngster Zeit
bei manchen Mode geworden, auf die Abschaffung der Handels-
konsuln zu dringen, wo es immer auch sei, und ihre Ersetzung
durch juristisch-gebildete Berufskonsuln als das einzig Richtige
hinzustellen. Wir haben nach unserer Erfahrung in diesen Ruf nie
einstimmen können und wir freuen uns, hier von kompetenter
Seite eine Bestätigung unseres Urtheils zu finden. Wenn aber
einmal Berufskonsuln vorzuziehen sind, weshalb sollten Aerzte,
Naturforscher, Ingenieure, Architekten, Bergleute, welche Jahre
lang Gelegenheit hatten, die Zustände überseeischer Länder
und den Charakter der Bewohner derselben kennen zn lernen,
nicht ebenfalls geeignet sein, Berufskonsulate mit Er-
folg zu verwalten? So fragt Jannasch und wir mit ihm.
Bekanntlich ist ja die Reichsregierung in jüngster Zeit mehr-
fach von der alten Praxis abgewichen. Endlich möchten wir
noch die am Schluß des Werkes in einer Reihe von Thesen
zusammengefaßten Erörterungen über Handel und Kolonisa-
tion als die Quintessenz dieses hochwichtigen Kapitels dem
Studium des Lesers ganz besonders empfehlen. Sie schaffen
über vieles, was heute wirr und dunkel selbst bei Gebildeten
umherschwirrt, erfreuliche Klarheit. Diese Klarheit ist über-
haupt eine der hervorragendsten Vorzüge des Buches, das
allen, die sich für die Kolonialfrage interessiren — und wer
möchte sich jetzt von diesem Kreise ausschließen? — warm
empfohlen sei.
Aus allen
Afrika.
— Spanien will auch seinen Antheil an Afrika
haben. Während man früher erwartete, es werde die gün-
stige Gelegenheit benutzen, um Fernando Poo, Annobon und
die Corisco-Jnscln, die ihm seit Jahren eine unnütze Last
sind, los zu werden, macht es jetzt auf einmal große Anstren-
gungen, um Fernando Poo zu kolonisiren. Missionare
sind hingesandt worden, um die Bubics zu bekehren und auf
den Canaren wirbt man Ansiedler an, um die Insel zu
kultiviren. Da durch den Rückgang der Cochenillezucht und
die Reblaus die ohnehin armen Bewohner der Kanaren noch
ärmer geworden sind, folgen viele den lockenden Anträgen;
man bietet ihnen freie lleberfahrt, 20 bis 25 Morgen Land —
allerdings Urwald, den sie erst umroden müssen — für jeden
Arbeiter Ackergeräthschaften und Saatfrncht, sowie drei Jahre
lang Verpflegung ans Staatskosten. An Kolonisten wird es
somit nicht fehlen; es ist nur die Frage, ob sie das Klima
aushalten. Allerdings sind die Spanier und noch mehr die
stark mit Berberblnt gekreuzten Canarenser widerstandsfähiger
als andere Nationen, aber nach den Berichten von Soyaux
leiden die Spanier wenigstens sehr vom Klima. Auch ist zu
berücksichtigen, daß die Bubics auf ihre Unabhängigkeit eifer-
süchtig und gute Schützen sind. Spanien hat zu Ende der
fünfziger Jahre, als es die Insel von den Engländern zurück-
erhielt , schon einmal einen großen Anlauf zur Kolonisation
derselben genommen, um sie nach kurzer Zeit völlig sich selbst
zn überlassen.
Außerdem hat die spanisch-afrikanische Compagnie an der
Saharaküste zwischen Kap Bojador und Kap Branco
einige Küstenpunkte besetzt, theils als Fischereistationen, theils
aber um einen Handelsverkehr zunächst mit der Oase Ad rar
und dann weiter über Walata mit Timbuktu und dem
Sudan zu eröffnen. Zwischen Adrar, das seither nur zwei-
mal von Europäern besucht wurde (1850 von Panet, 1860
von Vincent) und Timbuktu einerseits und den Stationen
am Senegal andererseits besteht schon Karawanenverkehr, und
Erdtheilen.
die Araber auf dieser Strecke sind Kaufleute genug, um den
Vortheil einer Verbindung zu erkennen, die sie von dem
Senegal unabhängig macht und ihnen den langen gefähr-
lichen Marsch durch die Sahara erspart, wo sie im Sus
immer Plünderung zu befürchten haben; sie können außer
den Sudanwaaren im engeren Sinne besonders Gummi
zum Verkauf bringen, das in der ganzen Platcauregion süd-
lich der eigentlichen Sahara in Menge produzirt werden
kann. Für die Franzosen ist diese Niederlassung sehr unan-
genehm, da sie den Verkehr vom Senegal ablenken wird und
außerdem offenbar den Zweck hat, einen Keil zwischen Sene-
gambien und Marokko einzuschieben. — Wenn aber die
deutsche Kolonialzeitnng, der wir vorstehende Notiz ent-
nehmen, aus der „Epoca" ganz gemüthlich abdruckt: „des-
gleichen errichtet die genannte Kompagnie eine Filiale in
Timbuktu", so heißt das denn doch Zukunftsmusik für
Thatsache nehmen; bis einmal europäische Filialen in Tim-
buktu errichtet werden können, mag noch mancher Tropfen
Wasser den Niger hinabfließen.
Nordamerik a.
— Lieutenant P. H. Ray hat den bei Point Narrow
(Alaska) mündenden Meade River etwa hundert Milcs
weit verfolgt; er konnte hier die Wasserscheide gegen den
Kotzebuesund, eine niedere Hügelkette, erkennen, aber seine
Führer weigerten sich, weiter zn gehen. Der Fluß fließt
durch eine öde, unbewohnte, nur hier und da mit einigen
Polarweiden bestandene Ebene, die dicht mit Moos bedeckt
ist. Im Sommer kominen mitunter Eskimos ans Nunuk
und Uglamie hierher auf die Renthierjagd.
— Zur Erforschung der Länder zwischen Kanada
und der Hudsonsbai sind drei Expeditionen be-
stimmt; die eine geht vom Lake St. John, in dessen Nähe
sich schon zahlreiche Ansiedler niedergelassen haben, aus, die
andere folgt dem River Betsiannts, die dritte geht von
192
Aus allen Erdtheilen.
Neufundland aus der Küste entlang und soll an mehreren
günstigen Küstenpunkten Ueberwinterungsstationen errichten.
Auch die Umgebung des neuerdings so viel genannten Lake
Mistassini soll genauer erforscht werden, und wenn die An-
gaben der Trapper über die Fruchtbarkeit der Gegend sich
bestätigen, dürften den Forschern bald Kolonisten folgen.
— Eine Vergleichung der Jndustriethätigkeit in
Kanada für die Jahre 1878 und 1884 weist eine bedeu-
tende Zunahme nach. 1878 wurden 26 764 Arbeiter ver-
wendet, 1884 47 828. Die Löhne stiegen von 7290000 Dol-
lars aus 15189 000, der Werth der Erzeugnisse betrug
32 554 000 und 77 543 000 Dollars und das in den Unter-
nehmungen verwendete Kapital resp. 24353000 und 39488000
Dollars.
Südamerika.
— Kürzlich trat Everard F. im Thurn auf Kosten
der Royal Society und der Royal Geographical Society
eine neue Reise in das Innere von Britisch-Guiana
an. Wie ein in Kew eingegangenes Telegramm meldet
(f. Nature, 12. Febr. 1885), ist demselben gelungen, was seit
einem Vierteljahrhundert das erstrebte Ziel botanischer For-
schung in Südamerika gewesen ist: die Ersteigung der aus
einer 6000 Fuß hoch gelegenen Savanne circa 2000 Fuß hoch
senkrecht aufsteigenden Sandsteinmasse des Berges Ro-
raima. Derselbe wurde zuerst von den Gebrüdern Schom-
burgk 1840 erblickt und beschrieben (vergl. „Globus", Bd.46,
S. 12); er ist oben tafelförmig abgeflacht. Sein Umfang ist
unbekannt, weil bis jetzt noch kein Forscher ihn umgangen
hat; dabei ist er von Waldungen bedeckt und von den Seiten
ergießen sich zeitweilig ansehnliche Wasserlaufe. Bis jetzt
wurde der Berg noch nicht erstiegen und ist möglicherweise
auch ohne weiteres weder für Menschen noch Thiere besteig-
bar, so daß angenommen werden kann, daß sich dort oben
ein Urtypus von Fauna und Flora unbeeinflußt durch später
aufgetretene Formen erhalten hat. — Am 5. December 1884
war im Thurn bereits bis zu einem Prächtigen Plätzchen in
5600 Fuß Höhe hinaufgestiegen, einem wahren Garten von
Orchideen!und anderen prachtvollen und seltenen Pflanzen,
und wollte sich dort eine Hütte errichten, um eine Woche
oder länger zu botanisiren. Dicht dabei befand sich eine
Stelle, wo der Berg ersteigbar zu sein schien.
Polargebiete.
— Ueber die von norwegischen Walfängern gemachte
Entdeckung zweier neuer Inseln in dem Meere
zwischen Spitzbergen und Franz - Joses - Land
liegen nähere Angaben in der „Mail" vom 11. Februar vor.
Im vorigen Sommer herrschten dort ganz ungewöhnliche
Eisverhältnisse: das sonst von Packeis erfüllte Meer östlich
von Spitzbergen war freier als seit langer Zeit, während
die Westküste Spitzbergens, welche sonst von Beginn des
Sommers an zugänglich ist, durch einen Gürtel von Landeis
blockirt wurde. Es war das eine Folge der im Frühling
und Sommer bei Spitzbergen herrschenden Südwest-, West-
und Nordwinde, welche das Eis an den westlichen und nörd-
lichen Küsten aufhäuften, das Meer im Süden und Osten
vom Eise frei machten und es nach der Westseite von Nowajn
Zemlja und in das Meer zwischen dieser Insel und Franz-
Josef-Land führten (vergl. „Globus", Bd. 46, S. 254). Diese
Verhältnisse waren die Veranlassung, daß mehrere Fang-
schiffe von dem spitzbergischen Archipel nach Osten fuhren
und dort neue Inseln entdeckten. Zuerst fuhr H. C. Jo-
hann es en, welcher bei Nvrdenskiöld's Umsegelung von
Asien die „Lena" befehligte, am 15. August von den Ryk-As-
Inseln (bei Edge-Jnsel, Südosten von Spitzbergen) ostwärts
nach König Karl- oder Wiche-Land, und an dessen Südküste
entlang bis 34° östl. L. Gr., 781/2() nördl. Bp., von welchem
Punkte aus er zwei bis dahin unbekannte Inseln sich nach
Osten erstrecken sah, soweit das Auge reichte. Sie erschienen
ihm als theils kahle, theils mit Schnee bedeckte Tafelberge.
Am 21. August kehrte Johannesen um. — Kapitän H. An-
dreassen, von der Sloop „Elieser", begleitete Johannesen
nach König Karl-Land und befand sich am 20. August etwa
22. Meilen vom Lande. Am nächsten Tage steuerte er in
nordöstlicher Richtung nach der östlicheren der beiden neuen
Inseln, bis er sich in 78° 24' nördl. Br. und etwa 36° östl. L.
gengu der etwa 4 Seemeilen breiten Meeresstraße zwischen
beiden gegenüber befand. Der Sund zwischen der west-
licheren und König Karl-Land wurde auf 12 Meilen Breite
geschätzt. Die beiden neuen Inseln bilden mit König Karl-
Land eine von SW nach NO oder ONO sich erstreckende
Gruppe, welche in der östlicheren der beiden neuen Inseln
ihr Ende zu erreichen scheint. Die mittlere Insel, ein
einziges domförmiges Hochland, ist nach Audreassen etwas
kleiner, die östliche etwa ebenso groß wie König Karl-Land;
letztere bildet ein Hochplateau, dessen Ränder nach SW und
NO steil abstürzen. Während der nächsten paar Tage um-
segelte Andreassen die Westspitze von König Karl-Land und
glaubte von dessen Nordseite aus im NO noch eine dritte
Insel zu sehen, welche also nördlich von der östlichsten der
neuen Inseln liegen müßte und vielleicht mit der sogenannten
Weißen Insel identisch ist. — Der (anonyme) Einsender in
den „Times" bespricht zuletzt die Namenfrage; er weist nach,
daß das 1870 von Th. von Heuglin angeblich neugefnndene
König Karl-Land bereits 1617 von Engländern entdeckt und
Wiches Island benannt worden ist, und schlügt deshalb ver-
nünftiger Weise vor, der westlichsten Insel diese Bezeichnung
zu belassen, den Namen König Karl-Land aus die ganze
Gruppe zu übertragen und den Norwegern die Benennung
der beiden neugefundenen Inseln anheimzustellen.
— Die Untersuchungen und Vermessungen an der West-
küste von Grönland sollen auch in diesem Jahre unter
Leitung des dänischen Marine-Premierlieutenants Jensen
fortgesetzt werden. An der Expedition, die Ende März von
Kopenhagen abgehen soll, nimmt außer Premierlieutenant
Ryder noch Cand. med- Sören Hansen Theil, welchem
letzteren besonders die anthropologischen Untersuchungen über-
tragen worden sind. Hauptsächlich soll das zwischen Godt-
haab und Sukkertoppen belegene Küstenland kartirt werden.
Inhalt: Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien. XXII. (Mit fünf Abbildungen.) — Das Togo-Gebiet.
(Mit einer Karte.) — Thorvaldur Thoroddson: Die Erforschung des Inneren von Island. (Deutsch von H. Mar-
tens.) — Nekrologe. — Kürzere Mittheilungen: Das Neujahrsfest in Lhassa. — Kolonien, Kolonialpolitik und Aus-
wanderung. — Aus allen Erdtheilen: Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. — Polargebiete. (Schluß der Redaktion:
21. Februar 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicweg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Herücksicbtignng der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich
Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Dieulasoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
XXIII.
Beim Ausritte aus dem Dorfe Sarvistan hatten die
Reisenden den Bergpfad, welcher den stolzen Namen „Alte
Straße nach Bender Abbas" führt, verlassen und waren
drei Stunden lang in einem wilden Thale hin geritten. Am
Ende dieser mit trockenen, harten Gräsern bedeckten Ebene
liegen die imposanten Ruinen eines Palastes, dessen Ge-
sammtanblick an die alten Mogul-Moscheen erinnert. Doch
modificirt sich dieser Eindruck, wenn man das Innere
betritt; die riesigen Ziegeln, welche ans dem Boden umher-
liegen, der elliptische Umriß der Bogen und der Kuppel
und die wenigen Ornamente an den Mauern haben einen
sehr ausgesprochenen archaischen Charakter. Der inter-
essanteste Theil des Gebäudes ist unstreitig der große
quadratische Saal in der Mitte; der Dom, welcher sich
über demselben wölbt, ist von eiförmiger Gestalt und ruht
aus vier Strebebogen, welche die Basis der Kuppel mit
den senkrechten Mauern des Saales in Verbindung bringen;
letzteres eine der bedeutendsten architektonischen Erfindungen
der Byzantiner.
Neben diesem centralen Saale ziehen sich lange Galerien
hin, die durch von ausgemauerten Säulen getragene Pfeiler
in einzelne Nischen getheilt werden. Die Säulen sind
schwerfällig, die Pfeiler massig, und das Gesims besteht
einzig aus einem Zahnschnitte zwischen zwei Leisten. Die
technische Ausführung dieses Theiles des Bauwerkes steht
mit der Geschicklichkeit des Architekten, welcher den Plan
des Ganzen entworfen, und der Kühnheit der Maurer,
welche die Kuppel gewölbt haben, in gar keinem Verhält-
nisse. Die Bestimmung seines Alters ist ziemlich schwierig;
Globus XLV1I. Nr. 13.
doch scheint es ans vorislamitischer Zeit herzurühren. Ein-
heimische Legenden, denen nicht viel Werth bciznmessen ist,
schreiben die Erbauung der unterirdischen Wasserleitungen
und die Blüthe dieses Theiles von Fars der Achümcniden-
zeit zu; das ist die einzige Ueberlieferung, an welche man
anknüpfen könnte. Wenn man andererseits sieht, daß die
Achämeniden stets Fars in Besitz gehabt haben, daß die
zahlreichen Festungen auf den Bergen um Schiraz und die
tiefen, in den Fels gebohrten Brunnen dort und bei Sar-
vistan ihr Werk sind, so kommt man wohl auf den Ge-
danken, daß der Palast zu einer Zeit erbaut worden ist, wo
sich Fars großen Wohlstandes erfreute, und die noch vor
der Sassanidenzeit liegt. Die Fürsten dieser letzteren Epoche
hielten sich stets in Schuster und in den nordwestlichen
Provinzen auf, d. h. in der Nähe der von den Römern
bedrohten Provinzen, und kümmerten sich nicht um Fars,
wie die totale Verödung des achämenidischen Schiraz beweist.
Alles, was die einheimischen Begleiter Dieulasoy's über
den Palast zu erzählen wußten, war, daß derselbe einst als
Küche gedient habe, und daß in dem Kuppelsaale köstlicher
Pilaw zubereitet worden sei; Läufer hätten dann die rau-
chenden Schüsseln im schnellsten Galopp dem Herrscher
gebracht, der sein Hoflager auf einer Burg im nahen Ge-
birge aufgeschlagen hatte.
Am Nachmittage des 1. November verließ man die
Trümmer des Palastes und ritt einen Richtweg nach
Mi and sch an gal, der ersten Station in der Richtung
nach Darab. Da es schon zu spät war, um in dem Hause
des Ket-choda Aufnahme zu verlangen, so richteten sie sich
25
194
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien,
in einem ganz verfallenen Imamzadeh (Grabkapelle) ein,
wo sich schon Bettelmönche niedergelassen hatten. Die
Folgen davon zeigten sich bald: sie wurden von massen-
haften Läusen heimgesucht, und die Worte, mit welchen sie
der eine ihrer Soldaten zu trösten suchte: „Diese Thierchen
werden euch Glück bringen, sie kommen von Mekka", trugen
wenig zu ihrer Beruhigung bei. Mit Tagesanbruch ver-
ließen sie das unappetitliche Nachtlager. Der Weg führte
zuerst durch einen Engpaß, den Tang-i-Karim, senkte sich
dann in ein schmales Thal zwischen malerischen Bergen
hinab und trat in eine fruchtbare, mit zahlreichen Dörfern
bedeckte Ebene. In Nabandagan jedoch, ihrem Nacht-
quartier, wurde Marcel Diculafoy wiederum von der Krauk-
heit befallen, welche ihm im Dorfe Sarvistan so schwer
zugesetzt hatte, und da es Thorheit gewesen wäre, sich in
einem solchen Zustande in ein fast wildes Land zu wagen,
Seitengalerie des Palastes von Sarvistan. (Nach einer Photographie der Mme. Diculafoy.)
so gab mau die Reise nach dem nicht mehr fernen Darab
ans. Trotzdem die Soldaten in der Ferne die Baumgruppen
zeigten, in deren Schatten der Ort liegen sollte, so hatte
doch Marcel alles Interesse an der Weiterreise verloren
und wünschte so rasch als möglich nach Schiraz zurückzu-
kehren, um ärztlicher Hilfe nahe zu sein, Nach einem
Ruhetage in Nabaudagau legte man am 4. November die
beiden Märsche bis Sarvistan zurück, hielt sich dort aber
nicht auf, sondern setzte die Reise bis Kundschun fort. Hier
besserte sich der Zustand Marcel's so, daß es ihm bitter-
leid that, umgekehrt zu sein; nochmals aber den Weg nach
Darab einzuschlagen, ging nicht gut an, uud so entschloß
man sich, Schiraz aufzugeben und die südwestliche Richtung
nach der Küste über Firuzabad einzuschlagen.
Als man aus dem Gebirge, dessen Oede und Kahlheit
sich nicht von denen anderer persischer Gebirge unterschied,
herauskam, gelangte man in eine prächtige Ebene von noch
größerem Umfange, als die von Sarvistan. Die zum Theil
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
195
Kadschaveh der Frau eines Rosenölhändlers. (Nach einer Skizze Marcel Dieulafoy's.)
196
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
vor wenigen Tagen besäeten Felder zeigten schon sprossendes
Grün; Frauen und Kinder richteten die Bewässerungsgraben
her; anderwärts gruben Männer den Boden um und hinter
ihnen gingen langsam die Säeleute einher und warfen mit
voller Hand das Korn in die Furchen. Seit Weramin
hatten die Reisenden kein so reiches und lachendes Stück
Ackerlandes gesehen. Zur Nacht blieben sie im Dorfe
Kawar, wo die Wege von Schiraz nach Lar und von Schiraz
nach Firuzalmd zusammentreffen, und fetzten die Reife am
frühen Morgen des folgenden Tages fort. Der Weg nach
Firuzabad führt zuerst über einen Berg von Unrath und
darauf durch eine enge, schattige Felsschlucht bergauf. Nach
mehreren Stunden mühsamen Anstieges war die Paßhöhe
erreicht, von wo sich dem Auge ein merkwürdiger Blick
darbot. Sonst ist dasselbe gewöhnt, nur auf wilden, kahlen
Abhängen und nackten Felsen zu ruhen, hier aber sah es
baumartige Gebüsche, Chonar mit Namen, durch welche cs
die größte Mühe kostete, sich hindurch zu winden, ohne daß
die Augen der Reiter und die Ohren der Maulthiere zu
Schaden kamen. So knorrig die unter den dichten, bis auf
den Boden herabhängenden Zweigen versteckten Stämme
find, ebenso leicht und zierlich ist die Blattbekleidung; das
beste an der Pflanze sind ihre Früchte, Beeren von köst-
Basrelief von Firuzalmd. (Nach
obendrein durch Geröllabstürze mitunter verwischt wird,
kenntlich zu machen und Reisende vor der Gefahr des Ver-
irrens zu bewahren.
Weiterhin im Gebirge treten an Stelle der knorrigen
Gebüsche Bäume von mittlerem Wüchse, deren kugelrunde
Krone auf einem kurzen, runzeligen Stamme ruht. Aus
dem dichten und ziemlich hellgrünen Laube leuchten Trauben
von schön zinnoberrother Farbe hervor, von welchen Mme.
Dieulafoy nicht weiß, ob sic dieselben Früchte oder Blüthen
nennen soll. Bon weitem sehen dieselben unregelmäßig
aus wie ein Schwamm; bei näherer Betrachtung aber zeigt
es sich, daß sie ans einer Menge kleiner einzelner Stiele
bestehen, welche durch Gestalt, Farbe und Glanz an rothe
KoraUenzwcigc erinnern. Die Maulthiertreiber sammelten
eine Menge davon und verhießen, daß dieselben, gekocht,
eine vorzügliche Speise für die Abendmahlzeit abgeben
würden. In der That, se tiefer man abwärts stieg, was
feit einigen Tagen der Fall war, um so schöner wurde das
bisher so öde und traurige Persien: man sah wieder Wasser,
Gießbäche und Kaskaden, und am Ufer derselben eine un-
durchdringliche Vegetation, bestehend aus Akacien, immer-
grünen Eichen, Buxbaum mit weißen Büthen, baumartigem
Weißdorn, dessen rothe duftige Beeren die Größe einer
lichcm Geschmacke, mit weichem, süßem Fleische wie dem
der Pflaume. Aber beim Einsammeln derselben mag man
Acht geben, daß man sich die Finger nicht zersticht.
Aber solche Vorzüge einer Landschaft gelten nichts in
den Augen der Karawanen, welche sie durchziehen. Sol-
daten, welche auf der Paßhöhe lagerten, theilten den Reisen-
den mit, daß noch vor Jahresfrist eine regelmäßig organi-
sirte Räuberbande den Berg und die Engpässe unsicher-
gemacht hätte und dabei so gründlich und umsichtig zu
Werke gegangen wäre, daß die Straße zwischen Schiraz
und Firuzabad vollständig von Karawanen vermieden wor-
den wäre. Als dann Sahabi Divan zum Gouverneur von
Schiraz ernannt wurde, beschloß er diesem Zustande ein
Ende zu machen und sandte Soldaten gegen die Wege-
lagerer aus. Der Kampf hatte ans beiden Seiten starke
Verluste zur Folg^.; doch wurde eine große Anzahl von
Räubern gefangen genommen, mehrere davon erlitten die
fürchterliche Strafe des Eingegipstwerdens und Verhungerns
und der Rest wurde zersprengt und konnte das Feld nicht
länger halten. In dieser wenig bereisten Gegend fielen
auch Steinhaufen auf, die an weithin sichtbaren Plätzen
errichtet waren und den Namen Muschune führen. Sie
dienen dazu, die sonst wenig kenntlichen Wege, deren Spur-
Kirsche erreichten, und wilden Feigen mit kaum haselnuß-
großen Früchten.
Uebernachtet wurde in Deh Nü, einem Dorfe von
ziemlich ärmlichem Aussehen, an dessen Eingänge Männer
und Frauen damit beschäftigt waren, Reis zu enthülsen.
Bei Einbruch der Nacht ertönte von der Terrasse des von
ihnen bewohnten Hauses in langsamem Rhythmus ein Ge-
sang von bizarrem Reize, untermischt mit unvermittelt
hinter einander ausgestoßenen tiefen und hohen Tönen.
Es war ein Diener des Kct-choda von Deh Nü, der diese
vom Koran als Allah ganz besonders wohlgefällige Funk-
tion des Mollah erfüllte, und das mit so rührender Ueber-
zeugungstreue, daß sein „Es giebt keinen Gott außer Allah"
den Reisenden unvergeßlich blieb. Am nächsten Morgen
weckte sie derselbe Ruf, und noch vor Tagesanbruch saßen
sic zu Pferde. Es war so kalt, daß ihnen die Fingerspitzen
erstarrten und sic gern die Gelegenheit ergriffen, sich kaum
ein halbes Kilometer vom Dorfe entfernt, an großen Feuern,
welche Hirten angezündet hatten, zu erwärmen. Von dort
ans konnten sic die vor ihnen liegende Ebene übersehen und
bemerkten mit Erstaunen, wie die weiße Linie des Weges
plötzlich am Fuße einer Felswand ihr Ende erreichte. Aus
Befragen aber verneinten ihre Führer, daß man jene Berge
Dienlafoy's Reise in Westpersien und Babylonien,
198
Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien.
übersteigen müsse und erklärten, daß der Weg von Deh No
bis FiruzabLd sich beständig senke. Und in der That, als
man scne Felswand erreichte, verschwand der die Spitze
bildende Gholam plötzlich hinter einem Vorsprunge, welcher
eine enge Spalte vollständig verbarg und ein würdiges
Gegenstück zu den Uort68 cks bar in Kabylien oder der
Rolandsspalte in den Pyrenäen ist. Bald wird das Thal
weiter, der Pfad läuft auf dem linken Bergeshange entlang,
führt zum zweiten Male durch ein ähnliches Thor und tritt
zuletzt in eine prächtige Schlucht, welche ein wilder, von
Ginerium und Oleander eingefaßter Bach durchrauscht.
Gegen 2 Uhr Nachmittags traf man auf eine kleine,
von Schiraz kommende Karawane von Eseln; jedes Thier
derselben war mit zwei großen Flaschen voll Rosenöl be-
laden, deren zerbrechliches Glas nur mäßig durch eine dicke
Strohdecke gegen etwaige Stöße geschützt war. Es war
Inneres des Hauptraumes im Palaste von Firuzabad. (Nach einer Photographie der Mme. Dieulafoy.)
gar nicht nöthig, sich unter den Zug zu mischen, um Wohl-
gerüche cinznathmcn; beim Ausgleiten und Hinstürzen hatten
die armen Thiere schon manches Gefäß zerbrochen oder-
angeschlagen , so daß ihr Fell mit dem duftenden Nasse
getränkt war und einen Geruch verbreitete, wie er ans dem
Bazar der Drogenhändler in einer Stadt des Orients
herrscht. Bei dem Zuge befand sich auch die Frau des
Rosenölhändlers, welche die Reise in einem von einem
Pferde getragenen Kadschaveh zurücklegte.
Weiterhin kam man in einen letzten, sehr engen Paß,
den einst ein Schloß, Kalc Dochtar (Mädchenburg) mit
Namen, von schwindelnder Höhe ans beherrschte. Der Weg
muß in früheren Zeiten viel begangen worden sein, und
vielleicht knüpften sich auch an die Vertheidigung des Passes
ruhmreiche Erinnerungen, denn auf einer dem Schlosse
gegenüber liegenden Felswand, welche rechts vom Wege
anfragt, befindet sich ein an 20 m langes sassanidisches
Relief mit kämpfenden Reitern, welches leider schon so zer-
Prshewalski's neue Reise in Nordost-Tibet.
199
stört ist, daß man aus weiterer Entfernung keine Einzel-
heiten mehr unterscheiden kann, während bei einem nahen
Standpunkte dem Beschauer der Ueberblick verloren geht.
Nachdem auch diese Schlucht passirt ist, gelangt man
plötzlich in eine grüne Ebene, in welcher sich aus einem
natürlichen Hügel auf der rechten Seite des Flusses die
großen Ruinen des Palastes von Firuzablld erheben. Von
außen sehen dieselben höchst imposant aus und auf den
ersten Blick auch viel massiver, als diejenigen bei Sarvistan.
Tritt man hinein, so erstaunt man über die Einfachheit des
Planes und den majestätischen schmucklosen Stil. Zuerst
gelangt man in eine weite gewölbte Vorhalle, welche durch
große Bogen mit vier symmetrisch zu der Axe der Vorhalle
und des ganzen Gebäudes angeordneten Räumen in Ver-
bindung steht. Dann folgt ein großer mit einer eiförmigen
Kuppel bedeckter Saal und darauf ein mit Schutt bedeckter
und mit wilden Feigenbäumen bewachsener Hof. Rechts
und links von dem centralen Raume liegen zwei ganz ähn-
liche, der zur Linken völlig zerstört, wie überhaupt die ganze
Seite nach Firuzabad hin, der zur Rechten dagegen noch
vollständig erhalten. Die Thüren, welche zu diesen Sälen
führen, und die der Symmetrie halber daneben angebrachten
Nischen sind mit Gipsornamenten verziert, welche in allen
Einzelheiten den griechischen und ägyptischen Formen der
persepolitanischen Palastthore gleichen. Auf dem Hofe hat
sich am Ende eines mit einem Halbzirkelgewölbe überdeckten
Gemaches die Treppe eines geräumigen Zirzamin erhalten,
eines jener Kellerräume, in welchen die Perser noch heute
während des Sommers sich aufhalten, und die sie nur
Abends verlassen, um auf den Terrassen ihrer Häuser frische
Luft zu schöpfen.
Die Ebene rings um den Palast ist mit Erdhaufen und
Scherbenhügeln, den letzten Resten einstiger Häuser, über-
säet, und vor der großen Vorhalle dehnt sich noch zwischen
verfallenen Seitenwänden und Gestrüpp ein künstlicher See
aus, dessen Wasser durch eine unterirdische Leitung aus dem
Flusse herbeigeführt wurde. Was die Entstehungszeit des
in so argem Verfalle daliegenden Bauwerkes anlangt, so
möchte sie Dieulafoy wegen seiner sehr alterthümlichen
Wölbungen und der griechisch-ägyptischen Thürverzierungen
bis in die Achämenidenzeit zurück verlegen.
Als die Nacht hereinbrach, verließen die Reisenden die
Ruinen und begaben sich längs des von prächtigen Feigen-
bäumen und hohen Palmen eingefaßten Flusses zum Ueber-
nachten nach dem Dorfe Firuzabad gadim (d. i. dem alten),
in dessen schlecht gebauten Häusern nur arme Bauern im
bunten Durcheinander mit ihrem Vieh hausten, während
die reichen Leute der Gegend alle in Firuzabad no (dem
neuen) wohnen, dessen von einer üppigen Vegetation um-
gebenen Häuser in einer Entfernung von 8 bis 10 km
sichtbar waren.
(Fortsetzung folgt in einer späteren Nummer.)
PrshewalskOs neue Reise in Nordost-Tibet.
Ueber den ersten Theil seiner neuen Reise in Tibet hat
Oberst Prshewalski mehrere Briese an den Großfürstcn-Thron-
solger von Rußland gerichtet, welche in der „St. Petersburger
Zeitung" vom 27. und 28. December 1884 (8. und 9. Januar
1885) in deutscher Uebersetzung erschienen sind. Die beiden
ersten, ck. ck. Urga, 7. November 1883 und Kloster Tschöbsen,
10. März 1884, behandeln Gegenden, welche unseren Lesern
aus den früheren Berichten des Reisenden bereits bekannt sind
und deshalb hier übergangen werden. Dagegen geben wir den
dritten Bries wieder, welcher die Entdeckung der Quellen des
Hwang-Ho oder Gelben Flusses (vergl. „Globus", Bd. 46,
E. 335) ausführlich schildert.
Ost-Zaidam, den 8. August 1884.
Mitte März verließen wir das gebirgige Gebiet der"
Provinz Kan-su und erstiegen das Plateau desKuku-nor.
Die absolute Höhe des Terrains erreichte hier 10 800 Fuß;
die Wälder hatten weiten Wiesenflächen Platz gemacht, die
eine prächtige Weide für Hausvieh boten. Neben dem
Hausvieh weideten auf denselben Steppen große Herden
Antilopen und wilder Esel, während der Erdboden durch
die zahllosen Schlupfwinkel der Hasenmaus aufgewühlt ist,
eines kleinen Nagers von der Größe unseres Eichhorns.
Diese Hasenmäuse, welche auch in Nord-Tibet sehr zahl-
reich sind, fressen das Gras mit den Wurzeln auf und ver-
wüsten das von ihnen unausgesetzt aufgewühlte Land oft
auf weite Flächen.
Der Kuku-nor selbst, der 250 Werst im Umfang mißt
und ein sehr schöner See ist, war noch mit Eis bedeckt,
wiewohl es bereits Ende März war und wir dazwischen
auch einige warme Tage gehabt hatten. Uebrigens waren
von Schneestürmen begleitete Fröste weit mehr an der Tages-
ordnung. Das Eis auf dem Kuku-nor barst erst im ersten
Drittel des April und wurde in mächtigen Schollen ans
Ufer geworfen, wo es, nach Aussage der Landesbevölkerung,
gewöhnlich bis Anfang Mai liegt. In Folge der lang
andauernden Eisbedeckung des Kuku-nor und des völligen
Fehlens geeigneter Futter- und Nistplütze (Schilf, Gebüsch,
Moorgrund) nehmen am Kuku-nor nur wenig Zugvögel
Aufenthalt; alle, selbst die Wasservögel nicht ausgenommen,
eilen ohne Umschau den behaglichen Stätten unseres Sibirien
zu. Der See ist sehr fischreich, doch ist die Mannigfaltig-
keit der Arten eine geringe. Die Bewohner der Ufersteppen
sind Tanguten und Mongolen. Die Tanguten bedrängen
die Mongolen schwer, oft in Gemeinschaft mit Räubern,
die aus Tibet eintreffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
die Mongolen am Kuku-nor in nicht allzu ferner Zukunft
von den Tangnten völlig ausgerottet werden dürften. Das
gleiche Geschick harrt auch der Zaidam-Mongolen westwärts
vom Kuku-nor.
Zaidam repräsentirt ein von Salzmorästen gefülltes
Kesselthal von 800 Werst Länge und mehr als 100 Werst
Breite, welches in einer verhttltnißmäßig nicht sehr fernen
geologischen Epoche den Boden eines später ausgetrockneten
weiten Sees bildete. Die absolute Höhe des Terrains sinkt
hier aus 2900 Fuß, daher ist hier auch das Klima wärmer
als am Kuku-nor. Nur ist hier die Luft stets mit dichten
Staubwolken gefüllt, welche der Wind von den häufig völlig
kahlen, an besseren Stellen aber mit Tamariskenstanden be-
standenen Ebenen der Salzmoräste aufweht. Eine Spiel-
art der Tamarisken ist für die Bewohner von Zaidam von
großer Wichtigkeit, weil sie ihnen im Herbst in Fülle eine
süß-salzige, an unsere Johannisbeere erinnernde Frucht
liefert, von der sich die dortigen Mongolen nähren.
Ansang Mai trafen wir am Fuße des gen Zaidam die
Vormauer des Hochlandes von Nord-Tibet bildenden Bur-
200
Prshewalski's neue Reise in Nordost-Tibet.
chan-Budda-Geb irges ein, wo ein neuer Abschnitt
unserer Reise begann. Das gesammte überflüssige Gepäck
und die Reserve-Kameele ließen wir unter der Bewachung
von sieben Kosaken in Ost-Zaidam zurück; wir selbst aber
machten uns, 17 Mann stark, auf, um zu den Quellen des
Gelben Flusses und darüber hinaus südwärts so weit als
möglich vorzudringen. Drei Tage brauchten wir zur Er-
steigung des Burchan-Budda, dessen absolute Paßhöhe
15 700 Fuß beträgt. Der Abstieg auf der Südfeite ist
viel leichter, da sich dort bereits das nordtibetanische Hoch-
land anlehnt, welches 14000 bis 15 000 Fuß über dem
Meeresspiegel liegt und eine weite im Westen an den
Pamir, im Süden an den Nord-Himalaya, im Osten an
die Gebirgszüge des eigentlichen Chinas grenzende Fläche
bildet. Im östlichen Theile dieses Hochlandes liegen die
Quellen der beiden berühmten chinesischen Flüsse — des
Gelben Flusses oder Hwang-ho und des Blauen oderJang-
tse-kiang. Trotz der noch vor Beginn unserer Aera von
den Chinesen gemachten und sodann im vorigen Jahr-
hundert von ihnen wiederholten Versuche, die Quellen der
genannten Flüsse zu erforschen, ist ihnen das nicht geglückt.
Nord-Tibet war bis in die letzte Zeit und ist auch zum
Theil heute noch ein der geographischen Wissenschaft völlig
unbekanntes Land.
Nachdem wir den Burchan-Budda überstiegen und noch
etwa hundert Werst auf wüstem Hochlande zurückgelegt
hatten, erreichten wir endlich das ersehnte Ziel — die
Quellen des Gelben Flusses. Das Quellengebiet
des Stromes liegt auf einer absoluten Höhe von 13 600 Fuß.
Die Quellen bilden zwei von Süden und Westen aus den
auf dem Plateau verstreuten Bergen entspringende Flüß-
chen, welche von den zahlreichen Bächlein und Quellen des
60 Werst langen und 20 Werst breiten Odon-Sumpf-
thales gespeist werden. Der Hwang-ho selbst ist hier noch
ein sehr bescheidener, von zwei beziehentlich drei Armen von
je 12 bis 15 Faden Breite gebildeter Fluß mit wenig
Wasser und zwei Fuß Tiefe an den Führten. Zwanzig
Werst von seinem Qnellengebiete entfernt, fällt der Gelbe
Fluß in einen weiten See, dessen Südseite er mit seinen
trüben Fluthen färbt, um sodann ostwärts auszulausen und
bald darauf wiederum in einen gleichen See zu fallen, den
er bereits als bedeutender Fluß verläßt. Nach einer
scharfen Biegung, mit welcher er den von ewigem Schnee
bedeckten Amne-matschin umgeht, durchbricht der Fluß nun
mit seiner reißenden Strömung die Quergebirgszüge des
Kuän-Lün und eilt den Gebieten des eigentlichen China zu.
Sofort beim Betreten der Berge von Nord-Tibet
machten wir die Bekanntschaft eines ganz entsetzlichen
Klimas. Wiewohl wir uns in der zweiten Hälfte des
Maimonats befanden, umwütheten uns nicht selten rein
winterliche Schneestürme und die Nachtfröste steigerten sich
bis zu 23 Grad. Das magere Gras dieser Gegend erlag
aber der Külte nicht und selbst nach starken Nachtfrösten
erwärmte die Sonne die spärlichen Blumen zu neuem Leben.
Allein nicht nur im Mai, sondern selbst im Juni und Juli
brachte jede klare Nacht Fröste bis zu 5 Grad; an den
Tagen aber regnete es fast regelmäßig, mitunter sogar
einige Tage nach einander. Die Menge der Niederschläge,
welche der südwestliche Monsun aus dem Indischen Ocean
hierher bringt, ist so groß, daß Nord-Tibet sich im Sommer
in einen fast ununterbrochenen Sumpf verwandelt. Es
bedarf wohl kaum der Erwähnung dessen, wie schwierig für
uns mit unseren beladenen Kameelen das Passiren dieser
Sümpfe war, und wie schädlich sich das naßkalte Klima
auf diese au Wärme und Dürre gewöhnten Thiere äußerte.
Aber diese wilden Wüsteneien von Nord-Tibet, welche für
den Menschen so wenig gastlich sind, daß selbst die No-
maden auf einen Aufenthalt in diesem Landstrich fast ganz
verzichten — bergen ganze Herden wilder Thiere, und zwar
Paks, Antilopen, Bergschase und selbst Bären, deren es
hier trotz der Waldlosigkeit sehr viele giebt. Täglich begeg-
neten wir einigen und mitunter auch mehr als zehn Bären;
erlegt haben wir einige 30 Exemplare. Der hiesige Bär
ist sehr feige und ergreift selbst verwundet die Flucht, nur
das Weibchen stürzt sich gelegentlich auf den Jäger.
Nachdem wir einige Tage au den Quellen des Gelben
Flusses verbracht, brachen wir weiter südwärts auf und
zum Blauen Flusse oder Dy-tfchju, wie ihn die Tan-
guten hier nennen. Die Gegend repräsentirte wie bisher
ein hügeliges, in seinem größten Theile mit Sümpfen be-
decktes Plateau, das mit drahthartem tibetanischem Ried-
gras bewachsen ist. Die Wasserscheide der beiden großen
chinesischen Ströme hat in der von uns passirten Gegend
14 500 Fuß absoluter Höhe. Weiterhin südwärts im
Stromgebiet des Dy-tschjn verändert sich der Charakter
der Landschaft rasch und verwandelt sich in ein gebirgiges
Alpenland; doch fehlt es in den Bergen noch an Wäldern,
wiewohl die Gräser-Flora ziemlich reich und mannigfaltig
ist. Hier nomadisiren auch mit ihren Pak- und Hammel-
herden die Tanguten des Kam-Stammes, welche uns zwar
nicht besonders freundlich, aber auch nicht feindlich em-
pfingen. Nach etwa hundert Werst schwierigen Weges
durch Gebirgsland erreichten wir die Ufer des hier auf
einer absoluten Höhe von 12 700 Fuß hinfließenden Dy-
tschju. Der von Bergen eingeengte Fluß hatte eine Breite
von 50 bis 60 Faden, sehr trübes Wasser, ungemein
rasche Strömung und große Tiefe. Mit Kameelen einen
solchen Fluß zu überschreiten, war unmöglich und der weitere
Weg nach Süden somit versperrt. Statt dessen wurde eine
Erforschung der großen Seen am Oberlaufe des Hwang-ho
beschlossen. Doch brachten wir zunächst eine kleinen Streif-
zügen in die Umgegend gewidmete Woche am Ufer des
Dy-tschju zu. Während eines unserer Streiszüge wurden
wir von den Tanguten vom entgegengesetzten Stromufer
aus mehrfach beschossen.
Auf dem bisherigen Wege kehrten wir ins Quellen-
gebiet des Gelben Flusses zurück, von wo wir in einer-
neuen Richtung zu dessen Seen vordrangen. Den Weg
suchten Streifwachen auf, da wir keine Führer hatten. Aus
Bewohner stießen wir nirgends; die benachbarten Tan-
guten verfolgten aber unsere Bewegungen und machten am
frühen Morgen des 13. Juli mit einer etwa 300 Btann
starken Reiterschar einen plötzlichen Ueberfall auf uns. Die
ganze Horde hatte sich in der Finsterniß an unsere Lager-
stätte herangeschlichen und stürzte sich nun mit wildem
Geheul auf uns. Glücklicherweise waren wir bereits wach
und rasch zur Gegenwehr bereit. Zuerst fiel der verein-
zelte Schuß des die Wache habenden Kosecken, sodann ein
zweiter, ein dritter und bald war das Gewehrfeuer in
vollem Gange. Unser kleines Lager war in wenigen Augen-
blicken von einer Feuerlinie umgürtet. Die Räuber, welche
uns zu überrumpeln gehofft hatten, hielten unser Feuer
nicht aus und kehrten jählings um. Unser Feuer begleitete
sie so lange, als wir ihnen treffsichere Kugeln nachzusenden
vermochten. Sodann bepackten wir unsere Kameele, gingen
nun selbst gegen das Tangutenlager vor, welches wir zer-
störten, und jagten die Räuber in die Flucht. Nach diesem
Scharmützel wurden wir noch vorsichtiger, als wir es schon
bisher gewesen waren, setzten aber unseren Weg längs den
Ufern der Seen fort, von denen ich auf Grund des dem
ersten Erforscher zustehenden Rechtes den einen Russisch er
See und den anderen Expeditionssee nannte. Beide
^^HMMDMWGWWD^MGWWUWWWWWWWUWWW^MVWWWMMWEWWWW^VWW^^lM
Prshewalski s neue Reise in Nordost - Tibet. 201
Seen liegen malerisch ans einer absoluten Höhe von
13 500 Fuß, sind von Bergen umgeben und haben jeder
einen Umfang von mehr als 120 Werst. Der Fischreich-
thum ist sehr groß; doch konstatirten wir auch hier eine
auffallend geringe Mannigfaltigkeit der Arten. Von Wasser-
vögeln sind nur indische Gänse in großer Zahl vorhanden.
An einem kleinen Ufersee trafen wir eine so große Menge
Gänse, daß drei Schützen binnen einer halben Stunde
85 Stück erlegten.
Sechs Tage nach dem ersten Scharmützel mit den Tan-
guten wurde auf uns ein neuer Angriff unternommen, dies-
mal aber am Tage und vom räuberischesten der am Gelben
Flusse hausenden Tangutenstämme. Die etwa 300 Mann
zählende berittene Horde ritt von den nächsten Bergen im
Trabe bis auf eine Werst auf uns zu und ging dann unter
lautem Geheul zum Angriff vor. Dumpf erdröhnten ans
dem feuchten Lehmboden die Hufe der Pferde, zu einem
Steckenzann geschlossen flimmerten die langen Piken der
Reiter auf, während der Wind die weiten Tuchmäntel und
langen schwarzen Haare der Reiter flattern machte. Gleich
einer Sturmwolke eilte diese wilde, blutgierige Horde auf
uns zu— Mit jedem Augenblick traten die Umrisse der
Pferde und der Reiter schärfer hervor________ Auf der an-
deren Seite stand vor ihrem Lager schweigend mit gespann-
tem Gewehr unsere kleine Schar von 14 Mann, für die es
jetzt keinen anderen Ausweg gab als Tod oder Sieg. Als
sich der Abstand zwischen uns und den Räubern bis auf
500 Fuß verringert hatte, kommandirte ich Feuer — und
dem Feinde flog unsere erste Salve entgegen, der nun
häufiges Reihenfeuer folgte. Die erste Salve brachte die
Räuber nicht zum Stehen; sie ritten weiter auf uns zu,
wobei ihr Führer sie mit den Worten aufmunterte: „Stürzt
auf sie! Stürzt ans sie! Mit uns ist Gott! Er wird
uns helfen!" Als unsere Schüsse aber Menschen und
Pferde zu Boden zu strecken begannen, kehrten die Räuber
um und zogen sich hinter den nächsten Abhang zurück, wo
sie von den Pferden stiegen und aus ihren Steiuschloß-
gewehren auf 300 Schritt Entfernung auf uns ihr Feuer
eröffneten. Nun ließ ich meinen Gehilfen, Second-Lieute-
nant Robarowski, mit fünf Kosaken zum Schutze unserer
Lagerstätte zurück, mit den sieben übrigen Kosaken aber
brach ich auf, um die Tanguten ans ihrem Hinterhalt zu
vertreiben. Die Räuber schossen auf uns nun aus einer
geringeren Entfernung, jedoch ohne zu treffen. Als nun
erst einer von uns den Abhang erklommen hatte, stürzten
die Tangnten schleunigst zu ihren Pferden und ritten davon.
Wir verfolgten sie mit unserem Feuer und tödteten wie-
derum einige Mann. Die Räuber nahmen aber ihre ge-
tödteten oder verwundeten Geführten wie bisher so auch
jetzt auf und brachten sie mit sich fort; es blieben nur die
Kadaver der Pferde, sowie auch die Leichen einiger Tan-
guten liegen, welche die Fliehenden nicht mehr aufzulesen
vermochten. Außerdem war das Feld mit den in der Ver-
wirrung verlorenen Tuchmänteln und Hüten der Räuber
bedeckt. Die Räuber setzten sich in einen neuen Hinterhalt
fest und eröffneten wiederum auf uns ihr Feuer, wurden
aber von uns auch aus diesem Hinterhalte ebenso erfolgreich
vertrieben. Ein Theil der Horde war inzwischen auf unser
Lager gestürzt in der Annahme, dasselbe verlassen zu finden,
wurde aber wider Erwarten von den zurückgebliebenen Ko-
saken mit scharfem Feuer begrüßt und vertrieben. Ueberall
von Mißerfolg begleitet, begannen die Tanguten sich nun
in die Berge zurückzuziehen. Wir verfolgten sie mit unseren
Schüssen, so lange es möglich war. In beiden Schar-
mützeln sind von uns einige 40 Räuber gelobtet und ver-
wundet worden, desgleichen auch viele Pferde. Wir selbst
haben das große Glück gehabt, alle unversehrt zu bleiben;
nur zwei unserer Pferde wurden verwundet. Das zweite
Scharmützel endete erst mit Eintritt der Abenddämmerung.
Wir durchwachten, in zwei kleinen Scharen zu beiden Seiten
unseres Lagers sitzend, die ganze Nacht. Wie um uns zu
ärgern, trat das abscheulichste Wetter ein: ein kalter Sturm-
wind erhob sich und vom Himmel ergoß sich unaufhörlicher
Regen, während uns undurchdringliche Finsterniß umfing.
Die Tanguten schienen aber von uns im Laufe des Tages
so befriedigt worden zu sein, daß sie sich nicht zu einem
neuen Angriffe auf uns entschlossen, wiewohl ihnen ein
nächtlicher Ueberfall sehr viel Aussicht auf Erfolg bot, da
er sie wenigstens auf weitere Entfernung vor der verderb-
lichen Wirkung unserer Gewehre bewahrte.
Der Rückweg von den Seen des Gelben Flusses nach
Zaidam brachte keine besonderen Abenteuer, nur setzten uns
die häufigen Regen zu, die gelegentlich dem Juli zum Trotze
von rein winterlichen Schneestürmen abgelöst wurden. Die
Passage über den Gelben Fluß bewerkstelligten wir an der
bisherigen Stelle sehr glücklich, da das Wasser erst am
Vortage gesunken war. Räuberischen Tanguten begegneten
wir nicht mehr. In der Nähe des Südabhauges des
Burchan-Budda stießen wir auf einige 30 friedliche Tan-
guten, welche sich mit Goldwäscherei beschäftigten; ganz
Nord-Tibet ist nämlich sehr goldreich. An der von uns
besuchten Goldwäscherei gruben die Tanguten die goldhaltige
Schicht aus einer Tiefe von nur einem bis zwei Fuß und,
wiewohl die Goldwäscherei in der primitivsten Weise
geschah, zeigten uns die Tangnten ganze Hände voll Gold
in großen Stücken, von denen keines kleiner als eine
Erbse war. Unzweifelhaft ließen sich hier bei sorgfältigem
Betriebe der Goldwäfcherei riesige Schätze heben. Ueber-
haupt scheint mir die Prophezeiung nicht zu gewagt, daß
Tibet mit der Zeit ein zweites Kalifornien werden, ja
sich vielleicht sogar noch reicher an Edelmetallen erweisen
wird, die in dem Boden des weiten wüsten Hochlandes
ruhen.
Nachdem wir abermals den Burchan-Budda überstiegen,
ging es in die Zaidamebeue, die uns trotz ihrer Abscheulich-
keit nach all dem in Tibet überstandenen Ungemach wie ein
gesegnetes Land erschien. Gerade 1000 Werst haben wir
während dreier Sommermonate in Tibet zurückgelegt und,
wie ich mich wohl rühmen darf, mit den Waffen in der
Hand, für die Wissenschaft die Erforschung eines der un-
bekanntesten Winkel von Centralasien erobert. Jetzt geht
unser Weg nach West-Zaidam, wo wir in Gast ein
neues Depot errichten und den Winter mit der Erforschung
der Umgegend verbringen werden. So sehr es aber auch
erwünscht wäre, sogleich nach dem neuen Bestimmungsorte
aufzubrechen, so muß doch der Aufbruch bis Ende August
hinausgeschoben werden, da wir noch 20 neue Kameele
kaufen und sodann bis Herbsteintritt das Verschwinden der
den Kameelen äußerst schädlichen Bremsen und Fliegen der
Zaidamsümpfe abwarten müssen....
Globus XI.VII. Nr. 13.
26
202
W. Kobelt: Die „Verwüstung" der Sahara.
Die „ Verw st st tt n
Von W.
Daß die 160 000 Quadratmeilen große Wüste Nord-
afrikas in früheren Zeiten nicht dieselbe Beschaffenheit
gehabt haben kann wie heute, daß sie zu einer verhültniß-
mäßig nicht allzuweit zurückliegenden Epoche reicher an
Wnffer und somit an Vegetation, Menschen und Thieren
zugänglicher gewesen fein muß, ist neuerdings so unum-
stößlich dargethan worden, daß es kaum noch einer Be-
gründung bedarf. Schon der Umstand, daß zur Karthager-
zeit, vor der Einführung der Kameele aus Asien, überhaupt
ein Verkehr zwischen Mittelmeer und Sudan möglich war,
beweist, daß damals noch mehr Wasser wenigstens in der
westlichen Sahara zu ftnbcxt sein mußte; Herodot's Erzählung
von der Entdeckungsreise der nasomouischeu Jünglinge
zeigt uns die Sahara schon als Wüste, aber für entschlossene
und au Strapazen gewöhnte Leute durchwanderbar. Das
Vorkorumen von Elefanten in Nordafrika noch in histo-
rischer Zeit, oder, wenn man das bestreiten will, die Mög-
lichkeit, Elefanten für das karthagische Heer nach Nord-
afrika zu bringen, sind nicht minder überzeugend, und so
dreht sich der Streit eben nur noch darum, von welchen
Bedingungen die Verwüstung abhängt.
Kosmische Ursachen, zunehmende Trockenheit der Luft,
wie man sie zuerst ins Feld geführt hat, kommen neuer-
dings immer mehr atts der Mode und dürften auch für
die Erklärung des Saharaphänomens durchaus überflüssig
sein. Entwaldung der Hoggarberge und der Atlashöheu,
wie sie namentlich Lenz betont, haben jedenfalls zur Ver-
schlimmerung beigetragen, dürften aber kaum die alleinige
Ursache sein, denn einmal ist die Entwaldung in Algerien
wenigstens nicht so furchtbar, wie sie gewöhnlich dargestellt
wird, und dann hat der Hochwald in den südlichen Ländern
durchaus nicht dieselbe Wichtigkeit für die Regulirnng des
Wasserabflusses, wie bei uns, da ihm die aufsaugende Boden-
decke fehlt. Die Bäume stehen unvermittelt und ohne
Unterholz auf dem kahlen Felsboden und das Regcuwasser
schießt von einem bewaldeten Berghauge nicht minder rasch
ab, wie von einem nackten, und der verwüstete Buschwald,
den der Tcirtsche gar nicht als einen richtigen Wald aner-
kennen mag, leistet da vielfach bessere Dienste, als der Hoch-
wald von Strandkiefern oder Korkeichen.
Vielleicht ließet: sich einzelne der Erscheinungen, aus
denen man auf die frühere Bewohnbarkeit der Sahara
schließt, auf andere Weise erklären, und ich theile darum
hier eine Beobachtung mit, die sich mir aufdrängte, als ich
im vorigen Mai mich am Südrande der Aures befand.
Wir waren auf den: Wege nach Biskra und standen auf
dem Col de SfL, dem letzten Joch vor dem Beginn der
eigentlichen Wüste. Vor uns erstreckte sich das flache
Hügelland, welches der Ued Biskra durchströmt und in
welchem sein Wasser den Oasen des Ziban das Leben
giebt. Hinter uns lag die Ebene von el Utaja, von
demselben Flusse durchströmt, mit der gleichnamigen Oase
und der prachtvollen Ferm des Herrn Dufour. Es ist
eine völlig wasserrechte Ebene, ziemlich fünf Stunden in
jeder Nichtuug messend, mit gleichmäßigem seinem Thon
erfüllt, ohne allenZweiset der Boden einesSee-
beckens. Nur eine enge gewundene Schlucht verbindet
g '* der Sahara.
Kobclt.
dasselbe mit der Wüste und gestattet dem Fluß einen Aus-
weg; würde diese heute durch eine Barrage gesperrt, so
müßte sich alsbald das ganze Becken wieder in einen See
verwandeln. Daun hatte aber der Uöd Biskra ein Reser-
voir, daß ihm auch für den Sommer Wasser genug lieferte,
und der Fluß würde wieder, wie früher, das ganze Jahr
hindurch bis zum Schott Melrhir gelangen und vielleicht
diesen füllend die alte Verbindung mit dem Tritonsee wieder
Herstellen. Die Vortheile, welche man vomNer intérieur
erwartet, ließen sich vielleicht so viel billiger erlangen.
Aber el Utaja steht nicht vereinzelt. Schon oben, als
ich vom Pic des Cèdres aus die ganze Provinz Con-
stantine vom Meer bis zur Wüste überschaute, war mir
aufgefallen, daß auch die Hochebene von Batna mit der
ganzen tiefen Eiuseukung zwischen den Aurès und dem
D s ch e b e l Tu g g u r 1 ein geschlossenes Becken bildet. Heute
zwar fließen die Gewässer von Batna nach den Salzseen
der Hochebene ab, aber eine ganz geringe, kaum merkbare
Schwelle trennt Batna von den Zuflüssen des Uöd Kan-
tara und somit des U ë d B i s k r a, und wenn die Menschen-
hand nicht hindernd eingreift, ist die Zeit nicht mehr fern,
wo die Ravins, welche von Jahr zu Jahr näher an Batna
heranrücken, die Wasserscheide durchschneiden und wenigstens
die Abflüsse des Cedernpiks wieder den Zibanoasen zu-
führen werden. Früher war hier jedenfalls ein ausge-
dehnter Hochsee, der von der Wasserscheide des Rummel-
gebietes bis zum Rande der Wüste reichte und bei el Kantara
einen Abfluß hatte, welcher den hemmenden Felsriegel bis
zum heutigen Niveau durchnagte und so den ihn speisenden
See trocken legte.
Denken wir uns den Nil, wenn er einmal das Becken
an der Einmündung des Gazellenslusses ganz ausgefüllt
hat und wenn die Wasserfälle zwischen dem Ukerewe und
dem Mwutan den Felsen bis zum See zurück durchfressen
haben, dann wird Aegypten auch nur ein Theil der
Sahara sein und nur wenn die Regen in Abessinien unge-
wöhnlich stark fallen, wird der alte Nil wieder einmal
Wasser bis zum Mittelmeere führen.
Gelänge es, ähnliche Verhältnisse auch an anderen
Stellen der Sahararänder nachzuweisen, so brauchten wir
kaum noch nach anderen Ursachen für ihre Verwüstung zu
suchen. Der Uëd Dr La war noch in historischen Zeiten
ein mächtiger Fluß, der jederzeit den Atlantischen Ocean
erreichte, gefüllt mit Nilpferden und Krokodilen. Heute
führt sein Unterlauf nur noch äußerst selten Wasser und
er hat nicht einmal mehr die Kraft, das Seebecken ed
Debaja au der Stelle, wo er nach Westen umbiegt,
zu füllen. Früher bildete dieses für ihn jedenfalls ein
mächtiges Reservoir, aber wahrscheinlich eristirte weiter
oben noch ein Seebecken im Bereich des Atlas selbst, das
ihm gestattete, auch im Sommer das untere Bassin gefüllt
zu halten. Die Karten dieses Theiles von Marokko sind
leider noch immer hauptsächlich Phantasiegebilde, aber alle
stimmen darin überein, daß der Oberlauf des DrLa eine
Bergkette durchbricht, und eine Seebildung erscheint mir
dort durchaus nicht unwahrscheinlich.
Auch in den Oasen von Tafilalct und Tuat
WW
!
Dr. Zechlin: Das
scheinen die Verhältnisse ganz analog, und wenn ich be-
denke, wie ungemein gleichmäßig alle die Flüsse Nord-
afrikas auf den Nordrand des atlantischen Hochplateaus ein-
gewirkt haben, bin ich sehr geneigt anzunehmen, daß auch
am Südrande eine ähnliche Gleichmäßigkeit herrscht und
an zahlreichen Stellen in früheren Zeiten Hochseen be-
standen und Reservoire für die Flüsse gebildet haben. Das
würde aber dann weittragende Perspektiven eröffnen. Von
den genannten Oasen aus läßt sich das Bett des Ußd
Guir oder Mcssaoura nach den Erkundigungen, die
Sabatier von Leuten aus Tuat, die regelmäßig nach Tim-
l'uktu reisen, eingezogen hat, mit einer ganz kurzen Unter-
brechung durch Sanddünen bis zu den Hoggarbergcn ver-
folgen; es geht dort in den Uöd Ahe net über und dieser
wieder in den Teghazert oder Tirezert, der, identisch
mit dem von Barth erkundeten Dir echt, sich bis in die
Salzmoräste an der Nigcrkrümmung verfolgen läßt. Kam
dem Flusse noch eine Verstärkung ans den Hoggarbergcn
— und sind nicht hier die Krokodilsümpfe de
Rügenwalder Amt. 203
Bary's mit der allerhöchsten Wahrscheinlich-
keit die Reste ehemaliger Seen? — so hätten wir
ohne Zuhilfenahme irgend einer kosmischen Veränderung
eine Wasserstraße vom Niger bis zu den Quellen der
marokkanischen Mn ln ja und brauchten uns den Kopf
nicht mehr zu zerbrechen über den Weg, ans welchem
die Dickhäuter des Sudan an den Rand des Mittel-
meeres gelangt sind.
Es stand ihnen sogar ein doppelter Weg zur Ver-
fügung; auch bei Sinder, unfern der Stelle, wo Barth
den Fluß kreuzte, mündet ein von den Hoggarbergcn kom-
mendes, heute wasserleeres Wadi in den Niger, und nach
der anderen Seite führt der Uöd Jgherghar die Ver-
bindung weiter bis in die Nähe des Schott Melrhir.
Ich gedenke in dem demnächst erscheinenden Bericht
über meine vorjährige Reise in Algerien auf diese Frage
näher einzugehen; vielleicht veranlaßt die vorstehende vor-
läufige Notiz einen oder den anderen Fachmann, ihr auch
einige Aufmerksamkeit zu widmen.
Das Rügenwalder A m t.
Von Dr. Zechliu.
III.
Doch kehren wir zu dem Schlosse zurück. Im sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert wohnte in ununterbrochener
Reihenfolge eine große Anzahl pommerscher Herzöge auf
demselben; es würde zu weit führen, dieselben alle namhaft
zu machen. Bis zum Aussterben des Greifengcschlechts
(1637) herrschte hier ein fröhliches Leben; dann hielt hier
die trauernde Wittwe des letzten Greifcuherzogs Hof, sah
die Greuel des dreißigjährigen Krieges und wurde dann
neben König Erich in dem Gewölbe der Stadtkirche bei-
gesetzt (1653). Noch in demselben Jahrhundert hielt der
erste Hohenzoller seinen Einzug. Friedrich III. kam 1697
nach Rügenwalde und besichtigte Stadt und Schloß.
Das Interesse an der Geschichte der Stadt wird haupt-
sächlich durch das Schloß in Anspruch genommen; nur
einiges bleibt von derselben nachzuholen. Vermuthlich ist
sie von Fürst Witzlav II. von Rügen, welcher um 1270
in Besitz dieser Gegend gelaugt war, als deutsche Stadt
gegründet, sie wird zuerst 1271 genannt, gerieth aber wieder
in Verfall, so daß die drei Söhne des Grafen Swcnzo,
Petrus, Johannes und Laurentius, sie von neuem im Jahre
1312 aufbauten, mit Kolonisten besetzten und mit lübischem
Rechte bewidmeten. Sie blühte bald auf und gehörte zu
dem Hansabunde, wurde aber im Jahre 1365 von den Vor-
orten aus dem Bunde ausgestoßcn, weil sie während des
Krieges mit Dänemark trotz des Verbotes den Handels-
verkehr mit der Insel Schonen fortgesetzt hatte; nach einiger
Zeit wurde sie wieder in denselben aufgenommen. Es
klingt heute unglaublich, daß die Stadt eine Fehde mit
Amsterdam hatte, und doch ist es so; 1464 wurde dieselbe
beigelegt und zwischen beiden Städten ein Traktat geschlossen.
Einige Jahre später (1491) hatte sie einen Streit mit der
Stadt Helsingör, wobei dem Bürgermeister aus Helsingör,
Peter Hansen, ein Schiff weggenommen wurde; dafür bezahl-
ten die Rügenwalder dem Bürgermeister 350 Gulden und
machten dann Frieden. Ebenso gerieth sie 1510 in Streit
mit den Köslinern, da letztere nach der Meinung derRügcn-
walder unbefugt Seehandel getrieben hatten. Auch hatte
sie wie Kolberg und Köslin Zollfreihcit im Sunde.
An der linken Seite der Wipper in der Nähe des
heutigen Wasserthurmes der Eisenbahn lag das Karthäuscr-
kloster Marien krön, welches im Jahre 1394 von Adel-
heid, der Gemahlin Bogislav'sV. inLanzig gestiftet worden
war, aber 1407 hier an den Gartgraben, einer Verbindung
zwischen Grabow und Wipper, verlegt wurde. Es ist keine
Spur mehr davon übrig geblieben, nur die Klosterwiesen
bewahren die Erinnerung an die Stätte, wo die Mönche
gewohnt haben. Schöttgcn l), der, wie das ganze acht-
zehnte Jahrhundert, nicht gut auf die Mönche zu sprechen
ist, nennt sie Zehrbienen und giebt ein Inventarium ihres
Besitzes und Haushaltes, um zu zeigen, wie theuer sie dem
Lande zu stehen kommen. Unter der Rubrik: Getränke
führt er an: 14y2 und 93 Stübgen Wein, 239 Tonnen
Bier, 3 Tonnen schwach Trinken, 3*/, Tonnen Meth.
Dicht bei den ehemaligen Ruinen des Klosters befindet
sich der mit großen Kosten hergestellte Winterhafen, in
welchem zahlreiche Schiffe überwintern, denn die Wipper
ist von hier aus für Schiffe mit geringem Tiefgang passir-
bar und ihr Strombett wird durch fortwährendes Baggern
vor Versumpfungen und Versandungen geschützt. Von der
Stadt vermittelt ein kleiner Dampfer die Verbindung mit
der Münde, außerdem führt eine 3 km lange Chaussee
dorthin. Kurz vor ihrem Einfluß in die See nimmt die
Wipper die Grabow auf, mit der sie zusauunen ein weites
Wiesenthal bildet. Die Wiesen zeichnen sich durch die Güte
ihres Heues aus, denn die Vegetation ist durch die salzigen
Niederschläge bevorzugt, und auch geringe Gräser werden
dadurch gesunder und genießbarer, sind aber in besonders
wasserreichen Jahren häufig der Ueberschwemmung aus-
0 Altes und neues Pommerlaud 1727.
26*
204
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
gesetzt. Auch klimatisch sind diese Gegenden bevorzugt; ist
die Ernte auch 14 Tage später wie auf dem Landrücken,
so ermöglicht doch das gleichmäßige Klima das Gedeihen
von Gewächsen, welche in dem südlich davon gelegenen
Höhenzuge nicht mehr fortkommen, z. B. das der Walnuß-
bäume. Allerdings verursacht die See durch das kühle
Frühsahr und die kühlen Abende häufig katarrhalische Krank-
heiten unter den Einwohnern.
Rügenwaldermünde ist ein Dorf, aus beiden Seiten
der Wipper gelegen, die durch eine Schiffbrücke verbunden
werden. Die Wipper, welche hier rasch fließt und 50 bis
60 Schritte breit ist, mündet in ein großes Hafenbassin,
das von Molen eingerahmt ist. Der Hafen ist einer der
größten Pommerns, wohl zu groß für den geringen Ver-
kehr; er war früher 3 m tief, hat aber durch neue Bagge-
rungen eine Tiefe von 5 m erreicht, so daß schon große
Schiffe einlaufen können. Die Westmole ist 1882 fertig
geworden, die Ostmole noch in Arbeit, außerdem wird noch
eine Seitenmole, die parallel mit dem Strande geht, gebaut
zum Schutz der dahinter liegenden Häuser. Westlich und
östlich von den Hasenmolen befinden sich Badeanstalten, die-
jenige am östlichen User besteht schon seit 60 bis 70 Jahren;
hier badete am 25. Juni 1822 Friedrich Wilhelm IV. und
gerieth beim Baden in Lebensgefahr, er wurde von dem
Bademeister Ehlert herausgeholt und zur Erinnerung daran
das Bad Friedrichsbad genannt. An dies Bad schließt sich
ein Wäldchen an, an dessen westlichem Ausgange, an der
vorerwähnten Chaussee, sich ein artesischer Brunnen befindet,
der noch insofern von Interesse ist, als man hier die größte
Dicke des Diluviums in Norddeutschlaud gesunden hat. Die
Mächtigkeit desselben beträgt hier 134 m; die Bohrung,
welche die Hafenverwaltung hatte ausführen lassen, durch-
sank im Ganzen 167 m, und zwar Im aufgefüllten Boden,
1,5 m Jung-Alluvium, 3,5 m unbestimmte Sande, 128,0 m
unteres Diluvium, 0,7 m zerstörtes Tertiürgebirge, 32,3 m
Mukronatenkreide. Daher hat ailch das Wasser des Brunnens
einen entschieden schwefligen Geschmack, der sich erst bei
längerem Stehen desselben verliert.
Die Dünenbildung ist sowohl hier, wie an der ganzen
Küste bis zu der Grenze des Kösliner- und Stolperkreises
eine höchst unbedeutende, die Dünen sind sehr niedrig und
nirgends finden sich mehrere Reihen hinter einander;
die Flora ist die gewöhnliche der Dünen, namentlich wächst
hier Anthyllis maritima, Elymus arenarius und Cakile
maritima, doch habe ich auch im tiefen Dünensande, aller-
dings auf gedüngtem Boden, schöne Kartoffeln getroffen.
Am Strande findet man die hauptsächlichsten Bestandtheile
der erratischen Geschiebe. Der Sand besteht aus ab-
gerundeten Körnern eines gelblichen, durchsichtigen Quarzes,
zwischen denen Körner von rothem Feldspath liegen. Der
Granit ist gewöhnlich mit röthlichem Feldspath oder mit
schwarzem Glimmer verbunden, daher sieht man so viele
rothe und schwarzweiße Gesteine am Ufer liegen. Ferner
Kiesel- und Glimmerschiefer, Quarz, Feuersteine in den ver-
schiedensten Farben, Kalk- und Sandsteine. Bernstein wird
nicht häufig gefunden, die ganze Strecke von Järshöft bis
Neuwasser über 22 km lang, ist vom Fiskus für 152 Mark
verpachtet, und nie würde der Pächter auf die Kosten
kommen, wenn er nicht Jnterimsscheine von 3 bis 6 Mark
an Leute ausgegeben hätte, welche zum Vergnügen Bern-
stein suchten.
Die Bevölkerung der Stadt und der Münde, soweit sie
nicht beim Ackerbau und Gewerbe beschäftigt ist, fährt zur
See oder treibt Fischfang. Gleich nach der Einsegnung
geht der junge Rügenwalder zur See und lernt die Ge-
fahren und Freuden derselben gründlich kennen. Viele
bringen es bis zum Käpitän und participiren dann häufig
an der Ladung des Schiffes mit Gewinn und Verlust; es
sind Segelschiffe, die sie führen, meistens nach England oder
Rußland, seltener nach überseeischen Ländern. Im Früh-
jahr fahren sie aus, zum Winter kehren sie heim, wo sie
dann Weib und Kind freudig empfängt; oft aber sind sie
ein Opfer ihres Berufs geworden. Das Gewerbe ernährt
reichlich seinen Mann und die meisten erwerben sich ein
kleines Vermögen, was sie durch Heirathen in der Verwandt-
schaft zu vergrößern suchen. Es gewährt ein eigenes Ver-
gnügen, sich mit solchen see- und wetterkundigen Leuten
unterhalten zu können; die See ist ihr Ein und Alles, sie
kennen die meisten größeren und kleineren Seestädte, aber
die Hauptstadt des Reiches ist ihnen unbekannt, den Inter-
essen des eigenen Landes sind sie entfremdet.
Minder gefährlich aber kümmerlicher ist der Berus
des Fischers, mit dem sich ein Theil der Bevölkerung aus
der Münde und in einigen Dörfern wie Böblin und
Bitte ernährt. Der Hering wird im Frühjahr und Herbst
gefangen; das Gewerbe ist jetzt einträglicher, da er nach
schwedischer Manier gefangen wird, wozu die Regierung
zur Anschaffung von neuen Geräthen und Böten den
Fischern eine Unterstützung gewährt hat. Die Flundern
werden gewöhnlich bei ruhiger See und bei Landwind ge-
fangen; die Netze werden am Abend vorher in die See
gebracht und am Morgen mit Flundern beschwert heraus-
gezogen. Doch kann man mitunter vier Wochen am
Strande zubringen, ohne eine Flunder gesehen zu haben.
Auch die Grabow und Wipper sind fischreich: Forellen,
Aale, Neunaugen und Lachse sind in denselben zahlreich an-
zutreffen. Früher waren Störe, Karpfen und Lachse so-
genannte Herrensische, weitste nicht verkauft werden durften,
sondern nach dem Schlosse gebracht werden mußten. Aller-
dings so zahlreich wie zu Mikrael's Zeiten werden Lachse
nicht mehr gefangen. Derselbe schildert den Lachssang
folgendermaßen I: „Es ist eine schöne Lust anzusehn, wie
dieser Fisch, wenn er etliche Meilen Weges die frische
Wasser hinauf aus dem salzen Meere gegangen und da-
durch ein schmackhaftes Fleisch gesetzet, endlich an die Schleu-
sen oder Pfühle kommt, die mitten in der Stolpa und
Wipper gestoßen sind, und daselbst das Wasser hindurch
rauschen hört und nicht weiter hinaufgehen kann, alsdann
sich krümmt, auf den Schwanz setzt und einen Sprung
über die Pfühle fasset, der Meinung, er werde noch mehr-
süße Wasser finden, daran er sich belustigen möge. Be-
lustiget aber die Zusehenden und die, so des Kaufes und
Verkaufes halben darauf warten, mehr als sich. Denn er
wird alsdann gefangen, wenn er übergesprungen, weil noch
andere Reihen Pfähle geschlagen sind, daß er also weder
vorne noch hinter sich kommen kann. Und wenn man das
Schutzbrett, so an der Schleuse gemacht ist, niederfallen
läßt, siehet man alsdann, wie viel Lüchse hineingesprungen.
Es ist bezeuget, daß zu Rügenwalde allein auf eine Nacht
über dreihundert Stück also gefangen sind. Es aber ist die-
ser Fisch in seinem Springen so eifrig, daß, ob er schon
etliche wiederum Male zurückprallet, und nicht überhin kom-
men kann, er gleichwohl immer mit neuen Kräften wiederum
anhält, bis er sein eigener Fischer wird. 8m salmo saltu
86 capit ipse suo.“
Im Osten des Wipperthals, 2 bis 3 km von Rügenwalde
entfernt, erhebt sich derKüstenhöhenzug. Er beginnt mit
den 69 m hohen Ziezower Bergen, setzt sich in den Hellen- I
I Johannes Micraelii sechs Bücher vom allen Pommer-
land. 1723, Buch VI, S. 277.
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
205
bergen bei Dörsenthin und in den Masselmitzerbergen bei
Masselmitz fort, erreicht in dem Silbcrberg zwischen Pustamin
und Mützenow an der Grenze des Schlawer und Stolper
Kreises seine höchste Höhe und fallt dann östlich zur Stolpe
hinab. Sowohl südlich als nördlich senkt er sich rasch
zur Ebene, nur den Hellenbergen ist noch eine Erhebung
vorgelagert, auf welcher das Dorf Rützeuhagen liegt, welches
in dem Vorgebirge Jershöft endet. An seinem südlichen
Abhange begleitet ihn die Chaussee von Rügenwalde nach
Stolpmünde, welche die Dörfer Sachshöh, Köpenitz,
Carzin u. s. w. berührt. Namentlich in seiner ersten
Hälfte ist der Höhenzug sehr fruchtbar und daher von zahl-
reichen Niederlassungen besetzt; ans seinem Rücken ver-
bindet ein Weg die verschiedenen Dörfer; nach beiden Sei-
ten hin hat man eine prachtvolle Aussicht. Nach Norden
über den Bitter See und die Ostsee, aus den lachenden
Gefilden, treten die einzelnen Dörfer, namentlich das lang-
gestreckte und hochgelegene Rützenhagcn, hervor, den Hori-
zont schließt Jershöft mit seinem Leuchtthurm ab. Nach
Süden hin erblickt man das Wipperthal; seine Wiesen
dehnen sich weithin aus, sie sind von kleinen Baumpartien,
in welchen Wassermühlen liegen, unterbrochen. Aus der
fruchtbaren Ebene treten Dörfer mit schlanken Kirchthür-
men hervor, den Hintergrund begrenzt die königl. Forst.
Wandert man aus der Chaussee, so ist unserem Auge im
Norden lange der Kirchthurm von Ziezow, im Süden
die Kirche von Kugelwitz sichtbar.
Nach dieser allgemeinen Schilderung betrachten wir
nun den Höhenzug in seinen einzelnen Theilen. Gleich
am Anfang desselben, da wo sich alluviales und diluviales
Gebiet scheiden, lag die alte Wendenburg Dirlow. Man
findet den Platz am besten, wenn man von dem Wäldchen
bei Rügenwaldermünde den Weg nach Kopahn durch die
Niederung bis zur ersten Anhöhe, die schweren Lehmboden
hat, verfolgt. Jetzt ist von derselben nichts mehr zu sehen,
doch gar häufig pflügt oder gräbt der Landmann Steine
aus und nennt noch heute den Ort Darlower Berg.
Das Kastrnm Dirlow wird zuerst in einer Urkunde des
Jahres 1215 als Mittelpunkt eines nach ihm benannten
Landes, der Kastelanei Dirlow, erwähnt.
Das erste Dorf, schon lange dem Wanderer an seinem
weißen Kirchthurm kenntlich und weithin sichtbar, ist Zie-
zow. Man gelangt sowohl von der Stadt aus wie von
der Münde aus festem schattigem Wege in einer halben
Stunde allmählich den Höhenzug hinansteigend, zu demselben.
Es ist eine Freude, an einem schönen Julimorgen durch
die hohen Kornfelder dahin zu wandern, besonders erregen
der hohe Weizen und die prachtvollen Erbsen unsere Be-
wunderung, auch die Felder mit der schön blühenden Saubohne
(Viola, faba), die zum Biehsutter verwandt wird, fesseln
unsere Aufmerksamkeit. Das Dorf gehörte zum Eigen-
thum der Stadt Rügenwalde, welche cs im Jahre 1378
kaufte, daher hat noch heute die Stadt Patronatsrechte
über die dortige Kirche. Diese, am Anfange des Dorfes
gelegen, ist massiv und stammt ans dem Mittelalter. Der
Thurm, welcher, wie erwähnt, weithin sichtbar ist, diente
den Schissern als Merkzeichen. Das Innere der Kirche,
Orgel, Chor, Kanzel und Bänke sind im Jahre 1622 auf
Veranlassung des damaligen Pastors Schrnle restaurirt,
eventuell neu angeschafft. Am Chor befindet sich noch eine
Inschrift, deren letzter Theil in der Uebersetzung lautet:
Der Allmächtige möge Tempel, Sitze und Thurm schützen,
damit eine zahlreiche Gemeinde den Tempel besuche. Die
Bitte ist in Erfüllung gegangen, der kirchliche Sinn ist ein
reger, wie überhaupt im Amte. Bei einer parochialen Be-
völkerung von 1300 Seelen nehmen hier 1500 Personen
am heiligen Abendmahl jährlich theil, also manche Mit-
glieder der Gemeinde drei bis viermal in einem Jahre.
Das Dorf ist kreisförmig angelegt und zeigt eine den
übrigen Dörfern des Amts ähnliche Banart, die im wesent-
lichen die fränkische ist. Letztere unterscheidet sich von der
sächsischen, bei welcher alle Wirthschaftsgebäude unter einem
Dache sich befinden, dadurch, daß für die verschiedenen
Wirthschaftszwecke besondere Baulichkeiten oder wenigstens
ganz verschiedene Räume vorhanden sind. Gewöhnlich
grenzt den viereckigen Hof von der Straße zu eine Scheune
ab, durch welche ein Thorweg führt; gerade gegenüber im
Hintergründe des Hofes liegt das Wohnhaus, an beiden
Seiten Ställe, in der Mitte des Hofes ein Dunghaufen.
So ist die Bauart in Ziezow, Köpenitz, Kopahn und
anderen Dörfern des Amts, während bei der eigentlichen
fränkischen Bauart der Giebel des Hauses an die Dorf-
straße stößt.
Die Bauern des Dorfes sind wohlhabende, aus ihren
Besitz stolze Leute, die meisten haben vier Pferde, trotzdem
leben und essen sie mit ihren Leuten zusammen. Der Lohn
derselben ist ein verhältnißmäßig hoher, auch werden sie
gut verpflegt. Morgens bekommen sie Kaffee und Brot,
zum Frühstück Schnaps und Brot, jeden Mittag Fleisch
und Gemüse, Abends Kartoffeln und Hering, Brot und
Bier. Das Bier wird in den Haushaltungen selbst ge-
braut, der Bauer braucht jährlich circa zwei Mispel Gerste,
welche er auf seiner eigenen Schrotmühle schrotet; alle acht
bis vierzehn Tage wird gebraut. Manche Bauern setzen
auch dem Gebräu Runkelrüben zu. Um elf Uhr wird Mittag
gegessen; als ich 111/4 Uhr zu einem dortigen Bauern ging,
um das Bier zu probiren, war gerade abgegessen, aber
bereitwilligst wurde mir eine große Steinkruke Bier ans
dem Keller geholt, es schmeckte ganz leidlich. Ueberhaupt
befinden sich nur in wenigen Dörfern des Amts Krüge,
so daß man auf die Gastfreundschaft der Einwohner an-
gewiesen ist. Vor 30 Jahren war es in Ziezow Sitte,
daß jeden Morgen Kohl — eine Art Grünkohl — zum
Frühstück genossen wurde. Mein Gewährsmann für diese
mir fabelhaft klingende Sitte war der alte biedere Schul-
meister des Orts, der im Rügenwalder Amte geboren, fast
vierzig Jahre nach seinem eigenen Ausdruck Ziezower
Wasser getrunken hat. Im Dorfe Ziezow wurde auch ein
geologisches Gebilde aus der Tertiärzeit gefunden. Unter
Bedeckung von Dilnvialmergcl grub man in einer Schichten-
folge braune, sandige Letten zu oberst, darunter dunkelgrüne
Glaukoniterde und endlich hellgraublaue Letten aus. Die
letzteren beiden Schichten enthielten zahlreiche Phosphorit-
knollen bis über Faustgröße. BerendtZ rechnet dies Vor-
kommniß zu den glaukonitischen Schichten des marinen
Unteroligocän und hält es für eine Fortsetzung der ost-
preußischen Bernsteinformation. Auch möchte es mit dem
zerstörten Tertiürgebirge in Rügenwaldermünde in Verbin-
dung stehen.
Der Höhenzug ist mit Dörfern besetzt; es folgt in kur-
zer Entfernung Sachshöh und Drosedow, beide am
Südabhange desselben; ersteres existirt noch nicht lange, es
ist durch Parcelliruug eines größeren Gutes entstanden, die
einzelnen Besitzer haben sich aus ihrem eigenen Grund und
Boden angebaut, daher besteht es ans einer Reihe einzel-
ner Gehöfte. Letzteres ist in einer drostelreicheu Gegend
gegründet worden und infolge dessen Drosedow, d.h. Drossel-
ort, genannt worden. Dann folgt Barzwitz; auf dem
Wege dorthin hat man eine prachtvolle Aussicht, nördlich
aus die See, südlich aus das Wipperthal. Es hat durch
I Zeitschr. d. deutsch, geolog. Gesellsch., Bd. 31, S. 799.
206
Kürzere Mittheilungen.
seine Missionsfeste sich einen Ruf im Amte erworben; all-
jährlich wird dort Mitte Juli ein Missionsfest gefeiert;
von weit und breit strömen die Menschen an einem Sonn-
tag Nachmittag zusammen, hören im Freien die beiden Fest-
redner an und erquicken sich dann mit Speise und Trank, die
in jedem Hause für Bekannte und Unbekannte reichlich auf-
getragen werden. Zu Barzwitz sind Zillmitz und Dör-
senthin eingepfarrt, die ebenso wie die vorigen Dörfer
wenig oder gar kein eigenes Brennholz haben. Zwischen
Dörsenthin und Scheddin liegen die Hellen oder Heiligen,
auch Höllenberge genannt I. Bei Scheddin selbst ist der
Boden sandig und Fichtkusseln wechseln mit Ackerflächen
ab. Es folgen dann die Masselwitzer Berge, zu beiden
Seiten derselben ist königl. Forstrevier; eine Unterförsterei
befindet sich in Masselwitz. Hinter letzterem Orte wird
der Höhcnzug niedriger. Ein Bach, an welchem in ebener
Gegend Kuddezow liegt, entspringt in jenen Bergen. Der-
0 Letzteren Namen hat Hoyer a. a. O. und die General-
stabskarte von 1845. Ersteren Brüggcmann a. a. O. Die Hölle
ist wohl nur aus Mißverständniß hineingekommen.
selbe wird Klosterbach genannt und fließt bei Lanzig in
den Victzker See. Dann kommen wir zu dem langge-
streckten großen Dorfe Penneckow und bald darauf nach
Pustamin, welches letztere ca. 1000 Einwohner zählt.
Beide sind adelige Güter, alte Below'sche Lehen, und haben
fruchtbare Uecker und gute Wiesen. In den Jahren 1772
bis 1775 erhielten beide Güter 10 800 Thaler königl.
Gnadengelder, wofür die Besitzer v. Below einen jährlich
fixirten Kanon, der jetzt wohl längst abgelöst ist, geben
mußten. Aus Pustamin wird viel Weizen und Fettvieh
ausgeführt, auch werden aus dem Gute jährlich 4000 bis
4500 kg Butter bereitet I. Nördlich von Pustamin in
der Richtung nach Marsow liegt an einem kleinen See ein
Burgwall, östlich von dem Dorfe an der Grenze unserer
Betrachtung die Silberberge, in denen sich weißer Glim-
merfand findet.
i) Pustamin und Penneckow haben den zweit- und dritt-
größten Grundsteuerreinertrag im Kreise, nämlich 16 040 Mark
und 15 888 Mark jährlich, obgleich sie bei weitem nicht das
größte Areal haben (867 bczügl. 953 ha).
Kürzere Mittheilungen.
Grönland im Jahre 1884.
Dem amtlichen Berichte der dänischen Kolonialverwaltung
über den Zustand der Kolonie Grönland im Jahre 1884
entnehmen wir Folgendes : Nach den von allen Handelsplätzen
eingegangenen Mittheilungen war das Wetter schon im Sep-
tember 1883 sehr rauh und unruhig, während jedoch die
eigentliche Winterkälte erst Anfangs December eintrat und
fast bis Ende März 1884 dauerte. In Nordgrönland war
das Wetter ziemlich ruhig, aber in Südgröuland machten
häufig heftige Winde die Kälte sehr fühlbar. Das Frühjahr
war durchgehends kalt und unruhig. Mitte Juli trat in
Nordgrönland schönes und beständiges Sommerwetter ein,
das bis zum September andauerte; dagegen war das Wetter
in Südgrönland den ganzen Somuier hindurch kühl und
rauh. Anfangs April zeigte sich das Packeis bei Juliane-
haab, wo es bald ans Land trieb und so dicht zusammen-
geschoben wurde, daß während längerer Zeit alle Kommuni-
kation aufhören mußte. Im April erreichte das Packeis auch
Frederikshaab und im Mai Godthaab; auf dieser Strecke lag
das Eis bis Ende August, wo es von frischen nördlichen
Winden in See geführt wurde.
Der Seehundsfang hat in Nordgröuland wegen der un-
gewöhnlichen Stärke des Küsteneises nur einen dürftigen
Ertrag gegeben. In Südgrönland war dagegen der Fang
in den Distrikten Julianehaab und Godthaab recht gut. Der
Haifischfang war nirgends ergiebig und der Walfischfang bei
Holstensborg mißglückte vollständig. Die Jagd auf Füchse,
Renthiere, Hasen, Schneehühner und Seevögel war weniger
einträglich wie gewöhnlich. Die Wintersischerei aus Rothfisch
und Dorsch war sehr gut, dagegen mißglückte die Sommer-
fischerei auf Dorsch fast ganz. Bon Angmassätten (eine kleine
Heringsart) wurden bedeutende Quantitäten gefangen.
Der Gesundheitszustand unter der grönländischen Be-
völkerung war im allgemeinen recht befriedigend. Ueber die
Bewegung der Bevölkerung in Südgrönland fehlen wegen
des Ausbleibens eines Schiffes die eingeforderten Daten. Am
31. December 1882 betrug die Zahl der Eingeborenen in
Südgrönland 5503, wovon 2537 männlichen und 2966 weib-
lichen Geschlechts waren. Nordgrönland hatte Ende 1883
eine Bevölkerung von 4278 Personen, davon waren 2036
männlichen und 2242 weiblichen Geschlechts. Die ganze ein-
geborene Bevölkerung Grönlands betrug mithin am 31. De-
cember 1883 ca. 9800. Die Bevölkerung Nordgrönlands hatte
sich gegen das Jahr 1883 um 24 Personen vermehrt; durch
Unglücksfälle kamen 13 Personen ums Leben, davon 7 durch
Ertrinken im Kajak.
Während der Zeit vom 1. April 1883 bis 31. März
1884 hatte der königlich grönländische Handel 10 632 Tonnen
Robbenspeck und 1419 Tonnen Fischleber eingekauft gegen
resp. 12 620 Tonnen und 1970 Tonnen im Vorjahre.
Im Herbste 1882 herrschte in dem nördlichsten Handels-
plätze Grönlands, Tassinssak, eine bösartige Seuche unter
den Hunden, welcher ca. 40 derselben erlagen; auch in den
Distrikten Uperuivik, Umanak und Ritenbeuk hatten die Hunde
an einer bösartigen Hautkrankheit zu leiden.
Die acht eigenen Schiffe des königlich grönländischen
Handels haben im Laufe des vorigen Jahres alle Handels-
plätze an der Westküste besucht und sind bis auf ein Schiff,
das jedenfalls bei einem Handelsplätze eingefroren ist, glück-
lich wieder nach Kopenhagen zurückgekehrt.. Da viele Klagen
über die fremden Fischer und Waler eingelaufen waren,
welche sich in den letzten Jahren in immer größerer Anzahl
an der Westküste von Grönland einfinden, so wurde von der
dänischen Regierung der Kriegsschooner „FyllaJ Kapitän
Normann, im vorigen Sommer zum Schutze der einheimi-
schen Fischer dorthin gesandt. Das Schiff besuchte die drei
nördlichsten Kolonien in Südgröuland, ferner Godhavn und
die Kolonien an der Discobucht.
Der Bericht erwähnt schließlich der nordamerikanischen
Expedition zur Aufsuchung Greeley's und seiner Gefährten,
sowie der Expeditionen unter Lieutenant G. Holm nach der Ost-
küste und unter Lieutenant Jenseit nach der Westküste, worüber
in diesem Blatte schon ausführlich berichtet worden ist.
Bon dem Kryolithbruche bei Jvigtut sind im vorigen
Sommer 19 Schiffsladungen, enthaltend 571'/2 Kubikklafter
Kryolith, expedirt worden; in dem Bruche waren 112 Arbeiter
beschäftigt. W. Finn.
Aus allen Erdtheilen.
207
Aus allen
Europa.
— Im Sommer 1883 unternahm der Berliner Geologe
Dr. Konrad Keilhack eine wissenschaftliche Reise durch
das westliche Island, um Gebiete zu studiren, in denen
eine noch heute vorhandene ausgedehnte Eisbedeckung die
Entstehung von Diluvialablagerungen, wie sie sich auch im
nordeuropäischen Tieflande finden, klar erkennen läßt. Die
„Reisebilder aus Island", welche er in der „Vossischen Zei-
tung" darüber veröffentlichte und jetzt gesammelt heraus-
gegeben hat (Gera, A. Reisewitz, 1885), enthalten nun weniger
seine geologischen Resultate, wenn sie auch reich sind an
wissenschaftlichen Mittheilungen verschiedener Art, als eine
Schilderung des wunderbar großartigen Landes und seiner
nicht gerade immer sehr liebenswürdigen, sondern zum Theil
durch englische Touristen verdorbenen Bewohner. „Island —
schreibt Keilhack S. 9 — ist unstreitig das merkwürdigste
Land Europas durch die scharfen Gegensätze, die es zeigt;
ein Land von der Größe Süddeutschlands, völlig durch vulka-
nische Thätigkeit aufgebaut, umspült im Norden von den
Fluthen des Eismeeres, dessen polare Strömungen Jahr für
Jahr das verderbenbringende grönländische Packeis an seine
Küsten ablagern, dann aber auch erwärmt durch einen Arm
des Golfstromes, der den armen Fischern im Nordlaude
Brennholz zuführt in Gestalt entrindeter Palmen und edler
Hölzer aus den Uferwäldern des Orinoco und Amazonas;
etwa 14000 qkm des Landes bedeckt von mächtigem Gletscher-
eis, unter welchem gewaltige Vulkane verborgen sind, deren
Thätigkeit durch die Menge des dabei schmelzenden Eises
fürchterliche Katastrophen herbeiführt; eine Bevölkerung von
70000 Einwohnern, Abkömmlingen edler, vor 1000 Jahren
eingewandcrter Norweger, die ihre Sprache, das Altnor-
dische, fast rein erhalten und eine große und schöne Litteratur
iu dieser Sprache geschaffen haben; beseelt von glühender
Vaterlandsliebe, trotzdem sie in hartem Kampfe der kärg-
lichen Natur ihrer rauhen Heimath die Existenzbedingungen
abringen müssen: so wirken die Großartigkeit der Natur
uub die Eigenthümlichkeit der Bevölkerung zusammen, das
Land dem Besucher iu hohem Grade interessant zu machen."
Keilhack's Buch gehört entschieden zu den guten Reise-
beschreivungen und kann zur Lektüre sehr empfohlen werden.
A s i e n.
— Die Britische Nord - Borneo - Kompagnie
hat nach „London and China Telegraph" dem Sultane von
Brunei den nördlichsten Theil seines Gebietes abgekauft,
wodurch ihre Grenze von der Kimanis-Bai (an der West-
küste der Insel) südwärts bis zu dem kleinen Sipitongflusse
vorgeschoben wird; derselbe mündet in die Brunei-Bai, an
deren Ausgange die englische Insel Labnan liegt. Durch diese
Erwerbung wächst das Gebiet der Gesellschaft um circa
60 Miles Küste und 4000 Quadratmiles, welche von den
Flüssen Kilias und dem über 100 Miles aufwärts schiff-
baren Padas durchströmt werden. Erze soll es in Menge
geben und der Export von Sago ist bedeutend. Das Gebiet
ist dichter bevölkert, als die meisten Theile von Borneo, aber
die Eingeborenen sind friedlich gesinnt und sollen den Regie-
rungswechsel mit Freuden begrüßt haben, weil sie nun vor
der Bedrückung durch Brunei geschützt seien. (Nebenbei sei
bemerkt, daß am 6. März im englischen Uuterhause die Er-
klärung abgegeben wurde, die Regierung betrachte Nord-Borneo
nicht als unter britischer Souverünetät stehend.)
E r d t h e i l e n.
Afrika.
— Ueber die Bevölkerung des östlichenäqua-
torialen Afrikas zwischen io nördl. bis 5° südl. Br.,
sowie dem 34. Grade Lstl. L. Gr. und dem Indischen Ocean,
unter welcher er jüngst sechs Monate lang gelebt hat, sprach
H. H. Johnston kürzlich in dem Anthropologischen In-
stitute zu London. Aeußerlich, sagt er, sind die Wataita-
Leute, welche das nicht weit von Mombasa liegende Taita
bewohnen, nicht gerade einnehmend. Sie sind von mittlerer
Größe; der Gesichtsausdruck ist verschieden, manche haben
Stumpfnasen beinahe ohne merkbaren Rücken und eine sehr
abgerundete, stark vorspringende Stirn, andere besitzen bei-
nahe denselben Gesichtsausdruck wie die rothhäutigen In-
dianer mit Adlernase, hohen Backenknochen und zurück-
weichender Stirn. Der Körper ist von Natur stark behaart,
die Haare werden jedoch sorgfältig entfernt, sogar dieAugen-
und Barthaare ausgerissen. Die Hautfarbe ist gewöhnlich
rußig schwarz. Glaskorallen sind die Leidenschaft dieses
Stammes und werden in ungeheuren Mengen von Män-
nern und Frauen getragen. Man findet nur geringe Spuren
von Religion bei ihnen, sie fürchten aber die Geister, welche,
wie sie glauben, die großen Bäume bewohnen, in hohem
Maße; mit der Sonne verbinden sie den Gedanken an eine
allmächtige Gottheit. Die Heirathcn werden zunächst als
Handelsgeschäft abgemacht; der zukünftige Gatte bezahlt dem
Vater den bestimmten Preis, drei oder mehr Kühe. Nach-
dem dies abgemacht ist, ergreift das Mädchen zum Schein
die Flucht und verbirgt sich; sie wird durch den Bräutigam
und einige seiner Freunde aufgesucht und zu der Hütte des
künftigen Gatten gebracht.
Die Akamba, welche einen großen Landstrich nördlich
von Taita bewohnen, sind große Jäger und besitzen im
allgemeinen eine angenehme Erscheinung; das cttvas straffe
Haar und die helle Haut scheinen auf eine Mischung mit
Gallablut hinzudeuten. Der schöne Walddistrikt Taveita
wird von zwei verschiedenen Kolonien bewohnt, einer aus
Kiavoi-Lenten vom Massai-Stamm, und der anderen, mehr
ursprünglichen, bestehend aus Wataveita, die in ihrer Sprache
und ihren Ansichten besondere Eigenthümlichkeiten erkennen
lassen. Sie besitzen eine ansehnliche Größe und sind oft
Modelle von Symmetrie und Anmuth. Die Heirath ist auch
hier natürlich ein Handelsgeschäft, aber keine Spnr einer
Nachahmung des Frauenraubes ist zu bemerken. Nach der
Heirath sind die Frauen sehr ungebunden. Die Zahl der
Wataveita beträgt ungefähr 2000. Der Stamm der Watschaya
hat mit den Massai eine eigenthümliche Sitte gemein, Sachen
und Personen als Gruß oder Zeichen der Dankbarkeit anzu-
spucken; ohne gerade viel Gottesdienst zu besitzen, sind sie
sehr abergläubisch und fürchten sich vor Zauberei. Mau findet
bei ihnen sehr geschickte Schmiede, welche alle Arten von Werk-
zeugen, Waffen und Schmuck aus dem Roheisen schmieden,
welches sie aus Usanga erhalten. Am meisten zeichnen sie
sich jedoch im Ackerbau aus.
— Von der niederländischen Afrika-Expedi-
tion unter Leitung von D. D. Beth ist aus Mossamedes
Bericht bis zum 8. Januar eingelaufen. Der Leiter der
Expedition hatte einige Ausflüge, u. a. nach Humpata und
Huilla, gemacht. Auf seiner Reise hatte er wenig Schwierig-
keiten erfahren und die mitgenommenen javanischen Pferd-
chen hatten sehr gute Dienste geleistet. Beth rühmt die von
den portugiesischen Beamten empfangene Unterstützung und
lobt die durch von Danckelmann mit schwarzen Farben ge-
schilderten Boers; letztere scheinen den Plan aufgegeben zu
haben, nach Transvaal zurückzukehren. Mitte Januar sollte
208
Aus allen Erdtheilen.
das Hauptquartier der Expedition nach Humpata verlegt
werden, wozu sich Beth bereits einen Ochsenwagen mit
16 Ochsen angeschafft hatte; die weiteren Pläne waren noch
sehr unsicher. Alle Mitglieder der Expedition fühlten sich
gesund und wohl.
— Die Association Internationale du Congo hat eine
neue Station Mbusie am Koango errichtet; dieselbe
ist in etwa drei Tagen Schiffahrt von der Mündung des
Stromes aus zu erreichen. Die dortigen Eingeborenen gehören
zum Volke der Wabuma und sind große Händler und Fischer;
ihr Häuptling ist eine Frau, Namens Muakobe, welche die
Beamten der Association freundlich empfing und ihnen große
Landstrecken zur Anlegung der Station überwies (Le Mouve-
ment Géographique II, Nr. 4).
— In den „Missions Catholiques" schildern die Missio-
nare Chausse und Holley eine Reise durch das an Dahome
grenzende Reich Joruba und bei dieser Gelegenheit den
Hof des Königs, welcher zu Ojo residirt. Gleich nach
dem Könige, welcher unverletzlich und absolut ist, folgt der
Bafin oder Oberennnche, eine Art ersten Ministers, welcher
sich des vollsten Vertrauens seines Herrn erfreut. Dann
erst kommt der älteste Sohn des Königs, der wegen seines
Erstgeburtsrechtes Einfluß genießt, während seine jüngeren
Brüder und Schwestern nur unverletzlich sind, irgend welchen
Einfluß aber nur durch Gunst, Geschicklichkeit oder Popula-
rität erringen können. Unter den Hofchargen ist die merk-
würdigste und am wenigsten zu beneidende die des Oloknn-
esin („der, welcher den Zaum des Pferdes hält"). Derselbe ist
ein freier Mann und hat sehr große Gewalt, den Leuten Geld
abzupressen; man verweigert ihm nichts. Dafür ist er aber
auch ein zum Tode Verurtheilter, der am selben Tage wie
der König sanft aus dem Leben scheiden muß. Er ist der
einzige Günstling, der nie in Ungnade fallen kann, dem alle
schmeicheln und dem zahlreiche Privilegien zuerkannt werden.
Sobald aber der Tod des Königs im Palaste bekannt wird,
läßt der Basin den Oloknn-esin davon benachrichtigen, und
dieser muß sofort seine irdischen Angelegenheiten in Ord-
nung bringen und sich zum letzten Schlafe niederlegen, ehe
noch die Nachricht vom Tode des Königs sich unter dem
Volke verbreitet.
— Mit der ins Unabsehbare wachsenden Zahl der
Afrikareisenden nimmt auch die niemals abreißende Reihe
von solchen zu, welche theils ganze Reiserouten erfinden,
theils ihre wirklich ausgeführten Unternehmungen mit aller-
hand Zuthaten ausschmücken und aufbauschen. Das zweite
diesjährige Heft von Petermann's Mittheilungen geht gleich mit
zwei solchen Leuten ins Gericht. Zuerst macht G. A. Krause
gegen die Erzählung des Marchese Buonfanti über
seine Reise von Tripoli nach Lagos, welche der „Globus"
auf S. 95 und 141 des vorigen Bandes skizzirte, so schwere
und zahlreiche Bedenken geltend, daß es dem jetzt im Dienste
der Association Internationale du Congo befindlichen Mar-
chese nicht leicht fallen wird, dieselben sämmtlich in genügen-
der Weise zu entkräften. Um nur zwei Punkte hervorzu-
heben, so lebte Krause zur selben Zeit, als Bnoufonti an-
geblich Tripoli verließ, in dieser Stadt; aber weder er, noch
die dortigen Konsuln wissen das Geringste von ihm — und
ebenso befand sich E. R. Flegel in Lagos, als Buonfanti
dort eingetroffen sein will, und hörte und sah nichts von
ihm! — Nicht ganz so schlimm sind Dr. P assav ant's An-
klagen gegen den deutschfeindlichen Polen v. Rogozinski;
er soll die älteren englischen Aufnahmen im Norden des
Kamerungebirges, anstatt sie zu verbessern, verballhornt
haben. Immerhin wird ihm vorgeworfen, daß er astrono-
mische Positionen bis auf die Sekunden publicirte, ohne —
im Besitze von Instrumenten gewesen zu sein. — Auf dem
Gebiete der Geographie ist bisher noch jede Flunkerei ent-
larvt worden; daß aber Lügen wirklich „kurze Beine" haben,
zeigte sich nie rascher und prompter als in der viel reisenden
Jetztzeit. _______________
Inseln des Stillen Oceans.
— Bekanntlich lassen die Niederländer dey ihnen ge-
hörigen westlichen Theil von Neu-Guinea jetzt jährlich
ein oder einige Male durch einen höheren Beamten besuchen.
Bei seiner im Juli und August 1884 unternommenen Reise
hatte der Resident van Braam Morris sich u. a. die
Aufgabe gestellt, auf dem Ambcrno-(Rochussen-)Flusse
so weit wie möglich nach Süden vorzudringen, nachdem er
im vorigen Jahre die Fahrrinne an der Mündung aufge-
funden hatte; zum Zweck der Vermessung des Flusses war
ein Officier der niederländischen Marine detachirt worden.
Die Ergebnisse des Zuges nebst zwei Karten sind in den
Bijdragen tot de Taal-land-en volkenkunde van Ned. Jnd.
(4°. Serie X, i) durch Herrn Robidee von der Aa mitge-
theilt und kritisch beleuchtet worden; dieselben lassen sich in
Folgendem zusammenfassen: Der Ambcrno ist nicht der ge-
waltige Fluß, wie er beschrieben worden ist, die einzige
befahrbare Mündung mündet bei der Urvillespitze; von den
nach Nordwesten in der Küste beobachteten Einschnitten scheinen
einige allerdings mit ihm in Verbindung zu stehen; ein
Vorsprung des Gebirges, aus dem der Amberno hervor-
bricht, scheint die Wasserscheide zwischen ihm und dem Keiflusse,
der in die Geelvinksbai mündet, zu bilden. An der Mün-
dung beträgt die Tiefe 5 bis 7 m, die Breite unter 1° 25' 30"
südl. Br., 137° 55' 53" östl. L. Gr. 800 m. Der Fluß hat scharfe
Krümmungen und da, wo die Hügel anfangen (circa 2° 10'),
ziemlich starken Strom. Es glückte, unter 138° 2' 3" östl. L. Gr.
die südliche Breite von 2° 20' zu erreichen, wo man die weitere
Fahrt des starken Stromes (4V2 Meile) wegen aufgeben
mußte; an dieser Stelle war der Fluß noch 400 bis 500 m
breit; verschiedene Zeichen schienen darauf hinzudeuten, daß
man nicht weit oberhalb jener Stelle auf Stromschnellen
oder Wasserfälle stoßen würde.
Mit den wenigen Eingeborenen, die man antraf, bahnte
sich ein freundlicher Verkehr an; die Zierrathen, die sie
trugen, sind von denen an anderen Stellen der Küste ge-
tragenen zum Theil verschieden. Wahrscheinlich ist es, daß
in den Lagunen eine ziemlich starke Bevölkerung wohnt, die
es des reißenden Stromes wegen vermieden hat, sich an den
Ufern des großen Flusses anzusiedeln, da bei den Papuas
die Gewohnheit besteht, die Häuser in den Fluß hinein zu
bauen. Es dürfte nun wünschenswerth sein, die Flüsse
Aiberan und Kei und den wahrscheinlich dicht bewohnten
Lagnnenstrich östlich und westlich des Amberno durch eine
Dampfbarkasse näher untersuchen zu lassen.
Auch van Braam Morris erwähnt, daß die Eingeborenen
den Fluß Mamberan (großes Wasser) nennen, ein Name,
der seit 1848 wiederholt vorkommt; nach den Mittheilungen
van Hasselt's sollte dies eigentlich Mamberaminu heißen.
Inhalt: Dieulafoy's Reise in Westpersien und Babylonien. XXIII. (Mit fünf Abbildungen.) — Prshewalski's
neue Reise in Nordost-Tibet. — W. Kobelt: Die „Verwüstung" der Sahara. — Dr. Zechlin: Das Rügcnwalder
Amt. III. — Kürzere Mittheilungen: Grönland im Jahre 1884. — Ans allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika.—
Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion: 1. März 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Herürksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet v o n Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
A m a z o n a s und C o r d i l l e r e u ’).
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wiener.)
VII.
Wie den Lesern des „Globus" bekannt ist, hatte Herr
Wiener sich ans einem von dem Kaiser von Brasilien
geliehenen kleinen Dampfer eingeschifft, um auf dem Flusse
Morona, der in Ecuador entspringt und unter 77° w.
L. Gr. in den Amazonenstrom mündet, Nachforschungen
nach dein Herrn von Günzburg anzustellen.
Nachdem er die Fahrt sechs Tage lang fortgesetzt hatte,
fand man zuerst einen mit Geröll bedeckten Flußboden, der
am folgenden Morgen in Felsen überging; der Weg zwischen
den mit prächtigen Bäumen bedeckten Abhängen war herr-
lich, voir den Cordilleren her kam eine frische Brise, welche
dem Reisenden nach der drückenden Hitze der letzten Monate
wieder einmal frei anfzuathmen erlaubte. Schon am
6. Februar 1881 erreichte der Dampfer die äußerste Grenze
der Schiffbarkeit des Morona; man lief auf einer Felsen-
bank auf, welche sich quer über den Fluß zog. Mit drei
Faden Wasser am Hintertheil des Schisses, kaum einem
Meter am Bug, mußte man alle möglichen Anstrengungen
machen, um wieder loszukommen. Es war lange vergeb-
lich; das Wasser fiel, das Schiff kam in ernstliche Gefahr;
die Lage war um so peinlicher, als Wiener die Ueberzeugung
hatte, daß er, wenn irgendwo, Nachrichten über von Günz-
bnrg zu Macas, weiter stromaufwärts, erhalten könne
und doch das Schiff mit seiner durch Krankheit geschwäch-
ten Besatzung nicht verlassen wollte. Deshalb wurde sein
Begleiter Michel Parys mit dem Dolmetscher und weiteren
st Fortsetzung von „Globus", Bd. 45, S. 167.
Globus XLVII. Nr. 14.
acht Begleitern am 7. Februar auf Kundschaft ausgeschickt.
Nachdem in der nächsten Nacht die Indianer den Versuch
gemacht hatten, das Lager Wicner's zu überfallen, wobei
sie einen Todten verloren, kam am 9. Februar der Dampfer
durch das Steigen des Wassers frei. Am 16. kehrte Parys,
begleitet von mehreren indianischen Piroguen, zurück; er
berichtete folgendes Uber seinen Zug: am Tage der Abreise
war man ohne Schwierigkeit weiter flußaufwärts gefahren;
der Strom war nicht besonders stark; als man am Abend
von den Indianern verlassene Pflanzungen sah, ankerte man,
um die Leute, deren Nähe man vermuthete, nicht durch An-
näherung während der Nacht in die Flucht zu treiben; am
folgenden Tage wurde die Reise fortgesetzt. Am Nach-
mittage fand man ans dem rechten Ufer frische Spuren von
Indianern; die Ermüdung und der schlechte Gesundheits-
zustand der Mannschaft waren Ursache, daß das Boot bald
anlegte und die Besatzung ans dem linken Ufer lagerte.
Am dritten Tage kam man an vielen Purmas (Pflan-
zungen) vorüber; auf dem rechten Ufer bemerkte man drei
kleine Zuflüsse, kurze ooroutuckos; wirklich schien die Barre,
auf welcher der Dampfer gestrandet war, das wichtigste,
vielleicht das einzige Hinderniß der Schiffbarkeit des Mo-
rona zu sein. Am vierten Tage endlich kam das Boot an
den Mangosisca, den rechtseitigen Quellfluß des Morona;
man folgte dem Laufe desselben und kam gegen 3 Uhr in
die Nähe einer Jndianerniederlassung. Die Eingeborenen
(Patucas) hatten die Annäherung des Bootes nicht bemerkt;
Ulan rief sie an und nach einiger Mühe glückte es, einige,
27
Amazonas und Cordilleren.
Huambiza-Jndianer vom Patuca - Stanune.
(Nach
emer Photographie.)
Amazonas und Kordilleren.
211
worunter den Häuptling, zu bewegen, sich dem Boote zu
nähern, worauf der genannte Würdenträger nach dem Zwecke
der Reise frug. Die Antwort, die man ihnen gab, wobei
auch die Absicht, Briefe nach Macas zu schicken, erwähnt
wurde, blieb unverstanden, bis die Wilden durch Geschenke
zugänglicher gemacht wurden. Hierauf erfolgte großer Zu-
lauf von Volk und wiederholte Freundschaftsbezeugnngcn.
Der Kern der Frage: „ein Weißer ist von Macas her-
gekommen, hat aber den Maranon nicht erreicht", wurde
ihnen jetzt begreiflich gemacht; sie konnten jedoch keine weitere
Auskunft geben, als daß Weiße vor einigen Monaten nach
Macas gekommen und sich nach dem Santiagoflusse begeben
hatten, um auf dem Maranon stromabwärts zu fahren;
wahrscheinlich sind dieselben am Pongo de Manseriche an-
gelangt, dann aber möglicherweise unter feindliche Stämme
gerathen. Parys erhielt von den Indianern Lebensrnittel
und wurde von einer Anzahl ihrer Boote nach der Stelle,
wo er Wiener verlassen hatte, zurück begleitet. Letzterer
schloß aus den empfangenen Berichten, daß er alle Hoff-
nung, von Günzbnrg zu finden, aufgeben müsse.
Dic Patncas gehören zu dem großen Stamme der
Huambizas, deren Sprache sie sprechen; im Natur-
zustände erschienen sie in günstigem Lichte, in den erbettel-
ten europäischen Kleidern boten sie dagegen einen ärmlichen
Anblick. Fünf Tage später kam Wiener in Aripari an,
nachdem er während der Reise die hydrographische Auf-
nahme des Morona vorgenommen hatte; nach 24stündiger
Ruhe daselbst wurde die Reise nach dem Pongo de
Manseriche, dem letzten schiffbaren Punkte des Ama-
zonas und der Stelle, wo derselbe aus den Bergen heraus-
tritt, fortgesetzt; dieselbe ist schwierig zu erreichen, und
Admiral Tucker konnte der Strömungen und Klippen wegen
auf seiner berühmten Expedition nicht bis dorthin gelangen.
36 Stunden lang setzte Wiener seine Reise fort; der
Fluß bleibt oberhalb des Morona breit und ruhig, das
Fahrwasser tief, ohne scharfe Krümmungen; die Ufer ver-
ändern sich, anstatt des Sandes findet man bald Schotter,
dann Kiesel, endlich ziemlich große Rollsteine. Am 21. Fe-
bruar wurde der Strom viel stärker, die Maschine arbeitete
mit Anstrengung und etwas weiter oberhalb traf man auf
die unter dem Namen Guzman bekannten Fälle, die man
nur mit der größten Anstrengung passirte. Hier sah man
Spuren der „Jnfieles", die sich am 22., nachdem man
den Pongo de Manseriche erreicht hätte, in der Nacht dem
Boote näherten, doch sich zurückzogen, als sie sich bemerkt
wußten. Vor sich sah die Expedition die Cordillere, die sie
von Chachapoyas und Jacu trennte. . Ganz in der Nähe
befand sich früher eine spanische Kolonie, Borja genannt;
die Gründer derselben waren über die Cordillere gekommen,
die Schwierigkeit des Verbindungsweges hatte sie jedoch
ganz von ihren Landsleuten abgeschnitten. Die alte Nieder-
lassung ist jetzt zerstört und Wald hat die Stelle, wo sie
gestanden, eingenommen. Im 16. Jahrhundert trugen die
dort befindlichen Goldwäschereieu dem Könige mehrere
Millionen Duros ein; die Kolonisten verloren aber nach
und nach ihre Energie und sind heutzutage weiße Indianer
geworden, die sich vor den Autochthoneu nach dem Gebiete
zwischen den Mündungen des Huallaga und des Ucayali
zurückgezogen haben. Nur in geringem Grade mit den
wirklichen Indianern vermischt, gehören sie nach Farbe,
Körperbau, Haaren und Haltung der weißen Rasse an, sind
jedoch in Sprache (Cocama) und Lebensweise ganz und gar
verändert und zu Indianern geworden. Sie kennen kein
Geld oder edles Metall, sondern lassen sich mit Waaren
bezahlen; katholisch sind sie nur dem Namen nach. Alle
| Eigenschaften des Jägers aber sind bei ihnen im hohen
27*
Engschlucht des Pongo de Manseriche. (Nach einer Skizze Wiener's.)
Amazonas und Cordilleren.
213
Grade entwickelt: sie schießen und verfolgen eine Spur in
bewunderungswürdiger Weise.
Pongo, ein Quichnawort, bedeutet „Pforte", und
wirklich ist der Pongo de Manseriche die Pforte der Cordillere,
durch welche der Rio Amazonas Serrano durchbricht,
um daun zum Amazonas der Ebene zu werden. Ehe er
die Stelle passirt, nimmt der Fluß, den die Huambizas
schon Maranon nennen, der aber geographisch Tunguragua
heißt, den Santiago oder richtiger Canuza auf. Das
Wasser stürzt sich mit furchtbarer Gewalt durch den Pongo,
aus 600 in stromabwärts hat es alle weiche Erde mit fort-
gerissen und biegt, durch eine Granitwand aufgehalten, in
beinahe rechtem Winkel ab. Das Bild des Engpasses ist
prächtig, die Wände fallen beinahe so steil wie Mauern ab
und widerstehen seit Jahrtausenden dem brüllenden, mäch-
tigen Strome. Um so interessanter war es für Wiener,
da er schon 1876 die Quelle des mächtigen Flusses, den
See von Lanricocha, besucht und denselben als schwachen
Wasserlauf, später als Tunguragua, gesehen hatte, denselben
hier am Pongo, wo er in die reiche Ebene eintritt, bewun-
dern zu können. Wenige hundert Meter unterhalb des
Pongo fließt der Fluß ruhig dahin. Ein siebenstündiger
Marsch auf dem linken Ufer des Marañon führte zu dem
Santiago, der oberhalb des Pongo in den großen Fluß
mündet. Eine Gesellschaft von etwa 30 Indianern, mit
der man Freundschaft schloß, führte Wiener in ihrem
Boote den Santiago aufwärts und später mit erstaunlicher
Geschwindigkeit durch den Pongo zum Ausgangspunkte
zurück. Oberhalb des Pongo hat der Fluß mehr als
250 in, der Pongo selbst nur 80 m Breite, und die auf-
gestauten Wogen bahnen sich unter furchtbarem Getöse den
Weg zwischen den Felsen hindurch; beinahe am Ende der
Enge, mitten im Fahrwasser, liegt eine große Klippe. In
zwölf Minuten hatte man zu Wasser den Weg gemacht,
Indianer-Hütten von Ungurahui am Rio Samiria. (Nach einer Photographie.)
zu dessen Zurücklegung über Land man zwei Tage vorher
sieben Stunden gebraucht hatte. Dieser Punkt scheint
Wiener von der größten Bedeutung für die zukünftige Ent-
wickelung jener Gegend. Er sagt darüber etwa folgendes:
„Wie Para das Entrepot für europäische Manufakturen
ist, so wird der Pongo eines Tages das Entrepot der zu-
künftigen Kornkammer des Amazonas der Cordillere sein;
doch wird der westliche Schlüsselpnnkt des Amazonas sich
nicht bei dem alten Borja auf dem linken Ufer des Ma-
ranon befinden, denn hinter demselben dehnt sich das Gebiet
der Huambizas aus und die Stadt würde hier in der
unmittelbaren Nähe der Abhänge der Gefahr ausgesetzt
sein, bei dem geringsten Erdsturz verschüttet zu werden;
käme dagegen die Stadt auf das rechte Ufer, so wäre letztere
Gefahr ausgeschlossen; außerdem öffnet sich hier eine Ver-
bindung mit der civilisirten Cordillere von Peru; sie muß
in die Nähe von Chachapoyas kommen, d. h. eines aus-
gedehnten Thales, welches dem Amazonas Korn und Kar-
toffeln liefern kann. Der Versuch dagegen, an Stelle des
alten Borja ein neues Borja zu gründen, hat zwei Millionen
gekostet und ist vollständig mißglückt." Man fuhr nun den
Maranon wieder hinunter, und etwa zwölf Kilometer ober-
halb der Mündung des Morona sah man die Feuer einer
Abtheilung Ahuarunas, eines Stammes, der zwischen
den halb und den ganz wilden Indianern in der Mitte
steht; sie sammeln Sassaparille und Kautschuk, die sie in
San Antonio und Aripari gegen Flinten und Pulver ver-
tauschen. Auch hier forschte man nach von Günzburg, ohne
jedoch etwas Bestimmtes in Erfahrung bringen zu können.
Die Zahl der Indianer betrug etwa 40; die dabei befind-
lichen Frauen, welche ziemlich angenehme Züge halten,
waren in der Kultur schon genugsam fortgeschritten, um
sich bei Annäherung der Europäer mit einem weiten Ge-
wände zu verhüllen, gewöhnlich aber gehen sie nackt.
214
Amazonas und Kordilleren.
Nach kurzem Aufenthalte wurde die Reise nach der
Mündung des Morona angetreten und, nachdem deren
geographische Lage bestimmt war, nach Aripari und San
Antonio fortgesetzt; darauf fuhr Wiener nach dem Rio
Pastazza. Auf den amerikanischen Karten wird dieser
Fluß größer als der Morona dargestellt; ja vor feiner Ab-
reise war dem Reisenden selbst eine englische Karte gezeigt
worden, auf welcher bemerkt war: schiffbar bis 130 Meilen
von Quito. Er war daher nicht wenig erstaunt, als er an
der Mündung des Flusses nur 31/2 Faden lothete (während
der Napo 12 Faden Tiefe hat) und man nach einer Stunde
mitten im Fahrwasser ans eine Bank lies, auf der nicht
einmal ein Faden Wasser stand und dabei noch an dem
Zustande der Ufer sehen
konnte, daß dcr Flnß seinen
höchsten Stand hatte.
Durch eine Ausnahme des
Querprofils wurde eine
eigenthümliche Erscheinung
nachgewiesen: der Pastazza
hat kein eigentliches Fahr-
wasser; auf seinem Grunde
haben sich Höhlungen ge-
bildet, in denen das Wasser-
Strudel bildet. Es erklärt
sich dies aus dem Umstande,
daß er kein eigentliches
Bett hat, sondern ohne
durch scharf gezeichnete Ufer
zurückgehalten zu werden,
eine große Fläche über-
fluthet und eine Unzahl
Arme bildet; außerdem
besteht das Bett aus Trieb-
sand, welcher der geringsten
Bewegung des Wassers
folgt.
Es blieb nun noch übrig,
zwei linksseitige Zuflüsse
des oberen Marañon, den
Tigre und den Eh am-
bir a, zu untersuchen.
Von beiden Flüssen kennt
man nur die Mündungen;
alles übrige, was auf den
Karten verzeichnet ist, mag
man als Phantasiegemälde
betrachten. Einige Stun-
den, nachdem man den
Pastazza verlassen hatte,
kam man an die Mün-
dung des Huallaga,
deren geographische Lage bestimmt wurde. Am Nachmittage
des 10. März erreichte man Parinari, wo Wiener so
heftig erkrankte, daß er kaum noch in das Hans des Herrn
Reategui gelangen konnte. Es war ein plötzlicher Anfall
der tabardillo oder trapiche genannten Krankheit; nervöses
Erbrechen, furchtbare Kolik und starkes Fieber strecken den
Patienten, der entsetzliche Schmerzen leidet, in unglaublich
kurzer Zeit hin; Wiener's Anfall dauerte 14 Stunden,
während welcher Zeit er nur zweimal bei Bewußtsein war.
Hierauf ließen die Schmerzen nach, das Fieber bekam die
Oberhand und er. fiel in Schlaf; nach vier Tagen konnte
er wieder aufstehen und am nächsten Tage wollte er ab-
reisen; ein Zufall leitete zu einer geographischen Entdeckung
unter Umständen, die Wiener folgendermaßen beschreibt.
Inneres einer Jndianerhütte am Samiria.
(Nach einer Photographie.)
Man hatte einiges Hol; nöthig, und während Herr
Reategui so freundlich war Wiener zu begleiten, hatte sein
Mayordomo, Namens Andrade, die Gelegenheit benutzt,
mit einigen Arbeitern seines Herrn seinen eigenen Inter-
essen nachzugehen. Als der Eigenthümer bei den india-
nischen Frauen Erkundigungen einzog, hieß es, daß Andrade
nach der Quebrada Samiria gegangen sei (Quebrada
in dieser Gegend, 9)cicu weiter im Norden, Jgarapé in
Brasilien bedeuten dasselbe: ein Bach, ein kleiner Wasser-
lanf ohne merklichen Strom). Wiewohl Wiener sich in
Jgnito nach allen zum Marañon gehörigen Wasserläufen
erkundigt hatte, war ihm der Name des Samiria nicht
genannt worden. Herr Reategui wollte Leute in einem
Boote ausschicken, um An-
drade zu suchen, Wiener
beschloß jedoch, dies selbst
zu thun, um den Samiria
kennen zu lernen. Diese
Fahrt, die nur ganz kurze
Zeit dauern sollte, dehnte
sich weit aus und führte,
wie schon erwähnt, zu
einer unerwarteten Ent-
deckung. Die Mündung
des von Süden kommenden
Samiria liegt etwa eine
Stunde stromab von Pa-
rinari; nran befand sich
dort am 5. März Nach-
mittags. Der Samiria,
schwarz wie Tinte, mündet
von Süden herein. Man
lothete und fand acht Faden
Tiefe; als man dies für
einen Irrthum hielt und
eine zweite Lothung vor-
nahm, fand man neun
Faden und eine Stunde
daraus mit elf Faden Leine
keinen Grund. Während
der Nacht wurde geankert,
am Morgen aber die Reise
fortgesetzt; gegen 5 Uhr-
Abends fand man Andrade
mit seinen Indianern und
den gefangenen Fischen;
nach und nach bei weiterem
Vordringen lothete man
sechs, dann fünf Faden.
Am nächsten Morgen
kam man an ein Wäldchen
von Kantschukbäumen, un-
ter denen zwei Jndianerhütten standen; in der inter-
essanten Umgebung boten die beiden von sehr gut-
müthigen Eingeborenen bewohnten Hütten durch ihr ein-
faches und malerisches Innere einen Anblick, der durch-
aus nicht an die Wildniß erinnerte. Diesen ganzen Tag
und auch am folgenden Morgen hatte man etwa 4, am
Nachmittage 3^ und 3 Faden Tiefe; die Breite des Fahr-
wassers betrug 7 Faden; noch nie hatte ein Weißer oder
ein Indianer dieses Wäldchen von Kautschukbäumen, von
den Eocamaß Ungurahni genannt, überschritten, Natür-
lich belebte die Freude, sich ans noch unbetretenem Pfade zu
befinden, den Muth Wiener's, dessen Gesundheit übrigens
viel zu wünschen übrig ließ. Am 11. März kam er zu
der Ueberzeugung, daß der sonderbare Fluß, auf dem man
6
Amazonas und Cordilleren.
sich befand, der Abfluß eines Sees fei: der sehr schwache
Strom war gleichmäßig, das Barometer unveränderlich,
und diese Vermuthung wurde schon am 12. März bestätigt,
wo man um 5 Uhr Nachmittags im See Wyfc ankani.
Wiener hielt sich für vollkommen berechtigt, seiner Ent-
deckung einen Namen beizulegen, da diese Gegend noch nie
durch Europäer oder Indier betreten worden war. Eine
allgemeine Bemerkung der Reisenden über die Namen möge
hier eingefügt sein: der Name, den man erfährt, wird sich
nach der Sprache des Führers richten, der denselben nennt;
jedenfalls aber werden sich dieselben Namen wiederholen,
da sie meistens der Beschaffenheit der Oertlichkeit oder zu-
fällig mit derselben verbundenen Ereignissen ihre Entstehung
verdanken. Hat z. B. ein Indianer einen Puma am Flusse
trinken sehen, so heißt die Stelle Puma Playa (Löwenstrand)
oder Puma Pacu (Löwenwasser). Aus dem Vorkommen
Wvse-See am oberen Samiria. (Nach einer Photographie.)
und der Verbreitung derartiger Namen irgend welche Schlüsse
zu ziehen, würde sehr gewagt sein.
"Nirgends Hütten von Eingeborenen, keine abgebrochenen
Zweige, keine Spur eines Jägers war zu sehen; die Thiere
des Waldes fliehen noch nicht vor den Menschen, zahlreiche
Affenfamilien betrachten die Reisenden mit einer Ruhe, als
ob sie von der Verwandtschaft mit ihnen überzeugt wären.
Ja, sagt Wiener, dieses äquatoriale Amerika, welches
schon seit vier Jahrhunderten entdeckt ist, ist ein sonderbares
Land; man findet da noch Wasserläufe von 400 Km Länge,
die selbst den Eingeborenen des unmittelbar daran grenzen-
den Landstriches unbekannt sind; übrigens ist der Samiria
nicht der einzige noch unbekannte Fluß.
Am 10. März gegen Mittag hatte das Wasser des
Samiria keine merkbare Bewegung mehr, die Rhizophoren
engten das Fahrwasser immer mehr ein; um 2 Uhr war
man buchstäblich unter den Bäumen gefangen. Da man
drei Tage lang in süd-südöstlicher Richtung gefahren war,
216
E. Metzger: Haiti.
hoffte man in einer anderen Richtung, als man gekommen war,
einen Ausweg zu finden; wirklich traf man einen solchen
Kanal, der nach dem Ucayali hinüberführte, aber er war fo eng,
daß kein Dampfer ihn, außer vielleicht zur Zeit des Hoch-
wassers, befahren könnte. Die Umstände, namentlich die Noth-
wendigkeit, zu S. Negis Lebensmittel einzunehmen, zwangen
Wiener, hier alle weiteren Untersuchungen aufzugeben.
Alle diese unbewohnten Landstriche find mit Kautschuk-
bäumen und Safsaparille, die in außerordentlicher Menge
vorkommt, bedeckt; aus Mangel an Händen verfaulen diese
Schätze. Aber welche Zukunft könnte über diesem Lande
aufgehen, wie Viele könnten hier eine glückliche Zukunft
finden!
Haiti.
Von E. Metzger.
I. Einleitung.
In nicht zu großer Entfernung von uns, drüben in
Westindien, in nächster Nähe von europäischen Kolonien
und nicht gar weit von dem unter dem Schutze des Sternen-
banners stehenden Kontinent liegt die Insel Haiti. Sie
hat ihren Namen der ans ihrer westlichen Hälfte liegenden
kleineren Negerrepublik gegeben, während der größere, öst-
lich gelegene Mulattenstaat San Domingo heißt; mit der
zuerst genannten wollen wir uns hier beschäftigen.
Die Republik Haiti ist äußerlich ein wohl geordnetes
Staatswefen, mit einem Präsidenten, dessen Sessel aller-
dings manchen Schwankungen unterworfen zu sein scheint,
mit Ministern, hohen und niederen Gerichtshöfen, mit
einem Erzbischof und einem zahlreichen diplomatischen
Korps, einer Armee mit Garde- und Linientruppen — mit
einem Worte, ans dem Papier scheint alles dort aufs Beste,
wenigstens ganz nach europäischem Muster, eingerichtet zu
sein, und wenn man mit der Geschichte des Landes be-
kannt ist, möchte man staunen über die Entwickelung eines
Staates, dessen Entstehung vor noch nicht hundert Jahren
mit blutigen Zügen in den Annalen verzeichnet wurde, die
von Mord, von Greueln aller Art begleitet war, welche
die aufrührerischen Neger nach ihrer Empörung am
25. August 1791 gegen die Weißen begingen, gegen ihre
ehemaligen Herren, die sie nach der Einnahme von Cap
Frantzais in den Tagen vom 21. bis 23. Juni 1793
grausam abschlachteten. Unter Toussaint L'Ouverture,
dem kühnen Neger, der durch das Direktorium als Ober-
general aller „französischen" Truppen auf San Domingo
anerkannt worden war, riß es sich von Frankreich los und
nach L'Ouvertnre's Sturz wurde Dessalines, der Napoleon
der Neger, Kaiser; daun finden wir einen König, sehen das
Land wieder als Republik, bis ein neuer Monarch auftritt,
Faustin I. (1849), der zehn Jahre lang das Scepter führte;
nach dieser Zeit ist Haiti Republik geblieben, wiewohl man
die liebgewordene Gewohnheit der inneren Streitigkeiten
und Revolutionen noch nicht aufgegeben hat.
Wie unbeständig die Zustände auch gewesen sein mögen —
die eben angeführten wenigen Daten haben es wohl in
genügender Weise nachgewiesen — so finden wir dort, wie
schon erwähnt, ein äußerlich wohl geordnetes Staatswefen,
was gewiß interessant ist, da dasselbe von Söhnen Afrikas
gegründet und entwickelt wurde, welche die Grausamkeit
des weißen Mannes ihrem heimathlichen Boden entrissen
hatte. Welche Stellung man auch dem Neger einräumen
will, man wird gestehen müssen, daß ein vertrauenswürdiger
Bericht eines ruhigen, gründlichen Beobachters, gerade über
diese Negerrepublik und ihre Bewohner einen höchst wich-
tigen Beitrag für die Erweiterung unseres Wissens liefern
muß. Haiti unterscheidet sich nämlich von der Schwester-
republik San Domingo dadurch, daß man zur Zeit der
Stiftung des Staates bei der Ausrottung des weißen Ele-
ments noch etwas gründlicher verfuhr, als dort der Fall
war; seit jenen blutigen Tagen hat das unvermischte Neger-
element fortwährend den größten Einfluß besessen und hat
rücksichtslos das weiße und das mischblütige Element zu
entfernen gesucht. Das ist ihm geglückt. Mit wenigen
Ausnahmen sind die Weißen von der Insel verschwunden,
sind ausgerottet oder vertrieben; die Zahl der Mulatten
beträgt kaum den zehnten Theil der Bevölkerung, die
übrigen Bewohner sind Vollblut-Afrikaner, und man kann
sie mit vollem Recht als einen echten Zweig der Neger-
rasse betrachten, der vom Stamme losgelöst, sich hier unter-
günstigen natürlichen Verhältnissen weiter entwickelt hat.
Günstiger nämlich als das Klima der heimathlichen Guinea-
küste ist der Himmel Westiudieus, und die fruchtbaren, gut
bewässerten Niederungen Haitis sind ein ausgesuchtes Fleck-
chen Erde, selbst in jenen so überaus üppigen Gärten der
westindischen Inseln, und bieten dem Bewohner ein viel
vortheilhafteres Feld für seine Thätigkeit, als die afrika-
nische Küste. Gewiß ist es also von mehr als einem Ge-
sichtspunkt aus betrachtet interessant zu erfahren, wie denn
jetzt der Zustand der Nachkommen jener aufrührerischen
Neger ist, nachdem sie seit drei Menschenaltern unter den
oben angedeuteten Verhältnissen gelebt haben und mit
großem Interesse haben wir darum das Buch Spenser
St. Johns i) begrüßt. Der Verfasser hat sich nämlich
lange in jenem Lande aufgehalten (zwölf Jahre lang als
englischer Geschäftsträger) und hatte Gelegenheit, sich mit
den Zustünden desselben bekannt zu machen, dann aber hat
er im Ganzen fündunddreißig Jahre lang unter verschie-
denen farbigen Stämmen zugebracht und hat kein Vor-
urtheil gegen Menschen, welche keine weiße Haut haben;
dies ist sehr begreiflich, denn, wie er mittheilt, hat er seine
Laufbahn unter Sir James Brooke begonnen, dessen unbe-
fangene Ansichten nicht gestatteten, daß in seiner Umgebung
auf Rasse oder Farbe begründete Einseitigkeit sich geltend
machte; das Urtheil eines Mannes, der in solcher Schule
erzogen ist, hat gewiß Anspruch auf volle Beachtung.
Im Vorhergehenden haben wir ungefähr die leitenden
Gedanken ausgedrückt, welche uns bestimmten, das Buch
Spenser St. John's mit besonderer Aufmerksamkeit zur
Hand zu nehmen in der Absicht, ans demselben Material
zu schöpfen, um den Lesern des „Globus" eine Uebersicht
von dem gegenwärtigen Zustande jener Republik zu geben;
vorher sei es uns aber erlaubt, noch ein Paar Worte über
i) Hayti, or the Black Republic. By Sir Spenser
St. John, K. C. M. G., London 1884.
E. Metzger: Haiti.
217
das Gefühl, welches sich unserer nach Beendigung des Buches
bemächtigt hatte, beizufügen. Es lag ans uns wie ein
schwerer Traum; immer und immer wieder riefen wir uns
alles zurück, was im Stande war, die (übrigens nie ange-
fochtene) Glaubwürdigkeit des Verfassers zu verbürgen;
wir sagten uns, daß ein noch im Dienst stehender Staats-
mann nicht so furchtbare Anklagen gegen ein Land ans-
sprechen würde, in dem er lange in amtlicher Stellung
gelebt, wenn dieselben nicht wahr waren, nicht jeden Augen-
blick bewiesen werden könnten. Die „Schwarze Republik"
lautet der zweite Titel des Buches, Passender hatte der Ver-
fasser es die „Kannibalenrepnblik" nennen können, denn
der brutalste, roheste Kannibalismus spielt unter den Be-
wohnern Haitis eine blutige Rolle. Gegenüber dieser
Beschuldigung, welche, wie wir sehen werden, nur zn gut
bewiesen ist, tritt alles andere, was der Verfasser anführt,
um die herrschende Anarchie zu brandmarken, um das Nach-
äffen europäischer Zustünde dem Fluche der Lächerlichkeit zn
übergeben, in den Hintergrund; man vergißt die Revolu-
tionen im Stil Robespierre's und die monarchischen Inter-
mezzos ä la Großhcrzogin von Gerolstein, mit ihren Grafen
und Marquis, wenn auch manchmal ein Herzog Schnaps
verkaufte und eine hochadclige Dame an der Waschbütte
stand; man vergißt, daß der Militarismus in der lächer-
lichsten Gestalt sich breit macht und ähnlich wie in Vene-
zuela die eine Halste der Armee ans Generalen besteht,
welche an Revuetagen in ihren strahlenden Uniformen mit
glänzenden Epauletten ans bunt aufgeputzten Pferden para-
dircn, während die Röcke ihrer Mannschaften kaum hin-
reichen, ihre Blöße zu bedecken, und die Beinkleider sich in
einem Zustande befinden, der hier zu Lande zu einer gericht-
lichen Verfolgung der Träger führen würde. Alles dies
aber, und noch viel mehr, muß vor dem entsetzlichen Bilde
zurücktreten, welches der Verfasser uns von dem auf Haiti
herrschenden Kannibalismus entwirft. Wir wollen hier
vorläufig nur die schauerliche Thatsache anführen, daß noch
1878 zwei Frauen auf frischer That ertappt wurden, welche
im Begriff waren, die blutlose Leiche eines Kindes roh zn
verzehren, nachdem sic vorher aus dem noch zuckenden
Körper das warme Blut ausgesangt hatten, und daneben
die zweite, daß eine Mutter, die ihre eigenen Kinder ver-
zehrt hatte, dies ruhig eingestand und hinzufügte: „Wer
hätte denn mehr Recht gehabt, dies zu thun, als ich? Habe
ich sie doch geboren." — Das Buch Spenser St. Johns
bildet ein furchtbares Dokument gegen die Ncgerrasse im
allgemeinen, aber unserer Ansicht nach auch einen wichtigen
Beweis gegen diejenigen, welche die Gleichheit aller Menschen-
rassen verkündigen. Dasselbe berührt düstere Seiten der
menschlichen Natur, doch wie schauerlich Manches, was in
demselben vorkommt, auch sein möge, für den Philosophen
wie für den Anthropologen findet sich, um mit A. H. Keane I
zu sprechen, auch in den Schattenseiten der menschlichen
Natur so viel Wichtiges und Belehrendes, daß wir nicht
zögern, im Folgenden den Versuch zu machen, demselben
eine möglichst vollständige Charakteristik der Leute aus Haiti
und der dort herrschenden Zustände zu entnehmen.
II. Die Bevölkerung. (Erste Hälfte.)
Die Bevölkerung von Haiti wird in dem Gothaer
Almanach aus 550 000 Seelen angegeben, wesentlich
höher schätzt sie Spenser St. John. Er begründet
seine Ansicht etwa folgendermaßen: Am Ende des vorigen
Jahrhunderts bestand die Bevölkerung ans 46 000 Weißen,
etwa 57 000 freien Farbigen und Schwarzen und gegen
510 000 Sklaven von beiden Farben. Madion, dem
diese Angaben entnommen sind, erwähnt ausdrücklich, daß
es eine Gewohnheit der Pflanzer sei, alle Kinder und alle
über fünfundvierzig Jahre alten Sklaven nicht in ihre
Listen aufzunehmen, um sich der Bezahlung des für Sklaven
festgestellten Kopfgeldes zn entziehen; demnach würde nach
Abzug der Weißen die Zahl der Bevölkerung damals auf
circa 750 000 Seelen angenommen werden müssen. Der-
selbe Autor ist der Ansicht, daß bis 1847 die Bevölke-
rungszisfer keine nennenswerthe Veränderung erlitten habe.
1863 schätzte der damalige Präsident General Gesfrard
die schwarze Bevölkerung nach den besten Quellen ans
900 000 Seelen; Spenser St. John meint, daß dieselbe
seit 1825 sich verdoppelt habe. Selbst wenn man diese
Angabe annehmen will, wäre die Bevölkerung schwach zu
nennen (Oberfläche beinahe 24 000 qkm); jedenfalls ist
sie viel schwächer, als sie sein könnte, denn mit Rücksicht
auf die Fruchtbarkeit der Negerinnen darf man wohl an-
nehmen, daß selbst die inneren Streitigkeiten der Zunahme
nur geringen Abbruch gethan haben. Wenn man einen
Haitier nach der Ursache fragt, meint er, daß die Nege-
rinnen schlechte Mütter seien. Ob der Kannibalismus
Einfluß hierauf hat, dürste wohl kaum nachzuweisen sein;
dagegen scheint eine andere Erscheinung (die große Ucber-
zahl der Frauen) anzudeuten, daß die Sterblichkeit bei dem
männlichen Geschlecht abnorm hoch ist. Wenn es nämlich
nach dem eben Erwähnten auch nicht gerade leicht sein dürfte,
die Gesammtzahl der Bewohner mit einiger Sicherheit anzu-
geben, so stinnncn doch alle Quellen darin überein, daß die
Zahl der Frauen viel größer als die der Männer ist;
manche behaupten, daß letztere nur den vierten Theil der
Bevölkerung ausmachen, andere schätzen ihre Zahl auf ein
Drittel derselben. Allerdings ist auch eine ähnliche Er-
scheinung aus der Guineaküste beobachtet worden. Doch
sind die Vorbedingungen nicht gleich. Während nämlich
ans der Küste eine starke Auswanderung, zum großen Theil
von Männern, stattgefunden hat, muß man für Haiti eine
Einwanderung aus der Union und ein Einströmen von
freigelassenen Sklaven berücksichtigen, was hauptsächlich der
männlichen Bevölkerung zn Gute kam, so daß man eher
denken sollte, daß das männliche Geschlecht hier in der
Mehrzahl sein müsse. Ob wir zur Erklärung an die
inneren Kämpfe allein zn denken haben, oder aber an-
nehmen müssen, daß eine erhöhte Sterblichkeit der Männer —
zu erklären durch die Excesse, denen sich dieselben in höhe-
rem Maße hingeben — stattfindet, ist eine offene Frage;
von europäischem Standpunkte aus möchte man sie vielleicht,
wie wir sehen werden, in letztgenanntem Sinne zn beant-
worten geneigt sein.
Daß etwa der zehnte Theil der Bevölkerung aus Far-
bigen besteht, ist oben schon erwähnt worden; dieselben
nähern sich mehr und mehr dem Negertypus, wie dies aus
der großen Uebcrzahl der Vollblutneger leicht erklärlich ist;
dieser Theil der Bewohner lebt meistens in Städten und
Dörfern.
Mackenzie hat von einer Art Bnschncger gesprochen, die
im östlichen Theile des Landes sich aufhalten und sehr ver-
schlagen sein sollen. Man hat dabei aller Wahrscheinlich-
keit nach an die Nachkommen geflüchteter Sklaven zu denken;
unser Autor hat sie nicht aus eigener Anschauung kennen
gelernt, sondern von ihnen nur bei einem gelegentlichen
Besuch, den er den Bergen abstattete, unter dem Namen
Vien-vienncnt sprechen hören; doch schien ihre Existenz
mehr traditionell als durch Thatsachen erwiesen zu sein.
28
i) „Nature" vom 4. Dec. 1884.
Globus XI.VII. Nr. 14.
218
E. Metzger: Haiti.
Die nächtlichen Ceremonien, bei denen man sie gesehen
haben will, dürften ans den Vaudouxdieust zurückzuführen sein.
Ehe wir ans die Neger- und Mulattenbevölkerung im
Einzelnen eingehen, dürfte es angemessen sein, zunächst die
Verhältnisse einigermaßen ans der Vogelperspektive zu be-
trachten. Dieselben sind derartig, daß sie nach Spenser
St. John die absolute Unfähigkeit der Neger darthun, sich
selbst zu regieren und eine unabhängige Stellung zu be-
haupten. So lange dieselben unter dem Einfluß der Weißen
stehen, meint er, geht alles gut; sind sie aber, wie auf
Haiti, sich selbst überlassen, so steht ihre Entwickelung nicht
nur still, sondern sie sinken in denselben Zustand zurück, in
dem sie sich in ihrer Heimath befunden haben. Zu dieser
Ansicht wird Jeder kommen, der lange in Haiti gelebt hat,
wenn er nämlich die Neger nicht mit der vorgefaßten An-
ficht betrachtet, daß alle Rassen gleich befähigt seien, in der
Civilisation fortzuschreiten. Ohne Zweifel sind die Mu-
latten im Ganzen intelligenter und zum Herrschen befähigter,
ohne daß sie bis jetzt einen bedeutenden Erfolg zu ver-
zeichnen hätten. Traurig ist es zu sehen, daß sie fast
immer von egoistischen Triebfedern geleitet werden; Patriotis-
mus, aufopfernde Thätigkeit für das Allgemeine kennen sie
beinahe nicht. An fast allen Verschwörungen und Um-
wälzungen der letzten Zeit sind sie betheiligt gewesen, aber
nur in der Hoffnung, Würden und Schütze zu erlangen.
Hierzu kommt das unangenehme Verhältniß zwischen Negern
und Mulatten; der Schwarze haßt den Farbigen, der ihm
dies mit Verachtung heimzahlt; so wüthen sie unter dem
Schutz der Gesetze gegen einander, und wenn die Neger
einmal die Oberhand haben, könnten sie wohl die empfan-
genen Beleidigungen wie zur Zeit Soulouques mit Blut
abwaschen. Ein Sprichwort sagt: „Nègue riche li mu-
latte, Mulatte pauvre li nègue" (der Neger macht den
Mulatten reich, der Mulatte macht den Neger arm).
Mancherlei Märchen und Erzählungen über die ver-
schiedenen Nassen esistiteli im Volksmunde; einige der
charakteristischsten wollen wir hier anführen, zum Beweise,
daß die Einheimischen einander ziemlich ungünstig beur-
theilen. Nach der Schöpfung wurde der weiße Mann, der
Mulatte und der Neger vor Gottes Thron berufen und
jedem die Erfüllung eines Wunsches zugesagt. Der Weiße
verlangte Bücher und Handwerkszeug, der Mulatte gute
Pferde und schöne Frauen, der Neger wendete sich in ängst-
licher Verlegenheit hin und her und bat endlich um ein
Stück Goldtresse. — Wenn ein Weißer, ein Mulatte und
ein Neger ins Gefängniß geworfen werden, wird der
Weiße — so sagt der Volksmund — Papier, Feder und
Tinte fordern, um gegen seine Gefangennehmung zu prote-
stircn, der Mulatte wird sich nach Mitteln zur Flucht um-
schauen, während der Neger sich sofort schlafen legt, nach
vierundzwanzig Stunden aufwacht, gähnt, sich reckt, um,
nachdem er sich umgesehen, sich auf die andere Seite zu
wenden und weiter zu schlafen. In politischer Beziehung
erklärt Spenser St. John die Haiticr für hoffnungslos
und die Verständigsten unter ihnen erkennen dies voll-
kommen an; sie gerade sind am meisten geneigt, an der
Zukunft zu verzweifeln, wenn sie sehen, wie alle paar
Jahre einmal eine Woge der Barbarei über die Insel
hereinbricht.
Gehen wir nun zur schwarzen Bevölkerung im Einzelnen
über, so müssen wir, von den höheren Ständen abgesehen,
sehr genau zwischen den Stadt- und Landbewohnern unter-
scheiden ; erstere sind durch den intimeren Verkehr mit
Weißen, die ihnen nicht immer gute Beispiele geben, häufig
noch unehrlicher und unverschämter geworden, als sie von
Hause aus sind, während, wenn man von einigen Lächer-
lichkciten absehen will, die allen Negern in europäischen
Augen ankleben, man von der Landbevölkerung im allge-
meinen einen günstigeren Eindruck empfängt. Diese kräfti-
gen Geschöpfe haben etwas Sympathisches, trotzdem sie
neben den guten Seiten einer wilden Nasse auch alle Fehler
derselben haben, denn trotz eines gewissen Firniß, den ihnen
der Umgang mit civilisirteren Landsleuten gegeben hat, tragen
sie unter Umständen die ganze Wildheit des afrikanischen
Charakters zur Schau. Unter einander sind die Neger
vom Lande sehr höflich, behandeln einander als monsieur,
frère, eonfrère.
Trotzdem Haiti eine Negerrepublik ist, müssen die
Neger im gesellschaftlichen Leben zurückstehen; auf Bällen,
in Koncerten, im Theater trifft man nur wenig schwarze
Damen an. In einer Gesellschaft bei Präsident Geffrard
zählte man drei Schwarze auf etwa hundert Farbige; die
schwarzen Herren waren zahlreicher, was sich zum großen
Theil aus ihrer dienstlichen Stellung erklärt, die sie zur
Theilnahme verpflichtete. Die farbigen Damen weigern
sich zuweilen auf Bällen mit Negern zu tanzen, was manch-
mal zu erbitterten Streitigkeiten führt.
Gegenüber dem Weißen ist der Neger im allgemeinen
achtungsvoll und herzlich; trotz allen Widerspruchs kann
man behaupten, daß namentlich die niedrigen Klassen den
Weißen als ein Wesen höherer Art betrachten. Sie nehmen
daher aus diesem Grunde, wenigstens bis zu einem ge-
wissen Punkte, seinen Gottesdienst an, wiewohl sie darum
weder ihre eigene Schlangenverchrung noch ihre Ammcn-
mährchen aufzuopfern, noch viel weniger von ihren Ver-
gnügungen, ihren Leidenschaften zu lassen geneigt sind. Der
Vaudoux-Priester ermnthigt sittenlose Tänze, übermäßiges
Trinken, den uneingeschränkten Verkehr beider Geschlechter;
gleichzeitig aber empfiehlt er Kerzen in den katholischen
Kirchen anzuzünden; er hält seinen Gott, eine ungeheure
Schlange, in einem Tempel, dessen Wände mit Bildern
der Jungfrau Maria und der Heiligen bedeckt sind. Diese
unbewußte Unterordnung unter den Weißen zeigt sich auch
in anderer Beziehung. Vielleicht wird der Neger einmal
unverschämt werden, vielleicht dem Europäer unter dem
Ausstößen des beliebten Fluches f... die Worte entgegen-
schleudern: „Wir sind alle gleich hier"; die herumstehende
Menge mag dem möglicherweise gar Beifall klatschen, aber
eine feste, entschlossene Haltung bringt den Schwarzen bald
dazu, den Streit aufzugeben und, wenn das geschieht, er-
reicht die Freude der Umstehenden den höchsten Grad. Der
Neger hat eine außerordentliche Ehrfurcht vor einer fremden
Flagge; als während innerer Unruhen einmal das eng-
lische Konsulat bedrängt wurde, um die Auslieferung einiger
Flüchtlinge zu erzwingen, trat der Anführerin drohender
Haltung vor den englischen Vice-Konsul, der die Empôràr
vergebens zu beruhigen versucht hatte. Der Beamte breitet^
den Union Jack über die Stufen, die zum Hause führten,
und sagte zum Anführer: Wenn Ihr den Muth habt,
tretet über die Flagge hin und holt die Flüchtlinge. — „Ich
nicht", fugte der Häuptling (Acaau), der sonst nicht eben
leicht in Verlegenheit gerieth; denn als ihm einst ein Bom-
bardement durch zwei aus der Rhede liegende englische
Kriegsschiffe angekündigt wurde, sagte er ruhig: „Gut, an
welchem Ende wollt Ihr anfangen? Ich werde die Stadt
am anderen Ende in Brand stecken."
Die Bevölkerung H ist auch ihrer Abstammung nach
nicht homogen; man merkt dies erst, wenn man im Inneren
des Landes reist; man findet einzelne, schöne Leute mit
ft Man vergleiche zu dem Folgenden die haitischen Typen
im „Globus", Bd. 37, S. 86, 102, 114, 130, 131 u. 133.
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
219
offenem Gesicht, andere, welche dem gemeinen Gorilla ähn-
lich sehen; die Haut mancher Haitier ist so glänzend schwarz,
daß sie wie gewichst aussieht, andere haben eine matte
Farbe, wie wenn sie krank wären; die einen sind tief-
schwarz, andere röthlich angehaucht. Schöne Negerinnen
sind selten; im Ganzen jedoch soll der Typus der Haitier
über dem der Afrikaner stehen. Eigenthümlich ist es, daß
die Schwarzen eine Art scheuer Abneigung gegen Assen
zeigen, sie empfinden es unangenehm, daß der Weiße ans
den Gedanken kommen könnte, es sei nur wenig Unter-
schied zwischen einem recht häßlichen Neger und einem hüb-
schen Gorilla. Die Negerdamen fühlen sich namentlich
durch das kurze Wollhaar gekränkt und versuchen alle
Toilettenmittel, um dasselbe in, wenn auch noch so kurze,
Flechten zu zwingen. Manche Stunde Arbeit, manche
Bürste und manches Fläschchen Oel wird dabei verbraucht;
erst wenn die Frauen mehr als zur Hälfte weißes Blut in
den Adern haben, gelingt es ihnen, ihr Haar zu bezwingen;
trotzdem aber zeigt dasselbe manchmal noch starke Wellen-
form; daß der Chignon auch dort eingedrungen ist, er-
wähnen wir nur der Vollständigkeit halber. Zu den von
allen — männlichen und weiblichen — Negern am besten
gehaßten Dingen gehört auch der Name, mit dem wir sie
hier bezeichnen (den sie allerdings auch unter einander ge-
brauchen); von Fremden hören sie den Namen gens de
couleur lieber; übrigens ist auch der Ausdruck Mulatte
nicht beliebt.
Eine besondere Eigenthümlichkeit der Neger ist es, laute
Selbstgespräche zu führen; manchmal werden sie heftig und
unterbrechen sich dabei; wie es scheint, vergessen sie ganz
und gar, daß man sie hört, und plaudern ihre Geheimnisse
aus. Uebrigens sind sie auch im Zwiegespräch sehr heftig
und gebrauchen ohne Zurückhaltung die schmutzigsten Worte
des Kreolen-Französisch; namentlich bei älteren Leuten ist
es sehr schwer, diese Gewohnheit zu unterdrücken. Rein-
licher sind sie, was ihren Körper betrifft, dem sie die Wohl-
that eines Bades ziemlich häufig zukommen lassen, weniger
sorgfältig dagegen in ihrer Kleidung. Die Männer ahmen
oder äffen ihre europäischen Nachbarn nach, die Frauen
tragen ein langes weißes Hemd und darüber ein weißes,
„bis über die bloßen Füße reichendes Kattunkleid, welches
an der Taille zusammengenommen wird. Bei feierlichen
Gelegenheiten kleiden sich die jüngeren Negerdamen in Weiß,
was gegen die schwarzen Gesichter recht hübsch absticht.
Seitdem die Sonntagsmürkte abgeschafft sind, besuchen auch
die Frauen der landbancndcn Bevölkerung die Kirche und
nehmen sich dort die Toilette ihrer höher gestellten Schwe-
stern (europäische Mode) zum Muster; doch kleidet der
Hut sie nicht so gut wie das Kopftuch (tjgnon), welches,
wenn es von weißer Farbe ist, Trauer bedeutet. Der
meiste Luxus soll mit sehr seinen Unterkleidern getrieben
werden und ein reicher Vorrath von Wäsche ist der Stolz
der Hausfrau.
Eigenthümlicherweise herrscht bei beiden Geschlechtern
eine große Vorliebe für Hausmittel, die man für alle
Leiden vom einfachen Zahnschmerz bis zum gelben Fieber
hat; die Doktoren müssen dieser Liebhaberei Vorschub
leisten und die Apotheker sehen ihren Weizen dabei blühen.
Wiewohl der Schwarze häufig seine Lebensgefährtin nimmt,
ohne dem Standesamt, ja selbst ohne der Kirche beschwer-
lich zu fallen (die Meisten sind nur place), ist er in seinem
Familienleben recht gemüthlich. Der wohlgesteüte Neger-
Hat übrigens gewöhnlich mehrere Frauen, von denen die
jüngeren in einem Nebengebäude leben, während der Fa-
milienvater in ihrer Mitte im Hanse wohnt. Freitags
zieht er dann zum Markt, hoch zu Esel mit dem jüngst
geborenen Kinde in seinem Arm, während die Frauen und
größeren Kinder unter ihrer Bürde gebückt gehen oder
Lastthiere treiben. Diese thatsächliche Vielweiberei, der die
französischen Priester vergebens ein Ende zu machen suchten,
erklärt sich zum Theil aus der Ueberzahl der Frauen (die
selbst den Bemühungen der Missionare entgegentraten),
theils ans der stark entwickelten Sinnlichkeit der Neger.
Alle Klassen erlauben sich in geschlechtlicher Beziehung
große Freiheiten, wozu, wie es heißt, auch das Klima
anreizen soll. Der Mangel an Zurückhaltung in Worten
und Thaten erklärt es genügend, daß alle Mühe — wenn
man sich dieselbe geben wollte — nicht im Stande sein
würde, Keuschheit der Seele bei der heranwachsenden Genera-
tion zu erhalten; bei dem freien Umgang zwischen beiden
Geschlechtern und dem Mangel an anderen Zerstreuungen
folgt dann sehr bald ein vertraulicher und sehr uneinge-
schränkter Verkehr zwischen Männern und Frauen.
Wie leicht und in wie hohem Grade die Sinnlichkeit erregt
wird, beweist folgende Geschichte, die uns Spenser St. John
mittheilt. Eine französische Operngesellschaft, bei der sich
zwei Tänzerinnen befanden, gab Vorstellungen in Port
au Prince. Ein Ballet eröffnete die Vorstellung, anfäng-
lich verhielten sich die im Parterre dicht gedrängten Neger-
ruhig; die unerfahrenen Schwarzen konnten ihren Augen
nicht trauen, als sie sahen, wie die weißen Mädchen ihre
Reize so ungenirt zeigten; bald aber füllte sich das Haus
mit Jubelgeschrei, die den Blicken Aller preisgegebenen
Schönheiten erregten die Neger in bedenklicher Weise, und
ihre Bewunderung äußerte sich in einer Weise, daß die
Tänzerinnen vor Erstaunen und Furcht erblaßten und die
Europäer, welche der Vorstellung beiwohnten, froh waren,
als dieselbe ohne weitere Störung ablief.
Das R ü g e n w a l d e r A tu t
Von Dr. Zechlin.
IV.
Nördlich von dem Höhenzuge breitet sich zwischen
Vittcr- und Vietzker-See eine tiefe Niederung ans. Der
Vittersee hat eine Länge von 5 km und einen Flächen-
inhalt von 7,3125 qkm. Seine User sind flach, in seinem
Schilfe nisten zahlreiche Entenschwärme; er ist durch ein
(Schluß.)
Tief mit der Ostsee verbunden; an seiner südlichen Seite
liegt die Domäne Palzwitz, au seinem nordöstlichen Ende
das Fischerdorf Bitte. Bei diesem Dorfe soll ein Schloß
in den See gesunken sein, von dem man noch bei klarem
Wetter aus dem Grunde Steine liegen sieht. Die Sage
23*
220
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
erinnert lebhaft an die Steine Vinetas am Fnße des
Streckelberges. Thatsache ist, daß Steine aus dem See
geholt werden, die man zum Molenban in RUgenwalde
verwendet. Die Niederung selbst besteht ans moorigen
Wiesen, durch welche Dämme führen. Aus einer Anhöhe
östlich von Bitte liegt das langgestreckte Dorf Nütze ir-
li a gen. Nachdem wir noch Natzmershagen passirt
haben, kommen wir nach dem in Hommerschen Landen
einen guten Klang habenden Dorfe Lanzig, welches dicht
am Vietzker-See liegt.
Das Dorf ist aus einem wiesigen, sumpfigen Terrain
angelegt, daher heißt es auch: Sumpfwiese; der Boden,
welcher zu dem Dorfe gehört, ist zrr uaß; nach der südwest-
lichen Seite ist derselbe leichter, hier ziehen sich Weide-
strecken hin, und der Geruch der blühenden gelben Lupinen
erinnert uns an den hinterpommerschen Landrücken. Lanzig
ist fächerförmig angelegt, mehrere Teiche befinden sich in
demselben. Die Kirche liegt ziemlich in der Mitte auf
einem von schönen Linden umsäumten Platze, von welchem
die Dorfstraßen strahlenförmig ausgehen. Der Thurm der
Kirche ist massiv, auf ihm sitzt eine hölzerne Spitze, die
wie ein Zuckerhut auf einem schmalen Unterbau herüber-
ragt. Sie ist mit Strebepfeilern versehen, dreischifsig, aber
mit flacher Decke; ursprünglich war sie anders gebaut, in
drei Dächern, wie eine Inschrift aus dem Jahre 1687
besagt, ist aber unter ein Dach gebracht. Am Altar fällt
ein leidliches auf Holz gemaltes Altarbild, Joseph und die
Frau des Potiphar darstellend, in die Augen. Ungemein
viel Kränze zur Erinnerung an Gestorbene hängen in der
Kirche.
Nicht weit von der Kirche an dem Gasthose vorbei, der
mäßigen Anforderungen genügt, kommt man zìi dem Hofe,
wo vor Jahrhunderten der Beschützer Bogislaw's X., der
Bauer Hans Lauge, wohnte. Bor dem Gehöfte erfreut
uns ein hübscher Blumengarten, hinter welchem sich das
Wohnhaus befindet; an dasselbe schließt sich der viereckige
Hof an. Es steht nicht mehr an derselben Stelle, wie das
Wohnhaus Lange's. 1836 wurde es an der vorderen
Seite des Hofes aufgebaut; vordem stand an derselben
Stelle eine Scheune mit Thorweg und gegenüber das
Wohnhaus. Es ist ein einstöckiges mit Stroh gedecktes
Haus. Ueber der Thür ist eine Tafel angebracht, aus der
folgende Inschrift in goldenen, großen Buchstaben prangt:
„Hans Lang in diesem Hos hat vormals aufgenommen den
Herzog Bogislaw, der sonst wär umgekommen, Und ihn
mit Speis' und Trank versorget bis zur Zeit, da er ge-
langet ist zur Krön und Herrlichkeit. Neuovatum 1836."
Wann die Inschrift entstanden, ist mir nicht bekannt. Doch
befindet sich aus einer Bodenkammer der Balken von dem
früheren Hause, aus welchem dieselbe Inschrift mit der
Jahreszahl 1686 eingeschnitten ist. So ist wahrschein-
lich, daß bei dem Neubau im Jahre 1686 die Inschrift
verfaßt worden ist. Die Nachkommen Hans Lange's be-
finden sich nicht mehr im Dorfe, auch haften an dem Grund-
stücke zum großen Aerger des jetzigen Besitzers keine Gerecht-
same. Denn Hans Lange hatte keine Belohnung für sich
verlangt, aber, so lange er lebte, stand er bei Herzog Bogis-
law in großen! Ansehen. Er wurde bei Hose freundlich
aufgenommen und redete den Herzog mit „Du" an. „Und
so es an einem Orte", erzählt Kantzow, „etwas nicht richtig
zuging, zeigt Hans Lange es Herzog Bogislaw an, damit
er es abschaffte, darum ihm die Amtleute nicht gut waren,
aber er fragte nichts darnach, denn sie konnten ihm nichts
thun. Und oft, wenn Herzog Bogislaw jemand von ihnen
absetzen wollte, als einstmals den Amtmann zu Rügen-
walde, der von den Strandgütern etliche Zobel, Marder
und ander Fellwerk unterschlagen, kamen sie zu Hans
Lange, der pflegte zu dem Herzog zu sagen: Du will dieseu
nun absetzen, den wir nun gespicket und schier satt gemacht
haben und setzest uns eine hungrige Lus wieder hin, die
sauget uns von neuem wieder aus und machet uns gar
arm, darum laß uns diesen, den wir rin glich er x) halten
können. Die Länge, wie er alt wurde, starb er und wurde
zu Lautzke begraben, da er nirgends anders zu liegen ge-
wählt hatte. Und wollte stracks nicht, daß seine Kinder
sollten frei sein, sondern daß sie sollten nach seinem Tode
dienen und Zinsen geben, wie er und seine Vorfahren ge-
than hätten." '
Wiesen trennen das Dorf vom Vietzker-See; interessant
ist, daß diesen Wiesen noch der Name Klosterwiesen, sowie
dem sich durch sie hindurchschlängelnden Bach der Name
Klosterbach anhaftet zur Erinnerung an die kurze Zeit von
1394 bis 1407, in welcher das Kloster Marienkron hier
gegründet war und bestand. Der Vietzker See hat seinen
Namen von dem aus einer Landzunge liegenden Dorfe
V i etzk e, er hat eine dreieckige Gestalt und ist 10,6875 qkm
groß, sein Areal gehört größtentheils zum Stolper Kreise,
an seinen Usern wächst viel Schilf. Er ist durch einen
Ausfluß, die Glawenitz genannt, mit der Ostsee verbunden;
an beiden Seiten dieses Baches, der bei der Domäne
Neuen Hagen den See verläßt, ziehen sich Wiesen hin,
so daß noch bis Ende Juli die Leute mit dem Einfahren
des Heues zu thun haben. Wandert man, sobald man
von Neuenhagen bis zum Aalkaten gelangt, den Weg östlich
nach Vietzker Strand, einigen Fischerkalen aus der Neh-
rung, so gelangt man hinter diesen Gehöften zu einer
wandernden Düne, der einzigen, die sich, soviel ich weiß,
an der ganzen Küste von der Swiuemündung bis Leba be-
findet. Sie wandert in der Richtung von Westen nach
Osten, in ersterer Richtung steigt sie allmählich an, da-
gegen bildet die östliche Böschung einen ziemlich steilen
Winkel, der 24° betragen mag. Um wie viel Fuß sie
jährlich wandert, ist noch nicht konstatirt worden; alle orts-
kundige Leute versichern, daß sie von der Glawenitz ihren
Ausgangspunkt genommen hat.
Geht man dagegen vom Aalkaten gerade aus, so ge-
langt man auf sandigem Wege immer bergauf zu dem
Fischerdorf Jershöst; kurz vor dem Dorfe hört der Sand
auf und Lehm tritt an seine Stelle. Es liegt auf einem
Berge, das Höst genannt, der steil zur Ostsee hinabfüllt,
circa 30 bis 35 m hoch. An der östlichen Seite des
Dorfes landeinwärts, so daß das Dorf sich zwischen ihm
und der See befindet, liegt der Leuchtthurm, der aus
160 Fuß Höhe seine Lichtstrahlen nach allen Seiten hin
wirft. Von seinem Fnße führen 122 Stufen nach oben.
Man hat von hier eine prachtvolle Aussicht auf das Meer,
den Bitter- und Vietzker-See, auf das Amt mit seinen zahl-
reichen Dörfern und Kirchen, im Hintergründe die großen
königl. Forsten, hoch im Nordosten die Stolpmünder Chaussee.
Der Leuchtthurm selbst wurde 1837 gebaut; er hat ein
Blick'feuer, welches aus fünfzehn Lampen, die mit Schein-
blendern versehen sind, strahlt. Immer fünf Lampen zu
gleicher Zeit treten in den Gesichtskreis, dann dreht sich
das Räderwerk, das durch ein Uhrwerk in Bewegung er-
halten wird, und andere fünf Lampen strahlen ihr Licht aus;
in sechs Minuten dreht sich das ganze Werk um seine eigene
Achse. Das Dorf selbst streckt sich fast 2 km in die Länge
und besteht aus freundlichen Häusern; am westlichen Ende
liegt der Krug, in welchem man für 50 Pf. ein leidliches
Nachtguartier findet. In der Sommerszeit führt eine An-
st geringer.
Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt.
221
zahl Badegäste, die größtentheils aus dem benachbarten
Schlawe kommen, hier ein beschauliches Leben. Das Lehm-
plateau geht ungefähr noch tausend Schritte weiter, zahl-
reiche Stücke sind aus den steilen Abhängen herausgerissen,
Schluchten haben sich gebildet, so daß der Fußsteig oben in
Windungen entlang führt, einzelne isolirte Kuppen von
blaugrauem Thon sind dem Abhange am Strande vor-
gelagert, welche wohl der nächste Sturm zerstören wird.
Tertiäre Schichten sind durch die Eingriffe der See bloß-
gelegt, glimmerreiche Sande von weißer, gelber, blangrauer
Farbe und charakteristische Formsande wechsellagern mit
ähnlich gefärbten Thonen. Die Abhänge sind sehr gnellig,
und diese Quellen tragen das meiste zur Zerstörung und
Verminderung der Lehmwand bei. Die See hilft getreu-
lich, daher stürzen unerbittlich im Frühjahre, wenn die
gefrorenen Lehmklumpen anfthauen, große Stücke hinab.
So wurden an einer Stelle in diesem Frühjahre circa
50 Fuß weggerissen. Im Jahre 1800 sanken drei Morgen
Landes vom hohen Uferrande herab. Früher fand sich zwischen
Dorf und See eine Trift, längst hat die See diese fortgespült,
und wiederholentlich siedeln sich die Fischer landeinwärts an,
nachdem ihr altes Heim die See unwohnlich gemacht hat.
Zum Schutz sind Pfähle in die See gerammt, die aber
vollständig unvermögend sind, die Gewalt der Wogen zu
brechen. Eine ähnliche Stelle findet sich noch bei Horst
(Kreis Greisenberg) in Hinterpommeru, wenn auch dort
die Lehmwand lauge nicht ein so zerrissenes Profil zeigt.
Unten am Strande am Fuße der Lehmwand wurde ich aus
einen Stein mit Gletscherstreifen aufmerksam gemacht.
Derselbe war durch das Fortspülen des Lehmes bloßgelegt
und zeigte ans der glatten Oberfläche parallel laufende
Rillen. Die untere Hälfte war erhöht, gleich als wenn
eine Treppenstufe aufgesetzt wäre. In dem rechten Winkel,
den die Kante und die obere Hälfte bildete, hörten die
Rillen auf, setzten sich aber auf der unteren Seite daun in
gleicher Weise fort. Es war ein Granitblock, auf dem eine
Gncisschicht lagerte. Südlich von Jershöft ziehen sich
Moore hin, westlich ein Wäldchen, durch welches der Weg,
nachdem man eine Niederung passirt, nach dem hochgelegenen
Nützenhagen führt.
Es erübrigt noch, auf unsere Süd grenze, die alte
Landstraße, welche von Köslin nach Stolp führt, näher
einzugehen. Es war dies ein Theil der großen Heer-
straße, welche von Berlin nach Königsberg ging und welche
namentlich seit Beginn des 18. Jahrhunderts die preußi-
schen Könige zu ihren Reisen nach Ostpreußen benutzten. Auf
dieser Straße fuhr häufig Friedrich Wilhelm I., um sein
Schmerzenskind, Ostpreußen, zu besuchen. Denselben Weg
benutzte sein großer Zeitgenosse Peter, als er 1717 Friedrich
Wilhelm besuchte. Andere Fürstlichkeiten folgten. So die
Landgräfin von Hessen-Darmstadt, Karoline mit ihren
Töchtern und in Begleitung des Freundes Goethe's, Merck,
um den russischen Hof mit einer Kaiserin zu versorgen.
Dann Prinz Heinrich und der spätere russische Kaiser Paul
(1776 I. Als einer der letzten unser Kaiser im Jahre
1817, als er seine Schwester Charlotte zur Hochzeit mit
Nikolaus in ihre neue Heimath begleitete. Bald darauf
wurde der alte Sandweg in eine feste Chaussee verwandelt,
eine der ersten, welche Pommern erhielt; sie wurde 1835
vollendet. Jetzt ist die Poststraße, seitdem die Eisenbahn,
welche kurz vor Ausbruch des französischen Krieges vollendet
wurde und welche nördlich von der Chaussee geht, verödet.
Benn Eintritt der Landstraße in unser Gebiet liegt
Zanow am nordöstlichen Fuße des Gollenberg es,
9 irrn von Köslin. Es besteht im wesentlichen ans einer
Straße und hat keinen Marktplatz; ein kleines Bächlein,
der Pollnitzbach, welcher sich in den Nestbach ergießt, fließt
an der Stadt vorbei, doch sind diese Wässerchen schwerlich
Veranlassung zur Gründung gewesen. Der Boden ist
mittelgut und die Wiesenflächen sind bedeutend. Die Be-
wohner ernähren sich von Landwirthschaft und Kleingewerbe.
Am bekanntesten ist die Stadt durch ihre beiden Zündhölzer-
fabriken geworden, die ihre Produkte selbst in überseeische
Länder ausführen und in denen viele Einwohner lohnende
Arbeit finden. Ihnen hat die Stadt auch ihre rasche Ent-
wickelung zu verdanken. Im Jahre 1740 hatte sie 450
Einwohner, 1880 2517 Einwohner; aus hundert Ein-
wohnern des Jahres 1782 sind 427 des Jahres 1880
geworden.
Schon seit alter Zeit befand sich hier eine Niederlas-
sung, hervorgerufen durch den Verkehr auf der alten Land-
straße von Stettin nach Danzig und namentlich durch die
Lage am Fuße des Gollenberges veranlaßt. Denn der Gol-
lenberg galt in vergangenen Jahrhunderten für ein großes
und hohes Gebirge, welches nach Mikräl, der 1724 schrieb,
bis an die Karpathen reichte und das gefährlich war zu
passiren. Räuber hausten hier und zur Nachtzeit vermied
man ihn gern. So erzählt Hannke J, daß noch im vori-
gen Jahrhundert in dem Dorfe Klus, dicht bei Zanow, der
Postwagen 4 Stunden liegen bleiben mußte, weil die Passa-
giere —- drei Juden, die viel Geld bei sich führten — die
Nacht nicht durch den verrufenen Gollenberg fahren wollten.
Um wie viel mehr wird Jahrhunderte vorher der Gollen-
berg gefürchtet und gemieden worden fein. Daher fanden
sich auf beiden Seiten des Gollenberges frühzeitig Nieder-
lassungen, um den reisenden Kaufmann, der bei Nachtzeit
nicht den gefährlichen Berg passiren wollte, aufzunehmen. Und
so hat auch ein wendischer Mann Namens Zan hier eine
Taberne gegründet und dem Städtlein den Namen gege-
ben, denn Zanow lstXckzsetivnni possessivum vom Eigen-
namen Zan oder Czan. Allmählich wurde der Ort größer.
Deutsche Stadt wurde er im Jahre 1343 und von den-
selben Stüdtegründern wie Schlawe und Rügenwalde mit
Lübischem Recht bewidmet.
Vor der Stadt sieht man noch den Wall, worauf ehe-
mals ein fürstliches Schloß gestanden hat. Der interessan-
teste und erwähnenswertheste Moment der stüdtifchcn
Geschichte ist der, daß Bogislaw X. 1480 in diesem Schlosse
von den Köslinern überfallen und gefangen nach Köslin
geführt wurde. Der nähere Hergang ist folgender. Kauf-
leute und Krämer aus Köslin fuhren an Zanow vorüber
und das Hofgesinde des Herzogs nahm ihnen ohne Wissen
desselben ihre Waaren fort. Die Kösliner machten nun
großes Geschrei in der Stadt und zogen in hellen Haufen
vor das Zanower Schloß. Der Herzog suchte sie zu be-
ruhigen und befahl ihnen, Namen zu nennen. Da sie aber
keinen der Uebelthäter kannten und heftig auf die Burg
drangen, erhob sich ein allgemeiner Tumult, in welchem
viele verwundet wurden. Ein Kösliner hob eine Helle-
barde gegen den Herzog auf, um sie ihm auf den Kopf zu
treiben, und hätte ihn erschlagen, wenn nicht Adam Pode-
wils, der Hauptmann von Zanow, dazwischen gesprungen
und den Bürger niedergeworfen hätte. Zuletzt wurde der
Herzog gefangen und im Triumph nach Köslin geführt.
Der Stadtdiener ritt voran und ries den Bürgermeistern,
die auf dem Markte standen, zu: „All gewunnen, all gewan-
nen." Aber die Bürgermeister erschraken auf die Nach-
richt von der Gefangennehmung des Herzogs, gingen ihm
x) Hannke, Pommersche Skizzen, S. 62 sf.
i) A. a. O. S. 64.
222
Aus allen Erdtheilen.
vors Thor entgegen und baten ihn um Verzeihung. Der
Herzog Bogislaw ließ die Kösliner nicht so leichten Kaufes
davon und legte ihnen harte Bedingungen auf. Etliche
tausend Gulden war er ihnen schuldig, von welchen weiter
nicht die Rede war, dazu mußten sie noch 3000 Gulden
geben und einen neuen goldenen Becher. Wenn er nach
Köslin käme, sollten sie ihn und seine Gemahlin mit
200 Pferden stattlich verpflegen, das Thor niederreißen
und ihn zum Zeichen der Unterwerfung darüber reiten las-
sen; ferner sollten sie ihm mit der ganzen Klerisei, den
Jungfrauen aus dem Kloster, entgegengehen, ihm einen Fuß-
fall thun und ihn um Vergebung bitten, schließlich noch
seiner Gemahlin ein Kleinod mit 200 Goldgulden geben.
„Und von dieser Geschichte ist entsprungen das Sprüch-
wort, daß man saget, daß die Kösliuschen wohl eine Thor-
heit thun dürfen und dürfen sie auch wohl bezahlen."
Im siebenjährigen Kriege hatte die Stadt viel durch
die Russen zu leiden, so daß sie bis auf 24 Wirthe aus-
gestorben war.
Die Zanower haben von jeher viel auf Ehre und
Reputation gehalten. Als die Stadt nach der brandenbur-
gischen Besitznahme 1653 durch Urtheil ihrer Jmmediat-
würde für verlustig erklärt und zu einem Amtsstädtlein
des Rügenwalder Amts degradirt und ihr Sitz und Stimme
auf den Landtagen abgesprochen wurde, appelirte der Rath
bei den juristischen Fakultäten zu Wittenberg und Altdorf.
Infolge dessen wurde sie in ihrer Eigenschaft als Jmme-
diatstadt bei den oben erwähnten Rechten geschützt und er-
hielt auf dem Landtage den letzten Sitz unter den hinter-
pommerschen Städten. Trotzdem hat die Stadt in den
pommerschen Landen einen Ruf wie weiland Abdera in
Griechenland oder Schilda in Sachsen. Manch lustiger
Schwank wird von ihren Bürgern erzählt. Doch ähneln
diese Geschichten unter einander, nur die Geschichte vom
Aal und der dortige Flicgenmarkt sind specifische Zanower
Eigenthümlichkeiten. Woher kommen nun die Zanower, die
doch so gute oder so schlechte Pommern wie wir alle sind,
zu solchem Ruf? Der Volkshumor kennt keine Logik, aber
eine gewisse Anlage und ein gewisses Entgegenkommen
muß doch vorhanden sein, wenn er emporblühen soll. Zu-
nächst hat der Name selbst viel Schuld, Das Wort Zanow
klingt den Bewohnern Pommerns an und für sich lächer-
lich. Dann trug die Nachbarschaft Köslins ohne Zweifel
dazu bei. Dem Kösliner, wenn er auch durchaus kein
Großstädter war und ist, mußte die Nachbarstadt klein und
unbedeutend vorkommen. War doch seine Stadt fünf- bis
sechsmal so groß, war sie doch zeitweilig Residenz eines
Fürsten oder Bischofs, dagegen mußte ihm Zanow kräh-
winkelig und philisterhaft vorkommen und seine Spottlust
herausfordern. Es haben daher die Kösliner den Ruf ihrer
Nachbarstadt auf dem Gewissen.
Von Zanow aus führt die Chaussee nach Panknin,
einem Dorfe, welches ehedem eine bedeutende Posthalterei
hatte. Es liegt in einer ebenen Gegend, und sein Boden
eignet sich nur zum Roggenbau, in der Nähe befinden sich
drei kleine fischreiche Seen. Dann folgt Nemitz in einer
unmuthigen Gegend an einem Nebenstuß der Grabow.
Fruchtbares Ackerland, große Torfmoore und Wälder,
namentlich die ca. 100 m hohen Heidberge im Westen um-
säumen das Dorf. Im Orte selbst befindet sich eine Woll-
spinnerei. An den Gutshof schließt sich ein schöner Park
nebst Thiergarten an, in welchem ein starker Stand von
Roth- und Damhirschen gepflegt wird. Die Chaussee
überschreitet nun das Thal der Grabow und wir gelangen
zu dem alten Abteidorfe Malchow, 4km weiter zu dem
adeligen Dorfe Karwitz, jetzt Bahnstation. Es hat
den größten Grundsteuer-reinertrag im Kreise, nämlich
16 996 Mk. bei 1034 ha Flächeninhalt. Hier zweigt sich
die Kunststraße nach Rügenwalde ab. Im Dorfe ist die
sehr alte Kirche und die mehrere hundert Jahre alte
Bogislawlinde zu erwähnen. Jedoch möchte letztere nicht
an Bogislaw X., sondern an Bogislaw XIV. erinnern, der
mit seinen Brüdern häufig in den umliegenden Wald-
revieren dem Vergnügen der Jagd oblag. Nachdem wir
noch das frühere Schlawer Eigcnthumsdorf Bewersdorf
passirt haben, gelangen wir nach Schlawe selbst. Unweit
der Stadt auf offener Kaiserstraße wurde im Jahre 1388
der Herzog von Geldern von 40 Rittern niedergeworfen
und geplündert, ein Ereigniß, das weit über die pommer-
schen Lande hinaus Aufsehen erregte und selbst von fran-
zösischen Schriftstellern, z. B. von Froissart in seinen
„chroniques“, erwähnt wird.
Aus allen
Europa.
— In der Sitzung des Vereins für Erdkunde zu Halle
am 14. Januar d. I. machte Prof. Kirchhofs Mittheilung
über moderne Troglodyten am Nordrande des Harzes:
im Dorfe Langenstein, 8 km südwestlich von Halberstadt, be-
wohnen ärmere Familien ganz in den Kreidesandstein des
Sargberges eingearbeitete Behausungen, die sie bei Familien-
zuwachs nach Gutdünken erweitern, und welche sich als ganz
gesund und trocken erweisen.
— Seit zwei Jahren schon beschäftigte sich die Sek-
tion für Höhlenkunde des österreichischen Touristen -
Klubs mit dem Studium der merkwürdigen hydrographischen
Verhältnisse in den Kesselthälern von Krain. Jetzt
hat der Klub beschlossen, einen Theil der dort zu lösenden
schwierigen Aufgaben durchzuführen, wobei ihn die General-
Direktion der Südbahn-Gesellschaft unterstützen wird, und
hat mit den technischen und wissenschaftlichen Vorarbeiten ein
Erdtheilen.
Comitee unter Vorsitz des Hofraths F. von Hauer betraut.
Diesem fällt nun die Aufgabe zu, den unterirdischen Poik-
lauf von der Piuka-Jama-Höhle aus bis eventuell in
die Adelsberger Grotte zu verfolgen und dieses ausgedehnte
Höhlensystem, dem auch die Magdalenen-Grotte angehören
dürfte, in eine dauernde Verbindung zu bringen, wodurch
eine Sehenswürdigkeit geschaffen würde, die ihresgleichen in
Europa nicht hat. Diese Arbeiten sollen aber auch den
Prüfstein bilden für alle ähnlichen Eröffnungsarbeiten in den
unterirdischen Flußlüufen von Krain, durch welche dieselben
vor den alljährlich wiederkehrenden Ueberschwcmmungen ge-
sichert werden können, deren Entstehungsnrsache nur in dem
ungenügenden Abflüße der zuströmenden Niederschlagsmengen
liegt, die bei anhaltenden Regengüssen durch die ausschließ-
lich unterirdischen Gerinne nicht schnell genug entfernt werden
können und sich daher zu förmlichen Seen aufstauen.
— Nach einem Berichte der schwedischen Forstverwaltung
wurden im Jahre 1883 an Raubthieren in Schweden
Aus allen Erdtheilen.
223
getobtet: 18 Bären, 15 Wölfe, 89 Vielfrasse, 25 Luchse,
16 109 Füchse und 18 876 Raubvögel. Die Anzahl der ge-
tödteten Krähen wird auf 81 500 Stück geschätzt. Von den
Raubthieren wurden im genannten Jahre getödtet: 15 Rin-
der, 9825 Schafe, 139 Ziegen, 31 Schweine, 2101 Rcuthiere
und 40 687 Stück Federvieh, deren Werth zu 104993 Kronen
angenommen wurde. Bezüglich des nützlichen Wildes
wird mitgetheilt, daß das Elenthier in Norder- und Wester-
botten an Anzahl zugenommen und sich nach Gegenden ver-
breitet hat, wo es früher nicht gefunden wurde, z. B. sind
sogar in Lappland an mehreren Stellen diese Thiere bemerkt
worden. Rehe und Hasen haben sich in den südlichen Theilen
des Landes stark vermehrt. An Vogelwild war 1883 auf
vielen Stellen ein reicher Bestand, die Rebhühner, welche
einige Jahre stark geschont wurden, hatten sich bedeutend ver-
mehrt und die Seevögel waren an einigen Küstenstrecken
sehr zahlreich.
— Reptilien und Amphibien fehlen nach Dr. Keil-
hack („Reisebildcr aus Island", S. 141) Island gänzlich,
obwohl mit dem Reichthume an kleinen Insekten, mit den
wenigstens im Südlande günstigen klimatischen Verhältnissen
und mit dem Vorhandensein großer Torfmoore und nie ge-
frierender Wasserbecken alle Bedingungen für ihre Existenz
gegeben sind. Es ist das ein Beweis mehr, daß das geo-
logisch sehr junge Island keine eigene Fauna hervorgebracht
hat, sondern ganz aus die Einfuhr derselben von außen an-
gewiesen war, so daß sich dort kein Geschöpf findet, welches
nicht durch die Luft oder das Wasser hin gelangen konnte,
abgesehen natürlich von dem absichtlichen oder zufälligen Im-
port auf Schiffen.
— Am 13. Februar d. I. ist in Madrid endlich der
Vertrag vom spanischen Minister des Auswärtigen und
vom französischen Gesandten unterzeichnet worden, welcher
die Trace der beiden Pyrenäen bahnen festsetzt. Danach
wird die eine von Zaragoza am Gallego aufwärts laufen,
Jaca und Canfranc berühren, bei Col de Ladrones in einem
Tunnel die Pyrenäen durchbrechen und französischen Boden
erreichen, während die andere von Lerida an dem Thale des
Segre und der Noguera Pallaresa folgt, die Pyrenäen im
Puerto de Satan überschreitet und bei St. Girons (Deport.
Ariöge) an das französische Bahnnetz anschließt.
A s i e n.
— „Die Warte des Tempels" (1885, Nr. 9) berichtet
über einige Fortschritte in Palästina. Zunächst ist
am 27. Januar d. I. die auf Befehl Rauf Pascha's erbaute
Gitterbrücke über den Jordan eröffnet worden. Die-
selbe ist 35 m lang, 3 m breit, 3V2 m hoch und liegt etwa
zwei Wegstunden oberhalb der Einmündung des Jordan in
das Todte Meer, wo der Fluß früher nicht ohne Gefahr
dnrchfurthet werden mußte. Mau rechnet ans einen Pacht-
ertrag der Brücke von jährlich tnindestens 500 türkischen
Pfund; der Verkehr, der noch vor Kurzem wegen der Unbot-
mäßigkeit der ostjordauischcn Beduinen sehr gering war, ist
durch deren Unterwerfung gestiegen und besonders nach der
Ernte stark, wo täglich 100 bis 200 Kameele und viele Esel
über die Brücke gehen werden. In dem früher so armseligen
e'-Riha (Jericho) ist ein großes Hospiz und drei Häuser
mit Ziegeldächern von russischen Pilgern erbaut worden, eine
griechische Kirche befindet sich im Bau und der Pascha hat
neue Wasserleitungen von den beiden starken Quellen Nähr
el-Kelb und Ain es-Sultan her errichten lassen. — Dasselbe
Blatt berichtet einen Zug mittelalterlichen Aberglaubens und
Unmenschlichkeit von den Jerusalemer Juden. Die-
selben erklärten das diesjährige Ausbleiben der Winterregen
für ein Strafgericht Gottes und erbaten und erhielten vom
Pascha die Erlaubniß, die der Unzucht beschuldigten jüdischen
Dirnen auszuweisen und Wagen und Gewichte der Händler
zu kontrolliren. Nun bemächtigten sie sich einer russischen
Jüdin, die eine Schenke hielt, überführten sie des strafbaren
Umgangs mit einem Manne, der als Strafe Ruthenhiebe
erhielt, rasirten ihr die Kopfhaare ab, strichen ihr Gesicht
und Hände mit schwarzer Farbe an, setzten sie verkehrt auf
einen Esel und führten sie so durch die Straßen, wo der
Pöbel sie mit Koth, nassen schmutzigen Lappen rc.' bewarf,
sie beschimpfte, anspuckte u. s. w. Ein Kawaß des russischen
Konsuls, der sich des Weibes annehmen wollte, wurde miß-
handelt.
— Mit Bezug auf eine Notiz über neu entdeckte
Schwefellager in Rußland (s. oben S. 63) schreibt
Dr. A. Woeikow an „Nature", daß sich dieselben nicht in
Westsibirien, sondern in der Tnrkmenensteppe, die gemeinhin
zu Centralasien gerechnet wird, befinden. Schwefellager finden
sich im russischen Reiche außer bei Tschirkat in Daghestan
noch an mehreren Punkten in der Nähe der Wolga, wo sie
durch Zersetzung des Gypses entstanden sind. Zwei davon
sind auch bearbeitet worden, nämlich das von Sernaja Gora
am rechten Wolgaufer etwas oberhalb Samara im 18. Jahr-
hundert und das von Sukeewa, 20 Werst von der Stadt
Tetjuchi im Gouvernement Kazan, in ganz neuer Zeit.
— Der Chef der Civilverwaltung Kaukasiens hat sich
an den Minister der Volksaufklärung gewandt mit der Bitte,
eine wissenschaftliche Expedition zur Untersuchung des neu
erworbenen Gebiets Transkaspiens und der an-
grenzenden Theile der persischen Provinz CH oras san auszu-
rüsten und eine Summe von 5000 Rubel (10 000 Mark) dazu
anzuweisen. An der Expedition sollen theilnehmen der be-
kannte Naturforscher Professor Radde, Direktor des
Museums in Tiflis, der Botaniker G. M. Smirnow und
der Geologe Ingenieur K 0 u s ch i n.
— Ein anmuthiges Buch, das Henri Duveyrier mit
einer Einleitung ausgezeichnet hat, ist des jungen und weit
gereisten Grafen Raymond de Dalmas „Les Japonais,
leur pays et leurs moeurs“ (Paris, Plon, 1885). Anspruchs-
los schildert er seine Eindrücke und Beobachtungen während
einer Reise durch das Innere des Landes, und wie uns
scheint, mit ziemlichem Scharfblicke. Es sei uns erlaubt, ein
Beispiel dafür anzuführen. Kürzlich hat auch, wie das
„Nowoje Wremja" mittheilt, der bekannte General Tscher-
najew Japan besucht, und es hat ihm dort besonders gefallen
(wohl im Hinblicke auf russische Zustände), daß die Japaner
sich die europäische Wissenschaft zwar aneignen, aber sobald
sie erlernt haben, wozu sie Europäer in ihr Land beriefen,
sich ihrer Lehrmeister entledigen. Anders und entschieden
richtiger faßt Graf Dalmas die Sache auf (S. 135): „Die
Anpassung unserer Civilisation an Japan, welche gewisse
Leute nur in einer Entfernung von 5000 Wegstunden sehen,
erscheint überraschend und ist geeignet, einen hohen Begriff
von diesem Volke zu erwecken, indem sie den Glauben er-
regt, als hätte es sich diese Kultur in so kurzer Zeit zu
eigen gemacht. In Wirklichkeit besitzen die Japaner nur
einen dünnen Firniß von europäischer Bildung, der von
ferne wohl glänzt, aber beim geringsten Kratzen abblättert.
Es erinnert das etwas an die Geschichte von jenem Affen,
der zugesehen hatte, wie ein Uhrmacher eine Uhr reparirte;
er nahm dieselbe ganz auseinander, konnte sie aber nicht
wieder zusammensetzen." Der Japaner, sagt Dalmas an
einer anderen Stelle (S. 176), hat eine außerordentliche
Beharrlichkeit in Anstrengungen, die er in einem gegebenen
Momente zu leisten im Stande ist. Er ist vielleicht ver-
hältnißmäßig weniger stark als ein Europäer; aber wenn
seine Kräfte zu einer Arbeit von wenigen Minuten hin-
reichen, so kann er dieselbe auch leicht Stunden lang ohne
auszuruhen fortsetzen. Im Gebirge z. B. machen die Kuru-
mai, welche die Jinrikscha (leichte, zweiräderige Wagen) be-
dienen, unerhörte Anstrengungen, um ihr Gefährt langsam
einen sehr steilen Abhang hinaufzubringen. Haben sie die
ersten paar Meter glücklich hinter sich, so erreichen sie auch,
224
Aus allen Erdtheilen.
ohne anzuhalten und wäre er mehrere Kilometer weit ent-
fernt, den Gipfel, um unmittelbar danach im Trabe weiter zu
laufen. An solchen treffenden Beobachtungen ist das Buch,
das übrigens keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit macht, reich.
Afrika.
— Sechzehn Topographen - Abtheilungen gingen am
31. Januar von Marseille ab, von denen vierzehn für
Algerien, zwei für Tunesien bestimmt waren: dieselben
stehen unter der Leitung eines Ofsiciers, eines Ingenieurs
und eines Administrativbeamten des Kriegsministeriums und
bestehen im Ganzen aus zweiundsiebenzig Officiereu, deren
jeder von zwei Soldaten und einem eingeborenen Scharf-
schützen begleitet wird. Instrumente, Gepäck und Zelte eines
jeden Officiers werden auf einem Pferde und vier Maul-
thieren transportirt. Sie sollen ihre Aufnahmen in dem
südlichen Theile der drei Provinzen Algeriens anfangen, wo
sie sich mitten unter halb unterworfenen Stämmen in ziemlich
gefährlicher Lage befinden werden. Gegen Ende Mai wer-
den sie zu Paris zurück erwartet.
— Ueber eine in aller Stille vollzogene Reise nach Ost-
afrika und deren kolonialpolitische Folgen gelangten Anfangs
März die ersten Nachrichten in die Oeffentlichkeit. Im Sep-
tember v. I. entsandte der Ausschuß der Gesellschaft
für deutsche Kolonisation den Dr. Carl Peters, Dr.
Carl Jühlke und den Grafen Joachim Pfeil nach Ostafrika,
welche dort durch 12 Verträge mit 10 Sultanen die zwischen
50 und 30 südl. Br. gelegenen Landschaften Useguha,
Ngnru, Usagara und Ukami mit allen Privat- und
Hoheitsrechten erwarben. Am 27. Februar d. I. bereits
wurden diese Gebiete unter den Schutz des Deutschen Reiches
gestellt. Leider ist die Freude über diesen neuen Erwerb
keine ungetrübte; denn zur Kolonisirung durch Deutsche, wie
eine solche in Aussicht genommen erscheint, eignen sich nun
einmal tropische Länder in keinem Falle. Dies führt in
sehr vernünftiger Weise der bekannte Reisende Dr. med.
Fischer, welcher bereits sieben Jahre in Ostafrika verweilt,
in einer Zuschrift an die „National-Zeitnng" ans. Das
Klima nennt er entschieden ungesund; es herrschen dort die
am Kongo so gefürchteten Gallenfieber; die Produktion jener
Länder ist einstweilen gleich Null und, was Stanley dar-
über berichtet, erklärt Fischer für „Phantasiebilder"; es giebt
dort weder Elfenbein, noch Zucker, Baumwolle, Orseille,
Indigo und Korn. Plantageuwirthschaft wäre eher möglich,
wenn nicht die Unregelmäßigkeit der jährlichen Regenmengen
dem Ackerbau Hindernisse bereitete; wahrscheinlich kann Kaffee
stellenweise mit Erfolg gebaut werden. Schließlich weist Dr.
Fischer darauf hin, daß nicht nur die ganze dortige Küste,
sondern auch verschiedene Punkte des Inneren (außer Tabora
in Unjanjembe noch Kofarani in Usagara und Mamboja in
der Landschaft Gedscha) unbestreitbarer Besitz des Sultans
von Zanzibar sind , und daß sich auf dem deutschen Schutz-
gebiete bereits zwei französische Missions- und eine Etappen-
station befinden, über welche natürlich der deutschen Gesell-
schaft keine Verfügung zusteht. Es wird also noch vieler
und schwerer Arbeit bedürfen, che die neue Erwerbung
Früchte tragen wird; daß aber dieselbe geschehen ist, begrüßt
auch Dr. Fischer mit Freuden.
Südamerika.
— Die letzte Nummer des Boletin de la Sociedad
Geografien de Madrid — schreibt „Nature" Nr. 798 —
enthält den Anfang von Kapitän Eduardo O'Connor's
officiellem Berichte über seine Erforschung des oberen
Limay (Rio Negro) und des Sees Nahuel-Huapi
im nördlichen Patagonien. Es war dies der erste erfolg-
reiche Versuch, den Rio Negro von seiner Mündung in den
Atlantischen Ocean bis zu seinem Ursprünge aus dem roman-
tischen Andessee Nahuel-Huapi zu befahren. Bis zur Kon-
fluenz Colluncura (Catapuliche) konnte die Expedition einen
Dampfer benutzen, dann aber mußte sie die Reise in einem
offenen Boote fortsetzen, das an vielen Stellest des oberen
Limay, des südlichsten Quellflusses des Rio Negro, über die
zahlreichen Stromschnellen hinüber gezogen werden mußte.
Hier fließt der Strom meist in einem engen felsigen Bette,
das stellenweise sich auf 120 und selbst 100 Fuß verengert,
und hat eine Geschwindigkeit von 7 bis 9 und selbst 11 Miles
in der Stunde. Oberhalb der Mündung des Treful (40"
42' südl. Br.) verschwanden die Risse und anderen Hinder-
nisse, die Geschwindigkeit fiel auf 5 bis 6 Miles und der
Fluß ist so tief, daß er hier für kleine Dampfboote bis zum
See hin schiffbar ist. Wenn man vom Limay her kommt,
bietet der Nahuel-Huapi einen reizenden Anblick; nach rechts
hin zeigt sich eine endlose Reihe felsiger Buchten und wal-
diger Bachthäler, nach links weite, leicht gewellte Gras-
savannen. Die Berge erheben sich stellenweise zu 700 bis
800 Fuß über die unteren bewaldeten Hänge und bilden
scharfe Spitzen, phantastisch gestaltete Klippen und Fels-
mauern, die hier und da Kyklopenbauten gleichen. In der
Ferne begrenzte den Horizont eine lange schneebedeckte Berg-
reihe, welche gleich den niedrigeren Bergen die seltsamsten
und verschiedenartigsten Formen auswies. Die tiefblauen
Gewässer des Sees werden nur durch eine einzige große
Insel unterbrochen, die mit dichter Vegetation bedeckt und
von regelmäßigen, 300 bis 400 Fuß hohen Bergketten durch-
schnitten wird. Die Umgegend scheint unbewohnt zu sein,
und an stillen Tagen, welche in dieser windigen Region
selten sind, liegt Todesstille über der ganzen Natur und
kein Hauch kräuselt die spiegelglatte Oberfläche des Sees.
Vermischtes.
— In Bd. 42, S. 32 zeigten wir den zweiten Theil
von F. Hirt's Geographischen Bildertafeln an. Einen aus-
führlichen erläuternden Text zu denselben zu geben, ist nun
der nächste Zweck der unlängst in demselben Verlage er-
schienenen „ L a n d s ch a f t s k n n d e" von Dr. Alwin
Oppel. Doch ging derselbe noch einen Schritt weiter und
unternahm es, aus der Summe der Einzellandschaften den
Gesammtcharakter der Länder und Erdtheile festzustellen,
diesen in systematischer Weise auf die örtlich herrschenden
Natnrbedingungen zurückzuführen, den Einfluß der mensch-
lichen Kultur auf den ursprünglichen Zustand des Bodens
nachzuweisen und die gewonnenen Resultate bald in kurzen
Skizzen, bald in ausführlichen Charakteristiken darzulegen.
So ist es der erste Versuch einer Physiognomik der gcsammten
Erdoberfläche, der unseres Wissens bisher gemacht worden ist.
Inhalt: Amazonas und Cordilleren. VII. (Mit fünf Abbildungen und einer Karte.) — E. Metzger: Haiti. I.
und II. (Erste Hälfte.) — Dr. Zechlin: Das Rügenwalder Amt. IV. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Afrika. — Südamerika. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion: 8. März 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicwcg und Sohn in Vraunschwcig.
Mit besonderer Herürksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen.
1885.
Amazonas und Kordilleren.
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wieuer.)
VIII.
Der Aufenthalt im Wyse-See dauerte bis zum 14. März;
die Rückreise war schwierig und in einer Hinsicht unangenehm:
bei jeder Krümmung des Flusses streifte man die Bäume,
und zahlreiche Ameisen, die auf das Deck geschleudert wur-
den, rächten sich an den Reisenden wegen dieser Orts-
veränderung; wiederholt kam man auch mit Wespennestern
in unangenehme Berührung. Wenn man aber von diesen
störenden Zugaben absah, hatte man allen Grund, sich der
interessanten Reise zu freuen. Die Masten waren nieder-
gelegt, Mannschaften auf allen Punkten des Decks vertheilt,
die mit Aexten und Stangen in der Hand die Hindernisse
entfernen sollten, welche die Bäume boten; natürlich wurde
die Fahrt ohne Dampf gemacht. Ein 22 km vom See
entfernter Zufluß von hellem Wasser bildet eigentlich die
Grenze der Schiffbarkeit im gegenwärtigen Zustande, d. h. so
lange die Bäume nicht aufgeräumt sind. Am 15. Abends
passirte man den eigentlichen Samiria und um 8 Uhr
Marche-Mcu. Wie schon erwähnt, ist dies Land selbst bei
den Indianern so unbekannt, daß sie sich an Wiener wen-
deten, um die Namen zu erfahren; dieser zögerte auch nicht,
den ihm befreundeten Forschern und seinem Verleger Hachette
eine Aufmerksamkeit zu erweisen, indem er seine Entdeckungen
nach ihnen benannte.
Wenn der Samiria einen Zufluß von hellem Wasser
aufnimmt, erhalten seine Fluthen einige Kilometer weit
eine schmutzigbraune Färbung, während sie sonst glänzend
schwarz sind. Das Wasser, welches in einem Glase eine
goldgelbe Farbe zeigt, besitzt einen sehr angenehmen Ge-
Globus XLVII. Nr. 15.
schmack; unter dem Mikroskop waren keine färbenden Par-
tikelchen zu bemerken, durch Joseph-Papier filtrirt, behielt
es seine gelbe, durchaus nicht schmutzige Farbe. Der Boden
des Flusses besteht aus schwarzem, sehr feinem Sande, auf
dem oberen Samiria ist derselbe weiß. Am 18. März
war Wiener wieder im Maranon in der Nähe von Pari-
nari; nachzutragen wäre noch, daß der Samiria kurz vor
seiner Mündung ans dem linken Ufer einen großen See
bildet, dessen Abmessungen 300 zu 600 m betragen; er
hängt durch einen Kanal mit einem zweiten, kleineren See
zusammen, der jedoch nicht besucht wurde; die Tiefe beträgt
bis zu 40 m. Zu San Jose de Parinari wohnte Wiener
der interessanten Ceremonie der Uebcrgabe der Vara bei.
Es ist dies eine etwa 2 m lange Kiste, das Zeichen der
Würde der von den Indianern selbst erwählten Varayos
(Rathsleute); an der Spitze des aus ihnen gebildeten Rathes
steht der vom Gouverneur ernannte Curaca. Auf einem
Tische unter der Veranda stand ein Crucifix zwischen zwei
Kerzen von schwarzem Wachs und eine Schüssel mit Weih-
wasser, davor zwölf Varas. Unter großem Zudrange der
Indianer erfolgte die Uebergabe derselben, welche mit einer-
feierlichen Anrede schloß. Herr Reatcgui, welcher dieselbe
hielt, sagte im Quichuadialekt: „Du empfängst die Vara für
dieses Jahr. Gieb, was deine Oberen von dir verlangen,
und thue, was sie dir auftragen. Das Dorf sei deinem
Schutze anbefohlen"; dann rief er die Varayos, welche niedcr-
gekniet waren, einzeln auf; sie empfingen nun die Varas
und einen Tropfen geweihten Wassers. Hierauf begann
29
226
Amazonas und Cordillerm.
das Fest. Musik fehlte nicht, und da die neuen Magistrats-
personen den nöthigen Branntwein spendeten, entwickelte
sich eine Orgie, bei der es nicht an Streitigkeiten fehlte,
denen dadurch ein Ende gemacht wurde, daß man die größten
Lärmmacher in den Sepo, eine Art Block, einschloß.
Die Indianer in dieser Gegend vereinigen sich gewöhn-
lich um einen Weißen, der ihnen Arbeit und Nahrung ver-
schafft ; ihre Bekehrung zum Christenthume ist ziemlich ober-
flächlich und der Feiertage erinnern sie sich am liebsten,
um Festlichkeiten zu begehen. Dann belustigen sie sich mit
improvisirten Liedern und mit Musik in den gewöhnlichen
klagenden Tönen der Indianer; sie lieben es, die Gegen-
stände durch Vergleichungen zu bezeichnen, z. B. Haar wird
Blätter des Hauptes, Flinte Blaserohr der Weißen genannt;
anstatt „ja" und „nein" sagen sie: „dies ist" und „dies
ist nicht". Viele Eigenschaftswörter werden in ähnlicher
Weise ausgedrückt, so z. B. heißt „häßlich" „nicht schön".
Manchmal verstehen sie zwei Sprachen, Cocoma und Quichua.
Sie wissen einen Gegenstand in der einen und in der an-
deren Sprache zu nennen, aber wenn man sie auffordert,
ein Wort, welches sie in der Cocomasprache gesagt haben,
in die Quichuasprache zu übersetzen, sind sie dazu nicht im
Stande. Die Rasse ist unvermischt, kräftig und arbeit-
samer als die Rassen der Snna, Dahua und Ona.
Wiener wendete sich nun zum T igr e, dessen Mündung
sieben Stunden unterhalb der Pflanzung SamJose liegt;
vergeblich war der Versuch, sich einen Lootsen zu verschaffen:
die Indianer weigerten sich, der wilden Jquitos und Za-
Rio Hachette. (Nach
porros wegen, die Expedition zu begleiten, und ein alter
Indier, der an der Mündung des Flusses lebte, sagte, er
habe noch nie ein Schiff dort eindringen sehen.
Die Einfahrt war nicht schwierig; am ersten Tage legte
man auf einem sechs Faden breiten Fahrwasser 80 und
einige Kilometer zurück, und am folgenden Tage glückte es,
die Reise trotz eines heftigen Sturmes um eine gleiche
Entfernung fortzusetzen; man hatte nun schon drei große
Nebenflüsse gesehen; trotz der theilweise ziemlich hohen Ufer
konnte man aus dem häufigen Vorkommen der Morete
(einer Palmenart) schließen, daß das anstoßende Land
sumpfig ist. Am 30. März passirte man einen großen
See und gegen Abend kam man an eine Stelle, wo sich
verschiedene Flüsse kreuzten; man hielt links an; es schien,
einer Photographie.)
als ob der Fluß sich ein neues Bett geschaffen Hütte. Hier
und da war die Hälfte eines 15 oder 20 m hohen Hügels
fortgerissen und die lebhaften Farben des bloßgelegten Erd
reiches mit ihrer Umrahmung von glänzendem Grün gaben
der Landschaft einen eigenthümlichen Reiz. Trotzdem man
bis zum 31. März wiederholt Spuren von der Anwesen-
heit der Wilden bemerkte, wurde die Eintönigkeit der Fahrt
nur hin und wieder durch ein Jagdabentcuer unterbrochen;
am 3. April, als man mehr als 100 Lienes von der
Mündung entfernt war, fand man steinigen Ankergrund
und ein Floß der Indianer am Ufer; man verfolgte eine
Stunde, jedoch erfolglos, ihre Spur. Schon am folgenden
Tage wurde das Fahrwasser schmaler, man befand sich nahe
der Stelle, wo der Fluß aufhört schiffbar zu sein. Am
Amazonas und Kordilleren,
227
5. April traf man auf frische Spuren der Zaporros; ihre
Hütten waren an dem platten Dache leicht kenntlich. Man
hatte nun die Reise acht Tage lang stromaufwärts fort-
gesetzt und entschloß sich, auch die anderen Zuflüsse zu
untersuchen; übrigens stellte sich später heraus, daß man
sich auf einem Zuflüsse des Tigre, den Wiener Aboitt-Men
nannte, befunden hatte. Als man zu dem Kreuzungspunkte
der Flüsse zurückgekehrt war, setzte man die Reise auf einem
ungeheuren Flusse, dem eigentlichen Tigre, 340 km weit
fort. Am 13. wurde am oberen Tigre eine Tafel auf-
gepflanzt, auf welcher eine auf die Expedition bezügliche
Inschrift angebracht war.
Während man nun flußabwärts trieb und einen Schaden
an der Maschine reparirte, sah man am 16. April plötzlich
am Ufer ein großes Feuer und eine Menge nackter Indianer
um dasselbe, die sich schleunigst entfernten. Man machte
am Ufer einen unheimlichen Fund: mehrere Menschenköpfe,
die auf in die Erde gesteckten Stöcken an langsamem Feuer
trockneten, und in der Nähe am Boden noch einige; von
einem war die Haut mit allen Fleischtheilcn entfernt und
gerade so abgezogen, wie man einen Vogel abbalgt, um
ihn auszustopfen. Durch weitere Behandlung der Haut
gelingt es, dieselbe auf etwa ein Viertel ihres ursprünglichen
Volumens zu reduciren, sie hart und sehr dauerhaft zu
machen. Diese Köpfe bilden einen bedeutenden Handels-
artikel, welcher durch Vermittelung der halbwilden Indianer
an die Weißen vom Amazonas verkauft wird. Der höchst-
gelegene Punkt, der am Tigre erreicht wurde, befindet sich
zwischen dem Ahuano und dem Sarayacu; es giebt also
zwei Auswege von Westen her aus der Cordillere, den
einen über den Napo, den Weg von Archidona nach Quito,
den anderen über Baüos nach Riobamba.
Am frühen Morgen des 25. April befand sich der
Dampfer wieder im Maranon, wo die Reisenden von den
Indianern freundlich begrüßt wurden. Wiener hatte hier
Gelegenheit, einer eigenthümlichen Scene beizuwohnen. Ein
sonderbares Geräusch, ein tiefes Seufzen, klagende Töne
weckten ihn ans dem Schlafe. Die Indianer, in weißen
Beinkleidern, übrigens bis zu den Hüften nackt, ans dem
Kopse eine Kapuze von weißer Leinwand, die nur zwei
Landschaft am oberen Tigre.
Löcher für die Augen und eine Ocffnung für den Mund
hatte, marschirten hinter einander; sie trugen in der einen
Hand eine große Fackel, in der anderen eine Geißel, mit
der sie ihren Rücken bearbeiteten. Von den Büßerwerk-
zeugen sah man zwei verschiedene Sorten, die eine von
Stricken, an deren Ende eine mit Glassplittcrn besetzte
Wachskngel angebracht war, die andere aus Lederriemen;
die erstere wurde gebraucht, um die Haut für die Schläge
der letzteren recht empfindlich zu machen.
Am 28. April erreichte Wiener den Chambira, den
man fünf Tage lang befuhr, und dessen Pracht er nicht
genug hervorheben kann. Interessant sind die Sima-
ron es, die den oberen Lauf des Flusses bewohnen; sie sind
berühmt wegen ihrer Holzarbciten, und die Blaserohre, die
sie mit den einfachsten Werkzeugen verfertigen, sind be-
wnnderuswerth und sehr gesucht; man schießt aus ihnen
mittels kleiner, vergifteter Pfeile. Die Kostüme, welche sic
zu verfertigen verstehen, haben Ähnlichkeit mit dem Feier-
tagsanzuge der Indianer des oberen Napo; besonders zeich-
nen sich die Frauen durch die Verfertigung von Hängematten
(Nach einer Photographie.)
ans; die Ränder sind oft mit Fransen und Vogelfedern
geschmückt und verrathen wirkliches Knnstgefühl. Die
Männer verstehen es, ausgezeichnetes, starkes Seilwerk zu
verfertigen. Die von den Weißen erfahrene Unterdrückung
hat diesen Stamm leider veranlaßt, seine Wohnsitze zu ver-
lassen und fich weiter in die Wälder zurückzuziehen. Bei
guter Behandlung sind die Simarones-Indianer sehr willig
und zur Arbeit bereit. Der ganze Stamm leidet am Obero,
einer Hautkrankheit, bei welcher die ganze Haut mit Flecken
bedeckt wird; die damit behafteten Personen sehen abscheulich
ans, sind aber im klebrigen ganz wohl und essen und trinken
wie gesunde Menschen.
Vom Chambira wendete sich Wiener zu dem Hnalla ga;
an der Mündung des Flusses fand man eine Chacra (kleines
Gut), und auf derselben sehr viel Kautschuk, dem Wiener
eine große Zukunft prophezeit. Einige hundert Meter ober-
halb der Mündung des Huallaga ergießt der Aipena^
U Aufgenommen von A. Wertheman. Vergl. „Zeitschr. d.
Ges. f. Erdk. zu Berlin" Bd. XV, Tafel 5.
29*
Amazonas und Kordilleren.
229
seine schwarzen Gewässer in die rothen Fluthen des mäch-
tigen Nebenflusses des Marañan. Der Huaüaga genießt
unrechtmäßiger Weise den Ruf, ein sehr reiches Land zu
durchfließen; im Gegentheil schien dasselbe recht arm zu
sein. 60 Stunden lang setzte man die Reise fort, ohne
daß die Gegend viel Abwechselung geboten hätte; hier und
da sind die llfcr hoch genug, um eine Niederlassung zu ge-
statten, welche der Gefahr der Ueberschwemmung nicht aus-
gesetzt wäre, oder um Kakao und Zucker zu pflanzen; alles
ist jedoch unbenutzt, und außer elenden Jndianerhütten sah
man keine Wohnungen. Wenn man weiter als 120 km
auf dem Flusse vorgedrungen ist, werden die Biegungen
so scharf, daß die Fahrt schwierig wird. Man ankerte an
einem kleinen, ane linken Ufer mündenden Zuflusse, und
da man auf demselben (er trägt den Namen Rumi-Pacu)
eine Gesellschaft von Jeveros ankommen sah, entschloß sich
Wiener, in einem Boote eine kleine Entdeckungsreise zu
unternehmen, um das erste Maynasbisthum Jeveros zu sehen.
Die Fahrt, die 14 Stunden währte, war recht mühevoll;
man landete und erreichte den Ort, nachdenl man etwa eine
Stunde lang einem Fußwege gefolgt war.
Jeveros ist eine alte Jesuitenmission, und diese von
der Welt abgeschlossene Stadt hat trotz der Zeit, die ver-
laufen ist, die unauslöschlichen Spuren ihres Ursprunges
behalten. Mit Ausnahme der Kirche sind die Häuser nur
schlechte Hütten; die Straßen sind gerade, und nicht nur an
den Kreuzwegen, sondern beinahe vor jedem Hanse erhebt
sich ein mit Blumen geschmücktes Crucifix. Jeveros war
Kirche von Jeveros. (Nach einer Skizze Wiener's.)
lange ein Bischofssitz, bis Bischof Mangel denselben nach
Moyobamba verlegte, von wo er später nach Chacha-
poyas kam.
Die dortigen Frauen tragen als einziges Kleidungsstück
die Pampanilla, ein drei Ellen langes, eine Elle breites
Gewebe, welches von der Taille an den Körper bedeckt und
kaum bis zu den Knien reicht. Die Sprößlinge werden
rittlings aus der Hüfte getragen; bis zum Alter von 10
oder 12 Jahren gehen die Kinder vollkommen nackt. Die
Ankunft der Fremden erregte großen Schrecken; die Gruppen,
die sie mit Neugierde betrachtet hatten, zerstreuten sich bei
ihrer Annäherung. Endlich glückte cs, sich des Gouverneurs
von Jeveros, Pablo Padillo, zu bemächtigen und ihn durch
einige Silberstücke zutraulich zu machen. Mit Hilfe dieses
80jährigen Mannes gelang es, die Einwohner zu beruhigen,
welche die Reisenden für Beamte gehalten und deshalb die
Flucht genommen hatten. Sie beeilten sich nun, Eier,
Hühner, Honig und selbst ein kleines Schwein zu bringen.
Der alte Padillo spendete einige Cigaretten und erzählte,
als ihm einige Schluck Branntwein die Zunge gelöst hatten,
von der alten Pracht und dem späteren Verfall von Jeveros.
Von früherem Glanze ist wenig zu bemerken, cs müßte
denn das alte Kreuz unter einem Strohdache sein, welch
letzteres von vier 42 m hohen, hölzernen Säulen getragen
wird. Zn bemerken ist, daß die Jeveros eine eigene Sprache
besitzen und nur ausnahmsweise Qnichna sprechen.
Nach einer Stunde verließ Wiener den Ort und fuhr
den Rumi-Nacu hinunter, um noch an demselben Tage die
Rückfahrt nach dem Huallaga anzutreten und letzterem
stromaufwärts zu folgen. Der Fluß ist prächtig; trotz der
230
Amazonas und Cordilleren.
zahlreichen Inseln sind die Arme breit und tief; man könnte
jeden für den eigentlichen Fluß halten. Hier und da sieht
man ein ärmliches Jndianerdorf, die Bewohner werden
Cocamillas genannt; viele von ihnen wandern, durch den
von den Behörden geübten Druck veranlaßt, nach Brasilien
aus, trotzdem die Obrigkeit dies zu verhindern sucht; die
Mißregierung schadet dem Lande Peru, sie ist groß, jedoch
nicht so groß, wie die Nachbarn es darstellen; man kann
Die Farm des M. Bonvoisin. (Nach einer Photographie.)
eben nur sagen, daß man sich da inmitten einer Rasse be-
findet, die mittelmäßig ist, weil sie schwach ist.
Am 4. Mai kam Wiener in Purimaguas an, wo
er einige Unannehmlichkeiten mit den Behörden hatte; es
war dies wohl hauptsächlich eine Folge der ängstlichen
Spannung, in welcher man sich infolge des Unglücks,
welches Peru erlitten hatte, befand. Zum ersten Male
seit dem 1. December 1880, d. h. seit 165 Tagen, glaubte
Kirche aus der Farm des M. Bonvoisin. (Nach einer Photographie.)
der Reisende in einem Feldbette, und zwar entkleidet, schlafen
zu können, doch der entstandenen Streitigkeiten wegen fuhr
er noch an demselben Tage nach dem Paranapura, der
1200 m unterhalb Purimaguas in den Huallaga fällt.
Derselbe würde befahrbar sein, wenn das Fahrwasser nicht
durch Tausende von Baumstämmen versperrt wäre. Das
Vorhandensein dieser Hindernisse erklärt sich durch das plötz-
liche Wachsen des Flusses, wodurch selbst die Fahrt im
Canoe schwierig, oft selbst gefährlich wird. Die Gegend
ist gesund, das Klima angenehm, das Land fruchtbar. Ein-
E. Metzger: Haiti.
231
zelne Landgüter, z. B. Chambira, Limon und Baradero,
scheinen ausgezeichnet gute Resultate zu liefern. In der
Nähe von Baradero mündet der kleine Fluß Cachiyacu in
den Paranapura; auf ersterem gelangt man nach Balza-
puerto, welches, anstatt Purimaguas, wie man erwarten
sollte, die Haupstadt der Provinz ist.
Zwei Stunden oberhalb der Mündung liegt die Pflan-
zung eines Franzosen, des Herrn Bonvoisin, wo Zuckerrohr
gepflanzt wird; hier wurde Wiener sehr freundlich empfan-
gen und konnte einige Tage in der lieblichen Niederlassung
ausruhen, wo sich um den Eigenthümer etwa 30 Indianer-
familien angesiedelt haben. Herr Bonvoisin war im Be-
griffe, eine kleine Kapelle zu bauen, zu der ihm Wiener
während seines Aufenthaltes eine Zeichnung der Fa^ade
lieferte, welche, soviel es das gebrauchte Material (Holz)
erlaubte, an die Kapellen der Normandie, des Heimath-
landes des Eigenthümers, erinnern sollte; wirklich wurde
das Gebäude auch nach diesem Plane ausgeführt. Als Wiener
erfuhr, daß der Dampfer „Morona" in Purimaguas
angekommen sei, kehrte er dorthin zurück, übergab demselben
seine Briese und setzte auf dem Huallaga die Reise nach
Süden in eine Gegend fort, wo noch nie die Schraube
eines Dampfschiffes die Gewässer in Bewegung gebracht
hatte; doch nicht weit von Quillucaca brach das Ventil,
und man konnte nur noch mit 20 Pfund Druck arbeiten,
was nicht mehr genügte, die starken Strömungen des oberen
Huallaga zu überwinden. Als man in Quillucaca an-
gekommen war, entließ Wiener am 26. Mai das ihm zur
Verfügung gestellte brasilianische Dampfboot, nachdem er
von der ganzen Besatzung einen herzlichen Abschied genom-
men hatte, und setzte seine Reise stromaufwärts iu einem
Boote fort.
Haiti.
Von E. Mella er.
II. Die Bevölker
Mulatten und Neger haben ein feines Ohr für Musik
und große Geschicklichkeit im Tanzen; wirklich machen sich die
jungen Haitier als Musikanten recht gut, obwohl die Trommel
bei ihnen eine hervorragende Stellung einnimmt; die Frau
eines Präsidenten, welche Europa besucht hatte, erklärte,
daß die Musik in Paris derjenigen in Haiti, namentlich
was die Trommeln betreffe, nachstehe. Die Tänze der
höheren Stände sind denen, welche in anderen Ländern
getanzt werden, gleich; die unteren Klassen erfreuen sich
an denjenigen, welche ihre Väter mit aus Afrika gebracht
haben.
Es scheint dies ein sehr gefährliches Kapitel, denn wie-
wohl Spenser St. John selbst solche Tänze gesehen, ent-
lehnt er die Beschreibung aus Moreau St. Mory und
giebt sie in französischer Sprache! Wir wollen versuchen,
hier wenigstens einiges darüber mitzutheilen. Keine Er-
müdung vermag die Neger von einem Tanzfest zurückzu-
halten; von weit und breit strömen die Leute zusammen,
und die Vorübergehenden, die zum Markte ziehen, legen
ihre schwere Bürde nieder, um an dem Vergnügen Theil
zu nehmen. Noch größer ist das Interesse, wenn die Tänze
von berufsmäßigen Musikanten und Tänzerinnen ausge-
führt werden. Gewöhnlich besteht eine Truppe aus einigen
Männern, welche die Trommel schlagen, einer dicken Frau,
welche die Kassengeschäfte führt, und drei oder vier ihrer
Geschicklichkeit wegen berühmten jüngeren Schönheiten.
Ein weiter Raum wird zum Schutz gegen die Hitze mit
Palmblätteru gedeckt; an einem Ende desselben sitzt das
Orchester, nur aus Trommeln bestehend, die mit den Knöcheln
in verschiedenem Tempo geschlagen werden; Kalebassen,
mit Kieseln oder Maiskörnern gefüllt, vertreten die Kastag-
netten und die Zuschauer heben einen Gesang an. Eine
ausgewählte Tänzerin erhebt sich und beginnt ihre Bewe-
gungen; einer der Zuschauer tritt hervor, um mit ihr
zu tanzen, und hält eine kleine Summe in Papiergeld, etwa
zehn Pfennige, über dem Kopfe. Wenn die Tänzerin
einen anderen Tänzer wünscht, nimmt sie dein ersten das
Geld ab, welches sie der Kassendame einhändigt; mit dem
n g. (Zweite Hälfte.)
Ertrage werden die Musikanten und die Kleider der Tänze-
rinnen bezahlt. Dieselben tragen weiße Röcke, bunte Kopf-
tücher und Taschentücher, die sie immer in der rechten Hand
halten; besonderen Lupus sollen sie hinsichtlich der Unter-
kleider entwickeln. Wenn die Lust steigt, betheiligen sich
wohl auch Mädchen aus dem Publikum. Später wird
eine andere Melodie gespielt und es folgt die Chica (oder
volksthümlich: Bambula). Nach dem stark ausgeprägten
Takt werden Hüften und Lenden künstlich gedreht, während
der übrige Körper mit Ausnahme der Arme unbeweglich
bleibt; letztere schwenken ein Taschentuch oder den Rock der
Tänzerin. Ein Tänzer nähert sich, weicht zurück und
fordert sie zu einem verführerischen Kampfe heraus, beide
werden lebhafter, sie stellen Gruppen dar, die erst wollüstig
erregt, dann unzüchtig sind. Bei der Unmöglichkeit, die
Chica eingehender zu beschreiben, genüge es zu sagen, daß
der Eindruck, den sie aus die Kreolen und Neger macht, sich
nicht in Worte fassen läßt; die glühenden Gesichter, der
erregte Ausdruck, die Augen voll von schlecht unterdrückter
Leidenschaft zeigen an, was in ihnen vorgeht. Starke
Getränke gehen rund und wenn die Nacht kommt, werden
einige Lichter angezündet, die den Tanzplatz kaum er-
leuchten; im Halbdunkel beginnen dann Scenen, über die
wir den Schleier fallen lassen müssen. Selten nur werden
ordentliche Mädchen aus der ackerbauenden Bevölkerung
sich übrigens bei einer solchen Gelegenheit sehen lassen.
Bei der Geburt von Kindern und bei Heirathen werden
keine besonderen Feierlichkeiten beobachtet; wenn die Kirche
besucht wird, suchen die Betheiligten mit sei es auch ge-
liehenen Juwelen zu prunken. Die glücklichen Besitzer
derselben müssen dann auch eingeladen werden, um ihnen
Gelegenheit zu geben, ihr Eigenthum fortwährend im Auge
zu behalten. Gewöhnlich leben die Neger bis zu einem
ehrwürdigen Alter, dessen Beschwerden nicht allzu schwer
auf ihnen lasten; ihre prächtigen weißen Zähne behalten sie
bis zuletzt, was sie sowohl der großen Reinlichkeit als
dem Kauen von Zuckerrohr zuschreiben, auch ihr Haar be-
hält seine Farbe viel länger als das der Weißen, so daß
232
E. Metzger: Haiti.
es schwer ist, ihr Alter zu errathen. Obwohl der Neger-
Schmerzen sehr gut erträgt, verzärtelt er sich und plagt sich
mit eingebildeten Krankheiten. Ebenso wie mancher andere
Beobachter hat Spenser St. John die Bemerkung gemacht,
daß Negerknaben bis zum Alter der Mannbarkeit oft ihre
weißen und farbigen Mitschüler übertreffen *), dann ab er-
scheinen sie in ihrem Entwickelungsgänge gehemmt zu
werden, so daß sie bis zu ihrem Lebensende in der Ent-
wickelung zurück und sorglos wie die Kinder bleiben. Die
Sorglosigkeit ist seine hervorragendste Eigenschaft und eine
der wichtigsten Ursachen, welche den Stillstand in der Ent-
wickelung des Volkes herbeiführen. Verbrechen sind durch-
aus nicht so selten, wie vielfach angenommen wird (abge-
sehen von denen, welche mit den Vaudoux in Verbindung
stehen), obwohl dieselben allerdings mit erstaunlicher Gleich-
gültigkeit behandelt werden. Die handwerksmäßig verübten
Giftmorde sind der Polizei wohl bekannt; vor dem Bürger-
kriege 1868/69 kamen schwere Verbrechen allerdings seltener
vor, doch die demoralisirenden Folgen jener Unruhen werden
tief empfuyden. Zu ihrem kindischen Wesen Paßt auch
der Aberglauben in Bezug auf Zombis (Geister), der
fo entwickelt ist, daß Viele ihr Hans nicht nach Sonnen-
untergang zu verlassen wagen, wenn nicht ein stärkeres
Gefühl in ihnen erwacht, welches sie häufig genug forttreibt.
Alle Klassen der Neger rauchen, und auch die Frauen
geben sich, wenn sic einmal ein gewisses Alter erreicht
haben, diesem Genuß sehr gerne hin; schädlicher als der
Tabak wirkt der Tafia oder weiße Rum, mit dem die
männliche Bevölkerung in hohem Grade Mißbrauch treibt.
Bei den Begräbnissen der Landbevölkerung scheint noch
ein eigenthümlicher Ritus zu bestehen, während die der
Städtebewohner- nichts besonders Auffallendes bieten.
Spenser St. John kann aus eigener Anschauung nur von
einem Zuge, der die Leiche eines in der Stadt verstorbenen
Landbewohners in die Heimath brachte, nicht von der Bei-
setzung selbst berichten. Eines Abends gegen 10 Uhr hörte
man lärmende Stimmen in der Entfernung, bald darauf
tauchten Fackeln auf dem Wege auf, etwa hundert Menschen
eilten im Laufschritte aus voller Kehle schreiend und lär-
mend vorbei. An der Spitze kamen die gemieteten Leid-
tragenden, die mit ihren entsetzlichen Klagen und Trauer-
liedern später die ganze Nacht hindurch die Luft erfüllen,
indem sie neben der Leiche eine wirkliche Todtenwache halten,
wobei sie sich in regelmäßigen Zwischenräumen mit Essen und
Trinken stärken; namentlich in letzterem Punkte wird recht
Tüchtiges geleistet. Prächtige Begräbnißfeierlichkeiten erschei-
nen dem Neger als etwas sehr Begehrenswerthes, auf Haiti
sowohl als auf der heimischen Goldküste; namentlich aber ist
es die weibliche Bevölkerung, welche denselben leidenschaftlich
gerne beiwohnt, da ja hierbei die Gelegenheit sich bietet,
sich in schönstem Putz zu zeigen und die Blicke auf sich zu
ziehen. Von einer eigenthümlichen Todtenwache in San
Domingo (Stadt) wird noch berichtet; unser Autor ging
nach Einbruch der Dunkelheit spazieren, als er aus einem
Hause Tanzmusik und den Lärm von Tanzenden hörte.
In einem hohen Stuhle befand sich in sitzender Haltung
ff Filippo Manetta sagt hierüber (La, razza Negra nel
suo stato salvaggio, Turin 1864): Der Verstand wird wie
von einer Wolke bedeckt, ein lebendiges Wesen macht einer
Art Lethargie Platz, die frühere Munterkeit weicht starker In-
dolenz. Daher müssen wir annehmen, daß die weitere Ent-
wickelung des Negers und Weißen in verschiedener Richtung
stattfindet. Während bei dem letzteren das Volumen des Ge-
hirns mit der Erweiterung des Schädels zunimmt, wird bei er-
sterem das Wachsthum des Gehirns durch vorzeitige Schließung
der Hirnnäthe, sowie durch seitlichen Druck auf das Stirnbein
gehemmt.
die aufs Beste aufgeputzte Leiche eines Kindes. Die Musik
spielte eine fröhliche Melodie, lustig schwangen sich die
Tanzenden im Kreise, unter ihnen die Mutter des Kindes,
welche bei dem Feste eine Hauptrolle spielte. Ans Befragen
erfuhr Spenser St. John, daß die Priester die Mutter-
gelehrt hatten, nicht zu weinen, sondern vielmehr sich über
den Tod des Kindes zu freuen, da es direkt ein Engel
werden würde. Man nahm dies nun ganz wörtlich und
amüsirte sich mit Musik und Tanz.
(Hierzu müssen wir bemerken, daß eine ähnliche Gewohn-
heit im ganzen spanischen Südamerika besteht und auch
in unserer Volkssage schaden die Thränen der Mutter der
Ruhe des verstorbenen Kindes.)
Hiermit nehmen wir von den Negern Abschied, um uns
etwas näher mit den Mulatten zu beschäftigen, die, wie
wir gesehen haben, der Zahl nach nur einen sehr kleinen
Theil der Bevölkerung bilden, doch aber in verschiedener
Beziehung eine wichtige Rolle spielen. Der Schlüssel zu
ihrem Charakter wird in wenigen Worten gegeben, es heißt:
Sie hassen ihren Vater und verachten ihre Mutter; doch
könnte man dies auch weiter ausdehnen und sagen: sic
hassen alle Weißen und verachten alle Schwarzen. Um-
gekehrt werden sie von den Weißen verachtet, von den
Schwarzen gehaßt, und dadurch wird ihr Charakter ver-
dorben. Wie so viele, wenn nicht alle, Mischrassen haben
sie beinahe alle Fehler und nur wenige der guten Eigen-
schaften ihrer Stammeltern. Die unangenehmste Eigen-
schaft derjenigen, welche das Land nie verlassen haben, ist
eine furchtbare Selbstüberhebung, und von der sie beherr-
schenden Einbildung kann man sich kaum eine Vorstellung
machen; bei denen, welche das Ausland gesehen haben,
scheint die höhere Civilisation keinen bleibenden Eindruck zu
hinterlassen; gewöhnlich bleibt ihnen kaum ein wenig Fir-
niß übrig. Fremde, welche sie nur oberflächlich kennen
lernen, lassen sich häufig durch ihr liebenswürdiges Be-
nehmen zu einem zu günstigen Urtheil bestimmen; um sie
wirklich genau zu beurtheilen, muß man lange unter ihnen
leben oder für den Lokalverkehr bestimmte Zeitungen lesen.
Im Ganzen darf man behaupten, daß gerade ihre Selbst-
überhebung eine der entscheidendsten Ursachen ist, welche
ihrer weiteren Entwickelung im Wege steht, jedenfalls dem
schnellen Fortschreiten derselben hemmend entgegentritt.
Allerdings kommen manche der in Europa erzogenen Mu-
latten den Weißen in jeder Beziehung gleich; sie sind ebenso
von lächerlicher Anmaßung wie von Haß gegen die Fremden
entfernt.
Daß übrigens die Früchte einer in Haiti ertheilten
Erziehung nicht besser sein können, erklärt sich leicht aus
den Verhältnissen. Die ungebildete Mutter vermag dem
Kinde keine edlen Gefühle einzuflößen; die geringe Mora-
lität, die in Geldsachen herrscht, wirkt verderblich, vielleicht
trügt dazu auch der Umstand bei, daß es Nachkommen von
Sklaven sind, bei denen Lug und Trug einheimisch war und
sich von Geschlecht auf Geschlecht fortpflanzte, und dazu
kommt noch die oben schon berührte Unbündigkeit in sexueller
Beziehung: kurz alles dieses wirkt zusammen und bringt
ein Ganzes hervor, welches gewiß in keinem günstigen Lichte
erscheinen kann, so sehr es sich auch gerade in Verbindung
mit den erwähnten Eigenschaften Mühe giebt, dies zu thun.
Die Lust zu glänzen, die Vorliebe für Prahlerei findet man
bei Jung und Alt, bei Hoch und Niedrig; eine beinahe zu
zahlreiche Reihe von Beispielen wird von unserer Quelle
angeführt, der wir nur einige entnehmen wollen. Ein
früherer Staatssekretär sah bei Paris Kavallerie manö-
vriren, meinte jedoch, daß die Truppen in Haiti besser ritten;
ein anderer Herr, der lange im Auslande gelebt hatte, sagte
E. Metzger: Haiti.
233
zu Präsident Gcffrard, er möge doch einige Officiere nach
Europa schicken, sie würden gewiß einen prächtigen Ein-
druck machen. Auch das Gefühl der eigenen Wichtigkeit
macht sich geltend. Ein Ex - Staatssekretär wohnte mit
einem Freunde dem Rennen von Longchamps in einem
Wagen bei, als ein Bekannter des Kutschers zu diesem ans
den Bock stieg, um besser zu sehen. „Ich muß den Mann
fortschicken", sagte der frühere Minister. „Warum denn",
meinte sein Freund, „lassen Sie doch den Mann in Ruhe."
„Sie haben gut sprechen", sagte der erste, „Sie sind ein
Privatmann, aber was würden die Leute sagen, wenn ich,
ein früherer Minister in Haiti, eine solche Vertraulichkeit
erlaubte?"
Wenn man auch eine große Anzahl von Mischrassen
unterscheiden kann — Moreau de St. Mery zählt 13Schat-
tirungen auf —, so lassen sie sich doch auf drei Haupt-
typen zurückführen: Weiße und Mulatten geben die Qna-
dronen, Weiße und Neger die Mulatten, Neger und
Mulatten die Greffe. Daß alle diese Mischungen sich dem
Negertypus mehr und mehr nähern, ist oben schon erwähnt
und der Grund dieser Erscheinung angegeben worden; in
San Domingo hat die Gegenwart eines starken spanischen
Truppenkörpers (von 1864/65) entschieden mitgewirkt, dem
weißen Blute neuen Zufluß zu verschaffen.
Die persönliche Erscheinung der Farbigen ist nicht be-
sonders einnehmend; ihre Stammeltern haben keine große
Schönheit besessen und, was die Nachkommen betrifft, kann
man nur sagen, daß die Männer häßlich, die Frauen weit
von Schönheit entfernt sind. Das Verhältniß der Blut-
mischung bestimmt hier sehr scharfe Unterschiede; weißes
Blut muß bis zur Hälfte vorhanden sein, damit das Woll-
haar verschwinde; überwiegt das schwarze Blut, so ist der
Haarwuchs wollig wie beim Neger; wir finden dann ferner
eine niedrige Stirn, dunkle Augen in gelber Einfassung,
großen Mund, platte Nase, gute Zähne, starke Backen-
knochen, während sich bei großer Annäherung an den
weißen Typus die Mischlinge schließlich nur noch durch
matte Farben und einige Kleinigkeiten (Nägel, Lippen rc.)
von Europäern unterscheiden. Ueber die Frauen ist cs
schwer, etwas im allgemeinen zu sagen; selten nur kann
man sie hübsch, beinahe nie schön nennen. Wenn sie sich
den Weißen nähern, haben sie langes, ziemlich grobes Haar,
schöne Zähne, schmale, magere Hände und Füße, zarte
Formen und manchmal graziöse Bewegungen, was wohl
der Länge der unteren Extremitäten zugeschrieben werden
muß. Ihre Stimme ist heiser, die Haut finnig oder
schmutzigbraun, die Nase platt oder zu fleischig und der
Unterkiefer zu groß. Manchmal, sedoch selten nur, sieht
man einmal ein wirklich hübsches Mädchen, dem man überall
dies Prädikat beilegen würde. Ebenso wie die Neger,
namentlich aber die Gresse, haben die Mulatten einen
eigenthümlichen Geruch, der besonders dann sich in unan-
genehmer Weise bemerklich macht, wenn sie in Tran-
spiration gerathen; dann läßt er sich durch keinen Wohl-
geruch mehr unterdrücken.
Mit Ausnahme der wenigen Personen, welche von
frühester Jugend an im Auslande erzogen wurden, haben
bis auf die neueste Zeit die meisten Haitier nur wenig
Gelegenheit zu ihrer geistigen Ausbildung gehabt, und man
kann ihnen ihrer Unwissenheit wegen eigentlich keine Vor-
würfe machen. Dieser Umstand macht sich jedoch in sehr-
unangenehmer Weise geltend, da sic weder im Stande sind,
ihren Kindern den ersten Unterricht zu geben, noch sich
selbst niit guter Musik und Lektüre zu unterhalten. Wie
wohl alle Frauen in der Welt, verdienen auch die Frauen
in Haiti das Lob, gute Pflegerinnen bei Krankheit zu sein,
Globus XLVII. Nr. 15.
und sie sind gewiß nicht weniger (?) als andere Frauen, welche
in den Tropen wohnen, für ihre Kinder, ihren Gatten, ihr
Hauswesen besorgt; namentlich aber muß mit Rücksicht auf
die Ausschweifungen der Männer rühmlich anerkannt werden,
daß beinahe nie etwas vorkommt, was den Blick auf das
Privatleben der Frauen ziehen könnte. Ihr größter Fehler-
ist Mangel an Reinlichkeit im Hause, und selbst, wenn sic
nämlich glauben, nicht gesehen zu werden, in ihrer Klei-
dung; die Schlafzimmer riechen dumpf und muffig — wie
die Ställe, sagt ein amerikanischer Autor—, dagegen kommt
es auch wieder vor, daß sie in großer Toilette sich in der
Küche zu schaffen machen. Auch in anderer Beziehung herrscht
Unordnung im Hauswesen; die Essensstunden werden, wie
häufig in den Tropen, nicht regelmäßig eingehalten, zwischen
den Mahlzeiten verderben sich Frauen und Kinder den
Magen mit Süßigkeiten und allerlei Gerichten. Hieran
sind jedoch vielfach die Männer Schuld, die dem Trünke
ergeben sind und schon früh am Tage mit Zechen anfangen;
das geht bis zum Mittagessen fort, wo Viele schon leicht
angeheitert sind, und am Abend ist wenigstens eine schwache
Majorität aufgeregt, kopfschwer oder ausgelassen. Wie
bei den Negern, herrscht auch bei den Mulatten in geschlecht-
licher Beziehung große Ungebnndenheit; jeder, der es be-
zahlen kann, hält eine oder einige, gewöhnlich den niedrigen
Klassen entstammende Maitressen. Der Präsident besucht
die seinigen ganz öffentlich, womöglich von seinen Adjutanten
begleitet; ein jeder führt die seinige in Gesellschaft, man
sucht Aehnlichkeit zwischen den Kindern derselben und
ihrem Vater, manchmal bewegen sich die verhciratheten
Töchter mit der unverheiratheten Mutter in demselben Kreise.
Die Entschuldigungen, die für derartige Zustände angeführt
werden, das Klima, die Ueberzahl von Frauen und die
Versuchungen, denen die Männer dadurch ausgesetzt sind,
dürften wohl kaum als solche gelten. Der Haß, den die
Mulatten gegen die Weißen hegen, gründet sich großen-
theils auf die Vorliebe, welche die farbigen Frauen für-
letztere haben. Das Ideal einer jungen Dame in Haiti
ist eine Heirath mit einem Europäer, der womöglich ihr
gefällt, jedenfalls aber ihr eine Stellung in der Welt giebt
und ihr Gelegenheit verschafft, Europa zu sehen oder, noch
lieber, für immer da zu bleiben. So manches junge
Mädchen, namentlich von denen, welche in Europa erzogen
worden sind, hegt solche Hoffnungen, bis ihre Reize an-
sangen zu schwinden und sie sich aus Vorsicht mit dem
hellsten ihrer Landsleute, den sie bekommen kann, zufrieden
stellt. In dieser Weise geht manches Samenkorn der
Civilisation, welches auf fruchtbaren Boden gefallen, häufig
in recht trauriger Weise verloren.
Die Unehrlichkeit, die den meisten von Jugend auf znr
Gcwohnheit wird, zeigt sich natürlich auch im öffentlichen
Leben; sich am Gelde des Staates zu bereichern, wird nicht
als Diebstahl betrachtet; unter der Regierung des Kaisers
Soulougue traf den Monarchen der Vorwurf, daß er das
Staatseigenthum verschwende. General Gesfrard, der, bis
er auf den Präsidentenstuhl erhoben wurde, in Dürftigkeit
lebte, versprach sparsam zu sein. Doch wie that er dies? Er-
brachte sein Einkommen nach und nach auf 10000 Pfd. St.,
er leitete die Verwendung von 4000 Pfd. St. für ge-
heime Ausgaben und von weiteren 4000 Pfd. St. für
Künste und Wissenschaften. Das dankbare Land beschenkte
ihn mit zwei Landgütern, deren Einnahmen in seine Tasche
flössen, während der Staat den größten Theil der Aus-
gaben bestritt. Das Portrait dieses hervorragenden Mannes,
wie es durch Spenser St. John in einem (nicht abge-
schickten) ofsicicllen Berichte gezeichnet wurde, möge hier
als Typus eines Mulatten der besseren Klasse eine Stelle
30
234
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
finden. Wir übersetzen ganz wörtlich, wie wir hier aus-
drücklich beifügen. „Ich empfinde Widerwillen, den Cha-
rakter des Präsident Geffrard zu analysiren, doch da er
die Regierung repräfentirt, ist es nothwendig ihn zu kennen.
In feinen Formen ist er höflich und angenehm, beinahe
von weiblicher Sanftheit; er besitzt einen sehr angenehmen
Ausdruck, ein einnehmendes Lächeln und eine fließende
Konversation. Doch bald bemächtigt sich des Zuhörers
das Gefühl, daß der Präsident trotz aller feiner liebens-
würdigen Eigenschaften eitel und anmaßend, ganz von sich
und feiner Ueberlegenheit über den Rest der Menschheit
eingenommen ist. Er glaubt, daß er in jeder Wissenschaft
Großes leisten kann, obwohl er ebenso wenig unterrichtet
als durch Reisen gebildet ist. Ueber alles maßt er sich an,
mehr zu wissen, als selbst die Leute, welche Specialitäten
in einem Fache sind, wie Advokaten, Aerzte, Architekten
und Ingenieure. Er versichert ganz ruhig, daß er die
Anwendung des Dampfes durch selbständiges Studium ge-
funden hat, daß er im Stande ist, die Frage des Perpe-
tuum mobile zu lösen und er, der nie in seinem Leben etwas
anderes, als einen mittelgroßen Pony bestiegen hat, glaubt
unseren Newmarket - Jockeys Winke in Bezug auf das
Reiten geben zu können." Ueber die persönlichen Eigen-
schaften dieses Präsidenten fügt unser Autor noch Folgen-
des bei: Geffrard wie so mancher Farbige war über sein
wolliges Haar und seine schwarze Farbe sehr betrübt und
da er einen sehr hübschen Halbbruder hatte, versicherte er
uns, daß er beinahe weiß, mit schlichtem Haare geboren
sei, daß er aber unglücklicherweise Monate lang im Sal
Tronflnß gebadet habe, wodurch in Folge des stark eisen-
haltigen Wassers sein Haar gekraust und seine Haut ge-
schwärzt sei; bei jedem anderen Manne hätte man hierbei
an einen Scherz denken können.
So unehrlich wie die Haitier in Bezug auf Geld-
angelegenheiten sind, sind sie es auch in anderer Beziehung;
Treue für den militärischen Eid kennen sie nicht, kaum
könnte man einen Einzelnen unter den Officieren nennen,
der dem Präsidenten Geffrard seine Treue bei dem Auf-
stande bewahrt hätte, und ehe es soweit kam, intriguirte
jeder Staatsdiener gegen die über ihm stehende Autorität.
Im Scherze sagte man, daß Geffrard selbst, nachdem er
Präsident geworden war und Konspirationen gegen den
Staat ihm demgemäß überflüssig erschienen, gegen seine
eigenen Minister intriguirte.
Vielleicht aus der Liebe zum Schein erklärt sich der
große Muth, den alle Haitier zeigen, wenn sie auf dem
Exekutionsplatze stehen, während die Masse des Volkes den
feindlichen Waffen gerne ausweicht; ebenso feige ist sie,
wenn ihr Aberglaube ins Spiel kommt.
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
i.
F. 8. H. Bei der regen Theilnahme, welche man
gegenwärtig im deutschen Vaterlande der Westküste Afrikas
schenkt, glaube ich, daß Erlebnisse und Erfahrungen, die
ich im vergangenen Jahre während meines neunmonatlichen
Aufenthaltes im Hinterlande von Sierra Leone gesammelt
habe, von allgemeinem Interesse sein dürften. Als Ver-
treter einer englischen Handelsgesellschaft schiffte ich mich
Ende Januar 1884 auf dem Dampfer „Malemba" von
Hamburg aus nach Lavanah, welches unter ?o 5' nördl.Br.
liegt, ein. Wir liefen Rotterdam, Plymouth und Madeira
an, passirten dann die Kanarischen Inseln mit ihren hohen
vulkanischen Gebirgszügen und erreichten nach Umschiffnng
vom Cap Verde das Tropcngebict. Bei den Stationen
Los-Inseln, Freetown, Sherbro liefen wir zur Löschung
von Waaren an und langten dann nach vicrwöchentlicher
Fahrt, die anfangs wohl etwas stürmisch, im Ganzen aber
doch sehr glücklich verlaufen war, am 25. Februar an
meinem Reiseziele, in der Nähe von Lavanah (etwa 100 km
südöstlich von dem britischen Sherbro), an.
An eine ordentliche Hafeneinrichtung ist da natürlich
nicht zu denken; der Dampfer liegt in offener See, eine
halbe Stunde vom Lande entfernt, und wartet, bis die
betreffende Faktorei, für welche man Ladung oder Passagiere
an Bord hat, vom Strande Boote sendet, um diese in
Empfang zu nehmen. Die Faktoreien, welche viele Stunden,
oft Tagereisen weit zerstreut an der Küste liegen, verwenden
hierzu mit Kru-Negeru bemannte, sogenannte Brandungs-
boote, welche vermöge ihres kräftigen und doch leichten
Baues besonders geeignet sind, durch die Brandung zu
dringen. Von der Gesellschaft, in deren Diensten ich stand,
kam Herr V., ein Landsmann, an Bord, um mich abzuholen,
eine Partie von 4000 Demijohns Rum in Empfang zu
nehmen und zugleich den Schiffsdoktor wegen einer Bein-
wunde zu konsultiren. Aerzte giebt es nämlich nur in den
wenigen größeren Küstenplätzen; in den Faktoreien muß
sich der Weiße durch mitgenommene Arzneien selbst zu
helfen wissen; daher wird denn die seltene Gelegenheit,
einen Schiffsarzt zu konsultiren, eifrig aufgesucht.
Der letzte Abend, den ich aus der „Malemba" zubrachte,
ließ mich noch die Bekanntschaft eines hier heimischen, aus
östlicher Richtung kommenden Wirbelwindes machen, des
Tornado, der fast immer von starkem Gewitter und Regen-
guß begleitet ist und die schwüle Temperatur erheblich ab-
kühlt. Am nächsten Morgen nahm ich Abschied vom Schiffe
und bestieg das von neun schwarzen Burschen geruderte
Boot. Je mehr wir uns dem Lande näherten, desto stärker
wurde der Wellenschlag; jetzt waren wir ganz nahe, noch
ein kräftiges Heben der Ruder und ehe die Brandung
wiederkehrte, eilten vom Strande ein paar Dutzend schwarzer
Füße ins Wasser, das Boot wurde ergriffen, vor Umschlagen
und Rückkehr in See gesichert und mich selbst trug man in
größter Hast ans Ufer; doch wurde ich trotzdem von dem
Gischt der nachfolgenden Welle arg durchnäßt. Der Strand
ist mit der Faktorei durch einen 10 Minuten langen Schienen-
strang verbunden; ich nahm auf einem offenen, von Negern
geschobenen, hölzernen Karren Platz und kam, nachdem wir
einmal entgleist und ich unfreiwillig in den zur Seite be-
findlichen Busch befördert war, ohne weiteren Unfall in
Lavanah an.
Dieser Ort, von Negern bewohnt, besteht aus ein paar
Dutzend schmutziger Palmhüttcn, die auf den Namen „town“
(Stadt) Anspruch machen, und den mit einem Palissaden-
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
235
zäune umgebenen Faktoreigebäuden der Sulimah and
Sherbro Trading Comp. Der 20 bin weiter südöstlich
mündende Sulymah-Fluß, ein Wasser, das während
der trockenen Jahreszeit, also von November bis Mai,
ziemlich seicht ist, schwillt während der Regenzeit mächtig
an und spült dann seine schmutzigen, fieberkeimenden Fluthen
fast bis in die Faktorei hinein. Hier leben nun vier Weiße,
der Agent und drei Clerks, ein von aller Civilisation ab-
geschlossenes Dasein, in das nur die allwöchentlich einmal
von Sherbro eintreffende Post eine kurze Abwechselung
bringt. Das Hauptgebäude ist ein mit Zinkdach versehener,
hölzerner, einstöckiger Bau; unten befinden sich nur Lager-
räume, während der obere Theil, um den sich eine breite
Veranda hinzieht, die Wohnräume der Weißen und den
Laden enthält. Statt der Glassenster haben die Zimmer
nur hölzerne Fensterrahmen ohne Scheiben, durch die der
Luftzug bei Tage eindringen kann, während man sich
Nachts durch Läden vor dem Hereinfliegen von Insekten
schützt.
Beiläufig sei bemerkt, daß jeder Weiße die ganze Nacht
sein Zimmer durch Licht erhellt, die Eingeborenen dagegen
sich nur von Sonne und Mond leuchten lassen und durchaus
kein Bedürfniß nach künstlichem Licht empfinden. Alle hier
anwesenden Weißen litten bei meiner Ankunft an schmerz-
haften Geschwüren an Beinen und Füßen, welche sowohl
durch Blutstockungen als durch kleine Insekten (jigger,
Sand flöhe) entstehen, die sich gewöhnlich unter den Fuß-
nägeln einnisten und dort brüten, wenn sie nicht rechtzeitig
mittels einer Nadel entfernt werden.
29. Februar. In den letzten Tagen machte ich es mir
zur Aufgabe, mich möglichst eingehend über die hiesigen
geschäftlichen Verhältnisse zu unterrichten. Palmöl und
Palmkerne sind die hauptsächlichsten Produkte des Landes;
sie werden von der hier wild wachsenden Oelpalme gewon-
nen und zwar ergicbt sich ersteres aus dem den Kern ein-
schließenden rothen Fleische der Früchte, welche in Form
von Traubenbüscheln neben einander sitzen. Das aus dem
Fleische gewonnene Oel dient zur Seifenfabrikation, wäh-
rend das Oel, welches später in Europa aus den Kernen
gepreßt wird, zu medicinischen Zwecken und zum Versetzen
von Olivenöl in den Handel kommt. Genever, Rum,
Tabak, Baumwollenwaaren werden gegen diese Produkte
ausgetauscht, nebenbei auch Feuersteingewehre, Eisen und
Porzellangeschirr, sowie Glasperlen und billiger Korallen-
schmuck für Frauen. Auch Salz und amerikanischer Reis
werden in großen Quantitäten eingeführt und als Tausch-
mittel verwandt. Der reguläre Preis für Salz ist 5 Mk.
pro Centner, so daß also die Schwarzen diesen Bedürfniß-
artikel, auf dem große Transportkosten ruhen und an dem
der Händler außerdem noch 50 Procent verdient, um
5 Pf. pro Pfund, also um die Hälfte billiger einkaufen
können, als ihre weißen Menschcnbrüder in Deutschland,
welche freilich dafür das Recht besitzen, sich die Steuern
selbst aufzuerlegen. Eine halbnackte Schöne unter den
Käufern fiel mir besonders dadurch auf, daß sie ganz wie
im lieben Vatcrlandc sich vor den Männern durch Feilschen
und Unentschlossenheit auszeichnete. Von großer Wichtig-
keit bei diesen Tauschgeschäften find die Geschenke (dash),
welche der Neger regelmäßig nach Abschluß derselben
erwartet und erhalt; geduldig gewährt er dem Weißen beim
Handel einen Gewinn von 100 bis 300 Procent, nimmt
cs aber sehr übel, wenn schließlich das Geschenk seiner
Erwartung nicht entspricht, und ist im Stande, aus diesem
Grunde jeden ferneren Verkehr abzubrechen und seine Kund-
schaft einer anderen, wenn auch noch so entfernten konkur-
rirenden Faktorei zuzuwenden.
1. März. Mein Bestimmungsort ist Manual)Sal-
ti ej ah, und trat ich heute die Reise dorthin in Begleitung
von zwei Weißen zunächst nach unserer Faktorei Sulymah
an. Da in diesem Tropenklima kein Europäer einen län-
geren Marsch durch den heißen Sand ohne Gefahr für die
Gesundheit machen kann, so hatte jeder von uns sechs Kru-
leute zur Verfügung, die uns abwechselnd zu tragen hatten.
Man liegt nämlich in einer Hängematte, die an einem
armdicken, acht Fuß langen Bambustocke befestigt ist, wel-
cher aus den Schultern der Träger ruht. Der Weg lies
vier Stunden durch Buschwerk und Palmengehölz hin, ich
lag mit Flinte, Revolver und Schirm bewaffnet da und
gab Heimathsgedanken Audienz, da ich doch von dem in
der Landessprache geführten Geschwätz der tragenden Neger
kein Wort verstand. Jede Stunde wurde in einem Dorfe
gerastet und getrunken; da kamen denn alle, uns anzu-
staunen, Männer, Weiber und Kinder. Um fünf Uhr
Nachmittags erreichten wir eine Lagune, bestiegen zu 13 Per-
sonen und 3 Hunden ein Canoe und fuhren nun 11/2 Stun-
den lang an grünen, bäum- und vogelreichen Inseln vor-
bei, dem Meere zu, nach den Strapazen der Landreise eine
recht erfrischende Abwechselung. — Vor Erreichung des Salz-
wassers hatten wir eine Art Strudel (harr) zu passiren;
größerer Sicherheit wegen verließen wir das Boot, über-
schritten eine Düne und ließen das Fahrzeug von den
Schwarzen über die gefährliche Stelle hinwegschieben.
Mittlerweile war es ganz dunkel geworden; bei Mond-
schein nahmen wir wieder im Canoe Platz, doch kaum ein
paar Bootslüngen vom Ufer entfernt, beginnt dasselbe zu
schwanken, eine besonders kräftige Strömung erfaßt es und
wir alle liegen im Wasser. Da es in der Nähe des Ufers
nicht so tief war, auch solch unfreiwilliges Seebad bei
afrikanischer Temperatur selbst in der Abendluft nicht ge-
sundheitsschädlich ist, war die Situation mehr komischer
als tragischer Natur. Bis über die Hüften im Wasser
stehend, sicherten wir zuerst das Boot und fischten dann
nach unseren verlorenen Effekten; meine Doppelflinte fand
ich wieder, aber Revolver und Regenschirm waren rettungs-
los verloren. Nachdem wir uns abermals dein Boote an-
vertraut hatten, langten wir bald ohne weiteren Unfall in
der Faktorei Sulymah an, wo wir zuerst die Kleider wech-
selten und dann mit Appetit an dem Mittagsmahle theil-
uahmen.
Am 2. März traf ich von Sulymah in Manual)
Salliejah ein. Hier werde ich für längere Zeit unum-
schränkter Gebieter über ein ausgedehntes Terrain sein, bin
jedoch als einziger Weißer von all' und jedem gesellschaft-
lichen Verkehr getrennt und kann Befriedigung nur in
regelmäßiger Arbeit, in Erfüllung meines Berufes finden.
Die Faktorei liegt am Ufer des Mann ah- oder Ma-
nohflufses, der sich schon in kurzer Entfernung zu einer
Lagune erweitert, und ist die Verbindung dieser mit dem
offenen Meere noch dem Auge sichtbar.
Der Raum, welcher mein Wohn-, Schlaf- und Em-
pfangszimmer reprüsentirt, ist ein Viereck von 18 Fuß, die
Wände weiß gekalkt, Fußboden und Decke mit Bambu-
matten belegt und das Ganze mit einem Palmblattdache
versehen, welches einige Fuß weit über die Wohnung hin-
aus reicht und so eine Art Veranda bildet, wo man, vor
Sonne geschützt, im Freien sitzen kann. Das Mobiliar
bestand bei meiner Ankunft nur aus einem breiten eisernen
Himmelbett, einem rohen hölzernen Tisch und zwei wacke-
ligen Rohrstühlen. Nach und nach ließ ich mir aus alten
Tabakskisten noch einiges nothwendige Hausgeräth anfer-
tigen. — Zum Kommis und Dolmetscher hatte ich einen
in Amerika geborenen älteren Schwarzen; ein Englisch
30*
236
M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien.
sprechender Eingeborener, auf dessen Unehrlichkeit ich von
vornherein aufmerksam gemacht worden war, war mir als
Koch und Diener beigegeben.
3. März. Heute habe ich mit der neuen Tagesord-
nung, welche von weißen Ansiedlern in diesem äquatorialen
Strich eingehalten wird, begonnen. Um 5x/2 Uhr erhob
ich mich mit den ersten Strahlen der Sonne, ließ die
inmitten der Faktorei befindliche große Glocke läuten, wo-
durch aus dem benachbarten Dorfe die Arbeiter zum Tages-
werk gerufen werden, und nahm dann in einer kleinen
Bambuhütte ein erfrischendes kaltes Wannenbad. Hier-
auf wurde die tägliche Ration Reis — ein Pfund pro
Mann — an die Schwarzen vertheilt und ich selbst setzte
mich zum ersten Frühstück nieder. Von 7 Uhr an wurden
schon aus der Umgegend meistens von Weibern kleine
Mengen Palmkerne und Palmöl zum Tausch eingebracht
und später langten ganze Canoeladungen dieser Produkte
auf dem Flusfe weiter vom Inneren her an. Mit den
Händlern, welche diese bringen, ist gar nicht so leicht fertig
zu werden; sie sind viel gewitzigter als der Durchschnitts-
neger, suchen den Clerk beim Wägen und Messen ihrer
Waare zu übervortheilen, bemängeln Preis und Qualität
der Tauschmittel und beanspruchen schließlich noch Kredit.
Obgleich man nun bei Gewährung desselben mit ziemlicher
Sicherheit die betreffenden Summen in den Schornstein
schreiben kann, wird doch meistens von gänzlicher Weige-
rung abgesehen und der Händler dadurch zu wiederholter
Zuführung von Landesprodukten veranlaßt, durch deren
reichen Verdienst dann der kleine Verlust mehr als reichlich
gedeckt wird. Von 11 bis 1 Uhr Mittags ist Frühstücks-
zeit, Nachmittags wird bis 5^ Uhr in gleicher Weise wie
am Morgen gearbeitet, worauf man durch abermaliges
Glockengeläute den Arbeiter zu seinem ersehnten Reistopf
und zur Nachtruhe entläßt. Gegen 6^ Uhr pflegte ich
beim Scheine der Lampe zu diniren, las oder schrieb später
noch kurze Zeit, wenn mich die gegen das Licht fliegenden
langgeflügelten Insekten nicht gar zu arg inkommodirten,
träumte auch wohl kurze Zeit in der vor der Thür befind-
lichen Hängematte und suchte meistens schon gegen 8 Uhr
meine Lagerstatt auf.
Das große Erdbeben in Andalusien.
Von M. Willkomm.
I.
Wenn auch in den Zeitungen wiederholt Nachrichten
über die furchtbaren Erderschütterungcn, von denen die
Provinzen von Granada und Malaga am vergangenen
Weihnachtsfeste und an den folgenden Tagen heimgesucht
wurden, mitgetheilt worden sind, so waren dieselben doch
nur aphoristische und meist wohl nur aus Telegrammen
beruhende, da sich auf andere Weise die oft bis zur Un-
kenntlichkeit gehende Verstümmelung der Ortsnamen kaum
erklären läßt. Es dürfte daher wohl nicht ohne Inter-
esse für die Leser des „Globus" sein, eine ausführlichere,
den Berichten von Augenzeugen entnommene Schilderung
jener entsetzlichen Katastrophe zu erhalten, durch welche
Tausende von Menschen das Leben, Hunderttausende ihr
gesammtcs Besitzthum verloren haben und zwei der blü-
hendsten und reichsten Provinzen Spaniens in die äußerste
Nothlage versetzt worden sind. Als Quellen für eine solche
Schilderung dienen mir zahlreiche Ausschnitte aus dem in
Malaga erscheinenden „Las Noticias" betitelten Tage-
blatte, die ich einem mir befreundeten dort domicilirenden
Spanier verdanke, und welche den Zeitraum vom 25. De-
cember 1884 bis 16. Januar d. I. umfassen. Während
dieser 23 tägigen Periode sind fast täglich irgendwo inner-
halb des Erschütterungsgebietes Erdstöße erfolgt. Alle
Berichte stimmen darin überein, daß die Bewegung des
Erdbodens eine wellenförmige gewesen. Manche der ein-
zelnen Erschütterungen dauerten bis 20 Sekunden! —
Bevor ich aber zur Mittheilung detaillirter Berichte aus
einigen der am härtesten betroffenen Ortschaften schreite,
halte ich es des Verständnisses halber für zweckmäßig, in
kurzen Umrissen den Lesern ein Bild von dem ausgedehnten,
mir aus eigener Anschauung wohl bekannten, weil von
mir wiederholt durchwanderten Schauplatze jenes Erdbebens,
das an Großartigkeit demjenigen von Lissabon kaum uach-
stcht, bezüglich seiner Lage, Oberflächengestaltung und
geognostischen Zusammensetzung vor die Augen zu führen.
Malaga, nächst Barcelona der bedeutendste Hasen-
nnd Handelsplatz und eine der reichsten und vorgeschritten-
sten Städte Spaniens, mit einer Bevölkerung von etwa
120 000 Seelen, liegt hart am Fuße einer bis 700 in
Höhe anschwellenden, größtentheils mit Weinreben be-
pflanzten, mit Hunderten von blendendweiß getünchten
Häusern, sowie mit zahlreichen, geschmackvollen, von herr-
lichen Gütern und Parken umgebenen Villen bestreuten
Hügelkette, welche sich von der vom Flusse Guadalhorce
bewässerten, an den Südwestrand der Stadt grenzenden,
größtentheils mit Zuckerrohrfeldern bedeckten Ebene ost-
wärts längs der Küste 45 km weit bis gegen Nerja hin
ausdehnt. Dieses nordwärts von Malaga stufenförmig in
immer höher anschwellende, dicht mit immergrünem Ge-
büsch bedeckte Berge übergehende Hügelland lehnt sich an
eine lange Gebirgskette an, welche einen gewaltigen, mit
seiner Convexität gen Norden gerichteten Bogen bildet und
die Küstenzone von den im Mittel 700 m über das Meer
aufragenden Plateaus von Antequera und Granada scheidet.
Das westliche, zwischen dem mittleren Laufe des Guadal-
horce und Loja befindliche Drittheil dieses Gebirgsbogens
streicht von WSW nach ONO, der östliche viel längere
Schenkel, welcher sich bis an die Mündung des Gnadalfeo
und die Küstenebeneu von Motril erstreckt, von WNW
nach OSO. Die Gesammtlänge des Gebirgsbogens be-
trägt etwa 120 km. Die westliche Hälfte seines längeren
Schenkels begrenzt die Hochebene von Granada, die östliche
wird durch das breite, reich bevölkerte Längenthal von
Lecrin von dem Riesenwalle der Sierra Nevada geschieden,
an deren nordwestlichem Fuße die Stadt Granada liegt,
und auf deren untersten Schwelle die Alhambra thront. Das
M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien.
237
spaltenförmigc Durchbruchsthal des Guadalhorce, durch das
die von Malaga nach Cordoba führende Eisenbahn gelegt
ist, welche bei Bobadilla (schon jenseits des Gebirges) die
über Antcqnera und Loja nach Granada lausende Zweig-
bahn abgiebt, scheidet den geschilderten Gebirgsbogen von
der wilden und verwickelten Gebirgsgruppe der Serrania
de Ronda, die das westlichste Stück des hochandalusischen
Gebirgslandes bildet und deren südlichste Kette die Küste
zwischen der Ebene von Malaga und der im Norden von
Gibraltar befindlichen Mündung des Flusses Gnadiaro in
einer Länge von circa 90 km umwallt. Das östlichste
Glied dieser Kette, die vielkuppige, malerische Sierra de
Misas, an deren Fuße zahlreiche, meist von Orangenhainen
umgebene, wohlhabende Ortschaften liegen, unter denen hier
namentlich Torremolinos, Churriana, Alhanria de la Torre
und Alhaurin el grande, die beliebten Sommeraufenthalts-
orte der reichen Kaufleute Malagas, hervorgehoben zu
werden verdienen, begrenzt die reizende Ebene von Malaga
oder das Becken des unteren Guadalhorcelaufes gegen
Süden. Alle diese durch große Schroffheit und groteske Zer-
rissenheit ausgezeichneten Gebirge sind in der Hauptsache
aus metamorphischen Dolomiten und Kalken zusammengesetzt,
während das dem beschriebenen Gebirgsbogen vorgelagerte
Hügelland vorzugsweise aus metamorphischem Thon- und
Grauwackenschiefer (wohl silurischcn Ursprungs), zum Theil
aber auch aus Tertiärschichten, insbesondere Nummuliten-
kalk besteht. Unter den die Gebirge bildenden Gesteinen
spielt ein sehr krystallinischer, blendend weißer, zuckerähn-
licher und massiger Dolomit eine hervorragende Rolle.
Aus solchen! Dolomit, dessen ungeschichtete Massen auf mich
immer den Eindruck gemacht haben, als ob sic durch eine
unterirdische Kraft emporgehoben worden seien (in der
That erscheinen die Thonschieferschichten des Hügellandes
gegen solche Dolomitgebirge stark aufgerichtet), besteht auch
die Sierra Tejeda, das höchste, bis 2134 m über dem
Meeresspiegel aufragende Glied der langen östlichen Kette
jenes Gebirgsbogens, und gerade dieses, einen schroffen, an
seinen Hängen wild zerklüfteten Wall bildende Gebirge hat
offenbar den Mittelpunkt des Haupterschütternngskreiscs
der Erdbeben gebildet. Denn nicht, wie bei dem Erdbeben
von Lissabon, sind die Erschütterungswellen von einem
Mittelpunkte, der damals Lissabon selbst war, ausgegangen,
sondern es sind offenbar mehrere Erschütterungscentren
vorhanden gewesen. Aus den mir vorliegenden Nachrichten
ist ersichtlich, daß mindestens fünf derselben, die sich zum
Theil in Linien ordnen, bei den andalusischen Erdbeben in
Thätigkeit waren, in den meisten aber das Erdbeben am
25. December ziemlich gleichzeitig begonnen hat. Als
solche Centren sind zu verzeichnen Antequera, Granada,
die Sierra Tejeda, Belez-Malaga und Cortes, ein im
westlichen Theil der Serrania de Ronda gelegener Flecken.
Die ärgsten Erschütterungen haben zu beiden Seiten der
von Loja gen OSO streichenden Gebirgskette, deren hervor-
ragendstes Glied eben die Sierra Tejeda bildet, stattge-
funden, sowie in Belez-Malaga (im Küstenstrich). Granada
selbst scheint zum Glück verhältnißmüßig gut weggekommen
zu sein, ich sage zum Glück: denn wäre diese Stadt so
fürchterlichen Erschütterungen ausgesetzt gewesen, wie etwa
Belez-Malaga oder auch nur Antequera, so würde die zau-
berische Alhambra jetzt ein Trümmerhaufen sein. Die-
selbe scheint nicht erheblich gelitten zu haben. Bezüglich
der Richtungen der Wellenbewegungen des Erdbodens
lassen sich folgende Linien unterscheiden: 1) eine Linie von
Antequera längs des südlichen Fußes der Gebirgskette über
die Ortschaften Alfarnate, Periana, Alcaucin, Canillas de
Aceytuno (an der Schwelle der Tejeda), Competa bis Frigi-
liana, und eine zweite längs des nördlichen Fußes derselben
Kette über Alhama, Fayena, Albunuelas (unweit des Nord-
fußes der Tejeda) und die Ortschaften des Bal de Lccrin
und der Sierra de Almijara bis an das Thal des Guadalfeo;
2) eine Küstenlinie von Malaga ostwärts über Belez-
Malaga, Algarrobo, Torrop, Nerja, Almunecar bis Motril,
südwestwärts über Churriana, BenalmLdena, Fuengirola bis
Marbella. Dazu kommen die Erschütterungscentren von
Corte im äußersten Westen und von Granada im Osten
des gesammten von dem Erdbeben heimgesuchten Areals.
Bon Corte scheinen sich die Wellenbewegungen strahlen-
förmig südostwärts gegen die Küste und gegen das untere
Bassin des Gnadalhorce gerichtet zu haben, die Gegend
von Granada vielleicht nur von den von der Sierra Tejeda
ausgehenden Wellen in Mitleidenschaft gezogen worden zu
sein, in welchem Falle Granada nicht als ein besonderes
Erschütterungscentrum anzusehen wäre. Daß eine Zei-
tungsnachricht, nach welcher die Sierra Nevada in der
Nacht vorn 25. zum 26. December um mehrere hundert
Meter emporgehoben worden sein sollte, eine fette Ente ge-
wesen, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Wäre die Sierra
Nevada, eine beinahe 4000 m hohe und 40 bis 50 km
breite Gebirgskette in einer Nacht auch nur 50 m empor-
gehoben worden — ein Phänomen, welches beispiellos in
der Geschichte der Erde innerhalb der historischen Zeit da-
stände — so würde weder in Granada, noch in den zahl-
reichen am Fuße und in den Thälern jenes Gebirges
gelegenen Ortschaften ein Stein auf dem anderen geblieben,
da würden Berge geborsten und Thäler verschüttet worden
sein. Im Gegentheil scheinen die Ortschaften der Sierra
Nevada wenig oder gar nicht gelitten zu haben.
Ich will nun einige Specialberichte von Augenzeugen
folgen lassen, zunächst einen solchen aus Antequera.
Diese von den Römern gegründete Stadt, welche jetzt gegen
30 000 Einwohner zählt und ein sehr gewerbthätiger Ort
ist (es giebt dort viele Seiden- und Wollwaarenmannfak-
turen, Papier- und Seidenfabrikcn, Färbereien, Gerbe-
reien u. a. m.), liegt unweit des nördlichen Fußes der nach
ihr benannten Sierra, eines ans schwarzem Marmor be-
stehenden Gebirges, an dem Abhange und Fuße eines
mit einem umfangreichen Kastell römischen Ursprungs ge-
krönten Hügels über der breiten Thalmulde des oberen Gua-
dalhorcelaufes an der nach Granada führenden Eisenbahn.
Die Stadt besaß viele Kirchen und Klöster und in ihrem
älteren oberen Theile eine Menge stattlicher, wappenge-
schmückter, in castilianischem Baustil erbauter, sehr inter-
essanter Häuser, denn Antequera ist der Sitz oder die Wiege
vieler altadeliger Geschlechter, unter deren stolzen, ehrsüch-
tigen und rauflustigen Nachkommen noch 1846, wo ich dort
verweilte, die Blutrache in ganz corsicanischer Weise in
Blüthe stand. Unter den Kirchen zeichnete sich besonders
die innerhalb des Kastells, dessen Eingang ein imposanter
römischer Triumphbogen bildet, gelegene Kirche der Jung-
frau durch herrliche gothische Architektur aus. „Am Abend
des 25. December — schreibt ein Bewohner dieser Stadt
unter dem 5. Januar an den Redakteur der „Noticias" —
als sich die meisten Familien in ihren Häusern befanden,
um am wärmenden Kaminfeuer (denn es war sehr kalt)
sich den harmlosen Freuden des Weihnachtsfestes hinzu-
geben, ließ sich plötzlich, gegen halb 9 Uhr, ein fernes
dumpfes, Kettengerassel ähnliches Geräusch vernehmen, dem
unmittelbar eine furchtbare oscillirende Bewegung des Erd-
bodens folgte, welche über 15 Sekunden andauerte und von
einem entsetzlichen donnerartigen Getöse begleitet war.
Unter dem Geprassel umgeworfener Möbeln, zerbrechender
Gläser, herabfallender Spiegel und Bilder und einbrechen-
238
Kürzere Mittheilungen.
der Decken stürzten die von panischem Schreck ergriffenen
Bewohner aus den wankenden Häusern, von denen im
nächsten Moment Dutzende unter betäubendem Gekrach
zusammenbrachen, auf die Gassen; ein einziger furchtbarer
Angstschrei schien gleichzeitig aus allen Häusern zu dringen!
Der Anblick der Gassen in jener nächtlichen Stunde spottet
jeder Beschreibung. Hier suchten rathlos umherirrende
Mütter mit lautem Angstruf einen Sohn oder eine Tochter,
dort jammerten zarte Kinder nach ihren Eltern, denn
infolge des Verlöschens der Straßenlaternen herrschte tiefes
Dunkel in den mit dem Staube der zusammenstürzenden
Gebäude erfüllten Gassen. Die ganze Bevölkerung floh
entsetzt unter dem Getöse der einstürzenden Häuser, Kirchen
und Thürme auf das freie Feld hinaus, um hier jedes
Schutzes gegen die immer ärger werdende Kälte baar die
Nacht zuzubringen. Sechsmal wiederholten sich die Erd-
stöße während jener Schreckcnsnacht! Bei Tagesanbruch
überzeugte man sich zwar, daß kein Verlust an Menschen-
leben zu beklagen war, aber welch einen Anblick bot die
Stadt dar! Fast alle Häuser haben mehr oder weniger
gelitten, hunderte sind zusammengestürzt. Von den Kirchen
liegen acht in Ruinen oder drohen den Einsturz, darunter
die schöne Marienkirche im Kastell, von den Klöstern vier,
unter diesen auch das Nonnenkloster der Recoletas, wel-
ches erst vor Kurzem neu aufgebaut worden ist, um als
Schule zu dienen, in welcher arme Mädchen unentgeltlich
unterrichtet werden sollten. Seit Weihnachten haben sich
die Erderschütterungen öfter wiederholt, wobei eine große
Unregelmäßigkeit in der Dauer und Intensität der Wellen-
bewegung des Bodens zu konstatircn war, und wissen wir
nicht, wie lange dieser beängstigende Zustand dauern wird.
Deshalb sind auch die aus der Stadt geflüchteten Bewohner,
deren Häuser noch unversehrt oder bewohnbar geblieben,
nicht zu bewegen, in dieselben zurückzukehren. Die be-
mittelten Familien wohnen theils in auf den Feldern
errichteten Baracken, theils auf dem Bahnhöfe in Wag-
gons, die der Stationschef zur Verfügung gestellt hat, aber
die Armen befinden sich in einer höchst traurigen Lage, da
sie gezwungen sind, ohne Obdach und ohne irgend welchen
Schutz gegen die Kälte im Freien zu kampiren. Die von
der Regierung der Stadt geschenkten 15 000 Pesetas
werden zwar hinreichen, um fürs erste der größten Noth
abzuhelfen, aber cs werden viel größere Summen bewilligt
werden müssen, um den Hausbesitzern die Wiederherstellung
ihrer Gebäude zu ermöglichen."
Kürzere Mittheilungen.
Bon der Lena-Expedition.
In den letzten Tagen des December v. I. ist der Chef
der Lena-Expedition, Nikolai Jürgens, in St. Petersburg
eingetroffen. Die Lena-Expedition ist eine derjenigen Expe-
ditionen gewesen, welche im Jahre 1882 zum Zweck magnetischer
uud meteorologischer Beobachtungen und anderer Untersuchun-
gen nach verschiedenen Gegenden des weiten Nordens aus-
gesandt worden waren. Rußland hatte zwei Expeditionen
ausgerüstet, eine an das Westufer von Nowaja Zemlia, die
andere an die Mündung der Lena. Die Aufgaben der Lena-
Expedition waren schwieriger, sowohl aus klimatischen Ur-
sachen als auch wegen der weit entfernten Lokalität und der
Beschwerden der Reise dahin. Die Glieder der Expedition
führten mit glücklichem Erfolge die ihnen zu Theil gewordenen
Arbeiten während eines ganzen Jahres aus, ja wünschten
sogar noch 10 Monate länger als bis zum Ende Juni 1884
daselbst zu verweilen. Bis zum Schluß des zweiten Jahres
konnten die Mitglieder nicht bleiben, weil es nicht möglich
gewesen wäre, aus dem Wiuterwege Personen wie Instru-
mente uud Ausrüstungsgegenstände von der Lena-Mündung
nach Jakutsk zu trausportiren; es mußte der kurze Sommer
zu diesem Transport benutzt werden, um auf dem Wasser-
wege nach Jakutsk zu gelangen. Am 26. Juni 1884 verließ
deshalb die Expedition ihr Lager an der Lena-Mündung. —
Der Gesundheitszustand aller Theilnehmer war gut; kein
Todesfall ist zu verzeichnen gewesen. Diese Thatsache dient
zur Bestätigung dessen, daß der Aufenthalt im hohen Norden
ohne besonderen Nachtheil für die Gesundheit möglich ist, aber
freilich ist er nicht frei von Entbehrungen uud Beschwerden,
deren viele auch dieser Expedition zu Theil wurden. Be-
sonders schtvierig war die erste Zeit, so lange man mit der
Einrichtung der Wohnstätte und mit der Aufstellung der
Instrumente beschäftigt war. Vor allem erforderten die
magnetischen Instrumente mancherlei Vorkehrungen; dazu
hatten sie durch einen Sturm aus der Lena einige Be-
schädigungen erfahren. — Die Expedition hat keine so niedrige
Kältegrade erlebt, als man erwartet hatte, nämlich nicht
50° C. Freilich wären bei völliger Windstille auch eher größere
Kältegrade zu ertragen gewesen, aber hier wehten unaufhör-
lich Winde, bei denen auch geringere Kälte schon sehr empfind-
lich wurde. Sehr beschwerlich war auch die lange Polarnacht,
keineswegs angenehm der feuchte kalte Sommer, während
dessen die Sonne fast nie sichtbar wurde und nur einmal
die Temperatur auf 12° C. stieg. Unter solchen Bedingungen
ist die Vegetation jener Gegend die allertraurigste — man
findet daselbst fast nur Moose.
Inder Nähe der Insel Sagastyr, auf welcher die
Expedition sich niedergelassen hatte, giebt es keine beständig
bewohnte Stätte, nur zeitweilig kommen Jakuten des Fischfangs
wegen dahin. Als man die Insel Sagastyr zum Beobachtungs-
orte auswählte, glaubte man, daß dies der nördlichste Theil
im Delta der Lena sei; doch zeigten die späteren Aufnahmen,
daß noch nördlicher eine Insel Dunay existirt, welche bis
zum 74. Grade n. Br. hinaufreicht. Die geographische Auf-
nahme jener Gegend verändert das bisherige Kartenbild sehr
beträchtlich.
Einer der Theilnehmer der Lena-Expedition, Dr. med.
B uu g e, ist noch in Sibirien zurückgeblieben, um im laufenden
Jahre das Gebiet des Flusses Jana und 1886 die Neu-
sibirischen Inseln zu erforschen.
(Nowoja Wrjema Nr. 3171.)
Das A »l t i l l e n nt e e r.
In Science (30. Jan. 1885) giebt der Commodore Bartlett
einen officiellen Report über die Resultate der Sondirungen
im Karibischen Meere, uud begleitet denselben mit einer sehr
instruktiven Uebersichtskarte der beobachteten Tiefen. Nach
derselben ist nicht nur das Karibische Meer von dem Mexi-
kanischen Meerbusen durch flachen Grund geschieden und
nur durch eine schmale Rinne von 1150 Faden Tiefe ver-
bunden, sondern auch das Karibische Meer zerfällt noch ein-
mal in zwei Abtheilungen, und das sie trennende Plateau
Aus allen Erdtheilen.
239
zwischen Cap GraciasaDio, Jamaica und Haiti erhebt sich
an verschiedenen Stellen (Mosguito-Bank, R o s a l i n d a -
Seranilla- und Pedro-Bank) über die Hundertfaden-
linie und sinkt nirgends unter 1000 Faden herab. Ein
flacher Rücken von durchschnittlich nur 300 bis 400 Faden Tiefe
zieht sich von Florida bis Trinidad; nur in der Passage
zwischen Cuba und Haiti sinkt er aus 760 Faden und hier
trennt nur eine ganz schmale Erhebung die Zone tiefen Wassers,
die sich mit Tiefen über 3000 Faden bis in den innersten
Winkel des Golfs von Honduras erstreckt, von dem Tiefthal
nördlich von Portorico, in welchem bis 4561 Faden gelothet
wurde. Eine zweite tiefe Einsenkung bildet der Anegada-
Kanal zwischen S. Thomas, das noch auf dem Plateau
von Portorico liegt, und Santa Cruz; er hat durchschnittlich
1100 Faden, aber was die Verschiedenheit der Bodentempe-
ratur zu beiden Seiten vermnthen ließ, haben die neuesten
Sondirungen des „Albatroß" bestätigt; S. Cruz ist durch
einen Rücken von höchstens 900 Faden Tiefe mit Portorico
verbunden, und somit auch hier dem kalten Wasser und der
Tiefseefauna der Zugang zu dem großen Becken von durch-
schnittlich 2400 Faden Tiefe, das sich zwischen den Großen
Antillen und dem südamerikanischen Festlande erstreckt, ge-
Ans allen
Europa.
— Ans S. 59 und 60 dieses Bandes besprachen wir
Dr. Höfer's Schrift über den Feldzug des Germaniens im
Jahre 16 und theilten zum Schluß mit, daß die Münzsunde
von Barenau und Umgegend (etwa 2 deutsche Meilen nördlich
von Osnabrück) von einem Sachverständigen (Dr. Menadier)
untersucht werden sollten. Dessen Bericht hat nun Theodor
Mommsen (Sitzungsberichte der K. Preuß. Akademie der
Wissenschaften zu Berlin, 29. Januar 1885) zu der Ueber-
zeugung gebracht, daß in jener Gegend die Stätte der
Varusschlacht zu suchen ist, was schon 1789 von I. E.
Stüve ausgesprochen wurde. Der Münzschatz in Barenau
zerfällt in zwei deutlich geschiedene Theile; von den 213 Silber-
münzen gehören 181 Denare der späteren Republik und der
Augustischen Zeit an; dieselben sind meist gut erhalten und
scheinen alle gleichzeitig gegen das Ende der Regierung des
Augustus unter die Erde gekommen zu sein. Die übrigen
32 dagegen sind 1% bis 4 Jahrhunderte jünger, stark abge-
nutzt, gehören sehr verschiedenen Zeiten an und siud ent-
schieden durch Handelsverkehr nach Germanien gelangt. Ganz
einzig dastehend ist das Vorkommen lliehrerer älterer Kaiser-
Goldmünzen, welche sonst nur an vier Stellen in Germanien
gefunden worden sind, während Goldmünzen späterer Kaiser
sehr häufig sind; dieses Vorkommen erfordert nach Mommsen
auch einen außerordentlichen Vorgang als Erklürungsgrund.
Kupfer ist in Barenau so gut wie gar nicht vertreten; das-
selbe wurde eben von den Soldaten in Feindesland nicht
gebraucht und wegen seiner Schwere nicht mitgeführt, während
die Gold- und Silbermünzen als ihre Ersparnisse aufzufassen
sind. Mommsen weist dann im Einzelnen nach, daß die
Gegend von Barenau und das Große Moor nördlich davon
alle diejenigen Bedingungen vereint, welche nach den Be-
richten der Alten für die Oertlichkeit der Varusschlacht ge-
fordert werden. Damit wäre auch die Frage nach dem
Teutoburger Walde entschieden; derselbe ist nicht, wie
bisher, im Osning zu suchen, wo sich auf der Grotenburg
das Standbild des Arminius erhebt, sondern in dem Wichen-
gebirge, welches mit der Scharte oder Porta Westphalica
beginnt, und seinen nordwestlichen Fortsetzungen (Lübbesche
sperrt. Das Karibische Meer hat deshalb auch abwärts von
800 Faden die konstante Temperatur von 39y20 F. (— 5,8° C.). —
Das Tiefthal zwischen Jamaica und Cap S. Cruz auf Cuba,
das sich bis in den Golf von Honduras erstreckt, ist bei
höchstens 80 Miles Breite gegen 700 Miles lang, und die
größte in ihm gelothete Tiefe betrug 3428 Faden, sie liegt
gerade südlich von der Insel Grand Cayman. Eine eigen-
thümliche Erscheinung ist das tiefe Becken im südlichen Kari-
bischen Meere, das in diesem Winter nach verschiedenen
Richtungen genau aufgenommen wurde. Sein Boden zeigt
auf ungefähr 200 000 Quadrntmiles kaum die geringste
Unebenheit. Zwischen Haiti und Cartagena ist die Tiefe überall
2200 Faden, im östlichen Theile des Beckens steigt sie bis zu
2840 Faden. Hier ist die Erhebung besonders bei Los Roques
ganz Plötzlich, während nördlich der Aufstieg gegen Jamaica
hin sehr allmählich ist. Da auch zwischen Cuba und Iucatan,
ausgenommen an der schmälsten Stelle, eine ausgedehnte
Eiusenkung mit 2575 Faden Tiefe liegt, sind die Resul-
tate der Lothungen im Ganzen der Theorie von Wallace,
die in der Tertiärzeit einen breiten Landzusammenhang
zwischen Nord- und Südamerika erfordert, nicht sonderlich
günstig.
E r d t h e i l e n.
Berge und Osterberge). Weitere Nachforschungen sollen in
diesem Sommer unternommen werden.
A s i e n.
— Auf dem chinesischen rechten Ufer des Amur gegen-
über dem russischen, am linken Ufer gelegenen Orte Jgna-
s ch i n 0, etwas westlich von Albasin, sind reiche G 0 l d l a g e r ent-
deckt, welche bereits von russischen Abenteurern ausgebeuket
werden. Jüngst meldete ein Telegramm aus Blagowesch-
tschcnsk, daß der chinesische Gouverneur von Aigun sich au
die russische Obrigkeit mit der Bitte gewandt habe, den Russen
das Goldsuchen zu verbieten. Der russische Gouverneur
wollte damit nichts zu thun haben und rieth den Chinesen,
sich selbst mit den Räubern abzufinden. Wie man hört, sollen
in Folge dessen die Chinesen aus Tsitsikar 600 Mann Sol-
daten zum Schutz der Goldlager abgesandt haben. — Andere
Nachrichten aus Ncrtschinsk melden, daß, sobald die Kunde von
den reichen Goldlagern auf chinesischer Seite sich unter der
sibirischen Bevölkerung verbreitet hatte, vom Amur, der Schilka
und dem Argun die Leute in Masse zuströmten, und seien etwa
5000 Menschen mit Goldsuchen bereits beschäftigt. Die Gold-
sucher haben ihre Aeltesten, welche auf Ordnung sehen; wer
sich nicht fügt, wird bestraft und davon gejagt; der Gesund-
heitszustand sei befriedigend. Mau arbeitet in Gesellschaften
(„Artell"). Es ist sehr wahrscheinlich, daß mit dem Ein-
tritt des Frühlings die Arbeiten aufhören werden, weil das
Aufgehen der Flüsse sowohl die Arbeit erschweren, als auch die
Zufuhr der Lebensmittel verhindern wird. („Oestliche Rund-
schau" 1885, Nr. 5.)
— Potanin's Expedition verließ am 31. Juni
Kuku-Choto, befand sich am 4. August am Gelben Fluß und
rückte dann nach Ordos vor. Die Glieder der Expedition,
welche den dnnganischen Fürsten besucht haben, sind nun in
der Stadt Boro-Balgasnn. Hier fand man abermals
einen belgischen Missionar, welcher die Expedition gastfreund-
lich aufnahm. Das letzte Schreiben ist vom 18. September
v. I. Die Theilnehmer der Expedition sind thätig, sam-
240 Aus allen
mein, machen photographische Aufnahmen, und alle sind bei
guter Gesundheit.
— Die Regierung von Japan soll, wie man schon lange
hört, sehr unzufrieden sein, daß sie den südlichen Theil von
Sachalin an Rußland für die kurilische Inselkette
abtrat; sie findet, daß der Tausch für Japan sehr unvortheil-
haft gewesen. Der 1875 an Rußland abgetretene Theil
Sachalins sei für Gewerbe und Handel geeignet, die kuri-
lische Inselgruppe dagegen öde und zu Ansiedelungen un-
geeignet. Namentlich die nördlichen Inseln sind den Japa-
nern lästig, weil sie überflüssige Ausgaben erfordern — zur
Ernährung der daselbst ansässigen Bewohner. Nicht im
Stande, mit Erfolg gegen die Armuth der Inseln anzu-
kämpfen, hat die japanische Regierung beschlossen, alle Ein-
wohner auf die südlichen Inseln zu verpflanzen. Der Ansang
damit ist bereits gemacht und binnen Kurzem werden die
nördlichen kurilischen Inseln entvölkert sein. Man erzählt
sich sogar, daß die japanische Regierung entschlossen sei, sich
vollständig der Inseln zu entäußern. Wer von der Insel
Besitz nehmen wird, ist unbekannt. („Nowosti" 1885, Nr. 41.)
Afrika.
— Mitte Februar ist Dr. Schweinfurth von einer
dreimonatlichen Forschungsreise nach Kairo zurückgekehrt.
Seit Jahren schon durchwandert und erforscht er die Fels-
wüste zwischen Nil und dem Rothen Meere, um dieselbe geo-
logisch aufzunehmen iinb eine Speeialkarte derselben anzufer-
tigen. Unter anderem besuchte er dieses Mal den Dschebel
Fatereh, wo die aus den Zeiten Trajau's und Hadrian's dati-
renden Granitbrüche liegen, und fertigte einen Speeialplan
dieser Gegend an, der auf die Art und Weise, wie die Pha-
raonen ihre großen Strafhäuser inmitten der Wüste erbauten
und im Stande hielten, ein neues Licht wirst.
— Der schon früher todtgesagte, bekannte König M tes a
von Uganda (Nordufer des Victoria Njanza) ist am
10. October 1884 wirklich gestorben, wie die in seiner
Hauptstadt Rubaga verweilenden Missionare an die Church
Missionarh Society berichten. Ihm folgt ein Knabe, Mwanga
mit Namen, der in gewisser Hinsicht unter dem Einflüsse der
Missionare steht. Niemals haben in Uganda bei einem
Thronwechsel so wenig Gewaltthaten und Blutvergießen statt-
gefunden als dieses Mal. Die Prinzessin, welche zur Würde
der „Schwester des Königs" erhoben wurde, gehört zu den
88 von den Missionaren getauften Christen, welche es bis
jetzt in Uganda giebt.
— In Manchester hat sich eine British Congo
Company aus angesehenen Kaufleuten gebildet, deren
Aktienkapital 500000 Pfd. St. (in Stücken zu 5 Psd. St.)
beträgt. Der Werth des Kongohandels wird jetzt ans
56 Millionen Mark jährlich geschätzt.
— Aus Zanzibar, 13. März, kommt die Nachricht, daß
die Belgier ihre Stationen in Ostafrika (sie haben dort
Mpala und Karema am Tanganjika-See und Kondoa in
Usagara) verlassen. Karema wurde den algerischen Missio-
naren übergeben.
A n st r a l i e u.
— Mr. Harry Stockdale war der Leiter einer ans
sieben Personen bestehenden Expedition, welche sich im Austrage
der Kimberley Investment Association in Melbourne im
Erdtheilen.
Oktober 1884 auf dem Dampfer „Whampoa" von Port Dar-
win, an der Nordküste von Australien, aus nach dem Cam-
bridge Golf in 14° 45' südl. Br. und 128° 7' östl. L. von Gr.
begeben hatte. Sie wollte von dort aus den unbekannten
nördlichen Kimberley-Distrikt in der Richtung auf
die King Leopold Ranges in 17° 15' südl. Br. und 145° 20'
erforschen. Mr. Stockdale traf am 13. Januar 1885 mit
einem seiner Reisegefährten wieder an der Katherine-Sta-
tion des Ueberlandtelegraphen (14° 30' südl. Br. und 132°
25' östl. L. von Gr.) ein. Zwei seiner Begleiter hatten sich,
trotz aller Gegenvorstellungen, geweigert zurüchzukehren; sie
wollten, wie es schien, nach Gold suchen. Mr. Stockdale
versorgte sie mit Waffen und einigen Lebensrnitteln, so viel
er konnte. Eine Depesche von der Katherine-Statiou aus
besagt Folgendes: „Ein schöneres Areal von Weideland, wie
wir aus den Leopold-Downs fanden, existirt wohl nirgends
in ganz Australien. Auf einer 80 Meilen langen Strecke
zeigte sich der vorzüglichste Graswuchs, frei vom Scrub
(Gestrüpp), aber mit reichlich Wasser in allen Richtungen.
Entdeckte zwei neue große Flüsse mit vielen, zum Theil
bedeutenden Creeks und an manchen Stellen bis 75 m breit,
welche durch den ganzen Distrikt hinlaufen und in den Cam-
bridge-Golf münden. Große Wasserlöcher mit permanentem
Wasser häufig. Halte dafür, daß eine Million Schafe hier
das ganze Jahr über Nahrung findet. Keine Auslagen für
Konservirung von Wasser sind nöthig. Für Einhägungeu
ist Holz genug vorhanden. Keine Ebenen, das Land fällt
allmählich ab und ist für Schafe am besten geeignet- Keine
Kletten, keine giftigen Pflanzen, kein geiler Graswuchs.
Sehr wenig wilde Hunde, Känguruhs und Emus. Die
Eingeborenen schöne, stämmige Menschen und dabei fried-
fertig. Klima herrlich, möchte hier für immer leben. Hatten
niemals heiße Winde. Erfreuten uns auf der ganzen Reise
der besten Gesundheit."
Inseln des Stillen Oceans.
— Am 25. December 1884 traf das englische Kriegs-
schiff „Raven" unter Lieutenant Roß in Port Moresby,
an der südöstlichen Küste von Neu-Guinea, ein und begab
sich von da, nachdem es den dort stationirten Missionar
Rever. Chalmers und einen Eingeborenen als Dolmetscher
an Bord genommen, nach der N o r d o st k ü st e von Neu -
Guinea. Hier hißte er zuerst am 1. Januar 1885 an der
P o rl o ck B a y in 8° 69' südl. Br. und 149° östl. L. von Gr., wo
keine Eingeborenen gesehen wurden, die britische Flagge; dann
am 2. Januar in Caution Bay, wo dem dortigen Häuptlinge
eine Flagge in Verwahrung gegeben wurde; am 3. Januar
in der Traitor's Bay in 8° südl. Br. und 148° 2' östl.
L. von Gr., wo man wieder keine Eingeborenen sah, und end-
lich am 5. Januar in der Deaf Adder Bay im Huon
Golf in 7° südl. Br. und 147° 10' östl. L. von Gr. Um
ungefähr dieselbe Zeit nahm Kapitän Bridge des britischen
Kriegsschiffes „Dart" die Insel Rook in 6° 36' südl. Br.
und 148° östl. L. von Gr. und Long Island in 5° 17'
südl. Br. und 147° 5' östl. L. von Gr. für England in Besitz.
Nur auf der Insel Rook fand man viele Eingeborene (es
war eine schöne Rasse), welche von Weißen wenig wußten.
Kapitän Bridge hißte damals noch an der Küste von Neu-
Guinea in der Nähe von Cape Cret in in 6° 40' südl. Br.
und 147° 50' östl. L. von Gr., sowie an Tornato Beach
die britische Flagge.
Inhalt: Amazonas und Cordiüeren. VIII. (Mit sechs Abbildungen.) — E. Metzger: Haiti. II. (Zweite Hälfte.) —
Das Leben in den Faktoreien bei Sherbro. I. — M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien. I. — Kürzere
Mittheilungen: Von der Lena-Expedition. — Das Antillenmeer. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. —
Australien. — Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion: 15. März 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Verliii, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen.
1885.
Amazonas uui> Kordilleren.
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wiener.)
IX.
Auf der Reise von Quillucaja nach Chasuta auf dem
von hohen Bergketten eingeengten Huallaga kam Wiener
nur langsam vorwärts, da das Boot mit langen Stangen
längs des Ufers fortbewegt werden mußte; erschöpft vom
Fieber gelangte er in Chasuta an, wo der Gouverneur ihm
keine Träger nach dem sieben Stunden entfernten Tarapoto
geben wollte, ihm jedoch auf feine Bitte ein Obdach gewährte.
Nach drei Tagen entschloß er sich, Wiener gegen eine enorme
Entschädigung Träger zu verschaffen; letztere, Cocamilla-
Jndianer, von denen eine Gruppe in unserem Bilde
dargestellt ist, bekamen jedoch von der Bezahlung nie etwas
zu sehen. Die Schilderung, die Wiener von den in diesen
Gegenden angestellten Gouverneurs im allgemeinen giebt,
ist merkwürdig genug, um hier berührt zu werden. Ein
Gouverneur in diesen Gegenden, sagt er, ist mit wenigen
Ausnahmen ein Mann, der, wenn er schreiben kann, dies
sicher nicht orthographisch thut. Durch den Unterpräfekten
ernannt, begiebt er sich mit einem Pack Waaren in seinen
Distrikt; bei dem Ausschiffen erlauben sich die Indianer
(jener ist gewöhnlich barfuß) die Frage: „Wer ist dieser
Weiße?" „Ich bin der Gouverneur", lautet die Antwort.
„Ah! Was hast du da in deinem Boote?" Die Bahn
ist nun gebrochen, die Neugierde und die Sehnsucht nach
den Waaren erregt; dieselben werden jetzt auf Kredit an
die Indianer verkauft, welche die Schuld abarbeiten sollen,
wobei jedoch die Berechnung so eingerichtet wird, daß dies
nie geschieht.
Auch diese Mißwirthschaft trägt dazu bei, daß dem
Globus XLVil. Nr. 16.
Gebiete des Amazonas nur ein kleiner Theil der Schätze
abgewonnen wird, die dasselbe liefern könnte. Der berühmte
Agassiz sagte einmal, daß die Schätze, welche da verfaulten,
im Stande wären, dem europäischen Pauperismus abzu-
helfen ; jetzt, meint Wiener, nutzt man etwa den hundertsten
Theil derselben aus, aber dieser geringe Theil hat einen
Werth von jährlich 60 Millionen Francs. Mit einer
verhältnißmäßig kleinen Ausgabe könnte man diesen Reich-
thum ausbeuten; man brauchte nur jeden Nebenfluß durch
eine Dampfschaluppe befahren zu lassen; dies wäre aber
auch unbedingt nöthig, denn die Bootfahrt dauert zu lange
und ist zu anstrengend. Um von Para nach Tabatinga
zu rudern, würde man neun Monate gebrauchen; man
macht die Fahrt gegenwärtig unter Dampf in 16 Tagen,
es könnte aber sogar in 10 Tagen geschehen. So wie die
Sachen jetzt stehen, fängt der Handel an möglich zu werden;
auf dem oberen Amazonas sind die Verbindungsmittel jedoch
noch ungenügend, und überhaupt müßte das Gauze besser
organisirt werden, um sowohl aus dem Aufkauf der Er-
zeugnisse des Landes als aus dem Verkaufe europäischer
Produkte den größten Nutzen zu ziehen.
Wiener trat die Weiterreise, die ihn zum letzten Male
über die Cordillere und zum Gestade des Stillen Oceans
an seinen Konsulatssitz führen sollte, zu Fuß an; der Weg,
wenn man ihn so nennen kann, ist außerordentlich ermüdend
und zum Theil gefährlich, aber wunderbar schön. Am
zweiten Tage traf der Reisende auf eine Stelle, wo Gieß-
bäche einen Theil des Gebirges mit fortgerissen hatten,
31
242
Amazonas und Kordilleren.
ungeheure Steinblöcke, dazwischen auf einander gehäufte
Riesen des Waldes, versperren den Weg und sind zum
Theil mit rother Thonerde bedeckt. Der Fußweg steigt
treppcuförmig au und manche der Stufen sind einen Meter
hoch. Wenn man aber nach zweistündigem, angestrengtem
Steigen die Höhe erreicht hat, sieht man das Thal von
Bootfahrt gegen den Strom auf dem oberen Huallaga. (Nach einer Skizze Wieuer's.)
Tarapoto unter sich, in dem der Huallaga sich wie ein wie eine bewunderungswürdige Reliefkarte liegt die Gegend
indigoblauer Streifen hinzieht und den Mayo aufnimmt; da; in der Ferne begrenzen die Kordilleren von Moyobamba
Cocamillas-Indianer. (Nach einer Photographie.)
k
die Ebene und ihre blauen Grenzlinien verschwimmen am
Horizont. Tarapoto wurde an demselben Tage erreicht und
nach einem unfreiwilligen elftägigen Aufenthalte ■— es
werden die gewöhnlichen Ursachen, Krankheit und Mangel
an Trägern, angegeben — wurde die Reise nach Lamas,
einer kleinen, fünf Stunden entfernten Stadt, fortgesetzt.
Amazonas und Cordilleren.
243
Die Indianer, welche diesmal den Transportdicnst leisteten,
waren außergewöhnlich kräftig, eine Folge des kühleren
Klimas ihres Landes. In Tarapoto trennte sich auch
Parys von Wiener; ersterer hatte die Absicht, soweit es
seine Mittel erlaubten, die Kautschukwäldcr am Amazonas
auszunutzen, wobei ihm Herr Bonvoisin, dessen Bekannt-
schaft wir im vorigen Abschnitte gemacht haben, hilfreiche
Hand bieten wollte. Ter Abschied war schwer; von den
Träger von Tarapoto. (Nach einer Photographie.)
man hiermit die ungeheuer hohen Preise vergleicht, die für
alle Kaufmannswaaren bezahlt werden müssen, so wird
man sich leicht erklären können, warum diese armen Leute
nur das Allcrnöthigsie ihr eigen nennen. Es ist ein eigen-
thümliches Land, in dem der Verkäufer dem Käufer eine
Gunst erweist, wenn er ihm ein Paar Pantoffeln um zwölf
Francs verkauft; außerdem ist durch die anormalen Zu-
stände beinahe altes Geld verschwunden und man muß daher
zum Tauschgeschäft greifen; man kaust Garn und bezahlt
zahlreichen Begleitern, mit denen Wiener die Reise an-
getreten hatte, blieb nur Frankens bei ihm zurück, mit dem
er diese zweite Durchkreuzung Süd-Amerikas vollenden
sollte. Der Weg war bergig ohne steil zu sein, zwei Berg-
rücken waren zu überschreiten, ehe man nach dem 400 m
höher gelegenen Lamas gelangte. Dieser Ort ist eigent-
lich nur ein Jndianerdorf; die 70 Häuser, welche Weißen
gehörten, sind neuerdings von den Eingeborenen nieder-
gebrannt worden. Gewiß ist diese Handlung nicht zu ent-
schuldigen, wohl aber durch den Druck, der von Lima aus
ans die Indianer ausgeübt wird, zu erklären; außerdem
hatte der Präfekt aus eigener Machtvollkommenheit eine
Steuer auf das Verfertigen von Strohhüten, den einzigen
Industriezweig des Landes, gelegt — 12 Realen auf deu
Hut, zu dessen Vollendung fünf bis sechs Tage erforderlich
sind, wobei etwa ein Francs täglich verdient wird. Wenn
Strohhutflechterei in Moyobamba. (Nach einer Skizze Wiencr's.)
mit Eiern, erwirbt Leinwand gegen Schweine und leistet
Zahlungen mit Hühnern oder Hüten. Natürlich ist dem-
jenigen, der es versteht, eine schöne Gelegenheit geboten,
sich bei derartigen Geschäften zu bereichern.
Nach einigen Irrfahrten, eine Folge der Unbekanntschaft
mit dem Wege, kam Wiener Abends um 5 Uhr in Saufe
an. Dieser Ort liegt wie auf einem grünen Teppich; von
der Spitze eines ziemlich hohen Hügels übersieht man die
Landschaft, in deren Mitte sich der Mayo hinzieht, der mit
31*
244
Amazonas und Cordilleren.
seinen beiden Armen eine kleine, mit malerischem Gebüsch
bedeckte Insel umfaßt. Das Dorf zwischen den grünen
Bergketten mit seinen kräftigen Männern und niedlichen
Frauen, daneben als weitere Staffage ein paar Hunde und
andere Hausthiere, machte den Eindruck eines alten Gobelin.
Am folgenden Morgen (9.Juni) kam Wiener nach Tava-
losos, dem letzten bewohnten Orte zwischen Tarapoto und
Moyobamba, eigentlich ein paar Hütten, die sich zwischen
ungeheuren Felsblöcken auf einem vom Regen durchwühlten
Abhange von rother Thonerde erhoben; am 10. Juni wurde
der Potrero, ein ziemlich hoch gelegener Punkt, erreicht,
wo der Reisende zum ersten Male seit längerer Zeit Wasser-
trank, welches eine Temperatur von 21 Grad hatte und
ihm gegenüber dem bisher genossenen von 25 bis 29 Grad
sehr kühl vorkam. Zwischen dem Potrero und der letzten
vor Moyobamba gelegenen Bergkette befindet sich ein tiefes
Thal, Gramalote; hier stieß Wiener auf den Präfekten,
der sich mit seinen Begleitern nach Jguitos begab. Gegen
5 Uhr erreichte man den Tambo As ans a, wo man die
Nacht zubringen wollte; cs war nicht leicht, sich einzurichten;
der Boden war mit Millionen schwarzer Ameisen von etwa
3 mm Länge bedeckt; ihre noch größeren „Dfficiere“ zeich-
neten sich durch eine röthliche Farbe aus und marschirten
zur Seite dieser langen Reihen. So interessant der An-
blick war, so wurden doch die Palmblätter, welche die Erde
bedeckten, in einem Augenblicke in Brand gesteckt und die
Indianer schleuderten die Ameisen, welche zu entfliehen
suchten, mit ihren langen Haumessern ins Feuer. In zehn
Minuten war alles vorbei und die Asche wurde entfernt,
doch die schwarze Schar erschien wieder; man wußte eine
halbe Stunde lang den Platz mit feurigen Besen aus an-
gezündeten Palmenblättern fegen, ehe man die Feinde besiegt
hatte. Am 11. Juni wurde Ramirez, die letzte Station
vor Moyobamba, erreicht; am nächsten Tage kam man
nach Jera, wo man sich Lebensrnittel verschaffen wollte;
dies glückte sedoch nur in sehr bescheidener Weise, weil die
Leute des Präfekten fast alles, natürlich ohne Bezahlung,
weggenommen halten. Die Indianer nahmen dies übrigens
Dorf im Mayothale bei Sause. (Nach einer Photographie.)
sehr geduldig auf, da ihnen eine solche Behandlung schon
zur Gewohnheit geworden war. Wenn irgend eine mili-
tärische oder bürgerliche Autorität reist, requirirt sie eine
Anzahl Indianer oder Maulthiere, die ihr acht bis vierzehn
Tage laug von Etappe zu Etappe folgen müssen; weder
die Menschen noch die Besitzer der Thiere werden bezahlt.
Wollte man alle Grausamkeiten und Mißbräuche schildern,
die derartige Reisen zu förmlichen Razzias machen, so würde
man bei dem Leser kaum Glauben finden; es möge die
Mittheilung genügen, daß die Gouverneure ihren Freunden
sogar Diener und Arbeiter verschaffen, indem sic Indianer
gegen geringen Lohn zu derartigen Leistungen pressen.
Endlich war Wiener in Moyobamba, dem er nicht
den Namen einer Stadt zuerkennen will; die Häuser sind
halbfertig oder halbe Ruinen; die Dächer bestehen nur zum
Theil aus Ziegeln, gewöhnlich aus Palmenblättern, die
verwendeten Hölzer sind meistens nicht bearbeitet. Jedes
Haus hat einen Laden mit einigen werthlosen Waaren, die
auf unangestrichencu Tischen ausgelegt sind. In diesen
Lokalen trifft man sich auch, um zu schwatzen, wobei sich
natürlich Parteigenossen zusammenfinden; Fremde werden
mit Zurückhaltung behandelt, einen Herrn M. San Marios
aus Lima, der schon 27 Jahre da wohnte, betrachtete man
immer noch als „Ausländer". Am Abend ist es ruhig,
niemand empfängt, die Thüren sind geschlossen. Kein
Gasthof, kein Cafa, kein Speisehaus, keine Promenade!
Die Straßen werden nicht erleuchtet, sie dienen außer zu
ihrem eigentlichen Zwecke auch zum Aufenthaltsorte einer
Schweineherde, die zahlreicher als die Einwohnerschaft selbst
ist. Eine Folge dieser Verhältnisse ist der halsbrechende
Zustand der Verbindungswege, der durch die Sturzregen
nicht verbessert wird. Glücklicherweise sehen die Bürger
der Stadt nicht auf solche Kleinigkeiten und sind auch von
frühester Jugend an gewohnt, derartige Hindernisse zu
besiegen. Alle Leute beschäftigen sich mit dem Flechten von
Strohhüten, und am Abend ziehen sie von Laden zu Laden,
um sie zu verkaufen. Der Handel verläuft immer in ganz
gleicher Weise: „Wie viel kostet der Hut?" „Vierzehn
Realen." „Das ist wohl nicht ernstlich gemeint?" „Nun,
dreizehn denn." „Aeußerster Preis?" „Zwölf Realen."
Umishah - Fest. (Nach einer Skizze Wiener's.)
246
Amazonas und Kordilleren.
„Willst du acht?" „Nein!" „Wollen wir uns in die
Differenz theilen?" „Zehn Realen?" „Gut, da sind sie."
So geht es an einem Abend wohl hundert mal, und da-
zwischen wird über andere Dinge geschwatzt. Der Handel
wird in eigenthümlicher Weise betrieben; er ist vollständig
in den Händen zweier Häuser zu Jquitos und Pnrimaguas;
da die Kaufleute von Moyobamba kein baares Geld besitzen,
um ihre Einkäufe zu machen, bezahlen sie mit Hüten und
würden bei diesem Geschäft sehr viel verlieren, wenn sie
nicht die empfangenen Waaren zu einem unvcrhältnißmäßig
hohen Preise verkauften. So kommt cs z. B., daß der
Verkaufspreis des gewöhnlichen Baumwollenzenges zehnmal
mehr als der Einkaufspreis betrügt. Genau genommen
sind die Haudlungshüuser in Moyobamba nur die Geschäfts-
führer der Großhändler, welche den ganzen Vortheil ein-
streichen, während erstere die ganze Gefahr zu tragen haben;
natürlich würde der Handel vernichtet sein, sobald die Bra-
silianer die Mode, Strohhüte von Moyobamba zu tragen,
aufgäben.
Trotz aller Anstrengungen gelang es Wiener nicht, die
erforderlichen Transportmittel zu bekommen, und er konnte,
da er zu sehr durch Krankheit geschwächt war, um zu Fuß zu
gehen, die Reise nicht fortsetzen; bald hatte der Präsekt die
bestellten und bezahlten Maulthiere wegnehmen lassen, bald
war es der Unterpräfekt, der sie in seinem Interesse ver-
wendet hatte. Klagen wären nutzlos gewesen; es war doch
nur ein Tropfen in dem Meere von Ungerechtigkeit, die hier
geübt wurde. Durch diesen gezwungenen Aufenthalt wurde
er genöthigt, das Leben in Moyobamba zu stndiren, was
allerdings insofern nicht schwer war, als dasselbe beinahe
ganz ans Festlichkeiten bestand; zwölf Fest- und Feiertage
in zwei Wochen, die unser Antor auszählt, dürften allerdings
in anderen Ländern als etwas zu viel betrachtet werden.
Und nun gar die Art dieser Festlichkeiten; kein Stil, keine
Eleganz, keine Anmuth; sie sind nicht lustig, nicht traurig,
nicht leidenschaftlich, nicht malerisch, sie haben nichts an-
deres, was sie auszeichnet, als daß sie demoralisirend wirken,
ruft Wiener ans. Die Menge von Alkohol, welche Frauen
Zuckerrohr - Pflanzung.
sowohl, als Männer bei solchen Gelegenheiten vertilgen,
übersteigt die Grenzen des Glaublichen. Bei einer dieser
„Abendgesellschaften" erschien einer der „Herren" mit dem
Hut auf dem Kopfe, einen großen Stocke unter dem Arme,
eine Flasche in der einen, ein Glas in der anderen Hand.
Innerhalb zweier Stunden ließ er die Flasche siebenmal
füllen, was einen Verbrauch von wenigstens drei Litern
Alkohol ergiebt. Die jungen Damen sind durch die Etiquette
gezwungen, ein Glas, welches ein Kavalier ihnen anbietet,
zu leeren, und so kommt es, daß die durch Spirituosen
verursachte Aufregung alle anderen Gefühle beherrscht; die
natürliche Würde der Männer, ihr Stolz, die Anmuth und
Reize der Frauen, dies Eigenthum der spanischen Rasse,
sind denn auch gänzlich verschwunden. Unter den 9000
Bewohnern der Stadt wird es kaum hundert geben, die,
wenigstens bei außergewöhnlichen Gelegenheiten, Schuhe
tragen, und gewiß keine fünfzig, welche derartige Kleidungs-
stücke regelmäßig gebrauchen; die Töchter der ersten Per-
sonen in der Stadt gehen zu Hanse barfuß. Daß die
Füße dadurch zu einem hohen Grade der Entwickelung ge-
langen, ist begreiflich, aber es macht einen, eigenthümlichen
Eindruck, dieselben aus modischen, englischen Beinkleidern
hervorragen zu sehen.
Ueber das Familienleben läßt sich nicht viel Rühmliches
sagen; die Männer sind große Despoten; während sie am
Tische sitzen, verzehren ihre Frauen und Kinder in der
Küche die Ueberreste, die von der Tafel des Hausherrn
ihnen zugeschickt werden. Von eigentlichem Familienleben
ist keine Spur und auch das intellektuelle Leben ist sehr
gering. Es giebt keine Schulen und es ist schon eine
große Ausnahme, wenn man Leute findet, die lesen und
schreiben können. Von Büchern und Zeitungen keine Spur,
kein Gespräch über litterarische, poetische, geschichtliche und
politische Themas. Wenn man sie zum Sprechen bringt,
so erfolgen Bemerkungen, welche alle Lust zu weiteren Aus-
einandersetzungen unterdrücken; so wurde einmal versichert,
die Lokomotiven seien durch Napoleon erfunden. Wir
wollen Wiener in diesen Betrachtungen nicht zu weit folgen,
sondern uns an das mehr Thatsächliche halten und ihm zu-
nächst die Beschreibung einer Tamborado entlehnen. Einige
Amazonas und Cordilleren.
247
Tänzer und Tänzerinnen zogen mit einem aus einer Flöte
und einer großen Trommel bestehenden Orchester durch die
Stadt; sie hielten einige Häuser vor dem von Wiener be-
wohnten Hanse still, wo sich ein „Umishah" befand. Es
ist im östlichen Peru eine volksthümliche Gewohnheit, einen
Baum aufzustellen, an dessen Zweigen man einige Taschen-
tücher, ein Paar Schuhe und einige andere Artikel, alles
Zeichen eines sehr großen Luxus, ausgehängt hat. Die
Männer tanzen um den Baum und geben demselben jedes-
mal, wenn sie vorbei kommen, einen tüchtigen Hieb mit
dem Haumesser; wer demselben den Gnadenschlag giebt, ist
der Held des Festes, da ihm die am Baume aufgehängten
Früchte der Civilisation zufallen, von denen er mehr oder-
weniger Gebrauch machen wird, um hinterher seinerseits
vor seinem Hanse einen Umishah zu errichten und die
gewonnenen Gaben an demselben aufzuhängen.
Ochsen mit Lasten auf den Hörnern.
Bewundernswerth ist der natürliche Reichthum dieser
Gegend; um denselben kennen zu lernen, braucht man nur
eine Chacra (Pflanzung) zu besuchen und zu sehen, wie
neue Pflanzungen angelegt werden. Während der trockenen
Jahreszeit begiebt sich Jemand mit guten Freunden in den
Wald, mit Waldmessern wird das Gestrüpp niedergeschlagen,
die Knaben klimmen in die Bäume, um die Aeste zu ent-
fernen oder wenigstens ihres Blätterschmuckes zu berauben.
Eine Woche lang läßt man alles durch die Sonne ans-
(Nach einer Skizze Wiener's.)
trocknen; dann legt man Feuer an und in wenigen Augen-
blicken hat man das prächtige Schauspiel eines brennenden
Waldes vor Augen; die vom Zufall geschaffene Vegetation
verschwindet, um einer neuen Platz zu machen, die dem
menschlichen Willen ihr Dasein verdankt. Bald kann man
der Erde den Samen anvertrauen und nach kaum zwei
Wochen schon genießt man die ersten Früchte, grüne Boh-
nen, nach einem Monate reife Bohnen, nach 45 Tagen
Mais, nach drei Monaten Meca, nach sechs Monaten
248
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
Zuckerrohr, nach einem Jahre Bananen; und dabei dauern
hier Pncca, Zuckerrohr und Bananen langer als ein Jahr
aus! Es ist traurig, dies zu sehen und dabei sagen zu
müssen, daß die Bewohner des östlichen Peru ein so elen-
des Volk sind, wie man es sich nur denken kann!
Zweinndzwanzig Tage hatte Wiener unter solchen,
größtentheils traurigen Eindrücken in Moyobamba zuge-
bracht, als seinem langweiligen Aufenthalt ein Ende ge-
macht wurde; er erhielt nämlich endlich am 4. Juli die
nöthigen Lastthiere und am 5. Juli trat er, von den in der
Stadt anwesenden Fremden ein Stück Weges begleitet, die
Reise nach Chachapoyas an. Die Straße ist schlecht und
sumpfig; an den schwierigsten Stellen hat man sie mit
Holz zu verbessern gesucht; da dasselbe jedoch bald wegfault,
wird der Zustand nur noch verschlimmert. Einen eigen-
thümlichen Eindruck machen die Ochsen, welche hier als
Lastthiere gebraucht werden; sie tragen ihre Last auf den !
Hörnern; dieselbe ist in Ochsenfclle eingewickelt, bei denen
die behaarte Seite nach außen gekehrt ist, so daß es aus-
sieht, als ob der Pack ein Theil des Ochsen wäre. In
Rioja nahm Wiener Quartier und machte die Bekannt-
schaft eines Händlers aus Cajamarca, der es auch verstand,
seinen Vortheil ins Auge zu fassen, indem er um fünf
Francs einkaufte, was er um zehn wieder verkaufte.
Am Abend brachte ein Eilbote von Chachapoyas die
Nachricht, daß dort eine Revolution ausgebrochen und der
Präfekt vertrieben worden sei; wie der Bote sagte, habe es
Todte gegeben, unter diesen „zwei werthvolle Äiaulthiere
und einen Kolouel“. Der Präfekt hatte sich klüglich bei
Zeiten aus dem Staube gemacht und man beabsichtigte,
einen neuen zu wählen, da man keine von der centralen
Autorität ernannte Obrigkeit anerkennen wollte. Hiermit
war natürlich die Aussicht auf fortdauernde Streitigkeiten
eröffnet.
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
II. (Schluß.)
Die Bewohner dieses Territoriums sind G all in as-
Neger und gehören ihrer Abstammung nach zu dem großen
VolkSstanime der Mandingos, welcher in dem nörd-
licheren Theile der Westküste heimisch ist. Der Boden des
Landes ist sandig und daher wenig fruchtbar, die Haupt-
masse der Produkte, welche die in den Flußniederungen und
am Meere liegenden Faktoreien eintauschen, kommt aus
dem Hinterlaude, und dient das hiesige Volk als Zwischen-
händler, wie es denn auch in früheren Zeiten als Vermittler
beim Sklavenhandel thätig war. Die Gallinas-Neger sind
meistens Mohammedaner, doch findet man auch noch viele
Heiden, Fetischanbeter, zu welchen unter anderen auch der
frühere Souverän dieses Gebietes gehört, auf welchem die
Faktorei Mannah Salliejah liegt, und dem wir eine nomi-
nelle jährliche Rente von 10 Pfd. St. zahlen. Besagter
Souverän, By Bisst mit Namen, empfängt außerdem noch
eine Rente von 20 Pfd. St. von der britischen Kolonial-
regierung für Abtretung des Landes, von der Meeresküste
eine englische Meile einwärts. Er residirt kaum 10 Mi-
nuten von mir entfernt in seinem Dorfe, das vielleicht noch
100 ihm unterthänige Seelen enthält, und ist ein äußerst
harmloser Mensch, der inmitten feiner acht Weiber und in
Verehrung des hölzernen Fetisches, sowie der angeblich in
die Flußalligatoren gefahrenen Geister seiner Vorfahren,
wohl schon 50 bis 60 Jahre ein recht beschauliches Leben
geführt hat. Gefolgt von seinem Schwertträger hat mir
dieser Monarch fast täglich Besuche abgestattet, doch fand ich
wenig Zeit und Lust, mich mit ihm zu beschäftigen, erfreute
dagegen sein Herz wohl einmal durch eine Flasche Rum oder
ein Pfund Tabak.
Auf dem schmalen Streifen Küstenlandes, welcher unter
englischer Oberhoheit steht, existirt dem Gesetze nach selbst-
verständlich keine Sklaverei mehr, doch ist diese sowie die
Vielweiberei hier noch ebenso Gebrauch und Sitte wie im
Inneren. Das ganze Leben und Treiben der Neger basirt
auf diesen beiden Einrichtungen. Sklaven und Weiber
verrichten alle Arbeit, die freien Männer üben sich in Jagd,
Fischfang und Nichtsthun, oder gehen zur Abwechselung auf
Raub aus; doch ist die Behandlung der Sklaven im all-
gemeinen eine so gute, daß sie höchst selten ihren Herren
entlaufen und den englischen Polizeiposten um Schutz an-
rufen. Von den Weibern gilt dasselbe, sie sind mit ihrem
Loose zufrieden, da sie kein anderes, höheres kennen. Ein
Entlaufen nach dem Binnenlande ist deshalb ausgeschlossen,
weil die einzelnen Stämme sich streng von einander ab-
schließen, ja in Feindschaft leben. Jedes Mitglied einer
Tribus ist an seinen Narben und der Tatuirung kenntlich,
und der fremde Eindringling kann noch von Glück sagen,
wenn er nicht als Spion angesehen und getödtet, sondern
nur wieder zum Sklaven gemacht wird. Die Weiber der
Neger haben keinerlei Rechte; als Kinder sind sie Eigen-
thum des Vaters, der sie manchmal schon in zartem Alter
verhandelt, sicherlich aber schon nach eingetretener Mann-
barkeit dem ersten besten überliefert, der ein den Verhält-
nissen angemessenes Aequivalent dafür bietet. Der gewöhn-
liche Preis einer Negerjungfrau sind 2 bis 3 Pfd. St.,
also 40 bis 60 Mk., wofür sie dann für ihre ganze Lebens-
zeit Eigenthum des Mannes wird, vorausgesetzt, daß dieser
sie nicht früher wieder fortjagt. Dieses kommt jedoch sehr
selten vor, denn nachdem die Liebe verraucht ist, verwendet
der Gebieter die Frau als Arbeiterin; durch den so erzielten
Gewinn erhält er die Mittel, sich wieder eine neue, jüngere
Frau zu kaufen. So kommt es, daß die alten Männer,
welche immer auch die angesehensten oder gar Fürsten
sind, die meisten, jüngsten und hübschesten Frauen haben.
Je größer die Zahl der Weiber, desto reicher und an-
gesehener ist der Mann; daher sind 25 bis 50 Frauen
keine so große Seltenheit bei den Fürsten dieses Landes.
Als ich eines Tages meinen Diener Jack, welcher der Sohn
eines solchen Fürsten ist, fragte, wie viel Frauen sein
Vater besitze, antwortete er in niedergeschlagenem Tone:
„twelf, that’s all“ (nur zwölf!), dadurch gleichsam ein-
gesteheud, daß sein Vater nur geringes Ansehen genießt.
Ich erwähne bei dieser Gelegenheit einer eigenthümlichen
Sitte, die ich durch den in meiner Faktorei beschäftigten
schwarzen Küper kennen lernte. Dieser, ein Mann von
ca. 35 Jahren, besaß schon zwei Weiber, kaufte sich aber
noch zwei kleine Mädchen im Alter von fünf und acht
Leben in den Faktoreien bei Sherbro.
249
Jahren, welche er mit eifersüchtigem Auge bewacht, groß-
füttert und dann auch zu der Ehrenstellung feiner Frauen
avancircn läßt.
Der Ehebruch ist hier etwas alltägliches, doch wird
derselbe von dem schuldigen Liebhaber durch eine mehr oder
weniger große Geldstrafe gebüßt. Ehe England das Küsten-
gebiet annektirte, hatten sich selbst die Weißen diesem Landcs-
gesetze zu unterwerfen, und da von ihnen stets die beste
Buße einzuziehen war, sandte mancher schwarze Ehrenmann
seine hübschesten Frauen in die Faktoreien, damit sie durch
ihre Reize den Weißen bestrickten und zum unbewußten
Ehebrüche verleiteten. Jetzt ist der Zwang freilich nicht
mehr da, aber mancher Weiße wird sich in gleichem Falle
zu einer kleinen Buße verstehen, und zwar aus geschäft-
lichen Rücksichten, wenn die Schöne z. B. einem größeren
Fürsten gehört, der bei Verweigerung der Entschädigung
seinen Unterthanen verbieten würde, mit der betreffenden
Faktorei fernerhin Handel zu treiben.
Ist die Beurtheilung des Ehebruchs schon eine sehr
milde, so wird der Diebstahl überhaupt nicht als etwas
Entehrendes, als Verbrechen oder Vergehen betrachtet, ja,
bei einzelnen Stämmen, z. B. bei den Kru-Negern, gilt
die glückliche Ausführung eines solchen als clever trick
(gescheidter Streich). — Die Gallinas-Neger und Negerin-
nen sind sammt und sonders Diebe, eine ehrliche Seele
darunter zu treffen, würde viel schwieriger sein, als im
deutschen Vaterlande das Gegentheil ausfindig zu machen.
Die Faktoreien leiden außerordentlich durch diese ewigen
Verwechselungen des Mein und Dein und gehört es zur
Hauptaufgabe des Agenten und der Clerks, auf alle Ein-
geborenen, möge es nun der eigene Diener, Bauer oder
Fürst sein, ein wachsames Auge zu haben. Bei den letzteren
begnügt man sich im Geschäftsinteresse damit, einfach das
gestohlene Gut zurück zu nehmen, alle anderen Neger läßt
nian jedoch unnachsichtlich an einen kräftigen Baum binden
und gehörig durchpeitschen. Solche Lynchjustiz ist immer
das beste Mittel, denn die Auslieferung des Attentäters
an die schwarze Ortspolizei, mit deren Moral es übrigens
auch nicht sonderlich bestellt ist, schreckt viel weniger ab und
verursacht auch dem Ankläger große Unannehmlichkeiten.
An Ort und Stelle kann nämlich Niemand abgeurtheilt
werden; man transportirt die Gefangenen entweder nach
Sherbro, oder bei schwereren Sachen gar nach Freetown,
damit sie dort Urtheil und Strafe empfangen. Dies ist
eine Entfernung von zwei resp. drei Tagen, und muß zur
Aufrechterhaltung der Klage nicht nur der Geschädigte
selbst oder dessen Vertreter sich dorthin begeben, sondern
derselbe hat auch für Anwesenheit seiner Zeugen bei
der Gerichtsverhandlung zu sorgen, was beides wegen
der Mangelhaftigkeit der Kommnnikationswege und der
Zeit, welche dabei verloren geht, manchmal undurch-
führbar, immer aber mit der größten Schwierigkeit ver-
knüpft ist.
Mord ist das einzigste Verbrechen, welches auch das
„country-law“, der Brauch der hiesigen Neger, mit dem
Tode bestraft; da jedoch die meisten Mordthaten vermittels
vegetabilischen Giftes, an dem die Tropenpflanzen reich
sind, verübt werden und sich daher der wirkliche Thäter
schwer ermitteln läßt, so wird der Gerechtigkeit wohl selten
Genüge geschehen. Man pflegt sich in einem solchen Falle,
der ein Sühnopfer erheischt, vertrauensvoll an den nächsten
Hokuspokus treibenden Zauberer zu wenden, und dieser
würde sein ganzes Renommee verlieren, wenn er den
Thäter nicht ansfindig machte; er liefert also immer eine
Person an das Messer, sei es nun der Schuldige oder ein
Unschuldiger.
Da Aberglauben aller Art feste Wurzeln im Gemüthe
der Eingeborenen geschlagen hat, sind die Zauberer hoch-
angesehene Leute und erlangen durch Verkauf der tollsten
Arzneimittel und Amulette stets reichen Verdienst. Da
giebt cs Medicin gegen Kriegsgefahr, gegen Krankheit,
Schlangenbiß und gar eine solche, die den Besitzer vor Ent-
deckung schützen soll, wenn er auf Diebstahl ausgeht. Dieses
Mittel wird natürlich nur im Geheimen verkauft, denn der
Weiße versucht, des Betrügers habhaft zu werden und ihn
zu bestrafen, da dessen Anwesenheit in der Nähe der Faktorei
immer die reine Diebstahlsepidemie im Gefolge hat. Fol-
gende Geschichte hörte ich in Lavanah: „Es verlautete schon
seit einiger Zeit, daß im benachbarten Dorfe ein Zauberer
sein Wesen triebe, und seitdem wurden immerfort Waaren
vermißt, besonders aber dem in Demijohns befindlichen
Rum tapfer zugesprochen. Alles Aufpassen wollte nichts
nützen. Da kam der Agent ans den Gedanken, die am
meisten exponirten Rumflaschen mit einem starken Abführ-
mittel zu versetzen, und siehe da, am anderen Morgen stellte
sich nur der dritte Theil der Arbeiter ein, die übrigen hatten
heftiges belly-ache (Bauchschmerzen). Diese machte man
nun natürlich für alle Verluste verantwortlich, indem man
ihren Gehalt, der der Regel nach monatlich ausgezahlt
wird, entsprechend verkürzte."
An wilden Thieren giebt es hier eine Art kleiner Assen,
Schlangen, Leoparden, Tigerkatzen, wilde Katzen und im
Flusse eine Menge Alligatoren. Die meisten dieser Thiere
halten sich mehr im Hinterlande auf und zeigen sich selten
in der Nähe der Faktoreien, doch verirren sich wohl mal
Schlangen in dieselben und finden dann immer in den
Lagerräumen oder auch im Aborte reichliche Nahrung an
Insekten, Ratten und Mäusen. Bei Bewegen von Waaren-
ballen und Kisten, die in unbewohntem Raume längere
Zeit gestanden haben, hat man vorsichtig zu Werke zu
gehen, denn solche Plätze sind der Lieblingsaufenthalt dieser
Thiere, von deren Arten einzelne sehr giftig sind. Die
größte hier lebende Species ist die Pythonschlange, die eine
Länge von 18 Fuß erreichen und ungeheure Muskelkraft
besitzen soll. Auch der Leopard wagt cs wohl einmal Nachts
über den Plankenzaun in die Faktorei zu springen; er
nimmt junge Schafe, Ziegen oder Hunde mit sich und ist
nach Ergreifung der Beute so schnell wieder verschwunden,
wie er zuvor erschien. Wilde Katzen wurden vielfach durch
die in der Faktorei befindlichen zahmen zur Abstattung von
Besuchen verführt und gelang es dann wohl, besonders
hübsche Exemplare einzufangen. Schon nach acht- bis
vierzehntägiger Einsperrung haben sie ihre Wildheit ab-
gelegt; freigelassen bleiben sie in der Faktorei und unter-
scheiden sich nur noch von den zahm geborenen Katzen
dadurch, daß sie außer aus Ratten und Mäuse auch wohl
auf Tauben Jagd machen.
Kontinuirliche Fieberanfälle, die mich sehr geschwächt
hatten und meine Gesundheit völlig zu untergraben drohten,
zwangen mich, schon Ende September wieder die Heimreise
anzutreten. Nach den Erfahrungen, die ich selbst gewonnen
habe, und den eingehenden Mittheilungen, die mir von vielen
weißen Leidensgefährten, die in anderen Strichen der westafri-
kanischen Küste thätig waren, gemacht worden sind, kann ich
jeden Landsmann nur davon abrathen, meinem Beispiele zu
folgen und sich durch den in Aussicht stehenden großen peku-
niären Gewinn verlocken zu lassen, die festeste Gesundheit ein-
zubüßen und das Leben selbst in die größte Gefahr zu bringen.
Globus XLVII. Nr. 16.
32
250
M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien.
Das große Erdbeben in Andalusien.
Von M. Willkomm.
II. (Schluß.)
Folgen wir von Antequera den beiden längs des nörd-
lichen und südlichen Fußes der Tejeda-Kette hinlaufenden
Erschütterungslinien, so äußerten sich die Erdbeben desto
stärker, se näher die Ortschaften der eigentlichen Sierra
Tejeda lagen. Alhama, eine wegen ihrer warmen, schon
den Mauren bekannten Schwefelquellen (daher Al-Hama,
d. h. das Warmbad) als Badeort berühmte, mitten im Ge-
birge, zwischen unwirthlichen kahlen Felsenbergen einge-
zwängte Stadt von circa 8000 Einwohnern, ist durch das
Erdbeben vom 25. December größtentheils zerstört worden.
Gleichzeitig bildeten sich in den zwischen dieser Stadt und
dem benachbarten Orte St. Cruz gelegenen, ans Kreidekalk
bestehenden Hügeln' tiefe Spalten von bedeutender Längen-
ausdehnung; 3 km von St. Cruz und 2 km von Alhama
entfernt, öffnete sich in jener Nacht ein tiefer Schlund, aus
dem seitdem unter Gasfumarolen, welche einen Schwefel-
wasserstofsgeruch aus weite Entfernungen verbreiten, eine
starke Quelle 40° C. warmen Schwefelwassers in großer
Menge gewaltsam hervorströmt. Ob gleichzeitig mit dem
Ausbruch dieser Quelle ein Versiegen der vorhandenen
Thermalquellen stattgefunden hat, ob überhaupt die Thermen
von Alhama während der Erdbeben afficirt worden sind,
darüber wird leider nichts berichtet. Am 27. December
um halb 10 Uhr Morgens erbebte die Erde dort abermals
sehr heftig unter einem kanonenschußähnlichen Knalle.
Noch ärger als Alhama ist der Flecken Albunuelas
zugerichtet worden, den ich 1845 auf meiner Reise von
Motul durch das wilde waldreiche Almijeragebirge nach
Granada ebenfalls berührt habe. Derselbe liegt unweit
des nordöstlichen Fußes der Sierra Tejeda und am Strande
des felsigen kahlen gewölbten Plateaus von Padal, über
welches die aus dem Val de Lecrin nach Granada führende
Straße läuft, und besaß eine stattliche Kirche mit hohem,
weithin sichtbarem Thurme. Diese ist in der Nacht des
25. December von der Erde verschlungen worden, indem
sich eine tiefe, quer durch den Ort laufende, weit klaffende
Spalte bildete, welche neben oder unter der Kirche hinlief.
In Albunuelas sind fast alle Häuser zerstört und hier
wie in Alhama, Periana, Canillas de Aceytuno und anderen
am Fuße oder in der Nähe des Tcjedagebirges gelegenen
Ortschaften Hunderte von Menschen unter den Trümmern
der Gebäude begraben worden. Leider ist es dort überall
nicht möglich gewesen, sofort Rettungsversuche durch Weg-
räumung der Trümmer zu machen, da die Ueberlebenden
von panischem Schrecken erfüllt die Ortschaften verließen
und andere Arbeitskräfte nicht zur Stelle waren. Noch
drei bis vier Wochen später wurden in Albunuelas ein
Pferd, in Alhama eine Truthenne lebend unter den Trüm-
mern aufgefunden, ersteres in einem nicht ganz zusammen-
gebrochenen Stalle, wo sich zufällig eine mit Gerste gefüllte
Krippe befunden hatte, letztere in einem zwischen über
einander gestürzten Brettern entstandenen Hohlraume. Da
in beiden Ortschaften noch mehrere Tage nach der Kata-
strophe des 25. December stellenweise dumpfes Stöhnen
und starke Klagclaute aus den haushohen Trümmerhaufen
vernommen worden sind, so steht zu befürchten, daß so
mancher Verschüttete, der bei sofortigem Wegräumen der
Trümmer hätte gerettet werden können, elendiglich hat ver-
schmachten müssen. Am 15. Januar, wo, wie schon in
den vorangegangenen Tagen, neue heftige Erdstöße in den
Umgebungen der Sierra Tejeda erfolgten, brach zugleich
ein furchtbarer Orkan aus, dem ein starker, anhaltender
Schneefall (!) folgte. Orkan und Schneesall waren selbst-
verständlich nicht auf das Tejcda-Gebirge beschränkt, son-
dern erstreckten sich über einen großen Theil von Andalu-
sien. Selbst in Malaga, wo es erfahrungsmäßig im
Durchschnitt alle 50 Jahre einmal schneit, blieb der Schnee
liegen und sank das Quecksilber unter Null. Um Albunuelas,
Sayalonga und anderen am Nordrande der Tejeda-Kette
gelegenen Ortschaften warf der Sturm die auf freiem
Felde errichteten Nothbaracken um und führte die Zelte
fort, wodurch die darunter geborgenen Flüchtlinge, welche
schon vorher die excessive Kälte kaum zu ertragen vermocht
hatten, in die äußerste Noth geriethen. Viele sind seitdem
an Lungenkrankheiten, von den Armen nicht wenige auö
Mangel an Lebensmitteln Hungers gestorben. Auch ander-
wärts sind unter der im Freien kampirenden Bevölkerung
Krankheiten ausgebrochen, welche Hunderte von Opfern ge-
fordert haben.
Am Südrande der Tejeda-Kette sind namentlich die
größeren Flecken Periana, Alcaucin und Canillas
de Aceytuno hart betroffen, ja fast gänzlich zerstört
worden. In Alcaucin waren am 1. Januar kaum noch
20 Häuser bewohnbar, in Periana fast alle in Ruinen, in
Canillas, dem höchstgelegenen Orte am Südfnße der eigent-
lichen Sierra Tejeda, wo ich im Mai 1845 zwei Nächte
zugebracht habe, 376 Häuser total zerstört, die übrigen 298
unbewohnbar. In allen drei, wie auch in den übrigen
zahlreichen am Südrande der Tejeda-Kette gelegenen Ort-
schaften sind ebenfalls Hunderte von Menschenleben ver-
loren gegangen. Am 5. und 13. Januar wiederholten sich
in allen diesen Ortschaften bis hinab an die Küste (bis
Nerja) die Erdstöße und waren dieselben zwar von kürzerer
Dauer als die erste Erschütterung, aber zum Theil stärker
als jene. Durch diese neuen Erdbeben wurden die meisten
der noch stehenden Häuser zum Einsturz gebracht. Von
Canillas wird unter dem 13. Januar berichtet, daß das
Erdbeben des Erdbodens stark ohne Unterbrechung fort-
dauerte und namentlich am 12. um 83/4 Uhr Abends eine
furchtbare Erschütternug erfolgte, welche die letzten Häuser
niederwarf und die wenigen noch zurückgebliebenen Be-
wohner zur Flucht veranlaßte. Zugleich herrschte eine
intensive, ganz unerhörte Kälte.
Unter den Ortschaften der Küstenzone haben Velez-
Malaga und Torróx am meisten gelitten. Velez-
Malaga, eine gut gebaute, freundliche und saubere Stadt
von beiläufig 15 000 Einwohnern, liegt am gleichnamigen
Flusse und am Fuße eines mit einer großen maurischen
Burg gekrönten Hügels, 8 km von ihrem Hafenorte Torre
de mar und 36 km östlich von Malaga im Schoße einer
M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien.
251
weiten, reizenden, mit Fruchtbäumen, Zuckerrohr- und
Baumwollcnfeldern bedeckten und mit zahlreichen Caserios
(einzelnen Häusern) bestreuten Ebene, welche nordostwärts von
einem malerischen, rebenbcdeckten, reich bevölkerten Hügel-
lande begrenzt wird, das sich stufenförmig aufsteigend an
den südlichen Fuß der in der Luftlinie etwa 20 km ent-
fernten Sierra Tejeda anlehnt. Es giebt hier große Zucker-
raffinerien und andere Fabriken und gilt Velez- Malaga
für einen der wohlhabendsten Orte der Provinz von Ma-
laga. Schon nach dem 25. December war auch diese
Stadt beinahe ein Schutthaufen! Ein Korrespondent der
„Noticias" schreibt von dort unter dem 1. Januar: „Die
Stadt ist von ihren Bewohnern vollständig verlassen, da
sämmtliche noch stehende Häuser wegen drohenden Ein-
sturzes unbewohnbar sind und über 300 Häuser in Ruinen
liegen. Die Einwohner leben in der Umgegend in gruppcn-
weis zusammengedrängten Baracken, Zelten und Hütten;
die größte solche Gruppe befindet sich an dem Paseo vieso
(der alten, am Flußufer hinlaufenden Promenade), wo auch
ich seit sieben Tagen mit meiner Familie in einer großen,
nothdürftig hergestellten Baracke mit beinahe 2000 anderen
Personen eng zusammengepfercht wohne. Die Wellen-
bewegungen des Erdbodens haben sich seit dem 25. De-
cember vielmals wiederholt. In der Nacht des 30. Decem-
ber erfolgten zwischen 7 und halb 11 Uhr drei Stöße
von 5 bis 6 Sekunden, am 31. December drei von 7
bis 8 Sekunden Dauer, am Morgen des 1. Januar
noch einer von geringerer Dauer und Intensität. Ganze
Gassen, sa Stadttheile sind auf einmal niedergeworfen
worden, alle Kirchen sehr beschädigt, zwei Nonnenklöster
gänzlich zerstört. Dasselbe Loos hat mehr als die Hälfte
der in der Bega und den Weinbergen umhergestreuten
Caserios betroffen. Aller Verkehr, alle Arbeit ruht; es
mangelt an Schutzmitteln gegen die Kälte, an Medicin,
Verbandstücken und Lebensmitteln. Tausende von Fabrik-
arbeitern und Tagelöhnern sind aus Mangel an Arbeit
ohne Subsistenzmittel und mit ihren Familien dem größten
Elend preisgegeben." — Torrox, eine kleine, 15 km
östlich von Velez-Malaga, zwischen Rebenhügeln gelegene
Stadt von 5000 Einwohnern, wurde auch schon durch das
erste Erdbeben am 25. December in Schutt und Trümmer
gelegt. Am 3. Januar Nachmittags erfolgten dort zwei
neue Erschütterungen, von denen die erste 8, die zweite
17 Sekunden dauerte, worauf bis zum Morgen noch drei
schwächere folgten. In der Nacht vom 11. zum 12.Jauuar
gab es wieder fünf starke Erdstöße, und vom Morgen des
13. an, wo eine furchtbare Erschütterung erfolgte, erbebte
die Erde fast ununterbrochen 24 Stunden lang. Aehn-
liches wird von Algarrobo, einem nördlich von Velez-
Malaga liegenden Flecken vom 16. Januar berichtet, bis
wohin die Einwohnerschaft schon 23 Tage lang im Freien,
die Armen ohne alles Obdach kampirt hatten. Ferner von
der Küsten- und Hafenstadt Nerja (5500 Einwohner), wo
am 5. Januar neue und furchtbare Erdstöße vorgekommen
sind, welche den gänzlichen Zusammensturz der schon er-
schütterten und beschädigten Häuser veranlaßt haben.
Malaga selbst ist zwar auch bedeutend in Mitleiden-
schaft gezogen worden, doch sind dort keine Verluste an
Menschenleben zu beklagen gewesen, und im Verhältniß zur
Größe der Stadt die Beschädigungen der Gebäude nicht so
bedeutend, wie in den bisher erwähnten Ortschaften. Immer-
hin beläuft sich laut einer an den Gouverneur gerichteten
Vorstellung des Aynntamiento (Stadtraths) der durch das
Erdbeben angerichtete Schaden an Gebäuden und Eigen-
thum auf mindestens 10 Millionen Pesetas, und sind viele
Hauscigenthümer, welche nicht die Mittel besitzen, ihre zer-
störten oder beschädigten Häuser wieder aufbauen oder repa-
riren zu lassen, wie auch viele Industrielle, denen durch
die Zerstörung der Maschinen, Vorräthe an Rohmateria-
lien u. s. w. die Fortführung des Betriebes ihres Geschäftes
unmöglich gemacht worden ist, in die Peinlichste Nothlage
versetzt worden. Man bedenke nur, daß Malaga gegen-
wärtig ein Hanptsitz der spanischen Industrie ist, daß es
dort circa 10 000 Fabrikarbeiter und Tagelöhner giebt,
von denen vielleicht die Hälfte brotlos geworden sind, und
man wird die kritische Lage begreifen, in welche diese bis-
her so gut situirte Stadt gerathen ist. Von Privathäuscrn
müssen 89 gänzlich, 207 theilweise demolirt werden; unter
den öffentlichen Gebäuden haben das Rathhaus, das Gefäng-
niß, das Schlachthaus, die Schulgebäude, Spitäler und
Wohlthätigkeitsanstalten (insbesondere die Casa de miseri-
cordia, ein großartiges Asylhaus, dessen Insassen delogirt
und im Stiergefechtscircus untergebracht werden mußten),
die Kirchhofsgebäude und das Jnstituto provincial am
meisten gelitten. Von diesem großen und schönen Gebäude
ist ein ganzer Flügel zusammengestürzt und zwar gerade
derjenige, welcher die werthvollen Sammlungen des natur-
historischen und agronomischen Museums, das meteorolo-
gische Observatorium, die Räume und Bibliothek der
Handelsschule und anderes enthielt. Auch die Kirchen
sind stark beschädigt worden, doch droht keine den Einsturz
und scheint die große schöne Kathedrale unversehrt geblieben
zu sein. — Die südlich von Malaga am Fuße der Sierra
de Mijas gelegenen, oben namhaft gemachten Ortschaften
haben nur wenig gelitten. So sind z. B. in der Villen-
stadt Al hau rin el Grande durch die am 25. Decem-
ber dort um 9 Uhr 1 Min. erfolgte Erschütterung, welche
13 Sekunden währte, nur unbedeutende Beschädigungen an
Häusern verursacht worden. Stärker hat sich das Erd-
beben in den ebenfalls schon genannten, südwestlich von
Malaga liegenden, mir sämmtlich bekannten Küstenorten
geäußert, namentlich in dem Flecken Fuengirola, wo
18 Privathäuser und das Rathhaus so stark beschädigt
worden sind, daß sie niedergerissen werden müssen.
Ich habe oben unter den Erschütterungscentren auch
die Gegend von Cortes in der Serrania de Ronda an-
geführt und zwar deshalb, weil, abgesehen von dem ersten,
überall verspürten Erdbeben am Abend des 25. December,
die dort vorgekommenen Erschütterungen mit denen der
Sierra Tejeda in keinem Zusammenhang gestanden zu
haben scheinen. Noch am 26. Januar wurden Cortes und
die Nachbarorte zwischen 9 und 10 Uhr Abends von einem
starten Erdbeben heimgesucht, während im Tejeda-Gebirge
und längs der Küste nach dem 15. Januar keine Erschütte-
rungen mehr vorgekommen sind. Cortes, eine kleine Stadt,
liegt im Thale des Flusses Guadiaro, 20 km südwestlich
von Ronda. Sie ist in der Luftlinie 30 km von der Küste,
120 km von der Sierra Tejeda und 160 km von Motnl
entfernt. Diese Küstenstadt bildet den östlichen, Cortes
den westlichen Grenzpunkt des gesammten Erschütterungs-
areals des Erdbebens vom 25. December, d. h. desjenigen
Areals, innerhalb dessen das Erdbeben bedeutenden Schaden
angerichtet hat. Denn sicher ist dasselbe auf einem großen
Theile der Halbinsel, vielleicht auch noch in anderen Län-
dern verspürt worden. Hat doch Prof. Palmieri's Seismo-
graph in Neapel das Erdbeben am Abend des 25. December
genau markirt.
Zum Schlüsse will ich mir erlauben, eine Uebersicht
der in Südspanien beobachteten und aufgezeichneten Erd-
beben zu geben. Denn wenn auch das im Vorstehenden
geschilderte das großartigste und furchtbarste seit Menschen-
gedenken gewesen ist, so steht dasselbe doch keineswegs ver-
32*
252
E. Metzger: Haiti.
einzelt da. Im Gegentheil sind die Provinzen des König-
reichs von Granada, desgleichen die an letzteres ostwärts
angrenzenden des Königreichs von Murcia und die zum
Königreich von Valencia gehörende Provinz von Alicante
schon oft von Erdbeben heimgesucht worden, ja am Cap
Roquätas vergeht fast kein Jahr ohne ein solches. Nach
den früheren Erschütterungen zu urtheilen, bilden Granada
und die Gegend von Torrevieja und Guardamar im Süden
von Alicante zwei Hauptcentren der Erdbeben. Von letzt-
genanntem aus erstreckten sich die Erschütterungen oft längs
der Küste bis Malaga. Die heftigsten ereigneten sich in
den Jahren 1518 und 1829. Am 9. November des erst-
genannten Jahres wurde die Stadt Vera (in der Provinz
von Almeria) gänzlich zerstört, im März 1829 die Städte
Guardamar und Torrevieja in Schutthaufen verwandelt.
An mehreren Stellen entstanden damals Erdspalten und
Solfataren. Malaga ist seit einem Jahrhundert schon
viermal von Erdbeben heimgesucht worden, nämlich am
16. Oktober der Jahre 1775 und 1777, vom 8. bis 10.
Oktober 1790, im Januar, Februar und August des Jahres
1804 und am 4. August 1841. Im Jahre 1802 kamen
vom 17. Januar bis 6. Februar wiederholt Erderschütte-
rungen im Torre la Mota und Torrevieja, 1822 am
9. Juli in Cartagena, Murcia und Alicante (binnen
24 Stunden angeblich 200 Erdstöße), 1826 am 27. April
und bis in den Juli hinein zahllose Erschütterungen in
und um Granada (einen ganzen Monat hindurch täglich
2 bis 4) vor. Die ganze Einwohnerschaft Granadas ver-
ließ damals die Stadt und campirte einen ganzen Monat
hindurch im Freien, obwohl keine erheblichen Beschädi-
gungen an Gebäuden durch jene Erdbeben veranlaßt wurden.
Vom 12. bis 15. September 1828 wurden wieder Torre-
vieja und Gurdamar von Erschütterungen heimgesucht, wor-
auf 1829 das schon erwähnte große Erdbeben folgte, welches
den Zeitraum vom 15. Januar bis 16. April umfaßte,
sich über die Provinzen von Murcia, Alicante und Valencia
erstreckte und den Einsturz von 3000 Häusern, sowie den
Tod von 389 Personen verursachte. Seit diesem großen
Erdbeben waren bis jetzt nur unbedeutende Erschütterungen
im Süden der Halbinsel verspürt worden, so 1836 am
25. Januar und 19. Februar in Gibraltar und am 21. No-
vember in und um Granada, 1841 am 4. August in Se-
villa und Malaga (s. oben), 1844 im Oktober in Granada
(welches ich selbst mit erlebt habe) und 1845 am 14. April
in der Provinz von Murcia. Rechnet man hierzu die
zahlreichen Erdbeben, denen der Westen der Halbinsel aus-
gesetzt und deren Centrum immer die Gegend von Lissabon
gewesen ist, woselbst seit dem Jahre 377 vor Christo bis
1840 von bedeutenden Erdbeben 19 verzeichnet worden
sind, so wird man zugeben müssen, daß nächst Italien
wohl kein anderer Theil Europas so häufig von Erd-
erschütterungen heimgesucht worden ist und noch heim-
gesucht wird, als der Süden und Westen der Iberischen
Halbinsel.
Haiti.
Von E. Metzger.
III. Vaudouxverehrung und Kannibalismus.
(Erste Hälfte.)
Wir werden uns in diesem Abschnitte zunächst mit der
eigenthümlichen aus Afrika importirten und sehr häufig
(aber nicht immer) mit Kannibalismus verbundenen Schlan-
genverehrung, dann aber mit dem Kannibalismus der Be-
wohner von Haiti im allgemeinen beschäftigen.
Im heimathlichen Guinea heißt die Schlangenver-
ehrung Wodan; die Thiere wurden früher, wie Burton erzählt,
so hoch geschätzt, daß derjenige, welcher eins durch Zufall
tödtete, mit dem Tode gestraft wurde; jetzt wird nur eine
schwere Buße für solchen Unfall bezahlt. Die in Dahomey
verehrten Schlangen sind unschädlich, etwa sechs Fuß lang
und so dick wie ein Mannesarm. Wie die Arada-Neger
in Haiti, die zu den treuesten Anhängern dieser Verehrung
zählen, berichten, bezeichnet der Name Vaudoux ein all-
mächtiges und übernatürliches Wesen, von dem alle Ereig-
nisse, die sich in der Welt begeben, abhängen. Dasselbe
erscheint in Gestalt der nicht giftigen Schlange und unter
diesem Symbol versammeln sich alle die, welche sich zu
dieser Lehre bekennen. Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
kunft sind der Schlange bekannt, die ihren Willen und ihre
Macht nur durch einen von den Glaubensbrüdern erwählten
Großpriester und dessen Geliebte äußert. Diese beiden
mächtigen Personen, in denen sich die Inspirationen der
Gottheit äußern, tragen den erhabenen Namen König und
Königin, werden auch wohl Herr und Herrin, oder zärtlicher
Papa und Mama genannt. Sie bekleiden ihre Würde auf
Lebensdauer und man gehorcht ihnen unbedingt. Der
Papaloi, wie er genannt wird, führt ein ziemlich zügel-
loses Leben, und die Furcht vor ihm ist so groß, daß
kaum eine Frau aus den unteren Volksklassen es wagen
würde, ihm ihre Gunst zu verweigern, wenn er dieselbe ver-
langte, ja es scheint, daß man solchem Verlangen zu willfahren
als eine Ehre betrachtet.
Neben der Wollust bietet der Rausch dem Neger den
höchsten Genuß und daher spenden die Anhänger des Vaudoup-
dienstes den Priestern reichlichen Stoff. Der Priester und
die Priesterin entscheiden, ob die Schlange einem neuen
Kandidaten den Eintritt in die Sekte erlaubt; sie schreiben
vor, welche Pflichten erfüllt werden müssen; sie empfangen
auch die für den Gott bestimmten Opfer und Gaben; ihnen
den Gehorsam versagen, heißt dem Gott ungehorsam sein
und das größte Unglück muthwillig herausfordern. An be-
stimmten Tagen versammelt sich die Gemeinde unter Vorsitz
des Königs und der Königin; das äußere Ceremoniell haben
die Neger aus Afrika mitgebracht, doch die westindischen
Gebräuche haben manche Aenderung hervorgerufen und
Manches ist auch europäischen Gewohnheiten entlehnt.
Die Versammlungen finden im Geheimen, in mitter-
nächtlicher Stille an einem verborgenen Orte statt und
werden jedem profanen Auge entzogen; jeder Eingeweihte
E. Metzger: Haiti.
253
gebraucht Sandalen und befestigt eine kleinere oder größere
Anzahl Tücher um seinen Leich wobei die rothe Farbe vor-
herrscht. Der König hat deren die größte Anzahl, ein ganz
rothes Tuch mngiebt seinen Kopf wie ein Diadem, ein ge-
wöhnlich blauer Gürtel schlingt sich um seine Lenden; auch
die Königin zeigt in ihrem einfachen Lupus die Vorliebe für
die rothe Farbe, die sie namentlich für Leibbinde und Gürtel
wählt. König und Königin nehmen an einem Ende des
Gemaches neben einer Art Altar Platz, auf dem eine mit
Gitterwerk geschlossene Kiste steht, welche den allen sicht-
baren Gott — die Schlange — enthält. Nachdem man
sich überzeugt hat, daß keine Uneingeweihten anwesend sind,
beginnen die Verehrer den Gottesdienst mit Anbetung der
Schlange und betheuern ihre Anhänglichkeit und Unter-
werfung; dann wird der Eid der Geheimhaltung in
die Hände von König und Königin unter den schrecklichsten
Drohungen gegen jeden, der ihn verletzt, aufs Neue abge-
legt. Nach dieser Vorbereitung folgt das, was man die
Predigt nennen könnte; König und Königin preisen in
liebreichem Tone das Glück der Anhänger des Vaudoux,
ermahnen die Getreuen, ihnen Vertrauen zu schenken und
darunl bei allen wichtigen Veranlassungen ihres Lebens um
ihren Rath zu bitten. Jetzt löst sich die Versammlung auf
und die Einzelnen treten nach ihrem Alter in der Sekte
vor, ihre Wünsche vorzutragen; für alles Mögliche wird
der Rath des Priesters in Anspruch genommen, der Eine
will seine Vermögensverhältnisse verbessern, die Andere einen
untreuen Geliebten wieder in ihr Netz ziehen; der verlangt
ein Mittel gegen Krankheit oder für langes Leben, jene
einen Fluch gegen eine glückliche Nebenbuhlerin; auch das
Verbrechen nähert sich, um die Hilfe des Gottes anzurufen.
Bei jeder neuen Frage scheint der König der Vaudoux in
Gedanken versunken; der Geist kommt über ihn, er setzt
die Kiste mit der Schlange auf den Boden und heißt die
Königin sich auf dieselbe stellen. Jetzt wird auch die Pythia
von dem geheimnißvollcn Geiste ergriffen; sie zittert, der
ganze Körper geräth in Zuckungen und das Orakel spricht
aus ihrem Munde. Bald verspricht sie Glück, bald fließt
ihre Rede in drohenden Worten und sie diktirt Befehle,
gegen die es keine Berufung giebt. Nachdem das Orakel,
manchmal in recht geheimsinniger Weise, allen geantwortet
hat, bilden die Anhänger aufs Neue einen Kreis um den
Altar und bringen ihr Opfer dar. Von demselben werden
die Kosten der Versammlung bestritten und bedürftige Mit-
glieder unterstützt; darauf werden Pläne für die Zukunft
festgestellt, die häufig ans Erregung von Unruhen abzielen,
und zum zweiten Male wird ein ebenso furchtbarer Eid wie
der erste abgelegt, indem Geheimhaltung und Mitwirkung
gelobt wird. Hieran schließt sich der Genuß des warmen
Blutes. In dieser Ceremonie nun liegt der Unterschied
der beiden Arten von Vaudouxverehrung; die eine Sekte,
vielleicht die am wenigsten zahlreiche, opfert auch „Ziegen
ohne Hörner" (Menschen), während die andere derartige
Opfer verabscheut und sich mit der „weißen Ziege und dem
weißen Hahn" begnügt. Die zuletzt erwähnte Sekte erfreute
sich zeitweise großer Duldung und konnte ihre Festlichkeiten
dann selbst in Port au Prince ziemlich öffentlich begehen.
In den ländlichen Distrikten nennen die Mitglieder sich,
wie die katholischen Priester mittheilen, les NMères und
in ihren Ceremonien sollen Vaudoux und christliche Ge-
bräuche in sonderbarer Weise vermischt sein. Vielfach ist
die Ansicht verbreitet, daß ohne die Mitwirkung dieser Sekte,
deren Anhänger die kannibalischen Vaudoux-Bekenner glühend
hassen, es der Regierung unmöglich sein würde, die letzteren
einigermaßen in Schranken zu halten. Außer dem Hahn
und der Ziege soll auch zuweilen ein Lamm geopfert werden,
welches sorgfältig gewaschen, gekämmt und geschmückt wird.
Ueber das Menschenopfer werden wir noch weiter unten
Gelegenheit zu sprechen haben, vorläufig wollen wir die
weiteren Vorgänge bei den Festen der Vaudoux-Sekte be-
trachten.
Auf das Opfer folgt der Tanz, eingeleitet durch die
Aufnahme neuer Jünger. Der König zeichnet mit schwarzer
Farbe einen Kreis, in welchen der Neophyt gestellt wird;
in seine Hand wird ein Päckchen mit Kräutern, Pferde-
haaren, Hornstücken und anderen kleinen Gegenständen ge-
legt. Dann berührt der König den Kops des Aufzunehmen-
den mit einem Stabe und läßt einen wilden afrikanischen
Gesang ertönen, dessen Refrain von den außerhalb des
Kreises stehenden Personen wiederholt wird; der Neuling
fängt an zu zittern und zu tanzen, was man „Vaudoux
üben" heißt. Wenn er den Kreis verläßt, wird der Gesang
unterbrochen und König und Königin wenden den Rücken,
um die böse Vorbedeutung abzuwenden. Der Tanz wird
fortgesetzt, bis der König durch Berührung mit seinem Stabe
oder, wenn dies nicht genügt, mit einem tüchtigen Schlage
ihn aus seiner Betäubung weckt. Hierauf legt er den Eid
ab und gehört nun zur Sekte.
Nachdem die Aufnahme der neuen Mitglieder beendet
ist, berührt der König die Kiste, in welcher die Schlange
sich befindet und geräth nun selbst in Verzückung. Er theilt
dieselbe der Königin mit und nach und nach geräth der
ganze Kreis in heftige Bewegung, wobei er den ganzen
Oberleib, besonders Kopf und Schultern, in den tollsten Ver-
renkungen bewegt. Namentlich die Königin befindet sich in
der heftigsten Aufregung; in gewissen Pausen nähert sie
sich der Schlange, um ihre Verzückung zu steigern, schüttelt
die Kiste und bringt die an derselben befestigten Schellen
zum Tönen, wodurch die allgemeine Erregung noch zu-
nimmt; hierzu trägt allerdings der übermäßige Gebrauch
spirituöser Getränke sehr viel bei. Bei den Einen stellen
sich Ohnmachten ein, bei den Anderen eine Art Wuth; ein
nervöses Zittern, welches sie, wie es scheint, nicht unter-
drücken können, ergreift alle. Sie laufen im Kreise, sie
zerreißen ihre Kleider, manche beißen in ihr eigenes Fleisch,
andere stürzen zur Erde, ganz ihrer Sinne beraubt, und
andere werden in einen anstoßenden dunklen Raum geschleppt,
der oft der Schauplatz der ekelhaftesten Prostitution wird.
Endlich macht die Ermüdung diesen abscheulichen Scenen
ein Ende, welche sich an einem vorher festgesetzten Tage
wiederholen. Im allgemeinen ist die Praxis in neuerer
Zeit insofern lax geworden, als man auch uneingeweihten
Schwarzen erlaubt, den Vorgängen beizuwohnen; häufig
genug ist es vorgekommen, daß auch Weiße die Ceremonien
beobachtet haben, wiewohl es ziemlich gefährlich wäre, sich dabei
auf frischer That antreffen zu lassen und es im allgemeinen
am gerathcnsten für sie ist, die gefährliche Nähe sobald als
möglich ganz und gar zu verlassen. Die meisten direkten
Beweise für den bei der Opferhandlnng gepflegten Kanni-
balismus stammen aus solcher Quelle. Ein katholischer
Priester, der sich unter seine Gemeindeglieder gemischt hatte,
um die Vorgänge bei einer solchen Festlichkeit zu beobachten,
es war in der Zeit Salnave's, wo die Vaudouxpriester sich
eines sehr nachdrücklichen Schutzes erfreuten, daß sie ihre
Festlichkeiten beinahe mit gar keinem Schleier zu umgeben
suchten, macht eine Beschreibung derselben, die mit dem
oben Angeführten ganz genau übereinstimmt. Der weiße
Hahn und die weiße Ziege wurden gelobtet und der Bund
der Anhänger des Vaudoux mit demselben aufs Neue be-
siegelt; dann aber trat ein gigantischer Neger vor, kniete
vor der Oberpriesterin nieder und sagte: „Mama, ich habe
eine Gunst zu erbitten." „Was ist es mein Sohn?" „Gieb
254
E. Metzger: Haiti.
uns, um das Opfer vollständig zu machen, die Ziege ohne
Hörner." Sie gab ein Zeichen der Zustimmung, der Haufen
der Zuschauer theilte sich und man erblickte ein Kind, welches
mit gebundenen Füßen da saß; in einem Augenblick wurde
es an einem Strick in die Höhe gezogen und der Priester
näherte sich demselben mit einem Messer; der laute Schrei
des Schlachtopfers erweckte den Franzosen aus seiner Be-
täubung; er rief laut: „Schonet das Kind" und wollte
auf die schauerliche Scene zustürzen, wurde jedoch von seinen
Freunden, die für ihn und für sich selbst fürchteten, mit
fortgerissen. Vergebens nahm er die Hilfe der Polizei in
derselben Nacht in Anspruch; am anderen Morgen erst be-
gleitete sie ihn nach dem Schauplatz der schaurigen nächt-
lichen Scene, wo man die Spuren des Festes fand; neben
dem Schuppen lag der gekochte Schädel eines Kindes.
Die Tempel der Vaudoux, Humfort genannt, findet
man in jedem Distrikt des Landes; im allgemeinen sind sie
klein, wiewohl Spenser St. John einen antraf, der ziemlich
geräumig war; man hatte denselben mit Bildern aus den
Jllustraded News tapezirt, an den Wänden hingen Bilder
der heiligen Jungfrau und der Heiligen, und ähnliche Bilder
fand er in jedem dieser Heiligthümer. In einem der größten
hat ein katholischer Priester bei seiner Durchreise öfter Messe
gelesen; allerdings hegte er Verdacht, daß in seiner Ab-
wesenheit der Vaudouxdienst dort geübt wurde. Er besaß
einige polirte Steine von merkwürdiger Form, die er von
einigen seiner Gcmeindemitglieder empfangen hatte; darunter
befand sich auch eine Steinaxt in Form eines Halbmondes,
die, wie es hieß, aus Afrika mitgebracht worden war
und einen Gegenstand der Verehrung bildete. Der Priester
zerstörte alle diese Sachen, um zu verhüten, daß sie wieder
in die Hände der Neger kämen. Außer verschiedenen christ-
lichen Sinnbildern fand unser Autor auch in einem der
Tempel eine Flagge von rother Seide, auf der folgende
Worte standen: Kocüsts ckes rieurs la Dalloiuieu, deren
Bedeutung unsicher ist; es hieß, diese Fahne sei ein Ge-
schenk der Kaiserin, der Gemahlin Soulouque's. Der
eigentliche Tempel ist gewöhnlich nur klein, doch zum Ge-
brauch der Menge befinden sich Schuppen in der Nähe und
auch das Haus des Wächters dient ihnen als Obdach und
als Schauplatz ihrer wilden Vergnügungen. Die Papalois
erkennt man an dem eigenthümlichen Schnitt ihres krausen
Wollhaars und dem überreichen Schmuck.
Man wird geneigt sein, die Frage auszuwerfen, wer
denn eigentlich zur Vaudoux-Sekte gehört; richtiger wäre
es, meint Spenser St. John, zu fragen, wer gehört denn
nicht dazu, wenigstens nicht zu der Sekte, die sich nicht
des Kannibalismus schuldig macht. Bekannt ist es, daß
der Kaiser Soulouque ein treuer Anhänger der Vaudoux-
Verehrung, der Mulattengeneral Theolouge einer ihrer
Priester war, der in seinen jüngeren Jahren in einer Schar-
lachrobe zu erscheinen und allerlei Possen in den Bäumen
auszuführen pflegte; auch ein früherer Premierminister,
dessen blutige Thaten immerwährende Schmach auf sein
Andenken werfen werden, war, wie es hieß, ein Oberpriester
der Sekte. Mit Ausnahme des eben genannten Theolonge
und des Generals Salnave soll übrigens kein Mulatte und
kein in Europa erzogener Neger der Sekte angehört haben.
Präsident Salnave (1867), der zuerst Lust hatte, den
gebildeten Klassen den Hof zu machen, um sich ihrer
Unterstützung zu versichern, hielt sich von den Vaudoux-
Geheimnissen ganz zurück; als er aber sah, daß seine An-
näherungsversuche zurückgewiesen wurden (denn die groben
Ausschweifungen, die in seinem Palast eine Stätte fanden,
hielten alle anständigen Leute zurück, denselben zu betreten)
und das Kriegsglück sich im Bürgerkriege gegen ihn wendete
(1869), begab er sich, sei es vom Aberglauben getrieben, sei
es um sich so die Gemüther der großen Masse zu ge-
winnen, zu einem wohlbekannten Priester, der in,der Nähe
von Marguissant bei Port au Prince lebte, und machte dort
alle nöthigen Ceremonien durch. Er badete sich im Blute
der Ziege, machte den Priestern und Priesterinnen ansehn-
liche Geschenke und feierte das Fest mit der ganzen Ver-
sammlung, die sich danach den niedrigsten Ausschweifungen
ergab und dies so lange fortsetzte, bis selbst die eiserne
Natur des Präsidenten erschöpft war und er sich genöthigt
sah, viele Tage lang das Bett zu hüten. Aber das Kriegs-
glück blieb ungünstig; wieder befragte er den Papaloi, der
darauf bestand, daß der Präsident nun die höchsten Feier-
lichkeiten durchmachen müsse; die „Ziege ohne Hörner"
müsse geschlachtet und er mit ihrem Blute gesalbt werden;
wenn er sich hiermit einverstanden erkläre, solle er des
Sieges sicher sein. Ob Salnave diesem Verlangen nachgab
oder nicht, wagt unser Autor nicht zu entscheiden; er sagt
wörtlich: Seine Feinde aus allen Klassen der Gesellschaft
sagten, er habe es gethan; seine Freunde, die den unteren
Klassen angehörten, bestätigten die Geschichte, aber die
wenigen Anhänger, die er unter den besseren Klassen hatte,
leugneten natürlich die Wahrheit derselben. Ich glaube,
das Gewicht der Beweise sprach eher gegen ihn als zu
seinen Gunsten. — Selbst in der Zeit von Geffrard, dem
erleuchtesten Herrscher, den dieses unglückliche Land seit
Boyer's Zeiten hatte, zeigte es sich deutlich, daß die Fetisch-
Anbetung der afrikanischen Neger durch ihre Nachkommen
nicht vergessen war. Während seiner Regierung trug sich
folgender Vorfall zu, den wir mit einiger Ausführlichkeit
folgen lassen, da die Einzelheiten der schauerlichen Ge-
schichte für die Charakterisirung der Zustände wichtig
sind.
Einige Meilen westlich von Port au Prince im Dorfe
Bizotou lebte ein Mann, Congo Pell« genannt. Er hatte
allerlei Beschäftigungen versucht, es aber seiner Faulheit
wegen zu nichts gebracht; jetzt wollte er ohne Anstrengung
seinerseits seine Lage verbessern. Er wendete sich darum
an seine Schwester Jeanne, welche lange mit den Vaudoux
in Verbindung gestanden hatte — sie war die Tochter einer
Priesterin und selbst eine wohlbekannte Mamanloi — und
kam mit ihr überein, gegen das neue Jahr ein Opfer dar-
zubringen, um die Schlange günstig zu stimmen; da er
Großes erreichen wollte, griff man gleich zu den großen
Mitteln, man berieth mit den beiden Papaloi, Julien
Molas und Florsal Apollo, und kam zu dem Entschluß,
ein kleines Mädchen, die Nichte von Jeanne und Congo,
zu opfern.
So wurde die Sache vor Gericht erzählt; es scheint
jedoch, daß Menschenopfer regelmäßig zu Ostern, Weih-
nachten, am Sylvesterabend und besonders am Feste der
heiligen drei Könige gebracht werden.
à
Aus allen Erdtheilen.
255
Aus allen Erdtheilen.
Europa.
— In der Bergwerksverwaltung in St. Petersburg
wird gegenwärtig eine Expedition zur Untersuchung der
nördlichen Ausläufer des Urals ausgerüstet. Der
Hauptzweck derselben sind mineralogische Untersuchungen;
man vermuthet nämlich, daß im nördlichen Ural Fundstellen
edler Metalle, besonders von Gold und Platin, vorkommen
müssen. Das Platin wurde bekanntlich 1822 im Ural in den
Privatbergwerken von Nishne-Tagilsk und später in den
Kronbergwerken von Blagodatsh entdeckt. Die Entdeckung
war die Veranlassung, daß Alexander v. Humboldt Rußland
und den Ural besuchte; er machte damals schon in Rücksicht
auf den geologischen Bau des Ural die Bemerkung, daß in
dem nördlichen Theile des Gebirges viel beträchtlichere mine-
ralogische Schätze existiren müßten, als im mittleren und süd-
lichen. Abgesehen von dem Suchen nach Edelmetallen hat
die Expedition ferner die Aufgabe, geologische Forschungen
anzustellen, nach Eisen-, Kupfer- und Bleierz und Kohlen-
lagern auszuschauen, den Einfluß des Bergbaus auf die
Waldcultur, die Lage der Bergwerksarbeiten u. a. mehr zu
bestimmen. („Nowosti" 1885, Februar.)
— In der Sitzung der K. R. Geographischen Gesell-
schaft zu St. Petersburg hat am 21. Februar K. D. Nos-
silow einen Vortrag gehalten über seine Untersuchung der
Pässe des Urals in Hinsicht aus eine projektirte Ver-
einigung des Petschora- und des Ob-Bassins. Seiner
an die „Nowosti" (1855, Nr. 55) gerichteten brieflichen Mit-
theilung darüber entnehmen wir Folgendes: Er hat im Lause
der letzten zwei Jahre 7 verschiedene Pässe des Ural zwischen
dem 64. und 67. Grade nördlicher Breite mit Rücksicht auf
die Möglichkeit einer Verbindung der Petschora mit dem
Ob-Bassin untersucht. Einer dieser Uralübergänge verbindet
den Ob durch Vermittelung seines Nebenflusses Woikov
mit dem in die Petschora fallenden Flusse Ussa; der Paß,
1650 Fuß (495 m) hoch, hat eine Länge von 155 Werst (km).
Ein anderer Paß verbindet die schiffbare S y gw a, einen Zu-
fluß der bei B ereso w in den Ob fallenden Sosswa mit dem
Schtschugur, einem Nebenflüsse der Petschora; der Paß hat
eine absolute Höhe vou 1450 Fuß (435 m) und eine Länge
von 100 Werst (km). Beide Uebergänge sind durchaus zum
Bau einer Eisenbahn geeignet und eine solche wäre mit Rücksicht
auf die herzustellende Wasserverbindung zwischen O b und
Jenissei unbedingt nöthig. Es giebt in Sibirien eine große
Menge Waaren, welche den theuren Transport aus der
Tjumen-Uralischen Eisenbahn nicht ertragen und welche sich
daher längst einen anderen Ausweg, bisher durch das Ka-
rische Meer, gesucht haben; dieser Ausweg hat sich aber
nach vielen kühnen Expeditionen als Handelsstraße nicht
brauchbar erwiesen.
A s i e n.
— Herr Golochwastow, welcher eine Eisenbahnver-
bindung zwischen dem Ob-Becken und einem Hafen des
Nördlichen Eismeeres projektirt, hat im Laufe des verflossenen
Sommers (1884) eine große Reise durch Sibirien ge-
macht, um sich an Ort und Stelle mit den Produktions-
krästen des Ob-Bassins und den Bedingungen des sibirischen
Handels bekannt zu machen. Golochwastow beabsichtigt durch
seine projektirte Bahnverbindung die Handelsbeziehungen
Sibiriens mit den europäischen Märkten sicher zu stellen
und dadurch die äußerst gewagte, oft ganz unmögliche Fahrt
durch das Karische Meer nach den Mündungen der sibiri-
schen Flüsse zu vermeiden. Er hat als Endpunkte seiner Pro-
jektilen Linie gewählt: den Chaipudirsk-Busen des
Nördlichen Eismeeres (Gouvernement Archangel) und die
Mündung des Flusses Woikara in den Ob. In der
Omsker Sektion der K. Ruff. Geogr. Gesellschaft hat Go-
lochwastow bereits über sein Unternehmen berichtet, und da-
durch sehr lebhafte Debatten über den Einfluß der projektirten
Bahn auf die ökonomischen Verhältnisse des Landes hervor-
gerufen. Die langjährigen Arbeiten Golochwastow's in
dieser Angelegenheit werden von vielen gelehrten Autoritäten
unterstützt, welche sich für die Möglichkeit einer Bahn durch
jene Sumpfgegend aussprechen. Golochwastow hatte die
Absicht, die ganze Strecke, durch welche die Bahn gelegt
werden soll, mit Renthieren zu befahren. Die Entfernung
zwischen der Mündung der Woikara und dem Chaipudirsk-
Busen beträgt 360 Werst (km); der Bau der Bahn
käme etwa auf 25 Millionen Rubel (ca. 50 Millionen Mark),
d. h. etwa 70 000 Rubel (140 000 Mark) für die Werst zu
stehen. Zur Voruntersuchung sind 50 000 Rubel (100 000 Mark)
nothwendig; die Summe ist dem Herrn Golochwastow schon
durch einige Kapitalisten zur Verfügung gestellt. („Nowosti".)
— Der Gelehrte und Reisende I. S. Poljäkow ist
nach dreijähriger Abwesenheit in den ersten Tagen Februar
in St. Petersburg wieder eingetroffen. Er hatte bekanntlich
den Auftrag, Sachalin eingehend zu erforschen: mit reichen
Materialien ist er heimgekehrt.
— Die Birmanen sind wieder in den Besitz der von
chinesischen Banden eroberten Stadt Bhamo am oberen
Jrawadi gelangt, wobei es in echt orientalischer Weise zu-
gegangen ist. Die Chinesen, denen es an Lebensmitteln
fehlte, sandten an den heranziehenden birmanischen General
Botschaft, und dieser bot ihnen 6000 Rupien und die Er-
laubniß, ihre Beute mitzunehmen, wenn sie die Stadt räu-
men und ihre beiden Anführer ausliefern wollten. Die
Chinesen erklärten, letztere lebend auszuliefern ginge nicht
an; sie wollten sie aber tobten und die Leichen herausgeben,
und als dies angenommen wurde, nahmen sie die Leichen
zweier am Fieber gestorbener Chinesen, geißelten dieselben,
so daß es aussah, als seien dieselben eines gewaltsamen
Todes gestorben, und sandten sie an die Birmanen. Dann
zogen sie ab. Die Birmanen schlugen zuerst die beiden Lei-
chen ans Kreuz und hielten dann ihren Einzug in die Stadt,
wo sie nichts eiligeres zu thun hatten, als die von den
Chinesen verschonten Häuser der Missionare zu plündern.
— Anfang März ist ein englisches Blaubuch über
Korea (Nr. 1) veröffentlicht worden, welches einen Bericht
über den Handel des Landes enthält, der aussichtslos
genug klingt. „Nature" (Nr. 802, S. 441) faßt den Inhalt
in folgende Worte zusammen: Handel giebt es dort nicht,
aber auch keine Wahrscheinlichkeit, daß er sich in Zukunft
entwickeln wird.
Afrika.
— Gelegentlich unseres Berichtes über Sachau's Reise-
werk („Globus", Bd. 45, S. 299) haben wir auf die nur
von der Gazellenjagd lebenden Slebi's der Syrischen Wüste
aufmerksam gemacht, von denen der Reisende einige Indivi-
duen sah. Es dürste nicht ohne Interesse sein, daß der
General Daumas im Gebiet von Eschul in der algerischen
Sahara einen Stamm erwähnt, der ebenfalls ausschließlich
256
Aus allen Erdiheilen.
aus Gazellenjägern besteht, und dessen Name, el-Lib,
offenbar derselbe ist, wie der des syrischen Stammes. Sie
haben weder Schafe noch Pferde, und leben so ausschließlich
von Gazellenfleisch, daß schon kleine Kinder damit gefüttert
werden; auch Zelte und Kleider bestehen aus Gazellenhaut.
Wenn eine Partie auf die Jagd auszieht, nimmt sie mit
Salz beladene Esel mit; die erlegten Thiere werden aus-
geweidet, innen tüchtig mit Salz ausgerieben und dann zum
Trocknen auf einen Dornbusch gehängt. So ziehen sie durch
die Wüste, bis alles Salz verbraucht ist und erst dann
kehren sie um und suchen die getrocknete Jagdbeute zusam-
men. — Daumas sagt übrigens nicht, daß die el-Lib körper-
lich irgendwie gegen die anderen Araber zurückstehen, wäh-
rend Sachau die von ihm beobachteten Slebi's als eine ganz
verkommene und verachtete Rasse schildert.
— In Anbetracht der in Ostafrika jetzt herrschenden
Hungersnoth und der Unmöglichkeit, Träger und Soldaten
in genügender Zahl anwerben zu können, hat die Association
Internationale beschlossen, die Expedition unter Lieutenant
Becker (vergl. vorigen Band, S. 288) einstweilen nicht ab-
gehen zu lassen. Lieutenant Becker hat bereits die Rückreise
nach Europa angetreten, während seine Gefährten noch in
Zanzibar bleiben.
— Dr. P e ch u e l - L ö s ch e hat (nach „Petermann's Mit-
theilungen", 1885, S. 101) während seiner jüngsten Reise im
Hererolande von Händlern, die aus dem Inneren kamen,
Nachrichten erhalten, wonach die dortigen hydrographischen
Verhältnisse in letzter Zeit bedeutende Veränderungen er-
litten haben. „Der Ngami-See ist ausgetrocknet, verschwun-
den; das Gethier ist ausgewandert oder verdorben, die
Vegetation vernichtet. Der Okavango fließt in den Zambesi,
desgleichen der Tamalakan. Näheres wird mir ein Boer
berichten, welcher jetzt seines Weges zum Zambesi zieht."
— Im Mai gedenkt Dr. Oskar Lenz im Auftrage
der „Wiener Geographischen Gesellschaft" eine Reise nach
den Stationen am mittleren Congo und von dort nach der
Wasserscheide zwischen Nil und Congo anzutreten,
wo er neben dem geographischen Zwecke auch denjenigen ver-
folgen will, Nachrichten einzuziehen über jene vier europäi-
schen Reisenden, Dr. Junker, Dr. Schnitzler (Emin-Bei),
Casati und Lupton-Bei, welche durch den Aufstand des
Mahdi an der Rückkehr aus dem Sudan nach Aegypten
gehindert wurden. Die Kosten der Reise sollen zum Theil
von der Geographischen Gesellschaft, zum Theil von der
Regierung und durch private Beiträge gedeckt werden. Ferner
soll Dr. G. A. Fischer im Aufträge von Dr. Junkcr's
Bruder dem verschollenen Reisenden nachspüren.
— Lieutenant Massari ist von seiner Recognoscirung
des unteren Kuango nach Leopoldville zurückgekehrt. Er
wurde überall von den friedlichen Einwohnern gut empfangen,
hat in Mbnsie eine Station errichtet und den Fluß bis 4°
südl. Br. befahren. Da Major von Mechow denselben von
Süden her bis etwa 5° südl. Br. verfolgt hat, so bleibt nur
noch das Stück zwischen 4° bis 5° zu erforschen.
Australie n.
— Die australische geographische Konferenz, die in Mel-
bourne abgehalten worden ist, hat beschlossen, vor nächstem
Mai eine wissenschaftliche Expedition nach Neu-Gninea
zu schicken; eine weitere Expedition soll die Spuren von
Leich Hardt und seinen Begleitern aussuchen.
— In dem Jahre vom Juli 1883 bis dahin 1884
exportirten die australischen Kolonien 2 112280 Ballen
Wolle. Davon entfielen 329 829 auf Victoria, 319 477 auf
Neu-Süd-Wales, 228000 auf Neu-Seeland, 121917 auf
Südaustralien, 74 018 auf Queensland, 27 000 auf Tas-
manien und 11439 auf Westanstralien. Nur ein kleiner
Theil im Werthe von 36 635 Pfd. St. ging im Jahre 1884
nach Belgien (33 092 Pfd. St.), Frankreich (1875 Pfd. St.)
und Deutschland (1668 Pfd. St.), alles übrige nach England.
— Früher hieß Südanstralien die Kupferkolonie. Die
Kurra-Kurra-, die Moonta-, die Wallaroo- u. s. w. Kupfer-
minen mit ihren reichen Erträgen sind bekannt genug ge-
worden. Das hat sich aber geändert. Seitdem die Tonne
Kupfer auf 59 Pfd. St. 10 Sh. gefallen ist, sind die Arbeiten
in den meisten Minen eingestellt worden und die, welche noch
fortarbeiten, lassen keinen Gewinn mehr übrig.
— Die Regierung der Kolonie Queensland hat vor
dem dortigen Parlamente die Erklärung abgegeben, daß,
wenn das Anwerben von Polynesien zu Arbeitern auf den
Zuckerplantagen im nördlichen Queensland nicht ohne Kid-
napping (gewaltsamen Raub), wie in letzter Zeit wiederholt
geschehen sei, abgehen könne, sie Willens sei, die Einführung
von Kanakas in Queensland gänzlich zu verbieten. Dagegen
werde sie die freie, resp. assistirte Einwanderung von
Arbeitern aus Europa in jeder Weise fördern. In der
großen Anleihe, welche die Kolonie jetzt wieder, meist für
Eisenbahnen, auf dem Londoner Geldmärkte kontrahiren
will, befindet sich auch ein Posten von 750 000 Pfd. St. für
Einwanderung aus Europa. Die Kolonie ist bereits mit
einer öffentlichen Schuld von 1037 Mark pro Kopf der Be-
völkerung belastet, und diese Höhe erregt um so mehr Be-
denken, wenn die Anleihen auch für unproduktive Zwecke,
wie Einwanderung, verwendet werden. Im Jahre 1883
trafen auf Kosten der Kolonie 26 725 Emigranten aus
Europa in Queensland ein.
Inseln des Stillen Oceans.
— Das deutsche Schutzgebiet auf der Nordostküste von
Neu-Gninea hat amtlich den Namen K a i s e r - Wil-
helms-Land erhalten; ein neu entdeckter Hasen unter
51/2 Grad südl. Br. in der Astrolabe-Bai wurde Friedrich -
Wilhelms-Hafen und eine Bucht in dessen Nähe P r i n z -
Heinrichs-Hafen getauft. Ersterer war bisher unbe-
kannt, da eine vorliegende Insel seine Einfahrt verdeckte;
diese, jetzt „Dallmannfahrt" genannt, wurde am 18. Oktober
1884 von dem der „Deutschen Ncu-Guinea-Gesellschaft" ge-
hörigen Dampfer „Samoa" zum ersten Male passirt. Die
Vegetation an jenen beiden Häfen wird als überaus üppig
geschildert; das Klima jedoch ist, wie begreiflich, für Nord-
europäer im hohen Grade ungesund. Inzwischen ist in Lon-
don auch die Grenze des deutschen Gebietes im Inneren der
Insel vereinbart worden. Danach bildet der 141. Längen-
grad von der Humboldt-Bai an bis zum 5. Grad südl. Br.
die Grenze zwischen deutschem und niederländischem Besitze.
Dort schließt sich die englisch-deutsche Grenze in einem stumpfen
Winkel an bis 311 dem Punkte, in welchem sich 8° südl.
Br. und 1470 östl. L. Gr. schneiden, und lauft von dort
längs dem 8. Grade südl. Br. bis zur Nordostküste bei der
Herkules-Bai. Danach wäre der deutsche Antheil an Neu-
Guinea nahezu so groß, wie der englische, während der
niederländische beide übertrifft.
Inhalt: Amazonas und Cordilleren. IX. (Mit acht Abbildungen.) — Leben in den Faktoreien bei Sherbro. II.
(Schluß.) — M. Willkomm: Das große Erdbeben in Andalusien. II. (Schluß.) — E. Metzger: Haiti. III. (Erste
Hälfte.) — Aus allen Erdtheilcn: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien. — Inseln des Stillen Oceans. (Schluß
der Redaktion: 24. März 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Herüeksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungeu und Postanstalten
zuin Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
Amazonas und C o r d i l l e r e n.
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wiener.)
X.
Am 7. Juli trat Wiener die Reise von Rioja nach
Pumbite an. Der Weg fuhrt durch den westlichen Theil
des gut bewässerten Moyobamba-Thales, eine üppige Vege-
tation verräth, welche Schätze hier im Schoße der Erde
ruhen und des Augenblicks harren, daß der Mensch sie
hebe. Am Rio Negro fand man noch die deutlichen Spuren
einer Ueberschwemmung, und es schien unerklärlich, wie ein
so ruhiger Bach so ungeheure Verheerungen hatte anrichten
können: auf einer Länge von einigen Dutzend Kilometern
hatte er das Land mehr als eine halbe Meile in der Breite
ganz überslnthet und der Strom hatte eine solche Gewalt
besessen, daß er Anpflanzungen verwüstet und Häuser mit
fortgerissen hatte. An dem Flusse befand sich ein kleiner
Indianer-Posten; einer der Leute verlangte den Paß Wiener's
zu sehen, beruhigte sich jedoch, als ihm einige unschuldige
Notizen vorgezeigt wurden. „Ihre Papiere sind in Ord-
nung", hieß es, „Sie können ihre Reise fortsetzen." Nicht
weit von dieser Stelle befindet sich der große Anstieg La
Ventana. Man ersteigt ihn, indem man länger als andert-
halb Stunden ans einer zickzackförmigen Felswand den
natürlichen Krümmungen des Abhanges folgt; wo der
natürliche Zusammenhang fehlt, haben die Indianer aus
Baumzweigen kleine Brücken gebaut; zum großen Theile
ist der Weg treppenförmig, nur hier und da giebt es zwischen
diesen übermäßig hohen Stufen horizontale oder wenig
geneigte Strecken. An einzelnen Stellen ist der Granit
durch Thonlagcn unterbrochen; in diesem Theile läuft der
Weg zwischen zwei 5 bis 6 m hohen Wänden, die kaum
Globus XLVII. Nr. 17.
einen Meter von einander entfernt sind, so daß man nur
eben hindurchkommen kann. Um 5 Uhr hatte Wiener die
Höhe erreicht, wo er seine Maulthiertreiber erwartete, die
aber nicht kamen, so daß er die Nacht, von allem entblößt,
im Freien lagern mußte; Grund genug, am anderen Morgen
früh aufzubrechen. Der Weg führte durch das Thal von
Aumbite in die Schlucht von Pucatambo, hier wurde der
Reisende von seinen Maulthicrtreibern, die der Bequemlich-
keit wegen in Visitador, am Fuße der Höhe von Ventana,
Halt gemacht hatten, endlich eingeholt.
Am 9. Juli wurde die Reise bis zu der Escalera dcl
Almirante fortgesetzt, wo in einem schlechten Logirhause
Quartier genommen wurde. Der Regen, der schon die
Nachtruhe gestört hatte, dauerte am nächsten Tage fort; der
Rio Salas war hierdurch so angeschwollen, daß er eine
Brücke weggerissen hatte, deren Herstellung einigen Aufent-
halt verursachte. Dieser Fluß, der sich zwischen den Granit-
wänden, aus denen die Masse des Tingoramos besteht, in
zahlreichen Krümmungen hinwindet, mußte dreimal über-
schritten werden, und gegen 7 Uhr Abends erreichte man
das nicht weit von seiner Quelle gelegene Hochthal von
Bagassan. Es war hier empfindlich kalt, das Wasser des
Salas, welches bei Almirante noch 13« warm war, hatte
hier nur noch 10«; die Lufttemperatur betrug um 11 Uhr-
Abends 5° und Morgens 4 Uhr nur -s- 1«. In diesem
Thale befinden sich einige Hütten, in welchen die aus Moyo-
bamba und Chachapohas Verbannten eine Zuflucht gefunden
haben. Bei einem dieser Flüchtlinge, der mit seiner Familie
33
258
Amazonas und Kordilleren.
und einigen Hunden in einer Grotte lebte, fand Wiener-
für die Nacht ein Unterkommen. Früh am nächsten Morgen
erfolgte der Aufbruch, um die Cordillere, welche die Pässe
von Bagafsan und Ventilla trennt, zu überschreiten. Zu-
nächst wurde der ungeheure Abhang vonCuipuguio erstiegen
und dann führte der Weg über die Höhe Pucaladrillo und
die Puna von Pichcüsaccha nach der Hochfläche Pichcu-
hainuscan, d. h. dem „Orte, wo die Vögel sterben". Auf
der ganzen Fläche kommt nicht der geringste Pflanzenwuchs
vor, da die furchtbaren Stürme denselben nicht aufkommen
lassen; hin und wieder erheben sich Kreuze zur Erinnerung
an Reisende, welche den Anstrengungen oder dem Wetter
erlegen sind. Als man das letzte Kreuz hinter sich hatte,
senkte sich der Weg über eine Reihe von Hochflächen nach
Guacauma, Tiutiu und Despacho abwärts, und Wiener
kam sehr ermüdet gegen 2 Uhr tut Thale von Ventilla an,
Indianer von Molinopampa. (Nach einer Skizze Wiener's.)
wo es immer noch ziemlich kühl war und Reif die Weiden
bedeckte. Weniger angenehm waren die Garrapatos, kleine
Zecken, welche das Blut aussaugen und an der ge-
bissenen Stelle ein empfindliches Jucken verursachen; wenn
man demselben durch Kratzen abzuhelfen sucht, läuft man
Gefahr, unangenehme Wunden zu bekommen. Von Ven-
tilla führt der Weg über einen letzten Berg und dann über
ausgedehnte Pampas zwischen Felsen, die ungeheuren erra-
tischen Blöcken gleichen; um 5 Uhr kam der Reisende nach
Molino Pampa. Dies ist der letzte Ort, ehe man
Chachapoyas erreicht; auf einer ausgedehnten, mit üppigem
Grün bedeckten Fläche erheben sich drei Kirchen und einige
fünfzig mit Stroh gedeckte Hütten; einige hundert Pferde
und Manlthiere, Herden von Schafen und Schweinen und
verschiedene, sehr schmutzige Indianer tragen dazu bei, das
Ganze zu einem typischen Andenbilde zu machen. Schöner
noch ist der Anblick auf das nahe Dorf Taolia, das auf
den Höhen, welche die Aussicht nach Südwest begrenzen,
Hauptkirche von Chachapoyas. (Nach einer Skizze Wiener's.)
260
Amazonas und Kordilleren.
liegt. Ein Fußweg, der mit seinen rothen Zickzacklinien
sich sehr auffallend von dem grünen Gelände abhebt, führt
da hinauf; gegenüber der großartigen Natur aber ver-
schwindet das Werk der Menschenhand.
Auch hier entstanden wieder Schwierigkeiten hinsichtlich
der Transportmittel, und es kostete ein ziemlich bedeutendes
Geldopfer, um den Gouverneur zu thätiger Hilfe zu ver-
anlassen. Der Weg nach Chachapoyas führt durch eine
wunderbare Gegend; er schlüngelt sich an senkrecht abfallen-
den Felswänden hin und aus der Tiefe des Abgrundes
Gräber bei S. Tomas. (Nach einer Photographie.)
ertönt das Brüllen des Gicßbaches, aber der Pfad ist
gefahrlos und wenn man frühzeitig aufgebrochen ist, kommt
man vor Einbruch der Dunkelheit ans Ziel der Reise.
Wenn man in Chachapoyas eintritt, glaubt man sich
einige Jahrhunderte zurückversetzt;
die fieberhafte Thätigkeit, die man
überall an den Küsten findet,
scheint nicht im Stande gewesen
zu sein, die Cordilleren zu über-
schreiten. Auf Verandas aus künst-
lich geschnitztem Holze sieht man
schöne Mädchen, aus deren Manta
ein träumerisches Auge dem Vor-
überziehenden nachschaut; in den
öden Straßen erweckt der Huf
des Maulthieres ein Echo wie in
einer Kirche, hier und da ist an
einem Hause ein Pferd angebun-
den, welches wiehert und sich
schüttelt, daß die silbernen Glöck-
chen ertönen, wenn es die An-
näherung der Thiere des Reisenden
bemerkt, und ans der Ferne ertönt
der sonore Kirchengesang, während
man noch den Weihrauchduft
athmet, ein Zeichen, daß ein
Priester, welcher unterwegs
war, um einem Sterbenden
das Viaticum zu reichen, hier
vorübergegangen ist.
Und doch litt diese friedliche Stadt unter den Unruhen
des Krieges und unter dem fortwährenden Wechsel der
Obrigkeit. Uebrigens zeigte man viel Theilnahme für
Wicner's Reise, der dagegen die Interessen der guten
Altes Haus in Jalca. (Nach einer Skizze Wiener's.)
Stadt Chachapoyas zu fördern versprach, so daß man ihm
nicht nur die für die Weiterreise nöthigen Transportmittel
lieferte, sondern auch für den guten Erfolg derselben in
der Hauptkirche ein Te Deum sang. Die Rede, welche
in Vertretung des abwesenden
Bischofs einer der Canonici,
P. Amaro, hielt, wurde einige
Monate später in verschiedenen
peruanischen und ecuatorianischen
Zeitungen veröffentlicht; sie
schilderte die Zustände im öst-
lichen Peru und athmete warme
Sympathie für Frankreich; ja
man ging sogar so weit, an den
französischen Gesandten in Lima
eine Adresse ähnlichen Inhaltes
zu richten. — Jetzt besitzt die
Stadt bereits die gewünschte Ver-
bindung mit der Außenwelt, Dank
der Anstrengung ihrer Bewohner;
diese Mittheilung, sowie eine
andere, daß ein neuer Hafen an
einem schiffbaren Nebenflüsse des
Amazonas, dem Calmapanas, im
Anschluß an den Weg angelegt
worden fei, gelangte 1883 direkt
an das auswärtige Ministerium
in Paris. Nachdem Wiener in
Chachapoyas noch den Anblick
einer Schar von sogenannten
Freiwilligen gehabt hatte, die gezwungen zur Armee stießen,
brach er ans, besuchte zunächst die Ruinen von Cuelap
und dann ein Bergwerk, welches unter der Leitung eines
Schweizer Ingenieurs, des Herrn Wertheman, steht.
Amazonas und Kordilleren,
261
In der Nähe der Wohnung desselben befinden sich
die Gräber der Erbauer von Euelap; diese Erinnerun-
gen an eine lange vergangene Zeit bilden einen auffallen-
den Gegensatz zu dem heutigen Zustande des Santo
Tomas genannten Ortes, welchem durch die Thätigkeit
des genannten Herrn eine glänzende Zukunft vorbehalten
zu sein scheint.
Die erwähnten Gräber gleichen wirklichen Häusern; sic
haben bis zu sechs Meter Höhe und manche besitzen zwei
Stockwerke; in den Mauern sind Fenster und Thüren an-
gebracht. Meist befinden sie sich in künstlichen Grotten.
Die Fußwege oder Treppen, die früher zu denselben führten,
sind zerstört worden, kein einziger Zugang besteht mehr.
Mit vieler Mühe glückte cs, eines dieser Gräber, welches
Bergwerk des Herrn Wertheman bei
es sind dort alterthümlichc Gebäude gut erhalten. Die
heutigen Indianer bewohnen diese Häuser; dieselben sind
rund und haben drei Meter im Durchmesser; die Mauern
sind vier Meter hoch. Einen halben Meter über der Erde
befindet sich eine Oefsnung, die als Thür und Fenster zu-
gleich dient; sie ist ungefähr zwei Meter hoch und achtzig
Eentimeter breit. Die Wände, die nach oben schwächer
werden, sind nicht senkrecht und der obere Durchmesser be-
trügt etwa zwei und dreiviertel Meter. Drei Meter über
dem Boden läuft ein sechs bis sieben Eentimeter hoher
Fries um das Haus herum. Unter den ziemlich einfachen
Ornamenten desselben nimmt die Mäanderlinie die erste
Stelle ein. Das Ganze ist mit einem kegelförmigen Stroh-
dache gedeckt, auf dessen Spitze sich blühende Blumen in
der Villa Santo Tomas gegenüber liegt, zu ersteigen; ans
den Wänden, die auf der äußeren Seite mit einer Art gelb-
lichen Stuckes bekleidet sind, befinden sich gut erhaltene
Malereien in rother Farbe; das Stcindach neigt sich, wie
bei den meisten, nach beiden Seiten; die Fugen sind mit sehr
hartem Mörtel ausgesüllt, Thür und Fenstergesimse aus
einer Holzart verfertigt, die man aus den wärmeren Thälern
herbeigeschafft hat, und vollständig erhalten. Im Hinter-
gründe der Grotten findet man, unter Moos und Gestrüpp
verborgen, Malereien in rother Farbe, Arabesken und Dar-
stellungen von Thieren, wie sie auch auf den Mauern Vor-
kommen. In der Nähe, nur ungefähr zwei Meilen ostnord-
östlich von Santo Tomas, findet man das kleine Dorf
J al c a, welches auch Reste der Vergangenheit bewahrt hat:
>. Tomas. (Nach einer Photographie.)
einem Topfe aus gebranntem Thon befinden. Es war dies
das erste Mal, daß Wiener während seiner Reisen Denk-
mäler einer längst verflossenen Zeit fand und der Anblick
einer großen Vergangenheit ließ ihn auf einen neuen Auf-
schwung der Civilisation in dieser Gegend hoffen.
Auf den ersten Blick scheint Santo Tomas gar nicht
von anderen Jndianerdörfcrn verschieden zu sein, aber ein
kurzer Aufenthalt genügt, um die Ueberzeugung zu ge-
wiimeu, daß die Eingeborenen hier arbeiten. Santo
Tomas liegt auf einer Terrasse; ein Bach, der in der
Nähe von' den Felswänden sich herabstürzt, liefert die
Triebkraft für die Stampfwerke. Das Gestein ist nicht
nur reich an Gold und Silber, sondern auch an Zinnober.
Herr Wertheman hat es verstanden, durch sein Talent die
262
Amazonas und Kordilleren.
fehlenden Hilfsmittel zn ersetzen; fo hatte er eine Telephon-
leitung angelegt, mittels deren man sich ans sechs Kilometer-
Entfernung verständigen konnte, und hatte eine elektrische Uhr
verfertigt; feine Arbeiter aßen von galvanisch versilberten
Tellern — ein starker Kontrast gegen die schmutzigen
Holzgcfäße, deren sich die Indianer gewöhnlich bedienen —
mit einem Worte, Wiener traf hier einen Einsiedler, der
über alle Hilfsmittel der Wissenschaft verfügte. Die näch-
sten Tage boten zunächst nur die allen Reisen dieser Art
eigene Gleichförmigkeit. Man mußte den Räubern gegen-
über, welche, wie man erfahren hatte, dies Land unsicher
machten, sehr auf der Hut fein; diese „Montoneras" (d. h.
Francs-tireurs) suchten Lösegeld von den Reisenden und
den Einwohnern zu erpressen und verübten alle Arten von
Grausamkeiten. Das Leben derjenigen, welche sie über-
raschten, zählten sie für nichts, sie tödteten ans einen Ver-
dacht hin. Auch Wiener suchten sie zu überfallen; einige
Kugeln wurden gewechselt; doch durch den Widerstand über-
rascht, zogen sich die Biontoneras zurück, nachdem sie zwei
ihrer Gegner verwundet hatten; wüthend hierüber setzten
ihnen die Begleiter Wiener's nach und es glückte ihnen,
einen Anführer der Banditen zn fangen, dem man fünf-
undzwanzig Stockprügel gab und nachher wieder laufen ließ.
Der Weg zwischen Santo Tomas und Cajamarca gleicht
allen anderen Wegen in den hohen Cordilleren; man kann
einen solchen Weg nicht eigentlich malerisch nenyen; die
Einförmigkeit in dieser unermeßlichen Welt überrascht zu-
erst, doch das Auge ermüdet durch die anhaltende starre
Balsa-Floß. (Nach einer Skizze Wiener's.)
Eintönigkeit dieser unfruchtbaren Gebiete; man findet höch-
stens einmal einen elenden Weiler und sieht keinen Men-
schen, keine menschliche Wohnung mehr, bis man das Thal
des Maranon erreicht, den man etwa sieben Meilen von
der Stadt Selendin überschreitet.
Vor feinem Eintritt in die Ebene ist der Maranon
oder Amazonas zwischen zwei gewaltigen Ketten der Cor-
dillercn eingezwängt. Das Niedersteigen von den Bergen,
welche den Strom gegen Osten begrenzen, dauert wenig-
stens sieben Stunden und während dieser Zeit sieht man
in dem gähnenden Schlunde den Fluß, der sich zwischen
zwei sandigen Ufern, deren Einförmigkeit hier und da durch
eine mächtige Vegetation unterbrochen wird, wie ein Me-
tallband hinschlüngclt. Ueberraschend ist es, in verschie-
dener Höhe die wechselnden Pflanzenzonen zu beobachten,
in denen die Gewächse einander folgen, wie wenn man aus
den nördlichsten Theilen Schwedens nach dem Centrum von
Afrika versetzt würde; aus der Hälfte des Abhanges ange-
kommen, kann man mit einem guten Fernglase auf der
gegenüberliegenden Cordillere die gleiche Erscheinung beob-
achten und bewundern. Gegen drei Uhr Nachmittags kam
man auf zickzackförmigen Wegen, die bald zwischen Kaktns-
pflanzen hinliefen, bald sich um eigenthümlich geformte
Felsblöcke schlängelten, auf dem Boden der Schlucht an.
Das Wasser des Maranon war sehr niedrig, gleichmäßig
geneigte Sandbänke dehnten sich an beiden Ufern ungeheuer-
weit aus. Eine zahllose Menge großer und kleiner Roll-
steine, sowie grobkörniger Kies zeugen von der Gewalt des
Stromes in der Regenzeit. An einer Stelle erweitert sich
das Thal bis zu einer Breite von etwa drei viertel Weg-
Amazonas und Cordilleren.
263
stunden und an dieser Stelle liegt auf dem rechten Ufer der
Weiler Balsa, auf dem linken User gegenüber eine Zucker-
plantage, die den gleichen Namen führt. Eine barfüßige
Dorfautorität erschien hier, mit einem ungeheuren Stocke
in der Hand, um Wiener seinen Paß abzufordern. Der
Name Balsa ist einer Holzart entlehnt, von der man Flöße
macht. Der Uebergang von einem Ufer zum anderen
findet in der einfachsten Weise statt, die man sich nur vor-
stellen kann; Balken von Balsaholz werden an einem Ende
an einander befestigt, an dem anderen Ende durch dazwischen
gefügte Hölzer fächerförmig aus einander gehalten; auf
diesen gebrechlichen Fahrzeugen wagen sich etwa zehn Per-
sonen in den starken Strom des Marañon; drei Flößer-
handhaben lange Stangen, um das Fahrzeug zu steuern.
Während der Regenzeit werden auch die Lastthiere in dieser
Weise übergesetzt, in der trockenen Jahreszeit führt man
dieselben durch eine Fuhrt.
Am nächsten Morgen früh wurde die Reise fortgesetzt
und um zwei Uhr erreichte man die kleine Stadt Selen-
tz in. In der Mitte der Dorfstraße befindet sich die male-
rische Ruine einer von den Spaniern auf dem alten Kirch-
hofe erbauten Kirche. Die neue Kirche, die viel weniger
hübsch ist, steht auf einem übermäßig großen Platze und ist
von Häusern umgeben; ein trauriger Ort übrigens dieses
Selendin trotz seiner breiten Straßen, seines herrlichen
Klimas und der prächtigen grünen Ebene, in der es liegt.
Am folgenden Tage schon brach Wiener nach Cajamarca
auf und gelangte an demselben Tage dorthin, an welchem
er, fünf Jahre früher, die Stadt verlassen hatte. Die letzten
zweinndfunfzig Lienes nach der Küste legte er in eben so
Trümmer der Kirche von Selendin. (Nach einer Skizze Wiener's.)
viel Stunden zurück, was mit Rücksicht aus die Verhältnisse
eine sehr große Geschwindigkeit genannt werden darf; am
darauf folgenden Tage brach er von Ascope auf und er-
reichte mit der Eisenbahn in zwei Stunden Trujillo. Hier
wurde er von den chilenischen Officieren sehr freund-
lich empfangen, Festlichkeiten zu seiner Ehre veranstaltet
und ihm große Aufmerksamkeit erwiesen: man verschaffte
ihm die Gelegenheit, ans einem Transportschiff die kleinen
Stationen an der Nordküste von Peru zu besuchen und so
Pacasmayo, Eten, Lambayeque, Terenafe, Sechura, Payta
und Piura kennen zu lernen. Alle diese kleinen Orte, die
sich auf Sandflüchen erheben, sehen einander sehr ähnlich;
überall sicht man niedrige Häuser, flache Dächer, Wände
aus Luftziegeln oder mit Lehm bedecktem Rohr; weiße,
verfallene Fanden und Kirchen mit platten Kuppeln. Die
größtentheils schwarzen Bewohner sind mürrisch und sorglos.
Nach neunzehn Monaten kehrte Wiener nach Guya-
quil zurück, nachdem er während dieser langen Zeit beinahe
ganz ohne Nachrichten von seiner Familie und seinen Be-
kannten geblieben war; er fand ungefähr zweihundert Briefe
vor und vernahm, daß Herr von Günzburg, den er von
den Huambizas am Morona ermordet glaubte, sich sehr
wohl befand und ruhig in Paris lebte, während er etwa
dreitausend Wegstunden zurückgelegt hatte, um eine Spur
von demselben zu finden. Eine Familiennachricht, die
Herrn von Günzburg erreicht hatte, als er im Begriff ge-
wesen war, vom Rio Bamba nach dem Morona aufzu-
brechen, hatte ihn veranlaßt, alle weiteren Pläne auszugeben
und nach Europa zurückzukehren. Dieser Zufall war also
die Veranlassung, daß Wiener die von jenem geplante
Reise zur Ausführung brachte und viel weiter ausdehnte;
die Untersuchung von acht weiteren Flüssen und das Stu-
dium der Verhältnisse der durchwanderten Gegend hatten
beinahe zwei Jahre gedauert.
264
E. Metzger: Haiti.
Haiti.
Von E. Metzger.
III. Vaudouxverehrung und Kannibalismus.
(Zweite Hälfte.)
Am 27. December 1863 lud Jeanne ihre Schwester,
die Mutter von Claircine, ein, sie nach Port au Prince zu
begleiten und das Kind, ein Mädchen von zwölf Jahren,
blieb mit Congo zu Hause; sofort, nachdem die Mutter weg-
gegangen, wurde Claircine zum Hause Julien's und von
da zu Floroal gebracht, wo man sie band und unter dem
Altar eines benachbarten Tempels versteckte. Die Mutter,
welche am Abend nach Hause kam, forschte nach dem Kinde;
man sagte ihr, es habe sich verlausen, worauf sie einen
Papaloi um Auskunft bat. Der sagte ihr, der Maître
d'Eau, der Wassergeist, habe ihre Tochter entführt, werde
sie jedoch in Kurzem wieder zurückgeben. Die Mutter
glaubte das oder schien es wenigstens zu glauben und
zündete auf Anrathen des Vaudouxpriesters auf dem Altar
der Jungfrau Maria einige Kerzen an, auf daß ihr Spröß-
ling bald zurückkehre.
Am Abend des 31. December versammelte sich eine
zahlreiche Gesellschaft im Hause Jeanne's, um die Ankunft
des Kindes zu erwarten, welches vier Tage lang gebunden
unter dem Altar gelegen hatte. Als die Henker in den
Tempel kamen, um sie zu holen, ahnte die Kleine das ihr
bestimmte Loos und stieß einen durchdringenden Schrei
aus, der bald unterdrückt wurde; man knebelte und band
sie und trug sie zu Jeanne's Haus, wo Vorbereitungen für
das Menschenopfer gemacht wurden. Sie wurde auf die
Erde geworfen, ihre Tante hielt ihre Hände, der Papaloi
drückte ihre Kehle zu, die Anderen hielten ihre Füße; ihr
Widerstand war bald besiegt, da Floroal sie würgte. Darauf
gab Jeanne ihm ein großes Messer, mit welchem er den
Kopf Claircine's abschnitt; das Blut wurde in einem Kruge
aufgefangen, dann soll Floroal die Haut mit einem In-
strument gelöst haben. Nachdem man dieselbe dem Opfer-
abgezogen hatte, wurde das Fleisch von den Knochen ge-
schnitten und in große hölzerne Schüsseln gelegt, Einge-
weide und Haut wurden in der Nähe des Dorfes vergraben;
dann ging man nach dem Hause Floroals, wohin man die
lleberreste des Opfers mitnahm. Bei ihrer Ankunft setzte
Jeanne eine kleine Schelle in Bewegung, man bildete eine
Procession, das Haupt der Gemordeten wurde ihr voran-
getragen und ein religiöses Lied gesungen; hierauf wurden
alle Vorbereitungen zu einer Festlichkeit getroffen. Durch
den Lärm waren eine Frau und ein Kind, welche in einer-
anstoßenden Kammer schliefen, erweckt worden; neugierig
spähten sie durch einige Ritzen in der Wand und sahen
alles, was vorging. Jeanne kochte das Fleisch mit Congo-
bohnen, die klein und ziemlich bitter sind, während Florsal
den Kopf mit Pams in einen Tops that, um daraus Suppe
zu bereiten. Während die Anderen in der Küche beschäftigt
waren, schnitt eine Frau, Roseide Sumera, welche ihren
Heißhunger nicht bändigen konnte — sie hat es später in
öffentlicher Gerichtssitzung bekannt — ein Stück Fleisch
von der Hand des Opfers ab und aß es roh. Nachdem
das Essen gar war, wurden die Portionen unter die An-
wesenden vertheilt, ebenso die Suppe, welche mit Begierde
geschlürft wurde. Die Nacht wurde unter Essen, Trinken
und Ausschweifungen verbracht. Am Morgen wurden die
Reste des Mahls aufgewärmt und die beiden Zeugen zur
Theilnahme an demselben aufgefordert; die junge Frau kam
dieser Einladung nach; das Mädchen weigerte sich es zu
thun. Doch hiermit war die Begierde der Kannibalen
noch nicht gesättigt; der Priester ließ nun das junge Mädchen,
welches in der Nacht die Vorgänge bespäht hatte, binden
und in den Tempel bringen, um sie am Drei-Königstage zu
opfern. Es ergab sich, daß sie zu diesem Zweck in das
Hans, wo das schaurige Mahl gehalten wurde, gelockt
worden und unter Obhut der jungen Frau gestellt worden
war. Glücklicherweise für das zweite Opfer war durch
die Nachforschungen, welche Claircine's Mutter angestellt
hatte, und das Verschwinden eines zweiten Kindes die Auf-
merksamkeit eines Polizeibcamtcn erregt worden; Nach-
forschungen wurden angestellt; den frisch gekochten Schädel
des ermordeten Mädchens fand man im Gebüsch neben
Floräal's Hause und auch das gebundene unter dem Altar-
versteckte Kind sowie die lleberreste Claircine's wurden ent-
deckt. Vierzehn Personen wurden festgenommen, gegen acht
derselben waren die Beweise stark genug, um sie vor Gericht
zu stellen. Die Gerichtssitzung fing am 4. Februar 1864
an und dauerte zwei Tage. Acht Personen, vier Frauen,
vier Männer vom gewöhnlichen haitischen Typus, wurden
vor die Schranken geführt. Einige von ihnen hatten im
Dienste von Ausländern gestanden, andere waren Gärtner-
oder Waschfrauen. Die Gefangenen wurden, wie unser
Autor, der natürlich die Gelegenheit benutzt, um sich für
das englische Verfahren auszusprechen, bemerkt, mit allerlei
Fragen gequält und eingeschüchtert, um das, was sie
in der Voruntersuchung ausgesagt hatten, in öffentlicher
Gerichtssitzung zu bestätigen. „Ja", ries die jüngste
der angeklagten Frauen dem öffentlichen Ankläger zu, „ja,
ich habe gestanden, was Sie sagen, aber erinnern Sie sich,
wie grausam ich geschlagen wurde, ehe ich ein Wort sagte."
Wirklich hatten anfänglich die Gefangenen jede Antwort
verweigert, weil sie aus den Schutz der Baudoux rechneten,
und man hatte häufigen Gebrauch von der Keule der Wächter-
gemacht, um ihnen diesen Glauben auszutreiben und ihre
Zunge zu lösen. Uebrigens sind in Haiti wohl schon weniger
gegründete Geständnisse durch Martern erzwungen worden,
als in dieser Sache der Fall war; auf dem Tische vor dem
Richter lag der Schädel Claircine's, in einem Kruge
befand sich der Rest der Suppe, die Knochen lagen da und
die Aussagen der Zeugen waren zu genau und umständlich,
um irgend welchem Zweifel an der Wahrheit des Geständ-
nisses Raum zu geben. Die wichtigste Zeugin war das
junge Mädchen, welches die Ceremonie mit angesehen hatte
und zum zweiten Opfer bestimmt war. Der Richter rief
es an feine Seite und forderte es auf, die Vorgänge, die es
mit angesehen, zu erzählen; aber mit entsetztem Blick fuhr
E. Metzger: Haiti.
265
cs auf und brach in Thränen ans, denn die Gefangenen
hatten es durch teuflische Grimassen zu erschrecken gesucht.
Der Richter (dem wegen der geschickten und würdigen
Leitung der Verhandlung hohes Lob gespendet wird) rief
die Kleine zu sich, und seiner Freundlichkeit gelang es, sie
zu beruhigen; sie erzählte die Geschichte mit allen schrecklichen
Einzelheiten, dann aber verließen sie die Kräfte, so daß
sie nicht im Stande war, weitere Fragen zu beantworten
und man sie aus der Sitzung entfernen mußte.
Hierauf folgte die Aussage der jungen Frau, welche am
Morgen nach dem Feste sich am Mahle betheiligt hatte, die
Erklärung der Mutter des Opfers und andere Zeugen, und
endlich auch machte eine der Angeklagten, in der Hoffnung
Gnade zu erwerben, die umfassendsten Mittheilungen. Jeanne
hatte während der Sitzung ihre vollkommene Ruhe be-
wahrt, am Schluß bat sie um Gnade: sie habe nur gethan,
was ihre Mutter sie gelehrt habe; es sei die Religion ihrer
Voreltern. Warum sie doch gelobtet werden solle? Sie
habe nur den alten Gewohnheiten nachgelebt.
Alle acht Angeklagten wurden zum Tode verurtheilt und
die Strafe wurde am 13. Februar, einem Markttage,
vollzogen. Alle, in weiß gekleidet (wie die Vatermörder),
wurden zur Richtstätte geführt, wo die umfassendsten Vor-
kehrungen gegen etwaige Bcfrciungsvcrsnche (mit denen man
gedroht hatte) getroffen waren; alle starben muthig, ohne
Zittern, ohne Schmerzensschrei; eine der Frauen, die noch
nicht todt war, winkte den Soldaten näher zu treten, ergriff
einen Musketenlauf und setzte sich selbst die Mündung auf
die Brust. Trotzdem starke Wachen aufgestellt waren,
wurden einige der Körper in der nächsten Nacht gestohlen.
Geffrard hatte sich in dieser Sache energisch geweigert,
Gnade zu gewähren, trotzdem er sehr wohl wußte, daß er
dies auf Kosten feiner Popularität thue. Es glückte ihm,
die Baudoux etwas vorsichtiger zu machen; aber unter seinen
Nachfolgern erhob die Sekte ihr Haupt wieder, und jetzt
scheint man solche Sachen nicht sehen zu wollen, ja ein
gegen die Vaudoux-Verehrung erlassenes Dekret ist wieder
zurückgenommen worden.
Wir können hier nicht weiter auf diese Art des Kanni-
balismus eingehen — das Buch Spenser St. John's ent-
hält zahlreiche Beispiele —, sondern müssen eine andere,
wo möglich noch abscheulichere erwähnen: die reine Men-
schenschlächtcrei als Handelsgeschäft.
Daß ein solcher Handel mit (nicht lebendigem) Menschcu-
fleisch auf der Küste von Afrika vorkommt, ist bekannt'),
und auch diese Gewohnheit hat man nach Haiti verpflanzt.
Eine Dame, die Wittwe eines Missionars, hatte nach dem
Tode ihres Gatten wegen des Aufstandes, der in der Um-
gegend tobte, im Inneren der Insel sich aufhalten müssen;
sie erklärte, daß nicht nur fortwährend Menschenopfer ge-
bracht wurden, sondern daß man auch Menschenfleisch öffent-
lich verkaufte; ähnliche Sachen kamen auch unter Sonlou-
gue's Regierung vor und sind so gut verbürgt, daß kein
Grund besteht, an den eben erwähnten Mittheilungen zu
zweifeln. Ein angesehener französischer Kaufmann sah,
daß Polizeifoldaten, welche einen Gefangenen eskortirten,
denselben mit ihren Keulen stark mißhandelten. Er fragte
nach dem Grunde; statt aller Antwort hießen sie ihren Ge-
fangenen den Korb, den er trug, öffnen und er sah nun
den kunstgerecht zerlegten Körper eines Kindes. Ein sehr
angesehener Bürger aus Haiti erzählte unserem Autor-
folgende Geschichte aus der Zeit der Regierung Soulonque's.
Einer feiner Bekannten war mit seiner Frau auf dem
') Siehe Hutchinson's Aufsatz in "Transactions of the
Ethnological Society. Neue Folge. I, 338.
Globus XLVII. Nr. 17.
Lande; sie wurde unwohl und beide bestiegen ihre Pferde,
um nach der Stadt zurückzukehren. Bei Sonnenuntergang
brach ein furchtbarer Sturm los, der sie zwang, in einer-
nahen Hütte ein Obdach zu suchen, wo sie zwei Männer
und eine Frau antrafen. Das Unwohlsein der Reisenden
steigerte sich, ihr Mann entschloß sich, Hilfe herbeizuschaffen,
doch es dauerte lange, ehe er zurück kam. Er traf seine
Frau nicht mehr in der Hütte und die Bewohner, die er
befragtc, erklärten: unruhig über seine lange Abwesenheit
habe sie sich auf den Weg gemacht. Er sagte kein Wort
weiter, sondern begab sich nach der nächsten Polizeistatiou,
deren Mannschaft er um Beistand bat; die Hütte wurde
umzingelt, die Bewohner arretirt und das Haus durchsucht;
in einem Schuppen fand man in einem Faß den zerstückelten,
schon mit einer dicken Salzlage bedeckten Körper der Frau.
In einem der Lokalblätter las Spenser St. John folgende
Geschichte: In Jacqmet an der Südküste lag eine alte
'Frau, eine Hebamme, auf dem Todtenbctt; die Nachbarn
umstanden sie und verwunderten sich über den langen Kampf,
die Alte schien nicht sterben zu können. Endlich sagte sie:
„Ich kann nicht ruhig heimgehen; stellt mein Bett zur
Seite und grabt nach." Das that man und fand eine
große Zahl kleiner Skelette, welche, wie die Alte sagte, die
Ueberreste von Kindern waren, die sie gegessen hatte. Daß
solche Greuel bis in die letzte Zeit vorkommen, haben wir
schon in der Einleitung erwähnt. Die loups garrous, die
Werwölfe, vor denen die Haiticr eine abergläubische Furcht
haben, entpuppen sich häufig als alte Neger, die Kindcr
stehlen — gewöhnlich nur Kinder von Einheimischen, doch
kommen auch Fälle vor, daß Kinder von Weißen ange-
griffen jwerden. Gegenüber solchen Verbrechen erscheinen
andere, unter denen namentlich der Giftmord eine große
Rolle spielt, relativ klein; häufig aber kommen Vergiftungen
auch im Interesse des Kannibalismus vor. Eine Dame
hörte, daß ein Kind in ihrer Nachbarschaft krank war; sie
ging hin, sich von seinem Zustande zu überzeugen, und fand
es betäubt in seiner Mutter Schoß. In der Dame erhob
sich ein Verdacht, sie befragte die Mutter eindringlich, erhielt
jedoch nur ungenügende Antworten, weshalb sie sich ent-
schloß, die weiteren Vorgänge genau zu beobachten. Am
Abend sprach sie wieder vor, das Kind war todt. Sie be-
stand darauf, die Leiche zu sehen und beobachtete, daß, obwohl
Herzschlag und Athembewcgung nicht zu bemerken waren,
das Kind nicht das Aussehen einer Leiche hatte; eine
Aeußerung, die sie in dieser Beziehung machte, wurde von
den Umstehenden zurückgewiesen; „ja, es ist todt", hieß es.
Am anderen Tage, als die Dame mit ihrem Mann zurück-
kehrte, war das Kind begraben; sie ließen das Grab öffnen
und fanden den Sarg ohne Leiche. Durch solche Mittel
sollen die Papalois sich oft Opfer verschaffen, die sie näm-
lich durch ein Gift fcheintodt machen, um hinterher den
Körper für ihre Zwecke aus dem Grabe zu rauben.
Man hört häufig auf Haiti die Bemerkung „Ei gagné
chagrin", welche manchmal sich auf eine bekannte Ursache
bezieht, öfter aber auf eine unbestimmte „Anämie des Geistes"
angewendet wird, auf eine Person, die theiluahmlos sich
weder um ihre Umgebung noch um sich selbst zu kümmern
scheint. Wenn man fragt, was mit dem Patienten ge-
schehen sei, wird mau gewöhnlich hören, daß die Umgebung
es nicht weiß; inquirirt man aber unter vier Augen schär-
fer, so folgt wahrscheinlich die Antwort, daß der Betreffende
^anga — ein allgemeiner Name für Gift, Liebestränke
und Zaubermittel — bekommen hat.
Die Anzahl der auf der Insel vorkommenden Gift-
pflanzen ist sehr groß und es ist ganz gewiß, daß die
Papalois in ihrer Praxis einen ausgedehnten Gebrauch von
34
266
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
denselben machen. In französischen botanischen Werken sind
Angaben über diese Pflanzen veröffentlicht und ein weiteres
Studium derselben würde mit Rücksicht auf ihre Wirkung
gewiß Empfehlung verdienen. Warum sollen die Papalois
nicht ebensowohl die Wirkung der Pflanzen von Haiti
kennen, als die Indianer von Peru und Bolivia mit der
specifischen Wirkung der Cinchonarinde und der Coca-
blätter bekannt sind?
Skizzen au
Von W.
4. Kons
Wenige Städte haben eine so eigenthümliche Lage, wie
die alte Herrenstadt des östlichen Algeriens, und wenige
sind so verschiedenartig und vielfach so unrichtig geschildert
worden. Ein Adlerhorst auf schwindelnder Höhe, eine in
den Aether hinausgeschobene Halbinsel, eine Säule sogar,
die man, um das Umfallen zu verhüten, durch ein schmales
Landband an das feste Gebirge befestigt hat, das sind die
gewöhnlichen Ausdrücke, durch welche enthusiastische Touristen
die Situation von Konstantine zu verdeutlichen streben.
Sie haben eine gewisse Berechtigung, wenn man die Stadt
von den ihr nördlich gegenüberliegenden Hügeln jenseits
des Rummelthales betrachtet, denn dann sieht man vor sich
eine ungeheure Felsenmasse, senkrecht wohl 1000 Fuß auf-
ragend, am Rande von den Mauern der Kasbah gekrönt,
dem einzigen Theile der Stadt, den man sieht; aber zur
Linken geht diese Felsenmasse ganz unmerklich über in die
hohen aufsteigenden Lchmhügel von Koudiat Ati, zur
Rechten wird sie von der ebenfalls beträchtlich höheren
Felsmasse von Sidi Me cid allerdings durch den tiefen
Spalt des Rummel geschieden, aber dieser ist so schmal
und das Auge dringt so wenig tief in ihn hinein, daß er
die Einheit der Felsenmassc nur unmerklich unterbricht und
auch von hier ans die Stadt auf einem Felsenplateau ge-
legen erscheint, das an beiden Seiten von höheren Bergen
flankirt wird. Kommt man von Süden, den Rummel her-
unter, so ist dieser Eindruck noch viel auffallender, denn
hier ist der Felsen viel niedriger; kommt man mit der
Bahn, so erscheint die Stadt ans einer ansteigenden Hoch-
ebene in gleicher Höhe gelegen und erst, wenn nian unmittel-
bar an der Rummelschlucht steht, erkennt man die grausige
Tiefe, welche die Stadt von den Höhen von Sidi Mecid
trennt.
Konstantine liegt ans einer der Kalkmassen, wie sie, der
Kreidezeit angehörig, im westlichen Nordafrika so zahlreich
sind. Ihre Schichten fallen stets nach Süden ein und
brechen in Folge der Wegspülung der leichter verwitternden
Schiefer oder Mergel nach Norden wie nach Süden steil
ab; ein grün bewachsener Schuttkcgel reicht meist bis zu
beträchtlicher Höhe an ihnen empor; die Nordseite ist dem
Fallen der Schichten entsprechend beträchtlich höher als die
Südseite. Das Gestein ist nur selten gleichmäßig, weichere
Schichten und Adern ziehen sich hindurch, für den Schneckcn-
sammler leicht zu erkennen, denn an ihnen macht er stets
eine reichere Ausbeute, als an den marmorartig harten
Partien. Hier legt sich die Kalkmasse gerade quer vor
das Thal des Rummel, die Bergmassen des Dschebel
Nasch und des Schettaba verbindend, und sperrt den
Wassern, die von der Hochebene kommen, den Ausgang.
Ein See mußte sich hier bilden, dessen Wasser immer höher
stieg, bis es an einer Einsenknng zwischen dem Dschebel
s Algerien.
Kobclt.
t a n t i n e.
Mecid und dem Felsen, der die Kasbah trägt, einen Aus-
weg fand und als mächtige Kaskade über den Nordrand
des Felsricgels hinabstürzte. Das ist schon lange her,
denn in den Schichten, welche dieser See absetzte, finden
sich nur Landschneckenarten, die mit der heutigen algerischen
und europäischen Schneckenfauna nichts gemein haben und
deren nächste Verwandten heute anscheinend in Westindien
leben. Sie gehören vermuthlich dem Ende der miocünen
oder dem Anfang der pliocänen, jedenfalls aber der ter-
tiären Epoche an und sind älter, als die jüngeren Tertiär-
schichten der Sahara, welche dem französischen sogenannten
Saint-Prestien entsprechen. Schon damals begann natür-
lich die Kaskade in den Felsen einzuschneiden. Vielleicht
traf sie hier aus eine weichere Schicht, vielleicht sogar auf
Höhlenbildungen, welche ihr die Arbeit erleichterten, kurzum,
sie sägte den Felsen nach und nach so tief durch, daß die
Gewässer des Sees ablaufen konnten und die schaurige
Schlucht entstand, welche heute die Stadt vom Bahnhöfe
trennt.
Eine ganz ähnliche Bildung können wir in dem anda-
lusischen Ron da beobachten. Auch diese Stadt liegt, wenn
man das Thal heraufkommt, auf einem 1000 Fuß tief
senkrecht abstürzenden Felsen, der durch eine schmale Kluft,
den Tajo di Ronda, gespalten ist, aber von der anderen
Seite betritt man die Stadt zu ebener Erde, auf einer
Hochebene hingehend, welche der wasserreiche Guadalvin
friedlich durchsließt. Erst in der Stadt stürzt der Fluß in
schäumender Kaskade durch den engen Spalt, den er selbst
in den Konglomeratfelscn gegraben, hinunter, großartiger noch
als der Rummel, denn das Auge kann mit einem Blick
die schäumende Wassermasse vom Beginn des Tajo bis
hinunter zum letzten hohen Wasserfall am Ausgange über-
schauen. Der Unterschied von Konstantine liegt nur darin,
daß die Hochebene von Ronda in ihrer geologischen Be-
schaffenheit gleichmäßiger ist, als das nordafrikanische
Hochplateau, und sich darum kein Seebecken hinter dem
hemmenden Riegel bildete. Vielleicht ist auch die Rummel-
schlucht älter, als der Tajo di Ronda, oder ist das Geltein
an dem letzteren widerstandsfähiger; jedenfalls wird mit
der Zeit der Guadalvin sich auch noch tiefer einfressen und
dann die Lage von Ronda der von Konstantine noch ähn-
licher werden.
Ans Vorstehendem geht auch hervor, daß Konstantine
als uneinnehmbare Festung nur gelten konnte, so lange
keine Artillerie ins Spiel kam; damals war die Stadt frei-
lich von drei Seiten völlig sturmfrei und die schmale Land-
verbindung nach Kudiat Ati hin leicht zu vertheidigen.
Trotzdem ist sie häufig genug eingenommen worden; feit»
der Erfindung des Schießpulvers aber ist die von drei
Seiten her ans nächster Nähe von überragenden Höhen
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
267
beherrschte Stadt absolut unhaltbar geworden, und nur dem
mohammedanischen Fanatismus konnte es eigentlich ein-
fallen, sie gegen einen mit überlegener Artillerie versehenen
Feind, welcher die Anhöhen von Kudiat Ati und Mansurah
besetzt hatte, zu vertheidigen. Jetzt freilich, wo diese beiden
Höhen sowie Sidi Mecid von Festungswerken gekrönt
werden, bietet Konstantine wieder eine ganz respektabel
feste Position, die nur durch eine langwierige reguläre
Belagerung genommen werden könnte.
Ein prächtiger Blick bietet sich dem Besucher Konstan-
tines von der Brücke aus, welche dicht neben der Stelle des
altrömischen Stcinbancs, der, von den Arabern unvoll-
kommen restaurirt, in 1857 zusammenbrach, die Ufer der
Schlucht verbindet. Zwischen den beiden gewaltigen Felsen-
pfeilern am Ausgange hinaus sieht Ulan hinab in das mit
grünen Baummassen erfüllte Rummelthal und darüber hin-
weg über das Hügelland bis zum Col des Oliviers,
ein wunderbarer Gegensatz zu den nackten weißgrauen
Felsen ringsum. Schaut man aber über die Brüstung
hinunter, so sieht man mit Erstaunen in geringer Tiefe
unter sich grünen Rasenboden, eine der natürlichen Brücken,
welche die Rummelschlucht nach ihrem Ausgange zu über-
spannen, entweder Reste eines früheren Höhlendaches, oder
auch festere Schichten, unter denen schwächere hinweg ge-
spült wurden, ehe das Wasser ihr hartes Gestein hatte
durchsägen können. Auf der anderen Seite der Brücke
dagegen taucht der Blick bis hinunter in die trüben Wasser
des Rummel — falls solche noch vorhanden — gegen sechs-
hundert Fuß tief und kann weithin der Schlucht folgen,
deren Rand entlang die Lohgerber Konstantines ihr übel-
riechendes Handwerk treiben und die bunten Geier unauf-
hörlich und ruhelos auf und ab fliegen. Auch hier erkennt
man, daß das Wasser nicht immer gleichmäßig auf den
Felsen gewirkt hat; ein schmaler Absatz zieht sich wohl in
der Hälfte der Tiefe an beiden Seiten der Schlucht entlang
und der tiefere Theil ist kaum halb so breit wie der obere.
Von einem „nächtlichen Dunkel, an welches das Auge sich
erst gewöhnen muß und in welchem Eulen umherflattern",
wie das einer der neuesten deutschen Schriftsteller über
Algerien hier beobachtet hat, ist in einer von Norden nach
Süden laufenden Schlucht selbstverständlich keine Rede.
Wer nur kurze Zeit auf Konstantine zu verwenden hat,
der kann in einer einzigen halbtägigen Exkursion die Stadt
von allen Seiten betrachten. Man wendet sich von der
Brücke ans links bergan, dem mächtigen Bauwerke zu, das
als Collège franco-arabe errichtet worden ist, aber bei dem
Mangel arabischer Schüler eben als Hospital dient. Die
ganze Mulde zwischen den Höhen von Mansurah und Sidi
Mecid ist mit einem erst seit wenigen Jahren angepflanzten
Walde erfüllt, der auch nach beiden Seiten die Höhe hin-
aufklettert; im Schatten der schon ziemlich hoch aufge-
schossenen Strandkiefern kommen nun auch Eschen und
Eichen gut fort; während unmittelbar daneben derselbe
Felsbodcn zwischen den Kaktushccken vollkommen nackt ist,
hat er sich im Walde schon mit einer dichten Grasdecke
überzogen und liefert wieder den Beweis, wie leicht es
wäre, selbst unter anscheinend ganz ungünstigen Verhält-
nissen, in den Mittelmeerländern wieder Wald aufzubringen.
Nach kurzem Steigen steht man am steilen Absturz nach
dem reizenden Thalwinkel von Sidi Mecid. Zu beiden
Seiten bilden die Schichtenköpfe, ungleich abbrechend, Riesen-
treppen, die nach den Forts, welche die Höhen krönen,
emporsteigen; ans ihren Stufen kann man zur Linken fort-
gehen, bis man sich urplötzlich an der scharfen Ecke sieht,
wo die Rnmmelschlucht einschneidet. Gegenüber stürzt von
der Kasbah die senkrechte Felscnwand über tausend Fuß
hinab, auch unter uns ist die Tiefe nicht viel geringer, und
der mächtige Dampfschlot der Moulin Lavie erscheint
wie ein Spazierstock, den man dahingesteckt, nur leise tönt
das Rauschen der Rummelkaskade herauf. Wer schwindel-
frei ist, kann unbedenklich seinen Weg in die Schlucht hinein
fortsetzen; dem Felsenbande folgend, gelangt er aus die
natürlichen Brücken und findet nahe der Brücke el Kan-
tara einen Pfad, der ihn wieder ins Freie hinaufführt.
Wer das nicht will, kehrt wieder zurück zur Einscnknng
und steigt auf steilem, aber nicht unbequemem Zickzackpfade
hinunter in die Mulde, welche sich hinter den Felsen schmiegt.
Hier, abgeschieden von der Welt, nach allen Seiten ge-
schützt, entspringen die warmen Quellen von Sidi Me-
cid, aus denen die Fürsorge des Herrn Lcdoux-Drot ein
reizendes Wildbad geschaffen hat. An einer ganzen Menge
Punkten rieselt warmes Wasser von durchschnittlich 3Z0 C.
aus dem Felsen hervor. Die Hauptquelle hat die Stärke
eines kleinen Baches und füllt ein halbkreisförmiges Bassin
von 40 m Durchmesser, das, von hohen Bäumen um-
schattet, ein herrliches Schwimmbad bietet. Schwächere
Quellen haben Grotten in dem Felsen gebildet und sind
durch einige Nachhilfe in die reizendsten Badezimmerchcn
umgewandelt worden. Die Krone des Ganzen ist aber
das Damenbadebassin. Nie habe ich ein Plätzchen ge-
sehen, daß so den Eindruck eines Nymphenheiligthumes
macht. Ein riesiger Feigenbusch, dicht an den Fuß des
Felsens angedrückt, überschattet mit seinen großen glänzen-
den Blättern ein Becken, das, zur Hälfte in den Felsen
hineingearbeitet, ganz wie eine natürliche Grotte aussieht;
emporrankende Schlingpflanzen und ans den Felsspalten
nickende Farrnkräuter vollenden die Täuschung und das
bläulich schillernde, leicht nach Schwefel riechende Wasser-
ist so wunderbar klar, daß man sedes Steinchen auf dem
Boden erkennt und sich erst durch Messen mit dem Stock
überzeugt, daß die Tiefe vier Fuß beträgt.
Aber nur die Französinnen frequentiren dieses Bad;
für die Jüdinnen und Maurinnen hat ein anderes mehr
Anziehungskraft, das wenige Schritte davon ganz in dem
Felsen drin liegt. Die Quelle, Bur mal er Rabba
genannt, steht seit uralter Zeit in dem Rufe, der Unfrucht-
barkeit der Frauen, diesem gefürchtetsten Unglück im Orient,
abhelfen zu können, und so kommen an mehreren Wochen-
tagen die eingeborenen Damen aus Konstantine herab nach
Sidi Mecid, schlachten vor der Thür der Grotte ein
schwarzes Huhn, opfern im Inneren noch eine Wachskerze
und einen Honigkuchen, nehmen ein Bad und sind dann
sicher, daß ihre Wünsche bald in Erfüllung gehen. Der
Gebrauch ist jedenfalls altheidnisch, wenn auch die Moham-
medaner ihn an einen obskuren Heiligen, von dem Berg
und Quellen jetzt den Namen tragen, knüpfen, denn solche
Thieropfer sind dem Islam fremd, uralte Berbersitte H.
Römerreste sind merkwürdiger Weise hier noch kaum ge-
funden worden. Von Sidi Mecid aus führt ein bequemer,
U Hooker und Ball in ihrem köstlichen, leider in
Deutschland wenig bekannten Reisebericht aus dem Atlas er-
zählen von den Scheluh ähnliche Gebräuche. Als Hooker gegen
den Willen seines Führers zu dem Kamm des Tagherut-
Passes emporstieg und sich ein schwerer Sturm erhob, schlachtete
der Führer einen eigens deshalb mitgenommenen Hahn, um
die erzürnten Dschin zu beschwichtigen. — Später kam in
Arround ein Trupp Berbersrauen zu den Reisenden und
schlachtete vor ihren Füßen einen Hammel, um ihre Fürsprache
für die in Marokko gefangen gehaltenen Männer zu erflehen.
Ebenso opfern nach Sabatier die freien Scheluh vom Stamme
der Alt H amid einem Flußdämon alljährlich zwei Stiere und eine
Schüssel Kuskussu, damit er von ihnen das pcrniciöfe Wechsel-
fieber abhalte.
34*
268
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
zum Theil in den Felsen gehauener Pfad dem steilen Ab-
sturz entlang zum Ausgange der Rummelschlucht. Der
Fluß hat hier den größten Theil seines Wassers für den
Mühlgraben der Moulin Lavie abgeben müssen und füllt
nur noch ein paar Rinnen, von denen die größte durch eine
kleine Brücke überspannt wird. Das Flußbett wird von
einer horizontalen Kalkschicht gebildet, die, härter als der
Rest des Felsens, dem nagenden Wasser bis setzt siegreich
widerstanden hat. Wenige Schritte weiter stürzt sie senk-
recht ab und über sie tost der Rummel vielleicht fünfzig
Fuß tief hinab in ein Becken, dem auch von der anderen
Seite her das Wasser des Mühlgrabens als schäumende
Kaskade zuströmt. In die schaurige Kluft kann man, wenn
der Fluß nicht gerade ungewöhnlich wasserreich ist, bequem
vordringen bis unter der ersten natürlichen Brücke hin-
durch ; da aber dem Rummel alle die Abflüsse der Konstan-
tiner Kloaken zufließen und alle Abfälle der Gerbereien
in die Schlucht geworfen werden, ist der Spaziergang in
die Schlucht hinein mehr interessant als angenehm. Gerade
am Ausgange liegt zwischen Felsblöcken ein Fischerhäuschen;
der Rummel gehört zu den wenigen Flüssen Algeriens,
welche das ganze Jahr hindurch Wasser führen und deshalb
auch Fische beherbergen. Es ist freilich nur eine nicht
sonderlich wohlschmeckende Barbenart (Larbns Callensis
Cuvier). Die Flußfauna Algeriens ist sa überhaupt an
Fischen ungemein arm; außer dieser Barbe findet sich hier
und da noch der Aal und in einem kleinen Flüßchen
zwischen Stora und Collo eine eigenthümliche Forelle
(8a1mo macrostigma). Sonst geht nur uoch der mittel-
mcerische Maisisch (Alosa finta Cuv.) und der gemeine
Mulat (Mugil cephalus) bis zu den Katarakten der Flüsse
hinaus. In der Metidscha und auch hier bei Sidi Mecid
hat man auch Karpfen und Goldfische eingesetzt, aber den
Aufschwung der künstlichen Fischzucht verhindern die massen-
haft vorkommenden Schildkröten, welche die jungen Fisch-
chen wegschnappen.
Viel gewaltiger, weil überraschender und ganz unvor-
bereitet kommend wirkt übrigens der Anblick der Rummel-
schlucht, wenn man von der anderen Seite her kommt. Man
verläßt alsdann Konstantine durch das Thor de la Bräche,
überschreitet die in einen schattigen Garten verwandelte
Plaee Valoe, auf der unter freiem Himmel das Wenige
aufgestellt ist, was vou dem römischen Cirta übrig blieb,
und steigt durch das Village arabe ins Thal hinab, der
bequemen Fahrstraße folgend, welche zu der großen Dampf-
mühle führt, oder auch einen steilen Richtpfad einschlagend.
An dem Fuße des Felsens hin zieht ein oft in ihn hinein-
gearbeiteter Steig, vorbei an dem Tunnel, durch welchen
der Mühlgraben hindurchgeleitet ist; dann durchschreitet
man auch einen kurzen Tunnel, und wenn man heraustritt,
steht man ganz unerwartet zwischen den beiden Riesen-
pfeilern, die den Ausgang der Rummelschlucht einfassen,
ein großartiger, überwältigender Anblick. — Von Sidi
Mecid aus kann man dafür einen anderen Heimweg ein-
schlagen, der allerdings weit umführt, aber dafür manchen
Genuß gewährt, indem man nämlich dem obersten Bewässe-
rungskanäle folgt, welcher das Rummelwasser den Gärten
an seinen Thalseiten zuführt. Es ist freilich nur ein
schmaler, ziemlich beschwerlicher Pfad, aber nur von ihm
aus erscheint der Felsen von Konstantine in seiner vollen
Majestät, bis zur Sohle hinab gespalten von der Rummel-
schlucht. Eine üppige Masse von Grün erfüllt den Thal-
kessel, aber man schreitet gerade an ihrem Rande hin und
kann sich, wenn irgendwo, davon überzeugen, welche Rolle
das Wasser in diesen Ländern des Südens spielt; unter-
halb des Grabens ein geschlossener Wald von Obstbäumen,
von Reben dnrchrankt, die oft mehr Blüthengescheine als
Blätter zu tragen scheinen, unter den Baumkronen reiche
Gemüsegärten, über dem Graben dürre, steinige Felder,
auf denen nur in feuchteren Jahren kümmerliches Getreide
gedeiht. Vielleicht wird man sich in der Zukunft einmal
entschließen, den Rummel höher oben, am Eintritt in die
Schlucht, aufzustauen und durch die Felsen hin zu leiten,
dann würden auch diese sterilen Hänge sich in wenigen
Jahren mit prangenden Gärten bedecken.
Ziemlich anderthalb Stunden lang muß man dem
Außenrande der Gärten entlang gehen, bis sich endlich ein
Pfad nach dem Thale senkt; in Pont d'Anmale erreicht
man die Chaussee, überschreitet auf einer schönen Brücke
den Rummel und kann dann auf bequemer Straße zur
Stadt hinaufsteigen. Die Entfernung beträgt aber immer-
hin noch drei Kilometer, und man bekommt hier einen
rechten Begriff davon, wie hoch Konstantine eigentlich liegt.
Die Stadt selbst bietet außer ihrer Lage nicht sonder-
lich viel Interessantes. Das Leben ist freilich viel fremd-
artiger und eigenthümlicher als in Algier, oder gar in dem
fast ganz europärisirten Oran, aber die zahlreichen Araber,
die man aus der Straße sieht, sind meistens schmutzig und
verkommen und die eingeborene Bevölkerung ist auch hier
entschieden im Rückgänge begriffen. Konstantine hatte noch
lauge nach der französischen Eroberung eine bedeutende In-
dustrie; seine Gerbereien und seine Lederwaarcnfabrikation
sind auch heute noch nicht ganz unbedeutend, aber umsonst
sieht man sich in den Bazaren nach Eigenthümlichem und
Originellem um, nur europäischer Schund macht sich breit.
Aber an den alten Sitten und Gebräuchen hält man hier
noch streng fest, und da die Eingeborenen in der Ueberzahl
sind, sieht man davon auch noch mehr auf der Straße als
in Algier. Hochzeiten und Leichenbegängnisse werden noch
mit dem alterthümlichen Pomp vollzogen, und die Frauen,
die hier blaue Ueberwürfe und gelbe oder blaue Schleier-
tragen, verhüllen sich viel sorgsamer und erscheinen viel
seltener aus der Straße, wie die Moresken in Algier. Auch
die Juden halten hier noch zäher an der alten Tracht fest;
die Frauen tragen ein spitzes Sammetmützchen auf dem
Kopfe und die Arme bloß bis zur Schulter. Am inter-
essantesten ist noch der Gemüsemarkt, zu welchem die Kolo-
nisten und die Eingeborenen der Umgebung ihre Produkte
bringen, doch ist auch hier im Mai nicht viel Auswahl;
Orangen und Mandarinen waren hier oben schon vorbei —
in Bougie hatten wir wenige Tage früher noch ganz köst-
liche bekommen, aber sie vertragen um diese Zeit den
Transport nicht mehr —, die japanesischen Mispeln waren
noch herzlich sauer, von Kirschen kamen eben die ersten auf
den Markt, an Stäbchen gebunden, wie bei uns auch, und
so waren wir fürs Dessert im Wesentlichen auf die unreifen
Mandeln und auf die hier in großen Quantitäten zu
Markte kommenden Erdbeeren beschränkt.
Konstantine hat durch die hier mündenden Eisenbahnen
von Bona-Guelma, von Bntna, von Setif und von Phi-
lippeville her eine bedeutende Wichtigkeit als Verkehrscen-
trum erlangt; aber trotz dieser günstigen Lage und der
Fruchtbarkeit des Rummelthals hat mir die Stadt nicht
den Eindruck gemacht, als sei sie in besonderem Aufschwünge
begriffen und auch von der Umgebung kann ich das nicht
sagen. Die zwei oder drei Ortschaften unmittelbar ober-
halb ausgenommen, welche aus der Quelle des Bu Mer-
zug bewässert werden, zeigen die neuen Kolonistendörfer
durchaus kein besonders fröhliches Gedeihen und viele
können, ohne ihnen Unrecht zu thun, mit den Potemkin'schen
Dörfern in der südruffischen Steppe auf eine Linie gestellt
werden, denn ihre Häuser haben durchaus keinen anderen
Die Goldgruben an der chinesisch-russischen Grenze.
269
Zweck, als die Regierung zu täuschen, bis der Kolonist
seine definitiven Besitztitel erhalten hat und das erschlichene
Land verkaufen kann. Den Ackerbau besorgen immer noch,
wie früher anch, die Eingeborenen als Khrammös,
Pächter gegen einen Antheil am Ertrag; die Herren Kolo-
nisten widmen sich mehr dem Absynth und schimpfen in
allen Tonarten über die Regierung, die nicht genug für
Algerien thut. Wie die Sachen setzt liegen, dürfte Bona
möglicher Weise schon bald die jetzige Provinzialhauptstadt
überflügeln.
Die Goldgruben an der chinesisch-russischen Grenze.
Ueber die reichen Goldlager am rechten (chinesischen)
Ufer des Amur schreibt ein „Augenzeuge" an die Zeitung
„Silur" (1885, Nr. 5) wie folgt: Die Goldwäscherei „der
freien Arbeiter" oder, wie einige sie nennen, „Neu-
Kalifornien", befindet sich am Flüßchen Sheltuga
ca. 15 Werst (1 Werst — 1,067 km) oberhalb der Mün-
dung des Flüßchens in den Amur und hat eine Ausdehnung
von etwa 6 Werst. Das kleine, von rechts, d. h. von Süden
her in den Amur fallende Flüßchen Sheltuga ist an der
Mündung recht breit; seine Länge ist nur gering und be-
trägt etwa 25 Werst; die Breite des Flußbeckens dort, wo
Gold gewaschen wird, ist etwas über 2 Sachen (4,2 m).
Goldhaltiger Sand findet sich noch fr Werst weiter über
den Arbeitsplatz hinaus an einem bis 100 Sachen (210 m)
breiten Platze. Von der russischen Amurstation Amasar
und der Station Jgnaschin a führen leidliche Wege dort-
hin; die Entfernung bis Amasar beträgt 20, bisJgna-
fchina 35 Werst.
„Als ich — schreibt der Berichterstatter — in die Nähe
der Goldwäscherei kam, rechnete ich darauf, betrunkenen
und lärmenden Arbeitern zu begegnen; allein als ich Abends
in der Goldwüscherci eintraf, waren die Tagesarbciten schon
beendigt und ich war von der großen daselbst herrschenden
Stille ausfallend überrascht. Ich schrieb diese Erscheinung
dem Umstande zu, daß wahrscheinlich kein Branntwein vor-
handen sei, allein ich täuschte mich: in dem Gebäude der
Arbeiterverbindung Chlebnikow sah ich große, flache Flaschen
und auch ein Faß, alles gefüllt mit Branntwein. Ich
erfuhr auch, daß überall Branntwein reichlich vorhanden
sei, daß es aber keinerlei Unordnungen gäbe, weil derartige
Ausschreitungen durch das Statut der freien Arbeiter streng
geahndet würden: die Regeln des Statuts werden von allen
pünktlich beobachtet. Für jede Störung der allgemeinen
Ruhe oder des Friedens wird eine Körperstrafe verhängt,
und daß es hiermit ernst gemeint wird, mögen folgende
zwei Fälle beweisen. Der Bevollmächtigte einer soliden
Firma aus Blagoweschtschensk wurde für einen Revolverschuß
mit 200 Ruthenstreichen bestraft. Ein anderes Subjekt,
welches an die Chinesen in betrügerischer Weise Gold ver-
kauft hatte, wurde sofort gebunden und von einigen Mit-
arbeitern recht streng gezüchtigt; freilich erhielten die letzteren
für die willkürlich verschärfte Strafe von dem Vorstande
der Arbeiter einen Verweis, aber der Spitzbube wurde sofort
weggejagt. Zur Zeit bildeten acht Aelteste, vier Russen
und vier Chinesen, den Vorstand. Das Statut der freien
Arbeiter, welches an einem allen sichtbaren Orte aufgehängt
ist, enthält nenn Paragraphen; einer derselben lautet: Jeder
Artel (d. i. Arbeiterverbindung), welcher sich ans der Gold-
wäscherei einfindct, hat das Recht, einen noch freien Platz
sich zu nehmen, jedoch darf der Platz nicht größer als
10 Quadratsashen (45,5 Quadratmeter) sein. Wenn aber
ein Artel eine neue Lokalität entdeckt, so kann jedes einzelne
Mitglied einen ganzen Platzantheil, d. h. 10 Öuadratsashen
(45,5 Quadratmeter) sich zueignen." Ferner: „Keine der
ans der Goldwäscherei befindlichen Personen hat die Erlaub-
niß, in betrunkenem Zustande zur Arbeit zu gehen." Es
ist schwierig, die Zahl der daselbst beschäftigten Goldgräber
sicher zu bestimmen; nach den bearbeiteten Strecken zu
schließen sind etwa 300 Mann, darunter 200 Chinesen,
anwesend; doch wächst die Zahl alltäglich durch neue An-
kömmlinge. Die Arbeiten werden längs dem Flusse vor-
genommen; die Breite der Arbeitsplätze beträgt 20 bis
30 Sashen (42 bis 63 m). In 100 Pud (1600 kg)
Sand ist bis zu einem Pfund (400 g) Gold vorhanden;
bei einem Gehalte von 5 Solotnik (etwa 20 g) ist die
Arbeit nicht mehr lohnend. Einige Arbeitervereinigungen
(10 bis 12 Menschen) gewinnen beim Auswaschen von
100 Tonnen Goldsand (etwa 200 Pud — 3200 kg) bis
150 Solotnik (1 Pfd. 54 Sol. — ca. 700 g) täglich. Das
Auswaschen des Goldsandes geschieht auf amerikanische Weise.
Die Mächtigkeit der goldhaltigen Sandschicht beträgt nach
Aussagen der Goldgräber etwa 40 bis 48 Werschok (175
bis 211 cm). Täglich werden mindestens 30 Pfd. (12 kg)
gewonnen — bis 200 Pud (3200 kg) waren augenblicklich
vorräthig; das klebrige war zum Theil in Gold, zum Theil
in Lebensmittel umgesetzt. Am 10./22. December 1884
waren die Preise: 1 Pud (16 kg) Fleisch oder Zwieback,
oder eine Tonne Branntwein galten 7 Stück oder 7 Solotnik
Gold; ein Paar Stiefel kosteten ein Stück und eine Karte,
d. h. 11li Solotnik Gold. Das Gewicht einer gewöhnlichen
Spielkarte, von denen vier auf ein Solotnik gehen, gilt als
Brnchtheil eines „Stückes".
Arbeitsplätze von 9 Öuadratsashen (40,9 qm) werden
von solchen Arbeitervereinignngen, welche bereits sich genug
erworben haben, zum Preise von 100 bis 2000 Rubeln
(200 bis 4000 Mark) verkauft; einzelne Antheile kann
man für 10 bis 300 Rubel (20 bis 600 Mark) haben.
Tagesarbeiter, welche keinen Antheil haben und nicht zu einem
Artel gehören, erhalten bei vollkommen freier Station
3 bis 5 Rubel (6 bis 10 Mark) täglich. Das Gold wurde
gegen baares Geld um 3 Rubel 60 Kopeken bis 3 Rubel
80 Kopeken für einen Solotnik (ca. 4 g) verkauft.
Einige Artel hatten Personen ausgeschickt, um die nächste
Umgebung des Flüßchens Sheltuga zu erforschen; wäh-
rend meines Aufenthaltes war die Nachricht eingegangen,
daß 8 Werst von der Sheltuga an einem kleinen Flüßchen
Saposchka ein reichhaltiges Goldlager entdeckt worden
sei. Ferner hieß es, daß auch bei Albasin Gold gefunden
worden sei, und daß dort bereits gearbeitet werde.
Die Arbeiten sollen nicht über den Monat März hinaus
ausgedehnt werden, weil man es für unvortheilhaft hält,
im Sommer zu waschen. Es müssen nämlich, um die
Erde herauszuholen, Schächte gegraben werden; im Winter-
ist das bequem, im Sommer aber bei aufgethautem Boden
müßten die Wände der Schächte gestützt werden, was viel
Arbeit macht.
270
Kürzere Mittheilungen.
Am Arbeitsplätze existiren zwei Feldscherer; man be-
absichtigt auch ein Hospital zu erbauen; schwere Krankheits-
fälle hat es bis jetzt nicht gegeben; im Sommer ist ein
einziger Todesfall vorgekommen. Es giebt auch ein Gast-
haus dort, woselbst allerlei Sorten Weine und fremde
Früchte zu haben sind. Der Umsatz beträgt täglich bis
400 Rubel (800 Mark in Gold); Baargeld ist wenig zu
sehen; russische Papierscheine sind sehr begehrt. Ferner
existiren zwei Badstuben; für ein Bad wird 50 Kopeken
(ca. 1 Mark) gezahlt.
Auch für Belustigung aller Art ist gesorgt; ein Taschen-
spieler, ein Akrobat und ein abgerichteter chinesischer Affe
sind am Platze; an musikalischen Genüssen giebt es eine
Drehorgel, Ziehharmonika und Balaleiken (eine Art Guitarre
mit drei Saiten). Die Wohnungen sind leidlich; es sind
Hütten mit einer Dachlage aus Balken, mit Thüren und
Fenstern, einige sogar mit gedielten Fußböden; überall sind
eiserne Oefen zum Schutze gegen die Kälte vorhanden.
Viele Arbeiter, welche schon reichlich Beute gewonnen, sind
bereits nach Hause gegangen. Es giebt keine Trunkenen
und keine Todtschläger, ebenso keine Diebstähle, obgleich
alle Vorrüthe offen daliegen. Ich dachte nicht im entfern-
testen, daß das viel verschrieene Volk der Goldsucher sich
so gut beherrscht, so gut seine Leidenschaften zähmen könne,
wie das hier geschieht. Wenn dasselbe Volk sich auf anderen
Goldwäschereien in anderer Weise benimmt, so ist die Ur-
sache davon gewiß nur in der Art und Weise der Verwal-
tung zu suchen.
Auch zwei Geistliche hatten sich daselbst eingesunden,
einer aus Tschika, der andere aus der Stanitza Po-
krowskaja; jeder hatte bis 3000 Rubel (6000 Mark)
für seine Kirche zusammengebracht.
Es hatte sich das Gerücht verbreitet, die chinesische Re-
gierung werde aus Aigun eine Armee senden) um die
Arbeiter von den Goldgruben zu verjagen. Infolge dessen
trat der Rath der Aeltesten unter dem Vorsitze des Berg-
werks-Aufsehers Sacharow zusammen und es wurde
beschlossen, einen gewissen Stein zum Bevollmächtigten
zu wählen, ihm 1000 Rubel (2000 Mark) zu geben und
ihn nach Albasin zu senden, damit er dort in Erfahrung
bringe, in wie weit jenes Gerücht begründet und wie stark
die chinesische Armee sei, wie die russische Regierung über
diese Angelegenheit denke u. a. m. Dann soll entschieden
werden, ob man der feindlichen Macht Widerstand leisten
oder ihr weichen solle.
Kürzere Mi
Finnlands K n l t n r.
— Eine Literatur über Finnland hat es bisher kaum
gegeben. Außer den etwas veralteten, wenngleich noch immer
interessanten Arbeiten von Acerbi (Reise durch Schweden
und Finnlaud bis an die äußersten Grenzen von Lappland
in den Jahren 1798 und 1799. Aus dem Englischen über-
setzt. Berlin 1803) und von Rühs (Finnland und seine
Bewohner. Leipzig 1809), sowie einigen wenigen Reise-
beschreibungen, die jedoch geringe Verbreitung gefunden haben,
besaßen wir in Deutschland bis vor Kurzem nur die Ueber-
setzuug des trefflichen, künstlerisch schön ausgestatteten, leider
aber gleichfalls noch wenig verbreiteten Werkes: Eine Reise
in Finnland (Leipzig, Weigel 1874) von dem sinuischen
Dichter Z. Topelins. Dazu ist in neuerer Zeit (1883) der
Abschnitt Finnland in Bädeker's Rußland gekommen, der in
der zweiten Auflage, wie wir hören, noch wesentlich ver-
bessert werden soll, und mit Freuden begrüßen wir jetzt das
Erscheinen eines Werkes von G. Retz ins, Professor in
Stockholm, das unter dem Titel: Finnland, Schilde-
rungen aus seiner Natur, seiner alten Kultur
und seinem heutigen Volksleben, kürzlich von
C. Appel ins Deutsche übertragen worden ist (Berlin,
G. Reimer 1885). Das Buch zerfällt in drei Theile; der
erste entwirft ein gedrängtes Bild von der allerältesten Kul-
tur des finnischen Volkes, wie sie uns besonders in dem
finnischen Nationalepos, der Kälewala, also in den Zeiten
noch vor der Eroberung und Christianisirung des Landes
durch Schweden (12. Jahrh.) entgegentritt; der dritte zählt
die gegenwärtigen Bestandtheile der Bevölkerung (Lappen,
Zigeuner, Deutsche, Russen, Schweden und Finnen) kurz auf
und giebt die Merkmale des finnischen Rassencharakters an,
wobei zwischen dem tavastländischeu und dem karelischen
Typus unterschieden wird. Aus dem zweiten und Haupt-
theile, in dem der Verfasser den Ueberresten der alten Kultur
nachgeht, die noch heute im Laude fortleben, dürfte der mit
besonderer Liebe ausgearbeitete Abschnitt über die Woh-
nungen am meisten interessiren. Die älteste, höchst primitive
ttheilungen.
Art derselben, Kola genannt, die den Finnen schon vor
ihrer etlva im 8. Jahrhundert erfolgten Einwanderung in
Finnland eigen war, bestand aus Baumstämmen oder Stan-
gen, in Form eines Kegels an einen Baumstamm oder
gegen einander gelehnt. Ein solcher Raum hatte weder Fuß-
boden noch Fenster; das Licht siel durch die Thüröffnung
und durch den Rauchfang herein, der sich über der aus losen
Steinen gebildeten Feuerstelle befand. Noch heutigen Tages
dienen dergleichen Konstruktionen den Lappen als Wohnung,
bei dem finnischen Landvolke sind sie nur noch hier und da als
eine Art Extraküche in Gebrauch, während als eigentliches
Wohnhaus schon in der KÄewala die Pörte genannt wird.
Die Pörte ist ein viereckiges, aus grober behauenen Kieser-
stämmen gezimmertes Haus mit kleinen, durch Vorschiebe-
bretter verschlossenen Luken statt der Fenster. Ihr charakte-
ristisches Kennzeichen besteht darin, daß der Rauch des großen,
in einer Ecke stehenden, aus Steinen zusammengefügten
Ofens nicht unmittelbar durch einen Schornstein geleitet
wird, sondern sich frei in dem Raume verbreitet, sich in dem
oberen Theile desselben, der durch keine Decke abgetrennt
ist, als dichte Wolke lagert und von da durch eine Dach-
öffnung und den hier befindlichen Schornstein allmählich hin-
auszieht. Die ursprüngliche Pörte enthielt, abgesehen von
dem jämmerlichen Entree, nur einen einzigen Raum. In
ihm lebte der Bauer nicht nur mit seiner gesammten Familie,
mit den Hausgästen (schwed. Jnhysiugar), die einen festen
Bestandtheil des Haushaltes bildeten, und den nie ausblei-
benden Bettlern, sondern auch mit seinen Hausthieren, ins-
besondere mit dem Pferde, das einen eigenen Verschlag an
der einen Seite der Thür hatte, und den Hühnern.
Die innere Ausstattung entsprach dem natürlich. Der Ofen,
zugleich der Lieblingsaufcnthalt der Bewohner, ferner zwei
in der Ecke zusammenstoßende Bänke, ein Tisch und einige in
die Fugen der Wand eingelassene Halter für die Kienspäne, ver-
mittels deren der Raum spärlich erhellt wurde, — das war so
ziemlich alles. Pörten von dieser ursprünglichen Beschaffen-
heit fand Retzius allerdings nur noch in einigen abgelegenen
Aus allen Erdtheilen.
271
Gegenden. An den meisten Orten waren sie schon in der
einen oder anderen Weise modernisirt und anch durch größere
Zu- und Umbauten erweitert worden. Wir müssen es uns
versagen, auf die Schilderung der sonstigen, zu einem Bauern-
höfe gehörigen Gebäude, des nirgends fehlenden und noch
jetzt den Finnen unentbehrlichen Badehauses, der zum Trock-
nen des Getreides bestimmten Darre, der Vorrathsbuden u. s. w.
näher einzugehen. Kurz hingewiesen sei nur noch auf die
Bemerkungen über die weit verbreitete Birkenrindenindustrie,
über Ackerbau, Jagd und Fischfang, die Hauptbeschäftigungen
der Finnen, über die früher sehr gewöhnliche Verfertigung
des Brotes aus Borkenmehl, sowie über die lyrische und
epische Poesie, von der einige wunderbar schöne Proben mit-
getheilt werden, über den eigenthümlichen Vortrag der Runen
und das der Harfe ähnliche Nationalinstrument, die Kantete.
Wir sind überzeugt, daß kein Leser unbefriedigt und ohne
mannigfache Anregung empfangen zu haben, von dem Buche
scheiden wird. Die Darstellung ist, wenn wir die begeisterte,
aber wahrlich nicht übertriebene Schilderung von den Schön-
heiten der Natur Finnlands ausnehmen, durchweg einfach,
aber ungemein klar, und wird durch eine reiche Anzahl von
Holzschnitten, meist Abbildungen der vom Verfasser von einer
Reise nach Finnland in: Jahre 1873 mitgebrachten und dem
Nordischen Museum in Stockholm einverleibten ethnographi-
schen Gegenstände, belebt. An die letzteren anknüpfend möch-
ten wir schließlich noch auf eine andere Sammlung finnischer
Alterthümer aufmerksam machen, die, wie es scheint, von
Retzius noch nicht benutzt wurde, die aber gegenwärtig an
Reichhaltigkeit die Stockholmer bereits entschieden übertrifft.
Wir meinen das ethnographische Museum des Stndenten-
korps in Helsingfors. Kein Fremder, der in der unmuthigen
Hauptstadt Finnlands weilt, möge versäumen, ihm einen
Besuch abzustatten. E. A.
Aus allen
E r d t h e i l e n.
Europa.
— Die deutsche Eisenproduktion ist von 2200000
Centner im Jahre 1834 auf 68400000 Centner im Jahre
1884 gestiegen
sie betrug (in Tausenden von Tonnen):
1834 . . 110
1844 . . 171
1854 . . 369
1864 . . 905
1874 . . 1906
1878 . . . 2148
1880 . . . 2728
1881 . . . 2914
1882 . . . 3381
1883 . . . 3420.
Diese Zahlen zeigen, — schreibt „The Chamber of Com-
merce Journal" (IV, Nr. 37) — wie wichtig es für das
Deutsche Reich ist, fremde Märkte für diese Industrie zu
finden, deren Produktion den heimischen Bedarf weit über-
steigt; doch sind die Schwierigkeiten wegen der starken eng-
lischen Konkurrenz anerkanntermaßen sehr groß.
— Bei Orell Füßli u. Co. in Zürich ist soeben als
wcrthvolle Fortsetzung der Sammlung „Europäische Wander-
bilder" ein Bändchen über Budapest erschienen. Es wird
dasselbe besonders den Besuchern der diesen Sommer in
Budapest stattfiudeuden „Ungarischen allgemeinen Landes-
ausstellung" eine willkommene Gabe sein. Einen zuver-
lässigeren und unterhaltenderen Führer durch die ungarische
Hauptstadt können sie sich nicht wünschen. Der Verfasser, ein
angesehener ungarischer Staatsmann, kennt die Stadt von
Grund aus und weiß uns dieselbe, unter weiser Beschrän-
kung auf das Wesentliche und Charakteristische, so zu schil-
dern, daß wir ein lebensvolles und umfassendes Bild der-
selben gewinnen. Die 49 Illustrationen, welche das Bändchen
schmücken, sind, wie immer, ausgezeichnet. Durch einen
Stadtplan und einen Situationsplan der Ausstellung werden
der Text und Illustration des Büchleins in zweckmäßigster
Weise unterstützt.
A f i e n.
— Die neue Telegraphenlinie von Katykurgan
nach Buchara ist jetzt für den internationalen Verkehr
eröffnet worden. Dieselbe ist 180 Werst lang, wovon nur
30 Werst ans russischem Gebiete liegen, und wird ans Kosten
der bucharischen Regierung von russischen Telegraphisten be-
dient. Der Emir hat sich verpflichtet, zwölf Jahre lang die
Kosten für Erhaltung der Linie zu tragen. Ende Mürz ist
auch eine telegraphische Verbindung zwischen Askabad, Serachs
und Merw eröffnet worden.
— Vor zwei Jahren — schreibt „The Chamber of Com-
merce Journal" (Vol. IV, Nr. 37) — erließ General Millot
einen Zolltarif für Tongking, wonach von allen Waaren
aus den anderen französischen Besitzungen in Hinterindien
2V2 Procent, von solchen aus Frankreich 5 und von solchen
aus fremden Ländern 20 Procent erhoben werden sollten.
Nun ist in London die Nachricht eingetroffen, daß Frank-
reich einen hiuterindischen Zollverein, welcher Tong-
king, Annam, Französisch-Cochinchina und Cambodja um-
faßt, errichtet hat; in Zukunft soll von allen aus Frankreich
und seinen Kolonien stammenden Waaren nur der vierte
Theil der nominellen Zölle erhoben werden, von allen
fremden aber der volle Betrag — mit anderen Worten,
Frankreich schützt seine in jenen Zollverein eingeführten Ma-
nufakturen durch Differentialzölle, welche für fremde Er-
zeugnisse bis auf 300 Procent steigen.
— In letzter Zeit hat der Telegraphenban in
China bedeutende Fortschritte gemacht. Vor vier Jahren
gab cs dort nur eine einzige Linie, nämlich von Schanghai
zum Meere. Jetzt ist Canton einerseits mit Peking, anderer-
seits mit der Grenze von Tongking durch Drähte verbunden,
so daß von der Hauptstadt des Reiches im Norden bis zur
südlichen Grenze eine ununterbrochene telegraphische Verbin-
dung besteht.
Afrika.
— Die französische Regierung hat einen Kontrakt abge-
schlossen betreffs Legung eines Kabels von Zanzibar nach
Mayotte, Nossi Bö, St. Mary's und Tamatave. Die be-
treffende Gesellschaft will dann das Kabel bis Reunion und
Mauritius verlängern.
— Einer Nachricht zufolge, welche ein arabischer
Händler vor Kurzem aus dem central afrikanischen
See gebiet nach Zanzibar gebracht hat, sind im Laufe des
vergangenen Sommers zwei Weiße, vom Moöro-See
kommend, in Niangwe am Lualaba (oberen Kongo) einge-
troffen und haben nach kurzem Aufenthalt an diesem Orte
ihre Reise nach der Station des Kongostaates bei den Stan-
ley-Fällen fortgesetzt. Es dürfte kaum einem Zweifel unter-
liegen, daß diese beiden Weißen die von der Afrikanischen
Gesellschaft in Deutschland ausgesendeten Herren Dr. Bo eh m
und Reichard sind, von denen seit länger als achtzehn Mo-
naten jede Nachricht fehlte. Hierdurch dürften aber auch die
272
Aus allen Erd theilen.
an das lange Ausbleiben von direkten Mittheilungen ge-
knüpften Besorgnisse beseitigt sein.
— Am Benin- Meerbusen hat die Hamburger
Firma G- L. Gaiser neuerdings einen Küstenstrich von
circa 55 km Länge erworben und unter den Schutz des
Deutschen Reiches stellen lassen. Derselbe erstreckt sich
von 50 46' bis 6° 20' nördl. Br. und von 40 32' bis 5° 2'
östl. L. von Gr. und grenzt nach Südosten hin an ein kürz-
lich erst von England in Besitz genommenes Gebiet, wo die
Flüsse oder Nigerarme Escardos, Forcados und Ramos
münden, nach Nordwesten hin an die englische Kolonie La-
gos. Landeinwärts liegen die größeren Orte Agboto, dessen
Häuptling einen Theil des Gebietes abgetreten hat, und
Benin; wie alle jene Küstenländer ist auch dieses von zahlreichen
Wasserläusen (Creeks) durchschnitten und darum, wenn auch
für den Handel, so doch nicht für eine Ackerbaukolonie geeig-
net. Die deutsche Besitznahme wird übrigens durch England
als unberechtigt angegriffen.
— Nr. 7 des diesjährigen „Mouvement Göographique"
bringt die ersten authentischen Nachrichten über die Expedi-
tion des Lieutenant W iß mann, welche im Austrage der
Association Internationale den Kassai, den größten Zu-
fluß des Kongo, erforschen soll. Wißmann verließ Europa
im November 1883, und einen Monat später folgten ihm
die beiden Brüder Müller, gleichfalls Lieutenants, und Dr.
Wolfs. Im Februar 1884 befanden sich alle in Malange,
wo der Büchsenmacher Meyer an Dysenterie starb. Zur
selben Zeit traf Pogge, aus dem Inneren kommend, in
Malange ein; es war das insofern ein Glück, als deren
Träger und auch die beiden Dolmetscher alsbald bei der
neuen Expedition Dienste nahmen. Anfangs Juli 1884
waren 400 Träger angeworben und die Expedition organi-
sirt; Mechaniker und Zimmerleute vervollständigten das
weiße Personal, darunter Bngslag, welcher 1878 bis 1881
mit Major von Mechow am Kuango gereist war. Am
17. Juli erfolgte der Ausbruch zum Kassai auf demselben
Wege, den früher Schütt und Büchner eingeschlagen hatten.
Am Luschiko-Flusse (20° östl. L. Gr.) angelangt, theilte sich
die Expedition: ein Lieutenant Müller folgte mit 12 Mann
dem Luschiko abwärts, um den, etwa einen Breitegrad nörd-
licher residirendcn Muata Kumpana zu besuchen, während
das Gros in nordöstlicher Richtung nach Muene-Tombe am
Tschikapa zog. Von dort, 12. Oktober 1884, ist Wißmann's
letzter Brief datirt. Er gedenkt den Kassai abwärts zu
ziehen bis zum Einflüsse des Lulua, dort mit dem Bakuba-
Häuptlinge Lukengo einen Vertrag zu schließen, eine Station
zu errichten und dieselbe mit drei Weißen zu besetzen, von
den Zimmerleuten eine Anzahl Boote bauen zu lassen und
in denselben den Kassai bis zu seiner Mündung in den
Kongo hinabzufahren. Dort hoffte er Anfangs April 1885
einzutreffen. Schon seit Februar kreuzt vor den Mün-
dungen des Ruki und Lulemgu, deren eine für den Aus-
fluß des Kassai gehalten wird, einer der kleinen Dampfer
der Association, um bei der ersten Benachrichtigung der
Wißmann'schcn Expedition zu Hilfe zu eilen.
A n st r a l i c n.
— Dr. R. von Lendenfeld war, wie er aus Syd-
ney unter dem 24. Januar 1885 schreibt („Nature" Nr. 803),
von dem Geological Snrvey Department der Kolonie mit
wissenschaftlichen Untersuchungen im centralen Theile der
Australischen Alpen betraut worden und war von dort wenige
Tage zuvor zurückgekehrt. Er hat gefunden, daß der Mount ,
Kosciusko (7170 Fuß), welcher bisher als der höchste Punkt
derselben angesehen wurde, es nicht ist, sondern von einem
südlicher gelegenen Berge, dem Mount Clarke (7256 Fuß),
an Höhe übertroffen wird. Auch entdeckte er unter anderem
unzweifelhafte Spuren von prähistorischen Gletschern in einer
Höhe von über 6800 Fuß.
N 0 r d a m e r i k a.
— Die Eröffnung einer schiffbaren Verbindung für
Nord-Canada und Manitoba durch Errichtung einer regel-
mäßigen Verkehrslinie nach den Häfen der Hudsonsbai
erscheint immer wünschenswerther und die Regierung
von Canada ist entschlossen, nichts zu unterlassen, um die
Durchführung des Unternehmens zu sichern. Sie hat im
Jahre 1884 den Lieutenant Gordon, stellvertretenden
Direktor des Dominion Meteorological Service mit dem
Neufundländer Dampfer „Neptun" ausgesandt, um die Bai
zu erforschen und eine Anzahl Beobachtungsstationen zu er-
richten, welche sich in erster Linie mit den meteorologischen und
Eisverhältniffen der Hudsousstraße zu beschäftigen haben
(vergl. „Globus", Bd. 46, S. 353). An dieser wurden Vier-
Beobachter stationirt, dann ging der Dampfer quer durch die
Bai, besuchte Fort Churchill, wo die Hudsonsbaigesell-
schaft eine Niederlassung hat, dann York Factory, die
zum Hauptausfuhrhafen des Winnipeggebietes bestimmt tvar,
aber so ungünstige Küstenverhältnisse bietet, daß der Dampfer
18 englische Miles von der Küste ankern mußte. Am 12. Sep-
tember ging es weiter nach Digg es Island, wo eine
Station errichtet und ein guter Hasen gefunden wurde;
Resolution Island und Savage Island zeigten da-
gegen keinerlei Ankerplatz, und so mußte die sechste Station
am Eingänge von N a ch v a k B a y errichtet werden. Auf jeder
Station wurde ein Officier mit zwei Assistenten zurückge-
lassen und ihm ein Häuschen von 16 zu 20 Fuß errichtet
mit doppelten Wänden; sie sind, da die Stationen jedes Jahr
zugänglich sind, nur ans zwölf Monate verproviantirt.
Der „Neptun" fand auch in der Hudsousstraße keine
ernstlicheu Schwierigkeiten, obschon die Eskimos wie die
Beamten der Hudsonsbai den vorigen Sommer für außer-
gewöhnlich ungünstig erklärten. In der Bai selbst wurden
Eisberge überhaupt nicht angetroffen, dagegen in der Straße
einige, welche durch Fox Passage gekommen waren; doch
boten auch diese der Schiffahrt kein ernstliches Hinderniß.
Nur an Nottingham Island, wo die Hudsonsstraße
ihre Biegung hat und Fox Passage einmündet, fand sich ein
festes Eisfeld, das ein paar Walfischfänger und ein Schiff
der Hudsonsbai-Compagnie eingeschlossen hatte und nicht for-
cirt werden konnte. Jedenfalls ist der Eingang zur Bai in
gewöhnlichen Jahren etwa vom 15. Juni bis Mitte Novem-
ber passirbar, die Bai selbst aber für einen viel längeren
Zeitraum. Die Beobachtungen sollen wenigstens auf einigen
Stationen zwei und vielleicht sogar drei Jahre fortgesetzt
werden. Für 1885 ist eine neue bedeutende Expedition in
Aussicht genommen, welche die Ostküste aufnehmen und an
gefährlichen Stellen Seezeichen errichten soll. — Der für den
kanadischen Handel entspringende Vortheil würde sehr bedeu-
tend sein; vom Winnipeg, dem Sammelplätze des zu
verschiffenden Getreides, beträgt die Entfernung nach Mont-
real auf der Canadian Pacisicbahn 1430 Miles, nach Jork
Factory kaum die Hülste, während der Seeweg nach England
von beiden Häfen beinahe gleich ist. — „Science", der wir
diesen Bericht entnehmen, bringt auch eine sehr genaue Karte
der Hudsonsbai und des nördlich anstoßenden Archipels.
Inhalt: Amazonas und Cordilleren. X. (Mit sieben Abbildungen.) — E. Metzger: Haiti. III. (Zweite Hälfte.) —
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien. IL. Constantine. — Die Goldgruben an der russisch-chinesischen Grenze. — Kürzere
Mittheilungen: Finnlands Kultur. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien. — Nordamerika.
(Schluß der Redaktion: 2. April 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Mit besonderer Herüeksichtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
I) r. N ichard Kieper t.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände L 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1885.
Amazonas und Cordilleren.
(Nach dem Französischen des Herrn Charles Wiener.)
XI. (Schluß.)
Nachdem Wiener nach Guayaquil zurückgekehrt war,
ließ es ihm dort keine Ruhe; der Wandertrieb, der Wunsch,
seine Untersuchungen zu vervollständigen und das Gebiet
zwischen der genannten Hauptstadt, dem Meere und der
Provinz Esmeralda zu bereisen, veranlaßten ihn zu weiteren
Zügen; wir müssen setzt, um nicht zu ausführlich zu sein,
die früher und später erhaltenen Ergebnisse hier zusammen-
fassen. Schon im Monat März 1880 hatte Wiener an-
gefangen, sich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen, indem er
zunächst den Weg von Manabi untersuchte. Die Frage,
die hier zu lösen ist, ist ziemlich einfach: Die Küste des
Stillen Oceans ist der Luftlinie nach etwa 100 km von
Quito entfernt; kein Fußweg verbindet die Hauptstadt des
Landes mit dem im Flachlande gelegenen Hafen. Wenn
ein thätiges, für seine eigenen Interessen besorgtes Volk
Herr dieser Gegenden wäre, würde es nichts Einfacheres
geben, als den Bau einer Straße nach dem Chonesflusse;
wie die Verhältnisse jedoch setzt liegen, wird die Ausführung
dieses Gedankens gewiß noch lange zu den frommen Wün-
schen gehören, und der einzig mögliche Weg wäre der, den
Landweg möglichst zu verkürzen, um dagegen von einem
längeren Wasserwege Gebrauch zu machen. Zunächst also
machte sich der französische Forscher auf, um die Straße
zu untersuchen, deren Bau der Diktator Garcia Moreno
in der Richtung der Provinz Manabi angefangen hatte; er
beschreibt den zurückgelegten Weg folgendermaßen: 25 km
von der Hauptstadt, km von dem Weiler Tambillo folgt
man in westlicher Richtung der Einsenkung zwischen den
Globus XLVIi. Nr. 18.
Gipfeln des Corazon und der Vindita und erreicht aus
langsam ansteigendem Wege eine Hochfläche, die im Passe
Pongo endet. Hier verändert sich die Natur der Anden
mit ihren verhältnißmäßig sanften Abhängen, wie sie zwischen
den Cordilleren sich zeigt, ganz plötzlich. Die ecuatoria-
nischen Anden im Westen sind in einzelne, gewaltigen
Strebepfeilern gleichende Bergrücken mit senkrechten Wänden
und schmalen Rücken, welche bis zum Meere hinlaufen,
zerschnitten. Wie es scheint, ist dort schon 1875 ein brauch-
barer Fußweg durch den amerikanischen Ingenieur Rogers
angelegt worden, den man nach dem Tode Moreno's jedoch
verfallen ließ und der 1880 in Folge der Witterungsciu-
flüsse wieder ganz verschwunden war. Unzählige Zickzacks
führen über den stark bewaldeten Abhang, und nachdem der
Weg mehrere in den Rio Pilaton oder San Lorenzo mün-
dende Wildwasser überschritten hat, erreicht man den Fluß;
auf der linken Seite befindet sich eine 300 bis 400 m hohe
Felswand, und auf einer vorspringenden, etwa 40 cm breiten
Leiste legt man in einer Höhe von 60 bis 80 m über dem
Wasser einen Weg von drei Wegstunden zurück. Hinter
den Penas von San Nicolas senkt sich das Terrain stark
nach der Ebene, wo sich eine kleine Niederlassung, die
Hacienda von Tanti, befindet; wenn man noch fünf Meilen
zurückgelegt hat, kommt man nach Santo Domingo und
nach einem weiteren halben Tagcmarsche nach San Miguel,
im Gebiete der Colorado-Indianer. Einige Europäer und
ein paar Dutzend Neger leben unter den Eingeborenen,
welche merkwürdiger Weise ihre eigenthümlichen Gewöhn-
274
Amazonas und Cordilleren.
heiten bewahrt haben, trotzdem sie in der Nahe der Haupt-
stadt nnb wenige Kilometer von der Küste entfernt wohnen,
wo seit vielen Jahren die aus Europa kommenden Schisse
anlegen. In ihrer eigenen Sprache heißen diese Indianer
Sacchas, und den spanischen Namen haben sie wegen ihrer
Gewohnheit, sich von Kopf bis zu Fuß ziegelroth anzu-
streichen, erhalten. Ebenso wie ihre vermuthlichen Vor-
eltern, die Nungas, bilden sie eine beinahe weiße Rasse von
der Farbe des gelblichen Elfenbeins. Gesicht und Arme
werden manchmal durch Zeichnungen entstellt. Sie besitzen
einen sanften Charakter und eine verhältnißmäßig sehr-
entwickelte Intelligenz. Während die Autochthonen vom
Amazonas sich nicht über den allergröbsten Materialismus
erheben, besitzen die Sacchas religiöse Gewohnheiten, den
festen Glauben an ein geistiges Leben über die thierische
Existenz hinaus, ja eine Art Kultus des Unsterblichen im
sterblichen Menschen. Wenn einer aus ihrem Stamme
stirbt, kleidet man ihn in -seine besten Kleider und legt ihn
in seiner Hütte nieder; man befestigt einen Strick an seinem
Gürtel und zugleich im Dache. Der ganze Stamm tanzt
nun um die Hütte und jeder, der an einem Pfosten vorbei-
kommt, haut mit seinem Waldmesser nach demselben, bis
die Hütte einstürzt und die Leiche unter den Trümmern der
eigenen Wohnung begräbt.
Mit jedem neuen Monde wird an dem Strick gezogen,
welcher die Leiche des Todten mit dem Dach der Hütte
verbindet; so lange er noch nicht nachgiebt, ist die Seele
noch mit dem Körper vereinigt; wenn es aber gelingt, den
Strick herauszuziehen, hat die Seele in einer anderen Welt
unter den Seelen der Sacchas auf einem Throne von
massivem Golde Platz genommen. Die überlebenden Waisen
genießen Vorrechte; sie können ihre bessere Hälfte aus dem
ganzen Stamme wählen, ohne daß sich Jemand ihrer Wahl
widersetzen dürfte. Die Heirath giebt zu manchen Festlich-
keiten Veranlassung, die noch schöner wären, wenn nicht
bei solchen Gelegenheiten der Mißbrauch geistiger Getränke
allerlei unangenehme Scenen hervorriefe. Die Colorado-
Indianer tragen Federkronen, metallene Armbänder, wie
fc; WW
«M 1( *■; Iwlttäl MW»W8 lini 1 m iMi I
Hacienda Tanti. (Nach einer Photographie.)
man sie bei den peruanischen Mumien antrifft, kleine Pon-
chos, die ebenfalls denen, welche in den alten Begräbniß-
stätten gefunden werden, vollkommen ähnlich sind; Hals-
bänder aus Körnern, Vogelknochen und von den Weißen
gekaufte Glasperlen vervollständigen ihre Kleidung. Es
giebt unter ihnen eine gewisse Anzahl Albinos mit hell-
rothem Haar und blauen Augen; sehr groß ist die Anzahl
jugendlicher Schönheiten unter den Frauen, die jedoch früh
altern und mit 25 Jahren schon verblüht sind. Ausge-
zeichnete Waldläufer, in jeder Bedeutung des Wortes, unter-
stützen sie die Weißen und Neger in der Ausnutzung der
Kautschukbäume, betreiben dies Geschäft wohl auch selb-
ständig; sie werden übrigens gewöhnlich dabei angeführt,
denn man bezahlt ihnen in schlechten Waaren kaum den
hundertsten Theil des Werthes ihrer Produkte. Die Aus-
fuhr findet wegen Mangel an Verkehrswegen nicht nach
der Seite des Stillen Oceans hin statt; man bedient sich
jetzt des Wasserweges und verschifft die Produkte auf Flößen,
die ohne große Gefahr die Gebirgsflüsse Peripa und Pupusa
passiren, nach dem Weiler Balzar auf dem linken Ufer des
Daulc, bis wohin die Dampfer von Guayaquil ziemlich
regelmäßig kommen, um Ladung einzunehmen^ Uebrigens
meint Wiener, daß trotz aller Hindernisse, die er zu überwinden
hatte, es keine Schwierigkeit haben würde, einen brauch-
baren Weg zwischen dem Rio Chones und den Cordilleren
anzulegen. Er beschreibt die Richtung und Steigung des-
selben folgendermaßen: der erste Theil würde mit einer
Neigung von Vöoo von der Endstation am Rio Chones
nach dem Rio Lelias führen; die zweite Sektion bis zum
Pongo um 3/ioo steigen, die dritte Abtheilung sollte mit
einer Neigung von 30" (? ?) die Paßhöhe ersteigen und die
letzte Sektion von dort in beinahe horizontaler Richtung
nach der Hauptstadt führen; man müßte dann dem west-
lichen, und nordwestlichen Abhange der Vindita folgen, um
auf den östlichen Abhang des Pichincha, auf dem die Haupt-
stadt Quito liegt, zu gelangen; in dieser Weise würde man
einige sehr unbequeme Terrainhindernisse umgehen. Man
hat, ohne das Terrain zu kennen, auch von dem Bau einer
Eisenbahn gesprochen; wenn nun auch nach dem heutigen
Standpunkte der Technik eine solche möglich ist, so dürfte
Amazonas und Kordilleren.
275
*9
doch die finanzielle Seite eines solchen Unternehmens eine
sehr gründliche Ueberlegung erfordern. Augenblicklich wer-
den nach der Berechnung Wicner's 3000 Maulthiere für
den Transport verwendet, deren Werth etwa 450000 Francs
beträgt. Die Unterhaltungskosten berechnen sich wie folgt:
Futterkosten per Tag und Thier zu einem Real, Vier-
Realen für den Maulthiertreiber (je einer für fünf Thiere),
was nach dem Tagescours berechnet, eine Summe von
1 259 200 Francs ergiebt. Anschafsungs- und Unterhal-
tungskosten (wenn erstere auf einmal neu zu machen wären),
belaufen sich auf 1 800 000 Francs und dieser Summe
stehen 36 000 Maulthierladungcn im Jahre, entsprechend
einem Betrage von 144 000 Francs als Einnahme gegen-
über, die Rente ist also nur 8 Proc. Nach den An-
schlägen würden die Kosten einer Eisenbahn von Guaya-
quil nach Quito 50 Millionen betragen, in Wirklichkeit
würde diese Summe aber wohl um den vierfachen Betrag
überschritten werden. Doch auch, wenn man das zuletzt
Gesagte nicht berücksichtigt, wird man einsehen, daß ein
Kapital von 50 Millionen keine nennenswerthen Zinsen
tragen kann, wo sich ein fünfundzwanzigmal geringeres
Kapital mit kaum 8 Procent verzinst. Allerdings würde
die Anlage einer neuen Eisen-
bahn, in Europa wenigstens, dem
Verkehr größeren Aufschwung
geben, im tropischen Amerika
darf man hierauf jedoch gar-
nicht, oder doch nur sehr wenig
rechnen. Gute Maulthierwege
und wo möglich fahrbare Straßen
sind dasjenige, dessen man am
meisten bedarf.
Diese Untersuchung zu ver-
vollständigen, besuchte Wiener im
Februar 1882 nun auch den
Wasserweg und begab sich in
einem kleinen Dampfer auf dem
Danle nach Balzar, welches
nur 98 in höher als Guayaquil
liegt, während der Abstand 50
Stunden beträgt; auf beinahe
ein Drittel des Abstandes machen
sich die Gezeiten noch fühlbar.
Das kleine Dorf Danle liegt sechs Stunden oberhalb der
Mündung; oberhalb des Ortes werden die Ufer höher; B alzar
liegt auf einem kleinen Plateau, etwa 15 m über dem
Hochwasser; es ist ein miserabler Ort, der, wenn er in
Nordamerika lüge, sich bald in ein wichtiges Entrepot ver-
wandeln würde. Anstatt, daß man also jetzt 10 bis 12
Tage auf der Reise von Guayaquil nach Quito zubringt,
könnte man diesen Ausschiffungsplatz am Danle in 24 Stun-
den erreichen und von hier am ersten Tage nach S. Miguel
und in weiteren zwei oder zwei und einem halben Tage
nach Quito kommen. Jetzt scheint noch Niemand die
Wichtigkeit des Punktes am Danle zu begreifen. Die
Neger von Pasto, welche Kautschuk gewinnen, haben hier
ihr Hauptquartier aufgeschlagen und verschwenden den leicht
erworbenen Verdienst in Orgien.
Ein anderer Ausflug Wiener's richtete sich nach dem
südwestlichen Theile des Landes; mit den nothwendigen
Meßinstrumenten ausgerüstet, reiste er am 8. April 1882
in einer Schaluppe nach dem kleinen Hafen Santa Rosa
ab. Die Fahrt bis zur kleinen Insel Puna verlief ganz
ausgezeichnet; hier jedoch kam ein Hinderniß, man mußte
quer über die breite Mündung des Flusses, in welche die
Wogen des Stillen Oceans hineinschlugen, setzen, was mehr als
Colorado-Indianer. (Nach einer Photographie.)
fünf Stunden erforderte. Endlich elf Stunden nach der
Abreise von Guayaquil lief Wiener in den Santa Rosa
ein, einen vielfach gekrümmten Fluß, der nur zur Zeit des
Hochwassers befahrbar ist. Man berechnet die Entfer-
nungen auf demselben nach der Anzahl der Flußkrümmnngen,
und der Weiler Santa Rosa liegt an der 22. Krümmung,
oder aber acht Kilometer von der Küste. Der letzte Theil
der Reise mußte in Booten zurückgelegt werden. Die Häuser
oder vielmehr Hütten von Santa Rosa sind, wie in allen
Orten an der Küste, auf Pfählen erbaut. Es ist ein
trauriger Ort, von traurigen Menschen bewohnt; keine
Zerstreuung, kein Vergnügen. Ein sehr gewinnbringender
Kleinhandel giebt die Mittel an die Hand, der Eitelkeit
und der Trunksucht zu fröhncn. Man beschäftigt sich mehr
mit Revolutionen als mit der Arbeit; man sucht Stellen
zu erhaschen, giebt sich aber nicht die Mühe, etwas zu
lernen, um sie würdig auszufüllen. Alles scheint sich in
einem körperlich wie geistig atrophischen Zustande zu be-
finden, ersteres vielleicht eine Folge des übertriebenen Ge-
nusses der wenig nährenden Banane. Am folgenden
Morgen wurde die Reise zu Maulthier nach Z a ru m a fort-
gesetzt, welches kaum 18 Stunden vom Meeresufer auf
einem der Ausläufer der Küsten-
kette der Anden liegt. Die Regen-
zeit war eben beendet, und der
Weg ziemlich unbrauchbar; das
magere Maulthier sank bei jedem
Schritte in den weichen Grund.
Beim Ansteigen ging es noch
ziemlich gut, aber da, wo der
Weg sich senkte, war derselbe
voller Gefahren, und häufig schien
es unbegreiflich, wie das Thier
denselben zurücklegen konnte; die
Manlthiere setzen eben bei solchen
Gelegenheiten die vier Füße gegen-
einander und lassen sich hinunter-
gleitcn. Nach einem Marsche
von ungefähr 14 Stunden wurde
Zaruma erreicht, welches male-
risch am Fuße der goldführenden
Berge von Sesmo in einem ver-
hältnißmüßig kühlen und angeneh-
men Klima liegt. Hier herrschte wegen des Erfolges, den die
englischen Bcrgwerksunternehmer gehabt, ein förmliches Gold-
fieber; ein Jeder sah sich bereits als mehrfachen Millionär;
die Armen beneideten die Reichen, welche mit großem Ka-
pital, daher mit mehr Vortheil arbeiteten, und schrien über
die Ungerechtigkeit des Himmels und der Menschen, wenn
man ihnen gegen hohen Lohn Arbeit anbot. Die betheiligte
Gesellschaft hals sich jedoch, indem sie von San Francisco
einige Abtheilungen chinesischer Arbeiter kommen ließ, welche
für wenig Geld viel leisteten. Jetzt war der Aerger der
Eingeborenen noch größer, Wuth und Verzweiflung er-
füllten sie; kurz, Zaruma war eine wahre Hölle.
Inzwischen hatte die Bergwerksgesellschaft sich in den
schnell errichteten kleinen Häuschen niedergelassen und hatte
einen Anfang gemacht, goldführenden Quarz und anderes
kostbares Gestein graben zu lassen. Die Adern versprachen
ein günstiges Resultat, wiewohl die Gewinnung des Erzes
in etwas primitiver Weise vor sich ging; einige hektische
Maulesel und blinde Pferde setzten die Mühlen in Bewe-
gung, man wusch in sehr einfachen Schwingen; das Wasser-
würde mit Hilfe eines schnell gegrabenen Kanals 10 km
weit herbeigeschafft, überall suchte man im Lande nach
neuen Gruben. Die Bergleute lebten herrlich und in
35*
276
Amazonas und Kordilleren.
Freuden, aber etwas unregelmäßig; Gänseleberpasteten und Francisco fabricirter Champagner spielten eine große Nolle;
Biskuits, Pale-Ale, Brandy und ein abscheulicher in San selten nur hat wohl die Welt eine Gesellschaft gesehen, die
Platz und Kirche des Weilers Balzar. (Nach einer Skizze Wiener's.)
B V'l |
M ~ Z f ipj
Zaruma und der Berg Sesmo. (Nach einer Photographie.)
fieberhafter arbeitete, mehr von Kraft und Thätigkeit strotzte, ! toten und Beamten der Great Zaruma Gold Mining Com-
vertrauensseliger, aber auch lustiger war, als die Direk- ! pany limited. Die bedeutendste Grube war der Sesmo.
Amazonas und Kordilleren.
278
Amazonas und Kordilleren.
Die Spanier, welche mit Schwert und Kreuz eroberten,
erfreuten sich eines sicheren Instinktes, der sie die reichsten
Orte finden ließ; auch Sesmo war ihnen nicht entgangen,
und sie hatten da eine Galerie gegraben, die kaum einen
Meter hoch und achtzig Centimeter breit war; in dieser
engen Röhre hatten die Bergleute nur sitzend arbeiten
können und man kann sich die Leiden der Indianer vor-
stellen, welche in diesen Gräbern, denen die Luft fehlte, zu
arbeiten gezwungen wurden; sie verloren den Gebrauch
ihrer Glieder, wenn sie nicht durch Erdstürze oder Ueber-
schwemmungen ihr Leben einbüßten. Trotz der besten
Wünsche, die Wiener für die Unternehmung hegte, war
seine Hoffnung auf Erfolg derselben doch nur gering.
Der anfängliche reiche Gewinn der Bergwerke von Za-
ruma hatte das ganze südwestliche Gebiet von Ecuador in
eine gewisse Aufregung versetzt. Ueberall entdeckte man
neue, angeblich erstaunlich reiche Minen, aus allen Gegen-
den brachte man Wiener neue Gesteinsproben zum Unter-
suchen. Diese Epidemie erfaßte auch die mitten in der
Cordillere von Loja, 15 Stunden von Zaruma gelegene
Stadt gleichen Namens, welche merkwürdig ist wegen der
großen Zahl Advokaten, die sie beherbergt. Daß es da
nicht an Processen fehlt, ist leicht erklärlich und so sind
denn sehr eigenthümliche Zustünde dort entstanden; die
Arbeit hält man eines Ncchtsgelehrten für unwürdig und
der Handel ist den Bewohnern ziemlich erschwert, da sich
die Nachbarn hüten, diesen in allen Kniffen erfahrenen
Gesetzeskundigen Kredit zu gewähren, ja beinahe überhaupt
Hauptplatz von Gunlaceo.
Geschäfte mit ihnen zu machen. Einige Tage später be-
gab sich Wiener mit einem der Direktoren von Zaruma
nach Cuenca, welches etwa 35 Stunden entfernt ist.
Der Weg führt durch eine im höchsten Grade öde und
wüste Gegend mit wenigen kleinen Weilern, von deren
Bewohnern die Reisenden mehr schöne Worte als Nah-
rungsmittel erhielten. Am fünften Tage erreichte man
eine Hochfläche, von wo aus man am Ende des Grenz-
gebirges zur Linken ans einem isolirten Kegel eine ge-
mauerte Pyramide, ein Andenken an die Triangulation la
Eondauiines erblickt. Zwei Stunden später ritten sie in
Cuenca ein.
Cuenca liegt wie in einem Circus; die Stadt ist auf
allen Seiten von Cordilleren umgeben, deren Ruhe noch
(Nach einer Photographie.)
durch keine moderne Erfindung gestört wird; es scheint,
wie wenn die Einwohner Automaten wären; das Kirchliche
herrscht hier vor, die Laien scheinen in der Minderzahl zu
sein. Sie zählt ungefähr 25 000 bis 30 000 Seelen, ob-
wohl die Bewohner des Landes ihr 60 000 geben möchten.
Noch muß erwähnt werden, daß hier eine Druckerei existirt;
sonst aber herrscht große Abneigung gegen alle Arbeit, da-
neben jedoch ein brennender Ehrgeiz. Beinahe alle bemit-
telten Leute besitzen Pflanzungen in der Nähe, darunter
einige, wo Zuckerrohr gedeiht. Durch die Stadt Cuenca
fließt ein Gicßbach, der Rio Machangra, der sich einige
Meilen südlich in den Pautefluß stürzt; von hier aus
strömt letzterer in einem tief eingeschnittenen Thale zwischen
senkrechten Felswänden hin, an denen ein kaum achtzehn
E. Metzger: Haiti,
279
Zoll breiter Fußweg beinahe in der Luft zu schweben scheint.
Drei Stunden lang hört der Wanderer den Fluß unter
sich rauschen und tosen, ohne ihn ein einziges Mal zu er-
blicken, da derselbe wohl 600 m tief unter dem Pfade hin-
strömt. Endlich erweitert sich die Schlucht und wird flacher,
der Weg führt dann durch Pflanzungen weiter in die sanft
geneigte Ebene des Amazonenstromes. — Neun Stunden
von Cuenca befindet sich ein Hügel, von dem man das
ganze Thal übersieht; an seinem Fuße liegt das kleine
Dorf Paute, wo der Gießbach zum Flusse wird. Weiterhin
stieß Wiener auf Huambizas, deren Verwandte er am Morona
getroffen hatte, und kam bis zum Santiago, dessen Mündung
ihm früher am Pongo de Manseriche bekannt geworden
war; so hatte er also setzt eine dritte Reiseroute quer durch
den südamerikanischen Kontinent zum Abschluß gebracht.
Auf der Rückreise nach Cuenca wurde ein Umweg ge-
Bolivar-Brücke. (Nach einer Photographie.)
macht, um die kleine Stadt Gualaceo zu besuchen. Auch
sie ist ein Ueberrest aus dem 17. Jahrhundert, ein Denk-
mal der alten kastilianischen Zeit, bewohnt von Menschen,
welche trotz ihrer modischen Kleidung in die Zeiten der
Kreuzfahrer zu gehören scheinen, wie die Mönche leben und
wie Einfaltspinsel handeln. Wenn sie gehen — um nur
einiges anzuführen — tragen sie die Schuhe in der Hand;
anstatt zu pflügen, arbeiten sie den Boden mit einem spitzen
Stocke um rc. Am Morgen der Abreise von Gualaceo
überschritt Wiener die Bolivar-Brücke, eines der letzten von
den Spaniern ausgeführten Banwerke, und kam nach Cuenca,
von wo er mit frischen Maulthieren sich auf die Reise nach
Guayaquil begab; zwei Tage später schiffte er sich in Ma-
ranyal ein und erreichte seinen Bestimmungsort in 12 Stun-
den, seine Reisen waren hiermit abgeschlossen und der von
seiner Regierung ihm ertheilte Auftrag erfüllt; er fand in
Guayaquil mit leicht erklärlicher Befriedigung die Ermächti-
gung, nach Frankreich zurückzukehren.
Haiti.
Von E. Metzger.
IV. Der Staat und seine Einrichtungen.
(Schluß.)
Der Leser, der den bisherigen Ausführungen gefolgt
ist, wird sich selbst schon gesagt haben, daß die Einrich-
tungen der Republik ihrem stolzen Symbol, der Kohl-
palme (Palma nobilis), wenig entsprechen und doch drückt
auch das Wappen gewissermaßen die im Lande vorkommen-
den Gegensätze aus: auf der Spitze des Baumes thront
lächcrlicherwcise die Freiheitsmütze und um den Schaft sind
malerisch allerlei Waffen gruppirt, die durchaus kein Attri-
but des gar nicht kriegerischen Bolksgeistes sind. Der
Staat ist der Form nach eine Republik, dem Wesen nack
wird er despotisch regiert. Dem Präsidenten stehen Staats
sekretüre, ein Senat, ein Abgeordnetenhaus zur Seite
unter Geffrard hatten alle diese Faktoren der konstitutiv
nellen Republik wenig Einfluß, und ein Versuch, ihre Stel
lung zu wahren, wurde von ihm energisch zurückgewiesen
ja während des folgenden Bürgerkrieges zeigten die Macht
Haber eine große Neigung, ganz despotisch zu herrschen unl
zu den Greueln von 1793 zurückzukehren. Wir wollet
280
E. Metzger: Haiti.
die späteren Vorgänge nicht im Einzelnen berühren, es
genüge zu bemerken, daß vor kurzer Zeit (am 23. Oktober
1884) erst wieder eine Amnestie für die im April 1882
verurtheilten Staatsverbrecher erlassen wurde. Erwähnt
muß jedoch noch werden, daß eine despotische Regierung
dem Charakter der Eingeborenen mehr entspricht; den kon-
stitutionellen Apparat bezeichnen sie durch den Ausdruck
tas de voleurs und erklären, nicht von einem solchen be-
stohlen werden zn wollen. Daß bei einem so sehr zur
Unbeständigkeit hinneigenden Volke die Konstitution ver-
schiedene Auflagen erlebt hat, . ist nur natürlich. Wir
müssen es uns versagen, die nach und nach eingetretenen
Veränderungen näher anzuführen und wollen nur be-
merken, daß die jetzige, vom Jahre 1879 datirende Ver-
fassung die neunte ist, deren die Republik sich erfreut. Sie
enthält 205 Artikel. Im allgemeinen ist dieselbe sehr
freisinnig, doch besteht wohl ein großer Unterschied zwischen
der Abfassung der Artikel und ihrer Ausführung. Art. 24
z. B. sagt, daß für politische Vergehen die Todesstrafe
abgeschafft ist und durch lebenslängliche Einschließung in
einem Gefängniß ersetzt werden soll. Nichts könnte besser
zeigen, wie ungereimt es ist, von Gesetzen und von einer
Konstitution in Haiti sprechen zu wollen, sagt unser Autor;
die Feder, welche diese Konstitution unterzeichnet hatte,
war kaum trocken, als politische Proscriptionen begannen,
und kaum giebt es in Haiti eine Stadt, die nicht roth ist
vom Blute der Männer, welche man anklagte oder ver-
dächtigte, gegen die Regierung General Salomons, des
gegenwärtigen Präsidenten, konspirirt zu haben. Wir
wollen uns mit den Bestimmungen der Verfassung nicht
weiter beschäftigen und nur beifügen, daß aus der langen
Reihe der Personen, welche unter verschiedenen Titeln an
der Spitze des Staates standen, nur zwei (Präsidenten)
ihre Regierung bis zu dem verfassungsmäßigen Ende der-
selben führten. Das Land ist nach französischem Vorbilde
in Departements (5), Arrondissements (23) und Kommunen
(67) eingetheilt.
Die Regiernngsgemalt wird jetzt in folgender
Weise ausgeübt: An der Spitze des Staates steht der für
sieben Jahre gewählte Präsident, neben ihm vier oder fünf
Staatssekretäre (Minister), die unter einem kräftigen Haupte
nur dessen erste Schreiber sind; dreißig (besoldete) Mit-
glieder bilden den Senat, der gewöhnlich dem Einfluß von
oben sehr zugänglich ist; sechzig (ebenfalls besoldete) Mit-
glieder der zweiten Kammer verursachen dem Staatsober-
haupte, welches Macht über Leben und Tod besitzt, nur
geringe Schwierigkeiten. Die bedeutendste Stütze der höch-
sten Gewalt, aber auch die größte Gefahr für dieselbe, liegt
in der Armee. Der gegenwärtige Präsident widmet der-
selben besondere Sorge, erhält sie auf der genügenden
Stärke und kann, so lange es ihm glückt, die Anführer
zufrieden zu stellen, seine Feinde ruhig herausfordern. Im
allgemeinen besteht das Heer aus Negern, die ein schwarzes
Staatsoberhaupt als ihren rechtmäßigen Herrn betrachten;
einem Farbigen gehorchen sie nur ungern, und murren
gegen die von ihm aufgelegten Strafen, während ein
Ichwarzer General einen Mann zu Tode prügeln lassen
kann, ohne Unzufriedenheit zu erregen. Wie sich dies nicht
anders erwarten läßt, ist auch der Gottesdienst, das
Erziehungswesen und die Rechtspflege von Staatswegen
geregelt; wie sich diese Zweige der Verwaltung aber in
der Praxis gestalten, wollen wir jetzt etwas näher be-
trachten. Unter Gefsrard erst wurden einige der wichtig-
sten Punkte des mit Rom geschlossenen Concordáis zur
Ausführung gebracht; bis dahin war der katholische Clerus
in Haiti sprichwörtlich gewesen. So z. B. gab es einen
Priester im Süden (dem am meisten zurückgebliebenen Theil
des Landes), der als lustiges Haus bekannt war und ein
gutes Leben liebte, dabei aber darauf bedacht war, Schätze
zu sammeln; er zog jede Woche aus der Stadt, um unter
der Dorfbevölkerung zu sammeln. Wenn man ihm nur
seine Belohnung gab, so war es ihm vollständig gleich-
gültig, wofür man feinen Segen verlangte. Er sprengte
sein Weihwasser mit derselben Würde über ein neugebautes
Haus, wie über einen dem Vaudonxdienst geweihten Tempel
oder einen der Fetische, welche die Voreltern der Dorf-
bewohner aus Afrika mitgebracht hatten; in ein paar Jahren
hatte der Mann durch ein englisches Haus 12 000Pfd. St.
(240 000 Mark) nach Europa remittirt. Um übrigens
allen Schein der Parteilichkeit zu vermeiden, führt Spenser
St. John einige Worte von Msgr. A. Guilloux, dem Erz-
bischof von Port au Prince, au, die wir hier folgen lassen:
„Wir leben nicht mehr in der Zeit, wo wenige, vereinzelte
Pfarrer, die hier und da in den Gemeinden der Republik
zerstreut wohnten, sich ungeheure Vortheile, leider oft durch
Mittel verschafften, welche das Gewissen und die Kirchen-
gesetze verbieten. — Wozu sollte ich die traurigen Erinne-
rungen der Kirche in Haiti aus der Vergangenheit herauf-
beschwören? Ich bin Priester und ich wünschte, es wäre
zur Ehre des Priesterstandes in meiner Macht, seine Schande
mit meinen Thränen abzuwaschen und sie in ewige Ver-
gessenheit zu versenken. Aber es hängt nicht von mir und
von keinem Anderen ab, diese traurigen Erinnerungen zu
verwischen/' Und an einer anderen Stelle sagt derselbe
hohe Würdenträger der Kirche: „Genügt es übrigens nicht,
die Dörfer und Flecken der Republik zu durchlaufen, um
jetzt noch die lebenden Zeugen beispielloser Ausschweifungen
anzutreffen?"
Es liegt gewiß nicht in unserer Absicht, gerade in
dieser Beziehung eine Auswahl von Skandalgeschichten zu-
sammenzustellen, einige zur Charakterisirung der dortigen
Verhältnisse wichtige Vorgänge müssen wir jedoch mit-
theilen. In der Nähe der Hauptstadt lebte ein Priester,
den der Erzbischof entlassen hatte, weil er in demselben
Hause mit seiner zahlreichen Familie lebte und außerdem
allerlei Handelsgeschäfte trieb; ja er hatte sogar bei der
Regierung darauf gedrungen, den unwürdigen Priester
aus dem Lande zu entfernen. Der Priester bat die fran-
zösische Gesandtschaft um Schutz, indem er sagte, er würde
vollständig rninirt sein, wenn er gezwungen würde, plötz-
lich das Land zu verlassen. Der Vertreter Frankreichs,
welcher auch der Ansicht war, daß es billig sei, ihm Zeit
zu lassen, seine Angelegenheiten zu ordnen, trug die Sache
dem haitischen Kultusminister vor und der meinte: „Nun,
er ist vielleicht ein schlechter Priester, aber ein guter Familien-
vater." Herr Valmy Lizaire, der 1863 Kultusminister war,
schreibt über diesen Punkt u. A.: „Es genügt zu sagen,
daß vielleicht nirgends in der Christenheit der Clerus die
Priesterwürde, mit der er bekleidet ist, so herabgewürdigt
hat, wie in Haiti." Da die Zustände schließlich ganz
unhaltbar wurden, kam das im Jahre 1860 unter-
zeichnete Concordat zu Stande und der Papst schickte Msgr.
Testard de Cosquer als Delegirten ab, um dasselbe zur
Ausführung zu bringen. Dieser würdige Mann kam in
Begleitung einer Anzahl französischer Priester in Haiti an;
letztere wurden nach und nach in die Pfarrgemeinden ver-
setzt, nicht jedoch, ohne daß es vorher zu manch heftigem
Streit mit ihren unwürdigen Vorgängern gekommen wäre.
Die hauptsächlichsten Bestimmungen des Concordáis waren
folgende: Port au Prince wurde der Sitz eines Erzbischofs;
drei vom Staate besoldete Bischofssitze sollten so schleunig
I wie möglich errichtet werden; die Bischöfe sollten vom Prä-
E. Metzger: Haiti.
281
sidcnten ernannt, die Erneuerungen jedoch der Genehmigung
des päpstlichen Stuhles unterworfen werden. Der ganze
Klerus hatte der Regierung den Eid der Treue zu leisten;
die Ernennung der Priester sollte durch die Bischöfe oder
andere durch die Regierung ermächtigte Personen er-
folgen.
Wiewohl die katholische Religion Staatsreligion ist
(übrigens sind alle anderen christlichen und nichtchristlichcn
Bekenntnisse vollkommen frei), ist sie in Haiti nie populär
geworden; unter den höheren Ständen herrscht Unglaube,
unter den niedrigen der Einfluß des Vaudoux. Nament-
lich ihr heftiger Widerstand gegen die Freimaurerei hat
der katholischen Kirche im Wege gestanden, das Vertrauen
und die Neigung der Nation zu gewinnen; selbst aus die
Frauen ist der Einfluß der Priester viel geringer als in
den meisten anderen Ländern. Zeitweise haben einzelne
Würdenträger als politische Maßregel auch den Protestan-
tismus begünstigt, jedoch haben solche Versuche regelmäßig
nicht lange gedauert. Die Regierung zahlt dem Erzbischof
jährlich 800 Pfd. St., zwei Bischöfen jedem 480 Pfd. St.
und so in Abstufungen bis zu 67 Pfarrern, deren jeder
48 Pfd. St. jährlich empfängt. Außerdem muß der Staat
die Wohnungen für die Priester beschaffen. Manche andere
Einnahmen fließen noch den Priestern zu, jedoch macht der
Staat hin und wieder den Versuch, dieselben an sich zu
ziehen; beide Parteien klagen dann über Verletzung des
Concordats.
Oben schon ist erwähnt worden, daß der heftige Wider-
stand, den die katholische Kirche der in Haiti ziemlich un-
schuldigen Freimaurerei bietet, ihr selbst den Weg zu den
Herzen der Einwohner versperrt. Die Haitier nämlich
lieben die Freimaurerei mit ihren Ceremonien und ver-
säumen es namentlich niemals, bei dem Begräbniß eines
Bruders den ganzen Pomp des Ordens zu entfalten. Wenn
man aber die kirchliche Weihe für den Verstorbenen be-
gehrt, müssen alle Zeichen des Ordens vorher sorgfältig
entfernt werden und es kommt da manchmal zn recht unan-
genehmen Scenen. Ein General, der einen hohen Grad
in der Loge bekleidete, war gestorben, die Freimaurer ord-
neten ein prächtiges Begräbniß an, welches Präsident Do-
mingue mit seiner Gegenwart beehren wollte. Als der
Zug im Begriff war, nach der Kathedrale aufzubrechen,
ließ der Vicar sagen, er werde den Zutritt zur Kirche nicht
gestatten, wenn nicht die Procession der Freimaurer unter-
lassen würde. Der Präsident war wüthend, und bei seinem
heftigen Charakter war er im Begriff, ein Bataillon an-
rücken zu lassen, um dem Begräbniß den Weg zur Kirche
zn bahnen, als einer seiner Rathgeber, der sein kaltes Blut
nicht verloren hatte, zu'Domingne sagte: „Die Protestanten
haben nichts gegen die Freimaurerei, wir wollen uns an
den protestantischen Bischof wenden und ihn ersuchen, die
Einsegnung vorzunehmen." Das geschah denn auch; der
ganze Zug mit entfalteten Fahnen und allen freimaure-
rischen Zeichen zog zur protestantischen Kirche, trotzdem
beinahe alle Theilnehmer katholisch waren. Den größten
Abbruch aber thut der Vaudouxdienst der katholischen Reli-
gion, trotzdem durch diesen Dienst Tausende in die Kirche
geführt werden, welche ohne denselben nie an kirchlichen
Ceremonien theilnehmen würden. Die Papalois, die Prie-
ster der Vaudoux, sind ja gar nicht abgeneigt, ihre Jünger
anzuweisen, die eigenen Ceremonien mit denen der Christen
zu vermischen, sie brennen Kerzen vor den Kirchthürcn, und
alle die Knochen und Haare, die bei ihnen eine Rolle
spielen, legen sie dort nieder, sie haben aber auch in ihren
Tempeln, wie schon oben bemerkt, Bilder von der Jungfrau
Maria und von Jesus Christus.
Globus XLVII. Nr. 18.
Durch die ungeheure Verbreitung des Vaudouxdienstes
würde er ohne diesen Umstand dem katholischen Gottes-
dienst noch mehr Abbruch thun, um so mehr, da die katho-
lischen Priester nur gering an Zahl sind und außerdem
der Eifer derselben nicht durch den Wettstreit mit einer
neben ihnen bestehenden protestantischen Kirche angeregt
wird. Trotz der vielen Anekdoten, die auch jetzt noch über
die Priester erzählt werden, giebt Spenser St. John der
Sittlichkeit derselben das beste Zeugniß; dagegen wirft er
ihnen Mangel an Eifer, namentlich aber große Herrsch-
sucht vor. Während der Zeit, daß er in Haiti lebte, schlug
ein Priester in der Kirche einer Dame ins Gesicht, weil
sie einen Fehler gegen das Ceremoniell begangen hatte.
Die Protestantengemeinschaft hat nicht einmal tausend Mit-
glieder, die Wesleyaner zählen etwas mehr Anhänger, alles
zusammengenommen mag die Zahl der nichtkatholischcn
Christen etwa 3000 bis 4000 betragen.
Ehescheidungen sind durch das Gesetz erlaubt, werden
aber von der katholischen Kirche nicht anerkannt, auch dies
trägt nicht dazu bei, die Stellung der Kirche der Bevölke-
rung gegenüber zu verbessern, obwohl dies im Interesse
der Civilisation und für einen erfolgreichen Kampf gegen
die Barbarei sehr zn wünschen wäre; äußerlich aller-
dings sind die Zustände verbessert, die Zahl der Erstkom-
mnnicirenden nimmt zu; um das Bedürfniß an Priestern
zu decken, hat man schon 1864 ein haitisches Seminar in
Paris eingerichtet, welches allerdings wegen Mangel an
Geld geschlossen werden mußte, später jedoch wieder er-
öffnet werden konnte.
Auch der Unterricht läßt sehr viel zn wünschen
übrig. Präsident Geffrard, der bis 1867 an der Spitze
des Staates stand, suchte so viel wie möglich im Interesse
desselben zn wirken, doch aber besuchten in seiner Zeit
kaum ein Zehntel der Kinder die Schule; 1875 (und seitdem
werden sich die Verhältnisse wenig geändert haben) besuchten
19 250 Zöglinge die verschiedenen Schulen, darunter vier
Lyceen mit 543, sechs höhere Mädchenschulen mit 563, fünf
Secundärschulen mit 350, eine Medicinschule mit 25 und
eine Musikschule mit 46 Zöglingen; 165 Elementarschulen
wurden von 11 784, 200 ländliche Schulen von 5939
Schülern besucht. Dazu kamen noch die Schulen der christ-
lichen Brüder und die der Schwestern von Cluny. Ueber
den Zustand der Schulen ist es ziemlich schwierig, sich ein
Urtheil zu bilden. Doch werden selbst in dem officiellen
Rapport für das Jahr 1878 viele Mängel eingestanden.
Für die Lehrer ist ungenügend gesorgt; infolge dessen er-
schlafft ihr Eifer, für Unterrichtsmittel fehlen die nöthigen
Gelder und endlich schickt namentlich die Negerbevölkerung
die Kinder so spät wie möglich zur Schule und entzieht sic
derselben, so bald sie kann, weil sie die Arbeit derselben
im höchsten Grade ausnutzen will. Die Schulen befinden
sich größtentheils in Händen von geistlichen Orden. Man
sagt von denselben, daß sie im allgemeinen die Intelligenz
der Schüler nicht entwickeln; wie cs scheint, wird sehr
viel Zeit mit überflüssigem Religionsunterricht verloren,
die Mädchen müssen eine Menge Hymnen an die Jung-
frau lernen und das Leben der Heiligen studiren; wenig-
stens äußern sich die Verwandten der Zöglinge in diesem
Sinne. Auch in moralischer Beziehung werden Klagen
laut, die schlimme Umgebung macht ihren Einfluß aus die
Schulen merkbar. Ein Herr erzählte, daß er seine Nichten
in der Näheschule aufsuchte und sie da ein sehr unanstän-
diges Lied in der Kreolensprache singen hörte, dessen Be-
deutung sie höchst wahrscheinlich nicht verstanden, und auf
Befragen erzählten sie, daß sie das Lied von den Dienst-
boten der Schule gelernt hätten. Noch schlimmer scheint
36
282
E. Metz ger: Haiti.
es bei den Lyceen auszusehen; in seinem Bericht über eins
derselben sagt der Minister des öffentlichen Unterrichts:
„Was die Studien und die Disciplin der Schüler und
Lehrer betrifft, ist das nationale Lyceum in einen schmäh-
lichen Zustand verfallen. Thcilweise muß dieser Verfall
der oberen Leitung zugeschrieben werden. Dieselbe hat sich
soweit vergessen, den Professoren und Zöglingen schändliche
Beispiele zu geben, welche beweisen, daß der Anstand und
die gewöhnliche Zurückhaltung, welche der Lehrer in Gegen-
wart jüngerer Leute im Auge behalten sollte, nicht beachtet
wurde." Am ärgsten aber macht cs folgender Erlaß, den
wir, dem Beispiele Spenser St. John’s folgend, der ihn als
Sprachprobe des officiellen Französisch anführt, in der
Ursprache hierher setzen. Attendu que le Général
F. Geffrard assasine et empoisonne les citoyens les
plus éminents d’Haïti : attendu qu’il entretient à
l’étranger un très grand nombre d’espions et
d’empoisonneurs à un prix exorbitant.: attendu que
toutes les écoles de filles de la république, notam-
ment celles de Port au Prince, ont pour maîtresses
des femmes d’une vie disolue, a fin de faire de
ces établissements des maisons de séduction à son
profit.etc. etc. Ob diese Vorwürfe gegen den Ex-Prüsi-
denten nur vom Parteihaß diktirt waren, müssen wir unent-
schieden lassen.
Gewiß können wir daher sagen, daß wenig für den
Unterricht geschieht, und doch wird dies Wenige noch durch
Unruhen und Streitigkeiten manchmal ans Nichts reducirt;
ja selbst in ruhigen Zeiten werden die heiligsten Interessen
der Politik untergeordnet, manche Lehrerstellen werden nicht
mit befähigten, sondern mit politisch angenehmen Personen
besetzt.
Ueber die guten Anlagen der Negerknaben haben wir
oben bereits gesprochen, noch mehr werden die jungen
Mulatten namentlich ihres Gedächtnisses wegen gerühmt.
Gegen die Erziehung der Kinder in Europa macht sich
auch eine starke Strömung fühlbar; man fürchtet dadurch
französische Ideen und Sympathien im Lande zu erwecken
und so die Unabhängigkeit zu gefährden. Auch in anderer
Beziehung kann natürlich eine gute in Europa erhaltene
Erziehung zum Fluch werden, wenn diejenigen, welche sie
genossen haben, gezwungen sind, in Kreisen zu leben, über
die sic weit hinausgeführt worden sind.
Die Justizverwaltung befindet sich ebenfalls in
einem traurigen Zustande; wenige Personen nur setzen
Vertrauen in den Ansspruch der Richter ; letztere werden zu
oft durch geldliche und politische Rücksichten beeinflußt, und
der weiße Fremde, der nicht gut zahlt, hat nur wenig Aus-
sicht, zu seinem Rechte zu kommen; vor dem Polizeigericht
ist sein Schicksal schon vor der Verhandlung bestimmt.
Während Spenser St. John sich in Port an Prince auf-
hielt, suchten die meisten Fremden dieser Behörde aus dem
Wege zu gehen; doch zu ihrem Unglück war das nicht immer
niöglich. Ein älterer Franzose z. B. wurde vor den
Friedensrichter vorgeladen, er sollte einen Schwarzen ange-
griffen haben; die Sachlage war für ihn so günstig, daß
sogar der schwarze Friedensrichter ihn freisprechen wollte;
da erhob sich aber aus allen Ecken des Saales ein lautes
Geschrei und warf dem Mann des Gesetzes vor, er habe
für den Weißen Partei genommen, und die Folge war, daß
der Franzose verurtheilt wurde. Einen so augenscheinlichen
Mißbrauch der Justiz konnte man nicht mit Stillschweigen
übergehen und die Autoritäten, welche fürchteten, der Aus-
spruch möchte durch eine höhere Instanz vernichtet werden,
ließen die Sache im Sande verlaufen, ohne die auferlegte
Strafe einzufordern.
Zwei Brüder waren angeklagt, einen Franzosen, ihren
Wohlthäter, ermordet zu haben; die Umstände sprachen zu
deutlich gegen sie, und ihr Advokat, durch und durch ein
grober, roher Mensch, suchte vergebens nach Argumenten,
auf welche er seine Vertheidigung stützen könnte. Endlich
sah er sich im Gerichtshöfe um und wendete sich grinsend
an die Jury mit den Worten: „Nun, Alles in Allem ist
es ja nur ein Weißer weniger." Der schlechte Witz rief
Gelächter hervor und die Beschuldigten wurden mit allen
Ehren freigesprochen, wiewohl die Volksstimme sie für die
Mörder erklärte und noch jetzt ein darauf bezügliches Lied
singt, dessen Refrain lautet: „Mouó par tuép’tit blanda."
(Ich habe den kleinen weißen Mann nicht getödtet.) Bei
Civilklagen spielt die Bestechung der Richter eine Offen-
kundige Rolle. Dieselben werden nur selten aus den Ju-
risten gewühlt; die Regierung kann, wen sie Lust hat, zu
solchen Stellen ernennen und benutzt dies, um Dienste, die
ihr auf politischem Gebiete geleistet worden sind, zu be-
lohnen; daher sehen sich die glücklichen Besitzer solcher
Aemter als vollkommen berechtigt an, einen möglichst
großen Nutzen aus denselben zu ziehen; ihr geringes Ein-
kommen dient ihren Frauen als Vorwand, um Handels-
geschäfte zu treiben, wozu sie allerdings sehr viel Lust und
eine angeborene Anlage besitzen. Die Advokaten sind viel-
fach ebenfalls ohne besondere Fähigkeiten, wiewohl es aller-
dings unter ihnen auch sehr tüchtige Leute giebt. Im
allgemeinen muß bei ihnen der Schein sehr viel wirken,
um das Publikum über ihre Fähigkeiten zu täuschen; im
Gerichtssaal umgeben sie sich mit Haufen von Büchern und
lieben es, Bruchstücke aus den Reden der besten französischen
Advokaten zum Besten zu geben. Ein großer Theil dieser
Gesetzkundigen genießt in Geldsachen kein Vertrauen: An
den Gesetzen und Verordnungen des Landes liegt das frei-
lich nicht, dieselben sind ebenso bis ins Einzelne ausgear-
beitet, wie die anderer Länder, und die Bücherbretter einer
Bibliothek würden, wie unser Autor sagt, unter ihrem Ge-
wichte seufzen. Die jungen Leute erhalten ihre Ausbil-
dung zum Juristen zuweilen in Frankreich, die meisten
jedoch studiren zu Hause; nachdem sie ein Examen abgelegt,
empfangen sie die Berechtigung, eine „Etüde" aus eigene
Rechnung zu eröffnen. Mit Ausnahme der Friedens-
richter ist der ganze Richtcrstand unabsetzbar, eine Bestim-
mung, die natürlich im Taumel der Revolutionen nur
einen theoretischen Werth besitzt. Aus die Einzelheiten der
Gesetzgebung einzugehen, können wir um so mehr unter-
lassen, als dieselben den französischen Einrichtungen nach-
gebildet sind.
Dem dunklen Bilde, welches wir Spenser St. John
folgend bis hierher gegeben haben, soll auch eine halb
komische Seite nicht fehlen; es ist dies die Schilderung,
welche von der Armee entworfen wird. Ein großer Theil
der Einkünfte des Landes wird verwendet, um eine auf
dem Papier zahlreiche, in Wirklichkeit aber unbedeutende
Armee zu unterhalten. Mit Ausnahme von einigen hun-
dert gut disciplinirten Truppen bestand die Armee immer
aus undisciplinirten, dem Bauernstände entnommenen
Massen, kommandirt von eben so unwissenden Officieren.
Ein Bataillon zog zur Parade mit zehn Officieren, drei-
zehn Soldaten und sechs Trommelschlägern; die anderen
Leute erschienen gewöhnlich nur am Zahltage. Als ein
französischer Admiral einmal die Erlaubniß erhalten hatte,
einer Sonntagsrevue beizuwohnen, bei der ein Kavallerie-
regiment in entsprechender Stärke, wie das eben erwähnte
Bataillon, auftrat, wendete sich der Präsident mit Würde
zu seinem Gast und sagte: „Das Regiment hat im letzten
Kriege viel gelitten." In der Einleitung haben wir be-
E. Metzger: Haiti.
283
reits eiu paar Worte über die äußere Erscheinung der
Generale und Soldaten gesagt, so daß wir diesen Punkt
süglich übergehen können; bemerken wollen wir jedoch, daß
der Neger im allgemeinen eiu schlecht gebauter, schlapper
Bursche ist, der selten gut in der Uniform aussieht und den
Dienst verabscheut, obwohl man, um denselben weniger
ermüdend zu machen, den Schildwachen Stühle verabreicht.
Dabei sind die Haitier nicht wenig stolz darauf, die Fran-
zosen und Engländer vertrieben zu haben und halten sich
für eine kriegerische Nation.
In früheren Jahren, unter General Boyer's Präsident-
schaft, berechnete man dieStärke derArmee auf 30000 Mann;
einige Monate nach dem Fall des Generals Geffrard (1867)
betrug dieselbe 6500 Generale und Officiere ohne Trup-
pen, 7000 eingetheilte Officiere und 6500 Mannschaften,
nach den neuesten Angaben soll sie etwa 16 000 Mann,
worunter 1500 Divistonsgenerale, betragen. Die große
Anzahl der Generale erklärt sich dadurch, daß die höheren
militärischen Würden eine Belohnung für politische Dienste
sind, so daß jede neue Revolution einen bedeutenden Nach-
schub an Generalen und Obersten bringt. Ein Kriegs-
minister, der einer gefälligen Dame auch seinerseits gefällig
zu fein wünschte, schenkte ihr ein unausgefülltes Patent,
und sie verkaufte dasselbe für etwa fünf Pfund. Präsident
Salnave erhob einen gewöhnlichen Arbeiter zum Range
eines Brigade-Generals. Da derselbe kein Geld besaß,
um eine Uniform zu kaufen, stahl er vorläufig ein Paar
goldgestickte Beinkleider aus einem Kleiderladeu, wobei er
zu seinem Unglück entdeckt wurde; er flüchtete in das Zim-
mer des Präsidenten, wurde jedoch durch denselben der Po-
lizei übergeben. Die gestohlenen Beinkleider wurden ihm
um den Hals gebunden, eiu Strick machte sein Weglaufen
unmöglich und in diesem Aufzuge wurde er erst durch die
Stadt geführt und, als er zu ermüdet war, auf einen Esel
gesetzt, um seinen Umzug zu vollenden, wobei er manchen
Schlag von der ihn bewachenden Mannschaft empfing.
Was oben über den Muth gesagt wurde, bezieht sich
nur auf die Masse des Volkes; die Anführer dagegen zeich-
neten sich persönlich in hohem Maße aus, namentlich in
dem Kriege von 1868 bis 1869. Der Neger der Revolu-
tionszeit, der durch die Ausschreitungen seiner Herren zur
äußersten Wuth gestachelt war, hat zwar brav gefochten,
feit der Zeit aber sind seine guten militärischen Eigenschaf-
ten verschwunden; er ist noch ein guter Fußgänger, ist
geduldig und enthaltsam, aber der unglückliche Feldzug
Soulougues in San Domingo beweist, daß der Haitier
nicht fechten will. Eine Menge einzelner Züge werden
über die Armee mitgetheilt, deren jeder einzelne im Stande
ist, dieselbe noch mehr in der guten Meinung herunterzu-
drücken, als dies nach den bisherigen Mittheilungen bereits
der Fall sein dürfte. Als Beweis für die Unwissenheit
der Officiere führen wir folgendes an: Ein General sah
ein Boot mit der spanischen Flagge in den Hafen zu Port
au Prince einlaufen. Er begab sich selbst nach dem Hafen
und fragte die Officiere, zu welcher Nation sie gehörten.
„Spanier", war die Antwort. „Spaniolen", schrie er,
„dann seid ihr Feinde." Er wollte sie arretiren lassen,
weil er von dem Gedanken ausging, daß sie aus San Do-
mingo kamen, mit dem Haiti sich damals auf dem Kriegs-
fuße befand. Es bedurfte der nachdrücklichen Vermittelung
des französischen Konsuls, um Gewaltmaßrcgelu zu verhüten;
der Negergeneral hatte nie von Spanien gehört, obwohl
Cuba im Gesichtskreise der Küste von Haiti liegt.
Nach dem Gesetz wird die Armee durch Conscription
ergänzt; die Conscribirten dienen sieben, Freiwillige nur
vier Jahre. Diese Bestimmungen scheinen jedoch nur dem
I Namen nach zu bestehen; die Praxis faßt die Sache ganz
anders auf. Spenser St. John erzählt, daß während
seines Aufenthalts in Haiti die Rekrutirung unabänderlich
so vor sich ging, daß jeder Regimentschef Mannschaften in
die Straßen ausschickte, welche alle Leute aufgriffen, die
ihnen für den Dienst geeignet vorkamen. Die auf diese
Weise eingereihten Mannschaften hatten Mühe, wieder los
zu kommen, und cs kam vor, daß auf diese Weise Deputirte
und Senatoren in die Kaserne zur Einkleidung geschleppt
wurden. Wenn solche gewaltsamen Werbungen stattfinden,
halten sich die Männer klüglich zu Hause, und nur die
Frauen kommen vom Lande nach der Stadt. Dabei wur-
den diese gezwungenen Soldaten wie zum Hohne als Frei-
willige angeredet; Geffrard, zu dessen Sturz diese gewalt-
samen Werbungen die direkte Veranlassung gaben, liebte es,
sie anzureden, als ob sie voll von Enthusiasmus wären,
sich der Armee anzuschließen, und die armen Schlachtopfer
standen mit verbissener Wuth da, gut bewacht von den
Leuten, welche sie eingefangen hatten. Die Armee wird
schlecht bezahlt, ein Divisionsgeneral empfängt 140 Pfd. St.
im Jahre, eiu Soldat 2,10 Pfd. St. Außerdem erhalten
die Mannschaften Lebensmittel, jedoch nur so lange sie im
Dienst sind; die Garden bestehen großeutheils ans Hand-
werk- rn, die gerne dem Chef eine gewisse Summe in der
Woche bezahlen, um ihrem Berufe nachgehen zu können.
Die Mannschaften der anderen Truppen erscheinen gewöhn-
lich nur an den Zahltagen; doch viel ärgere Mißbräuche
noch werden berichtet. So erzählt unser Autor folgende
Anekdote, die wohl mitgetheilt zu werden verdient, weil sie
sowohl einen interessanten Beitrag zur Beurtheilung mili-
tärischer Zustände als auch den Beweis liefert, wie vor-
sichtig man in Haiti mit seinen Worten sein muß. Eines
Tages, als er zum Diner eingeladen war, wurde vor dem
Essen erzählt, daß der die Wache befehligende Kapitän
abgefaßt worden sei, als er das Zollhaus beraubt hatte;
die Erzählerin, eine in England erzogene und mit einem
Engländer verheirathete Dame, theilte ferner mit, daß der
Präsident dem Schuldigen habe die Epauletten herunter-
reißen lassen. Darauf habe er sich abgewendet, doch gleich
nachher gefragt, ob der Unglückliche todt sei. „Todt?"
habe der Adjutant gefragt, woraus der Präsident sich dahin
geäußert habe, daß ein Officier, der so in der Ocsfentlich-
keit mit Schande bedeckt sei, doch wohl seinem Leben sofort
ein Ende gemacht haben würde. Die Geschichte rief ein
herzliches Gelächter hervor, einmal wegen der Aeußerung
des Präsidenten, dann wegen des Gedankens, daß ein Offi-
cier in Haiti sich wegen einer solchen Kleinigkeit das Leben
nehmen könne. Spenser St. John aber machte gegen
seine Nachbarin die Bemerkung, daß der Präsident besser
thun würde, anstatt der kleinen Diebe die großen, wie
z. B. Herrn •£., zu strafen. Bei diesen Worten drehte sich
die Dame ruhig nach ihm um und sagte: „Es scheint, Sie
wissen nicht, daß Herr 3c. mein Bruder ist." Man kann
sich den Schrecken unseres Autors denken; aber die Dame
war nicht einmal böse, sondern forderte ihn beim Essen auf,
mit ihr anzustoßen. Dieser Herr 9t. hatte nämlich etwa
70 000 Dollars veruntreut, brachte cs jedoch hinterher
noch zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten; einen
nichtsmürdigeren Manu hätte selbst Haiti schwerlich hervor-
bringen können, sagt der Autor.
Wie die Polizei beschaffen ist, kann man sich vor-
stellen. Jeder Beschuldigte wird angesehen, als ob er
schuldig wäre, und die cocomacaque, die Keule, mit der
man anstatt der durch alte Erinnerungen mißliebig gewor-
denen Peitsche die Polizeidiener bewaffnet hat, spielt auf
seinen Schultern; es kommt vor, daß der Uebelthäter unter
36*
284
E. M etzg er: Haiti.
den wuchtigen Schlägen liegen bleibt. Für die Aufspürung
von Verbrechern besitzen diese Leute keine Geschicklichkeit;
Verbrechen, die mit der größten Brutalität begangen wer-
den, bleiben oft lange ungestraft. In Bezug auf die Poli-
tischen Vergehen verläßt sich die Regierung mehr auf Ver-
rüther als auf die Polizei. Selbst die Gesandten werden
belauert und Gesfrard ließ sie öfter hören, was sie gesagt
hatten, so daß es ihnen leicht wurde zu entdecken, wo die
Spione zu suchen waren; sie benutzten dies nun später, um
ihn auf diese Art das hören zu lassen, was sie zu seiner
Kenntniß bringen wollten, ohne es ihm doch direkt mitthei-
len zu können. Unter Soulouque war es noch ärger; ein
Bettelweib, welches einige Officiere, die vor dem Palast
eine Gruppe bildeten, vergebens um ein Almosen angesprochen
hatte, fing an laut zu rufen, daß eine Verschwörung gegen
den Kaiser gebildet würde; die Officiere beeilten sich, ihr den
Mund mit Banknoten zu stopfen und lachend ging sic weg.
Die Gefängnisse befinden sich in einem sehr traurigen Zu-
stande, vergebens haben sich selbst die Gesandten bemüht, die
Negierung zu veranlassen, Verbesserungen hierbei einzuführen.
Dem blutdürstigen Pöbel zu genügen, wird oft die
fürchterlichste Ungerechtigkeit verübt; der Präsident Salnave
hatte einmal einen von fünf zum Tode verurtheilten Ver-
brechern begnadigt, das Volk war hiermit nicht zufrieden
und der Präsident ließ einen anderen, dem er erst am Tage
vorher Gnade geschenkt, zum Tode führen; bis in die
neueste Zeit hat das Volk oft in blutiger Weise seinen
Willen geltend gemacht. Daß bei solchen Zuständen die
Polizei auch der Bestechung in hohem Maße zugänglich ist,
kann weiter keine Verwunderung errregen; wie weit dies
aber geht, möge folgende kleine Geschichte zeigen. Ein die-
bischer Diener hatte Spenser St. John und seinem spani-
schen Kollegen 18 Dutzend Flaschen Bordeaux gestohlen;
die Polizei, deren Hilfe die beiden Herren nachgesucht hatten,
brachte nach und nach zwei Dutzend und weitere sieben Fla-
schen zurück. Einige Tage später sahen die beiden Ge-
sandten einen Herrn ans Haiti zum Frühstück bei sich, der,
als er das Etikett: Chateau Gisconrs, de Luze Bordeaux
sah, lachte und sagte: „Jetzt verstehe ich eine Bemerkung
des Ministers des Inneren über den ausgezeichneten Wein,
den der englische Gesandte importirt." Bei näherer Nach-
forschung ergab sich folgendes: vier Dutzend Flaschen von
dem gestohlenen Wein hatte ein guter Freund des Ge-
sandten gekauft, vierzehn Dutzend hatte die Polizei angehalten
und davon elf Dutzend und fünf Flaschen an verschiedene
Würdenträger vertheilt!
Die gewöhnliche Sprache des Volkes ist das Kreo-
lische, die Amtssprache das Französische. Ersteres ist ver-
dorbenes Französisch und Afrikanisch, das ein Franzose
nicht direkt verstehen kann; übrigens ist es dieselbe Sprache,
welche in ganz Westindien gesprochen wird. Bis jetzt kann
mau von einer eigentlichen Nationallitteratur kaum sprechen,
da das Französische noch zu großen Einfluß besitzt; am
eigenthümlichsten stellt sich der Volksgeist in den Sprich-
wörtern dar ch, die vom Französischen sehr abweichen und
vom Volke immerfort im Gespräch angewendet werden.
Die gesprochene Sprache ist noch undeutlicher als die ge-
schriebene, da die Neger ihre Sätze sehr verkürzen. Im
ofsiciellen Französisch machen sich allerlei ständige Phrasen
geltend; eine Probe dieses Stils haben wir oben bereits
gegeben. Die Schriftsteller sind größtentheils Mulatten,
und einzelne verdienen namentlich als Dichter genannt zu
Recueil de Proverbes Qreoles. Port au Prince
1877.
werden, wiewohl sie das überschwängliche Lob, das ihnen
Edgar la Selve spendet, sicher nicht verdienen. Im all-
gemeinen kann man sagen, daß in der Poesie weniger Ori-
ginelles geboten, als vielmehr französische Dichter, nament-
lich Lamartine, wiedergegeben werden; die Gedichte besitzen
nur ausnahmsweise eine Lokalsürbung, und die Poesie geht
ebenso wie das Volk dem Verfall entgegen.
Ehe wir schließen, wollen wir noch ein Wort über die
w i r t h s ch a f t l i ch e n V e r h ü l t n is s e des Landes beifügen.
Vergebens hat man aus die hohe Bedeutung des Ackerbaues
hingewiesen, für den Haiti, wie kein anderes Land geeignet
ist; in dem Flachlande findet man noch große Landgüter;
im Gebirge ist der Grundbesitz sehr zersplittert; die Staats-
domänen sollten 1877 verkauft oder für neun Jahre ver-
pachtet werden; in genanntem Jahre waren 230 000 Acker
Staatsländereien (für durchschnittlich 2 Schilling) verpachtet.
Der Kaffee gehört mit §u den wichtigsten Produkten; er ist
sehr gut, wird aber nicht sorgfältig genug behandelt; seit
1824 ist der Ertrag etwa stationär geblieben, erreicht aber
den Ertrag von 1789 kaum zu fünf Achtel; größtentheils
verrichten die Frauen die Arbeit. Zuckerrohr wird immer-
noch viel und unter günstigen Vorbedingungen gepflanzt;
man bedient sich einfacher Maschinen, da wenige Haitier,
welche Kapital besitzen, geneigt sind, dasselbe in industriellen
Unternehmungen anzulegen. Während des Krieges in den
Vereinigten Staaten hat man die Baumwollenkultur zu
entwickeln gesucht, was jedoch durch die unzweckmäßige
Ausführung der genommenen Maßregeln nicht erreicht
wurde. Die ganze Ausfuhr betrug 1790 11 Millionen
Psd. St., seit der Unabhängigkeitserklärung höchstens 2,3
Millionen Psd. St.
Das Einkommen der Republik ist großentheils (wie bei
den meisten amerikanischen Republiken) ein Erträgniß der
Zölle; die Finanzen waren durch die im Jahre 1825
an die französischen Kolonisten bewilligte Entschädigung
von 6 Millionen Psd. St. in einen sehr schlechten Zu-
stand gekommen; seitdem hat man hier und da den Ver-
such gemacht, Verbesserung in diesen Zustand zu bringen.
Das haitische Papiergeld hat im Lause der Zeit sehr ver-
schiedene Werthe gehabt; 1863 stand es zum Silber wie
12*/2:1, 1865 wie 17:1; das Papier, welches die Regie-
rung Saluave's ausgegeben hat, wurde im Verhältniß von
1 Dollar Silber gegen 6500 Papierdollar eingewechselt!
Wir nehmen hier Abschied von Haiti und dem Buche
Spenser St. John's, dessen Lectüre wir, trotzdem wir von ihm
(mit Ausnahme des Geschichtlichen) eine vollständige Ueber-
sicht zu geben versucht haben, der sehr vielen interessanten
Details wegen nicht genug empfehlen können. ' Erwähnen
wollen wir noch, daß ein Eingeborener von Haiti, Dr. Jan-
vier, in zwei in französischer Sprache geschriebenen Werken H
ein viel günstigeres Bild von seinem Vaterlande zu ent-
werfen sucht. Das französische Publikum, sagt er, kennt
nur die Regierung des Kaisers Soulouque, den man aus
Haß gegen einen anderen Kaiser lächerlich zu machen gesucht
hat. In geistiger Beziehung nennt er Haiti eine franzö-
sische Kolonie, die mehrere ausgezeichnete französische Dichter
hervorgebracht hat. Die Regierung des Generals Salomon
(der beiläufig gesagt eine Vollblutfranzösin zur Frau
hat) sucht in jeder Beziehung das Gute zu fördern. Er
muß jedoch zugeben, daß die Revolte von 1883 „wie alle
Bürgerkriege durch bedauernswerthe Excesse sich auszeichnete".
Ueber Kannibalismus und Vaudouxdienft schweigt er.
I La république d’Haïti et ses Visiteurs (1882) und
Les affaires d’Haïti (1885).
Ein neuer Handelsweg nach Sibirien.
285
Ein neuer Handelsweg nach Sibirien.
Die „Ocstliche Rundschau" („Vostotschnoje Obosrenije")
des laufenden Jahres veröffentlicht in der Nr. 1 und 8
zwei Briefe, welche A. Sibir iakow an die Redaction ge-
richtet. Der erste lautet:
In Hinsicht ans die verschiedenen Gerüchte über meine
mit dem Dampfschiff „Nordenskiöld" im Sommer des
Jahres 1884 nach Sibirien ausgeführte Reise habe ich die
Ehre, Folgendes mitzutheilen: Nachdem ich das Dampfschiff
„Nordenskiold" an der Mündung der Pctschora nahe der
Barre nach Archangelx) abgefertigt hatte, bestieg ich den
Dampfer „Ob" und fuhr mit demselben die Petfchora
stromaufwärts. Ich bemerke dabei, daß die Mündungs-
barre der Petfchora durch keinerlei Marke gekennzeichnet
ist; deshalb ist das Passiren derselben auch für kleinere Fahr-
zeuge schwierig: wenn ein dem „Ob" voranfahrendes Boot
nicht immerfort uns den Weg gewiesen hätte, so Hütten
wir leicht auf eine Sandbank gerathen können. Trotzdem
alle Waaren ausgeladen waren, konnten wir nicht einmal
bis Ust-Tfylma gelangen, nicht weil zu wenig Wasser
im Flusse war, sondern wegen der vielen Sandbänke,
welche nicht bezeichnet sind. Am 30. August gcrieth das
Schiff 20 Werst vor Ust-Tsylma auf eine Sandbank,
wurde aber bereits nach einigen Stunden flott; ich ließ
daher den „Ob" nach Chabaricha, 40 Werst unterhalb
Ust-Tsylma, ins Winterlager gehen, ich selbst aber bestieg
ein Boot und langte mit demselben am 8. September im
Dorfe Oranetz (etwas südlich vom 65. Breitengrade) an.
Von dort reiste ich am 15. September auf Renthieren zum
Ural. Am anderen Tage traf ich in der Nähe des Berges
Sabljä Herrn Nossilow und reiste mit ihm gemein-
schaftlich über den Ural. Der Winterweg über den Paß
von Schtschekurinsk ist bereits von Herrn Nossilow im
zweiten Hefte der „Nachrichten der K. Rufs, Geogr. Ges.
1884" beschrieben worden; der Sommerweg unterscheidet
sich wenig davon. Er geht von Oranetz über eine sumpfige
Ebene bis zum Berge Sablsä (mehr als 40 Werst), dann
wendet er sich zum Flusse Patek (etwa 20 Werst) und
folgt diesem bis zu seinem Ursprünge aus einem kleinen,
etwa eine Werst langen See. Dieser See — eigentlich
sind es zwei durch ein Flüßchen vereinigte Seen — liegt
gerade auf der Wasserscheide. Nachdem eine abschüssige
Höhe, welche die Wasserscheide der beiden Stromgebiete
des Ob und der Pctschora darstellt, und von welcher aus
sowohl der See, als auch der Fluß Schtschekurja sichtbar
sind, passirt ist, senkt sich der Weg zu letzterem, welcher
vom Fuße des Berges herkommt, und folgt demselben bis
zu der sog. O stjäkenstraße, welche gut ausgehauen und
so bequem ist, daß ich das nächste Mal die Reise mit
Pferden zu machen beabsichtige. Die Ostjäkenstraße führt
zum Ursprünge des Flüßchens Pol sä, einem Nebenflüsse
der Schtschekursa und folgt demselben bis zum Hanse des
Herrn Schischkin, welcher einst an der Polsä eine Gold-
wäscherei hatte. Das Hans liegt 25 bis 28 Werst von
dem Dorfe Schtschekurinsk, von wo ab der Sommerweg mit
dem Winterwege zusammenfällt. Der Weg verläßt die
Poljü und kommt auf eine sumpfige Ebene heraus, 15 bis
17 Werst vom Dorfe. Im Winter sind die Sümpfe bequem
passirbar, im Sommer aber sehr schwierig; es ist daher
besser vom Hause Schischkins einen anderen Weg einzuschla-
gen, nämlich dem Flüßchen Polsä bis zur Einmündung in
den Fluß Schtschekurja nahe am Dorfe zu folgen; hier soll
auch eine durchgehauene Ostjäkenstraße existiren. Im
Dorfe Schtschekurinsk traf ich am 27. September ein, also
12 Tage, nachdem ich Oranetz verlassen, doch hatte ich
davon drei Tage unterwegs ausgeruht. An demselben
Tage fuhr ich dann aus einem Boote zu den Syrjänschen
Jurten und weiter nach Beresow am Ob, das ich am
1. Oktober erreichte; am 18. Oktober war ich in To-
bolsk. Was die Dampfschiffvcrbindung auf der Pctschora
einerseits und auf der Sygwa und Sosswa andererseits
betrifft, so giebt es auf der Pctschora bis Oranetz für
flachgehende Dampfboote keine Hindernisse; cs befahren
bereits 3 Dampfer die Pctschora vom Hafen Jakschi,
600 Werst oberhalb Oranetz bis zur Mündung. Die
Sosswa und Sygwa sind beide durchaus schiffbar, meine
Waaren sind in diesem Sommer auf einem Dampsboote
aus Tobolsk dahin befördert worden. — Ich bin der Ansicht,
daß der U r a lp a ß v o n S ch t s ch e k u r i n s k, welcher nur
170 Werst lang ist und der Anlage einer Sommerstraße
keinerlei Schwierigkeit bereitet, für den Waarentransport
zwischen Sibirien und Europa von großer Bedeutung wer-
den kann: Waaren, welche zur See in die Mündung der
Petfchora geschafft werden, können noch in derselben Navi-
gationsperiode Sibirien erreichen.
Was die Seefahrt bis zur Petschoramündung betrifft,
so ist ganz unzweifelhaft der Weg in jedem Sommer frei;
sogar in diesem Jahre 1884, wo eine so große Eismasse
sich am Südnfer des Mnrmanischcn Meeres angehäuft hatte,
war der Zugang zur Pctschora frei, man muß nur von der
Insel Kolgujew soviel als möglich zum Petschorabusen
halten^ Ein unerfahrener Kapitän könnte leicht vor den
im Busen herumschwimmenden oder aus den Sandbänken
lagernden Eismassen zurückschrecken; doch sind die Eis-
massen sehr zerstreut und bieten der Fahrt so freien Spiel-
raum, daß sie als völlig unschädlich gelten können.
Der zweite Brief lautet:
Der während der vorigen Navigationsperiode (1884)
glücklich gelungene Waarentransport durch die Petschora-
mündung nach Archangel hat in mir die Idee auftauchen
lassen, eine Handelsverbindung zwischen Europa und Sibi-
rien ausschließlich durch die Petfchora einzurichten. Die
Möglichkeit derselben erkenne ich an, ebenso den großen
Nutzen derselben insbesondere für die Bewohner des Pet-
schoralandes, weil an jene Verbindung sich die Einrichtung
eines bequemen Landweges über den Ural schließt und
damit ein großer Theil an solchen Vorräthen aus Sibirien
herbeigeschafft werden kann, welche jetzt von der Kama
ans zur Petfchora gelangen--------trotzdem bleibe ich bei
meiner Ueberzeugung, welche ich so oft ausgesprochen, daß
eine directe Seefahrt durch das Karische Meer nach Sibi-
rien möglich sei. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß
das Karische Meer zu einer bestimmten Zeit des Jahres
schiffbar ist, leider aber nur unter gewissen Bedingungen,
welche bis jetzt noch zu wenig erforscht sind.
Eine nicht geringe Bedeutung hat bei der direkten
Seeverbindung mit Sibirien die Errichtung von Stationen,
i) Das Schiss ist am 28. August daselbst eingetroffen.
286
Aus allen Erdtheilen.
in welchen das Dampfschiff in besonderen Fällen überwin-
tern kann, oder wo es wenigstens die Möglichkeit hat, ab-
zuwarten, bis die Eismafsen unter dem Einflüsse der Strö-
mungen, der Winde und des Schmelzend eine solche
Gruppirung annehmen, daß sie dem Schiffe eine freie Fahrt
durchs Meer lassen. Solche Stationen wären etwa zu
errichten am Jugorski Schar für die von Europa nach Si-
birien gehenden Schiffe, und an der Westseite der Halbinsel
Jalmal für die in umgekehrter Richtung gehenden Fahr-
zeuge. In Hinsicht der erstgenannten Station ist der
Ljämtschinbusen schon längst als ein günstiger Ankerplatz
für Schiffe bekannt; an der Westseite der Halbinsel Jal-
mal dagegen ist bis fetzt noch kein geeigneter Hafen ent-
deckt, während doch früher, wie Professor Nordenskiöld mit-
theilt, hier ein bequemer unter dem Namen Port Nassau
bekannter Hafen existirt haben soll; doch weiß man heute
nicht, wo Port Nassau lag.
Wenn man an jenen Stationen Kohlenvorräthe an-
legte, Lebensmittel aufhäufte, wenn man Gebäude daselbst
errichtete, so würden die Stationen nicht nur einen sehr
guten Zufluchtsort für die Schiffe abgeben, sondern auch zu
Winterquartieren dienen können; damit würden die Bedin-
gungen der direkten Seeverbindung mit Sibirien nuzwcifel-
hast sich bessern und die Fahrten würden nicht so gewagt
erscheinen, wie heute.
Aus allen
Asien.
— Vor einiger Zeit verlautete, daß auf Anregung der
Gesellschaft zur Unterstützung des russischen Handels in den
Ministerien der Marine und der Finanzen aufs Neue die
Frage aufgeworfen sei, ob es nicht zeitgemäß, eine gelehrte
Expedition z u r U u t e r s u ch u n g derOb - Mündung und
des Ob-Busens auszurüsten. Die Geschichte dieser für
den sibirischen Handel wichtigen Angelegenheit ist in Kürze
folgende: Der russische Kaufmann M. K. Sidorow setzte
im Jahre 1869 eine Prämie von 2000 Pfd. St. demjenigen
Schisse aus, welches vom Eismeere aus die Mündung des
Ob und des Jenissei erreichen würde. Der englische Kapitän
W i g g i n s fuhr im Jahre 1874 mit seinem Dampfer „Diana"
bis zur Ob-Bucht und zur Weißen Insel (Belij ostrow), wagte
aber nicht in die Ob-Bncht hinein zu schiffen. Wiggins
lieferte nach seiner Rückkehr eine Beschreibung seiner Reise
und zeichnete eine Karte. Hierdurch wurde es dem Pro-
fessor Nordenskiöld möglich, mit einem Segelschoner „Pröven"
aus dem Karischen Meere in den Jenissei hineinzufahren.
So war im Jahre 1875 der direkte Weg von Europa nach
der Ob-Bucht und zur Jenissei-Mündung entdeckt. Allein
der Weg war äußerst gefährlich. Im Jahre 1880 wurde
eine Summe von 63 820 Rubel angewiesen, um dieOb-Mün-
dung hydrographisch zu untersuchen. Die unter dein Befehl
des Obrist im Steuermannkorps Moissejew stehende Expedi-
tion hatte wenig Erfolg. An der Expedition hatte die sibi-
rische Kaufmannschaft sehr regen Antheil genommen. Man
hegte nun den Wunsch, im Frühjahre 1885 eine neue Expedi-
tion, deren Unkosten etwa 60 000 Rubel betragen sollten,
vorzubereiten, die sibirischen Kaufleute sollten zur Aus-
rüstung der Expedition beisteuern. Dieselben erklärten sich
bereit, die Organisation der Expedition zu fördern, jedoch nur
unter der Voraussetzung, daß sich die sichere Ueberzeugung
gewinnen ließe, es sei das Karische Meer thatsächlich zu
einer bestimmten Zeit des Jahres schiffbar und zugänglich.
Die Fahrt des „Pröven" unter Nordenskiöld hatte sie von
der Schiffbarkeit des Karischen Meeres nicht vollständig
überzeugt. Dazu kommt, daß Baron Knop, Chef eines großen
Handelshauses in St. Petersburg, erklärt hat, daß er von
einem Seehandel mit Sibirien durch das Karische Meer
abstehe und sein Komptoir in Jenisseisk schließen werde. Eine
genaue Untersuchnng der Mündungen der Flüsse Ob-Jenissei,
sowie der dazu gehörigen Meerbusen, ist freilich unbedingt
nothwendig. Die Untersuchungen hätten zu beginnen mit
der Errichtung beständiger meteorologischer Stationen auf der
Insel Waigatsch, am nordöstlichen Ende der Matotschkin Schar
und am Südende von Nowaja-Zemlja, auf der Insel Beloje
Erdtheilen.
an der Einfahrt in den Ob-Busen und am Ende des Jenissei-
Busens bei Monastyrskoje. Vor allem müßten genaue
Beobachtungen über die Bewegungen des Eises im Karischen
Meere angestellt werden Z. (Nowosti.)
— In der Decembersitzung der ethnographischen Sektion
der Kaiserl. Russischen Geographischen Gesellschaft in St.
Petersburg machte D. L. Iwanow einige Mittheilungen
über die Alterthümer im Türke st an er Gebiet.
Besonders interessant sind die Ruinen „Achyr-tasch" (b- i.
steinerne Krippe), welche 40 Werst (Kilom.) östlich von der
Stadt Aulieata am Nordabhange des Alexandrow-Gebirges
liegen. Es werden diese Ruinen bereits 1224 in den Auf-
zeichnungen des Mönches Tschan-Tschun erwähnt, anch Lerch
berichtet in Kürze über dieselben; er meint, daß es die
Ruinen eines alten buddhistischen Klosters seien. Iwanow
zweifelt an dem buddhistischen Ursprünge dieses großartigen
Tempels, weil sich an demselben Zeichen des maurischen
Stils fiuden und weil die Tradition der dort lebenden
Kirgisen von alten mächtigen Helden eines Kaiserhauses er-
zählt, welche Hals oder Chalf geheißen und jene Bauwerke
errichtet hätten. Jener Name weist eher auf die Zeit der
Chalifen. Nach historischen Zeugnissen dürften die Ruinen
einem Bauwerke aus der Zeit des 8. bis 12. Jahrhunderts
angehören. Iwanow erläuterte seinen Vortrag durch Skizzen
und Zeichnungen der Ruinen. — Am Nordufer des
Jssyk-Kul-Sees fand Iwanow zwei steinerne Baben
aus Granit und einen sehr interessanten mohammedanischen
Begräbnißplatz mit einigen zehn kufischen Grabinschriften. Eine
Inschrift gehört in das 14. Jahrhundert. — Ein größeres
Interesse nehmen reihenweise gestellte Hügel am Flusse Kur-
ment a in Anspruch; je weiter entfernt vom Flusse, um so
niedriger sind die Hügel. Ferner meldete Iwanow von
einer großen Steinkiste (Tasch-Achyr) bei der Stadt Usgent,
an welche sich der Name Ali knüpft, von Höhlen sin einer
wurden Kalmückenstempel gefunden) und von Münzen mit
mohammedanischen Inschriften, welche bei Taschkent in künst-
lich aufgeworfenen Hügeln gefunden sind. — („Oestliche Rund-
schau" 1884, Nr. 50.)
— Die 1870 durch die Bemühungen des Herrn Char-
les Netter gegründete jüdische Ackerbauschule in
Jaffa befindet sich nach Mittheilungen in der Jubiläums-
schrift der Alliance israelite universelle int besten Gedeihen.
Nach dem Berichte des Herrn Veneziani, welcher sie 1883
i) Die Gesellschaft zur Unterstützung des russischen Handels
gedenkt die Summe von 30000 Rubeln (60000 Mark) beim
Ministerium der Finanzen zu der beregten Ob-Expedition zu
erbitten.
Aus allen Erdtheilen.
287
visitirte, sind die Gebäude in gutem Zustande; man hat drei
Wasserhebemaschinen (Norias) mit den zugehörigen Wässe-
rungsbassins angelegt und trifft eben die Vorbereitungen
zum Bohren eines artesischen Brunnens; es werden etwa
20 Stück Rindvieh, 150 Schafe, sowie die nöthigen Pferde
und Maulthiere gehalten. Die Orangengärten gestatteten
1883 den Verkauf von 150000 Stück Orangen; die Cedrat-
bäumchen, welche die Esrogim liefern, versprechen für die
nächsten Jahre schöne Erträge. Auch der Weinstock gedeiht
ausgezeichnet und liefert einen guten weißen Wein, für dessen
Aufbewahrung ein geräumiger Felsenkeller errichtet ist. Die
Zahl der Schüler beträgt 30 bis 33, welche zu Gärtnern,
aber auch zu Handwerkern ausgebildet werden. Einen ganz
besonderen Aufschwung hat die Baumschule genommen, welche
jetzt schon ganz Syrien mit Bäumchen versorgt. Die ganze
Anlage, deren Kosten zum weitaus größeren Theile Herr
S. H- Gold sch midt bestritten hat, hat eine Oberfläche
von 240 ha, von der allerdings gegenwärtig erst ein kleiner
Theil angebaut ist.
— Der Gouverneur von Cochinchina hat dem kolo-
nialen Rathe eine auf das Jahr 1884 bezügliche Mittheilung
über die Finanzlage der Kolonie gemacht, welche beweist,
daß dieselbe sich in einem besseren Zustande befindet, als je
vorher der Fall war. Man berechnet die Einnahmen wie
folgt: Pachten: Opium 179 547 Dollars; Alkohol (Reis)
97 633 Dollars; Reisausfnhrzoll: 442 780 Dollars. Allge-
meine Einnahmen (Steuern) 754 511 Dollars. Die Ge-
sammteinnahmen wurden auf 1097000 Dollar geschätzt. Der
Reservefonds, der am Ende des vorigen Dienstjahres 429200
Dollars betrug, beläuft sich jetzt auf 897517 Dollars und wird
vermuthlich bis zum 30. Juni 1885 sich auf zwei Millionen
belaufen. Hinzugerechnet müssen noch werden: 1000 000
Dollars, die an Kambodscha vorgeschossen, und 60 000 Dollars,
die ausgegeben wurden, um die Regie in dem Königreiche
einzuführen. 578 817 Dollars müssen noch durch Annam für
die an Spanien bezahlte Entschädigung zurückerstattet werden.
Afrika.
— Dr. Aurel Schulz, der Sohn eines deutschen
Ansiedlers in Natal, ist von einer interessanten Reise im
Inneren von Südafrika nach der Küste zurückgekehrt.
Er ging von Pandamatenka (etwas südlich von den Victoria-
süllen des Zambesi) 410 engl. Meilen den Tschobe-Fluß
aufwärts, wo er am Einflüsse des Liana durch bewaffneten
Widerstand der Eingeborenen gezwungen wurde, westwärts
zum Cubango zu ziehen. Nach 17tägigem Marsche durch
Sandwüsten erreichte er denselben, wurde aber dort ausge-
raubt und mußte nach dem Ngami-See umkehren, wo er
beinahe von den argwöhnischen westlichen Bamangwato er-
mordet worden wäre. Dann kehrte er durch das Land der
östlichen Bamangwato und Transvaal nach Natal zurück.
Von besonderem Werthe ist bei dieser Reise, daß die bisher
nie besuchten Mittelläufe des Tschobe und Cubango erforscht
worden sind.
A u st r a l i e n.
— Der Reisende Miklucho-Maclay hat an die
Kaiser!. Geogr. Gesellschaft in St. Petersburg über seine näch-
sten Pläne und Arbeiten berichtet. Diesem in der „Nowosti"
(1884, Nr. 336) abgedruckten Briefe, welcher aus „Wyo-
ming" Snails Bai bei Sydney, 28. September n. St.
1884 datirt ist, entnehmen wir Folgendes: Ich beabsichtige
meinen Reisebericht in zwei ungleiche Theile zu zerlegen.
Der erste Theil wird umfassen: erstens eine Darlegung der
für jede einzelne Reise gestellten Aufgaben, zweitens eine
ausführliche Schilderung der Reiseerlebnisse selbst, drittens
eine Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Resultate jeder
einzelnen Reise. Der zweite Theil wird nur wissenschaft-
liche Ergänzungen zur Anthropologie, Ethnologie, Zoologie
und vergleichende Anatomie sowie Meteorologie umfassen. —
Seit meiner im Juni 1883 nach Sydney erfolgten Rückkehr
bin ich, neben dem allgemeinen Ordnen meiner Tagebücher
und Notizen, vor allem mit der Bearbeitung meiner zoologischen
Sammlungen ans Neu-Guinea beschäftigt; dabei sind mir
das Australische Museum und das Maclay-Museum in Syd-
ney, welche ein sehr reiches Material enthalten, zum Ver-
gleich von sehr großem Nutzen. In Betreff der Anthro-
pologie setze ich meine Studien über die vergleichende
Raffen-Anatomie des menschlichen Gehirns fort; dazu dienen
mir die Hirne, welche ich bereits seit 1873 von Australiern,
Papuas, Polynesiern, Malaien sammelte. — Der Ort, wo
ich meinen anatomischen Arbeiten nachgehe, ist die biologische
Station in Watson-Bai, welche leider mehr als eine
Stunde Weges von meiner Wohnung entfernt liegt. — So-
bald ich mit meinen zoologischen Arbeiten, mit der Anatomie
des Gehirns und mit der Anfertigung von Abbildungen
fertig bin, gedenke ich meine kraniologische Sammlung ein-
gehend zu studiren und eine Beschreibung der besonders
interessanten Exemplare des Sydney-Museums vorzunehmen.
Nach meiner Rückkehr in die Heimath wird meine Haupt-
arbeit sein, mein Manuskript druckfertig zu machen.
Nordamerika.
— Die Erforschung von Alaska soll auch im Jahre
1885 eifrig fortgeführt werden. Nach einer Mittheilung in
„Science" ist eine Expedition, deren Leitung wahrscheinlich
der durch die Beobachtungen am Point Barrow bekannte
Lieutenant Ray übernehmen wird, bestimmt, die noch ganz
unbekannte Region zwischen Cooks Inlet und der Wasser-
scheide des Tanonah zu erforschen; es ist noch nicht ent-
schieden, ob die Expedition in einer Dampfschaluppe den
Jukon hinauf oder von Cooks Inlet aus und den Jukon
hinabgehen soll. — Eine zweite Expedition unter Lieutenant
Allen ist bereits Ende Januar nach dem Copper River
oder Ätna aufgebrochen. Hier mußte im vorigen Jahre
Lieutenant Abercro mbie umkehren, weil die Eingeborenen
sich weigerten, ihm bei Ueberschreitung eines Gletschers,
welcher den Fluß etwa 60 Miles vom Meere verstopft, zu
helfen. Allen nimmt Indianer von Sitka aus mit und
hofft von dem oberen Ätna aus einen Zufluß des Jukon zu
erreichen und diesen hinabzufahren; die Expedition ist ans
zwei Jahre verproviantirt. — Endlich wird Lieutenant S t o -
ney seine Forschungen am Kowak fortsetzen, bis zu der
Quelle vordringen, nöthigenfalls überwintern und die Wasser-
scheide nach dem Colville zu überschreiten versuchen, um
über Point Barrow zurückzukehren. Seine Expedition soll
aus 16 Personen bestehen. Ko.
— Eine Forschungsexpedition soll nach dem Frances-
Lake in Britisch-Columbia abgehen, um zu untersuchen, ob
er wirklich zwei Ausflüsse nach verschiedenen Richtungen
hat. Der erste Entdecker, R. Campbell, erreichte ihn vom
Liard-River aus und damals floß die Hauptmasse des
Wassers durch diesen dem Mackenzie zu; Campbell fand
aber auch eine Verbindung mit dem Pelly River, also
dem Pukon-Gebiet; sie fungirte damals nur bei Hochwasser,
aber nach Berichten der Internationalen Telegraphen-Expedi-
tion soll es nun umgekehrt sein und der Ausfluß nach dem
Liard für gewöhnlich trocken liegen. Eine genaue Unter-
suchung dieses merkwürdigen Verhältnisses wäre allerdings
sehr interessant. („Science.")
— Ueber die Aufständischen in Britisch-Nord-
amerika geben die „Times" folgende Aufklärung. Als
im Jahre 1870 die Hudsonsbai-Compagnie das Nordwest-
Territorium an die Regierung der Dominion abtrat, zählte
die eingeborene weiße Bevölkerung jener Gegend nahe an
288
Aus allen Erdtheilen.
10000 Seelen. Diese werden gewöhnlich „Mischlinge" (half-
breeds) genannt, auch wenn sie gar kein oder nur wenig
indianisches Blut in ihren Adern haben, so dass die Bezeich-
nung derjenigen der Creolen in Spanisch-Amerika analog ist.
Von diesen 10 000 sind etwa 47 Procent Protestanten und
53 Procent Katholiken; erstere entsprechen ungefähr den
Nachkommen jener Schotten, welche die Selkirk-Niederlassung
bildeten, letztere den Abkömmlingen der französisch-kanadischen
Voyageurs. Der jetzige Aufstand beschränkt sich auf letztere,
also ein Element der Bevölkerung von Manitoba und dem
Nordwesten, welches gegenwärtig nicht mehr als 6000 Köpfe
zählen kann. Allerdings hat die Empörung neuerdings durch
den Anschluß vieler Indianer an Ausdehnung gewonnen.
— Die Guano lag er der B ah am a - Inseln.
In den Proceedings der Bostoner Society of Natural History
berichtet Mr. Sharples über seinen Besuch auf den soge-
nannten Caicos behufs Untersuchung der dortigen Guano-
lager. Von Turks Island aus, das durch seine Lage an
der einzigen weniger gefährlichen Passage durch das Bahama-
Riff wichtig ist, dessen Bewohner aber nach dem furcht-
baren Hurrican, welcher vor einigen Jahren die Kokos-
palmen der Insel verwüstete, nun ausschließlich auf die
Salzgewinnung und die Plünderung der zahlreichen Wracks
angewiesen sind, fuhr er in einem kleinen Schoner nach
Breezy Point, einer 20 Miles entfernten Insel, welche
prachtvoll entwickelte Korallenphänomene zeigt. Ein Strand-
riff zieht der Küste entlang; dahinter gestattet ein Kanal für
kleinere Fahrzeuge sichere Fahrt; an die Lagune stößt eine
Dünenreihe mit Sabal palmetto bewachsen, der Rest
der Insel ist flach bis auf einen niederen Hügelzug von
höchstens 150 Fuß Höhe, den man Flamingo Hills
nennt, weil in einem Teiche an seinem Fuße der Flamingo
sich häufig aufhält. In dieser Kette liegen die Guanohöhlen.
Sie sind offenbar vom Meere ausgewaschen; heute liegen
sie freilich eine halbe Meile davon. Doch hat offenbar keine
starke Hebung stattgefunden, vielmehr ist durch angeschwemmtes
Land dem Wasser der Zugang gesperrt worden; man sieht
deutliche Fluthmarken und in einer der größten Höhlen sind
Ebbe und Fluth noch zu spüren, obschon ihr Wasser nicht
nachweisbar mit dem Meere zusammenhängt. Die Decke aus
solidem Kalkstein ist meist nur wenige Fuß dick, die Wurzeln
der Feigenbäume sind vielfach hindurchgedrungen und nur
durch die von diesen gesprengten Löcher kann man, da die
ursprünglichen Eingänge verschüttet sind, hineingelangen.
Tropfsteinbildungen sind sehr spärlich. Man muß an den
Wurzeln hinabklettern; trotzdem zeigen einzelne Kammern,
daß sie früher bewohnt waren; die Wände sind von Rauch
geschwärzt, hier und da gewahrt man rohe Zeichnenversuche. Der
Boden ist überall mit einer feinen röthlichcn Erde bedeckt, bald
nur ein paar Zoll hoch, bald bis fast zur Decke, sie ist ein Ge-
misch von schwefelsaurem Kalk und phosphorsaurcm Kalk mit
Chloralkalien und etwas organischen Substanzen, in gewöhn-
lichem Zustande auch mit 30 bis 40 Proc. Wasser. Die Ent-
stehung der Ablagerung ist sehr schwer zu erklären. Vögel
und Fledermäuse können nicht in Betracht kommen; letztere
finden sich zwar einzeln in der Höhle, aber die Guanolager
enthalten durchaus keine Jnsektenreste. Hier sind überhaupt
erkennbare Organismenreste selten, aber auf einer benachbar-
ten Insel finden sich häufig Knochenfragmente und besonders
Wirbel von Fischen darin. Auch Herr Sharples löst das
Räthsel nicht; seine Erklärung, die Lager seien „ganz einfach
fossiler Guano, ans welchem durch Einwirkung von Luft
und Feuchtigkeit aller Aminoniakgchalt verschwunden sei",
wirft auf die Bildung durchaus kein Licht. Vielleicht kommt
Dr. Liebig der Wahrheit am nächsten mit der Annahme,
daß der Bahamaguano ausschließlich ans organischen, vom
Meere ausgeworfenen Substanzen entstanden sei, die durch
unendliche Zeiträume in diesen Höhlen zusammengcschwemmt
wurden. Die größte Höhle ist noch mit Meerwasser erfüllt;
ihren Guanoiuhalt schätzt man aus etwa 300 000 Tonnen.
Neuerdings sind noch verschiedene Höhlen entdeckt worden,
und manche mögen noch unbekannt sein, da das (gebiet, in
welchem sie liegen, mit Kaktus, Euphorbien und dornigen
Sträuchern so dicht bewachsen ist, daß man nur mit dein
Jagdmesser hineindringen kann. Die Entdeckung erfolgte erst
vor ein paar Jahren durch einen Mr. Reynolds, welcher
die Insel von der Regierung in Jamaika als Weidegrund
gepachtet hat und auch die ersten Proben der Phosphorit-
erde — denn Guano kann man sie ja doch eigentlich nicht
nennen — nach Boston brachte.
Südamerika.
— Die Expedition, welche die argentinische Negierung
unter dem Major Feilbcrg zur Untersuchung des Rio
Pilcomayo im vorigen Jahre ans zwei kleinen Dampfern
und zwei Schuten ausgesandt hatte (vcrgl. „Globus", Bd. 46,
S. 160) ist zu Anfang Januar wieder in Asuncion ein-
getroffen. Sie ist den Strom etwa 80 Lienes hinanfgefahren;
doch liegt ihr fernster Punkt wegen der vielen Flußkrüm-
mungen in der Luftlinie nur etwa 45 Lienes vom Ausgangs-
punkte entfernt. Die erste Hälfte der Fahrt ging bequem
von statten, dann wurde sie durch viele Baumstämme erschwert
und schließlich durch Stromschnellen unmöglich gemacht. Etwa
60 Lienes von der Mündung des Pilcomayo ergießt sich in
denselben von WNW her ein bisher unbekannter Zufluß, der
bedeutender als der Pilcomayo selbst zu sein scheint, aber
dnrch zahllose Baumstämme versperrt wird. Als Verkehrs-
wege zwischen Paraguay und Bolivia können also beide nicht
dienen. Dagegen sind beide Ufer des 70 bis 90 m breiten
Rio Pilcomayo reich an großen Wäldern und fruchtbaren
Weidestreckcn, deren Ausbeutung sich verlohnen dürfte.
Vermischtes.
— Die 9. Lieferung von Hölzel's Geographischen
Charakterbildern enthält drei sehr gelungene Ansichten
von Hafenstädten und Buchten, nämlich von den Bocche di
Cattaro, Hammerfest und der Capstadt, unter denen wohl
letzterer der Preis gebührt. Alle drei sind von einem sehr
geschickt gewühlten Standpunkte ans aufgenommen und geben
den landschaftlichen Charakter des betreffenden Erdenflecks
vorzüglich wieder: das erste Blatt die Karstnatur und viel-
fach zerschnittene Ostküste des Adriatischen Meeres; das zweite
die Hochplateau-Bildung Norwegens mit ihren Schneefeldern
und Mooren und die unendlich mannigfaltige Küste mit
dem vorgelagerten Skjärgaard und den tief eindringenden
Fjorden; das letzte endlich den majestätischen Tafelberg und
die Stadt und Bucht zu seinen Füßen, ein Bild von großem
landschaftlichem Reize und von einer besonders zarten, duftigen
Ausführung. Als Anschauungsmittel verdienen diese neuesten
Blätter entschieden warme Empfehlung.
Inhalt: Amazonas und Cordilleren. XI. (Schluß.) (Mit sieben Abbildungen.) — E. Metzger: Haiti. IV. Der
Staat und seine Einrichtungen. (Schluß.) — Ein neuer Handelsweg nach Sibirien. — Aus allen Erdtheilen: Asien. —
Afrika. — Australien. — Nordamerika. — Südamerika.— Vermischtes. (Schluß der Redaktion: 12. April 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraße 11, Hl Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschwcig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun
1882 bis 1883.
i.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Als Rovoil im Jahre 1882 sich zu einer zweiten Reise
nach dem Somali-Lande rüstete, veranlaßte ihn die Erinne-
rung an seine traurige und leidenvolle Einsamkeit während
seiner ersten Expedition 1877, sich nach einem europäischen
Geführten umzusehen, dessen Begleitung Eingeborene nie-
mals zu ersetzen vermögen. Er wühlte dazu einen braven
Fischer aus Cassis im Departement Bouches-du-Rhone,
Namens Julian Teissorc, dessen Muth und Thatkraft er
kennen gelernt hatte. Mit diesem schiffte er sich in Mar-
seille auf dem „Pei'-Ho" nach Aden ein und hatte das
Glück, unter seinen Neisegenossen den bekannten Kaufmann
Henri Greffulhe zu treffen, der schon länger als 17 Jahre
in Zanzibar ansässig war und mit dem Sultan Said
Bargasch auf freundschaftlichem Fuße stand; dessen Kredit
und Einfluß mußten Rovoil's Plänen entschieden zu Statten
kommen. Als der „Per-Ho" nach zwölftägiger Fahrt in
Aden den Anschluß an das englische, nach Zanzibar gehende
Schiff verfehlte, und dem Reisenden ein dreiwöchentliches
Verweilen daselbst in Aussicht stand, war ihm dies mit
Rücksicht auf den angenehmen Aufenthalt im gastfreund-
lichen Hause des Herrn C. Tian und auf eine geplante
Reise nach der Stadt Lahedfch nicht ganz unangenehm;
aber Greffulhe, dessen Anwesenheit in Zanzibar dringend noth-
wendig war, telegraphirte an den Sultan von Zanzibar,
der alsbald antwortete, daß in spätestens 10 Tagen einer
seiner Dampfer ihn von Aden abholen werde. So mußte
Globus XLVII. Nr. 19.
freilich der größere Ausflug unterbleiben, doch blieb Zeit
genug zu einem Besuche des nahen Dorfes Scheich
Othman, wo sie in dem ihnen zur Verfügung gestellten
Landhause des reichen Arabers Hassan Ali Schatten und
Kühlung suchten. Scheich Othman ist der gewöhnliche
Sammelplatz der Nimrode von Aden, welche stundenlang
bei einer Temperatur von 45° und einer bleiernen Sonnen-
gluth einem unglücklichen Hasen oder einer Gazelle nach-
sagen, ein Vergnügen, auf welches Rovoil gern verzichtete.
Weit interessanter erschien es ihm, die langen Karawanen
zu mustern, welche täglich hier vorbeikommen, um den
Markt von Aden mit Holz, Gras und Wasser zu versehen.
Man wird sich schwerlich ein wunderbareres Durcheinander
von Typen und Farben vorstellen können, als in diesen
Zügen, in welchen Männer und Weiber, ebenso sonderbar
wie verschiedenartig gekleidet, langsam ihren feierlich und
gemessen daherschreitenden Kameelen folgen. Mitunter
sammeln sich diese Karawanen von Tagesanbruch an vor
den Thoren der Stadt zu einem kompakten Haufen, um sich
bald darauf durch die geöffnete Pforte in das moderne
Babel — dieser Name paßt recht eigentlich für diese
englische Festung mit ihrer bunt gemischten Bevölkerung —
zu ergießen.
Früher war Scheich Othman nur ein elendes Dorf,
das aus einigen Lehmhäusern und einer ebensolchen Moschee,
zum Gedächtniß eines verehrten Scheichs Othman erbaut,
37
290
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Basun 1882 bis 1883.
bestand. Nach der Volkszählung von 1880 beschloß die
englische Regierung, sich der fluktuirenden Somali-Bevölke-
rung, welche damals im Dorfe Mala hauste, zu entledigen
und wies derselben als Wohnort Scheich Othman au, das
sie zu diesem Zwecke vom Sultan von Lahedsch gekauft
hatte. Nach ein paar Monaten schon war das Dorf fast
zu einer Stadt angewachsen und hatte reinliche und gerade
Straßen; man unterließ nichts, um sein Gedeihen und
Das Dorf Scheich Othman bei Aden.
Anwachsen zu befördern. Darunter spielte Wasser die
Hauptrolle; Pumpen und ohne Unterlaß sich drehende
Norias versorgten schon die Stadt Aden selbst. Als man
dann eine unterirdische Wasserleitung auffand, welche einst
das kostbare Naß direkt von Lahedsch nach Aden brachte,
hoffte man durch deren Wiederherstellung den kostspieligen
Transport zu vermeiden. Die Arbeit wurde begonnen;
aber das Unglück wollte, daß eine Erdwand einstürzte und
Moschee von Scheich Othman.
drei arabische Arbeiter begrub, worauf die übrigen voll
abergläubischer Furcht davon liefen und nicht wieder zur
Fortsetzung der Arbeit zu bewegen waren. Nach diesen
Ruinen lenkte Ravoil seine Schritte und fand dort unweit
der Moschee Haufen von Schlacken, Glasscherben und Theile
von Gefäßen, Glasperlen u. s. w., deren Stil ans arabischen
Ursprung hinwies. Eine nähere Untersuchung oder Aus-
grabung, um mehr Klarheit über Ausdehnung und Alter
Marktplatz in Aden.
292
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
dieser interessanten Industrie zu erhalten, war leider nicht
möglich, und als Revoil seine Entdeckung einem englischen
Beamten mittheilte, um zu weiteren Forschungen anzuregen,
meinte dieser, daß es seine Regierung weit mehr interessiren
würde, wenn ihr ein Mittel angegeben würde, um an jener
Stelle Getreide zu bauen.
Am 31. Januar verließ der Reisende auf dem Dampfer
„Avoca" Aden, und da ein sehr frischer Nordost-Monsun
wehte, der die Fahrt beschleunigte, so langte er schon am
8. Februar Abends 9 Uhr in Zanzibar an. Wenige
Minuten später befand er sich im Haufe des Herrn Gref-
fnlhe, wohin bald allerlei Besucher zusammenströmten;
auch der Sultan unterließ es nicht, durch seinen Geheim-
sekretär, den alten trefflichen Abed ben-Aod, die Ankömm-
linge zu begrüßen und ihnen saftige Früchte jeder Art zu
übersenden.
Seitdem Zanzibar der Ausgangspunkt für alle For-
schungsexpeditionen im östlichen Aeguatorialafrika geworden
ist, ist es oft genug beschrieben worden, so daß wir hier
nicht darauf zurückkommen wollen; aber erwähncnswcrth
ist der Fortschritt und die stetige Umwandlung, welche die
Stadt durchmacht, und welche sie der Intelligenz ihres
Herrschers Sai'd Bargasch verdankt. In Europa — und
in Frankreich resp. Paris ganz besonders — sind über das
große ostafrikanische Emporium nur sehr vage oder gar
falsche Anschauungen verbreitet; Zanzibar ist kein halbwilder
Ort mit einer Negerbevölkerung in Strohhütten, sondern
eine große, halb europäische, halb arabische Stadt von
80 000 Einwohnern, überragt von einem hohen, Thurme
mit Uhr und elektrischem Lichte, mit der übrigen Welt
durch ein Telegraphenkabel verbunden, mit Konsulaten
aller Nationen, großen Kaufmannshüusern, deren erste
schon seit einem halben Jahrhundert dort etablirt sind,
einem großen Hotel, einem Zollamte, einer ziemlich gut
organisirten Armee und einer Flottille schöner Dampfer,
welche mit Bombay und Calcutta regelmäßige Verbindung
unterhalten und auch zuweilen Aden anlaufen. Prächtige
Chausseen durchschneiden die Insel und führen zu den herr-
Zanzibar.
lichen Landhäusern des Sultans, der sogar mit dem Baue
einer kleinen Eisenbahn umgeht. Rsvoil preist den jetzigen
Herrscher ungemein; aber sein Lob scheint nicht übertrieben
zu sein H, und da Zanzibar (beide z werden wie im Fran-
zösischen, also wie weiche s ausgesprochen) jetzt auch für uns
Deutsche im Vordergründe des Interesses steht, so wollen
wir näher auf seine Charakteristik eingehen.
Das Wesen des Sultans ist sehr einnehmend, edel, aber
i) So schreibt auch Dr. Wilhelm Joest, ein scharf
beurtheilender und kritischer Beobachter, in seinem eben erschie-
nenen „Om Afrika", S. 274: „Bor dem Harem mündet die
Wasserleitung, welche von dem jetzigen Sultan, einem Manne,
der wirklich alle Eigenschaften eines gütigen,
weisen und gerechten Herrschers und Menschen
in sich vereint, vor wenigen Jahren vollendet ist und durch
welche Sansibar reichlich mit gutem Wasser versorgt wird.
Seitdem bessert sich der Gesundheitszustand der Stadt, der bis
vor Kurzem ein sehr bedenklicher war, von Jahr zu Jahr, so
daß Sansibar heute entschieden ein gesunderer Aufenthalt als
die meisten übrigen Plätze der Ostküste, vielleicht als der gesun-
deste von allen bezeichnet werden kann."
nicht hochmüthig, und sein freundliches Entgegenkommen
bewirkt, daß jeder Besucher sofort ungezwungen mit ihm
verkehrt. Sein wohlwollendes Gesicht paßt gut zu seinem
offenen Charakter; seine Unterhaltung ist verständig, und er-
sucht sich stets zu unterrichten, um auch seine Umgebung,
die ihm an Uneigennützigkeit nicht gleichkommt, aufzuklären.
Er ist von hohem Wüchse und langsamem Gange; wenn
er auch mitunter streng sein muß, so verabscheut er doch
die Grausamkeiten, und obwohl gläubiger Mohammedaner,
ist er doch nicht fanatisch und sucht die religiösen Sekten
von Intoleranz abzuhalten. Er ist freigebig und gast-
freundlich, durchreisenden Fremden gegenüber nach Kräften
gefällig, und an seine Besucher vertheilt er Goldschmnck,
Teppiche, Juwelen und dergleichen. Auch seine Statthalter-
auf dem gegenüberliegenden afrikanischen Festlande sind
angewiesen, Fremden mit Geschenken aufzuwarten, und
wenn sie dieser Pflicht nicht nachkommen, werden sie ohne
Gnade abgesetzt. Den Geschäften widmet der Sultan viel
Zeit. Er steht um 4 Uhr auf, spricht sein Gebet und läßt
sich bis gegen 7 Uhr aus der Veranda Vortrag halten über
Fruchtmarkt in Zanzibar.
294
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajnn 1882 bis 1883.
die Vorgänge während der Nacht. Bon 7 bis 9 Uhr hält
er „Barza", d. h. er empfängt jeden, der ein Anliegen hat,
und von 9 bis 10 Uhr speist er mit angesehenen Arabern
oder Indiern, wobei die Zahl der Gäste mitunter 200
übersteigt. Am Nachmittage findet Gerichtssitzung statt:
auf dem Platze sind 20 Kadis vertheilt, welche die Kläger
anhören, aber vor Abgabe ihres Urtheils die Ansicht des
Sultans, welcher von einem Balköne aus das Ganze über-
wacht, einholen. Bei Sonnenuntergang begiebt sich der
Sultan auf einige Zeit zu seinen Kindern (sein Harem
zählt nach W. Ioest etwa 90 Insassinnen, und er läßt ihn
sich etwas kosten) und liebt es, sich am offenen Fenster mit
ihnen zu zeigen und sie auf seinen Knien tanzen zu lassen.
Abends unterhält er sich mit den Notabeln über innere
und äußere Politik und zieht sich, wenn nicht Aegypter oder
Akrobaten auf dem Platze eine Vorstellung geben, Punkt
Mbarak Mohammed.
10 Uhr in seine Gemächer zurück. Neben der Politik
beschäftigt er sich mit dem Ausbaue seines Palastes, mit
dem Zollwesen u. s. w., kennt den Werth der Zeit, ist
unablässig thätig und, selbst wenn er sich aus dem Lande
befindet, hält er seinen alten Sekretär mittels des Telephons
beständig in Athem. Europäern gegenüber ist er stets zu-
vorkommend, stellt ihnen seine Pferde zur Verfügung und
versorgt sie täglich mit Eis, das er durch seine Dampf-
maschinen fabriciren läßt. Täglich spielen zwei Musikkorps,
ein ägyptisches und ein portugiesisches aus Goa, und wenn
ein Diplomat anlangt, so veranstaltet der Sultan in seinem
Palaste sehr schöne Empfänge. Alle Kulte genießen gleiche
Rechte, und die christlichen Missionare erfreuen sich seiner
thatkräftigen Hilfe; denn er weiß ihren Einfluß auf die
Verbreitung der Civilisation zu schätzen. In diesem Sinne
sucht er mit den alten Quartieren der Stadt aufzuräumen;
schon ist ein Flügel des alten, von vier Thürmen flankirten
arabischen Forts, das einst den Sklavenhandel schützte,
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
295
niedergerissen; an Stelle der Befestigung werden später-
große Waarenlager erbaut werden, da das jetzige Zollhaus
nicht mehr zureicht. Mittlerweile dient der Platz zum
Abhalten des Fruchtmarktes, den Joest (a. a. O., S. 279)
so beschreibt: „Auf verhältnißmäßig engem Raume sind
hier Hunderte von kaufenden, feilschenden oder ihre Waaren
anpreisenden Menschen in allen nur denkbaren Trachten
zusammengedrängt: da knien kunstfertige Barbiere und
rasiren der Gläubigen Schädel; in langen Reihen hocken
Negermädchen und bieten Maudioka, Betel und Arekanüsse,
saftiges Zuckerrohr, diese Liebliugssüßigkeit aller Naturkinder
der Tropen, oder Orangen und grüne Kokosnüsse feil;
dazwischen treibt ein schwarzer Hirt seine Herde Ziegen
quer über den Markt mitten durch Käufer und Verkäufe-
rinnen hindurch, zum Entsetzen der letzteren, deren Waaren
unter dem Appetit der schnuppernden Thiere bedenklich zu
leiden scheinen. Gegen das Fort gelehnt stehen Dutzende
fertig geschnitzter Hausthüren zum Verkaufe, und mindestens
30 Schneider oder Händler mit alten Kleidern bieten
schreiend und zudringlich dem Vorübergehenden einen Mas-
katanzug nach neuester Mode an."
Die ersten Tage von Revoil's Aufenthalt in Zanzibar
wurden mit Besuchen bei dem französischen Konsul Ledoulx,
dem Sultan, der ihn sehr vor den Somali warnte, u. s. w.
zugebracht, dann wurden die astronomischen und photo-
graphischen ') Instrumente geprobt und mit dein natur-
Die Abbildungen zu diesem Reiseberichte sind sämmtlich
nach Photographien hergestellt und deshalb bis in die gering-
sten Einzelheiten von absoluter Genauigkeit.
wissenschaftlichen Sammeln begonnen. Um letzterem Zwecke
besser gerecht werden zu können, nahm er die Einladung
des reichen Mbarak Mohammcd an, der ihn und
seinen Begleiter auf seine Pflanzung Nyamanzi brachte, wo
sie drei Wochen lang unter trefflicher Pflege fehr erfolgreich
sammeln konnten. Ihr Wirth selbst, der verhältnißmäßig
gut französisch sprach, nahm an ihren Ausflügen theil und
ordnete dieselben an. Nicht am wenigsten interessant war
die Jagd auf Popos oder Vamphre (Pterocyon stramineus),
von denen Tausende, zu kompakten schwärzlichen Massen ver-
eint, an den vollständig kahlen Zweigen riesiger Mango-
bäume hingen. Sie verursachten einen betäubenden Lärm;
der Boden war mit ihren Exkrementen bedeckt und die
Luft mit ihrem ekelerregenden Gestanke erfüllt. Der erste
Schuß holte an zwanzig der Thiere herab; sobald die auf-
gescheuchten Cheiropteren sich wieder auf den Zweigen
niedergelassen hatten, erfolgte eine neue Salve zur größten
Freude der umwohnenden Grundbesitzer, deren Obstbäume
von den Thieren geplündert wurden. Insgesammt wurden
nicht weniger als 520 derselben erlegt, außerdem eine
prächtige Boa. Ein Schiff des französischen Hauses, das
nach Marseille abging, nahm die zoologische Ausbeute dieses
Landaufenthaltes in die Heimath mit.
Nach Zanzibar zurückgekehrt, hatte Revoil, wie sein
Begleiter Julian, einen heftigen, zweiwöchentlichen Fieber-
anfall zu bestehen, und die Nachwirkungen des vielen ge-
nossenen Chinins in Gestalt von Ohrensausen, Schwindel
und kaltem Schweiße auszuhalten; als aber die Zeit ihrer
Abreise herankam, konnten sie sich doch als leidlich her-
gestellt ansehen.
Skizzen au
Bon W.
5. Hamm am Meskhontin,
Es war früher eine zicnckich mühsame und umständ-
liche Reise, wenn man von Constantine aus die berühmten
heißen Quellen von Hamm am M eskhoutin besuchen
wollte. Heute führt die Bahn nach Guelma und Büne
dicht am Bade vorüber, und der Tourist, dem die Zeit
knapp ist, kann die Hauptwunder im schlimmsten Falle so-
gar von der Bahn aus im Vorüberfahren betrachten. Wir
hatten cs zum Glück nicht so eilig, denn ein Freund, der
uns nach Biskra begleiten wollte, hatte den Tag seiner
Ankunft erst auf den 24. Mai festgesetzt und so blieb uns
reichliche Zeit zu einer Tour nicht nur nach dem Bade,
sondern auch bis Büne, das wir, weil wir bei der Rückkehr-
aus der Wüste direkt über Suk Ahras nach Tunis gehen
wollten, sonst nicht zu sehen bekommen hätten.
Ani 13. Mai fuhren wir schon früh mit dem ersten
Zuge nach Kroubs, obwohl dieser keinen Anschluß nach
Guelma hin hatte; wir wollten aber die uns bleibenden
vier Stunden zu einem Vorstoß gegen die Montague noire
verwenden, um dort nach einer seltenen Schnecke und nach
Dolmen auszuschauen, die ungefähr eine Stunde von der
Station entfernt zu finden sein sollten. Aber in beiden
Beziehungen wurden unsere Wünsche nicht erfüllt, und wir
mußten schließlich noch in der glühenden Sonnenhitze aus
s Algerien.
K o b e l t.
das Bad der Verfluchten.
Leibeskräften rennen, um rechtzeitig den Bahnhof zu er-
reichen.
Die Bahn führt in derselben Richtung, in welcher wir
gegangeu waren, durch ein kleines Seitenthal des Bu
Merzug der Montagne noire zu, der sich aus einem
weiten Kalkfelsengebiet erhebt, das den Garrigues der
Provencc an Trostlosigkeit und Oedc kaum nachgiebt. Hier
haben frühere Generationen mit Vorliebe ihre Todten be-
stattet und auch von der Bahn aus sieht man eine ganze
Menge Dolmen, jeder anscheinend nur für eine Person
bestimmt oder höchstens für zwei Raum bietend. Auf
dem Kalkplateau, das sich von der Quelle des Bu Merzug
bis zum Dschebel Thaya erstreckt, stehen Tausende solcher
Steingräber beisammen; allem Anschein nach hat man es
bequemer gefunden, die Todten zu den Steinen zu bringen,
als die schweren Steinplatten auf größere Strecken zu
transportiren. Hier, wo die unglückseligen Kelten nicht
in Frage kommen — denn die Theorie, daß die Dolmen
von armorikanischen Söldnern, deren Anwesenheit in Nord-
afrika allerdings urkundlich bezeugt ist, herrühren, hat selbst
ihr Urheber Mac Carthy angesichts der Unzahl von
Steingräbern ausgegeben —, ist die Frage uach ihren Er-
richteru leicht zu beantworten. Daß cs die Vorfahren der
296
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
heutigen Kabylen waren, kann um so weniger in Zweifel
gezogen werden, als Kabylenstämme selbst noch in derNeu-
zeit megalithische Denkmäler errichtet haben und hier nie-
mals eine andere Nasse gehaust hat. Daß man in man-
chen Dolmen römische Münzen (z. B. eine Medaille der
Faustina) gefunden, hat darum gar nichts Wunderbares,
denn die Berber lassen so leicht nicht von ihren alten Sitten,
und erst nach und nach ist es dem Islam gelungen, sie in
manchen Beziehungen umzubilden. Findet man ja auch in
den Grabmälern höheren Ranges, den Bas in as und den
Chouchas — die höchste Ausbildung mit griechischem
Säuleuschmuck und riesigen Dimensionen stellen die beiden
Königsgrüfte Kubb-er-Rumia und M e d r a s s e n dar —
in ihren Bestandtheilen Trümmer von Römerbauten und
wurden also solche noch nach dem Untergange der Römer-
Herrschaft errichtet.
Zwischen den kahlen Steinfeldern hindurch schlängelt
sich ein enges Thal, in welchem das Dörfchen Bu Nuara
liegt. Hier beginnt ein Gebiet, das den Durchreisenden
lebhaft an die gemalten Dörfer in den südrussifchen Steppen
erinnert, welche Potemkin der Kaiserin Katharina vor-
führte. Tie Looiete général algérienne erhielt näm-
lich seiner Zeit dieses ganze Thal, sowie das des der Sey-
buse zuströmenden Uëd Zenati, welches die Bahn in
ihrem weiteren Tarife durchschneidet, unter der Bedingung,
hier eine Anzahl Dörfer zu erbauen und diese mit Kolo-
nisten zu besetzen. Die Dörfer sind erbaut worden, aber
mit den Kolonisten hapert's, denn wenn sich einer meldet,
werden ihm Bedingungen gestellt, deren Annahme ihn zum
weißen Sklaven machen würde. So behält die Gesellschaft
das Land und verpachtet es gegen einen Theil des Er-
trages an die früheren Eigenthümer, denen man es erst zu
Gunsten der Kolonisation eppropriirt hat; sie giebt ihnen
Vorschüsse und übernimmt dafür die Ernte, und da sie die
einzige Käuferin ist, sorgt sie schon dafür, daß sie keinen
Schaden hat. An jeder Station erhebt sich ein Silo, ein
massiver Keller, überirdisch, aber sonst ganz den unter-
irdischen Fruchtmagazinen der Araber entsprechend. Ueber
eine bequeme Steige können die Maulthiere auf die Platt-
form gelangen; dort steht eine Windfege zur höchst noth-
wendigen Reinigung des Getreides von der beigemengten
Erde und eine Wage; die Vorderseite des Silo stößt aber
unmittelbar ans Bahngeleise und so kann die Frucht direkt
in die Waggons hineinlaufen. Die Gesellschaft macht da-
bei einen hübschen Profit, aber ihre anderen Unterneh-
mungen lassen sie auf keinen grünen Zweig kommen, und
der Hauptgrund, warum die Regierung nicht auf Erfüllung
der eingegangenen Bedingungen drängt, soll darin liegen,
daß man aus Furcht vor den Folgen eines Kraches über-
haupt nicht an die Gesellschaft rühren will.
Die sauberen, zum Theil von Eukalyptuspflanzungen
umgebenen Dörfer sind darum nur von den Beamten der
Gesellschaft bewohnt; nur Uöd Zenati, wo die Straße
von Ain Beida und Tebcssa her einmündet, zeigt regeres
Leben und sogar die Anfänge einer Industrie. Die Berge
bleiben aber immer gleich steinig bis nach Bord sch Sa-
bath. Hier ändert sich das Bild, alle Abhänge be-
decken sich mit Oelbäumen, die sich endlich zu förmlichen
Wäldern zusammenschließen. Hier sind freilich die meisten
noch unveredelt und bringen nur kleine bittere Früchte,
aber weiter hin, wo die Bahn mit dem Fluß durch eine
enge Kluft zu einer tieferen Thalstufe hinabsteigt, werden
die veredelten immer zahlreicher und bilden den Hauptreich-
thnm der Gegend von Gnelma. Vor uns erhebt sich nun
der prachtvolle Kalkkamm des Dschebel Thaya, dem
wir auch einen Besuch zugedacht haben; wir passircn,
immer noch im engen Thale bleibend, die einsame Station
Thaya, dann weichen die Berge aus einander und wir
sind in dem Kessel von Hamm am M es kh outin. Ein
schweres Gewitter war mittlerweile heraufgezogen — die
Kröten, die trotz der Gluthhitze seelenvergnügt auf den Kalk-
steinen saßen, hatten es uns schon am Morgen bei Kroubs
angemeldet —, aber ein offenes Kärrnchen, das als Bade-
omnibus fungirt, brachte uns noch trocken in das Hotel.
Wir hatten aber mit dem Festhalten an unserem wacke-
ligen Sitz so viel zu thun, daß wir der eigenthümlichen
Scenerie keine Aufmerksamkeit schenken konnten, und erst
am anderen Morgen kamen wir dazu, die Wunder des
„Bades der Verfluchten" in Ruhe zu betrachten.
Es giebt wenig so eigenthümliche und interessante
Punkte auf der Welt, wie Hammam Meskhoutin. Zwar
an landschaftlicher Schönheit wird es von vielen anderen
Punkten übertroffen; die Gegend ist eine flache, grüne
Mulde, von wenig bedeutenden Höhenzügen eingefaßt, nur
nach Westen hin geben die Ausläufer des Thaya ihr einen
etwas großartigeren Zug, während nach Osten hin die
Thalfläche allmählich in die Hochebene von Gnelma über-
geht. Der Ued bu Hamdan durchzieht das Thal in
einer engen, mit üppiger Vegetation erfüllten Schlucht;
von Süden her fließt ihm der kleine Ued Chcdakra zu,
und in dem Winkel zwischen beiden auf dem Ostufer des
kleinen Baches sprudeln die Quellen. Ein ganzer Strom
heißen Wassers bricht hier aus dem Boden, ein geringer
Theil einer einzigen Quelle genügt, um das Bedürfniß
der Badeanstalten zu decken, der Rest fließt frei ab in den
Chedakra, dessen Lauf noch bis über die Einmündung in
den Bu Hamdan hinaus an den aufsteigenden Dampf-
wolken erkennbar ist. Die Quellen gehören zu den heiße-
sten der Erde; ihre Temperatur beträgt 950 C., was nur
wenig unter dem der Höhenlage entsprechenden Siedepunkte
ist. Eine ganze Gruppe von Quellen entspringt zusammen
auf einem kleinen Plateau, das sie selber aufgebaut, und
ihr Wasser stürzt über den Rand hinunter in den heißen
Bach. Plateau und Abhang bestehen aus Travertin, wel-
chen das Wasser beim Erkalten ausscheidet. Es ist ein
wunderbarer Anblick, den dieser steinerne Wasserfall
bietet, wenn man ihn von der gegenüberliegenden Thalseite
aus, wo das alte Bad steht, betrachtet; auf dem schnee-
weißen Travertin sieht man die dünne Wasserschicht kaum
und so macht der ganze Abhang wirklich den Eindruck
einer zu Stein gewordenen, dampfenden Kaskade. Ein
Theil des Gesteins ist gelblich gefärbt, weil die Bewohner
der Umgegend ihren Flachs hier rösten. Unten schiebt sich
ein niederer Fuß in den Bach hinein vor und bildet die
sonderbarsten Gestalten. Der Travertin bildet sich ziem-
lich rasch; Tchihatcheff glaubt, aus den Erscheinungen,
welche an einer anderen Stelle zu beobachten sind, die Zu-
nahme sogar auf 60 cm jährlich veranschlagen zu können,
aber das ist offenbar ein großer Rechenfehler, denn die
ganze Kaskade ist, das Plateau eingeschlossen, kaum 20 m
mächtig, und wenn auch die Quellen jetzt wohl nicht mehr
an derselben Stelle entspringen wie zur Römerzeit, und
sogar vielleicht mehrfach ihren Ursprungsort gewechselt
haben, so müßte doch die Hauptquelle, auch wenn sie nur
seit der Franzosenzeit an ihrem heutigen Platze sprudelte,
längst ihre Ablagerungen über den Bach hinüber vorge-
schoben haben und hier eine natürliche Brücke existiren,
wie bei P am buk K al e ssi, dem Baumwollenschloß, in
Kleinasien. Tchihatcheff gründet seine Rechnung auf die
Stelle, wo bei dem Eisenbahnbau durch einen Durchstich
die altrömische Piscine, die bis dahin noch immer mit
Wasser gefüllt gewesen war, angeschnitten wurde und so
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien.
297
eine neue kleine Kaskade entstanden war. Das war zwei
Monate vor seiner Anwesenheit im Mai 1878 geschehen
und in dieser Zeit hatte sich bereits eine Travcrtinschicht
von 10 ein Dicke gebildet, das gäbe allerdings 60 cm fürs
Jahr, aber dann hätte bis zum Mai 1883 die Schicht
drei Meter Dicke haben müssen, und die Bahnverwaltung
würde genöthigt sein, sie in regelmäßigen, nicht allzu langen
Zwischenräumen entfernen zu lassen. Das geschieht aber
nicht, und trotzdem sind die reizend geformten Inkrusta-
tionen an der Bahnböschung höchstens einen Viertelmeter
stark. Auch am steilen Rande der Schlucht des Bu Ham-
dan sind die von dem hinabstürzenden heißen Wasser gebil-
deten Absätze nicht stärker, und die offenen Grüben, in
denen das Wasser zum Badehause geführt wird, werden,
wie mir der Bademeister sagte, nur alle zwei Jahre gerei-
nigt; der aus ihnen ansgebrochene Travertin war aber nur
5 bis 6 cm stark. Allem Anschein nach erfolgt der Nieder-
schlag nicht in gleichmäßiger Stärke, wohl im Anfange ans
rauher, fremdartiger, kalter Unterlage rascher als später,
wo das Wasser über die gleichartigen, glatten, durchwärmten
Travcrtinschichten fließt. Man sieht, wie vorsichtig man
mit dem Generalisiren von Einzclbeobachtungen sein muß
und wie leicht man daraus zu falschen Schlußfolgerungen
kommen kann.
Daß die Quellen vielfach ihren Lauf verändert, be-
weisen die kegelförmigen Felsen, um deren Willen Ham-
mam Meskhoutin besonders in der Geologie genannt wird.
An vielen Stellen, in dem Winkel zwischen den beiden
Bächen, in gleichem Niveau mit der heutigen Hanptqnelle
und etwas tiefer, aber auch oberhalb, erheben sich eigen-
thümliche isolirte Felsen, bald rein kegelförmig, bald meh-
rere mit einander verschmolzen. Ueber hundert stehen um-
her, und sie bieten Abends im Dämmerlicht, wenn sie von
den Rauchwolken der großen Kaskade umzogen werden,
einen so gespenstigen, unheinilichen Anblick, daß man es
nur ganz natürlich findet, wenn die Araber eine grausige
Sage an sie geknüpft haben.
Einst war, so erzählen sie, das ganze Thalbecken von
Hammam Meskhoutin ein Paradies von üppiger Frucht-
barkeit, bewohnt von einen: Araberstamme, dessen Kaid der
reichste und mächtigste Mann im Lande war. Er hatte
eine Schwester von wunderbarer Schönheit, und da er sie
keinem anderen Manne gönnte, beschloß er, göttlichen und
menschlichen Gesetzen entgegen, sie zn seiner eigenen Frau
zu machen. Umsonst mahnten die Akel, die Alten des
Stammes, umsonst widersetzten sic sich offen. Eblis hatte
ihn verblendet; er trat jeden Widerstand uiit blutiger Ge-
walt nieder und der Tag der Hochzeit war gekommen. Alle
Nachbarstämme waren geladen, aber nur wenige Gäste,
durch seinen Reichthum verführt, erschienen; die Gläubigen
blieben dem frevelhaften Feste fern. Aber der Kaid ließ
sich nicht beirren, und als der Abend kam, geleitete er in
prunkendem Zug die Neuvermählte zu seinem Zelte. Da
bebte die Erde, Flammen und siedendes Wasser brachen
hervor, Blitze zuckten und der Donner grollte, und als der
Morgen kam, standen Braut und Bräutigam, zn Stein ge-
worden, da, wie man sie noch heute sieht. Noch sprudelt
das kochende Wasser, noch hört man bisweilen unter der
Erde die Hochzeitsmusik, und die Quellen werfen in Stein
verwandelte Körner des Kuskussu aus, mit dem die Gäste
bewirthet wurden. Hammam Meskhoutin, das Bad der
Verfluchten, heißt die Stätte feitdem, und sie ist immer
unheimlich geblieben. Kein Araber wird sie um Mitter-
nacht betreten, denn in der Geisterstunde bekommen die
Felsen wieder Leben, die Musik erschallt wieder, die Fest-
lichkeiten beginnen von Neuem, der Neugierige muß Theil
Globus XLVJI. Nr. 19.
nehmen, und am anderen Morgen steht ein neuer Kegel
bei den alten.
So steht Hammam Meskhoutin in schroffem Gegensatz
zu allen anderen Warmbädern, an die sich die Legenden
wohlthätiger Marabuts knüpfen, und darum sind auch die
Aquae tibilitanae verlassen und verödet geblieben und der
Malaria verfallen. Der Geologe braucht freilich kein
Wunder, um die Bildung der Steinkegel zu erklären, er
kann sogar ihre Entstehung hier in allen Phasen verfolgen,
von flachen, schildförmigen, kaum wahrnehmbar erhobenen
Travertindecken bis zn Kegeln von 4 bis 5 m Höhe. Sie
alle sind vom Wasser selbst ausgebaut, Dank dem Natur-
gesetz, daß heißes Wasser mehr feste Bestandtheile gelöst
enthalten kann als kälteres. Sobald das hervorsprudelnde
Wasser den Boden berührt, wird es abgekühlt und läßt
einen Theil der gelösten Bestandtheile fallen. Diese bilden
anfangs einen Ring um die Quellenmündung, dann einen
flachen Kegel mit becherförmiger Vertiefung an der Spitze
und dieser wird immer höher, bis endlich das Wasser nicht
mehr Kraft genug hat, um den Rand zu übersteigen, und
sich am Fuße des Kegels oder weiter unterhalb einen neuen
Ausweg sucht.
Genau in derselben Weise sind auch die übrigen Felsen
entstanden, welche nackt und kahl ans dem Grün ain Ab-
hange des das Bad beherrschenden Hügels hervorschauen.
Sie alle bestehen aus demselben Gestein wie die Kegel,
und enthalten wie diese hier und da Schwefelkiesknollen.
Besonders interessant ist der Felsenzug, welcher sich gerade
von der neuen Badeanlage hinaufzieht zum unterirdi-
schen See. Hier sprudelte offenbar in vergangenen
Zeiten die Hauptguelle und bildete eine Kaskade, welche
sich vom Gipfel des Hügels langsam bis hinunter vor-
schob und einen schmalen, hohen, nach beiden Seiten senk-
recht abfallenden Kamm baute, bis endlich bei irgend einer
Katastrophe die heißen Wasser weiter unten durchbrachen.
Der unterirdische See mag ziemlich genau da liegen, wo
die Quelle zuerst entsprang; die Verwitterung hat hier-
unter der Travertindecke eine ziemlich geräumige Grotte
gebildet, die mit klarem Wasser erfüllt ist. Sie liegt nur
eine gute Viertelstunde vom Bade entfernt und bietet einen
lohnenden Spaziergang durch grüne Wiesen und Felder und
einen fömlichen Wald veredelter Oelbäume.
Hammam Meskhoutin hat Dank dem Aberglauben der
Araber — sollte er nicht vielleicht die Erinnerung an eine
wirkliche Katastrophe, vielleicht an dieselbe, welche den
Durchbruch der Hauptquellen an ihrer heutigen Stelle be-
gleitete, bewahren? — seit Jahrhunderten völlig verlassen
gelegen und wurde bis zur Eröffnung der Eisenbahn nur
sehr selten einmal von dem benachbarten Guclma aus durch
einen neugierigen Touristen besucht. Nur der Kaskade
gegenüber auf dem linken Ufer des warmen Baches hatte
die französische Regierung eine Militärbadeanstalt errich-
tet, die nur vom 15. April bis zum 1. Juni geöffnet
war, aber, wenn Raum vorhanden, auch Civilisten auf-
nahm. Komfort war freilich wenig genug vorhanden und
Europäer kamen nur selten als Badegäste. Seit der Er-
öffnung der Eisenbahn scheinen aber bessere Zeiten kommen
zu sollen. Die Regierung hat wie in Hammam Rirha,
so auch hier die Quellen und eine genügende Landfläche
einem Unternehmer überlassen, und so findet der Besucher
jetzt hier behagliches Unterkommen und ausgezeichnete Ver-
pflegung für relativ billigen Preis (10 Francs den Tag,
alles einbegriffen). Die einstöckigen Badegebäude liegen
um einen geräumigen viereckigen Platz herum, der zu einem
Blumengarten angelegt ist. Oben quer vor steht das
ältere Gebäude mit kleinen, wenig freundlichen Zimmern,
38
298
Joest's „Um Afrika".
die eben nur noch als Reserve für den Nothfall dienen;
in einem angebauten Flügel befinden sich die Gescllschafts-
ränme, die freilich ziemlich bescheiden sind, und das Speise-
zimmer. Den ganzen Raum zwischen den beiden Flügeln
beschattet aber einer der schönsten Bäume, die ich in meinem
Leben gesehen, eine Pistazie, unter deren breiter Krone
mindestens hundert Personen Schatten finden können. Es
ist die eschenblätterige Varietät, und sie gleicht so täuschend
einer Esche, daß man die Verschiedenheit nur bei ganz
genauer Vergleichung mit einem eigens deshalb daneben
angepstanzten Exemplare erkennt.
Gegenüber am unteren Ende des Platzes steht das neue
Logirgebäude, ebenfalls einstöckig, aber mit geräumigen,
freundlichen, sauberen Zimmern, aus deren Fenstern mau
in das kleine Olivenwüldchen hineinsieht, das den Abhang
zur Haupiguelle hinab bedeckt. Tie Langseiten des Platzes
sind noch frei bis auf zwei Pavillons, in deren einem der
Badedirektor und ein für die Dauer der Saison hierher
kommandirter Militärarzt wohnen. Die ganze Umgebung
ist mit prächtigen Oelbämven bewachsen, die nun fast
sämmtlich veredelt sind ; sie und ein paar ebenso alte Kar-
rnben geben Schatten genug, bis einmal die neu gepflanzten
Bäume herangewachsen sein werden, was ja im glücklichen
Klima Algeriens nicht viele Jahre erfordert. In geringer
Entfernung liegt ein zugehöriger Oekonomiehof. Dank
der dort unterhaltenen stattlichen Viehherde kann man hier
Kuhmilch und frische Butter haben, sonst eine ziemliche
Seltenheit im Süden.
Die Bäder für die europäischen Badegäste — der ver-
schiedenen Ansichten über die Parasiten im Allgemeinen
und der Pediculus vestinjenti ijit Besonderen wegen kann
man die Eingeborenen nicht mit ihnen zusammen baden
lassen — liegen nahe der großen Kaskade, nur wenige
Schritte vom Logirhausc und sind unbestreitbar noch einiger
Verbesserung fähig. In dem kleinen Gebäude sind vier
Badewannen, jede mit einem Ankleidezimmer einfachster
Art; Schwitzzimmer und Ruhebetten sind hier noch fromme
Wünsche, werden aber mit der Zeit schon kommen. Das
Wasser wird zu jedem Bade vollständig gewechselt; das
heiße läuft durch eine offene Rinne zu und kann durch eine
eiserne Kelle abgesperrt werden, kaltes läßt man nach Be-
lieben durch einen Hahn ein. Die gewöhnliche Badetem-
peratur ist 35 bis 400 C. Außerdem sind in gesonderten
Räumen noch ein Dampfbad und eilt Donchebad eingerichtet.
Die Wasser von Hammam Meskhoutin haben eine
ganz ausgezeichnete Wirkung auf alte Rheumatismen, Läh-
mungen, Verhärtungen und manche Hautkrankheiten, aber
Hamuram Rirha gegenüber fehlen ihm die Vorzüge der
Höhenlage, und von einer Somnlersaison, sonst überall die
Hauptsache, kann keine Rede sein, da von Juni ab die Ma-
laria den ohnehin schon heißen Thalkesscl ganz unbewohn-
bar macht. Es ist merkwürdig, daß hier, wo doch stehen-
des Wasser und Sümpfe vollständig fehlen, das Wechsel-
fieber so verderblich auftritt, wie irgendwo in den sumpfigen
Küstenebenen; ich kann es mir nur ans der Dnrchtränküng
des Bodens mit warmem Wasser erklären, aber warum
beobachtet man nicht auch ähnliche Erscheinungen' in der
Umgegend anderer Warmbäder? Im Winter und Früh-
ling ist aber Hammam Meskhoutin so gesund wie irgend
ein anderer Ort in Algerien und es lassen sich für den
Naturfreund schon einmal ein paar Wochen hier recht
genußreich verbringen. Der Alterthnmsforscher kann die
Ruinen der alten Römerbauten erforschen und sehen, ob er
nicht noch mehr Reste der Aqua« tibilitanae findet, als
dem flüchtigen Touristen auffallen; er hat außerdem im
Bereich einer Tagesexkursion auf dem Plateau von Rok-
nia eine der ausgedehntesten und interessantesten Ansamm-
lungen von Dolmen, die in Nordafrika existiren. Ferner-
kanu man von hier aus in einem Tage ganz gut die be-
rühmte Tropfsteinhöhle des Thaya besuchen; der erste
Zug bringt einen schon in ganz früher Morgenstunde nach
der gleichnamigen Station und von dort erreicht man zu
Maulthier in fünf Viertelstnnden das Antimonbergwerk,
wo man bei dem Herrn M ed evielle gastlicher Aufnahme
und freundlicher Unterstützung bei dem freilich nicht allzu
bequemen Besuch der Höhle sicher ist. Für den Bergmann
ist das Vorkommen von Antimon und Quecksilber in den
Kalken des Thaya und in den Tropfsteinen seiner Höhle
hoch interessant, und der Paläontolog findet in den Klüften
des Berges eine reiche Ausbeute an Resten ansgestorbener
Thierex). Der Jäger endlich trifft in der Umgebung von
Hammam Meskhoutin reiche Jagdbeute, freilich nur an
Hasen, Kaninchen, Rebhühnern und etwa Wildschweinen;
die großen Raubthiere sind lange verschwunden, und selbst
die Hyäne ist so selten geworden, daß der bekannte Nimrod,
Herr v o n B e r l e p s ch, der im vorigen Winter zwei Monate
im Bade zubrachte, auch nicht eine zum Schuß bekommen hat.
*) Die Ausgrabungen des General Faid herbe haben
21 Arten von Sängethieren ergeben, darunter mehrere eigen-
thümliche (?) Bärenarten. — Die Angaben des Herrn Bour-
guignat sind übrigens, wie man mir sowohl im Bade wie
oben am Bergwerk versicherte, mit einiger Vorsicht aufzunehmen.
Jo esGs „Um A frika".
Im Jahre 1884 umfuhr der wohlbekannte Wcltreisendc
Dr. Wilhelm Joest aus Köln die Küsten Afrikas —
die geplante Bereisung Madagaskars mußte er aus Gesund-
heitsrücksichten leider aufgeben — und sandte von dieser
Fahrt, während welcher er auch das Innere der Kapkolonie,
des Oranje-Fluß-Freistaates, Natals und Zululandes be-
reiste, Berichte an die „Kölnische Zeitung", die er jetzt
gesammelt unter dem Titel „Um Afrika" (Köln 1885.
Du Mont-Schauberg. Mit 14 Lichtdruckbildern und zahl-
reichen Illustrationen nach Original-Aufnahmen des Ver-
fassers) herausgegeben hat. Wer des Verfassers erstes
Neisewerk „Ans Japan nach Deutschland durch Sibirien"
gelesen hat (s. „Globus", Bd. 42, S. 366), für den be-
darf es bei diesem zweiten keiner Empfehlung; unseren
anderen Lesern aber glauben wir es schuldig zu sein, sie
auf dieses Buch aufmerksam zu machen, das in anmuthiger
und höchst unterhaltender Weife eine Fülle wifsenswerther
Mittheilungen über die politischen, socialen und Handels-
verhältnisse im südlichen und östlichen Afrika bietet. Dieser
Umstand allein wird genügen, um deni Buche in jetziger
Zeit einen weiten Leserkreis zu sichern. Wen sollte es
nicht interefsiren, Genaueres zu erfahren über die vor-
Joest's „Um Afrika".
299
jährige Handelskrisis in der Kapkolonie, den Gründungs-
schwindel und Krach in den Diamantminen und in der
Straußenzucht, über die englische Kolonialpolitik u. s. f. ?
„Südafrika, — schreibt Soest, S. 37 — auf sich selbst
angewiesen, würde in bestimmt auszurechnender Zeit aus-
gehungert sein; dieses große, in mancher Beziehung so
reiche Land — wie arm ist es nach anderer Seite hin!
Diamanten, Straußfedern, Gold und Kupfer, Erze und
Elfenbein: wohl rechnet man sie zu den Schätzen der
Könige unserer Erde, wohl tragen sie stolze Namen —
aber satt essen kann sich keiner daran... Südafrika, dieses
Land, das seit zehn Jahren für 600 Millionen Mark in
Diamanten ausführt, ist, trotzdem seine ursprüngliche Be-
völkerung eine Landban und Viehzucht treibende war, zu
arm, um seine weißen Bewohner zu ernähren... Alles,
was man hier verzehrt, alles, was wir um uns haben und
vor uns sehen, alles wird eingeführt: das Mehl kommt
von Australien, der Mais, dieses echt afrikanische Lebens-
mittel, von Südamerika (im Jahre 1882 wurden in Kap-
stadt allein für 12 Millionen Mark Brotstoffe eingeführt),
man wohnt in Häusern aus schwedischem Holz, englischem
Eisenblech und englischen Ziegelsteinen, man brennt Gas
aus englischen Kohlen, in einem Lande, wo Steinkohle auf
der Oberfläche liegt, ja, in manchen Orten trinkt man
importirtes Wasser. Früchte gedeihen im Ucberfluß, aber
dennoch stellen sich ausländische Conserven, Gelves u. s. w.
viel billiger, als in Afrika selbst gewonnene; in diesem Lande
der Viehzüchter giebt es nur selten frische Butter, Milch
oder Käse, die man viel billiger aus Dänemark oder
Amerika bezieht — Millionen leerer Flaschen werden da-
gegen wiederum als nutzlos fortgeworfen, Millionen von
Blech- und Zinnbüchsen liegen um jeden größeren Ort ge-
häuft, Hunderte von Centnern Eisen in jeder Gestalt rosten
und verderben aus den Straßen und am Meeresstrande; in
Kapstadt, auf einer Strecke, vielleicht so lang wie die Linden
in Berlin breit, fand ich 65 weggeworfene Hufeisen —
kein Mensch nimmt sich die Mühe, das Wrack eines Dam-
pfers, das Skelett eines Seglers sich anzueignen!"
Den Grund dieser wirthschaftlichen Schwäche und Un-
selbständigkeit der Kolonie glaubt Joest darin zu finden,
daß es an einer regelmäßigen Bewässerung fehlt, daß bald
gewaltige Regengüsse niederfallen und den Boden ver-
wüsten, anstatt ihn nachhaltig zu befruchten, und bald ent-
setzliche Dürren herrschen. „So lange nicht die Farmer
sich vereinigen und, im Nothsall mit Unterstützung der
Regierung, Dämme und Reservoirs bauen, so lange hat
Südafrika keine wirthschastliche Zukunft. Der Farmer,
der nie weiß, ob der Samen, den er gesäct, auch aufgehen
wird, der stets erwarten muß, daß ihm die Hälfte seines
Viehes in einer Saison verhungert, das heißt, der heute
reich, morgen ein Bettler sein kann, wird nie auf einen
grünen Zweig kommen. Man versorge Südafrika mit
Wasser, und es wird einer der fruchtbarsten Landstriche der
Erde werden, mit Kalifornien und Australien wetteifern
können. Ohne regelmäßige Bewässerung dagegen, so wie
es heute ist, hat das Land ganz entschieden keine Aussicht,
mehr Menschen als die wenigen, die heute darauf ange-
siedelt sind, ernähren zu können." (S. 62 f.)
Von besonderem Interesse ist ferner, was Joest über
die empörende englische Politik — wenn man anders dieses
Wort für brutale Gewalt brauchen will — gegenüber den
Eingeborenen, wie den Basntos und Zulus, und den
Boeren mittheilt (S. 124, 168, 205). Von letzteren
entwirft er (S. 100 ff.) eine nicht gerade günstige Schilde-
rung, die vielleicht etwas von einigen unangenehmen per-
sönlichen Erfahrungen beeinflußt ist. Vor allem tadelt er
ihre große Unreinlichkeit, ihre elenden Wohnungen, ihr
Ungeziefer, ihre grobe Ungeschliffenheit, die Trägheit der
Frauen, die in ihren Lehnstühlen zu kolossalem Leibes-
umfänge anschwellen; ja selbst die von anderen Seiten ge-
rühmte Gastlichkeit spricht er ihnen ab. Dagegen lobt er
ihre Frömmigkeit, ihre Mäßigkeit, ihr vorzügliches Schießen,
die Ehrlichkeit und Einfalt, die so häufig und so arg miß-
braucht worden ist, daß der Boer zuletzt mißtrauisch ge-
worden ist. Faßt man aber die Niedertracht ins Auge,
mit welcher England ohne Unterlaß die freiheitliebenden
Boeren gedrangsalt und wiederholt zur Auswanderung ge-
trieben hat, so kann man sich nur wundern, daß dieselben
im harten Kampfe um ihre Existenz noch einen solchen
Grad von Kultur sich bewahrt haben; liebenswürdig kann
ein geschundenes Volk schwerlich sein.
An der Ostküstc Afrikas besuchte Dr. Joest eine Reihe
portugiesischer Hafenplütze, wie Lourenpo Marques, Jn-
hambane, Quelimane, Mozambique und Jbo, und hier
nimmt er Gelegenheit, für eine gerechtere Beurtheilung
portugiesischer Kolonialwirthschast, als sie namentlich bei
englischen Schriftstellern gang und gäbe ist, ein Wort ein-
zulegen, wie das unlängst Dölter in Hinsicht auf die por-
lngiesischen Kolonien in Senegambien gethan hat. Die-
jenigen an der Ostküste sind nach Joest die allerschlimmsten
unter den am ungünstigsten gelegenen und ungesundesten
Punkten der Erde — und Portugals Schuld ist es nicht,
daß dort nicht alles so ist, wie es sein sollte; aber besser
als dort steht es mit der moralischen und physischen Ge-
sundheit z. B. auch nicht in den Städtchen am unteren
Mississippi, in dem niederländischen Atjeh, an vielen Orten
Britisch-Jndiens, tut spanischen Havannah oder im fran-
zösischen Numca oder Cayenne. Portugal läßt sich zudem
seine ostafrikanischen Kolonien viel mehr kosten, als man
im Allgemeinen glaubt; so zahlt es z. B. der englischen
Telegraphengesellschast für zwei Stationen in Lourenoo
Marques und Mocambique jährlich 100 000 Mark und
der Castle Mail P. Co., welche monatlich einmal von
Natal der Küste entlang bis Mocambique fährt, und das mit
recht kleinen und schlechten Schiffen, jährlich 320 000 Mk.
Der Vorwurf, daß Portugal Verbrecher nach seinen Kolo-
nien transportire, trifft in derselben Weise Frankreich hin-
sichtlich Neu-Caledoniens, nur mit dem Unterschiede, daß
die portugiesischen Sträflinge keiner benachbarten Kolonie
einer anderen Nation lästig fallen, während dies mit den
aus Neu-Caledonien nach Australien entweichenden Depor-
tirten der Fall ist. Und daß sich die Portugiesen am
Sklavenhandel betheiligen, bestreitet Joest entschieden; der-
selbe liegt vielmehr in den Händen der Negerhäuptlinge
und Araber — und wer sind die Abnehmer dieser mensch-
lichen Waare? Abgesehen von den Mohammedanern
Afrikas, Madagaskars und der Comoren nur die eng-
lischen Zuckerpflanzer auf Mauritius und die Fran-
zosen ans Reunión, wobei cs in Wirklichkeit keinen Unter-
schied macht, daß dieselben die Schwarzen nicht „kaufen",
sondern „als freie Arbeiter engagiren". Aber wenn Joest
so die portugiesischen Kolonien gewissermaßen in Schutz
nimmt, so ist er doch himmelweit davon entfernt, die ost-
afrikanische Küste irgendwie zu empfehlen. Was er in
dieser Hinsicht S. 214 f. sagt, sind beherzigenswerthe
Worte. „Möge doch kein Deutscher durch irgend welche
Berichte sich verführen lassen, nach dem tropischen
Afrika auszuwandern. Wenn es reichen Privatleuten Ver-
gnügen macht, ihr Geld in Ost-, West- oder auch Süd-
afrika anzulegen und möglicherweise los zu werden, so ist
das ja vollkommen Privatsache der betreffenden §eute —
der kleine Mann aber, sei er Bauer oder Arbeiter, hat an
38*
300
Joest's „Um Afrika".
der ganzen Ostküste heute noch nicht die geringste Aussicht
weiter zu kommen. Jeder deutsche Konsul wird ihm bei
seiner Ankunft in Afrika denselben Bescheid geben: „Wenn
Sie Geld haben, dann können Sie das hier sehr schnell
los werden, und wenn Sie keins haben, dann werden Sie
sehr bald betteln oder verhungern müssen; auf jeden Fall
thun Sie gnt, so rasch wie möglich in JhreHeimath zurück-
zukehren." — Es klingt beinahe wie Hohn, wenn — wie
dies vor Kurzem geschehen — zur Empfehlung des Kongo-
beckens den Einwanderern gerathen wird, „Orangen oder
Reis zu bauen". Was sollen denn die Leute mit den
Orangen machen? Sich satt daran essen? Sie ver-
kaufen? Wohin? An wen? Wie kaun man ferner
einem Europäer rathen, im äquatorialen Afrika Reis zu
bauen! Erstens ist Reisbau so ziemlich die schwierigste
aller Kulturen, dann aber auch gewiß die dem Arbeiter
gefährlichste.
Der Handel der Portugiesischen Ostküste ist- ganz in
Händen von Nicht Portugiesen, nämlich von Fran-
zosen, Schweizern, Deutschen und Niederländern; Engländer
giebt cs sehr wenige dort. „Dieselben können sich nun
einmal nicht mit den Romanen vertragen und sind darum
hier ebenso unbeliebt, wie in manchen anderen Theilen der
Welt." Alle Plätze der Ostküste, an welchen die Portu-
giesen ihre Macht aufrecht zu halten trachten, sind entweder
Inseln oder sie liegen an Flüssen nahe deren Mündung;
auf dem Festlande haben sie meist wenig zu sagen. So
bezahlt z. B. der Gouverneur von Chiloane den Einge-
borenen der gegenüberliegenden Küste jährlich eine be-
stimmte Summe für die Erlaubniß, sein Vieh dort weiden
lassen zu dürfen.
Als ein längeres Beispiel ans Joest's Buch, das wir
eindringlich als ein gutes znm Lesen empfehlen, geben wir
zum Schluß einige Abschnitte aus seiner Schilderung der
Kapitale des portugiesischen Ostafrika, der „bedeutenden
und aufblühenden Handelsstadt" Mvtzambigue. „Wenn
die Stadt vom Wasser aus keinen günstigen Eindruck
macht, so überrascht sie dagegen durch ihre Originalität
und Schönheit, sobald man den Fuß ans Land gesetzt hat.
Mocambique zeigt uns heute noch den reinsten Typus
einer kolonialen Hauptstadt der vorigen Jahrhunderte, wie
er jetzt nur noch selten in der Welt zu treffen ist; manche
Theile und Straßen erinnerten mich lebhaft an Lima oder
Mexico, und wenn Goa oder Macao aus ihren Trümmern
erstehen könnten, dann würden sie gewiß Mocambique ähn-
lich sein.
Die Straßen aus natürlichem, nur glatt gehauenem
Korallenfels sind eng und winkelig, aber auffallend sauber;
die meisten Häuser erscheinen unbewohnt, hohe Mauern
grenzen sie nach der Straße hin ab und die wenigen Fen-
ster sind stets verschlossen; im Inneren aber, im Hofe,
unter Palmen und zwischen plätschernden Brunnen, liegt
die Dame des Hauses im Schaukclstuhl und träumt von
Intriguen und Liebesabenteuern — zuweilen auch prügelt
sie ihre Negerinnen.
Grell roth, blau oder gelb sind alle Häuser angestrichen,
auf allen Plätzen aber und zumal auf der die ganze Insel
der Länge nach durchziehenden Straße bieten Alleen und
parkartige Anlagen von Ficus, Tamarinden oder Palmen
wohlthuenden Schatten und Kühlung. Wenngleich im
übrigen die Hitze bei Tage manchmal grauenhaft ist, so
macht sie sich im Inneren der Wohnungen und zumal in
den Bureaus und Häusern der fremden Residenten, die in
den luftigsten Steinbauten, welche ich je gesehen, leben,
kaum bemerkbar. Die Front jener ursprünglich von den
Sklavenhändlern erbauten Paläste schaut nach der See,
und vor denselben bis dicht ans Ufer oder bis ins Meer
hinein dehnt sich ein von geräumigen Gebäulichkeiten um-
gebener Hof aus. Eine Treppe oder Landungsbrücke erlaubt
kleineren Seglern oder Leichterschiffen, direkt hier anzulegen.
Hinter den Faktoreien zieht sich eine der Hauptstraßen
Mocambiqucs hin und von hier ans tritt der Besucher,
der sich in der Tragbahre von vier schnellfüßigen Schwarzen
durch die engen Gassen der unteren Stadt hat schleppen
lassen, in eine geräumige Borhalle, wo ihn der meist nach
Zanzibar-Art gekleidete Pförtner in langem weißem-Hemde
und kleiner rother Mütze empfängt. Mächtige Treppen
führen aus der Vorhalle nach dem ersten und einzigen
Stock des Hauses, dessen drei oder vier Zimmer, welche die
volle Breite des Hauses einnehmen und die theils zu
Bureaus, theils zu Wohnzimmern benutzt werden, sämmt-
lich von der Größe europäischer Tanzsüle sind. Schwere
kaum behauene Balken tragen die Decke, die Thüren aus
eisenbeschlagcnen Planken erinnern an Festungsthore, die
Wände sind oft mehrere Fuß dick, die Balköne und Veran-
das nach dem Meere hin meist aus massivem Stein auf-
geführt und selbst die Dächer sind theils gewölbt, theils
aus Stein und Cement gebaut, kurz, solche Faktorei macht
ganz den Eindruck eines Privatkastells, die Schöpfung ge-
diegensten Reichthums.
Die ursprünglichen Besitzer dieser Paläste sind heute,
nachdem der Sklavenhandel unterdrückt wurde, zwar ver-
armt, die jetzigen Bewohner aber haben es verstanden, den
Handel in legitime Bahnen zu lenken, wobei sie bedeutende
Gewinnste erzielen. Ein- und Ausfuhrartikel sind ganz
dieselben wie in den südlichen Häfen (Kopra, Erdnüsse,
Kautschuk, Bienenwachs, Kopal, Sesam, Elfenbein werden
von Chiloane und Quelimane ans exportirt). Auch hier
finden wir wieder die Banianen, die, ohne sich weit ins
Innere zu wagen, meist weißen Kattun (derselbe wird
später von den Negern gefärbt) oder Glasperlen (aus Ve-
nedig) gegen Elfenbein und Kautschuk eintauschen.
Die ganze Insel Mocambique ist kaum iy2 Meilen
lang und au der breitesten Stelle vielleicht 500 Schritte
breit; die Zahl der Bevölkerung mag 150 Weiße, mehrere
hundert Banianen, einige Chinesen und Araber und 4000
bis 5000 Eingeborene bezw. Makuas vom Festlande
betragen. Die Wohnungen dieser letzteren sind nicht gerade
malerisch: dicht drängen sich viereckige Palmhütten an ein-
ander, deren Reinlichkeit manches zu wünschen übrig läßt;
aber die herrliche Natur, die Heiterkeit aller Creatur, das
vollständige Sichgehenlassen derselben in Kleidung und Ver-
kehr versöhnt mit allen Schattenseiten, so daß man diese
Menschen, die, beinahe vollkommen bedürfnißlos, nur einen
Tag in der Woche arbeiten, um den Rest der Zeit damit
zuzubringen, der jeweiligen Geliebten ihres Herzens den
Hof zu machen, fast beneiden könnte.
Neben den Eingeborenen sind es die indischen Banianen,
die manchen Straßen der Stadt ihr eigenthümliches Ge-
präge verleihen. Zumal Abends konnte man sie beobachten,
wie sie in ihren Gewölben beim Scheine bronzener Ampeln
ihr Geld zählten und des Tages Gewinn berechneten, oder
wie sie auf breiten gepolsterten Sophas, die ihnen zugleich
als Bett und Schreibtisch dienen, zusammenhockend plau-
derten. In den Händen dieser Banianen ruht das ganze
höchst bedeutende Geschäft von Mocambique mit Indien;
Hunderte von Segelschiffen kommen mit jedem Nordost-
monsun von Bombay, um mit wechselndem Passate nach
Indien zurückzukehren. Haupteiufuhrartikel sind indische
Gewebe, die werthvollste Rückfracht bildet Elfenbein.
Nur wenige Araber und Chinesen leben in Mocam-
bique; letztere sind meist Handwerker, während erstere sich
Hochzeitsbrüuche int Altai.
301
hauptsächlich mit Sklavenhandel beschäftigen, und so lange
diese Leute ihr schwarzes Elfenbein in Madagaskar, den
Comoren oder Arabien mit viel Verdienst absetzen können,
so lange wird dieses Geschäft auch weitergehen. Die schwar-
zen Häuptlinge der Küste werden sich stets ein Vergnügen
daraus machen, Kriegsgefangene oder auch ihre eigenen
Unterthanen an irgend einem Platze der Küste, über den
man vorher übereingekommen ist, zusammenzutreiben. Der
arabische Kapitän klarirt sein Schiss unter irgend einem
beliebigen Vorwände, in dunkler Nacht nähert er sich der
Küste, wo ihn dichtes Gebüsch mit Leichtigkeit verbirgt, und
sobald die schwarze Ladung an Bord ist, segelt er schleunigst
nach seinem Bestimmungsorte. Diesen Handel ganz zu
unterdrücken, gelingt den portugiesischen Kriegsschiffen
ebenso wenig, wie es einst den Engländern gelang.
Materiell lebt man recht gut in "Mocambique, auch
giebt es dort mehrere große Läden mit allen möglichen
europäischen Waaren. Der Aufenthalt in der Hauptstadt
würde überhaupt, abgesehen von der Hitze, wiederum ein
ganz angenehmer sein, wenn nur das Klima auch hier
nicht so ungesund wäre. Eine Erklärung dieses Umstandes
ist schwer zu finden, denn die kleine Koralleninsel wird stets
vom Seewind bestrichen und der Europäer trinkt — wenn
überhaupt — nur filtrirtes Regenwasser, das von den
flachen Dächern in großen gemauerten Behältern zusam-
menströmt. Der Schmutz des Negerviertels aber und
manche Gewohnheiten seiner Bewohner mögen hauptsächlich
dazu beitragen, Fieber und Malaria stets auf der Insel
herrschen zu lassen. Aller mögliche Schmutz und Unrath
wird am Meeresstrande zusammengetragen, und der Geruch,
zumal bei Ebbe, ist hier unerträglich. Kanalisation kennt
man nicht und viele Fieber werden wohl auch vom Fest-
lande eingeschleppt, kurz, die Eingeborenen sterben häufig
in erschreckendem Maße und von den 150 hiesigen Euro-
päern (mit den Portugiesen) war kurz vor meiner Ankunft
während einer Woche täglich einer gestorben."
Ho chzeitsbrau ch e im Altai.
Folgende Schilderung entnehmen wir dem kürzlich er-
schienenen höchst interessanten Werke von Professor
Dr. Will). Radloff („Aus Sibirien". Lose Blätter
ans dem Tagebuche eines reisenden Linguisten. Leipzig,
T. O. Weigel, 2 Bde.).
„Die Hochzeitsbränche bei den Masern sind folgende:
Der Jüngling sucht sich meist selbst die Braut aus, die ihm
gefällt, und bittet seinen Vater, um dieselbe zu werben.
Bei Armen reitet der Vater selbst zur Werbung aus, bei
wohlhabenden Leuten werden gewöhnlich zwei nahe Ver-
wandte als Brautwerber (Kuba) ausgeschickt. Wenn die
Brautwerber eintreffen, steigen sie in einiger Entfernung
von der Jnrte vom Pferde und nähern sich dann mit lang-
samen Schritten derselben. Sobald sie durch die Thür
eingetreten sind, bleiben sie stehen und der eine stopft
stehend seine Pfeife, der andere schlägt Feuer an und ent-
zündet ein Stück Schwamm, das er in der Hand hält, dann
treten sie auf den Vater der Braut zu, knien auf das linke
Knie nieder und verneigen sich tief; darauf spricht der erste
Brautwerber:
„Vor der Schwelle deines Hauses
Neige ich jetzt meine Knie,
Bin zu deinem Haus' gekommen,
Freuend hier mich deines Reichthums,
Bin gekommen zu der Jurte,
Um der Jurte Haupt zu bitten.
Mög' für immer unzertrennlich
Uns Gevatterschaft verbinden!
Wie die Wangen unzertheilbar,
Wie ain Panzerhemd der Kragen,
Mög' Verwandtschaft uns verbinden!
Fest wie Birkenrindenschichten,
Dicht wie feine Doppelnaht!
Will den Stiel des Messers fordern!
Bitten um des Kessels Henkel!
Hat der Krieg geherrscht seit Langen:,
Hat zerrüttet neun Geschlechter,
Frieden schließen will ich jetzt,
Will Verwandtschaft jetzt begründen,
Gieb uns jetzo deine Antwort!"
Während er diese Worte spricht, hält der erste Braut-
werber die Pfeife dem Vater hin, während der andere den
Schwamm bereit hält, um sogleich dieselbe anzuzünden, so-
bald jener die Hand danach ausstreckt, was als ein untrüg-
liches Zeichen gilt, daß er die Werbung günstig aufznnch-
men gewillt ist. Gewöhnlich ergreift der Vater sogleich
die Pfeife, da man meist schon vor der officiellen Werbung
im Geheimen hat anfragen lassen. Geschieht das aber
nicht, so bittet er die Brautwerber etwas zu verziehen, er
habe sich mit der Mutter der Braut und den Verwandten
noch zu berathen. Dann treten diese Familienglieder in
eine benachbarte Jnrte und halten Rath. Der Vater kehrt
nun zur ersten Jurte zurück und ergreift die Pfeife, die im
selben Augenblicke vom zweiten Freiwerber angezündet wird,
sobald der Brautvater sie zum Munde führt. Jetzt beginnt
die Besprechung über den Kalym (das Geld oder das Vieh,
welches der Bräutigam dem Vater der Braut zu zahlen
hat) und die Mitgift (endji-kondjy). Wenn die Geldan-
gelegenheiten geordnet sind, so setzen sich alle im Kreise
um das Feuer und beginnen ein lustiges Zechgelage. Der
Brautvater reicht die ersten beiden Schalen mit Brannt-
wein den Brautwerbern. Hierauf verlassen diese die Jurte
des Brautvaters und reiten zum Bräutigam zurück, dem
sie unter fast gleicher Ceremonie die Bedingungen des
Brautvaters mittheilen. Hier wird nach Annahme der
Bedingungen ebenfalls tapfer gezecht. Dabei wird nicht
nur die Höhe des Kalyms, sondern auch der Zahlungster-
min festgesetzt.
Von dieser Zeit an werden die jungen Leute als Ver-
lobte angesehen. Der Bräutigam (Kolkn) darf die Braut
(Syrgali) besuchen, hat aber nur das Recht, sich bis zum
Abend in der Jurte aufzuhalten. Sobald die Zahlung an
den Brautvater erfolgt ist, wird Hochzeit gemacht. Der
Vater des Bräutigams baut seinem Sohne eine neue Jurte
und übergießt ihm einen Theil seines Vermögens (ändji).
Am Hochzeitstage begiebt sich dann der Bräutigam in
Begleitung zweier junger Lente zur Jurte der Braut. Etwa
hundert Schritte vor der Jurte halten sie an, steigen vom
Pferde und schreiten, Hochzeitslieder singend, ans die Jurte zu.
Was ist Werthvolles im Walde?
Werth voll ist der schöne Zobel.
Was ist Werthvolles beim Volke?
's ist das Mädchen mit sechs Zöpfen!
302
Kürzere Mittheilungen.
Was ist Werthvollcs im Walde?
's ist dev Zobel, der viersüß'ge.
Was ist Werthvolles im Volke?
's ist das Mädchen mit vier Zöpfen!
Der da rupft das weiße Kraut,
Weißer Schimmel, sag': wo bist du?
Deren Haar im Nacken gelb ist,
Bräutchcn, sage mir, wo bist du?
Der da rupft das blaue Kraut,
Blauer Schimmel, sag': wo bist du?
Deren Haar im Nacken schwarz ist,
Bräutchen, sage mir, wo bist du?
Die Eltern der Braut treten aus der Jurte und em-
pfangen den Bräutigam vor der Thüre. Hierauf wird er
feierlichst in die Jurte geführt und mit Branntwein bewir-
thet und nun ihm vom Schwiegervater die Braut über-
geben. Alsdann begicbt sich das junge Paar mit allen
Verwandten zur Jurte des Bräutigams. Die Braut reitet
auf einem eigenthümlich aufgezäumten Pferde, zwischen
den beiden Begleitern des Bräutigams, von denen jeder
einen kleinen Birkenbaum vor sich im Sattel hält, an wel-
chem ein Vorhang befestigt ist, den sie vor die Braut halten.
Sie darf während des ganzen Rittes weder den Weg noch
die neue für sie hergerichtete Jurte sehen, ehe sie in dieselbe
eintritt. Dieser Brautzug wird von einer großen Menge
von Anverwandten und Freunden begleitet. Die Jurte
des Schwiegervaters ist von Verwandten und Freunden
gefüllt. Beim Abschiede segnen die Eltern die Braut und
geben ihr den Rath, wie sie in der Fremde leben soll.
Wenn dieselbe in die Jurte des Schwiegervaters getreten
ist, so verneigt sie sich bis zur Erde vor der Feuerstelle.
Darauf richtet der Schwiegervater oder ein Anverwandter-
folgenden Segensspruch an die Braut:
Möge Gottes Auge äus dir ruhen,
Tressen dich der alten Leute Segen,
Aus dir ruhn des hohen Gottes Auge!
Dich erreichen hoher Menschen Segen!
Reich an Asche sei dein Wohnplatz!
Zahlreicher als Schaf- und Länimerherdcn
Mögen deine Nachkommen dir wachsen,
Zahlreicher noch als des Auerhahns Brut
Mög' erwachsen dir der Kinder Menge!
Dichter noch als das Gestrüpp von Weiden!
Dichter als die Saat im Acker aufsprießt!
Möge vor dir stets der Mond erglänzen!
Scheinen hinter dir die helle Sonne!
Vor dir aus den Rockschoß mögen Kinder geh'n!
Hinter dir des Viehes Menge folgen!
Die drcijähr'gen Pferde mögen Füllen werfen!
Samen haben deine vierjährigen Pferde!
Möge rein stets bleiben deine Kleidung!
Ab nicht magern deine Pferdeherden!
Möge dir der Rücken ja nicht faulen!
Lange währen deine Lebenszeit!
Ewig währen deine Lebenstage!
Nehmen mögst du da, wo nichts mehr ist zu nehmen !
Halten da, wo nichts mehr ist zu halten!
Flink mög' immer dein Verstand sein!
Leicht erfassen deine Geisteskräfte!
Der Bewangte möge niemals mit dir zanken!
Dich bedrücken nicht der Achselträger!
Fest wie Eisen sei der Boden unter dir!
Sei wie Eisen gegen den dich Tretenden!
Fest sei stets dein Dreifuß, wie von Stein,
Einen Hausen bild' dein Aschenmehl!
Warm sei stets dein Lebensort!
Hitze möge stets dein Feuer strahlen!
Nahrvoll möge deine Nahrung sein!
Reichlich möge dir die Speise fließen!
Zahlreich sei die Kleidung dir im Hause,
Schön das Haus, das du betrittst!
Möge Gott den Willen dir befest'gen!
Mögst du einen Nachfolger gebären!
Mög' dein Arm dir nie erkranken!
Deine Achselhöhle nie dir schmerzen!
Stattlich möge sein dein Söhnlein!
Viel Gelage mögest du bereiten!
Hundert, hundert Jahre sollst du bleiben!
Einen schnellen Renner sollst du reiten.
Nach diesen Worten reicht der Schwiegervater dem
jungen Paare eine Schale Branntwein. Sind alle An-
wesenden bewirthet, so wird das Brautpaar feierlich in
seine neue Jurte geführt. Vor ihnen her trägt man aber-
mals den zwischen zwei Birkenstämmen ausgespannten
weißen Vorhang. Nach ihrem Eintritte in die Jurte ver-
neigt sich die junge Frau vor der Feuerstelle, wirft alsbald
ein Stückchen Fleisch ins Feuer und schüttet einige Tropfen
Kumys hinein. Hierauf wird der weiße Vorhang vor das
Bett der Neuvermählten gehängt und wenn dies geschehen,
so nimmt das Brautpaar seine Plätze als Wirthe der
neuen Jurte ein. Die Feierlichkeit schließt mit einem
Gelage, das bei reichen Altajern mehrere Tage dauert. Da
die Jurten gewöhnlich nicht die Menge der Gäste zu fassen
vermögen, so werden an mehreren Stellen im Freien
große Kessel aufgestellt und um jeden Kessel schart sich
ein dichter Kreis von Gästen. Ein solches Gastmahl soll
besonders des Abends einem Feldlager ähnlich sein."
Kürzere Mi
Diamantgruben in Ncusttdwales.
Ganz vor Kurzem sind in Neusüdwales Entdeckungen
von Diamantgruben gemacht worden, welche die Kolonie in
nicht geringe Aufregung versetzt haben. Bekanntlich hat
Australien sich bisher au edlen Steinen nicht reich erwiesen.
Allerdings sind schon seit geraumer Zeit Diamanten in ver-
schiedenen Theilen von Ncusüdwales gefunden worden, und
man versprach sich früher große Dinge von denselben, aber
die Resultate lohnten die aufgewandten Anstrengungen und
Kapitalien keineswegs. In allerjüngster Zeit gelangten aber
einige Steine nach London, die anfangs den Schleifern in
Amsterdam viel Mühe machten und nicht die rechte Beach-
tung finden wollten, nach Ueberwindung der technischen
Schwierigkeiten aber für äußerst werthvoll erklärt wurden.
t t h e i l u n g e n.
Der Fundort befindet sich im Norden von Neusüdwales
auf halbem Wege zwischen der Hauptstadt und der Queens-
länder Grenze in öder, wasserlofer Gegend. Das Diamanten-
fcld Biugera liegt in der Grafschaft Murchison in Ncusüd-
wales, führt den Namen nach dem nahen Städtchen Biugera,
und ist leicht von Tamworth und Glen Jnnes aus zu er-
reichen, die beide nördlich von Sydney gelegen sind. Schon
seit langen Jahren waren kleine Diamanten daselbst zufällig
gefunden worden, auch einzelne Diamanteugräber hatten Ver-
suche gemacht, sie auszubeuten; indeß da man die gefuudeneu
Steine für weniger werthvoll als die brasilianischen und die
Kapsteine hielt, und die Ausbeute mit einigen Schwierig-
keiten verknüpft ist, die zu überwinden große Mittel für
Einzelne erfordert, auch die Kenntniß erfahrener Gräber
fehlte, so fand Biugera nicht sogleich die allgemeine Beach-
Aus allen Erdtheilen.
303
tung. Erst seitdem Diamantengräber von Kimberley in
Südafrika, zwar getäuscht, jedoch mit Erfahrungen zurück-
kehrten, stellten sich solche in Bingera in größerer Zahl ein,
und die somit häufigeren Funde führten endlich zur Bildung
einer Gesellschaft, die unter dem Namen „Australische Dia-
manten-Minen-Kompagnie" vor etwa einem Jahre 40 Acker
Land bei Bingera zum Preise von mehreren Tausend Pfd. St.
kaufte und eine regelrechte Bearbeitung derselben unter Lei-
tung eines erfahrenen Verwalters, den sie vom Kimberley-
Diamantfelde gewonnen hatten, begann. Er stndirte das
dortige Feld sehr sorgfältig und ließ in Melbourne nach
seiner Angabe die nöthigen Maschinen bauen, die zum Aus-
waschen der Edelsteine ans dem Diamantendrift nöthig sind,
und vor deren Vollendung und Aufstellung ließ er an ver-
schiedenen Stellen nach Wasser graben und bohren, da kein
Oberflächenwasser daselbst vorhanden ist, und in dem Mangel
desselben bis jetzt die Hauptschwierigkeit einer Ausbeute be-
stand. Bis jetzt ist es leider noch nicht geglückt, eine ge-
nügende Wassermenge für einen flotten Betrieb zu erhalten,
und die Kompagnie hat sich jetzt entschlossen, eine Eisenbahn
nach dem etwa drei Meilen entfernten Flusse Gwydir zu
bauen, der das ganze Jahr hindurch genügende Wasser-
mengen bietet, die einen großen und fortgesetzten Betrieb
sichern. Auf dieser Bahn soll der Waschdrift zum Flusse
geschafft, die Maschinerie dort ausgestellt und die Auswäsche
vollzogen werden. Die Anlage einer solchen Bahn ist leicht
und der Terrainfall so günstig, daß die beladenen Wagen
ohne jede Schwierigkeit bis zum Ufer des Gwydir laufen
können. Ist sie vollendet, so erwartet man einen Aufschwung
dieses Feldes, wie er niemals größer in Südafrika war.
Seither sind Versuchsausbeutnngen und Auswaschungen an
verschiedenen Stellen mit den glücklichsten Erfolgen unter-
uommen worden, und in kurzer Zeit konnte die Kompagnie
die erste Diamantensendnng nach Europa abgehen lassen, der
bald zwei andere und größere folgten. Die günstige Auf-
nahme und die vortheilhafte Beurtheilung, die sie bei den
ersten Kennern und Käufern fanden, veranlaßte die Auf-
stellung einer verbesserten Maschine, auf der täglich 200
Ladungen Waschstoff gewaschen werden können; indeß trotz-
dem ist der Betrieb wegen Mangels am nöthigen Wasser
auch jetzt noch kein schwunghafter. Ein Fangdamm ist auf-
geführt und ein Brunnen liefert nur für einige Tage Arbeit
Wasser. Nach den dabei gemachten Erfahrungen gewann
man hinter einander aus 40 Ladungen Waschstoff 58 Dia-
manten im Gewichte von 10 Karat, aus 20 Ladungen 190
Diamanten von 39% Karat, aus 27 Ladungen 159 Dia-
manten von 35 Karat, ans 21 Ladungen 127 Steine von
25'/2 Karat und aus 27 Ladungen 98 Steine von 20 Karat.
Im letzten Waschen wurden aus 81 Ladungen 282 Steine
im Gewichte von 56V4 Karat gewonnen. Größere Dia-
manten hat man bis jetzt ilicht gefunden; indeß sind diese
überall selten und in den berühmten Kimberley - Minen
kommt nach gemachter Erfahrung auf 10 000 kleine Steine
nur ein größerer. Erst mit größerer Tiefe möchte die Größe
der Steine zunehmen. Man rechnet, daß bei % Karat Aus-
beute von einer Ladung der Abbau im Kimbcrley-Distrikte
noch Vortheilhaft ist, um so mehr in Bingera, wo die Steine
fast 50 Proc. werthvoller sind. Man rechnet hier die Kosten
einer Ladung Waschstoff auf 2 sh 6 d, und wird auch nur
% Karat daraus gewonnen, so beträgt der Gewinn minde-
stens 17 bis 18 sh per Ladung. Den Ansichten des be-
kannten Geologen Wilkinson zufolge wird die Ausbeute von
Diamanten in Nensüdwalcs in kurzer Zeit eine sehr be-
deutende Rolle spielen.
Aus a l l e n
Europa.
— In Band 31 des Sammelwerkes „Das Wissen der
Gegenwart" giebt einer der besten Kenner der Pyreuäen-
halbinsel, Prof. M. Willkomm in Prag, die Schilderung
des Centrums und Nordens von Spanien, die ungefähr
in derselben Weise gehalten ist, wie der betreffende Abschnitt
in Wappäus' Handbuch der Geographie und Statistik. Von
besonderem Interesse sind die Kapitel über physische Kultur,
Industrie, Handel u. s. w., welche die in den letzten Jahr-
zehnten gemachten Fortschritte dieses wenig bekannten Landes
recht erkennen lassen, aber auch die Mängel, namentlich im
Unterricht, hervorheben.
— Vor einigen Jahren wurde von russischer Seite'viel
Aufhebens von dem raschen Aufblühen des Hafenplatzes
Li bau in Kurland gemacht, und dasselbe war auch unver-
kennbar. Aus- und Einfuhr daselbst hatten in den letzten
Jahren folgende Werthe:
1880 .......... 35 670 000 Rubel
1881 ........... 39 460 000 „
1882 ........... 44 390 000
1883 ........... 64 791239
1884 ........... 52 989 590 „
Das Jahr 1884 zeigt also eine beträchtliche Abnahme
gegenüber dem vorhergehenden, nämlich 2 784 457 Rubel im
Import und 9 017192 Rubel im Export. Ebenso hat der
Schiffsverkehr abgenommen: 1884 betrug derselbe 1773 Schiffe
gegen 1817 im Jahre 1883. Obwohl der Handel im ver-
gangenen Jahre immerhin der bedeutendste des Platzes, 1883
Erdtheilen.
ausgenommen, gewesen ist, so sind doch die Krisis im russi-
schen Kornhandel, eine Folge der amerikanischen und indischen
Konkurrenz, und das beträchtliche Sinken der Ausfuhr schlimme
Zeichen. Der Wohlstand Libans steigt und fällt mit dem
russischen Kornhandel, in welchem cs nach St. Petersburg
und Odessa die dritte (im Export von Roggen und Hafer
allein sogar die erste) Stelle einnimmt.
A s i e n.
— Eine sehr gründliche Abhandlung über die Be-
schneidnng bei den Völkern des Indischen Archipels
von Dr. G. A. Wilken ist in Bydragen tot de Taal-Land-
en Volkenkunde von Nederl. Jndie X, 2 enthalten.
— Anfangs April haben die Engländer sich eine Marine-
station auf der Insel Kö-mun-do (Port Hamilton) gesichert,
welche unter 34" nördl. Br. etwa 50 km südlich von der
Südküste Koreas liegt und die südliche Einfahrt in das
Japanische Meer, die Broughton-Straße, beherrscht. Sie liegt
so recht in der Mitte ztvischen Japan, Korea und dem nörd-
lichen China, ist also zu dem angegebenen Zwecke vorzüglich
geeignet. Daß Port Hamilton von den Tagesblättern aus
der großen Insel Quelpart gesucht wird, ist ein Irrthum.
Afrika.
— Eine von der französischen Regierung ernannte Kom-
mission hat die Wälder Tunesiens untersucht und kürzlich
darüber berichtet. Südlich von dem Hauptstrome Medscherda
bestehen die sogenannten Wälder nur aus Gebüsch von Cal-
304
Aus allen Erdtheilen.
listus, Wachholder, Alepposichten und kleinen Eichen; der
Wald ist zur Erlangung von Ackerland und Weiden aus-
gerodet worden und nur stellenweise haben sich Gruppen
größerer Bäume, wie Aleppofichten und Oelbäume, erhalten:
Hier ist also nichts mehr zu erhalten, und eine Aufforstung
würde sehr bedeutende Kosten erheischen. Eine ganz andere
Erscheinung bieten die Berge der Krumir im Norden; dort
giebt es prächtige Wälder von alten mächtigen Kork- und
weißen Eichen (Quercus Mirbeekii) mit 3 bis 4m im Um-
fange haltenden Stämmen, deren unterste Zweige 10 bis
15 m über dem Erdboden sich befinden. Ein Wald bedeckt
100 000 h und enthält außer den oben genannten Bäumen
noch Erlen, Weiden, wilde Kirschbäume, Buchen, Pappeln,
Stechpalmen, Lorbeerbäume und Tamarisken. Dieser und
einige benachbarte Wälder sollten erhalten werden und würden
die aufgewendeten Kosten reichlich decken. („Nature.")
— Von der holländischen Afrika-Expedition
ist ein weiterer Bericht bis zum 31. Januar eingelaufen;
als derselbe abgeschickt wurde, hatte man Humpata noch nicht
erreicht. Die Reise von Mossamedes war am 15.Januar
angetreten worden und war für die schwer beladenen Karren
mit größeren Schwierigkeiten verbunden, als man vermuthet
hatte. Die Oberfläche des Bodens bestand aus tiefem Sande,
der mit gewaltigen Steinstücken wie besäet war; der Weg
führte über hohe, durch tiefe Schluchten von einander getrennte
Bergrücken; nur an wenigen Punkten hat man Bauten aus-
geführt, um den Uebergang begnemer zu machen. Ueber Tag
ist es unbeschreiblich heiß, während die Nächte empfindlich
kalt sind. Die größte Schwierigkeit bietet aber das Ueber-
schreiten des letzten Rückens, der Serra de Chella, welche
das Küstengebiet von der Hochfläche scheidet, auf welcher
Humpata liegt. Die Gesundheit der Reisenden hatte viel zu
leiden; Goddesroy, namentlich aber Beth waren krank, nur
van der Kellen war ganz wohl. Die Nachtrnhe wurde durch
allerlei Raubzeug gestört, dem drei oder vier der mitgenom-
menen javanischen Hunde als Opfer fielen. Am 30. Januar
hatte man mit vieler Mühe den höchsten Punkt der Serra
de Chella erreicht und befand sich am folgenden Tage auf
dem nach Humpata zu gelegenen Abhange, als sich Gelegen-
heit zur Absendung des Berichtes bot.
Nordamerika.
— Das Schuldepartemeut in Washington veröffentlicht
soeben einen Bericht über die Zahl der Colleges und
Universitäten in den Vereinigten Staaten, die
Zahl der Studirenden und die finanziellen Verhältnisse dieser
Institute. Danach stieg in dem elfjährigen Zeitraume
1872 bis 1882 die Zahl der genannten Institute von 298
auf 365. die Zahl der Lehrer von 3010 ans 4413 und die
Zahl der Stndircnden von 45 617 auf 64 096. Von dieser
letzten Zahl befanden sich aber nur 32 258 in den eigent-
lichen Colleges, die übrigen in den Vorbereitnngsanstalten.
Das Einkommen dieser Lehranstalten rührt aus zwei Quellen
her, aus dem Ertrage der ihnen von den einzelnen Staaten
zugewendeten Ländereien und aus den Zahlungen der Studi-
renden. Das erste Einkommen bezifferte sich auf 2 661 692
Dollars; einzelne Staaten haben ganz bedeutende Dotationen,
aus welchen New Aork 469 317, Massachusetts 292 812, Penn-
shlvanien 242 822, Maryland 229 734, Ohio 202 510, Kali-
fornien 101650 Dollars bezog. Die Zahlungen der Studiren-
den beliefen sich auf 2 126 664 Dollars. Es befanden sich in
allen 365 Universitäten und Colleges 2 514 585 Bände, von
denen ans New Uork mit 28 Colleges 313 316, auf Massachu-
setts mit 7 Colleges 303 126, auf Pennsylvanien mit 28 Col-
leges 184 353 Bände kommen u. s. w. Das gesammte, allen
diesen Lehranstalten an Grund und Boden, Baulichkeiten
und Lehrmitteln zugehörige Vermögen wird aus die stattliche
Summe von 43 485 330 Dollars berechnet. Zu gleicher Zeit
bestanden in den Vereinigten Staaten 145 theologische Semi-
nare mit 712 Professoren und 4921 Seminaristen, wovon
die deutschen Lutheraner 16 Seminare mit 74 Lehrern und
525 Studirenden besaßen.
Südamerika.
— Vor vierzehn Jahren sandte die Londoner Firma
Waring Brothers, einem Vertrage mit der argentinischen
Regierung gemäß, unter Führung von Robert Craw-
ford eine Expedition nach der Argentina, um eine Trace
für die Irans and in ische Eisenbahn nach Chile aufzu-
nehmen. Die Reise wurde 1871/72 ausgeführt; das Buch
Crawford's, worin sie beschrieben wird („Across the Pampas
and the Andes“, London 1884), ist erst kürzlich erschienen,
führt uns aber noch Zustände vor, die jetzt glücklicher Weise
der Vergangenheit angehören. Damals hatte die Expedition,
so lange sie zwischen 330 und 35° südl. Br. bte. Pampas
durchzog, noch fortgesetzt mit den Einfällen der ungebün-
digten Indianer zu rechnen, über welche interessante Details
mitgetheilt werden; heute ist durch die erfolgreichen Opera-
tionen des Generals, späteren Präsidenten, Roca die Grenze
um 4 bis 5 Breitengrade nach Süden vorgeschoben, weite
Landstrecken sind für die vorschreitende Kultur gesichert
worden, und die Bahnen, welche damals nur kurze Strecken
landeinwärts reichten, werden bald Bahia Blanca im Süden
und Mendoza im Westen, am Fuße der Anden, erreicht
haben. Crawford's Buch ist eine unterhaltende Beschreibung
der Reise mit ihren täglichen Leiden und Freuden, enthält
viele Jagdgeschichten und Notizen über das Thierleben in
den Pampas (Hasen, Strauße, Hirsche, Rebhühner, wilde
Pferde, Viscachas, Pumas, Flamingos) und Anden (Con-
dors, Guanacos), im Anhange aber (S. 281 ff.) nützliche
Daten sowohl über die bereits existirenden Eisenbahnen der
argentinischen Republik als auch über die projektirte trans-
andinische Linie.
Vermischtes.
— Von H. I. Klein's Lehrbuch der Erdkunde
für höhere Lehranstalten (Braunschweig, Friedrich Vieweg
und Sohn), das wir in Bd. 38, S. 16 ausführlich angezeigt
haben, ist jetzt die zweite verbesserte und vermehrte
Auflage erschienen (Preis 2M. 80 Pf.). Wir dürfen das
wohl als einen erfreulichen Beweis dafür betrachten, daß die
alte Weise, die Geographie auf unseren Schulen als ein An-
hängsel des Geschichtsunterrichtes nebenher abzumachen, mehr
und mehr verschwindet, daß das topographische Detail und
Zahlenwesen zurücktritt gegenüber der Darstellung der großen
natürlichen Verhältnisse und des gesetzmäßigen Wirkens von
Luft, Wasser rc. In richtiger Würdigung des Nutzens, den
die Anschauung vor der Beschreibung voraus hat, ist die
Zahl der landschaftlichen Ansichten vermehrt und gewisse
Städtetypen zur Darstellung gebracht worden. Möge das
Buch in seiner neuen Gestalt fernerhin Gutes wirken.
Inhalt: G. Rövoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883. I. (Mit sechs Abbildungen.)—
W. Kobelt: Skizzen aus Algerien. V. Hammam Meskhoutin, das Bad der Verfluchten. — Joest's „Um Afrika". —
Hochzeitsbräuche im Altai. — Kürzere Mittheilungen: Diamantgruben in Neusüdwales. — Aus allen Erdtheilen:
Europa. — Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion: 17. April 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcustraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Vraunschwcig.
/ u
Mit besonderer Herürksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Brauuschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark prv Band zu beziehen.
1885.
G. Mvoil's Reise im Lande der Benadir, Soinali und Bajnn
1882 bis 1883.
ii.
(Sämmtliche Abbildnngen nach Photographien.)
Es nahte jetzt die Zeit heran, wo die Barken der
Somali und Araber, längs der Küste herabkommend, die
Rhede von Zanzibar besuchten und Leute aus jenen Gegen-
den, welche Rsvoil zu erforschen vorhatte, mit sich führten.
Sein am Landeplatze gelegenes Haus wurde bald zum
Sammelplätze dieser Ankömmlinge. Darunter befanden
sich einige Eingeborene aus der Gegend des Kap Guarda-
fni, deren Bekanntschaft der Reisende schon früher geuiacht
hatte; ihre Ansichten über dessen Plan waren wenig ermu-
thigend und bestätigten nur die Befürchtungen, welche Sultan
Said Bargasch diesem gegenüber bereits ausgesprochen hatte.
Unter anderen kamen auch Häuptlinge verschiedener Ort-
schaften der Benadir — so heißen die Bewohner des dem
Sultan von Zanzibar unterworfenen Theiles der Ostküste
Afrikas vom Aequator bis Mruti; die wichtigsten Orte
desselben sind Kismaju, Brawa, Mörka und Mogdnschu.
Um sich bei diesen einen guten Empfang zu sichern, nahm
Rovoil sie sehr freundlich ans und ließ keinen mit leeren
Händen davongehen. Jeder Bakschisch trug ihm prächtige
Versprechungen ein, welche die Eingeborenen auch nicht
Anstand trugen, auf Verlangen vor dem französischen Kon-
sul zu wiederholen. Soviel aber stellte sich dabei klar
heraus, daß alle diese Häuptlinge, die verschiedenen Stäm-
men angehörten, unter einander feindlich waren, und daß
sie nur ans dem neutralen Boden Zanzibars Ruhe halten
mußten, um so mehr, da ihre Anwesenheit daselbst meist
Globus XLVIi. Nr. 20.
mit der Regelung irgend eines Vergehens gegen des Sul-
tans Gouvernenre oder Garnisonen zusammenhing. Von
besonderem Interesse waren die Häuptlinge verschiedener
Tribus von Mogdnschu, welche gegen Ende des Rordost-
Monsuns auf derselben Barke eintrafen, wie Salem Amari
ben-Aod, der Bruder des Geheimsekretärs des Sultans und
seit mehr als einem Vierteljahrhnndert Agent der französi-
schen Häuser von Zanzibar bei den Benadir; auf ihn und
seine Unterstützung hatte Rovoil ganz besonders gerechnet.
Willig gingen die Häuptlinge ans alle Fragen des Reisen-
den ein und billigten es, daß derselbe zum Anführer seiner
zukünftigen Karawane den Hadschi Ali gewählt hatte.
Derselbe war groß, schlank gewachsen, von ausdrucksvollem
und beweglichem Gesichte, das von einem dünnen Barte
und einem mächtigen krausen Kopfhaare in Gestalt einer
Kugel eingerahmt war, und schien in Zanzibar, dessen
Markt er regelmäßig alljährlich besuchte, sich eines gewissen
Ansehens zu erfreuen. Mit Rävoil konnte er sich durch
Arabisch verständigen. Zweiter im Kommando war Fa ge
vom Stamme der Bimal, dessen sanftes friedliches Wesen
mit dem aufbrausenden Charakter Hadschi Ali's seltsam
kontrastirte. Fage war noch nie im Inneren der Somali-
Länder gereist, während Hadschi Ali oftmals in den Galla-
Ländern nördlich vom Dschnb Elfenbein eingehandelt hatte;
er wußte auf den Verkehrsstraßen jener Gegend ebenso
genau Bescheid, wie auf den Märkten der Küste. Fage
39
306
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Basun 1882 bis 1883.
dagegen hatte dem Reisenden während dessen Krankheit
eiliige Freundlichkeiten und Dienste erwiesen und bei ihm
gewacht, so daß Rdvoil hoffte, daß sich beide in Folge ihres
verschiedenen Charakters in glücklicher Weise ergänzen
- würden. Salem dagegen, der Bruder des Geheimsekretärs,
zeigte sich weniger zufrieden, gab aber seiner Anschauung
nur in den Worten: „Somali sind immer dieselben", Aus-
druck; das sollte so viel heißen, als daß es nichts Unver-
ständlicheres giebt, als den Charakter dieses Volkes, der
eine Mischung aller möglichen Laster und guten Eigen-
schaften darstellt. Schließlich aber beharrte Rävoil bei
seiner Wahl, was die beiden Männer mit Stolz erfüllte.
Starke Regengüsse, sichere Anzeichen des Monsun-
wechsels, trieben nun den Reisenden zur Vollendung seiner
Hadschi Ali.
ulld am oberen Dschub ansstellen, und am Morgen des
1. Mai ließ sich Rovoil an Bord seiner draußen auf der
Rhede ankernden Barke rudern. Noch in der letzten Stunde
waren so viel Früchte, Zuckerrohr und Proviant eingeladen
worden, daß Novoil zwischen allen Passagieren und Gepäck-
stücken kaum einen Platz fand, um sich auszustrecken; die
Aussicht, sechs bis acht Tage unter solchen Verhältnissen
zubringen zu müssen, hatte durchaus nichts Verlockendes.
Die Barken reisen selten allein, sondern bilden entweder
kleine Flotten oder vereinigen sich wenigstens zu je zweien,
um sich wechselseitig Hilfe leisten zu können. So hatte sich
auch Növoil's Schiff bis Mörka hin mit einer großen
„Bagala" von dem doppelten Rauminhalte zusammen-
gethan. Dieselbe war nur zur Hälfte beladen und von
nur 40 Mann besetzt; ihr Kapitän forderte deshalb Rdvoil
Vorbereitungen an. Geschenke für die Eingeborenen wur-
den angeschafft und mit dem Nahuda (Kapitän) einer nach
Mogduschu gehörigen Barke Verhandlungen angeknüpft.
Dieselbe, kaum 30 Tonnen fassend, wurde mit Rovoil's
Gepäck und den Waaren, mit welchen Salem seine Fakto-
reien längs der Küste zu versehen hatte, dermaßen voll-
gestopft, daß der sachkundige Julian von der Verstauung
wenig erbaut war. Schließlich wurde zum Schutze der
Ladung ein Strohdach angebracht, wodurch die Barke das
primitive Aussehen einer Arche Noah erhielt. ,
Der Sultan, von welchem sich Revoil am 30. April
Abends verabschiedete, ließ ihm durch seinen Sekretär Abed
warme Empfehlungsschreiben an alle Gouverneure längs
der Küste, sowie an die Somali-Häuptlinge von Gelidi
Fage.
auf, dem Gedränge seiner Barke zu entfliehen und auf die
Bagala überzusiedeln, einen Vorschlag, den er zum Glücke
nicht annahm, weil ihm Salem rieth, sich nicht von seinen
Leuten zu trennen. Am 2. Mai 5 Uhr Morgens wurde
endlich der Anker gelichtet. Bis zum Abend ging alles
gut, aber dann, als sie sich Pemba gegenüber befanden,
erhob sich ein Sturm, der an Heftigkeit beständig zunahm,
und die Barke vollständig zu einem Spielzeuge der Wogen
machte. Vor ihren Augen wurde am nächsten Morgen
die große Bagala mit Mann und Maus vom Meere ver-
schlungen, ohne daß sie der Besatzung die geringste Hilfe
leisten konnten; sahen sie doch selbst ihren Tod jeden Augen-
blick vor Augen. Mehrere Tage lang dauerte diese kritische
Lage, und erst am 6. Mai Morgens, als sie sich Brawa
gegenüber befanden, durften sie sich als gerettet ansehen.
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benndir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
307
fahren zn sehen. Inmitten dieser Dünen zwischen Agaren
und Mörka hatte vor einigen Jahren ein schrecklicher Kampf
zwischen Achmed Jussuf und seinem Bruder Abu Bekr, die
beide an der Spitze von rivalisircndcn Stämmen dieser
Gegend standen, stattgefunden, und die Nachricht davon war
bis zn Rävoil gedrungen, welcher damals in der Nähe des
Kap Guardafui verweilte.
Bald zeigte sich auch das bis dahin durch ein schwarzes
Felsenkap verborgene Mörka mit seinen glänzend weißen
Häusern, dunklen Hütten und Trümmern; es lehnt sich an
den Bergabhang, dehnt sich über ein kleines Vorgebirge
ans und besitzt in Folge dieser Lage eine gegen Nordwesten
ziemlich gut geschützte Rhede, die indessen durch eine Barre
fast gesperrt wird. Die Barke warf kaum zwei Kabel-
Barke von Mogduschu.
Dec schwere Belastung der Barke war ihre Rettung
gewesen.
' Der Anblick des Landes verwischte bald die Erinnerung
an die erlittenen Strapazen; ans Rävoil's Bitten hielt der
Nahnda das Schiff so nahe an der Küste, daß er deutlich
die Nomaden sehen konnte, wie sie auf den röthlichen Sand-
hügeln zwischen sonnenverbranntem Gesträuch ihr Vieh
hüteten. So Passirte man Agaren, wo sich, fast vor den
Thoren von Mörka, ein ansehnliches Somalilager befindet.
Dort war die Gegend fchon belebter: zwischen Mimosen
waren etwa 200 Hütten von der Gestalt spitzer Bienen-
körbe zerstreut, und deutlich konnte man von der Barke ans
das Hin- und Herlaufen der Neugierigen beobachten, welche
die Felsen und den Strand erfüllten, um das Schiff vorbei-
längen vom Strande entfernt Anker; dort drängte sich schon
eine neugierige Menge, welche aus der französischen Fahne,
die am Hintertheile des Schiffes neben derjenigen des
Sultans von Zanzibar wehte, ans die Ankunft eines
Fremden schloß. Dieser hatte Sehnsucht, wieder einmal
festen Boden unter seinen Füßen zu fühlen, und da Salem
durch Geschäfte einige Tage in Mörka fest gehalten wurde,
so traf er seine Anstalten, um ohne Unfall sich ausschiffen
zu lassen. Salem wiederholte seine früheren Rathschläge
und empfahl ihm große Zurückhaltung den Eingeborenen
gegenüber. Bor allem legte also Rvvoil die Tracht eines
Arabers von Aden an, welche er sich verschafft hatte, und
nahm sich vor, sobald er eine Unterkunft gefunden haben
würde, seine Toilette zu vervollständigen, d. h. Haare und !
Bart nach arabischer Sitte sich scheeren zu lassen. Julian
blieb zunächst an Bord zurück und Rävoil begab sich in
das kleine Boot, durchaus gefaßt auf eine unvermeidliche
Taufe durch die Wogen, welche sich heftig am Strande
brachen; das unangenehme Bad, welches er 1878 bei seiner
ersten Landung in Mörka hatte nehmen müssen, war ihm
noch lebhaft in der Erinnerung. Diesmal waren indessen
die rudernden Neger sehr geschickt und brachten ihn glücklich
an das Ufer, ohne daß der geringste Wassertropfen seine
Kleider, die er übrigens in ein Packet zusammengelegt auf
der Spitze einer Lanze trug, benetzt hätte. Unter der
Volksmenge am Strande fand Rovoil seinen Diener Fage,
der einige Tage vor ihm abgereist war, und die meisten
Somalis von Mörka, die er in Zanzibar bewirthet und
39*
308
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
beschenkt hatte, wieder; doch führte ihn Salem, um ihn der
Zudringlichkeit derselben zu entziehen und ihm einige Ruhe
zu verschaffen, zu einem liebenswürdigen alten Manne, dem
Schcrif Amin, der ihn gastfreundlich aufnahm. Alsbald
wurde dem Ankömmlinge ein treffliches Mahl vorgesetzt,
das besonders ans Milch und Reisbrod bestand, wozu nach
Landessitte in Fett gebratene und mit Honig übergossene
Kaffeebohnen und geröstete Maiskörner aufgetragen wurden.
Sobald Rdvoil seinen Hunger gestillt hatte, eilte er, begierig
seine Nachforschungen zu beginnen, zum Gouverneur, der
schon von seiner Ankunft benachrichtigt worden war.
Die Reinlichkeit im Hause des Scherif Amin stand in
schroffem Gegensatze zu den Ruinen und traurigen Hütten
längs der kothigen und mit Unrath erfüllten Straßen, die
er bis zum Fort, wo der Mali des Sultans, Soliman
ben-Hamed, residirt, zu passiven hatte. Derselbe ist ein
weißbärtiger Alter, der schon länger als zehn Jahre im
Dienste des Said Bargasch steht. Unter seinem Befehle
stehen 200 arabische Söldner, welche in der Citadelle und
den kleinen, durch eine Mauer mit einander verbundenen
Befestigungen im Nordwesten der Stadt wohnen und im
Falle eines lokalen Aufstandes oder bei einem Angriffe der
Beduinen des Inneren dort Zuflucht finden. Die armen
Soldaten des Sultans, deren Monatslohn kaum 12 Francs
beträgt, und welche damit ihre sämmtlichen Ausgaben be-
streiten müssen, haben auf dem Platze vor der Citadelle
einen sehr merkwürdigen Bazar eingerichtet. Da sieht man
unter freiem Himmel eine Schmiede in Thätigkeit, wo
Mörka.
besonders die kleinen Hacken und Karste, deren sich die
Beduinen zur Bestellung ihrer Maisfelder bedienen, her-
gestellt werden; anderwärts stellt ein Kleinkram amerika-
nische Gewebe und Stoffe von schreiender Färbung zur
Schau und giebt sie im Tausche gegen Hirse und Sesam
fort. Der Platz ist von einer lärmenden bunten Menge
erfüllt und hat an malerischen Details keinen Mangel.
Hier hocken Frauen hinter kleinen Haufen wohlriechenden
Holzes, dessen sich die Somali zn ihren Räucherungen be-
dienen, und harren geduldig ihrer Kunden; dort sind mächtige
Heubündel für das Bieh und Reisighanfen aufgethürmt.
Anderwärts werden noch andere Sachen verkauft, und da-
zwischen Araber, Neger, Beduinen, die in den verschiedensten
Idiomen und mit den heftigsten Geberden tauschen, kaufen,
verkaufen, sich zanken, betrügen und beschimpfen. Doch
konnte Rävoil dcnl allen nur einen flüchtigen Blick widmen,
denn Musketensalven, die ihm zu Ehren abgefeuert wurden,
zeigten ihm an, daß der Gouverneur seiner warte.
Unmittelbar am Eingänge des Forts liegt ein großer
niedriger Saal, in welchem der Gouverneur, von den
Aeltesten des Ortes und den geistlichen Oberhäuptern um-
geben, zweimal des Tages Barza (Empfang) abhält und
öffentlich die ihm unterbreiteten Streitigkeiten schlichtet,
während dessen ein Sklave allen Anwesenden Kaffee an-
bietet. Der Mali war gegen den Reisenden sehr zuvor-
kommend ; aber der Respekt gegen sein hohes Alter erlaubte
Rüvoil nicht, ihn allzu lange auszufragen. Außerdem
hatte derselbe mit Salem, welcher mehrere Briefe vom
Der Marktplatz von Mörka.
310
G. Revoil's Reise im Lande der Venadir, Somali und Vajun 1882 bis 1883.
Sultan zu überbringen hatte, zn konferiren. So ver-
abschiedete sich der Reisende bald, um unter Fage's Führung
seine Wanderung durch Mörla fortzusetzen; das Anerbieten
einer Eskorte von zwölf Mann hatte er dankend abgelehnt,
obwohl die wenig Vertrauen erweckenden Gesichter der ihm
begegnenden Beduinen eine solche wohl zu rechtfertigen
schienen. Diese hoch gewachsenen Leute waren in lange
Tücher gehüllt, die aus zwei Streifen amerikanischen Baum-
wollenzeuges oder groben,
im Lande selbst fabricirten
Geweben bestanden, und
mit Lanzen und Schilden,
wie die Eingeborenen am
Kap Guardafui, bewaffnet.
Manche trugen auch Bogen
und vergiftete Pfeile, deren
Spitzen mit Lappen um-
hüllt waren, damit das
Gift sich nicht abscheuerte,
und sie selbst sich nicht
verletzen konnten. Zu
den vorgeschriebenen Ab-
waschungen dient ihnen
statt der Kürbisschale,
welche die Somali am
Meerbusen von Aden füh-
ren, eine Kalebasse, die in
einem kleinen baumwolle-
nen Sacke getragen wird.
Die Frauen waren sämmt-
lich von Kopf bis Fuß in
derselben Weise gekleidet:
ein durch einen Gürtel
zusammengehaltenes Ge-
wand, eine Art Unter-
jacke, eine Binde auf dem
Kopfe, Gamaschen um die
Beine und einige aus
Muscheln hergerichtete
Halsbänder und Amulette
war alles. Unterwegs
begegnete Rsvoil auch der
Frau eines Metawa oder
Degri, d. h. eines religiösen
Fanatikers; außer der ge-
wöhnlichen Tracht hatte sie
noch das Gesicht von einem
dicken Schleier verhüllt, in
welchem nur für die Augen
zwei Löcher gelassen waren,
so daß sie ganz wie ein
grauer Büßermönch aus-
sah. Diese sonderbare Sitte
scheint erst neuerdings Ein-
gang gefunden zu haben,
seitdem einige Zaujas oder
Klöster hier errichtet wur- Frau eines
den, deren Insassen durch
Predigten den religiösen Eifer der Mohammedaner anzn- 1
schüren die Obliegenheit haben.
Ehe Relvoil den Marktplatz verließ, hielt er sich noch
einige Augenblicke vor einer Hütte auf, in welcher eine
Anzahl Somali hockten und das Tasse- oder Fliegcnspiel
spielten. Jeder Spieler hatte vor sich ein Ei in den Sand
gepflanzt, das sein Einsatz war, und wartete nun schweigend
und unbeweglichen Blickes, daß eine Fliege sich auf einem
der Eier niederlasse; der Besitzer des so bezeichneten Eies
gewann damit alle übrigen. Nur die Hände hatten genug
zu thun, um bald hier, bald «da dem Beißen eines Parasiten
Einhalt zu thun. So primitiv dieses Spiel erscheint, so
sollen doch dabei Betrügereien vorkommen, woraus es dann
meist zum Blutvergießen kommt. Wer den Charakter der
dortigen Eingeborenen näher kennt, dem wird das nicht un-
wahrscheinlich vorkommen.
Ruhig ging nun Növoil
den tiefer gelegenen Quar-
tieren in der Nähe des
Meeresstrandes zu, indem
er unterwegs an Kinder
und Arme kleine Münzen
vertheilte, als plötzlich ohne
irgend welchen Anlaß ein
Eingeborener auf ihn zu-
kam und ihm den Säbel,
den er in der Hand trug,
zu entreißen versuchte.
Hadschi Ali und Fage
warfen sich dazwischen,
gerathen in Zorn und
greifen schon nach ihren
Dolchen; in einem Augen-
blicke hatte sich eine ansehn-
liche Volksmenge um die
Streitenden gesammelt, und
schon kamen auch Soldaten
des Mali mit Flinten und
brennenden Lunten herbei-
gelaufen. Rovoil bemühte
sich zuerst, seine Führer
zn beruhigen, überhäufte
seinen Angreifer, der sich
schon zu schämen und zu
ärgern anfing, mit Vor-
würfen, hinderte die Sol-
daten daran, ihn in die
Citadelle abzuführen, wo
die Bestrafung nicht hätte
auf sich warten lassen, und
reichte ihm zuletzt zur Ver-
söhnung die Hand, wodurch
er nur noch mehr verwirrt
wurde.
Unter dem Volkshaufen,
den dieser kleine Zwischen-
fall versammelt hatte, be-
fanden sich auch mehrere
Beduinen mit merkwürdiger
Haartracht. Dieselbe er-
scheint von vorn dreieckig,
wie diejenige eines Clown,
von hinten gleicht sie einem
Herzen, dessen Spitze nach
Metawa. oben weist; gehalten wird
diese Frisur des dichten
gekräuselten Haares durch einen zwei- oder vierzinkigen
Kamm, der senkrecht darin steckt, und durch einen dicken
Uebcrzug parfümirter Kastauicupomadc. Mit letzterer
oder mit Sandelholzpastc beschmieren sich auch die Frauen
das Gesicht.
Während noch Rävoil diese sonderbaren Typen afrika-
nischer Mode näher musterte, wurde er zu einem Kranken
abgerufen; er willfahrte der Bitte und begab sich nach der
L_
** ilMMMBHHMWwnwi
Ueber die Herstellung einer Wasserstraße zwischen Ob und Jenissei.
ihm bezeichneten Gegend, die ganz im Norden der Stadt
lag. Dieses Quartier bestand ganz aus Hütten; zwischen
den konischen, bienenkorbähnlichen Behausungen, deren
Spitzen mit dem Boden von Flaschen oder leeren Petrolenm-
kannen verziert waren, ließen sich die runden Hütten der
Medschurtin-Somali leicht herauserkennen. Diese Leute
wandern ans ihrer Heimath nach der ganzen ostasrikanischen
Küste bis Lamo hin aus, was leicht begreiflich erscheint,
wenn man die wilden, gesetzlosen Zustände ihres Vater-
landes kennt. In den Ländern der Somali — sagt
Ueber die Herstellung einer Wasserstraße zwischen Ob und Jenissei
(Mit einer Kartenskizze.)
Olir. 8. Bereits im Jahre 1883 wurde mit der Her-
stellung eines Kanales zwischen den Flußgebieten des Ob
und des Jenissei begonnen; im August 1884 waren die
x) Nach dem Russischen („Prawitelstwenny Westink" 1884,
Nr. 274, 275 und 276).
Arbeiten auf der Höhe der Wasserscheide des Kanales in
vollem Gange; — es ist daher wohl zeitgemäß, eine kurze
Schilderung des betreffenden Wasserweges nebst einigen
einleitenden Worten über die Bedeutung desselben zu geben.
Gegenwärtig werden alle Waaren von Irkutsk nach
Tomsk (15583/4 Werst; 1 Werst = 1,067 km) und
Das Tasse- oder Fliegenspiel.
Rsvoil — ist das einzige Feld, welches man anbaut, das
Schlachtfeld. Die ewigen Kämpfe und Mordthaten treiben
die Leute ans der öden Umgebung des Kap Guardafui
südwärts nach den fruchtbaren Gebieten am Dschnb und
den von Kaufleuten besuchten Küsteuplützen. Diese Aus-
wanderer haben ihre kleinen Industrien mitgebracht; na-
mentlich beschäftigen sie sich mit der Herstellung von Matten
und Schuhwerk; dagegen haben sie noch nicht gelernt, wie
die Benadir jene eigenthümlichen Stoffe zu weben, die wir
noch näher kennen lernen werden.
Als Rvvoil in sein Haus zurückkehrte, hatte sich sein
Begleiter Julian inzwischen ausgeschifft; doch war das
Meer noch immer so bewegt, daß derselbe nicht gewagt
hatte, die photographischen und sonstigen Instrumente mit
sich zu nehmen, sondern sie einstweilen an Bord gelassen
hatte.
312
Ueber die Herstellung einer Wasserstraße zwischen Ob und Jenissei.
zurück entweder zu Wagen oder zu Schlitten transportirt
und zwar über Nishneudinsk, Kansk, Krasnojarsk, Atschinsk
und Mariinsk. Die großen Unkosten, wie die sonstigen
Unbequemlichkeiten eines derartigen Transportes haben
längst aus die Nothwendigkeit eines bequemeren und billi-
geren Weges zwischen Ost- und Westsibirien hingewiesen.
Da nun die Angara (Obere Tunguska) eine natürliche
Wasserverbindung zwischen dem Baikal-See und dem
Jenissei darstellt, so liegt der Gedanke sehr nahe, diese
Wasserstraße fahrbar zu machen, und gleichzeitig zur Ver-
bindung des Jenissei mit dem Ob die Nebenflüsse dieser
Ströme zu benutzen, indem man die sie trennende Wasser-
scheide x) durchgräbt.
Zu verschiedenen Zeiten nun wurden entsprechende Vor-
untersuchungen gemacht und zwar an verschiedenen Stellen,
so längs der Flüsse Wach und Jelaguy; — Tym und Sym,
Ket, Sognr und Anziferowka; — Tschulym und Kem. Aber
alle diese Richtungen mußten aufgegeben werden; die nörd-
lichen wegen des rauhen Klimas, die südlichen deswegen,
weil hier kolossale hydrotechnische Bauten nothwendig er-
schienen.
Weil aber immerfort auf die Verbindung zwischen Ob
und Jenissei hingewiesen wurde, so rüstete im Jahre 1873
der Jenisseisker Kaufmann Funtussow auf eigene Rech-
nung eine Forschungs-Expedition aus, welche zu folgendem
Resultate gelangte: Mit Benutzung der von Westen in den
Jenissei fallenden Flüsse, des Großen und des Kleinen Kaß
und mit Benutzung der Flüsse Osernaja, Lomawataja und
Jasewaja, d. h. der Nebenflüsse des in den Ob von Osten
her fallenden Ket, sei es nur nöthig, auf der Wasserscheide
einen Verbindungskanal zu graben, um ohne große'Kosten
und ohne besondere Schwierigkeiten beim Schifsbarmachen
der betreffenden Flüsse die geplante Wasserstraße herzu-
stellen. — Funtussow setzte zugleich eine Prämie von
10 000 Rubel (20 000 Mk.) für das erste Dampfschiff
aus, welches den Kanal passiren würde. Weiter wurde
dann im Jahre 1875 auf kaiserlichen Befehl eine Expedition
ausgerüstet, um die Gegend der projektirten Wasserverbin-
dung zu rekognosciren. Die Expedition bestand ans den
Ingenieuren Baron Aminow, Moschkow und Lipin
und der Marineofficiere T s ch a l i j e w und S i d e n s n e r;
zu den Kosten der Expedition lieferte die Geographische
Gesellschaft einen Beitrag von 2000 Rubel, welche Sibiria-
kow gespendet, und der Kaufmann Funtussow gab 10 000
Rubel. Die Untersuchungen der Expedition, welche während
zweier Jahre, 1875 und 1878, gemacht wurden, zeigten,
daß eine Wasserverbindung vom Baikal bis zur Mündung
des Flusses Ket in den Ob beim Dorfe Kolpaschew möglich
sei, und zwar auf der Angara, dann auf dem Jenissei (von
der Mündung der Angara bis zur Mündung des Großen
Kaß) und dann auf dem Kaß durch den projektirten Kanal
in den Ket und von hier in den Ob. Die Kosten des
Baues wurden ans 10 Millionen Rubel veranschlagt, jedoch
unter der Voraussetzung, daß die Regierung das Bauholz
aus den Kronwaldungen liefere und gleichzeitig während
des Baues die Kosten der Administration trage.
Auf der ganzen Strecke vom Baikal bis zur Mündung
X) Die zwischen zwei nahe an einander liegenden Flüssen
befindliche Landstrecke heißt auf Russisch „äBoIof“. Es giebt
kein deutsches Wort, das dem Russischen entspricht: Wülok hängt
zusammen mit dem Zeitworte „ziehen" und bedeutet die
Strecke, auf welcher die Boote oder Schiffe aus einem Strome
in den anderen gezogen wurden. Es braucht daher ein
„Wälok" keineswegs immer eine Wasserscheide zu sein.
des Kaß in den Jenissei erfordert nur der Lauf der An-
gara von Bratskij Ostrog bis zum Jenissei eine genaue
Regulirung wegen der hier in der Angara befindlichen
Stromschnellen (etwa 1015 Werst). Der Jenissei ist
zwischen der Mündung der Angara und der Mündung des
Großen Kaß auf einer Strecke von 320 Werst, ebenso die
Angara von Irkutsk bis zum Bratskij Ostrog (600 Werst)
durchaus schiffbar, auch für Dampfböte.
Was den eigentlichen Verbindungsweg zwischen Ob und
Jenissei betrifft, so besteht er aus zwei Theilen: der eine
benutzt die Flüsse Ket, Osernaja, Lomawataja und Jasewaja
bis in den See „Bolschoje" (d. h. der Große See); der
andere den Kleinen und Großen Kaß. Der erste Theil fällt
zum Ob, der andere zum Jenissei ab; zwischen beiden be-
findet sich eine Wasserscheide. Einige Seen, der Bolschoje
Osero (Großer See) und die Kaß-Seen liegen gerade in
der Gegend der Wasserscheide und zwar auf dem höchsten
Punkte derselben; die Seen sind von einander durch Sümpfe
getrennt. Der Wasserspiegel der Seen liegt um 9,36 Sashen
(ca. 20,6 m) über dem Niveau des Flusses Osernaja an der
Mündung in den Ket, und um 25,79 Sashen (ca. 54,1 m) über
d cm Niveaudes Großen Kaß an seiner Mündung in den Jenissei.
Ueber die Herstellung einer Wasserstraße zwischen Ob und Jenissei.
313
Der Fluß Kct ist schiffbar und cs sind nur ganz nn-
bedcutcnde Verbefserungen im oberen Abschnitte desselben
nöthig. Die Hauptkosten aber erfordert die Strecke zwischen
dem Ket und dem Jenissei. Hier ist Folgendes projektirt:
1) Zwischen dem Bolschose Osero und dem Flusse „Kleiner
Kaß" einen Kanal von 7,35 Werst Länge und 9 Sashen
(19,2 m) Breite zu graben; doch soll der Kanal etwas
unterhalb des Ursprunges des Kaß in den Fluß einmünden,
weil der Ursprung des letzteren zu schmal ist. 2) Die
Flüsse zwischen dem Ket und dem Jenissei müssen vom
Schilf gereinigt und ihr Lauf insoweit regulirt werden, daß
die vielen Krümmungen beseitigt und dadurch die Wegstrecke
um etwa 122 Werst verkürzt wird. 3) Abgesehen von den
nöthigen Gebäuden sind 28 Dämme und 29 Schleusen zu
erbauen, davon 8 Schleusen zum Ob, 21 Schleusen zum
Jenissei hin. Zur Ausführung aller der projektirten Ar-
beiten würde die Zeit von etwa sieben Jahren erforderlich sein.
Da die Bestätigung aller projektirten Arbeiten nicht so
schnell zu erwarten war, so wünschte das Ministerium für
Wege- und Wasserkommunikation schon 1881 mit der Her-
stellung des Vcrbindnngskanales zwischen dem Bolschose
Osero und dem Kleinen Kaß den Ansang zu machen. Es
machte dem entsprechend eine Eingabe an den Reichsrath;
im Juni 1882 wurde dieselbe genehmigt und gleichzeitig
600 000 Rubel bewilligt, damit die Arbeiten endlich im
Jahre 1883 ihren Anfang nehmen sollten. Zu Ende
März 1883 wurden die Ingenieure Baron Aminow als
Chef, Bobynski und Tschernjow als seine Gehilfen nach
Sibirien abkommandirt, um die Arbeiten zu beginnen.
Im Jahre 1883 wurden dann die kleinen Flüsse vom
Schilfe gereinigt, einige sehr starke Krümmungen beseitigt
und die nothwendigsten Hilfsbauten errichtet. 1884 schritt
man zur Herstellung des eigentlichen Verbindungskanales,
zur Errichtung einer Schleuse im Flusse Jasewaja und
rekognoscirte so genau als möglich das ganze Terrain
zwischen Ket und Jenissei. Im Juli 1884 wurde dann
der Ingenieur Awgustowskij abgesandt, um dem Ministerium
über den Stand der Arbeiten an Ort und Stelle Bericht
zu erstatten. Awgustowskij traf mit seinen Begleitern am
22. August 1884 im Dorfe Kolpaschewo am Ob ein, bestieg
sofort ein bereitliegendes Dampfboot und fuhr den Ket
aufwärts bis zur Mündung des Flusses Osernaja, woselbst
er am 26. August anlangte; weiterhin benutzte er ein
Ruderboot, weil der Wasserstand ein sehr niedriger war.
Aus dem Berichte Awgnstowskij's ist Folgendes zu ersehen.
Das Flußbett des Lomawataja ist bereits an 20 ver-
schiedenen Stellen gereinigt worden; Schilf, Baumstämme
und Baumwurzeln machten auch eine Bootfahrt unmöglich.
An sechs verschiedenen Stellen sind bereits Durchstiche ge-
macht, davon fünf an der Lomawataja und einer an der
Jasewaja, um die außerordentlichen Krümmungen der
genannten Flüsse auszugleichen; die Durchstiche haben eine
Breite von 2 bis 4 Sashen (1,2 bis 8,5 in) und sind
1 bis l1/* Fuß (0,30 bis 0,45 in) tiefer als das Fluß-
bett selbst; man erwartet, daß die Frühlingswässer infolge
ihrer starken Strömung diese Durchstiche noch erweitern
werden. Die eigentlichen Erdarbeiten sind an zwei Stellen
in Angriff genommen worden; außerdem ist ein Theil des
Bauholzes bereits zugerichtet; eine Anzahl Baulichkeiten
zum Wohnen für die Ingenieure, Arbeiter n. s. w. errichtet:
16 Baracken, 2 Häuser, Eiskeller, Scheunen, Kuchen, eine
Bäckerei n. s. w., auch ein Hospital mit 50 Betten an
einer Stelle, 5 Baracken, 2 Häuser und die entsprechenden
Nebengebäude an einer anderen Stelle.
Was die Arbeiter selbst betrifft, so sind es vorzugsweise
Einwohner der beiden Gouvernements Tomsk und Jenisseisk.
Die Einwohner des Gouvernements Tomsk werden im
Frühlinge in Barnaul, Kolywan, Tomsk und in anderen
Städten geworben; der Hauptsammelplatz ist Tomsk. Die
hier angeworbenen Arbeiter, sowie die nöthigen Lebensmittel
und Vorräthe aller Art werden auf großen (überdachten)
Lastschiffcn, welche von Dampfschiffen geschleppt werden,
ans dem Tom, Ob, Ket mindestens bis zur Mündung der
Osernaja geschafft (ungefähr 900 Werst); mitunter bei
gutem Wasserstande können die Schisse noch 40 Werst
weiter fahren. Dann verlassen die Arbeiter die großen
Lastschifse und besteigen kleine Ruderboote, in welchen auch
die Lebensmittel und Vorräthe verladen werden. Die
Jenisseisker kommen von der Ouelle des Ket ans kleinen
Booten bis zur Osernajamündnng und fahren dann auf der
Osernaja und Lomawataja weiter bis an ihren Bestimmungs-
ort. In der zweiten Hälfte des September kehren alle
Arbeiter bis auf wenige, welche an Ort und Stelle über-
wintern, auf demselben Wege, den sie gekommen, zurück.
Während des ganzen Sommers unterhalten die Dampfboote
eine regelmäßige Verbindung zwischen Tomsk und den
Hauptstandguartieren an der Osernaja; im Winter soll eine
direkte Verbindung durch die Wälder und über die Sümpfe
weg (400 Werst) bis nach Tomsk hergestellt werden. Die
Bauern ans Tomsk sind vorzüglich mit Erdarbeiten, die
Jenisseisker mit Zimmermannsarbeiten beschäftigt. Um
die Arbeiter mit allen zum Leben nothwendigen Gegen-
ständen zu versehen, ist ein Laden eingerichtet, woselbst alles
zu Tomsker Preisen verkauft wird. Die Arbeiter erhalten
16 bis 22 Rubel (32 bis 44 Mark) monatlich bei freier
Wohnung und Kost (Essen, Brot, auch Branntwein). Die
Zahl aller beim Bane beschäftigten Personen, der eigent-
lichen Arbeiter, dazu der Beamten, eines Arztes, eines
Feldscheerers, eines Geistlichen u. s. w. betrug im Sommer
1884 insgesammt 2400.
Man beabsichtigt, den Ob-Jenissei-Kanal nicht
für kleine, sondern für große Fahrzeuge schiffbar zu machen;
daher soll so bald als möglich zur Regulirung des Fluß-
bettes der Angara geschritten werden, damit nach Erbanung
der Bahn von Tjumen ein ungehinderter Waarentransport
ans dem Wolga- zum Ob-Bassin stattfinden kann. Die Be-
deutung des Wasserweges zwischen Irkutsk und dem Ob wird
noch größer werden, sobald eine Wasserverbindung zwischen
dem Chilok oder der Oberen Uda (rechtsseitige Nebenflüsse
der Seleuga) und der Schilka (Nebenfluß des Amur) her-
gestellt sein, oder sobald eine Bahn den zwischen jenen
Flüssen befindlichen Bergrücken durchschnitten haben wird.
Die von der Ob-Jenissei-Verbindung zu erwartenden
Vortheile sind: die Vermehrung des Theetransportes und
der Einfuhr anderer chinesischer Erzeugnisse von Kiachta
aus; die Ermäßigung der Frachtkosten für alle von
Europa nach Ostsibirien und umgekehrt gehenden Waaren;
die Möglichkeit, Truppen und Kriegsmaterial leicht an die
chinesische Grenze zu schaffen. Alle an und in der Nähe
des Wasserweges befindlichen Landstrecken werden größeren
Werth erhalten. Die nach Ostsibirien abgehenden Ver-
brechertransporte werden unter Benutzung des Wasserweges
der Regierung bedeutend geringere Unkosten als bisher
verursachen. Die Getrcidepreise in Sibirien werden aus-
geglichen werden und namentlich für Ostsibirien sinken, weil
die Möglichkeit gegeben sein wird, aus dem reichen West-
sibirien in bequemer Weise Getreide nach dem armen Ost-
sibirien zu transportircn.
Globus XLYÍI. Nr. 20.
40
314
Die medicinischen Kenntnisse der Eingeborenen der Insel Luzön.
Die medicinischen Kenntnisse der
Nach dem Französischen des T.
Die Arzncikunst der straffhaarigen Indier 2), welche die
Ebenen Luzons bewohnen, ist mehr ausgebildet, als jene
der wollhaarigen Aetas oder Negritos, welche zwar die
Ureiugeborencn dieses Landes sind, sich aber in der Gegen-
wart in die Bcrgwildnisse zurückziehen mußten. De Rienzi
berichtet uns in seiner Voyage en Océanie von den letzte-
ren folgendes: „Sie (ihre Aerzte) haben diesen Wilden
die Meinung beigebracht, daß sie gewißlich von allen ihren
Gebrechen geheilt würden, wenn sie ihnen folgten; so sieht
man denn ihre Hippokrates' häufig von einem stattlichen
Gefolge von Individuen umgeben, welche ängstlich bestrebt
sind, den erhaltenen Rathschlägen gemäß ihre Lebensweise
einzurichten."
Die Arzneiwissenschaft der Malaien des Flachlandes
verdient schon einige Beachtung, doch darf man keineswegs
sich dem Glauben hingeben, ihre Behandlungsweise der
Kranken wäre mit der Ankunft der Europäer eine andere
geworden oder sie hätte sich dem europäischen Einflüsse
nicht entziehen können: es ist im Gegentheil alles so ge-
blieben, wie es zn den Zeiten üblich war, als die Spanier
sich in den Besitz des Landes setzten.
Die Indier erachten die Luft als den wichtigsten Krank-
heitserreger; ihr Aberglauben nimmt ferner an, daß bei
Erkrankungen Behexungen die erste ^Rolle spielen, indem
in den Körper ein mehr oder weniger böser Geist eindringt,
sei es ans eigenem Entschlrrsse oder aus Geheiß eines
Feindes, welcher den Geistern ausschließlich zn gebieten hat,
der somit ein Zauberer ist. Auch die chinesische Theorie
von der Kälte und Wärme spielt bei ihnen eine große
Rolle: Diese beiden Elemente sollen im menschlichen Kör-
per sich das Gleichgewicht halten ; geschieht dses, so ist man
gesund; sobald aber die Wärme die Kälte überwiegt, treten
nach ihrem Glauben Dysenterie, Hämorrhagicn, Fieber
und entzündliche Krankheiten als Folge hiervon ans. Ueber-
wicgt aber die Kälte, dann packen einen Wassersucht und
alle sene Krankheiten, denen Fiebererscheinungen fremd sind.
Für die Krätze nehmen sie als fünften Krankheitserreger
den Ca gao an; so neunen sie nämlich die Krätzmilbe,
welche sie dank der außergewöhnlichen Schärfe ihrer Augen,
ohne eine Lupe zu Hilfe zu nehmen, deutlich erkennen.
Lange schon, bevor noch die Spanier ins Land kamen, be-
handelten die Indier diese Krankheit, indem sie mit einer
Nadel die Milben entfernten und die Geschwüre mit einem
Dekokt von adstringirenden Kräutern auswuschcn. Diese
Operation, während welcher die sprichwörtliche Geduld des
Indiers hart ans die Probe gestellt ist, wird mehrere Tage
hindurch fortgesetzt, doch gelingt damit auch die Heilung.
Wie erklären sie sich aber nun die Entstehung der Krätze?
Das Blut ist übermäßig erhitzt, was die Erzeugung böser
Säfte nach sich zieht, welche ihrerseits wieder den Cagao
hervorbringen.
1) La médecine a l’île de Luçon (Journal de méde-
cine de Paris. 4. Année, T. VI, Nr. 22, p. 1049—1073).
2) Die Malaien dcr Philippinen werden von den Spanicrn
„Jndios" genannt und zwar vvrwiegend die Christcn, seltener
die Heiden, beinahe gar nicht die Mohammedaner, die stcts
„Moros" heitzen. (Anm. d. Uebers.).
Eingeborenen der Insel Liizön.
H. Pardo de TavcraH.
Es ist wohl zu bemerken, daß sie nicht die geringste
Kenntniß der Anatomie noch der Physiologie besitzen, sie
erklären sich den Tod heilte, wo die katholischen Missionare
ihnen an der Hand der Evangelien über diese Erscheinung
genügend Belehrung ertheilt haben, aus eine sehr einfache
Weise. Die Seele trennt sich vom Körper, wenn Gott cs
will, und der Körper, unvermögend, ohne die Seele weiter
zn funktioniren, stirbt, sowie die Dampfmaschine die Arbeit
einstellt, wenn das Feuer des Heizofens erlischt. -
Das Weib eines Bauern, der einige Grundstücke in
der Umgebung Manilas von uns gepachtet hatte, kam
regelmäßig jeden Monat in Geschäftsangclegenheiten zu
uns; es war eine hübsche Tagalin von einem außerordent-
lich sanften und naiven Wesen. Als einmal zwei Monate
verstrichen, ohne daß sie ihren gewöhnlichen Besuch bei uns
gemacht hätte, fiel es uns ein, zn ihr selbst zn gehen. Wir
fanden, an Ort und Stelle angelangt, den Gatten ent-
stellt und abgemagert im Bette liegen, sein Kopf war mit
großen, beinahe schon vernarbten Wunden bedeckt. Er
erzählte uns, es wäre eines Abends der Bruder seiner Frau
zn ihm gekommen, um seine Schwester, welche von ihm,
dem Gatten, behext gewesen sei, zu suchen und hätte nach
einem kurzen Gespräche ihn mit dem Messer angefallen
und ihm eine große Anzahl von Wunden beigebracht.
Allen seinen Reden war zu entnehmen, daß er steif und
fest daran glaube, sein Schwager hätte ganz recht gehandelt
und er selbst Hütte unter dem Einstufst eines bösen Dämons
oder Zaubers gestanden, der wider seinen Willen ans seine
Frau übergegangen wäre. Diese Unglückliche war nun,
nachdeul sie einmal bei ihrem Bruder sich befand, allen
Mißhandlungen ausgesetzt. Wir begaben uns sofort zn
ihr und fanden sie als eine Irrsinnige vor, während ihr
Bruder uns auseinandersetzte, daß er Hoffnung ans Gene-
sung hätte. Wir wissen nicht, ob seine Kur von Erfolg
hätte sein können, denn wenige Stunden später befand er
sich auf unsere Veranlassung in den Händen des eingebore-
nen Bürgermeisters 1).
U Dieser Vorfall erinnert an eine Notiz in der „Oceania
Espanola" vom September 1884. „Der Mangcoculam ist
eine von einem bösen Dämon besessene Person. Sie besitzt eine
Puppe,• welche ihr als Instrument dient, ihren Feinden zu
schaden, denn will sie diesen einen unerträglichen Schmerz im
Kopfe, am Bauche oder anderswo bereiten, so sticht sie mit einer
Nadel nur die Puppe in den Kopf, Bauch rc. Wenn im Pueblo
Malabon jemand irrsinnig wird, so schreibt man es jedesmal
dem Mangcoculam zu. Es giebt eigene Individuen, welche
sich mit der Bekämpfung des Mangcoculam besassen, sind
aber nichts Anderes als herzlose Barbaren, welche den Patienten
gewaltig quälen, indem sie behaupten, nicht dcr Kranke, sondern
der Mangeoculam habe unter ihrer Behandlung zu leiden.
Ein lediges Frauenzimmer wurde einmal irrsinnig, man führte
diesen Vorfall auf den Mangcoculam zurück und es eilten
denn auch sofort die Geisterbeschwörer herbei, die von der
Familie der Erkrankten ebenfalls consultirt wurden. Die Be-
schwörer einigten sich dahin, die Leidende zu martern, weil nicht
sie die Folter empfände, sondern der Mangcoculam, den man
so aus dem Körper der Irren leicht heraustreiben könnte. Die
Familie der Erkrankten gab die Erlaubniß zur Durchführung
dieser Kur. Nun wurde die Unglückliche festgebunden und un-
barmherzig so gepeitscht und gemartert, daß sie unter den Hän-
den ihrer Peiniger starb." Die Hinterbliebenen klagten nun bei
Die medicinischen Kenntnisse der Eingeborenen der Insel Luzon. 315
Der Patianac tritt als ein böser Geist ans, welcher
den Abortus und die schlimmen Geburten veranlaßt. Er läßt
sich nieder auf einem Baume, der in der Nähe der Hütte
steht, worin die kreisende Frau sich befindet; hier beginnt
er nun jene monotonen Lieder anzustimmen, welche die
Flußschiffer zu singen pflegen und wenn der Gatte nicht so-
fort, nachdem die ersten Töne sein Ohr getroffen, feine
Vorsichtsmaßregeln trifft, so ist sein Weib verloren. So-
bald der Mann erkannt hat, daß der Gesang vomPatianac
herrühre, verschließt er sorgfältig Thüren und Fenster
und verstopft jede auch die kleinste Ritze, hierauf salbt er
seine Haut mit Kokosöl ein und stellt sich splitternackt, mit
Lanze oder Waldmesser bewaffnet, vor feiner Hütte auf, um
durch fingirte Angriffe und Deckungsmanöver, durch Hiebe
nach rechts und links, durch Hin- und Herlaufen, Gri-
mafsenschneiden und Körperverdrehungen den Patianac
vom Eindringen in sein Hans zurnckznschcuchen. Da gerade
in der Nacht dieser Dämon seine Umtriebe anstellt, so setzt,
wenn die Geburt sich bis zum Morgen verzögert, der Ehe-
mann nicht einen Augenblick eher seine Manöver aus, als
bis mit der Finsterniß auch die Kühnheit des Patianac
vor den ersten Strahlen des Sonncngestirns entweicht.
Dann erst sinkt der Gatte erschöpft und todmüde nieder,
seine Frau aber ist gerettet.
Der Asuang ist wieder den Neugeborenen gefährlich.
Der kleine Vogel Tictic ist fein Späher. Dieser pflegt
jenen zu benachrichtigen, wenn ein Kind zur Welt kommt,
um ihn dann auf seinem Rücken auf das Dach des Hauses
zu tragen, wo das Weib niederkommt. Dort angelangt,
verlängert der Asuang seine fadendünne Zunge so weit,
bis selbe den After des Kindes erreicht, um die Eingeweide
demselben herauszureißen. Er nimmt oft die Gestalt einer
Katze oder eines Insekts an, um unter dieser Maske besser
sein Vorhaben ausführen zu könnenl).
Die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit dieser naiven
Insulaner geht so weit, daß sie steif und fest behaupten,
den Patianac und Asuang selbst erblickt zu haben, wie
sie unter verschiedenerlei Gestalt ihr Unwesen, dem die
menschliche Kraft zu steuern nicht vermag, trieben.
Ein chinesischer Arzt erklärte mir, daß die Luft nicht
der ursprüngliche Krankheitserreger wäre, die Indier Luzons
täuschten sich, denn die Luft wäre ja selbst nichts Anderes
als das Resultat des gestörten Gleichgewichts von Kälte
und Hitze. In der That, sagte er, wenn die Hitze eine be-
stimmte Grenze überschritten hat, bildet sich sofort im
den Gerichten, und die Beschwörer mußten ihr Verbrechen mit
dem Kerker büßen. —
Der Mangcoculam kann niemandem ins Auge schauen,
feine röthlichen Augäpfel erscheinen wie mit einer Wolke oder
einem Schleier bedeckt." (Anm. d. Uebers.)
*) Eine abweichende Sage finden wir in der eben citirten
„Oceania Espanola": „Man sagt, der Asuang wäre ein
Bijaya (Bewohner der zwischen Luzon und Mindanao befind-
lichen Inseln), der mit dem Teufel einen Pakt abgeschlossen hat.
Er betritt weder Kirchen noch andere heilige Orte; unter der
Achselgrube besitzt er eine Drüse voll Oel, das ihm ermöglicht,
überallhin zu fliegen, wohin er will; er hat ferner große Kral-
len und eine unendlich lange Zunge von schwarzer Farbe und
seidenartiger Weichheit und glänzt. Seine Hauptaufgabe be-
steht darin, den Schwangeren den Fötus aus dem Leibe zu
reißen; dies geschieht, indem er (mit der Zunge) den letzteren
berührt, wodurch der Tod der Schwangeren veranlaßt wird, so
daß der Asuan den Fötus nun ruhig auszehren kann. — Im
allgemeinen pflegt man mit dem Worte Asuan soviel wie
„Gespenst" zu meinen. Ein von den Tagalen Tictic genann-
ter Nachtvogel kündigt den Asuan an. Wenn daher der ge-
nannte Vogel singt, so ist dies ein Zeichen, daß in der Um-
gebung sich ein Asuan herumtreibt. Eine Folge hiervon ist,
daß der Vogel und der Asuan Todfeinde sind; letzterer ver-
folgt den ersteren." (Anm. d. Uebers.)
Fleische eine große Menge Lnft, welche man irrthümlich als
den Urheber der Krankheit bezeichnet, während sie doch
nur der erste Effekt der übermäßigen Wärmeentwickelung
ist. Ich wollte von diesem Heilkünstler des himmlischen
Reiches noch mehreres über die Genesis der Krankheiten
erfahren, aber er vermochte sich weder im Spanischen noch
im Tagalischen uns so verständlich zu machen, daß wir über
dieses interessante Objekt belehrt werden konnten. Es darf
freilich nicht verschwiegen werden, daß wir seinen Ausfüh-
rungen nicht mit großem Glauben und Vertrauen folgten,
denn dieser in Manila lebende chinesische Arzt, sowie alle
seine hier ansässigen Kollegen sind, wie allgemein bekannt,
die größten Ignoranten ihrer Kaste, welche, nachdem sie in
ihrem Vaterlande keine Klientel gefunden, nach den Ma-
laienlündern auswandern, um dort ihren Unterhalt zu
suchen. So sind sie denn keine Perlen von Aerzten, und
wenn sie auch Puls fühlen und vorgeben, alle Krankheiten
heilen zu können, so sind sie trotzdem nicht einmal in der
Theorie fest.
Ueberall auf der Iufel findet man unter den Indiern
Volksärzte, welche Mangagamot genannt werden und
denen die europäischen und kreolischen Aerzte einen erbitter-
ten Krieg angesagt haben, so daß sie durch deren Umtriebe
gehindert sind, ihre Praxis in den großen Städten auszu-
üben. Die Indier aber, ja sogar selbst eine große Anzahl
von Spaniern, bringen ihren Heilmitteln gläubiges Ver-
trauen entgegen, ja in der Provinz und in ben kleinen
Städten bleibt nichts Anderes übrig als zu ihnen seine Zu-
flucht zu nehmen, außer man wollte sterben, ohne bei
jemand anderem als dem hierzu stets bereiten Priester Hilfe
gesucht zu haben.
Diese Heilkünstler geben vor, den Krebs kuriren zu
können, wovon sie fest überzeugt siud und zwar, weil sie
manche Mißbildung, die mit einem Krebsgeschwür nichts
zu thun hat, für ein solches halten; dagegen bekennen sie
ganz offen, daß sie gegen die Lungenschwindsucht ohnmäch-
tig wären. Andererseits erfreuen sie sich des Rufes, die
Dysenterie und die Krankheiten der Speise- und Ver-
dauungsorgane heilen zu können.
Die Arzneien werden nach den Eigenschaften, welche
ihnen von den Mangagamot zugeschrieben werden, in vier
Gruppen eingetheilt; nämlich in trockene, warme, feuchte
und kalte. Ingwer, Knoblauch, Alaun, Schwefel, Honig
und Tabak zählen sowohl zu den trockenen wie auch (gleich-
zeitig) zu den warmen Heilmitteln; Milch und Gewürz-
nägel gehören zu den warmen, Zwiebel, Eidotter und Fette
zu den gleichzeitig kalten und feuchten Medikamenten, wäh-
rend der spanische Pfeffer und Tamarindenfrüchte als kalt
und trocken gelten. Wir wissen nicht, wie sie zn dieser
wunderlichen Eintheilung gekommen sind, welche wenigstens
den Vortheil bietet, leicht vom Gedächtniß behalten (wenn
auch nicht vom Verstände begriffen)' zu werden. Dabei ist
zu bemerken, daß nach dieser Klassifikation und bei ihrer
Auffassung von dem Wesen der Krankheiten sie nicht wenige
von den Heilmitteln anwenden, welche wie die Tamarinde,
der Tabak, der Stechapfel u. s. w. auch in der europäischen
Pharmakopoe Platz gefunden haben.
Der Glaube au Bezauberung und Hexerei ist auf Luzon
ziemlich verbreitet, wenn man auch bestrebt ist, mit Hilfe
der sich immer mehr ausbreitenden Civilisation ihn zu be-
seitigen. Die Behexung wird nicht durch Gebete, Opfer-
oder gewöhnliche Arzneimittel aufgehoben, man bedient sich
hierzu vielmehr ungemein heftig wirkender ableitender Mittel.
Ein bisher ganz gesundes Weib wird plötzlich siech, ihre
Krankheit offenbart sich durch große Abspannung, Verlust
des Appetits, sie wird traurig und fühlt heftige Schmerzen,
40*
316
Die medicinischen Kenntnisse der Eingeborenen der Insel Luzon.
ohne daß sie im Stande wäre, genau anzugeben, wo; mit \
eineni Worte, sie ist einfach hysterisch, oder in den meisten
Fällen haben wir es mit einer schwachsinnigen Person zu
thun, welche, nachdem sie ein gewisses Alter erreicht hat,
einzusehen beginnt, daß es ihr unmöglich ist, das Lesen zu
erlernen und dem Haushalte vorzustehen. Der Volksarzt
kommt nun, die Familie befragt ihn und seine Diagnose
lautet auf Behexung, cs muß daher der böse Geist, der die
Störungen im Körper verursacht, ans diesem hinansgesagt
werden. Tie Kranke, von der Richtigkeit der Diagnose
völlig überzeugt, sucht nun mit Beihilfe des Medicinmannes
und ihrer Familiengenossen in ihrem Gedächtniß nach und
findet richtig, daß ihr einmal die umheimliche Erscheinung
eines Greises oder eines alten Weibes aufgefallen wäre,
eine Erscheinung, welche ihr einige Zeit hindurch gefolgt
war, um dann hinter einer Hecke oder in der Nahe der
Kirche zu verschwinden. Ein andermal ist es eine be-
stimmte Person ans dem Bekanntenkreise oder gar eine
ganze Faniilie, welche die Behexung vornahm, so daß mit-
unter Racheakte, sa Verbrechen die Folge solcher traurigen
Wahnideen sind.
Hat so die Diagnose ihre Bestätigung gefunden, fo
unterwirft sich die Kranke ruhig der Behandlung. Diese
besteht darin, daß der Patient, gleichzeitig ob Mann oder
Weib, täglich eine gehörige Anzahl von Hieben anfgenicssen
erhält, welche Dosis allmählich immer anwächst, gleichwie
um ein Beispiel anzuführen, die Zahl der Tropfen bei
Anwendung der Fowleressenz allmählich vermehrt wird.
Als Prügelinstrumente dienen Rotang und der Schwanz
eines Fisches Pagui (Raja pastenaia). Dieser außer-
ordentlich harte und feste Schwanz behält seine Elasticität
und Festigkeit selbst in getrocknetein Zustande noch lange
Zeit bei. Seine schuppige Haut ist so hart und wider-
standsfähig, daß die Indier aus ihr Feilen bereiten, welche
selbst das Eisen angreifen. Aus der polirten und bear-
beiteten Haut dieser Rochen-Art bereitet man in Paris jene
hübschen Geld- und Brieftaschen und Möbelverzierungen,
welche in der Kaufmannswelt als Peau-de'requin-de-
Cliine bekannt sind. Die Indier glauben, daß Schläge
mit dem Pagnischwauze Thiere und Menschen brustkrank
machen, deshalb hüten sie sich, damit ihre Pferde zu schlagen,
dagegen halten sie ihn für ein Specifikum gegen alle Be-
hexungen. Die Regierung verbietet, wie man dies hervor-
heben muß, die Anwendung dieses barbarischen Mittels,
und oft sieht das Gericht sich genöthigt einzuschreiten,
wenn die Geißelung den Tod der angeblich besessenen Person
nach sich gezogen hat.
Ueber die Proceduren bei Entbindungen berichtet
M. Mallat folgendes: „Das Weib liegt auf einer Matte,
welche die Sa hi, d. h. den Bambnbodeu des kleinen Ge-
maches bedeckt, der Mann nimmt zu ihren Häupten Platz
und drückt mit voller Wucht gegen die Gebärmutter, um so
das Herausgelangen des Kindes zu beschleunigen: es ist
unnöthig, auf die schweren Nachtheile besonders aufmerksam
zu machen, welche eine Folge solcher Maßregeln zu sein
pflegen. Die Hebammen trennen nicht eher das Kind von
der Mutter, als bis die Entbindung vollständig vor sich
gegangen ist, auch pressen sie den Fuß gegen die durch den
Austritt des Kindes geöffnete Körperstelle, um das Ein-
dringen der Luft in das Innere des Leibes zu verhüten.
Tritt bei der jungen Mutter eine Ohnmacht oder Gebür-
mutterblutung ein, dann wird sie von den Wehmüttern an
den Haaren in die Höhe gezogen. Ich hatte Gelegenheit,
mich selbst von der Wirksamkeit dieser Methode zu über-
zeugen. Eines Tages holte man mich zn einer Frau,
welche in Kindesnöthen darniederlag, sie wand sich in
Krämpfen, welche an epileptische Anfülle erinnerten; in
Erwartung meiner Ankunft hatte man sic mit den Haaren
am Tischbeine festgebunden und ich sah sie dann zu sich
kommen, ohne daß ein anderes Hilfsmittel in Anspruch
genommen worden wäre."
Ich erlebte einen ganz anderen Fall bei der Frau eines
unserer Diener. Ich fand sie als eine Leiche vor; sie hing
mit den Haaren an der Decke befestigt wie eine Hänge-
lampe und unter ihr war ein Meer von Blut: der Gatte
starrte ganz verstört zu ihr empor, während die Hebamme,
deren Dummheit dieses Unglück verschuldet hatte, damit
beschäftigt war, den Nabel des Neugeborenen mit Kokosöl
und Tabaksasche einzuschmieren.
Um die Geburt zu beschleunigen, legt man heiße Ziegel
ans den Bauch; nach der Entbindung wird auf den Unter-
leib ein dicker Charpiebausch mit einem dicken Bis-
guis genannten — Bande befestigt. Das Weib bleibt
durch acht Tage liegen, wobei ihr zur Nahrung in Wasser
gekochter Reis dient; wenn cs die Mittel gestatten, kommt
auch ein Huhn auf den Tisch. In letzterem Falle wird
das Huhn im Wasser ersäuft, um so alle Luft, die (nach
ihrem Glauben) in besonderer Menge in dem Körper und
dem Fleische dieses Thieres sich vorfindet, herauszutreiben;
sonst könnte die Wöchnerin Schaden erleiden.
Die Wilden der Bergdickichte, von denen Rienzi erzählt,
daß sie ihre Heilkünstler stets begleiten, um sich im Besitze
ihrer Gesundheit zu erhalten, verfahren ans eine ganz
andere Weise: Dort wo die Wehen ein Weib überfallen,
bringt es ruhig fein Kind zur Welt und schneidet mit
einem Muschelscherbett oder einem Bambnsplitter die Nabel-
schnur so geschickt ab, daß nicht ein Tropfen Blut verloren
geht. Einige Stunden nach der Entbindung nimmt das
Weib das neugeborene Wesen auf den Rücken und mar-
schirt mit ihm im glühenden Sonnenbrände oder strömen-
den stiegen weiter.
Die Indier befassen sich weniger mit der Chirurgie;
sie gleichen hierin den Chinesen, von welchen sie, wie mir
scheint, viel gelernt haben. De Rienzi erzählt, daß die
Bewohner von Tahiti und den Tongainseln einzelne chirur-
gische Operationen mit Bambnsplitteru oder Muschel-
scherben vornehmen. Die philippinischen Eingeborenen
amputircn selbst Finger oder einzelne Glieder derselben,
bedienen.sich aber hierbei allerdings soliderer Instrumente.
Die Wunden salbt man mit Kokosöl und einer großen
Anzahl verschiedenartiger Balsame, Säfte und Dekokte,
welche von aromatischen und adstringirenden Pflanzen ge-
wonnen werden. Die Dekokte werden gewöhnlich bei Ge-
schwüren und alten Wunden in Anwendung gebracht. Die
Verwundeten werden nie an die frische Luft gebracht, da
man befürchtet, sie könnten sonst vom Starrkrampf befallen
werden. Aus demselben Grunde unterläßt man jede Be-
rührung der Wunde mit Wasser, es wäre denn unmittelbar
nach der Verwundung; später darf dies absolut nicht mehr
geschehen. Beim Salben der Wunde werden die Fenster
fest verschlossen, bei feuchter Witterung wird sogar das ver-
wundete Glied einige Zeit beräuchert, um demselben alle
Feuchtigkeit zu entziehen. Aehnlich berichtet De Rienzi,
daß im Tongaarchipel es einem von einer spitzigen Waffe
verwundeten Manne verboten war, sich zn waschen oder
die Haare und Nägel sich zn schneiden, so lange er nicht
außer Gefahr war, weil er sonst dem Gita oder Starr-
krampf ausgesetzt war.
Diese letztere Krankheit ist in Luzon sehr verbreitet, sie
tritt häufig spontan ein; die Indier haben deshalb eine
große Furcht, wenn sie erschöpft und schweißbedeckt find,
durchnäßt zn werden. Wenn sie der stiegen bei der Feld-
Die medicinischen Kenntnisse
arbeit überrascht, so setzen sie ihr Tagewerk mit großem
Eifer fort, um wieder in Schweiß zu kommen. Sie be-
trachten als Ursache des Tetanus das Eindringen einer
bösen Lust in das Innere des Körpers; sie machen deshalb
auch ihrem Grolle gegen Feinde mit dem Fluche Luft:
„tinaman quita ng hangin“ (d. h. möge die böse Luft
dich packen). Sie behandeln diese Krankheit mit Schwitz-
bädern, welche mit Hilfe aromatischer Kräuter bereitet und
so lange fortgesetzt werden, bis die Genesung eintritt;
letzteres findet selten statt. Sie wenden auch einen Auf-
guß von Jgnatiusbohnen an, doch sind einige Male hierdurch
Vergiftungen hervorgerufen worden, da die Indier die
Dosis nicht regelrecht einzutheilen verstehen. Gemeiniglich
wird auf eine Kasfeeschale Wasser eine Bohne gerechnet
und der Aufguß nur so lange über dem Feuer gelassen, bis
das Wasser zu brodeln beginnt. Der gesammte Körper
wird mit Kokosöl eingenebelt, in welchem man etwelche
Jgnatiusbohnen aufgelöst hat. Letztere, welche hier Cat-
balongan heißen, weil sie von diesem Hafen der Insel
Samar nach Luzon kommen, stehen bei den Indiern in
großem Ansehen und werden als Universalmittel gegen
alle von der Luft (nach ihrer Theorie) herrührenden Krank-
heiten hoch geschätzt.
Geschwüre und Beulen heilen sie durch Auflegen von
Pflastern ans ungelöschtem Kalle. Zu demselben Zwecke
wenden sie auch Kompressen an, ohne aber zu ahnen, daß
diese und nicht die hierbei benutzten Bleiplattcn die Heilung
bringen.
Ihre Theorie von der bösen Luft veranlaßt sie bei jeder
Gelegenheit, Schröpfköpfe in Verwendung zu nehmen. Sie
haben von den Europäern gläserne und irdene Schröpf-
köpse kennen gelernt, ihr nationales Instrument bleibt aber
der T a nd ök. Dieses besteht aus einem abgestutzten Büffel-
horn, dessen breite Oeffnung an die Haut des Patienten
gedrückt wird, während an der schmäleren der Mund des
Heilkünstlers die Luft heraussaugt. Ist das Horn luftleer
geworden, so wird die obere Oeffnung mit einem Stück
Schweinsblase oder Leder verstopft und das Instrument so
lauge am Leibe des Kranken gelassen, bis es von selbst
abfällt.
Bei Choleraerkranknngen werden die Patienten mit dem
Rande von Kupfermünzen stark gerieben, um die Haut-
kälte zu verscheuchen. Ebenso pflegen sie neugeborenen vom
Starrkrampf befallenen Kindern große warm gemachte
Geldstücke aus die Haut zu legen.
Die Massage der hinteren Genickmuskeln wird als ein
sicheres Mittel gegen Migräne angesehen. Die Indier
besitzen im allgemeinen eine überaus große Fingergewandt-
heit und so geben sie denn auch ausgezeichnete Blasscure
ab, deren Hände sowohl kräftig, wie auch zugleich sanft
zugreifen. Sie schmieren sich, um die Haut des Patienten
nicht aufzureiben, mit Kokosöl ein, welches überhaupt bei
allen ihren Heilungsversuchen eine wichtige Rolle spielt.
Von den vegetabilischen Stoffen, welche ihre Arznei-
kunst anwendet, sind die Tamarindenfrucht, die Carica-
Papaya, die Jgnatiusbohnen u. a. in. auch in Europa
officinell. Die europäischen Aerzte, welche in Luzon ihre
Praxis betreiben, sehen mit Geringschätzung auf die Medika-
mente der Indier herab, ohne se von ihnen einmal Gebrauch
zu machen. Wenn auch die Heilmethoden und Praktiken
der Eingeborenen nur auf der Erfahrung und wenig wissen-
schaftlichen Schlußfolgerungen beruhen, so muß es doch
nicht minder wahr sein, daß die von der neuen Welt nach
der Eingeborenen der Insel Luzon. 317
Europa gebrachten (bei den Eingeborenen jenes Erdthcils erst
bekannt gewordenen) Pflanzen der Menschheit einen reellen
Nutzen gewähren; so wäre auch hier noch manches nicht zu
verwerfen. Ob die Eigenschaften der heilkräftigen Pflanzen
wissenschaftlich erklärt oder empirisch in Erfahrung gebracht
worden sind, das Resultat wird immer das gleiche bleiben.
Beim intermittirenden Fieber wendet man während des
Anfalls oder vorher als Heilmittel ein Gläschen Brannt-
wein an, in welchen man einige zerriebene Pfefferkörnchen
wirft. Der höllische Trank verursacht dem Patienten einen
brennenden Durst, den er durch reichliches Wassertriuken
löscht, worauf starker Schweiß ausbricht. Diese Kur er-
freut sich großer Beliebtheit und wird, wenn ich nicht irre,
auch in Sumatra und Borneo angewendet.
Unter den auf Luzon gebräuchlichsten Heilmitteln ver-
dient zunächst die Frucht der Carica-Papaya oder des
Melonenbaumes alle Beachtung; sie wird gegen alle Ver-
dauungsstörungen, speciell aber gegen die Magenruhr ge-
nommen, wie denn sowohl die Frucht als auch die Blätter
dieses Baumes auch bei anderen Krankheiten Verwendung
finden. Bei Gelenkrheumatismus werden die zerweichten
Blätter fest um die leidenden Körperglieder gebunden; die
Haut bedeckt sich zwar mit einem Ausschlage, doch zeigt
dieses die Genesung an. So lange die Frucht noch grün
ist, macht man Einschnitte in dieselbe, worauf ein klebriger
Saft von weißlicher Farbe herausquillt. Diesen ungemein
ätzenden Saft mischt man in sehr kleinen Dosen mit Milch,
um mit diesem Tranke die Eingeweidewürmer zu tödten.
Das Fleisch der reifen Frucht dient als Schönheitsmittel,
besonders um Sommersprossen zu vertreiben. Nebenbei
gesagt wird auch die Wäsche sehr sauber und glänzend weiß,
wenn man in das Wasser einige zerquetschte Blätter dieses
Baumes thut, so daß selbe auf dem Laude statt der Seife
benutzt werden.
Als wurm abtreibende Mittel gelten die Spinosa-
Species (Niog-niogang), deren Frucht Aufstoßen verursacht,
und die Ampalapa (Momordica balsamina), welch
letztere auch die Menstruation befördern soll. Abgesehen
von vielen anderen Pflanzen, deren Aufzählung ermüden
würde, ist noch die Ca88ia alata oder Cortanda zu er-
wähnen, welche die Hitzblattern heilt, dann der M al un g ay
(Moringa pterygospenna Gaertner), welchem man ein
ätzendes, drastisch wirkendes Oel abgewinnt, während die
zerquetschten Wurzeln das Senfpflaster vertreten. Die
Rinde des Taliitan (Turaea virens) liefert ein heftiges
Brechmittel.
Der Heilkünstler unter den Indiern bedarf keiner
Apotheke noch eines Bandagisten; er selbst bereitet die
Arzneien, die er ordinirt, er selbst fabricirt die Instrumente,
die er bei seinen Kuren benöthigt. Es ist auch nicht die
Stadt, wo er seine Medikamente und chirurgischen Hilfs-
mittel sucht, es sind dies vielmehr der Wald und das offene
Feld, wo er selbe findet: aus dem Bambu schnitzt er sich
die Schienen für Bein- und Armbrüche und Spritzen, aus
demselben Bambu bereitet er sich mit zwei Messerhieben
die Büchse, in denen er seine heilbringenden Kräuter ver-
wahrt, während die Bananenblätter ihnen anstatt Wachs-
tuch oder zu Umschlägen oder auch als Teller dienen, auf
dem er seine Mixturen und Salben verfertigt. Die Kokos-
palme liefert ihm eine Art Zündschwamm, mit dem er
Blutungen stillt. So weiß er überall in der Natur in
der üppigen Vegetation jene Medikamente zu finden, die
den Kranken Genesung bringen sollen.
i
318
Alls allen Erdtheilen.
Kürzere Mi
Die naturalisirte« Pflanzen der Provinz Auckland.
Eins der auffallendsten Beispiele für die Verdrängung
einer ursprünglichen Flora durch europäische Einwanderer
bildet die Insel Neu-Seeland. Die Pflanzen der Weide-
plätze, Wiesen und unbebauten Orte, die Unkräuter, welche
Felder und Gärten in Europa befallen, — alle trifft der
Fremde bei seiner Ankunft in der Kolonie wieder. Am
geeignetsten für das Studium dieser Erscheinung ist, wie
Herr Cheeseman, Curator des Auckland-Mnseums, hervor-
hebt, der Provinzialdistrikt Auckland. Die Zahl der hier
eingewanderten und naturalisirten Pflanzenarten beträgt 387.
Es ist charakteristisch, daß hiervon nur 10 Arten aus dem
benachbarten Australien stammen, während 280 in Europa
einheimisch sind. Die meisten sind krautartige Pflanzen, von
Bäumen und Sträuchern finden sich nur 31 Species. Die
387 Arten sind unter 233 Gattungen (!) vertheilt, welche in
60 Familien stehen. Die große Zahl der Gattungen zeigt,
daß die naturalisirte Flora von Auckland einen sehr ver-
schiedenartigen Charakter besitzt; und die Thatsache, daß die
meisten der Gattungen keine daselbst einheimischen Arten
haben, beweist, daß naturalisirte Pflanzen, um in einem Lande
mit Erfolg zu gedeihen, keine nähere Verwandtschaft mit den
vor ihnen existirenden Bewohnern zu haben brauchen.
Was ist nun der Grund, daß die einheimische Pflanzen-
welt den eindringenden Fremdlingen nicht Stand zu halten
vermochte. Zieht man in Erwägung, daß vor der Besiede-
lung die Kultivirung des Landes eine sehr unbedeutende
war, daß die Maoris überdies eine und dieselbe Stelle nicht
anhaltend bebauten, sondern dieselbe verließen, wenn der
Boden erschöpft war, so wird es erklärlich, daß sich in Nen-
Seeland keine Pflanzen entwickeln konnten, die, wie z. B.
unsere Getreideunkrüuter, den durch die Kultur veränderten
Lcbensbedingungen in vortheilhafter Weise angepaßt sind.
Bisher gedeihen die eingeführten Unkräuter, die im Laufe
der Jahrtausende, während deren sie die Kulturplätze der
t t h e i l u n g e n.
Menschen befielen, eine äußerst zweckmäßige Konstitution er-
langt haben, während die einheimischen verschwinden, weil sie
die Konkurrenz mit jenen besser angepaßten Pflanzen nicht
aushalten können. Aehnlich verhält es sich mit den Weide-
kräutern. Denn da es ursprünglich auf der Insel keine
pflanzenfressenden Thiere gab, welche die Vegetation abgeweidet
hätten, so entstanden auch keine zweckmäßigen Formen, welche
das wiederholte Abfressen der jungen Triebe zu ertragen
vermochten. Unsere Gräser können dagegen, ohne Schaden
zu leiden, wiederholt abgeweidet werden, und verbreiteten
sich daher rasch im Verein mit solchen Pflanzen, welche, wie
z. B. die Distel, durch ihre Ungenießbarkeit der Vernichtung
entgehen. Einige wenige einheimische Arten Aucklands,
z. B. einzelne Gräser, zeigen sich allerdings widerstands-
fähiger als ihre Genossen, und sind daher auch bestrebt, ihren
Verbreitnngsbezirk beständig zu erweitern.
Man findet nun aber unsere Einwanderer auch tief iin
Inneren des Landes, wohin weder Ackerbau noch Viehzucht
vorgedrungen sind, wo also die Verhältnisse noch unverändert
vorliegen. Die oben dargelegten Gründe reichen mithin zur
Erklärung der Ausbreitung naturalisirter Pflanzen in Neu-
Seeland nicht aus. Wir erinnern uns hier an die Bemer-
kung Darwin's, daß die einheimischen Pflanzen irgend eines
Gebietes nicht nothwendigerweise auch die geeignetsten für
dasselbe sind. Es ist bemerkenswert und trägt zum Ver-
ständniß der hier erörterten Erscheinung bei, daß fast alle
jene Eindringlinge in ihrem Vaterlande häufige und weit
verbreitete Arten sind, die also jedenfalls eine zähe Konstitu-
tion und die Fähigkeit erworben haben, sich den verschieden-
artigsten Verhältnissen anzupassen. Aus der südlichen Hemi-
sphäre^ konnten sich solche Formen weniger gut entwickeln als
auf der nördlichen, welche eine weit mächtigere Ausdehnung
der Kontinente zeigt, und wo daher die Konkurrenz der
Arten eine bedeutendere gewesen ist (Cheeseman, Die natu-
ralisirten Pflanzen des Provinzialdistrikts Auckland. Engler's
Bot. Jahrbuch Bd. VI, 2. Heft, 1885).
Aus allen
Asien.
— Im November wurde es ein Jahr, seit in Taschkent
ein A nt b u l a t o r i u m s ü r eingeborene Frauen ein-
gerichtet worden ist, tvelches von weiblichen Aerzten
geleitet wird. Die Resultate der Thätigkeit dieser Aerztinnen
sind nicht ohne Interesse. Unter der mohammedanischen Be-
völkerung Taschkents steht die Heilkunst noch auf sehr primi-
tiver Stufe: die Geistlichen oder Zauberer, welche Gebete
lesen oder besprechen, leisten medicinische Hilfe; nur in sel-
tenen Fällen werden Eingeborene, welche wegen ihrer Be-
kanntschaft mit der arabischen Medicin auf den Titel eines
Arztes Anspruch machen, zu Rathe gezogen. Aber auch dieser
Hilfe müssen die mohammedanischen Frauen entbehren — eine
rechtgläubige Mohammedanerin wird eher sterben, als einen
männlichen Arzt bei sich empfangen und mit ihm wegen ihrer
Krankheit sprechen. Für die mohammedanische Welt hat
daher das Studium der Medicin durch Frauen eine ganz
andere Bedeutung, als für Rußland und den Westen Europas.
E r d t h e i l e n.
In Taschkent knüpfte sich die Eröffnung einer Ambulanz
für Frauen an einen glücklichen Umstand. Vor zwei Jahren
trafen in Taschkent drei Aerztinnen ein, welche ihre dahin in
dienstlichen Angelegenheiten versetzten Ehemänner begleiteten.
In Folge dessen erlangten sie die Erlaubniß, eine Ambulanz
für kranke Frauen der Eingeborenen zu eröffnen. Anfangs
zeigten sich die Frauen etwas mißtrauisch gegen die „Urussi",
allein die Kunde von dem unbestreitbaren Vortheil, den ein-
zelne Frauen aus dem Besuch der Ambulanz zogen, zerstreute
bald das Mißtrauen. Die Frequenz der Ambulanz wuchs
von Monat zu Monat, wie aus den beigefügten Zahlen zu
ersehen. Die Zahl der das Ambulatorium besuchenden Frauen
und Kinder betrug im
December 1883 100 206 Einzelbesnche
Januar 1884 153 410
Februar „ 233 629
Mürz „ 441 927
April „ 366 898
Mai „ 378 1025
Aus allen Erdtheilen.
319
Was die zur Behandlung gelangenden Krankheiten be-
traf, so gehörte ein großes Proc. (10 Proc.) selbstverständlich
in die Kategorie der Frauenkrankheiten, weiter zeigten sich
Snphilis, Scropheln, chronische Hautleiden und solche der
Schleimhäute. („Oestliche Rundschau" 1884, Nr. 51, 52.)
— Nach der letzten Zählung von 1881 waren von den
253 891821 Einwohnern Britisch Indiens 188121 772
Hindu, 50121 585 Mohammedaner, 3 418 834 Buddhisten,
1862 634 Christen, 1 221 896 Dschaina, 85 397 Parst und
12 009 Juden. Die Hindu sind am stärksten zu finden in
Bengalen (45 452 806), in den Nordwestprovinzen und Audh
(38 555 121) und in Madras (28 497 678), die Mohamme-
daner in Bengalen (21 704 724) und im Pandschab (11 662 434),
die Christen in Madras (771 080) und Travancore (498 542),
die Parst und Juden in Bombast (von ersteren 72 973, den
zweiten 9023). Die Christen zerfallen in zahlreiche Sekten;
am stärksten sind die römischen Katholiken (963 058), nächstdem
die Anglikaner (353 713) und die Anhänger der syrischen
Kirche (304 410); die Zahl der Lutheraner betrug 15 041 (da-
von 11889 in Bengalen und 2310 in Madras), die sämmt-
licher Protestanten 533 390- Von den 1 862 525 gezählten
Christen waren 142 612 in Europa geboren, 62 085 waren
Eurasier, 893 653 waren Indier und 764 172 hatten anders-
wo ihren Geburtsort.
— Die Stadt Kuldscha mit ihren Tarantschen, Chi-
nesen und Dungancn — schreibt ein Correspondent der Oest-
lichen Rundschau <1885, Nr. 2) — unterscheidet sich durchaus
von Taschkent und den anderen mittelasiatischen, von Sartén
bewohnten Städten. Ich schildere hier nur das, was der
Stadt Kuldscha ihren eigenthümlichen Charakter giebt: die
chinesischen Tempel. Man betritt zuerst eine Art Vor-
halle, zu beiden Seiten stehen Trommeln und in Mannshöhe
hängen eiserne gegossene Glocken, welche Einschnitte am Rande
und darüber Löcher haben. Die Glocken haben keine Zunge
(Schlägel); statt derselben dient der Oberschenkelknochen eines
Esels, welcher in einem Loche der Glocke steckt, offenbar damit
er nicht am Boden liege. Jeder, der um zu beten eintritt,
giebt dem anwesenden Tempeldiener, dem Bonzen, ein Geld-
stück und schlägt mit dem Eselsknochen entweder auf die
Glocke oder auf die Trommel. Aus der Vorhalle führt eine
Thür in den Tempel selbst. Zuerst passirt man einen langen
und engen Korridor, an dessen Seiten sich je drei kleine Kam-
mern befinden. Wir öffnen die Thür einer derselben und
blicken in eine Küche, mau schmort und backt etwas darin.
Wir blicken in eine andere, es ist ein Raum zum Beten;
da stehen Buddha-Figuren (Burchane), vor diesen auf Tischen
allerlei Opfergaben, Speisen in Schalen; in anderen mit Sand
gefüllten Schalen stecken brennende Lichter. Diese Lichter
werden aus vermodertem Holz gefertigt und in Läden ver-
kauft. Der gläubige Chinese fällt nieder auf die Knie und
betet. In demselben Korridor, trotzdem daß derselbe sehr
eng ist, sitzen an zwei kleinen Tischen Chinesen und spielen
Karten oder Würfel, andere stehen oder sitzen daneben, rau-
chen ihre Pfeife, wie zu Hanse oder im Klub. Einer sitzt
da, raucht und schaut den Spielenden zu — jetzt erhebt er
sich, geht in das Betzimmer und betet; dann kehrt er zurück,
setzt sich wieder an den Tisch und schaut dem Kartenspiel zu.
— Ich hatte den Eindruck, als sei das Gebäude nicht allein
ein Tempel, um zu beten, sondern auch zugleich ein Klub,
um sich zu unterhalten.— Der Korridor führt zum mittleren
Tempelraum, welcher, nach oben offen, keine Decke hat. Da-
hinter ist eine Vertiefung, etwa dem Altarraum einer Kirche
entsprechend — hier ist wieder eine Decke vorhanden. Auch hier
stehen wiederum Buddha-Figuren. Nebenbei lag ein mit-
tels eines Strickes befestigter Hund, welcher offenbar die
Rolle eines Wächters hatte — gewiß recht praktisch, aber
jedenfalls an dieser Stelle auffallend.
Afrika.
— Die internationale Suez-Kanal-Kommission
schlägt vor, daß der Kanal durchgängig auf eine Tiefe von
9 m unter Niederwasser gebracht werden solle; weiter spricht
sie sich für folgende Breiten aus, die dem Kanal zu geben
wären: zwischen Port Said und den Bitterseen 65 m in
den geraden Strecken, 75 m in den Kurven mit mehr als
2500 m Radius, 80 m in den Kurven mit kleinerem Halb-
messer. Zwischen Suez und den Bitterseen, wo durch den
Einfluß von Ebbe und Fluth ein Strom besteht, soll nach
dem Vorschlage der Kommission die Bodenbreite in den
geraden Strecken 75 m, in den Kurven, die hier alle mehr
als 2500 m Radius haben, 80 m betragen. Weiter wird
angedeutet, daß die Ufer entweder durch Anpflanzung von
Sträuchern oder, wo dies nicht angängig ist, durch Stein-
setzungen gegen Unterwaschung verstärkt werden müssen. Was
die Hafenanlagen, die Leuchtfeuer und Bojen betrifft, hat die
Kommission keine Verbesserungen in Vorschlag zu bringen.
— Die Italiener haben Arafati, einen Platz am Süd-
ende der Annesley-Bai (von welcher aus die Engländer
1867 ihren Vormarsch gegen Magdala antraten) besetzt und
dort ihre Fahne neben der ägyptischen aufgezogen.
— Englands Interessen an der Suaheliküste
sind keine geringen, und das deutsche Vorgehen in Zanzibar
und aus dem Festlande hat dieselben empfindlich berührt.
Nach einem Berichte des englischen Konsuls Holmwood gab
es 1884 in Zanzibar 6619 britische Unterthanen, darunter
89 geborene Briten, 39 Franzosen, 13 Deutsche, 8 Ameri-
kaner, 5 Belgier und 2 Italiener. Gleich nach der Abschaf-
fung der Sklaverei im Jahre 1873 sank der Handel cttvas,
hat sich seitdem aber verdoppelt; der mit Indien allein ist
von 428 800 Pfd. St. im Jahre 1879 auf 755 858 Pfd. St.
iin Jahre 1883 gestiegen. Namentlich auf das Kilimandscharo-
Gebiet macht Holmwood aufmerksam, als auf eines, das zur
laudwirthschaftlichen Ausbeutung wie zur Anlegung von
Sanatorien vorzüglich sich eigene; dieselbe Ansicht vertrat
am 14. April H. H. Johnston in der „Society of Arts" in
London. — Dr. Joest in seinem Buche „Um Afrika" (S. 261)
weist darauf hin, daß England im vorigen Jahre in Lindi,
Kilwa, Mombasa und Lamu Konsulate resp. Vicekonsulate
errichtet hat und diese vier Küstenplätze des Sultanats Zan-
zibar regelmäßig von Dampfern anlaufen läßt, und glaubt,
daß England starkes Verlangen nach dieser Küste trage. Die
Instruktion jener Konsuln lautet dahin, vor allem ihr Augen-
merk auf die Unterdrückung des Skavenhandcls zu richten,
dann den Banianen und anderen Indiern den Schutz der
Kaiserin angedeihen zu lassen und dafür zu sorgen, daß der
Handel des Inneren erschlossen werde und sich Auswege nach
der Küste, zumal nach den oben genannten vier Punkten hin,
suche. Vorläufig haben sie noch wenig zu thun, ihre Arbeit
beschränkt sich ans Gerichtsverhandlungen bei Streitigkeiten
zwischen Eingeborenen und englischen Unterthanen; dafür
aber unternehmen sie abwechselnd bedeutende Reisen, deren
Ergebnisse ebenso der Wissenschaft, wie dem politischen Ein-
flüsse Englands zu Gute kommen.
— In einer Notiz im „Antananarivo Annual" (Nr. 8)
berichtet Rev. I. Sibree, daß im vergangenen December
eine Anzahl kleiner Stücke Bimsstein von Tamatave, wo sie
kurz vorher an den Strand gespült worden waren, nach der
Hauptstadt Antananarivo geschickt wurden. Man vermuthet,
daß diese vom Wasser abgerundeten Stücke von der Sunda-
straße her über den Indischen Ocean gekommen sind und
wahrscheinlich von: Krakatau-Ausbruche herrühren. Ist diese
Annahme richtig, so bietet sie uns nicht nur ein interessantes
Beispiel für die Entfernungen, auf welche vulkanische Pro-
dukte von Meeresströmungen vertrieben werden können, son-
dern wirft auch nach Sibree's Ansicht Licht auf die dunkele
Frage, wie die ma laisch-poly nesischen Vorfahren
der Malgaschen die 3000 engl. Meilen Seeweges, welche
320
Aus allen Erdtheilen.
den südostasiatischen Archipel von Madagaskar trennen, über-
wunden haben mögen. Es müssen eben in dieser Richtung
Meeresströmungen existiren, welche den Bimsstein herüber-
brachten, und so mögen auch in prähistorischen Zeiten ein-
zelne Praus oder sogar eine ganze Flotille von solchen durch
Stürme nach Westen verschlagen und von jener Strömung
weitergeführt worden sein, bis sie schließlich auf irgend einem
Punkte der fast 1000 engl. Meilen nordsüdlich sich erstrecken-
den Ostküste von Madagaskar strandeten.
— In Wiesbaden ist aus Zanzibar folgende Trauer-
nachricht eingetroffen: „Die Expedition der Afrikareisenden
Böhm und Reichard ist verunglückt; Böhm ist todt,
Reichard ist gerettet in Zanzibar angekommen". Dauiit wird
die Vermuthung (s. oben S. 271), unsere beiden Reisenden
seien mit jenen in Njangwe eingetroffenen Weißen identisch,
in betrübender Weise widerlegt. — Auch die Association
Internationale hat einen neuen Verlust zu verzeichnen: am
1. Mürz starb in Leopoldville am Wechselfieber Edward
Spencer Burns, welcher im Winter 1883 bis 1884 das
Land zwischen Kwilu und Congo erforschte und später in
Manjanga befehligte.
— Ein neues Opfer des Klimas am Congo! Lieutenant
Eduard Schulze, der Führer der deutschen west afrikanischen
Expedition (f. oben S. 78 und 128), ist am 15. Februar in
San Salvador gestorben. — Von einem Mitgliede derselben
Expedition, dem Botaniker Dr. Büttner, sind Berichte über
Ausflüge in der Umgebung von San Salvador in Berlin
eingetroffen.
— Wir haben schon oben S. 182 ff. ans den dauernden
Werth der Berichte Hugo Zöller's, welche er über das
Togo-Gebiet in der „Kölnischen Zeitung" veröffentlicht hat,
hingewiesen; sein Name ist dann durch die kriegerischen Vor-
gänge in Kamerun und deren Schilderung allgemein bekannt
geworden. Jene ersten Berichte sind jetzt erfreulicher Weise
zusammen gedruckt worden und bilden unter dem Titel:
„Das Togoland und die Sklavenküste" (W. Spemaun,
Stuttgart 1885) den ersten Band einer Serie, welche alle
deutschen Besitzungen in Westafrika behandeln soll. Da Togo-
land bis jetzt eine völlige terra ineoZnita war, so ist Zöller's
Buch, welches Leben und Sitten der Eingeborenen, Natur,
Klima und kulturelle Bedeutung des Landes, dessen Handel
und die deutschen Faktoreien nach eigener Anschauung schildert,
ein unentbehrliches Quelleuwerk für jeden, der nach Auskunft
über unsere Protektorate (Kolonien kaun mau sie ja eigentlich
nicht nennen) verlangt.
Südamerika.
— Auf S. 192 des laufenden Bandes haben wir bereits
die Nachricht von der Ersteigung des Berges Roraima
durch Everard F. Im Thurn gebracht; heute sind wir
im Stande, diesem Berichte einige Einzelheiten aus den
Proc. R. Geogr. Soc. hinzuzufügen. Am 7. December er-
reichte der Reisende mit seinen Begleitern die halbe Höhe des
Berges, wo vier Hütten erbaut wurden. Bis zu einer Höhe
von 5500 Fuß bestehen die Seiten des Berges aus gras-
bewachsenen, wellenförmigen Abhängen, auf denen sich ver-
einzelte Banmgruppen und breite Streifen von Geröll be-
finden. Neben einem grasbewachsenen Sumpfe, bis zu
welchem Schomburgk und frühere Reisende gelangt waren,
wurden die Hütten aufgeschlagen. Von hier an werden die
Abhänge steiler und sind mit niedrigen Bäumen, namentlich
Palmen vom Genus Geonoma, dicht besetzt; diese Vegetation
reicht bis zum Fuße der Felsenklippen, wo ein breiter
Streifen Brombeeren (Kulms Schombm-gkii) und Farnkraut
sich findet, der durchaus an englische Vegetation erinnert.
Die Klippen erheben sich senkrecht etwa 2000 Fuß über diesem
Streifen, mit Ausnahme einer Stelle, wo eine Leiste diagonal
bis zur Spitze läuft. Die ersten zwei Drittel der Leiste sind
mit ungeheuren Steiublöcken bedeckt, die durch ein dichtes
Gewebe von Baumwurzeln verbunden sind; hierauf stößt
man auf einen Fluß, der von der Klippe herabstürzt und
eine tiefe Schlucht in der Leiste ausgewaschen hat und von
da in einer Reihe von Wasserfällen dem Thäte zueilt. Wenn
einmal diese Schwierigkeit überwunden ist, wird das letzte
Drittel durch die niedrigen Pflanzen, die da wachsen, nicht
nur bequemer, sondern auch interessanter. Große grobe
Gräser und agaveähnliche Pflanzen sind die wichtigsten
Arten, welche hier vorkommen, daneben findet man aber auch
prächtige Blüthen. Am 18. December wurde die Ersteigung
des Berges in vier Stunden ausgeführt; auf der Spitze
genießt man einen wunderbaren, aber eigenthümlichen An-
blick. Das Plateau ist mit Felsblöcken von den sonderbarsten
Formen bedeckt, welche in Haufen auf einander liegen, deren
höchste 80 Fuß Höhe erreichen; einzelne niedrige Pflanzen
von einem ganz anderen Charakter, als dem der sonstigen
Vegetation von Guyana, wurden da gefunden. Die Wolken,
welche um den Berg hin in fortwährender Bewegung sind,
lagern hier sehr viele Feuchtigkeit ab, so daß alles von der-
selben durchdrungen ist; so bilden sich kleine Bassins, aus
denen unbedeutende Bäche nach dem Rande der Klippen
strömen und sich als Wasserfälle in die Tiefe stürzen. Kein
anderes Thier als ein ziemlich gewöhnlicher Schmetterling
wurde gesehen. Von der Spitze aus erblickt mau ähnliche
Berge, die sich bis in weite Ferne hin immer wiederholten;
einer von ihnen, mit dunkler flacher Kuppe und schmaler
Basis, siel darunter besonders auf. Namentlich in botanischer
Beziehung war die Ausbeute reich; am 31. Januar kehrte
Im Thurn nach Demerara zurück, er hatte stark am Fieber
gelitten, war jedoch auf dem Wege der Besserung. Uebrigens
ist zu erwarten, daß sein Reisebericht auch in ethnographischer
Beziehung wichtige Mittheilungen bringen wird, wenn man
wenigstens aus einzelnen Mittheilungen, die seine Briefe
enthalten, einen Schluß ziehen darf. So schreibt er über
den Erfolg der Mission bei den Indianern in der Savannah,
zwischen Jreng und Cotinga: jedes Dorf hat selbst eine Kirche
gebaut, in welcher Männer, Frauen und Kinder an Wochen-
tagen sechs, an Sonntagen acht Stunden zubringen und den
Glauben, das Gebet des Herrn und die zehn Gebote her-
sagen, dabei aber die täglichen Pflichten des Lebens vernach-
lässigen, so daß man bei ihnen beinahe nichts zu essen
bekommen kann.
— A. W. Sellin, ehemaliger Koloniedirektor in Bra-
silien, hat in Bd. 36 und 37 von Freytag's „Das Wissen
der Gegenwart" „Das K a i s c r r e i ch B r a s i l i e n" geschil-
dert auf Grund von eigenen Erfahrungen, einer reichen
Litteratur und, was die wirthschaftlichen Verhältnisse anlangt,
von schwer zugänglichen officielleu Daten, welche ihm der
brasilianische Gesandte in Berlin zur Verfügung stellte.
Inhalt: G. Rövoil's Reise im Laude der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883. II. (Mit sechs Abbildungen.) —
Ueber die Herstellung einer Wasserstraße zwischen Ob und Jenissei. (Mit einer Kartenskizze.) — Die medicinischen Kenntnisse
der Eingeborenen der Insel Luzän. Nach T. H. Pardo de Tavera. — Kürzere Mittheilungen: Die naturalisirten Pflanzen
der Provinz Auckland. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Südamerika. (Schluß der Redaktion: 25. April 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Truck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Vraunschwcig.
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0*
Band XLYII.
21.
it besonderer HerürksrchtrgunA der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
I) v. Richard Kiepert.
oarrt un Íí4i VilJährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
O l ll 11 ll j U| U4L zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
G. Revail's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun
1882 bis 1883.
in.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Als Revoil sein Hans erreichte, fand er seinen Wirth
im Gespräche mit zwei Bimal-Häuptlingen, Brüdern des
einflußreichen Jsmaöl Abdallah, der seit der oben erwähnten
Schlacht bei Agaren geschworen hatte, Mörka nicht wieder
zu betreten. Der Gouverneur der Stadt selbst achtete
diesen Schwur in der Weise, daß er jedesmal, wenn er
mit dem Bimal -Ehes zu verhandeln hatte, ihm eine Zu-
sammenkunft vor den Mauern Mörlas bewilligte. Jsmaöl
Abdallah hegte den Wlinsch, den Reisenden zu sprechen,
und ließ ihn durch seine Bruder in sein Gurgi (Hütte) aus
den Höhen bei Agaren einladen; die beiden Brüder, Hadschi
Ali und Fage, würden ihm als Begleitung genügen. So-
wohl Scherif Amin, als auch Salem riethen dazu, dieser
Einladung zu folgen, und meinten, daß unter den Stämmen
der Somali der Schutz des Jsmaöl Abdallah besser und
wirksamer sei, als eine Begleitmannschaft des Gouverneurs,
zumal dessen Soldaten kaum in der Stadt ihres Lebens
sicher sind und, sobald sie deren Ringmauer verlassen sollten,
mit Bestimmtheit auf einen Lanzenstich oder vergifteten
Pfeil rechnen können.
Früh am folgenden Morgen machte sich Rövoil auf
den Weg, begleitet von seinen beiden Dienern, die von
Kopf bis Fuß bewaffnet waren. Da die zurückzulegende
Entfernung nur 3 km betrug, so konnte sich der Reisende
des Lächelns nicht erwehren; aber seine Diener entgegncten:
„Zu viel Vorsicht schadet nie, und wenn du erst die Be-
Ätobus XLV1I. Nr. 21.
duinen dieser Gegend besser kennst, wirst du auch weniger
zuversichtlich sein." Das war entschieden vernünftig ge-
sprochen, und so steckte auch Rövoil einen Revolver in den
Gürtel, nahm aber statt des Säbels nur den harmlosen
Sonnenschirm mit. Am Strandthore, das zu dieser Stunde
noch geschlossen war, wollten die Soldaten ihn kaum passiren
lassen; draußen, vor der Moschee des Scheich Othman
(desselben, nach dem das früher erwähnte Dorf bei Aden
seinen Namen trügt und der hier bei Mörka begraben liegt)
warteten schon Abdallah's Brüder, die nur Stock und
Kürbisschale, keine Waffen trugen. Die Somali, die schon
in großer Anzahl versammelt waren und auf das Oesfnen
der Stadtthore warteten, drehten beim Vorübergehen Rövoil's
kaum den Kopf nach ihm um, anstatt ihn, wie Tags zuvor
bei seiner Landung zu belästigen, und die, welche ihm ent-
gegen kamen, wichen ihm nach den üblichen Begrüßungen
ans. Als man dann das Schlachtfeld von Agaren erreichte,
welches noch mit gebleichten Skeletten und Schädeln der
von den Bimal Getödteten — es sollen an jenem Tage
822 Somali gefallen sein, eine enorme Zahl für jenes
Land — bedeckt war, ließ sich der Reisende die Vorgänge
jenes blutigen Tages erzählen. So vergingen anderthalb
Stunden, ehe das nahe Anin, wo Abdallah's Gnrgi entfernt
von allen anderen stand, erreicht war. Es war eine geräumige
runde Hütte aus Holzreifen, die von einem mit groben
Skulpturen versehenen Mittelpfahle, dem Udnb, getragen
41
322
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
wurden; über den Reifen lagen große, aus Rinde bestehende
Matten, die mit Zeichnungen bedeckt waren. Daß der Fremde
erwartet worden, zeigte die Reinlichkeit in der Behausung.
Die Waffen des Häuptlings, Schild und Lanzen, Kale-
bassen und die Körbe, in welchen man die Lebensmittel
aufbewahrt, hingen symmetrisch an der Wand. Die Aus-
stattung war sonst höchst einfach: ein Bett, bestehend aus
einer ansgespannten Ochsenhaut, vier ebensolche Sessel und
als Fußboden feiner, gut abgekehrter Sand, das war alles.
Als Rovoil eintrat, lag Abdallah, der unwohl war, setzte
sich aber aufrecht und begrüßte ihn mit „Nabad, faida“
(Guten Tag. Wie geht es?). „Guten Tag. Was machst
du?" war die Antwort. „Tritt ein!" und, dann sich zu
seiner Frau wendend, sagte Abdallah: „Gieb einen Stuhl!"
Rach den üblichen Begrüßungen dankte er dem Franzosen,
daß er ihn besuchte und erklärte, er habe gehört, daß dieser
über Gelidi nach dem oberen Dschub und zu den Ilgadin,
sa bis Verbera reisen wolle; sein hier anwesender Bruder-
habe diesen Weg, als er von Mörka nach Mekka gepilgert
sei, in 32 Tagen gemacht. Sein Plan sei kühn, aber
ausführbar; doch müsse er nicht über Gelidi gehen, sondern
den Stamm der Wadan vermeiden und von Mörka auf-
brechen. Schließlich versicherte er ihn seines Schutzes und
ließ ihm durch seine Kinder geröstete Kaffeebohnen, Milch
und Mais vorsetzen. Zum Abschiede schüttelte er ihm die
Hand und grüßte ihn mit dem mohammedanischen Segens-
spruche: „ll aman illab u rasul“ (Möge Gott und sein
Prophet dich schützen!); und gleichzeitig brachte die Frau
Der Gurgi Ismael Abdallah's.
des Hauses ein Rauchfaß und beräucherte damit die Kleider
des neuen „Dumasch“ (guten Freundes), der ihr zum
Danke ein prächtiges Halsband aus Karneol verehrte.
Bei näherer Ueberlegung jedoch rieth Salem dem Rei-
senden, auf Abdallah's Rath, den ihm lediglich seine Feind-
schaft gegen die Leute von Gelidi eingegeben haben mochte,
nicht zu hören, sondern sich diesen letzteren anzuvertrauen,
weil diese die Straße nach dem oberen Dschub weit mehr-
beherrschten als die Bimal.
Die letzte Zeit seines Aufenthaltes in Mörka benutzte
Rovoil zu einigen photographischen Aufnahmen. Inzwischen
hatte Salem seine Geschäfte beendigt und das Meer sich
beruhigt, so daß die Weiterfahrt angetreten werden konnte;
trotz aller Vorsichtsmaßregeln, um eine Ueberzahl von
Passagieren abzuwehren, hatten sich doch noch mehr als
60 Personen auf der Barke eingefunden, die wegen Mangel
an Kähnen hinübergeschwommen waren. Darunter befand
sich auch ein weit bekannter Fanatiker, der Scheich Awes
von der den berüchtigten Senussi affiliirten Sekte des
Abd el-Kader el-Ghilani von Bagdad, der bereits mehrere
Zanjas (Klöster) gegründet hatte. Aus Klugheit mußte
Rovoil dieser angesehenen Persönlichkeit, deren Flagge neben
der scinigen ans der Barke gehißt wurde, mit größter Zu-
vorkommenheit begegnen; doch sollte ihm das wenig nutzen,
denn diesem Manne und seinen Umtrieben hatte er später
das Scheitern seiner Pläne zuzuschreiben.
Rasch ging cs vorbei bei den Hütten von Dschilip und
bei den zerstörten Orten Gondörscheik und Goriale, die auf
imm
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883. 323
Felsvorsprungen liegen; sie bieten dem Auge nichts als
geschwärzte Mauern, hinter denen sich einige armselige
Hütten verbergen; doch beleben Palmengruppen die Land-
schaft. Dann folgt Dschesire mit der Moschee des Scheich
Assan Burali, in dessen Nähe auf einem großen, schwarzen,
steilen Felsen das Grab des Au Mekka und die Station
Walo liegen, dann Danane mit lauter bienenkorbsörmigen
Strohhütten und einem einzigen Stcinhause, wo einst ein
Gesandter des Sultans Said Bargasch mit 40 Soldaten
ermordet wurde. Endlich erschien Mogduschu, und dieser
Anblick brachte neues Leben unter die Mannschaft, die bis-
her auf Antreiben des Scheich Awes ihre Zeit damit hin-
gebracht hatte, Koranverse herzusagen und sich durch das
ewige Wiederholen der Worte „Allah akbar“ (Gott ist
groß) in einen Zustand des Hypnotismus zu versetzen.
Jeder griff nach Petroleumkannen, Kochtöpfen, Präsentir-
brettern und sonstigen Gegenständen, mit denen man Lärm
erzeugen konnte, und begann darauf zu tosen, Flintenschüsse
wurden abgefeuert und, als darauf hin zahlreiche Leute am
User zusammenliefen, wurden sie von den Matrosen im
Uebermaße ihres Entzückens mit Apfelsinen und Kokos-
nüssen, die man von Zanzibar mitgebracht hatte, bombardirt,
was die Menge mit frenetischem Geschrei beantwortete. So
groß war der Enthusiasmus und die Freude, den heimath-
lichen Hasen erreicht zu haben, daß fast keiner sich um das
Schiss kümmerte, und dasselbe beinahe durch eine besonders
starke Woge an die Küste geworfen worden wäre. Doch
kam man glücklich bei Hamarwin und Schingani, den
beiden Quartieren des heutigen Mogduschu, vorbei und
erreichte den gegen die Wellen geschützten Ankerplatz, Ehori
(Kanal) mit Namen, der nordöstlich von Schingani und
dem Minaret der Moschee Abdul-Aziz gegenüber liegt.
Wegen der Fluth konnte die Ausschiffung aber erst gegen
10 Uhr Abends stattfinden. Rövoil begab sich dann sofort
41 *
Junge Abösch-Dienerin.
Bedninenfrau, Gras ans den Markt von Mogduschu bringend.
Das Spinnen und Leimen der Baumwolle in Mogduschu.
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
325
zum Gouverneur und suchte darauf vorläufige Ruhe in:
Hause Salem's, des angesehenen Günstlings des Sultans
von Zanzibar. Es war das zweite Mal, daß er die Stadt
besuchte; aber 1877 hatte ein ungeschickter Gouverneur ihn
au freier Bewegung gehindert. Unter günstigeren Ver-
hältnissen wollte er setzt das damals Versäumte nachholen.
Vollkommen als Araber gekleidet, trat er am nächsten
Morgen seine Wanderung durch den Ort an.
Zuerst besuchte er die Aeltestcn der vier Somalitribus
von Hamarwin, mit welchen er schon in Zanzibar Ver-
bindungen angeknüpft hatte. Alle versprachen ihm natür-
lich Wunderdinge; aber er hatte schon gelernt, auf solche
Worte nichts zu geben. Dann beehrte er den Scheich
Mnmcn, das Haupt der ältesten und zahlreichsten Familie
von Mogduschu, deren Mitglieder in dem ganzen Becken
des Webi und oberen Dschub Handel treiben. Bei all
diesen Besuchen mußte er Milch, Mais, gerösteten Kaffee rc.
genießen und beim Verabschieden wurde jedesmal ein langes
Gebet gesprochen, welches Rovoil zum Erstaunen der An-
wesenden stets geläufig mitmurmelte. In der Zwischenzeit
brachte Julian das Gepäck an Land, und dann miethete
sich Rovoil ein eigenes Haus, das in die Westmauer von
Hamarwin eingebaut war und einen versteckten Ausgang
zum freien Felde hin besaß. Dasselbe hatte einen eigenen
Brunnen, einen kleinen Garten mit Kokospalmen und
einen großen Hof, auf welchem sich später die zu erwerben-
den Kameele tummeln konnten. Der Wati sandte eine
Wache von vier, später von zehn Soldaten; ein großer
Baumwollweber in Mogduschu.
Saal, wo auch Besucher und Kranke empfangen wurden,
diente ihnen zum Wachlokal.
Während nun mit den Leuten von Gelidi Verhand-
lungen angeknüpft wurden, benutzte Rävoil seine Muße
dazu, die Stadt kennen zu lernen.
Mogduschu kann an Schmutz fast mit Mörla wett-
eifern ; die Straßen sind mit Abfall bedeckt und die überall
frei umherlaufenden Kühe vermehren nur die Unreinlich-
keit. Die Häuser sind alle einander gleich, viereckig und
mit flachem Dache; nur die Holzfenster sind geschnitzt und
ab und zu findet sich ein mit Arabesken oder einer Inschrift
versehener Stein. Das Nebeneinander von geschwärzten
Hütten, verfallenen Mauern, Palmengruppen, mit Kalk
geweißten Häusern und Minarets erinnert an Palästina.
An die Steinhäuser lehnen sich mitunter Hütten der Abösch,
d. h. der Nachkommen einstiger Sklaven; ja sie finden sich
sogar in den Höfen derselben. Jedes Quartier besitzt seine
Moschee. — Unter den Vorstehern der Klöster (Zanjas)
wußte Rävoil denjenigen eines kleineren, den Scheich Sophi,
für sich zu gewinnen, indem er ihm die sämmtlichen Em-
pfehlungsbriefe von mohammedanischen Scheichs, die er
besaß, darunter einen von Mohammed cl-Chodscha von
Tunis, vorlegte. Sophi verlas dieselben in mehreren Ver-
sammlungen und empfahl den Reisenden dem besonderen
Wohlwollen seiner Anhänger. Von da an verschwand die
Abneigung der Bewohner von Hamarwin gegen den „Un-
gläubigen" nach und nach; diejenigen des rivalisirenden
Quartiers Schingani beruhigte er durch Besuche bei ihren
326
G. Rsvoil's Reise im Lande der Venad ir, Somali und Vajun 1882 bis 1883.
Scherifs, und schließlich riefen ihm nur noch Beduinen oder
Straßenjungen „Kufar“ (Ungläubiger) nach, und selbst die
größten Fanatiker hielten sich nicht mehr die Nase zu, wenn
er vorüberging. Sein Haus war nicht länger verrufen,
und die junge Abösch-Dienerin, welche dasselbe mit Wasser
zu versehen hatte, brachte auch manchmal Frauen vom
Lande mit, welche Eier oder Gras für die Ziegen zu ver-
kaufen hatten. Diese waren scheuer, als die Krieger von
Mogduschu und ließen sich
nicht herbei, wie jene, vor
dem photographischen Ap-
parate zu stehen. Nur eine
oder zwei ließen sich durch
rothseidene Kopftücher, die
hier hochgeschätzt sind, dazu
bestechen.
Mehr Gegenstände für
seine Kunst fand er in den
Gebäuden und Straßen
der Stadt, die er indessen
auf Wunsch des Gouver-
neurs und Salem's nie
ohne seine vier Soldaten
betreten durfte; dazu nö-
thigte die Anwesenheit so
vieler bis an die Zähne
bewaffneter Beduinen, die
stets zum Blutvergießen
bereit sind, nur irgend eine
alte Feindschaft oder auch
nur Beleidigung zu rächen.
Selbst die arabischen Kauf-
leute müssen stets auf ihrer
Hut sein; denn cs ist der
Fall vorgekommen, daß ein
solcher von einem Somali
aus keinem anderen Grunde
ermordet wurde, als um zwi-
schen den Stadtbewohnern
und dem Gouverneur einen
Konflikt hervorzurufen.
Mogduschu, in 20 2'
10" nördl. Br. gelegen, soll
ursprünglich Megaad el-
schata (Hafen des Schafs)
geheißen haben; so heißt
noch heute die Moschee
beim Grabe des Scheich
Awes el-Garni, welcher
dort eine Vision gehabt
hatte. Später nannten
die Araber sie Mogdischn
oder Mogduschn, woraus
die Portugiesen Mogadoxo
und Mogadipo machten.
Die Sklaven eingerechnet,
giebt es dort 4000 Ein-
wohner, bestehend aus Somali, einigen seit dem 3. Jahr-
hunderte der Hedschra ansässigen arabischen Familien, und
ab- und zureisenden indischen und arabischen Kaufleuten.
Einst war die Blüthe der Stadt sprichwörtlich; damals
bedeckte sie einen zehnmal größeren Flächenraum als heute
und zählte 101 Moscheen; Reste von zahlreichen Monu-
menten sind allein davon übrig. Innerer Hader und Krieg
haben den Verfall herbeigeführt. Allmählich bildeten sich
zwei Quartiere, Hamarwin und Schingani; die zwischen
ihnen liegenden Gebäude verfielen nach und nach, und jetzt
erhebt sich an deren Stelle das Fort. Noch größer wurde
die Kluft zwischen beiden, als nicht mehr sämmtliche Ein-
wohner mit gleicher Einmüthigkeit das Fest des Scheich
Awes el-Garni feierten. Hamarwin geht heute seinem
gänzlichen Verfalle entgegen; Häuser, Minarets und
Moscheenknppeln stürzen eines nach dem anderen zusammen,
und der Sand hüllt nach und nach die Trümmer ein; bewohnt
werden dort nur noch
Strohhütten.
Mogduschn gehört zum
Gebiete der Hawias; an
der Küste bis nach Mruti
und Obbia im Nordosten
wohnen besonders die Ab-
gals, und unter den Be-
suchern des Marktes,
welchen die Karawanen
vom oberen Dschnb mit
Elfenbein, Straußenfedern
und Häuten versehen, sind
besonders die Wadan, Jlbi,
Daut, Mursude, die Be-
wohner von Gelidi und
die Rawin zu nennen.
In Mogduschu wie in
Mörka bestand die einzige
Industrie der Einwohner
im Weben von Baumwolle,
womit sie nicht nur die
arabischen Faktoreien an
jenen Küsten, sondern auch
die Häfen des Rothen
Meeres und des Persischen
Golfes versahen. Diese
Industrie begann zu sinken,
als die Portugiesen sich der
arabischen Kolonien an der
Küste und der Verkehrs-
wege nach dem Inneren
bemächtigten; die Einfuhr
amerikanischer Gewebe gab
ihr fast den Todesstoß, und
heute bewegt sie sich nur
noch in bescheidenen Gren-
zen. Das Weben der
Baumwolle ist eine Arbeit
der Abösch mib Sklaven,
die sich von Mogduschu
ans über das ganze Becken
des Wcbi null Dschnb ver-
breitet hat; von dort brin-
gen Beduinen sowohl rohe
Baumwolle, als auch grobe,
aber feste Gewebe. Die
Baumwolle wird zuerst
zwischen zwei hölzernen
Cylindern von den Körnern und Kapseln gereinigt, daun
wie Filz geklopft, in Strähnen getheilt und von den Frauen
mittels eines sehr primitiven Spinnrades gesponnen. So
gewinnt man vier Faden von verschiedener Stärke, aus
welchen Gewebe von sechs verschiedenen Qualitäten, aber
von fast gleicher Größe hergestellt werden. Männer und
Kinder bringen die Faden zuerst in Strähnen; das Kind
hält dabei die Spule in der Hand und wickelt den Faden
mittels einer kleinen hölzernen Gabel in Form einer 8 auf.
Wadan-Krieger.
Thomson's Reise ins Land der Massai.
327
Dann werden die Strähnen mit Maismehl geleimt, um sie
steif zu machen, mit einem großen Pinsel aus Qneken
gebürstet und auf den Wirkerstuhl gebracht, der dicht über
der Erde sich befindet, während der Arbeiter in einem Loche
sitzt. Ein tüchtiger Arbeiter kann täglich ein Stück gewöhn-
lichen Zeuges von 3 m Länge und 65 cm Breite liefern.
Die farbigen Gewebe erhalten ihre Vollendung bei den
Kaufleuten von Zanzibar oder Bombay. Beim Färben
wird viel Gelb verwendet, das man aus der Blüthe des
am Wcbi in großer Menge vorkommenden Saflor ge-
winnt.
An sonstigen Gewerben wäre noch das Zermahlen von
Sesamkörnern zu Oel und das Schmieden von Waffen,
wie Lanzen, Dolchen, Pfeilspitzen, sowie von groben Angel-
haken, Nadeln, Pfriemen u. f. w. zu nennen. Markt wird
in Mogduschu an drei Stellen gehalten, der hauptsächlichste
vor dem Fort, wo die Soldaten ihre Buden haben, und die
Bewohner beider Stadthülsten als an einem neutralen
Platze verkehren. Karawanen vom oberen Dschnb oder aus
dem Lande der Ugadin trifft man dagegen dort nicht; viel-
mehr begeben dieselben sich zu ihrem „Aban" (Beschützer).
Die Wadan, Jlbi und Dant besuchen vornehmlich den
Markt von Hamarwin, die Abgal und Mursude den von
Schingani, wo sich auch die Residenz ihres Häuptlings
Mahmud befindet. Vieh wird meist an den Strand beim
Fort getrieben. Außerdem findet in verschiedenen Straßen
beider Stadthälftcn täglich Verkauf von Fischen, in Wasser
gekochten Gemüsen, wie Bohnen, Akazienschotcn, Mais rc.
statt; dort verkaufen auch Beduinenweiber Stricke aus
Aloöfasern, eine eßbare Erde, die von schwangeren Frauen
sehr gesucht ist, und große Rüben, deren Saft, mitKamecls-
mist gemischt, zum Reinigen der Wäsche dient, ferner
Hühner und Gazellen. Der Verkauf von Fleisch wird nur
von Männern besorgt.
Thomson's Reise ins Land der Massai.
r
Um sich ohne viel Studium eine flüchtige Uebersicht
über die Erweiterung unseres Wissens von der Oberfläche
unseres Planeten zu verschaffen, giebt es wohl kein ein-
facheres Mittel als die Vergleichung der neuesten Karte
eines fremden Erdtheils mit einer älteren desselben Konti-
nents. Der geneigte Leser nehme z. B. eine Karte von
Afrika aus dem Jahre 1859 und eine solche aus dem Jahre
1884 zur Hand und lege beide neben einander; er wird
dann sehen, wie die weißen Stellen, die auf der erstgenann-
ten beinahe die ganze Oberfläche des dunklen Erdtheils
bedecken, auf der neuesten Karte mit Ausnahme einiger,
„besonders echt gefärbten" Stetten, fast ganz verschwunden
find. Im östlichen Afrika, wohin wir jetzt den Reisenden
begleiten wollen, dessen Name an der Spitze dieses Auf-
satzes steht, hat dies verhältnißmüßig lange gedauert; aller-
dings ist es bereits über dreißig Jahre her, daß man die
ersten Nachrichten von schneebedeckten Gipfeln im östlichen
Afrika erhielt, eine Wundermähr, über welche damals
Mancher den Kopf geschüttelt hat, doch erst seit den sieb-
ziger Jahren wurde gerade von der Ostküste, von Zanzibar
her, ziemlich häufig der Versuch gemacht, in das Innere
des Landes vorzudringen.
Wenn man die Leistungen nach dem Erfolge beurtheilen
will, steht unter den Entdeckern der Neuzeit Joseph Thomson,
wenn auch nicht an der Spitze, doch jedenfalls im ersten
Treffen. — Kaum sechsundzwanzig Jahre alt — er ist
1858 zu Thoruhill, Dumfriesshire, Schottland, geboren—,
ist er schon durch die Royal Geographical Society für zwei
wichtige Reisen im östlichen Afrika mit einer goldenen
Medaille geehrt worden und hat viel für die Erweiterung
unseres Wissens gethan. Thomson scheint — was ihm
bei seinen Unternehmungen sehr zu statten kam — in sel-
tenem Maße das Talent zu besitzen, mit den Eingeborenen
zu verkehren und ans verlotterten Strolchen tüchtige und
zuverlässige Arbeiter zu machen; daß eine der wichtigsten
Bedingungen für einen guten Erfolg eines solchen Unter-
nehmens die gute Organisation, die gute Ordnung der
Expedition ist, liegt zu deutlich auf der Hand, als daß wir
bei diesem Punkte verweilen sollten. Daß er aber seine
Leute nicht nur gut behandelte, sondern auch strenge Dis-
ciplin unter ihnen aufrecht hielt, ergiebt sich aus seinem
Buche; er brauchte hierzu nicht nur Worte, sondern, wie
er allerdings etwas schüchtern einräumt, anch den Stock
bei solchen Maßregeln zu nehmen. Vielleicht haben die
Erfahrungen seiner ersten Reise mit dazu beigetragen. Er
hatte da die Prügelstrafen für kleine Vergehen ganz ab-
schaffen und Geldstrafen an ihre Stelle fetzen wollen; um
sie diesem Vorschlage geneigt zu machen, erzählte er seinen
Leuten, daß nach europäischen Begriffen die Prügelstrafe
schmählich sei und die Menschen entwürdige. Die Sache
leuchtete jedoch den biederen Afrikanern durchaus nicht ein,
sie widersetzten sich der Neuerung ganz ernstlich und mein-
ten, an Prügel seien sie gewöhnt, Geldstrafen seien für sie
nicht annehmbar, erstere wären in einem Augenblick über-
standen und dann sei alles wieder in Ordnung; wenn sie
aber eine weite Reise machten und vielleicht viele Geld-
strafen zu zahlen hätten, würden sie am Ende bei ihrer
Rückkehr gar nichts empfangen; Thomson's Absicht möge
für Europäer ganz gut fein, sei es aber nicht für Afrikaner.
Im Jahre 1879 wurde Thomson als Geologe Keith
Johnston beigegeben, um ihn auf seiner Reise nach dem
Nyassasee zu begleiten. Nachdem der Führer der Expedi-
tion gestorben war, übernahm der junge Gelehrte den Ober-
befehl, und erreichte den Tanganyikasce, um dessen Südende
hin er den Heimweg antrat. Er kehrte nach Zanzibar zu-
rück, ohne nur einen einzigen Mann von seiner über 150
Leute zählenden Karawane verloren zu haben. . Daß das
Glück ihm günstig war, ist gewiß; ebenso gewiß aber ist
es, daß er dasselbe zu benutzen verstand; der Erfolg, den
er errungen hatte, erwarb ihm das volle Vertrauen der
geographischen Gesellschaft, die ihm trotz seiner Jugend im
Jahre 1882 die Leitung einer neuen, wichtigen und kost-
spieligen Forschungsreise auftrug. Seine Aufgabe war
folgendermaßen gestellt: er sollte den Versuch machen,
einen brauchbaren, direkten Weg für europäische Reisende
zu finden, der von der Ostküste Afrikas ausging und in
westlicher Richtung durch das Land der Massai zum Vic-
toria Nyanza führte. Eine specielle Untersuchung des
328
Thomson's Reise ins Land der Massai.
Keniagebirges war vorgeschrieben, ferner die Sammlung
aller zum Entwurf einer Karte nöthigen Materialien, end-
lich meteorologische, geologische, naturwissenschaftliche und
ethnologische Forschungen in den zu besuchenden Gegenden.
Wie er seinen Auftrag ausgeführt hat, werden wir weiter
unten im Einzelnen kennen lernen, für setzt wollen wir das
Resultat nur ganz im Allgemeinen besprechen. Ob Thom-
son den ersten Theil seines Auftrages erledigt hat oder nicht,
darüber ließe sich, wenn man Sophismen anwenden wollte,
streiten. Daß er ans dem vorgeschriebenen Wege das vor-
gesteckte Ziel erreicht und noch viel mehr Arbeit gethan
hat, als man erwarten konnte, ist eine Thatsache, die all-
gemein anerkannt wird und anerkannt werden muß, wie
die einfache Mittheilung der Vorgänge, die wir nachher
folgen lassen, ergeben wird. Zweifeln aber darf man, ob
der von ihm gefundene Weg ein brauchbarer und direkter
Handelsweg genannt werden kann. Thomson hat unter-
ganz besonderen Umständen und unter den größten An-
strengungen und Entbehrungen für sich und seine Leute
einen Weg durch das Land der Massai gefunden und zwar
ist er, wie es scheint, der erste Weiße, dem das geglückt ist.
Leichter gemacht ist allerdings für seine Nachfolger das
Vordringen in jene Gegenden, wenn sie nämlich es ebenso
wie er verstehen, sich mit den Eingeborenen auf guten
Fuß zu stellen; darum aber glauben zu wollen, daß er eine
brauchbare Handelsstraße eröffnet habe, hieße die Frage gar
zu optimistisch behandeln; von jeher haben die Karawanen
die Reise durch das Massailand für gefährlich gehalten;
kaum eine hat diesen Weg gemacht, ohne bedeutende Verluste
zu erleiden.
Auf seinem Wege sollte Thomson auch die Materialien
für eine Karte des durchwanderten Gebietes sammeln; der
Reisende, dessen frühere Arbeit in dieser Beziehung nicht
gerade gerühmt wird, scheint die Zeit, in welcher er sich
zwischen der ersten und zweiten Expedition (die aber unter-
brochen wurde durch eine Reise nach Zanzibar, welche er
im Aufträge des Sultans unternahm um, allerdings ver-
gebens, nach Kohlen zu suchen) gut ausgenutzt zu haben,
denn ans der letzten Reise hat er recht tüchtig gearbeitet.
Seine eigenen, natürlich mehr oder weniger flüchtigen Wege-
aufnahmen und die von den Eingeborenen empfangenen
Mittheilungen hat er brauchbarer zu machen verstanden,
indem er denselben durch astronomische Ortsbestimmungen
eine bessere Grundlage gab. Außer einer großen Anzahl
Höhen von Sonne und Sternen für Breitenbestimmung
und Korrektion des Uhrwerks, hat er auch einige Azimuth-
bestimmungen sowie absolute Längenbestimmungen gemacht.
Distanzen zwischen dem Monde und anderen Himmelskör-
- Peru wurden zu diesem Zwecke gemessen und auch Verfin-
sterungen der Jupitertrabanten beobachtet. Die Höhen-
bestimmnngen beruhen auf 123 Ablesungen der Aneroide,
37 Ablesungen des Quecksilberbarometers und 48 hypso-
metrischen Beobachtungen. Die Höhen der Himmelskörper-
würden mit einem sechszölligen Sextanten unter Benutzung
eines künstlichen Horizonts bestimmt.
Wir geben im Folgenden zunächst eine Uebersicht der
wichtigsten Vorgänge während der Reise. Am 13. De-
cember 1882 verließ Thomson England und kam über
Suez nach Zanzibar. Mit Rücksicht darauf, daß Dr.
Fischer kurz vorher nach derselben Gegend abgereist war,
wohin der Auftrag der Royal Geogr. Society ihn wies,
war die Organisation der Karawane besonders wichtig,
aber auch in Folge dieses Umstandes mit einigen Schwie-
rigkeiten verknüpft. Am meisten kommt es, wie man leicht
ermessen kann, auf die Wahl der Führer an; sagte doch der
Dolmetsch Ed. R. Flegel's diesem Reisenden aus der
Sokotoreise mit Recht: Lai kamar makaho tafia, wanan
ba naka ne ba, nawa (du bist wie ein Blinder, diese
Reise — der Ruhm derselben — ist nicht die deine, sie
ist die meine) und Flegel, der dies anführt, setzt hinzu:
So unverschämt das klingt, so wahr ist es; der Reisende
ist eben in jeder Art von den Führern abhängig. Einige
Veteranen der Reise Stanley's, ein alter Träger Thomson's,
Brahim oder Ali Nyombe (Ali der Stier), ihm von seiner
ersten Expedition her bekannt, und Msi Uledi, ein sehr er-
fahrener Händler, waren die Würdenträger, die unter seiner
Leitung an der Spitze der verschiedenen Verwaltungszweige
stehen sollten. In der elften Stunde noch entschloß sich Thom-
son, einen Malteser Matrosen, James Martin, in Dienst
zu nehmen. Wie so viele Europäer, welche die Gabe be-
sitzen, mit Eingeborenen gut umzugehen, hatte Thomson
auch darauf verzichten wollen, ein europäisches Zwischen-
glied zwischen sich und seine Träger einzufügen, schließlich
aber hatte er den Bitten Martin's nachgegeben, was er,
wie der Erfolg lehrte, nie zu bereuen hatte. Vielleicht
dankt er es seinem Adlatns, daß er lebend zurückgekommen
ist. Die Anwerbung von Trägern verursachte große
Schwierigkeit; Thomson entschloß sich, Leute von Zanzibar
zu nehmen, die an den Umgang mit Europäern und ihre
Art von Reisen sowie an Ordnung gewöhnt waren, aber
auch sowohl allgemein als individuell starke Schattenseiten
hatten, denn wie er selbst bekennt, hatte er sowohl in physischer
wie in moralischer Beziehung ziemlichen „Ausschuß" be-
kommen. Die geographische Gesellschaft hatte gewünscht,
daß Thomson mit einem Minimum von Leuten, wo möglich
unbewaffnet, den Zug unternehmen solle; man schien un-
willkürlich noch an die Zeiten gedacht zu haben, wo das Aus-
spannen eines Regenschirms besser als Flintenschüsse die
Eingeborenen in die Flucht trieb. Doch die Zeiten sind
vorbei und der Reisende entschloß sich, möglichst viele und
gut bewaffnete Leute mitzunehmen. Am 2. März konnte
die ganze Gesellschaft von Zanzibar nach Mombas abgehen,
wo noch der Dolmetsch Muhinna in Dienst genommen
wurde. Außer dem genannten Personal bestand die Kara-
wane noch ans der Soldatenabtheilung von 10 Mann
(Askari), die aus den zuverlässigsten Leuten zusammengesetzt
war, welche als Wächter, als Polizei, als Jäger und Bei-
stand der Anführer auftraten. Bei der ersten Expedition,
bei welcher sich keine Askaris befanden, hatte sich deren
Mangel dringend fühlbar gemacht und diesmal wäre die
Sache wohl nicht ohne sie gegangen. Unablässige Wach-
samkeit war nöthig, um das Weglaufen der Träger zu
verhüten und während der Nacht Wache zu halten; außer-
dem fiel den Askaris die erste Einrichtung des Lagers und
die erste Arbeit in demselben zu, was den ermüdeten Trä-
gern nicht zuznmuthen war.
Es interessirt vielleicht auch, die Vertheilung der mit-
geführten Waaren ans die Träger kennen zu lernen. 29
waren mit Perlen, 34 mit Eisen-, Messing- und Kupfer-
draht, 14 mit Tuch, 15 mit persönlichen Vorräthen, 9 mit
Kleidern, Stieseln, Büchern, 5 mit Munition, 6 mit
wissenschaftlichen Instrumenten und photographischen Appa-
raten, Zelten, Zeltgeräth und Kochgeschirr beladen; diesen
Leuten schlossen sich noch ein Gewehrträger, ein Eseljiznge,
Koch und Bedienter an. Da man in der ersten Zeit keine
Lebensmittel längs des Weges kaufen konnte, so mußten
besondere Träger für den Transport derselben angeworben
werden; man engagirte 30 Wateita-Leute, welche den Reis
in Säcken von nicht mehr als 40 Pfund an einem um die
Stirn befestigten Riemen ans dem Rücken trugen.
Am 15. März endlich kam die Karawane in Bewegung;
am dritten Tage schon hatte man die bewohnten Landstriche
Thomson's Reise ins Land der Massai.
329
hinter sich und am fünften Tage hörten die mit Gesträuch
bedeckten Terrainwellen auf. Gespensterhafte Dornsträucher,
knorrige verkümmerte Bäume erhoben sich aus dem grellen,
rothen, unfruchtbaren Sande; kein Tropfen Wasser außer
solches, was in Tümpeln von früheren Regengüssen übrig
geblieben war! Das ist die Wildniß, welche die Berge von
Teita umgiebt und sich von Usambara bis nach Ukambani
im Süden und den Ländern der Galla im Norden, von
Dnruma im Osten bis zum Kilima-Ndscharo im Westen
erstreckt. Am 6. Marschtage kam man wieder ins Gebirge
zu isolirten Bergen, die sich inselartig bis zur Höhe von
3000 bis 7000 Fuß erheben. Eine Besteigung des Ndara
(5050), ein Besuch bei Herrn Wray, der sich hier ans
dem äußersten Missionßposten befindet, mögen noch erwähnt
fein. Nach Uebersteigung der Hügelkette von Bura folgten
zwei weitere Märsche durch die Wüste und am 1. April
gelangte die Karawane ganz plötzlich ans dem trostlosen
Sande nach dem schattigen Taweta. Die „wonnige Er-
lösung", die man hier empfand, ist nicht zu beschreiben;
die Gegend ist eine Perle in den Tropen, ein Ideal, wie es
kaum schöner gedacht werden kann; neben der herrlichen
Natur kann man auch die menschliche Thätigkeit bewundern,
die durch die gute Bewässerung des Landes unterstützt wird;
über der Landschaft erhebt sich der schneebedeckte Gipfel des
Kilima - Ndscharo. Der Friede, der auf der Gegend ruht,
scheint seinen Einfluß auch auf die Bewohner geltend zu
machen. Kein Wunder, daß die nach Massailand bestimm-
ten Karawanen dies Arkadien zum Ruhepunktc wählen, um
sich zu erholen und ihre Ausrüstung zu ergänzen. Auch
Thomson's Expedition hatte hier manches zu thun; während
die Leute sich beschäftigten, Perlenschnüre zu machen und
Kriegsgewänder für die Massais zu verfertigen, wie es
der Geschmack dieses kriegerischen Stammes erfordert (die
Massais find nebenbei gesagt so verwöhnt, daß sie keine
Geschenke an Tuch, sondern nur fertige Kleider annehmen
wollen), machte Thonrson Ausflüge in der Umgegend.
Die Gegend um den Kilima-Ndscharo ist zu oft be-
schrieben, als daß wir uns hier näher mit derselben beschäf-
tigen sollten. Am 18. April erfolgte der Aufbruch;
Thomson beabsichtigte auf der Südseite um den Berg hin
zu ziehen und dann längs der Westseite desselben in das
Land der Massai einzudringen; schon nach sechs Tagen
befand man sich einer Abtheilung Krieger gegenüber; es
blieb nichts anderes über, als sich sorgfältig zu verbergen
und zwar in der Nähe des Häuptlings Mandara, mit dem
man auf ganz gutem Fuße stand, wenn auch die Freund-
schaft hinterher etwas sehr „theuer" wurde. Thomson
erstieg den Kilima-Ndscharo bis zu einer Höhe von 8777
Fuß; als er zurückkehrte, vernahm er zu seiner Beruhigung,
daß die Massai vorübergezogen und der Weg frei sei, woraus
er sofort aufbrach. Nachdem man vier Tagereisen in
diesem herrlichen Lande zurückgelegt hatte, kam man endlich,
westlich vom Kilima-Ndscharo, an eine, Kibonoto genannte,
Stelle, welche als Grenzposten der Massai betrachtet wird;
hier traf man ans die Spuren von Dr. Fischer's Karawane
und, was noch unangenehmer war, vernahm, daß hier ein
Kampf mit den Massai stattgefunden habe, wodurch das
ganze Land in Aufregung versetzt worden sei; die Lage war
nichts weniger als angenehm. Trotzdem rückte man weiter
vor und bis zum dritten Tage ging alles gut; gegen die
nöthigen Geschenke bewiesen sich die Massai ganz gutmüthig,
dann aber fingen Feindseligkeiten an, und der Rückzug
mußte angetreten werden, da für den nächsten Tag ein
Angriff durch eine überlegene Macht drohte. Nach einem
Nachtmarsche in der Nähe des feindlichen Lagers und an
demselben vorbei kam die Karawane endlich nach einigen
Globus XLVII. Nr. 21.
Tagen nach Taweta zurück. Hier blieb der größere Theil
der Kolonne zurück, Thomson selbst begab sich mit zehn
auserlesenen Leuten in Eilmärschen (6 Märsche ü 30 bis
40 Meilen, einmal beinahe,70 engl. Meilen in 24 Stun-
den!) nach der Küste, um dort neue Träger zu werben
und seine stark verminderten Vorräthe zu ergänzen. Als
er nach Taweta zurückkehrte, vernahm er, daß alles aufs
Beste ging; Mandara hatte möglichste Hilfe geleistet und
Martin mit seinen Leuten aufs Beste unterstützt; doch
was für die Weiterreise das Wichtigste war: eine große
Karawane war von Pangani eingetroffen. Jetzt war sie
auf dem Punkte, die Reise nach dem Massailande fortzusetzen
und Thomson mit seinen Leuten konnte sich ihr anschließen;
zu derselben Zeit erhielt der letztere auch die Beweise, daß
sein Dolmetsch Muhinna und der Führer Sadi ihn ver-
rathen hatten (Verdacht hatte er schon lange gehegt) und
noch anhaltend verriethen; wahrscheinlich waren sie dazu
vom Gouverneur von Mombas aufgestachelt worden. Doch
trotz alledem kam es zur Weiterreise, die östlich vom Kilima-
Ndscharo angetreten wurde; allerdings war dieser Weg,
alter Streitigkeiten wegen, lange nicht mehr betreten worden,
doch die vereinigte Mannschaft fühlte sich stark genug und
am 17. Juli stand man auf dem Gebiete der Massai, am
zweiten Tage wurde der Useri erreicht, der mit einigen
anderen Flüssen am Fuße des Kilima-Ndscharo entspringt.
Nach Norden zu steigt das Terrain an und cs erreicht in
der Nähe von Kimangelia als breiter, flacher Rücken eine
Höhe von 5000 Fuß; der Marsch wurde vielfach verzögert,
indem Lebensmittel herbeigeschafft und Kranke nach Taweta
zurück transportirt werden mußten.
Am 11. August brachen die vereinigten Karawanen
(Thomson zum vierten Male) nach dem Lande der Massai
auf; man vernahm bald die gute Nachricht, daß ein großer
Theil der Krieger nach der Küste gezogen sei, um dort Vieh
zu erbeuten; hierdurch wurde viel Gefahr und Verdrießlich-
keit vermieden, viele Ausgaben erspart. In den nächsten
Tagen führte der Weg durch die Ndschiri-Ebene, die etwa
1000 rn über dem Meere liegt, und die früher mit Wasser-
bedeckt gewesen ist. In der Mitte der Ebene erblickt man
keinen einzigen Grashalm, da der mit Salz durchtränkte
Sandboden jedes Wachsthum erstickt; hier und da sieht
man am Horizonte einen Wassertümpel und in dessen Nähe
einige zerstreute Bäume und kümmerliches Gebüsch; daneben
breiten sich weite, mit einer reinen weißen Kruste von Natron
und Salpeter bedeckte Strecken aus; die Quellen, die hier
entspringen, sind mit Salz geschwängert, das sie wieder ab-
setzen. Die weißen Flächen erscheinen dem Auge wie frisch
gefallener Schnee oder wie Seen mit spiegelblankem Wasser,
und wenn die Sonne ans sie scheint, gleichen sic glänzend
polirtem Silber; über der Landschaft hängt ein zauberischer
Nebel, der dieselbe halb verhüllt, während eigenthümliche
Luftspiegelungen Veranlassung zu seltsamen Täuschungen
geben, so daß man sich zuletzt in einem Traume zu befinden
glaubt. In dem Nebel erhebt sich die Masse des Kilima-
Ndscharo, die Pyramide des Meru, die Doppelspitze des
Ndapduk und die schwarzen Höhen des Doenje-Erok. Die
Wüste wird belebt durch eine Menge Wild; Giraffen,
Gnus, Zebras, Hyänen und Löwen finden sich dort und
man fragt sich erstaunt, wie die Thiere unter den dort
bestehenden Umständen leben können; übrigens kam der
Reichthum an Wild sehr gelegen, da die Karawane anfing,
Mangel an Lebensmitteln zu leiden. Bier Tage lang
dauerte der Zug durch diese Fläche, daun stieß män auf
Massai-Leute und nun entstanden erst recht Schwierigkeiten.
Thomson sagt darüber Folgendes: Es ist unmöglich, das
elende Leben zu beschreiben, welches wir unter diesen gcwissen-
42
RTJ
I
330
Thomson's Reise ins Land der Massai.
losen und anmaßenden Leuten führten; sie betrachten alle
anderen Stämme in Afrika als unter ihnen stehend; selbst
wir mit unserer großen Karawane waren gezwungen, uns
mit der Geduld und Unterwürfigkeit von Märtyrern jeder
erdenklichen Erniedrigung zu unterziehen. Die weitere
Beschreibung, die er von den herrschenden Verhältnissen
giebt, ist halb komisch, halb traurig und zeichnet in kräf-
tigen Zügen die Lage einer Karawane gegenüber einem
mächtigen Stamme; weiterhin hatte man noch eine Wüste zu
passiren, worauf man auf der sich daran anschließenden Hoch-
stäche in der Höhe von 6150Fuß Ngongo-a-Bagas erreichte.
Hier genoß die Karawane eine wohlverdiente, vierzehntägige
Ruhe.
Nachdem der Lebensmittelvorrath ergänzt war, wurde
die Reise fortgesetzt; aber die erste Nacht schon brachte
Abenteuer, bei denen zwei Träger und mehrere Wakikuju
getödtet wurden; die nächste Nacht war wo möglich noch
unruhiger; Löwen tödteten einige der Esel und die Leute
liefen in panischem Schrecken davon. Am zweiten Tage
erreichte man einen erloschenen Vulkan, Doenje-Longonot
oder Suswa, der sich bis zu einer Höhe von 9000 Fuß
erhebt; der Berg hat die Gestalt eines abgestumpften
Kegels, der Krater, der etwa zwei Meilen im Durchmesser
hat, ist viele hundert Meter tief, sein Rand ungemein
scharf. Die Aussicht von dem Berge ist wunderbar; im
Süden erhebt sich ans der großen Wüste ein zweiter Krater,
Doenje-la-Njuki, im Osten die Berge von Kapts und da-
hinter die Kette von Settima. Nördlich liegt der Naiwascha-
See, und bald war das Nordufer desselben erreicht, wo
man erfuhr, daß man nun schon zum zweiten Male Dr.
Fischer's Route kreuzte. Der Süßwasser-See liegt etwa in
der Höhe von 6000 Fuß, ist 9 Meilen lang und 5 breit; um
denselben zeigen sich die verhältnißmäßig frischen Spuren
vulkanischer Thätigkeit, worunter heiße Quellen, Nachdem
die Karawane zehn Tage lang von den Massai beinahe
ausgeplündert worden war, glückte es ihr, sich einen Weg
zu bahnen; dann entschloß sich Thomson, einen gefährlichen
Abstecher zu machen, um den Kenia zu sehen; mit dreißig
Mann begab er sich am 6. Oktober auf die Reise, während
Martin die Aufsicht über die mit der Karawane weiter-
ziehenden Träger hatte. Man stieg wieder zu 6400 Fuß Höhe
hinauf zu der hier Leikipia genannten Hochfläche, welche
mit Wakwafi, einem Stamme der Massai, dicht bevöl-
kert ist; hier kam man in eine ganz nordeuropäische Land-
schaft. Man erfuhr viele Schwierigkeiten, deren Größe sich
daraus ermessen läßt, daß der auf zehn Tage veranschlagte
Abstecher dreißig Tage dauerte; doch war die Sache der
Anstrengung werth; der Weg führte durch Coniferen-
Waldungen, über Heiden und zwischen Kalodendron hindurch,
über Hügel und dann wieder über baumlose aber gut
bewässerte Flächen, deren Wasserläufe sich in den geheimniß-
vollcn Guaso -Njiro ergießen. Einer Bergkette, die über-
schritten wurde, gab Thomson den Namen des Präsidenten
der Geographischen Gesellschaft, Lord Aberdare; die Höhe
derselben beträgt ungefähr 14000 Fuß; endlich als beinahe
alle Waaren weggegeben und die Leute durch die fortwäh-
rende Wachsamkeit ganz erschöpft waren, befand man sich
gegenüber dem gigantischen Kenia. Er erhebt sich als ein
kegelförmiger Berg, dessen Basis etwa dreißig Meilen
Durchmesser hat, ans einer mit Dornen bewachsenen 5700
Fuß hohen Ebene. Bis zur Höhe von 15000 Fuß sind
seine Abhänge ziemlich sanft; von da an hat der Berg
ungefähr die Form eines Zuckerhutes, der sich noch 3000
Fuß erhebt; die glänzenden Schnecstreifen, die an demselben
herablaufen, erhöhen die Ähnlichkeit; die Böschungen des
oberen Theiles sind so steil, daß der Schnee nicht liegen
bleiben kann. Thomson blieb nicht viel Zeit, sich am An-
blick des Berges zu erfreuen, die Massai wurden immer
zudringlicher, zu verschenken hatte er nichts mehr als einige
falsche Zähne und etwas Brausepulver, beides Artikel, die
keine besondere Anziehungskraft bewährten, aber noch ärger
war der Mangel an Nahrung, da eine Viehseuche die
Herden der Massai heimgesucht hatte, so daß, wie Thomson
sagt, um weiter vordringen zu können, man sich die Nase
zuhalten mußte. Es blieb nichts anderes übrig, als die
Reise so schnell wie möglich fortzusetzen, wobei dafür gesorgt
wurde, seine Spur nicht zu verrathen; nach einem vierund-
zwanzigstündigen Gewaltmärsche war man außer dem Be-
reich der Feinde, befand sich jedoch in einer sonderbaren
Lage: man wünschte den Baringo-See zu erreichest, wußte
jedoch nicht, in welcher Richtung er lag. Aber das Glück
war den Reisenden hold; am sechsten Tage lag der
Baringo-See zu ihren Füßen, einige tausend Fuß niedriger
als ihr Standpunkt. Das ganze Bild war herrlich; von
der Leikipia-Hochebene übersieht man das Land bis zum
Naiwascha-See; im Westen erhebt sich die schmale, steile
Kette von Kamasia, im Rücken der Elgejo, dessen Schatten
über die baumlose Ebene des Flusses Guas'-Ngischu fällt;
im Norden endlich wird das Bild abgeschlossen durch den
Doenje - Silali und die hohe Kette der Snk-Berge. Am
folgenden Tage erreichte Thomson die Karawane und traf
sofort seine Maßregeln zur Reise nach Kawirondo am
Victoria-See, einer, wie es schien, gefährlichen Unterneh-
mung ; hatte doch die letzte Expedition, welche dort eindrang,
Uber hundert Mann verloren, beinahe mehr, als die Zahl
der Leute betrug, über welche Thomson verfügen konnte.
Am 16. November brach er, unter Zurücklassung der
Kranken, in beinahe westlicher Richtung aus. Zunächst
überstieg die Karawane die Kamasia-Berge und klomm
dann die Abhänge des Elgejo bis zu einer Höhe von 7750
Fuß hinauf, worauf sie auf die baumlose, ausgedehnte
Fläche von Guas'-Ngischu kam; im N. W. sah man einen
hohen Berg, Donjo-Lekakisera, der zeitweise mit Schnee
bedeckt sein soll; die Bewohner, wiewohl den Massai ver-
wandt, unterscheiden sich von ihnen dadurch, daß sie feste
Niederlassungen besitzen und Ackerbau treiben. Endlich nach
fünf Tagen erreichte man Kawirondo, wo man sich erholen
konnte. Die Bewohner waren, wiewohl gefährlich im Rausch
und in der Aufregung, sonst recht gute, sanfte Menschen.
Das Land erstreckt sich bis ans 40 Meilen vom Nil; am
10. December endlich trank Thomson das Wasser des
Victoria-Nyanza, etwa 45 Meilen von der Stelle, wo der
Nil austritt. Eine Ausnahme unter bcu afrikanischen
Binnenseen, ist dieser See nicht von Bergen eingeschlossen,
sondern hat ein niedriges, zum Theil sumpfiges Ufer,
welches sich allmählich erhebt. Auf dem Wege, einen Vor-
stoß nach dem Nil zu machen, erkrankte der Reisende und
das Glück, welches ihm so lange treu geblieben war, schien
ihn verlassen zu wollen; als er nun Weihnachten sich etwas
besser fühlte, entschloß er sich, den Rückweg über den Berg
Elgon und den Baringo-See anzutreten. Zu bemerken
sind am Elgon die künstlichen Höhlen; sie sind außer-
gewöhnlich zahlreich und geräumig; im vulkanischen Gestein
eingeschnitten, liegen sie alle in einer Ebene in der Nähe
der Basis des Berges und viele von ihnen werden von
einer zahlreichen Bevölkerung mit ihren Herden bewohnt.
Uebrigens war dies nicht ihre ursprüngliche Bestimmung;
es scheint, als ob sic dem Bergbau gedient hätten, doch
das Wann und Wie und Wem bleibt unbeantwortet. Eine
Begegnung mit einem wilden Stier am Sylvesterabcnd
machte es Thomson einige Wochen unmöglich zu marschiren,
dann aber untersuchte er das Land um den Baringo-See
Das Feuerland und seine Bewohner.
331
und veranstaltete eine Elefantenjagd. Auf dem Rückwege
nach der Küste war man kaum wieder in das Massailand
eingetreten, als auch die Dysenterie bei ihm zum Ausbruch
kam; ganz erschöpft und beinahe sterbend langte er am
Naiwascha-See an; es war unmöglich, die Reise fortzusetzen;
Ruhe war aber auch das einzige, was er sich auf kurze
Zeit bieten konnte; die Vorräthe mit Ausnahme von Thee
waren ganz erschöpft, selbst Salz war nicht mehr vorhan-
den. Auch die Vorräthe der Leute waren aufgezehrt, so
daß die höchste Noth bald zur Fortsetzung der Reise zwang.
Schon in Ngongo-a-Bagas befand sich Thomson besser,
wiewohl er immer noch sich tragen lassen mußte; doch es
hieß vorwärts, vorwärts, denn'das Gespenst der Hungersnoth
begleitete die Karawane noch immer; die Leute waren ganz wie
verwandelt; sie hielten aus und strengten sich aufs Aeußerste
an. Unverdrossen setzten sie den Weg vom Morgen bis
zum Abend fort, häufig mit weniger als der halben Ration.
So überschritt die Expedition die unfruchtbare Ebene von
Kikumbulin und verrichtete Kraftstücke im Marfchiren, wie
solche wohl nie vorher von einer so starken Karawane
geleistet worden sind. Am 26. Mai lagerte man wieder
am Fuße des Ndara und am 2. Juni hatte man die Wild-
niß hinter sich und begrüßte die Freunde in den Missions-
niederlassungen zu Rabai.
Dies ist in allgemeinen Zügen die Geschichte der Reise
Thomson's, wie er sie vor Kurzem in einem größeren Werke
erzählt hat; natürlich konnten wir nur auf die Hauptsachen
eingehen, werden jedoch in einem zweiten Artikel einige
Einzelheiten folgen lassen. Eine deutsche Uebersetzung
unter dem Titel: „Durch Massai-Land. Forschungs-
reise in Ostafrika zu den Schneebergcn und wilden Stämmen
zwischen dem Kilima-Ndscharo und Viktoria-Njansa in den
Jahren 1883 und 1884. Von Joseph Thomson."
ist soeben bei F. A. Brockhaus in Leipzig erschienen.
Durch zwei Karten und eine Anzahl Illustrationen erläu-
tert, liefert dasselbe einen schönen Beitrag zur Litteratur
der Reisen und Entdeckungen. Ueber die Ausstattung ein
Wort beizufügen, scheint mit Rücksicht auf den Namen des
Verlegers überflüssig, jedoch möchten wir besonders darauf
aufmerksam machen, daß die Uebersetzung W. von Freden's
sich leicht und fließend liest.
Das Feuerland un
Ch. N. Die argentinische Regierung hat jetzt auf die
im letzten Congreß erhobenen Reklamationen hin die Ober-
hoheit der Republik über das Feuer land durch die Ein-
setzung einer Unterpräfektur dokumeutirt. Einem Be-
richte des Superintendenten der englischen Missionsstation
Ooshooia, F. Bridge, der dieses Territorium seit 15
Jahren bewohnt, entnehmen wir folgende Daten:
Im Fenerlande herrscht eine große Verschiedenheit be-
treffs Klima, Pflanzenwnchses, animalischen Lebens und
der Bevölkerung. Der westliche Theil hat ein bemerkens-
werth mildes, feuchtes und stürmisches Klima. Der Boden
ist felsig und bergig, daher werthlos, und nirgends findet
man einen trockenen Ort. In einigen Strichen regnet es
fortwährend, doch trifft man an geschützten Plätzen dieses
Distriktes sehr üppigen Pflanzenwuchs an. Die Fuchsia
gedeiht prachtvoll, ebenso die herrliche luxifolia. Hier ist
auch der Wald ausschließlich zusammengesetzt aus der
immergrünen Buche, der Wintersrinde, der Feuerland-
cypresse, dem Leñaduragebüsche, Berberitzen, Stechpalmen und
Johannisbeeren. Gras kommt nur sparsam an den Ufern
vor. Die einzigen Landthiere sind Mäuse, eine große Art
Ctenomys und vielleicht Füchse. Schalthiere vom feinsten
Geschmacke kommen im Ueberflusse vor. In diesem Landes-
theile ist der Himmel beinahe immer bewölkt, die Sonne
kommt selten zum Vorschein und Frost ist sozusagen un-
bekannt. Von der Bevölkerung weiß man sehr wenig.
Es mögen verschiedene Stämme existiren, aber in dem süd-
östlichen Theile dieses Distriktes herrscht der Alacnloof-
stamm vor. Wir haben etwa 1000 Wörter von seiner
Sprache aufgezeichnet, die höchst schwierig auszusprechen
.sind. Wie weit dieser Stamm verbreitet ist (Fitzroy nennt
ihn Alakoolip), wissen wir nicht. Unserer Schätzung
nach beläuft sich die Zahl dieser Indianer auf ungefähr
1000 Seelen. Ihre Sprache ist von derjenigen der Wna-
nnd Paghanftämme gänzlich verschieden. Die Alaculoofs
besitzen Kanoes aus Holz, die sie größer und stärker als
andere Indianer machen, um die Jagd auf Seehunde nach
d seine Bewohner.
entfernteren Klippen auszudehnen. Sie sind eine kräftige
und entschlossene Rasse und bedienen sich der Bogen und
Speere.
Der zweite Distrikt ist weder so feucht als die westliche,
noch so trocken als die östliche Küste. Hier besteht die
Krume des platten Landes hauptsächlich ans Lehm oder
Sand und ist gut mit Gras bewachsen. Die Abhänge
der Berge sind dicht bewaldet; der Untergrund ist felsig.
Die Wälder bestehen vorzugsweise aus der blattwechselnden
Buche und das schöne Immergrün, die Wintersrinde und
die Levadura fehlen ganz. Die Philesia und Fuchsia sind
unbekannt, ebenso die Cypressen. Die immergrüne Buche
tritt seltener auf. Man trifft das Guanaco, den Fuchs,
sowie verschiedene Arten von Mäusen an, und die Einge-
borenen sind Kanoeindianer, die Uahgans genannt
werden.
Diesen Stamm kennen wir sehr genau, da wir mit
ihm seit 1858 gelebt haben. In jenem Jahre wurden
mehrere Familien zum Unterricht von der Bnttoninsel in
Ccntralfenerland nach der Keppelinsel in der Falklands-
gruppe gebracht, wo die südamerikanische Missionsgcscll-
schast ihre erste Station einrichtete. In wenig Jahren
wurde jene schwierige Sprache erlernt, genau geschrieben
und ihre Struktur in einer Grammatik niedergelegt. Diese
Arbeiten existiren einstweilen aber bloß in Mannskriptform.
Neuerdings haben wir drei Bücher des Neuen Testaments
übersetzt, wovon zwei unter der Presse sind. Das Pahgan
besitzt wenigstens 30 000 Wörter und einen sehr regel-
mäßigen und interessanten Redebau. Es ist verbindend
und biegsam, reich an einer Anzahl von Tönen und hat
durchaus nichts Hartes. Die meisten Silben bestehen aus
einem Vokal oder einem Konsonanten und einem Vokal.
Die Nahgans sind, ihrem Aussehen und ihrer Lebens-
weise nach, den Alaculoofs sehr ähnlich; als Waffen haben
sie Speere, Schleudern und Keulen und ihre Nahrung, wie
die ihrer westlichen Nachbarn, besteht hauptsächlich aus
Schalthieren und Fischen; aber sie wird häufig durch Vögel,
42*
332
Das Feuerland und seine Bewohner.
Seehunde, Ottern, Meerschweine, Walfische, Eier und eine
große Zahl verschiedener Baumschwämme und Beeren,
sowie einige Wurzeln und Löwenzahn (taraxacum) be-
reichert.
In diesem Centraldistrikt — er schließt beide Ufer des
Beaglekanals, von der Moatbai bis zur Boundarybai, ein,
ferner beide Ufer des Ponsonbysunds, dann die Packseadle-
insel, die ganze Navarininsel und die A§ollastoneinsel —
herrscht während vier Monaten ein scharfer Frost. Die
niedrigste Temperatur, die beobachtet wurde, ist —12° d.
Der Regenfall ist reichlich, aber nicht übermäßig; große
Flüchen Landes sind mit ausgezeichnetem Grase bedeckt.
Ileberall sind die Anhöhen mit Wald bewachsen, der ans
zwei Arten der das Laub erneuernden Buche und der selte-
ner auftretenden immergrünen Buche besteht, welch letztere
indessen vollständig auswächst und in großen Exemplaren
angetroffen wird.
Der dritte Distrikt ist unstreitig patagonisch, in Klima,
Pflanzenwuchs und thierischem Leben. Die Eingeborenen
sind auch wirkliche Patagonier, wie es ihre Sprache un-
zweifelhaft beweist. Dieser Stamm wird Wua genannt
und nach ihm nennen die Nahgans den Beaglekanal „Wu'-
ashaga", d. h. den Wuakanal; die Hauptinsel wird „Wn'-
isin" genannt, d. h. Wualand, und die Küste vom Kap
Good Succeß bis zur Brecknockhalbinsel nennen sie ,Wu'-
iyoosha", d. h. Wuaküste.
Die Zahl der Wuas mag vielleicht 800 Seelen betra-
gen; sie sind eine feine athletische Rasse. Ihre Waffen
sind Pfeil und Bogen, auch Schleuder und Speere. Sie
ernähren sich reichlich mit Guanacos, Ctenomys, Ratten,
Füchsen, Seehunden, Ottern und Fischen. Ihr Land ist
so gut, als das der besten Theile Patagoniens. Das Klima
ist verhältnißmäßig trocken und die Gegend meistens un-
bewaldet; in einigen Theilen findet sich nicht einmal ein
Gebüsch vor, so daß das einzige Brennmaterial Guanaco-
mist und trockenes Gras ist. Von den Wuas wissen wir
wenig, aber wir sind sicher, daß man sich von dieser Nation
etwas versprechen darf.
Die östlichen Nahgans haben von den Wuas einige
Worte entlehnt, die westlichen Nahgans noch mehr von den
Alacnloof. Aus den Namen der Plätze erhellt vollkommen,
wo die verschiedenen Stämme sich abgrenzen, und es kann
ferner aus den geographischen Benennungen der sichere
Schluß gezogen werden, daß die gegenwärtigen Bewohner
die einzigen Besitznehmer des Landes gewesen sind, da keine
Spur von einer anderen Sprache in den Benennungen der
verschiedenen Plätze oder Punkte wahrzunehmen ist. Auf
der anderen Seite weisen die mächtigen Haufen von Küchen-
abfall ans den langen Aufenthalt einer zahlreichen Bevöl-
kerung hin. Es ist eine sichere Thatsache, daß die Ein-
geborncn gegen früher bedeutend abgenommen haben; in
den letzten dreißig Jahren ohne den mindesten Zweifel um
zwei Drittel! Eine im Juni 1884 vorgenommene Zäh-
lung der Nahgans ergicbt 273 Männer, 314 Weiber und
358 Erwachsene (d. h. Jünglinge und Jungfrauen). Neh-
men wir 55, namentlich Kinder, als bei der Zählung über-
sehen an, so irren wir nicht, wenn wir sagen, daß der
Nahganstamm 1000 Seelen stark ist. Die Nahgans essen
kein rohes Fleisch, weder Geflügel noch Fische, sondern
kochen all ihr Fleisch auf dein Feuer. Den Kannibalis-
mus verabscheuen sie und haben ihn immer verabscheut;
ebenso die Blutschande, die gar nicht vorkonimt, ungeachtet
der Herrschaft jeder anderen Sittenlosigkeit. Die Bigamie
war des damit verbundenen großen Vortheils wegen sehr
im Schwünge. Die Heirath war ebenso gut als alle an-
deren Verwandtschaftsgrade anerkannt, für welch alle sie
ihre bestimmten Ausdrücke haben. Gewöhnlich beerdigten
sie ihre Todten, aber häufig verbrannten sie dieselben. Die
Trauer wurde streng beobachtet; ihre äußeren Zeichen waren
ein knapp abgestutzter Pfahl und das mit Kohle geschwärzte
Gesicht. Weiß war die in Flecken und Streifen ansgetra-
gene Farbe der Rache für Mord und Roth war das Em-
blem der Freundschaft und Freude. Die Pflichten der
Rache wurden streng durchgeführt. Die Theilung der
Arbeit war billig und vernünftig, und die Weiber wurden
in keiner Weise unterdrückt, sondern führten ein behaglicheres
und glücklicheres Leben als die Männer, und erreichten wie
überall ein größeres Alter. Alte und hoffnungslos kranke
Personen wurden selten vor ihrem wirklichen natürlichen
Ende beseitigt; wenn alles Gefühl von Sprache, Gesicht
und Bewegung verloren war, dann, wenn der Fall ein lang
dauernder war, wurde die sterbende Person erdrosselt und
so ihr Ende für sic und ihre Angehörigen ans barmherzige
Weise beschleunigt. Was die Religion anbelangt, so können
wir sagen, daß sie keine hatten. Sie hatten keine Vorstel-
lung von einer zukünftigen guten oder schlechten Existenz,
noch von dem Vorhandensein eines Geistes im Menschen,
der den Körper überlebt; durch keine gottesdienstliche Hand-
lung gaben sie zu erkennen, daß der Begriff von einem
höheren Wesen, sei es gut oder böse, in ihnen aufgestiegen
war. Sie hatten keine Kenntniß von der Vergangenheit,
da sie keine Hoffnung auf die Zukunft hatten. Ihr kleines
Land war ihnen die Welt, deren Rest eine völlige Oede
war. In ihrer eigenen Schätzung waren sie stärker und
weiser als die Bleichgesichter. Die Bezeichnung, die sie
für Fremde gebrauchen, ist „Patalsala", was die „Ge-
schickten" oder das „unverständliche Volk" besagen will, ein
Ausdruck, der sich auf die Geheimnisse unserer mechanischen
Arbeiten jeder Art bezieht.
Obwohl die Nahgans keine Religion hatten, so hatten
sie doch manchen Aberglauben. Sie glaubten an Geister,
welche die Form von Menschen, aber nicht deren Wesen
hatten. Diese lebten, wie sie sich einbildeten, in Höhlen
in den Wäldern und haßten und tödteten ihrer Meinung
nach jeden, der ihnen zu nahe kam. Sie nannten dieselben
„Cashpick", ein Name, den sie auch Leuten gaben, die
lächerlich waren oder einen schlimmen Charakter hatten,
und war dies eine große Schmähung. Sie glaubten ferner
an das Vorhandensein von Wahnsinnigen in den Wäldern,
welchen sie überirdische Kräfte und die größte Feindschaft
gegen das menschliche Geschlecht zuschrieben. Vor diesen
hegten sie eine sehr große Furcht und nie wagten sie sich
allein auf große Entfernungen in die Wälder. Sie stellten
auch halb dramatische, halb religiöse Verkörperungen ver-
schiedener schlimmer Mächte dar; diese Aufführungen aber,
die für sie eine Quelle von Aufregung und Vergnügen
waren, fanden nur statt, wenn eine große Zahl von ihnen
versammelt war. Die Verkleidung der Vorsteller ging in
besonderen Baulichkeiten vor sich, welchen sich die Weiber
und Kinder nicht nähern dursten, und rúan erwartete von
ihnen, daß sie eine große Furcht vor jenen Dingen an den
Tag legen würden, welche der Dämon vor ihnen aufführte,
indem er sie mit allen möglichen Arten von Gewaltthätig-
keiten bedrohte. Beinahe jeder ältere Mann war ein Zau-
berer, und diese machten sich den Kopf jeden Morgen mit
Kreide weiß und stimmten viele und lange Zaubcrgesänge
an, wenn sinnloses itnb einförmiges Geräusch und andauern-
des Hin- und Herwiegen des Körpers so genannt werden
kann. Die Zauberer besaßen, wie man glaubte, eine un-
beschränkte Zauberkraft, waren deshalb sehr gefürchtet und
übten über andere Gewalt aus, was allen Menschen so
begehrlich erscheint. — Die Weiber wurden zur Heirath
Das Feuerland und seine Bewohner.
333
gegeben, in vielen Füllen auch nach einer gewissen Regel
verkauft. Die Bezahlung geschah in Arbeit oder Geschen-
ken von Fellen rc. Die beanspruchte Leistung stand im
Verhältniß zur Bedeutung der Parteien. War der Schwie-
gersohn stark und die Verwandtschaft des Weibes schwach,
so gab er wenig oder nichts; und viel, wenn es sich um-
gekehrt verhielt. Die einzige Regel war die Convenienz
oder die Uebereinstimmung der Interessen.
Unter den Nahgans war Laster jeder Art, der Übeln
Folgen wegen, verdammt, und die Tugend, ihrer guten
Resultate wegen, empfohlen. Indeß, obgleich Sünde jeder
Art verpönt war, weil sie Schaden brachte, so wurde sie
doch von allen entschuldigt, weil sie sich angenehmer dabei
befanden. So ist eben in jedem Lande Theorie besser, als
Praxis, und das Ideal des Lebens steht über der Wirk-
lichkeit.
Die Hochzeitscercmonie war ganz unbedeutend; da war
kein Vertrag, keine Versammlung von Freunden, kein Fest,
sondern man bemalte einfach das Gesicht der Braut und
schickte sie ihrem künftigen Gemahl in dem besten Aufzuge,
den man sich gestatten konnte. Das eheliche Band war
schwach, bis es durch Kinder gestärkt wurde, und im Gan-
zen fehlte ihm ebenso sehr das Glück als die Festigkeit.
Im Jahre 1868, nachdem uns eine lange Erfahrung
von der Unnützlichkeit der vorherigen Missionsstationen
Wulia und Lima überzeugt hatte, entschlossen wir uns,
nach Ooshooia überzusiedeln. Unser Superintendent, der
Rev. W. Stirling, machte sich muthig allein ans Werk.
Während sechs Monaten lebte er mit den Eingeborenen,
nicht ohne Gefahr für sein Leben und Eigenthum. Er
brachte sie dazu, sich mit nothwendigen und nützlichen Ar-
beiten zu beschäftigen, und unter seiner Anleitung machten
sie entschiedene Fortschritte, wie mir ihre Schreibbücher
bezeugten. Mit zwei Katechisten übernahm ich das Werk
im Jahre 1871, und schlugen wir unsere Residenz in Häu-
sern aus, die wir selbst errichteten. Seitdem sind die Ein-
geborenen täglich in nützlichen Kenntnissen und in Künsten
des civilisirten Lebens unterrichtet worden. Sie sind Vieh-
züchter, bebauen den Boden und befolgen willig die Gebote
eines christlichen Lebens. Mit keiner anderen Gewalt, als
derjenigen der moralischen Ueberredung und der Gewöh-
nung an Arbeit, ist es uns möglich gewesen, diese 13 Jahre
in vollkommener Sicherheit unter ihnen zu leben, obwohl zu
Zeiten drei- bis vierhundert Personen zugleich in Ooshooia
gewesen sind, und es das Jahr hindurch von einigen
siebenhundert verschiedenen Personen besucht wird. Alle
Besucher legen von der großen, im Charakter der Einge-
borenen stattgefnndenen Besserung Zeugniß ab; überall in
Südfeuerland verstehen sie jetzt viel Englisch, sind ganz ver-
trauenswürdig, auch im Staude, in irgend einer Weise den
Besuchern Dienste zu leisten, und thun es für eine kleine
Entschädigung sehr gern. Sie sind jämmerlich arm und
ohne die südamerikanische Mission würden sie ganz nackt
gehen. In den letzten Jahren haben Amerikaner und
andere Robbenfängcr die Seehunde vertilgt, auf welche
dieses arme Volk für Nahrung und Kleidung angewiesen
war. Sie erbeuten jetzt nicht 3 Proc. von den Seehunds-
fellen, die sie sich vor 18 Jahren verschaffen konnten.
Im Jahre 1863 machte ich mit Mr. Stirling meinen
ersten Besuch im Feuerland, nachdem ich während der zwei
vorhergehenden Jahre die Sprache erlernt hatte. Als die
erstaunten Eingeborenen mich geläufig zu ihnen in ihrer
eigenen Sprache sprechen hörten, waren sie sehr erfreut
und sprachen von mir als einem „Pamanoowa", ein Aus-
druck, mit dem sie sich selbst bezeichnen.
Die Eingeborenen (Daghaus) schätzen das Missions-
werk sehr hoch; ihre Ideen sind ganz andere geworden, und
Zauberei, Unwissenheit und viele Uebel sind verschwunden,
deren eines der Kindesmord war. Ihr Fortschritt, obwohl
langsam, ist sicher, und in ihrem körperlichen Aussehen
kann, Dank der Gewöhnung an thätiges Leben, regelmä-
ßiger Nahrung und bequemer Wohnungen, eine ungemein
günstige Aenderung nachgewiesen werden. Wir haben mit
Erfolg Rindvieh eingeführt, das so gut wie irgendwo ge-
diehen ist und uns in den letzten acht Jahren Milch und
Fleisch im Ueberfluß gegeben hat. Wir haben jetzt an
drei verschiedenen Orten einen Viehstand von über 200
Köpfen, und einige fünfzehn Eingeborene besitzen eigenes
Vieh, im Durchschnitt 7 Stück jeder. Sie machen Butter,
verkaufen Milch, ziehen Kartoffeln, Rüben und andere
Gemüse, und verwenden einheimische Arbeitskräfte, welche
sie in Nahrung und verschiedenen anderen Artikeln bezah-
len. Sie kennen den Werth des Geldes sehr gut und
wissen die Zeit zu berechnen. Ein unwirthliches Klima
indessen lastet auf dieser Thätigkeit und verringert deren
Früchte in einem sehr entmnthigenden Grade, so daß wir
nie sicher sind, selbst eine mittelmäßige Ernte zu haben.
Was Körnerfrüchte anbelangt, so ist es unmöglich, sie zur
Reife zu bringen. Weideplätze, die sich gut für Schafe
oder Rindvieh eignen, sind in einigen Distrikten im Ueber-
fluß vorhanden. Schafe haben wir nicht eingeführt, weil
es der eingeborenen Hunde und der großen Ausdehnung
der Wälder wegen zu schwierig wäre, sie zu halten. Die
Eingeborenen haben einiges Vieh und Ziegen getödtet und
stehlen Früchte von den Feldern; man muß sich aber über
die geringe Ausdehnung ihrer Diebstähle wundern, wenn
man den Zustand von halber Hungersnoth, in dem sie
leben, in Betracht zieht. Und doch schweift unser Vieh
ohne alle Aufsicht weit herum und wird bloß gelegentlich
hereingetrieben. Was sie zurückhält, ist mein öffentlicher
Tadel in der Schule. Bis jetzt kennt man Trunkenheit in
Südfeuerland (Aaghaland) nicht, und mit guter Hoffnung
kann die Zukunft dieser Stämme ins Auge gefaßt werden,,
die durch das zeitige Eingreifen unserer christlichen Mission
glücklich darauf vorbereitet sind, von der Berührung mit
der Außenwelt Vortheil zu ziehen. Durch ihre Verstän-
digkeit und gute Ausführung haben sie ein Anrecht auf die
beste Unterstützung der civilisirten und einsichtigen Regie-
rung, die ihr Land als einen Theil seines Territoriums in
Anspruch nimmt.
Am 10. Oktober wurden zwei vorzügliche Strandlichter
aufgestellt, das eine auf unserer Station, das andere ans
der Präfektur (durch Oberst Lasserre im Oktober erbaut).
Beide sind ausgezeichnete Führer zu unserem Hafen und
werden deutlich einige Meilen weit von der See aus
gesehen.
334
Dr. Wilhelm Breitenbach: Italienische Kolonisation in Rio Grande do Sul.
Italienische Kolonisation in Rio Grande do Sul.
Von Dr. Wilhelm Breitenbach.
Die blühenden deutschen Kolonien in der Provinz Rio
Grande do Sul haben in der jüngsten Zeit in Deutschland
mehr und mehr die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich
gezogen. Nach langjährigen, zum Theil recht harten Kämpfen
von Seiten der Freunde und Kenner Süd-Brasiliens bricht
sich endlich die Erkenntniß Bahn, daß hier, im Süden des
großen südamerikanischen Kaiserreiches, in den Provinzen
Rio Grande do Sul und Santa Catharina, ein sehr geeig-
netes Feld für deutsche Ackerban-Kolonien ist, vielleicht das
beste, welches es giebt. Nachdem man erkannt hat, daß es
nicht mehr rathsam ist, die große Masse unserer Aus-
wanderer nach Nordamerika gehen zu lassen, da sie dort
dem Vaterlande und der heimischen Industrie national und
wirthschaftlich in kürzester Zeit verloren gehen, ja wohl
selbst Konkurrenten der deutschen Industrie werden, seit
dieser Zeit ist die Propaganda für Süd-Brasilien lebhafter
denn jemals geworden. Hier bewahren die ausgewanderten
Landsleute ihr Deutschthum reiner und treuer wie irgendwo
auf der Welt, auch gehen sie uns nicht wirthschaftlich ver-
loren, sondern bleiben Käufer unserer Jndustrieprodukte.
Von Jahr zu Jahr kaun man eine Steigerung des deutschen
Exportes nach Süd-Brasilien wahrnehmen. Fast der ganze
Großhandel der Provinz Rio Grande do Sul ist in deut-
schen Händen. Englische, französische und nordamerikanische
Waaren sind mehr und mehr durch deutsche ersetzt worden.
Der deutsche Export nach Rio Grande do Sul mag sich
schon jetzt auf etwa 30 Millionen Mark belaufen. Die
zahlreichen deutschen Kolonien sind zum großen Theile in
blühendem Zustande und tragen alle Vorbedingungen zu
einer gedeihlichen Weiterentwickelung in sich.
Gerade in den letzten Jahren und ganz kürzlich sind
einige Specialwerke über Rio Grande do Sul und seine
deutschen Kolonien erschienen, so von Dr. Henry Lange,
Dr. H. v. Jhering und mir; außerdem sind kürzere Ab-
handlungen und Notizen in verschiedenen Zeitschriften
publicirt worden, namentlich im „Export", dem Organ des
„Centralvereius für Handelsgeographie und Förderung
deutscher Interessen im Auslande zu Berlin". Hierdurch
sind die Verhältnisse der deutschen Kolonisation in Rio
Grande do Sul auch in weiteren Kreisen bekannt geworden,
und wenn man heute von jener Provinz spricht, so denkt
man in erster Linie eben an die daselbst befindlichen deut-
schen Kolonien. Viel weniger bekannt, ja den meisten
wohl kaum dem Namen nach, sind die schnell empor-
blühenden italienischen Kolonien in Rio Grande do Sul,
die gewissermaßen als Konkurrenten der deutschen aufgefaßt
werden müssen. Es mag daher am Platze sein, gerade
jetzt, wo so viel über die deutsche Kolonisation in Rio
Grande do Sul gesprochen wird, auch einmal die italienische
mit kurzen Worten zu beleuchten.
Ueber diese italienischen Kolonien liegt uns ein authen-
tischer Bericht des italienischen Konsuls iu Porto Alegre,
des Herrn Dr. Pascale Corte, vor, der im vergangenen
Jahre genaue statistische Erhebungen angestellt hat. Dr. Corte
gilt als die erste italienische Autorität in Auswanderungs-
fragen, ''und daß die italienische Regierung einen solchen
Mann gerade nach Süd-Brasilien gesandt hat, scheint
deutlich genug zu sagen, welchen Werth sie auf die Koloni-
sation daselbst legt. Dies geht auch noch daraus hervor,
daß die Regierung im Februar des verflossenen Jahres die
Provinz Santa Catharina durch ihren Generalkonsul Conte
da Gloria bereisen ließ, augenscheinlich, um sich nach für
eine italienische Ansiedelung geeigneten Ländereien umzu-
sehen.
Die italienische Einwanderung in Rio Grande do Sul
begann im Jahre 1875 mit der Gründung der Kolonien
Caxias, Conde d'Eu und Donna Isabel, zu denen dann
später die Kolonie Silveira Martins hinzukam. In meiner
Schrift: „Die Provinz Rio Grande do Sul und die deutsche
Auswanderung dahin" I, welche im Sommer 1883 wäh-
rend der Seereise von Rio Grande nach England nieder-
geschrieben wurde, sagte ich bereits, daß die Zahl der
Italiener in Rio Grande do Snl 30 000 bis 40 000 Seelen
betrage. Durch die Angaben Dr. Corte's wird diese Zahl
bestätigt, denn nach den statistischen Erhebungen desselben
beläuft sich die Zahl der Italiener auf 37 101 Seelen, die
sich in folgender Weise auf die einzelnen Kolonien ver-
theilen: Caxias 13 680; Conde d'Eu 6287; Donna Isabel
9595; Silveira Martins 6001; dazu kommen dann noch
1531 Italiener, welche sich auf verschiedenen deutschen
Kolonien niedergelassen haben.
Die Kolonie Caxias besitzt 3866 Kolonieplätze; von
diesen sind nur noch 193 unbesetzt. Die Kolonie zählt
bereits 3373 Wohnungen. Der augenblickliche Viehstand
der Kolonie ist folgender: Maulesel 4800, Pferde 5900,
Kühe 3500, Schweine 12 000, Ziegen 1500.
Im Jahre 1883 belief sich die Ernte auf folgende
Quantitäten: Roggen 1 200 000 kg, Hafer 600 000 kg,
Bohnen 1 600 000 kg, Mais 3 200 000 kg, Wein
2 900 000 1.
Unter der Bevölkerung von Caxias befinden sich nach
Dr. Corte 62 Franzosen und 315 Deutsche.
Die Kolonie Conde d'Eu besitzt 819 Kolonieplätze,
welche bereits sämmtlich besetzt sind und zwar mit 1395
Wohnungen. Der Viehbestand der Kolonie ist folgender,
Maulesel 1046, Pferde 686, Kühe 701, Schweine 8422:
Ziegen 547.
Die Ernte betrug im Jahre 1883: Roggen 791 500 kg,
Hafer 1 433 000 kg, Bohnen 1 608 600 kg, Mais
3 556 400 kg, Reis 42 000 kg, Wein 2 759 600 1.
Unter der Bevölkerung befinden sich 404 Deutsche, 56
Franzosen, und 128 gehören verschiedenen anderen Natio-
nalitäten an.
Die Kolonie Donna Isabel hat 1323 Kolonicplütze,
wovon nur 40 unbesetzt sind. An Vieh ist vorhanden:
Maulesel 5700, Pferde 6000, Kühe 3800, Schweine
12 000, Ziegen 8000.
ft Heidelberg, C. Winter's Universitätsbuchhandlung, 1885.
Dieselbe schildert die Verhältnisse in jener Provinz, soweit sie
mit der deutschen Einwanderung und Kolonisation zu thun
haben; der Versasser beschränkt sich dabei lediglich aus sein
eigenes, ganz selbständiges und interesseloses Urtheil, wie er es
sich während eines mehrjährigen Aufenthaltes im Lande ge-
bildet hat.
Dr. Wilhelm Breitenbach: Italienische Kolonisation in Rio Grande do Sul.
335
Im Jahre 1883 wurde geerntet: Roggen 1 444 800 kg,
Hafer 1 384 000 kg, Bohnen 1 736 400 kg, Mais
3 011 000 kg, Reis 44 000 kg, Wein 4 986 000 1.
Unter den Bewohnern der Kolonie sind zwei Franzosen,
aber kein Deutscher.
Die Kolonie Silveira Martins zählt 991 Kolonieplätze,
welche sämmtlich besetzt sind. Auf der Kolonie giebt es
750 Wohnungen. Der Viehbestand ist folgender: Maul-
esel 500, Pferde 1500, Kühe 1000, Schweine 10 000.
Die Ernte belief sich im Jahre 1883 auf: Roggen
1 200 000 kg, Hafer 600 000 kg, Bohnen 1600 000 kg,
Mais 3 200 000 kg, Reis 200 000 kg, Wein 2 900 0001.
Unter der Bevölkerung befinden sich keine Deutsche,
dagegen 56 Russen.
Für dieses Jahr werden etwa 12 000 weitere Italiener
in Rio Grande do Sul erwartet, so daß nach kaum zehn
Jahren ungefähr 50 000 Italiener eingewandert sind. Die
deutsche Kolonisation in Rio Grande do Snl besteht seit
60 Jahren, und nach Karl von Koseritz sind in diesem
ganzen Zeitraume nur etwa 25 000 (vielleicht auch etwas
mehr) aus Deutschland eingewandert. Diese Zahlen be-
weisen wohl deutlich genug, wie energisch und schnell die
Italiener vorgehen, um sich in Rio Grande do Sul festzu-
setzen. Die Italiener und ihre Regierung haben eingesehen,
daß eine ausgedehnte Kolonisation in Süd-Brasilien ihnen
wirthschaftlich nur von Nutzen sein kann. Bis jetzt ist der
Handel Rio Grande do Suls zum größten Theile in deut-
schen Händen, Dank dem Umstande, daß das kaufkräftige
Hinterland von deutschen Kolonisten besetzt ist. Wie aber
wird das werden, wenn (was wir nicht hoffen wollen)
dereinst die Italiener die Deutschen überflügelt haben? Es
ist das leicht möglich; denn wenn die italienische Ein-
wanderung in dem jetzigen Maße weitergeht und wenn die
deutsche, die sich jährlich nur auf wenige hundert Köpfe
beläuft, nicht stärker wird, so müssen die Italiener in vcr-
hältnißmäßig kurzer Zeit die Deutschen an Zahl übertreffen.
Und wenn das der Fall ist, so wird auch der jetzt vor-
wiegend in deutschen Händen liegende Großhandel nach und
nach an die Italiener übergehen, und an Stelle der deutschen
Waaren treten vielfach italienische, oder der Deutsche be-
kommt doch seine Waaren erst durch die Vermittelung des
italienischen Kaufmannes.
Angesichts der starken italienischen Einwanderung in
Rio Grande do Sul sollte man doch endlich auch in deut-
schen Regierungskreisen zu der Einsicht kommen, daß es für
das Fortbestehen und die Weiterentwickelnng der deutschen
Niederlassungen daselbst unumgänglich nothwendig ist, die
Schwierigkeiten, welche der Auswanderung nach Brasilien
im Wege stehen, baldigst zu beseitigen. Denn wenn die
deutschen Kolonien nicht größeren Zuschuß ans dem Stamm-
lande erhalten, so ist es unausbleiblich, daß ihnen die rüh-
rigen und fleißigen Italiener den Rang ablausen, und damit
wird dann schließlich die ganze schöne Schöpfung der deut-
schen Kolonien in Frage gestellt. Es wäre doch traurig,
wenn wir auch dieses herrliche Kolonisationsgebiet, ans dein
ein so hoffnungsvoller und vielversprechender Anfang gemacht
ist, schließlich wieder verlieren sollten. Ich möchte daher
die allgemeine Aufmerksamkeit auf die italienische Koloni-
sation in Rio Grande do Sul lenken; es erwächst uns da
eine nicht ungefährliche Konkurrenz, der wir aufs Ent-
schiedenste begegnen müssen.
Die italienischen Kolonien haben sich auffallend schnell
entwickelt und sind schon jetzt fast durchgängig in recht
blühendem Zustande. Die Bewohner, Norditaliener und
Welschtyroler, sind sehr fleißige, strebsame, dabei äußerst
solide und genügsame Leute, die sich wohl alle in verhältniß-
mäßig kurzer Zeit ein sorgenfreies Dasein verschaffen werden.
Industrielle Etablissements aller Art, Mühlen, Brauereien,
Holzschneidereien rc. sind bereits in stattlicher Zahl ent-
standen. Während auf den deutschen Kolonien zum Theil
noch importirtes Mehl verbacken wird, bauen sich die Ita-
liener ihren Roggen und Weizen selbst, und sie würden
ohne Zweifel den Import von amerikanischem oder Triester
Weizenmehl schon vernichtet haben, wenn die Abfuhrwege
von den Kolonien nach Porto Alegre nicht so unbequem
nnd schlecht wären. Die Weinproduktion ist, wie aus den
oben mitgetheilten Zahlen hervorgeht, schon eine sehr be-
trächtliche, und sicher hat in den geübten Händen der Ita-
liener der Weinbau in Süd-Brasilien noch eine große Zu-
kunft. Auch Seidenzucht wird aus den italienischen Kolonien
schon vielfach mit recht gutem Erfolge getrieben. Tabak
und viele andere Nutzpflanzen werden ebenfalls gebaut, kurz,
die Italiener erweisen sich als äußerst rührige Leute, die
viel zum Fortschritt und zur Knltivirnng des Landes bei-
tragen werden.
Viele Italiener haben sich schon natnralisiren lassen und
cs wird wohl nicht mehr lange dauern, dann senden sie
auch ihren eigenen Vertreter in den Provinzial-Landtag
nnd emancipiren sich dadurch von den deutschen Dcputirten
des Kolonie-Distriktes, der bis jetzt ihre Interessen, die ja
denen der deutschen Kolonisten völlig gleich sind, vertreten
hat. Seit einiger Zeit erscheint auch in Porto Alegre eine
italienische Zeitung, die sich die Vertretung der italienischen
Interessen zur Aufgabe gemacht hat. Zu dieser eigenen
Rührigkeit der italienischen Bevölkerung kommt dann noch
das rege Interesse, welches die italienische Regierung an
den Kolonien nimmt, wie besonders die Entsendung des
Dr. Corte als Konsul nach Rio Grande do Sul und dessen
neuestes Buch über die Kolonien beweist. Eine so ein-
gehende, officielle Arbeit wie die Dr. Corte's über die
italienischen Kolonien besitzen wir über die deutschen Kolo-
nien nicht. Leider hat sich ja die deutsche Reichsregicrung
den deutschen Niederlassungen in Süd-Brasilien gegenüber
bisher völlig passiv verhalten — ganz unerklärlicher Weise,
seitdem von allen Reisenden und Kennern des Landes ein-
stimmig Süd-Brasilien als ein äußerst geeignetes Feld für
deutsche Ackerbau-Kolonien bezeichnet worden ist. Es sollte
meiner Meinung nach eine der vornehmsten Ausgaben
unserer Kolonial-Vereine sein, sich eingehend mit der
Frage der deutschen Kolonisation in Süd-Brasilien zu
befassen, damit endlich dem viel verleumdeten Lande Ge-
rechtigkeit widerführe und der deutschen Auswanderung
ein Land erschlossen würde, wie es ihr nicht wieder geboten
wird.
336
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen Erdtheilen.
Afrika.
— Ein wahrhaftes Verdienst hat sich Dr. G.A. Fisch er,
der bekannte Arzt und Afrikareisende, durch seine Broschüre
„Mehr Licht im dunklen Welt theil. Betrachtungen
über die Kolonisation des tropischen Afrika unter besonderer
Berücksichtigung des Sansibar-Gebiets" (Hamburg, L. Frie-
derichsen u. Co., 1885) erworben. Es ist wie ein kalter
Wasserstrahl auf die unverständigen Afrikawüthigen, die in
dem dunklen Erdtheile schon jetzt alles Heil für das noth-
leidende Europa erblicken möchten. Ob die Warnung nutzen
wird? Dr. Fischer ist kein Gegner der Kolonisation, sondern
im Gegentheil deren warmer Fürsprecher; aber er ist ein
Feind der übertriebenen Erwartungen, die nur aus Unkennt-
niß, wenn nicht Schlimmerem, entspringen. Daß der Handel,
namentlich im Osten, einer besonderen Steigerung fähig sein
sollte, ist nicht wahrscheinlich; vielmehr ist in gewisser
Beziehung ein Rückgang zu befürchten. Denn infolge des
Verbots der Sklaveneinfuhr fehlen für manche Unternehmun-
gen die Arbeitskräfte, und der Elfenbeinhandel, der „Krebs-
schaden Afrikas", muß durch die Ausrottung der Elefanten
abnehmen. Die Fruchtbarkeit des Bodens ist nur stellen-
weise groß, und selbst dort ist die Unregelmäßigkeit in der
Regenmenge ein großes Hinderniß; auch sind die bisher in
dieser Hinsicht gesammelten Erfahrungen noch durchaus unzu-
reichend. Von einer Acclimatisirung des Europäers im
Tropengebiete kann ferner nicht die Rede sein; er kann sich
dort nicht fortpflanzen, ohne zu degeneriren, und ebenso
wenig vermag er dort den Boden zu bebauen. Denn in den
Tropen sind eben die gesunden Gebiete die unfruchtbaren
und die fruchtbaren sind die ungesunden. Dr.Pogge, welcher
behauptete, der deutsche Bauer könne am Kassai ebenso gut
sein Land bestellen tvie daheim, ist selbst nach verhältnißmäßig
kurzer Zeit dem Klima erlegen. Die Malaria wird stets
das Haupthinderniß für die Wirksamkeit des Europäers in
Afrika bleiben; nur der Neger ist dort zu verwenden, und
derselbe ist auch nach Fischer bildungsfähig und zu den
mannigfachsten Arbeiten tauglich, zu denen er sich freilich
nicht ohne Zwang verstehen wird. Der Zwang allerdings,
welchen die englischen Missionen den Eingeborenen gegen-
über zum Theil in schändlicher Weise (vergl. S. 59) anwen-
den, hat bis heute nicht das Geringste genutzt; ihm ist sogar
die Sklaverei, wie sie die Mohammedaner ausüben, bei
weitem vorzuziehen. Die Neger in schonender, verständiger
Weise zur Arbeitsleistung heranzuziehen, darin wird die
große Kunst derer, die Afrika „civilisiren" wollen, sich der-
einst zeigen; denn in der unerschöpflichen Arbeitskraft der
Eingeborenen besteht allein der große Schatz, den dieser
Erdtheil birgt. Wie das zu geschehen hat, darüber giebt
Fischer manchen nützlichen Wink, und es ist gewiß richtig,
wenn er es für überflüssig erklärt, in neu erworbenen Gebie-
ten, welche von friedfertigen Stämmen bewohnt werden, als-
bald Gesetze für die Eingeborenen zu erlassen. Solche sind
nur für die sich niederlassenden Europäer nothwendig.
Fischer empfiehlt Anlage von „Kulturmissionen" und zwar
besonders in solchen Gebieten, wo Boden und Eingeborene
sich zur Plantagenwirthschaft eignen- „Sind erst die Europäer
die herrschende Klasse geworden, dann werden den Missionaren
die Früchte, deren Erlangung ihnen jetzt so schwer wird, von
selbst zufallen; dann wird der Neger Christ werden, nicht
aus Ueberzeugung, sondern aus Großthuerei und Eitelkeit.
Er wird so mit der Zeit ein Bcrerbungs- und Gewohnheits-
christ, wie so mancher andere auch ist. Er wird ein christ-
licher Kulturmensch; deshalb wird er nicht glücklicher, auch
nicht moralischer." Besonders räth der Autor auch, für
unser ostafrikanisches Schutzgebiet eine Verbindung mit dem
Victoria-Nyanza herzustellen und vorn Congobecken abzu-
sehen.
Das sind so einige der leitenden Gedanken in der vor-
trefflichen Schrift; wollten wir alles, was uns in derselben
der Beachtung werth erscheint, berühren, so wäre der drei-
fache Raum nicht ausreichend. Aber betonen wollen wir
doch, daß soeben ein anderer Asrikareisender, Victor Giraud,
welcher das Gebiet zwischen den vier Seen Njassa, Bangwcolo,
Moöro und Tanganyika durchwandert hat, ungefähr dieselben
wenn nicht gar schärfere Ansichten wie Dr. Fischer über den
geringen Werth Centralafrikas ausgesprochen hat (s. Société
de Géographie. Compte rendu des séances. 1885. No. 7
et 8. p. 241 ff.)
— Von Lient. W iß mann (vergl. oben S. 272) ist ein
neuer Brief, datirt Lnluaburg, 1. December 1884, in Brüssel
eingetroffen. Danach langte derselbe am 10. November in
Lubnku, der Residenz des Kalamba-Mukenge unweit des
Lulua (ca. go s. Br.) an, und sechs Tage später kam auch
Lient. Müller von seinem Abstecher zum Lunda-Fürsten
Mnata Kumpana nach dort. Wißmann fand bei seinem
alten Bekannten Mukenge freundliche Aufnahme und legte
eine Tagereise von dessen Dorf entfernt, am linken Ufer des
Lulua unter 5° 58' südl. Br. und 22" 20' östl. L. Gr. eine
Station an, die er Lulnaburg taufte, wo er drei Monate
verweilen wollte. Dann soll Lient. Müller das Kommando
daselbst übernehmen, während Lient. Wißmann die Thalfahrt
auf dem Kassai antritt, auf welcher ihn Mukenge selbst mit 200
Kriegern bis zum Congo begleiten will. Von letzterem Umstande
verspricht sich Wißmann großen Erfolg hinsichtlich der
„Civilisirung" der Baluba-Neger. — Dr. Wolf rüstete sich
zu einer mehrmonatlichen Reise zum Häuptling Lukengo
(nördlich von der Station), in dessen Lande noch arge Bar-
barei herrscht; so sollen beim Tode von Lukengo's Vater
nicht weniger als 2000 Menschen auf dessen Grabe geschlach-
tet worden sein.
— Eine Gesellschaft Antwerpener Kaufleute, au deren
Spitze der Fabrikant de Roubaix steht, hat eine Expedition
unter Leitung von Dr. Chavanne nach dem Congo gesendet,
um dort eine Pflanzung und eine Faktorei zu errichten.
Zu derselben gehört ein holländischer Landwirth, welcher lange
Zeit eine Kaffeeplantage in Ostindien geleitet hat.
Inhalt: G. Révoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883. HI. (Mit sechs Abbildungen.) —
Thomson's Reise ins Land der Massai. I. — Das Feuerland und seine Bewohner. — Dr. Wilhelm Breitenbach:
Italienische Kolonisation in Rio Grande do Snl. — Aus allen Erdtheilen: Afrika. (Schluß der Redaktion: 5. Mai 1885.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschweig.
fltii besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braun schweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1885.
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun
1882 bis 1883.
IV.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Allmählich hatte sich die Bevölkerung von Mogduschu
daran gewöhnt, daß Rovoil in der Stadt umherging, Fragen
stellte und sich Notizen machte, und wurde zuletzt so zu-
traulich, daß ihm die vielen Händedrücke, die er auszutauschen
hatte, lästig wurden. Dabei trug er Sorge, eine vollständige
Neutralität zn bewahren, um die Empfindlichkeit der beiden
feindlichen Parteien im Orte zn schonen. Wenn es in dem
Audienzsaale des Gouverneurs oder Salems oder sonst wo
zu einer Diskussion kam, hielt er sich bei Seite, ebenso als
der Zufall es wollte, daß in seiner Gegenwart Zänkereien
und selbst Kämpfe vorfielen; dagegen war er stets bereit,
den bei solchen Gelegenheiten Verwundeten ärztliche Hilfe
zn leisten. Diese Handlungsweise hatte er seit seiner Lan-
dung in Mogduschu sich zur Pflicht gemacht, und seinen
Nachfolgern in der Erforschung des Somali-Landes räth
er ein Gleiches an. Durch Salem war er in diese Lokal-
kämpfe eingeweiht worden; ohne jemanden vorzuziehen oder
einen Unterschied zu machen, stattete er den einflußreichen
Leuten beider Parteien Besuche ab und entschuldigte sich
auch bei dem Jman Mahmud, dem Haupte von Schingani,
daß er nicht bei ihm abgestiegen wäre, wie vor Jahren die
Officiere des französischen Schisses „Ducouädic" bei dessen
Vater. Dabei hätte ihn vielleicht Mahmud und seine
Familie besser unterstützt, als die Häuptlinge von Hamar-
win, welche die in Zanzibar empfangenen Wohlthaten ganz
vergessen zu haben schienen.
Glvbus XLVII. Nr. 22.
Scheich Sala, der Gouverneur von Mogduschu, hatte
auf seine Umgebung einen ganz anderen Einfluß, als der
alte Soliman ben-Hamed in Mörka. Rovoil unterließ es
nie, seinen Freitagsaudienzen beizuwohnen, wobei ihm stets
mit größter Zuvorkommenheit der Ehrensitz angeboten wurde.
Sobald des Reisenden Ankunft dem Gouverneur gemeldet
wurde, stieg dieser stets die Stufen des Divan, auf welchem
er, von seinen Soldaten umgeben, saß, herab und ging ihm
entgegen. Er liebte es, das Gespräch auf die Politik zn
bringen und erkundigte sich öfters sorgenvoll nach der Lage
des Sultans in Konstantinopel und seinem Verhältnisse zu
den europäischen Mächten; dann hörten die alten Scheichs
der Stadt aufmerksam zu, trotz des Lärms, den der „Lelam"
(Auktionator) verursachte, indem er alle Arten von Aus-
rüstungsgegenständen meistbietend verkaufte. Oesters mußte
auch Rtzvoil seine Präcisionswaffen mitbringen und deren
Wirkung zum Erstaunen der Anwesenden von den Zinnen
des Forts aus probiren.
Das Stadtvolk hatte bald von den Knaben, die der
Reisende als Insekten- und Pflanzensammler verwendete,
seinen und seines Begleiters Namen gelernt; aber während
es „Julian" leicht behielt und nur in Sulian verdrehte,
bezeichnete cs Rsvoil lieber als Hakim (Doktor) und verlieh
ihm sogar den Scheich-Titel, nachdem Scheich Sophi dem-
selben den Turban nach mohammedanischer Weise zurecht
gefaltet hatte. Als „Scheich Hakim" ist denn auch Rtzvoil
43
338
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
heutigen Tages an der ganzen Ostküste Afrikas von Aden
bis Zanzibar hin bekannt.
Von besonderem Interesse waren die Tänze der Abösch
(freie Nachkommen einstiger Sklaven) oder der Sklaven bei
Mondschein. Die Zahl der ersteren ist in Mogduschn
ziemlich beträchtlich, indem sie fast zwei Drittel der ganzen
Bevölkerung ausmachen; meist wohnen sie in Strohhütten,
aber einige haben es schon zu Steinhäusern gebracht. Wenn
der Abend hereingebrochen ist, stellen sich Männer und
Weiber im Halbkreise einander gegenüber; zwei Männer
geben aus zwei langen, verschieden gestimmten Trommeln
den Takt an, nach welchem sich die Tänzer auf den Beinen
zu wiegen anfangen. In der Mitte steht ein Kreis von
Kindern, welche um die Fußknöchel Schelön-scheläu tragen,
d. h. Ringe von kleinen, hohlen, mit Steinchen gefüllten
Kürbissen, die als Schellen dienen. Mitunter sind es auch
nur trockene Früchte der in Mogduschn sehr häufig vor-
kommenden Datura stramonium. Auf ein Hornsignal
beginnen sich die Kinder nach dem Takte zu drehen, wäh-
rend die Frauen mit einförmiger, trauriger Stimme singen.
Allmählich werden die Bewegungen der Tanzenden schneller;
der Kreis der Kinder geht ans einander, sie hüpfen auf die
Frauen zu, welche sich erheben, und halten dabei die Zipfel
ihrer Futas, kleiner Schürzen, die ihre ganze Bekleidung
ausmachen, mit beiden Händen in die Höhe. Diese Tour,
bei welcher die sonderbarsten Körperverdrehungen angeführt
werden, ähnelt dem Avant -deux in der Quadrille. Auf
ein zweites Hornsignal hört der Tanz plötzlich aus. Der
Der Scheläu-schelöu-Tanz. (Nach Angaben Revoil's.)
langsame Rhythmus, welcher beim Beginne desselben herrscht,
stimmt den Zuschauer fast melancholisch; aber schließlich
kann er beim besten Willen das Lachen nicht verhalten,
wenn er die Negerinnen ihre Entrechats mit aller Grazie,
deren sic fähig sind, ausführen sicht.
Die Somalis von Mogduschn dagegen haben einen
Gesang, Asat genannt, dem cs durchaus an Lustigkeit
gebricht. Der Besitzer des Hauses, in welchem Rovoil
wohnte, fnngirte dabei als Dirigent. Die rings um ihn
aufgestellten Sänger halten dabei zwei hohle Stücke Holz
etwa von der Gestalt großer Weberschiffchen ohne Spule
in den Händen und schlagen dieselben gegen einander, wo-
durch je nach der Stelle des Instruments, welche getroffen
wird, ein größeres oder geringeres Geräusch entsteht. Mit
einer Regelmäßigkeit, die an die Bewegungen des Metronom
erinnert, schlagen die Leute ihre Hölzer zusammen, wobei
sie jedesmal den Körper nach vorn biegen, während die
außerhalb des Kreises stehenden Frauen mit klagender
Stimme in schleppendem, mattem Rhythmus dazu singen.
Der Dirigent müht sich dabei wie ein Besessener ab, mn
Fortes und Pianos zu erzielen, und zieht mit seinem
Orchester von Thür zu Thür, um den einflußreichen Per-
sönlichkeiten der Stadt Ständchen zu bringen. Der Ajat
wird übrigens in gleicher Weise bei Hochzeiten wie bei
Begräbnissen ausgeführt.
Der Jman Mahmud hatte wegen seines gespannten
Verhältnisses zu den Häuptlingen von Hamarwin bisher
gezögert, den Besuch Revoil's zu erwidern; endlich entschloß
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Vajun 1882 bis 1883.
339
er sich dazu, wählte aber vorsichtiger Weise seinen Weg
über unbebautes Terrain und durch die Hinterpforte von
Rüvoil's Hause. Dieser geleitete seinen Gast nachher nach
dessen Wohnung und benutzte die Gelegenheit, von deren
hohem Dache ans einige photographische Aufnahmen zu
machen. Dann führte ihn der Jman selbst zu dem
Thurme Abdul Aziz, welchem gegenüber der Reisende
bei seiner Ankunft in Mogduschu gelandet war. Als beide
dorthin sich ausmachten, ließ die Eskorte Rovoil's dies
sofort dem Gouverneur melden, der alsbald zehn Mann
Verstärkung sandte, gleich als handelte es sich um eine
Reise von cinwöchentlicher Dauer. Der Thurm diente
wohl einer früheren Moschee, auf deren Ruinen später eine
kleinere, setzt auch ganz verlassene errichtet wurde, als
Minaret. Durch eine enge, halb vom Sande verschüttete
Thür betritt man den Thurm, auf welchen eine halb ver-
faulte Wendeltreppe hinaufführt. Die Treppenwände sind
mit einem sehr harten Cemente überzogen, auf welchem
indessen keine Inschrift zu finden war. Dagegen lassen
sich in der benachbarten kleinen Moschee, deren Mauern
fast ganz von einer dicken Lage grünlichen Schimmels
bedeckt sind, rings um den Mihrab einige Reste von persi-
schen Inschriften unterscheiden, und im Hintergründe des
Mihrab selbst steht eine Säule von weißem Marmor mit
einigen Schriftzügen in Relief, unter denen noch der Name
von El-Hadschi Jussuf ben Assen und das Datum 667 der
Hedschra (1250 nach unserer Zeitrechnung) zu erkennen ist.
Aber ob der Hadschi selbst die Moschee erbaut hat oder
Der Ajat. (Nach Angaben Revoil's.)
dieselbe nur zu seinem Gedächtnisse errichtet worden ist,
wußte Niemand zu sagen.
Wenn man das Datum 667 der Hedschra auf die Er-
bauung der älteren Moschee und des Thurmes Abdul Aziz
beziehen dürfte, so stammte letzterer ans derselben Zeit, wie
das schönste Bauwerk Mogduschus, die'Möschee Fekker-ed-
Din, über welche weiterhin berichtet werden wird; beide
Bauten haben überdies die regelmäßigen Quadern und die
persischen Inschriften gemeinsam.
Bei der Rückkehr nach der Stadt wanderte Rovoil
beständig über Reste einstiger Grabmäler und Wohngebäude,
welche schon bis aus die Oberfläche des Erdbodens ver-
schwunden waren. Auch viele Gräber waren vorhanden,
welche sämmtlich die Gestalt eines von einer kleinen Kuppel
überdeckten Rechtecks hatten; auf den vier oberen Ecken
befanden sich meist kleine, an der Außenseite gezähnte
Pyramiden. Ihr Inneres besteht gewöhnlich aus zwei
Räumen; der eine enthält einen kleinen Mihrab, der andere
das eigentliche Grab. Neben diesen Bauten finden sich
noch bescheidenere Gräber, die vom Sande und der Zeit,
diesen beiden langsam zerstörenden Faktoren, verschont ge-
blieben sind; an ihnen kann man noch heute Ornamente
persischen Stils ans dem 12. Jahrhundert im reinsten
Geschmacke bewundern.
Da Rsvoil's Angen von dein langen Verweilen im
hellen Sonnenlichte ermüdet waren, wünschte er sehr, einige
Zeit in einer nahen Hütte auszuruhen, was aber dem
Jman zu mißfallen schien. Denn es entsprach nicht seiner
43*
Thurm und Moschee Abdul-Aziz. (Nach einer Photographie.)
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajnn 1882 bis 1883^
341
Würde, unter dem Dache eines „Rer-Manjo" zn rasten.
Er sprach diesen Namen so verächtlich ans, daß ihn Revoil
um Auskunft bat und dabei erfuhr, daß dies Auswanderer
aus der Gegend der Vorgebirge Guardafui und Hafun
wären, die hier vom Fischfänge lebten. Der Reisende aber,
von früher her mit ihrer Sprache vertraut, machte sich diese
Leute durch ein Geldgeschenk rasch zu Freunden; ihre Hütten
sind denen der Midgan (Beduinen-Parias im Medschurtin-
Lande) ähnlich.
Von seinen früheren Begleitern war Fagc in Mörka
zurückgeblieben, während Hadschi Ali sich ans Urlaub befand;
auch von Zanzibar kam kein neuer Diener, wie Rdvoil
gehofft hatte. So blieb ihm nur Julian, der kein Wort
Arabisch oder Somali zu behalten im Stande war. Groß
war deshalb seine Freude, als ihn eines Tages ein Mann
aus Gelidi, Hadschi Mahdi Nur mit Namen, in verständ-
lichem Französisch anredete und sich ihm als Diener anbot.
Derselbe hatte 14 Jahre lang als Heizer aus englischen
und französischen Dampfern gedient und hatte gute Zeug-
nisse auszuweisen. Er war sehr jung nach Aden gekommen,
hatte dort in der früher erwähnten Somali-Kolonie gelebt,
dann Dienste bei Europäern genommen, zuletzt mehrere
Fahrten zwischen China und Europa gemacht und war erst
vor drei Monaten in seine Heimath Gelidi zurückgekehrt.
Rsvoil nahm natürlich diesen ihm durch den Zufall zu-
geführtcn Begleiter freundlich auf, beschenkte ihn und nahm
ihn in seinen Dienst; denn durch seine Sprachkenntniß war
derselbe sehr geeignet, das Personal der Karawane zu über-
Grabmüler bei Mogduschu. (Nach einer Photographie.)
wachen. Auch war es nun möglich, durch ihn eine Bot-
schaft an den Sultan von Gelidi zu befördern und ihn
zugleich mit einigen vertraulichen Weisungen zn versehen;
ebenso sollte er die nöthigen 25 bis 30 Kamcele besorgen,
und an solchen war damals auf dem Markte von Mogduschn
Mangel.
Mahdi Nur sparte denn auch nicht mit Versprechungen,
treu und ergeben sein zu wollen, und fast bedauerte es
Rkvoil, ihn nicht früher getroffen und zum Chef der Kara-
wane gemacht zu haben; indessen besaß er nicht die Er-
fahrung Hadschi Ali's, der wiederholt den oberen Dschub
besucht hatte, und dessen Klugheit und Fähigkeiten man
selbst in Mogduschu rühmte.
Schon in Zanzibar hatte sich der Reisende von dem
Dolmetsch des französischen Konsulats unter anderen auch
einen Brief an den Sultan von Gelidi, Omar Jussus,
aufsetzen lassen, in welchem er um eine Begleitmannschaft
und die Erlaubniß bat, sein Land bereisen und dort Vögel,
Pflanzen u. s. w. sammeln zu dürfen. In diesem Schreiben
waren nur noch Datum und Unterschrift hinzuzufügen;
dann machte sich Mahdi Nur mit ihm und Briefen des
Gouverneurs von Mogduschu und Salcm's auf den Weg
nach Gelidi, versehen mit zahlreichen kleinen Geschenken
für die Seinigen.
Er war kaum abgereist, als die Häuptlinge der Wadan
in Mogduschu eintrafen, um auf Verlangen des Gouver-
neurs wegen der Ermordung eines Kaufmanns der Stadt
durch einen ihrer Stammesgenossen zu unterhandeln. Seit
342
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
dem Abende, an welchem das Verbrechen begangen worden
war, hatte sich kein Mitglied jenes Stammes in die Stadt
gewagt, da er dort den Soldaten des Gouverneurs hätte
in die Hände fallen und von den Somalis von Hamarwin
getödtet werden können. Rävoil konnte der Verhandlung
beim Watt leider nicht beiwohnen. Dieser hoffte die Wadan
dahin zu bringen, daß sie ihm den Mörder auslieferten;
aber sie weigerten sich dessen, weil sie mit Recht fürchten
mußten, daß dann dessen
Genossen Unruhen inner-
halb des Stammes erregen
würden. Dabei aber baten
sie inständig um Frieden
und Vergessen des Ge-
schehenen, was ihnen auch
schließlich bewilligt wurde.
Ja, sie erhielten sogar noch
Geschenke auf den Weg.
Dieses Uebermaß von
Nachgiebigkeit seitens des
Gouverneurs Scheich Sala
schreibt Rävoil zum Theil
dem Wunsche desselben zu,
ihm selbst freien Durchzug
bei diesem Stamme zu
verschaffen. Vielleicht war
aber der Umstand, daß die
Wadan wieder freien Zu-
tritt zu Markte forderten,
von noch größerem Ge-
wichte. Die Bevölkerung
des Inneren hat diejenige
der Küstenstädte stets in
der Hand; denn erstere
beherrscht die Handels-
straßen und kann durch
Abfangen der Getreide-
karawanen die Verprovian-
tirung der Städte hindern;
ihre Feindschaft ist also zu
fürchten. Zudem ist es
der Wille des Sultans
von Zanzibar, daß der
Frieden gewahrt bleibe,
und deshalb müssen sich
seine Gouverneure mit-
unter ganz demüthigende
Bedingungen von den
Stämmen des Inneren
auferlegen lassen. Die
beste Politik für diese
Gebiete wäre, die Stämme
der Somali gegen einander
aufzureizen, so daß sie sich
gegenseitig aufrieben nnb
besseren, friedfertigeren Be-
wohnern Platz machten!
Die Aeltesten der Wadan und die Häupter von Ha-
marwin verließen also, bis auf Weiteres versöhnt, die
Audienzhalle des Gouverneurs, und am nächsten Morgen
schon erfüllten die Angehörigen jenes Stammes wieder den
Markt von Mogduschu, den Mörder ausgenommen, der
noch immer vogelfrei war.
Kaum war dieser Zwischenfall beigelegt, so ereignete
sich ein anderer: ans irgend einem Grunde brach zwischen
den Abgal und Daut Krieg aus. Am 29. Juni Morgens
weckten Alarmhörner die ganze Stadt. Von dem Dache
seines Hauses aus sah Rsvoil wohlgeordnete Abtheilungen
der Abgal im Laufschritte heruntereilen; es waren ihrer
300 bis 350, fast alle mit Lanzen und Schilden bewaffnet.
Einige Minuten später waren sie auf den Hügeln im Süden
von Hamarwin ausgeschwärmt und hatten sich auf eine
Strecke von IV2 bis 2 km vertheilt; dadurch gelang es
ihnen, eine Viehherde, die einigen gerade auf dem Markte
befindlichen Daut gehörte
und nur von einem Kinde
bewacht wurde, zu um-
zingeln. Das Kind wurde
der Sitte gemäß, welche
auch auf die Frauen An-
wendung findet, verschont;
ein Somali, der diesem
Gebrauche zuwider han-
delte, gälte für ehrlos und
könnte nicht mehr in feinem
Stammesverbande bleiben.
Nachdem dann die Abgal
insgesammt einige Vor-
und Rückwärtsbewegungen
ausgeführt hatten, ließen
sie sich mit der größten
Ruhe nieder, schlachteten
das Vieh und theilten sich
vor den Augen der ganzen
Bevölkerung von Hamar-
win in die Beute.
Nun begab sich ein
Parlamentär, Mohammed
Abdi Nur, zu ihnen und
erbat sich Aufklärung über
den Grund ihres Vor-
gehens und die Ursache des
ganzen Krieges. In der
Stadt umringten inzwischen
die geschädigten Daut ein
Beduinenweib, das jämmer-
lich schrie, und schwuren,
bei erster Gelegenheit sich
grimmig zu rächen; ja
einer versuchte, trotz der
Aussichtslosigkeit seines
Vorhabens, feine Freunde
zu einem sofortigen An-
griffe auf die Abgals zu
bewegen. Endlich gelang
es dem Einflüsse Moham-
med Abdi Nur's, letztere
zum Abziehen zu bewegen.
Durch sein gutes Fernglas
konnte Rovoil von dem
Thurme Bet-Ras ans die
geringsten Einzelheiten des
Vorganges verfolgen und
selbst die sonderbare Tracht einer Anzahl von Kriegern
erkennen. Dieselben hatten sich zum Zeichen des Kampfes
eine Binde um die Stirn geschlungen und trugen nur einen
kleinen Schurz groben blaugestreiften Stoffes, der den
Abgal eigenthümlich ist und „Gunfo" heißt.
Die Daut ließen wirklich mit ihrer Rache nicht auf
sich warten: unter dem Schutze der Nacht eilten sie in ihre
Dörfer, riefen ihre Stammesgenossen auf und die Jlbi zu
Hilfe und lieferten schon nach 24 Stunden ihren Feinden
Abgal-Krieger. (Nach einer Photographie.)
Thomson's Reise ins Land der Massai.
343
ein Tressen, worin mehrere Krieger fielen und die Abgal
den Kürzeren zogen. Letztere flüchteten nun bis zu den
Thoren von Schingani, wo sie binnen wenigen Stunden
mehrere Hundert der oben beschriebenen und abgebildeten
Gurgis errichteten. Ohne Lebensmittel und Geld zogen
sie, Männer und Weiber, bettelnd durch die Straßen der
Stadt, jeden Augenblick bereit, irgend eine Missethat zu
begehen, so daß die geängstigten Bewohner die ganze Nacht
unter Waffen und um große Feuer gelagert zubrachten.
Die Garnison hielt sich in ihren Befestigungen, die Märkte
waren verlassen, die Stadt befand sich gleichsam in Be-
lagerungszustand, und jeden Augenblick erwartete man das
Erscheinen der verbündeten Daut und Jlbi, welche diesmal
in Schingani eingedrungen wären. Und das alles wegen
einiger Stücke Bieh!
Die Lage wurde noch verwickelter dadurch, daß eine
mit Orseilleslechten beladene Abgal-Karawane, die vom
oberen Webi kam und von dem Ausbruche der Feindselig-
keiten keine Ahnung hatte, den Feinden in die Hände siel.
Als die wenigen, welche verwundet entkommen waren, das
neue Unheil meldeten, verloren die Abgal allen Muth und
flüchteten sofort in die Wälder von Mruti, während die
Bewohner Hamarwins die ersten Daut und Jlbi, welche
wieder zu Markte kamen, jubelnd empfingen und bewirtheten.
Gerade au der Stelle, wo die Abgal das Vieh geschlachtet
hatten, wurden neue Freudentänze aufgeführt. Bei den
Benadir nämlich hat die Intoleranz und der Fanatismus
der mohammedanischen Glaubensprediger es noch nicht, wie
bei den nördlicheren Medschurtin, vermocht, die altererbten
Sitten, namentlich hinsichtlich der Tänze und des Gebrauches
des Tabaks, zu beseitigen. Die südlicher wohnenden Somali
haben sich die Lust an diesen weltlichen Vergnügungen bis-
her bewahrt, und nur wenn sich einmal das Waffenglück
für die fanatisch gesinnte Partei entscheidet, werden dieselben
unterdrückt, um nach einiger Zeit unter veränderten Ver-
hältnissen wieder neu aufzuleben.
Thomson's Reise ins Land der Massai.
II. (Schluß.)
Der Schwerpunkt der Reise Thomson's scheint uns in
seinem Besuch bei den Massai zu liegen, obwohl wir
früher schon von verschiedenen Forschern Mittheilungen
über den genannten Volksstamm erhalten haben und auch
der „Globus" wiederholt Berichte über denselben gebracht
hat. Wir erwähnen von letzteren nur die neueren und
größeren Artikel XLIV, S.251, XLY, <5.11 und <5.379,
von denen der zuerst genannte sich mit den allersüdlichsten
Stämmen, die beiden letzten aber, denen Dr. Fischer's
Berichte zu Grunde liegen I, sich mit dem Gebiet westlich
vom Kilima-Ndscharo bis zum Naiwascha-See, wo der ge-
nannte Forscher zur Umkehr genöthigt wurde, beschäftigen.
Es wird daher unsere nächste Aufgabe sein, Land und
Volk nördlich vom Kilima-Ndscharo näher ins Auge zu
fassen. Thomson unterscheidet im Massailande zwei deut-
lich von einander getrennte Theile, den südlichen oder das
niedrige Wüstenland und den nördlichen Theil oder
das Hochland. Die Meereshöhe des südlichen Theiles
ist nicht sehr bedeutend und beträgt nur 900 bis 1200 in.
Dieser ganze Landstrich ist dürr und unfruchtbar, obwohl
der Boden an sich gut genug ist, aber der spärliche Regen,
der nur während dreier Monate fällt, ist kaum im Stande,
einigen verkümmerten Gräsern Nahrung zu verschaffen.
Nur wenige Pflanzenformen, Akazien und Mimosen,
kommen auf dieser trostlosen Fläche vor, die Gräser sprossen
meist nur am Fuße der Höhen, längs deren Abfällen
Wasserläuse niederrieseln, die sich aber im Sande verlaufen.
Kein Fluß murmelt in der Fläche, wohl aber sieht man
hier und da Salzkrusten, die in Folge der Verdunstung
des mit Natron stark geschwängerten Wassers sich gebildet
haben. (Man wolle sich der Beschreibung der Fläche von
Ndgiri im ersten Theile dieses Aufsatzes erinnern.)
Eine eigentliche Ebene ist übrigens dieser Theil des
Landes durchaus nicht; auf allen Seiten begegnet das Auge
vielmehr bedeutenden Erhebungen, worunter sich einige der
afrikanischen Niescnberge befinden; namentlich im Westen
st Mitth. der Gcogr. Ges. in Hamburg 1882/83.
und Norden erblickt man eine bedeutende Anzahl von Vul-
kanen. Nur in der unmittelbaren Nähe der hohen Berge
ist das Land bewohnt, im Uebrigen jedoch wüst und leer;
mit Sicherheit trifft man die Massai zu allen Jahreszeiten
nur an einigen wenigen, besonders günstig gelegenen
Orten. Ueber den Charakter der Gegend sagt Thomson
Folgendes: um denselben zu kennzeichnen, muß man die
Thatsache festhalten, daß das Land der Schauplatz späterer
vulkanischer Thätigkeit gewesen ist, welche in sehr jünger-
geologischer Zeit die bereits erwähnten Berge empor-
getrieben hat. Als Folge dieser Thätigkeit ist bis zu
einem gewissen Grade auch die Thatsache anzusehen —
wenn die Behauptung auch nach einem Kreisschluß auszu-
sehen scheint — daß der untere Theil von Massailand als
ein Depressionsgebiet unter das höhere Niveau der seitlich
liegenden Tafelländer hinabgesunken ist.
Der nördliche Theil von Massailand bildet das eigent-
liche Hochland; rechts und links erhebt er sich bis zu 1600,
in der Mitte bis zu 2750 in; über die Linie der höchsten
Erhebung streicht von der Dogilaniwüste her die meridio-
nale Mulde, welche die Sceukette (Naiwascha, Elmeteita,
Nakuro und Baringo) umschließt und sich bei dem zuletzt ge-
nannten See nach rechts und nach links erweitert und ein
ähnliches Gepräge annimmt, wie es die südliche Ebene
zeigt. In der östlichen Hälfte erhebt sich der schneebedeckte
Gipfel des Kenia und die Aberdare-Kette, welche der Achse
der Bodensenkung beinahe parallel läuft. Dies ist wohl
die entzückendste Gegend, die man sich im tropischen Afrika
vorstellen kann, die Natur hat sie mit den Schätzen der
Pflanzenwelt geschmückt und mit einer reichen Thierwelt
bevölkert; überall murmeln Büche und Flüsse im Schatten
der Wälder und befruchten die Erde. Kikuju heißt der
höhere Theil der östlichen Hälfte, der dnrch den Aequator
vom nördlichen Theile getrennt wird; einige der höheren
Theile sind mit dichtem Bambngebüsch bedeckt. Der größere
Theil (und zwar der bessere) von Lcikipia ist unbewohnt,
namentlich weil die vielen Kriege die Massai so herunter-
gebracht haben, daß sie cs für gerathen hielten, sich ans der
344
Thomson's Reise ins Land der Massai.
gefährlichen Nähe des Stammes der Wasnk zurückzu-
ziehen. Das eigentliche Massailand umfaßt das Gebiet
zwischen 1" nördl. und 50 südl. Br. Die Breitenaus-
dehnung des Landes ist nicht überall gleich, man könnte sie
im Durchschnitt zu 150 km annehmen; in diesem Gebiete
leben sedoch noch einzelne Stämme, die mit den Massai
nichts gemein haben, z. B. die ackerbautreibenden Wakwafi.
Wie oben schon erwähnt ist, fällt namentlich im Tieflande
nur sehr wenig Regen; annähernd schätzt Thomson die
Menge desselben auf 38 ein in der unteren Wüstenrcgion
und auf 76 bis 100 orn im oberen Hochlande; in den
14 Monaten, während welcher die Karawane sich in diesen
Gegenden befand, ist sie nicht zehnmal vom Regen über-
rascht worden, in starkem Gegensatz zu den südlicheren
Gegenden, wo der Regen manchmal Wochen lang nicht
aufhört; weiter nördlich kommt Regen beinahe nur im
Februar, März und April vor. Ist dieser Umstand für
die Fruchtbarkeit des Landes ungünstig, so ist er dagegen
für die Gesundheit recht zuträglich, keine Moräste mit
giftigen Miasmen erzeugen da Krankheit und Tod. Die
manchmal wohl allzu kalten Nächte bringen Erquickung,
nachdem man am Tage bei einer Temperatur von
320 C. tüchtig transpirirt hat; die große Trockenheit macht
solch große Unterschiede gar nicht einmal allzu lästig; bei
einer Temperatur von 00 schliefen die Träger ohne irgend
welche Decke im Freien. Häufige Hagelwetter kommen bei
der großen Meereshöhe vor und sind den Karawanen sehr
gefährlich, da die nicht daran gewöhnten Leute von der
Küste unter dem Einfluß derselben und der sie begleitenden
Kälte wie gelähmt zusammenbrechen und keiner Anstren-
gung mehr fähig sind, um sich zu retten; einen sonderbaren
Anblick gewährt es, wenn ein solches Hagelwetter die ganze
Gegend in ein weißes Leichentuch gehüllt hat und letzteres
die ganze Nacht hindurch liegen bleibt und erst vor den
Strahlen der Morgensonne verschwindet.
Das Volk der Massai zerfällt in etwa 12 große
Stämme oder Geschlechter, mit vielen kleinen Unterabthei-
lungen; einige derselben werden für edler gehalten, z. B.
die Ngadse Massai, die Molilian, die Leisere und dieLeteso.
Sie zeichnen sich durch ihre körperliche Entwickelung, nament-
lich aber durch den wohlgebildeten Kopf (weniger einge-
drückte Nase und dünne Lippen) aus. Ohne die hervor-
der Massai.
ragenden Backenknochen und etwas Mongolisches in der
Stellung der Augen, ihre chokoladefarbige Haut und das
gekräuselte Haar könnte man sie für Europäer halten. Vou
reinster Herkunft sind die Ngadse Massai am Kilima-
Ndscharo, körperlich am stärksten entwickelt die Wakwafi,
die eine Beimischung von Negerblut zu haben scheinen. Das
ganze Land wird etwa in zehn Hauptdistrikte eingetheilt; die
verschiedenen Mitglieder des Stammes werden nach der
Gegend, wo sie geboren sind, näher bezeichnet; verschiedene
Geschlechter leben manchmal in demselben Distrikt, gewöhn-
lich aber in verschiedenen Kraals. Jeder Distrikt hat seine
eigenen Wappen und Wahlsprüche, die in wunderbar ge-
schmackvoller Ausführung auf den Schilden der Krieger in
Schwarz, Weiß, Noth oder Gelb aufgetragen werden. Wie-
wohl die Massai sehr häufig unter einander auf dem Kriegs-
fuße sind, vertragen sie sich gut, so lange dies nicht der
Fall ist. Am furchtbarsten haben die inneren Fehden
zwischen den Massai und den Wakwafi gewüthet und letztere
sind dadurch und durch einige andere, gleichzeitig eingetretene
Unglücksfälle an den Rand des Unterganges gebracht worden;
sie verloren beinahe ihren ganzen Viehstand und mußten,
um nicht Hungers zu sterben, zu anderen Stämmen ihre
Zuflucht nehmen; so sind sie nach allen Richtungen hin
zerstreut und haben sich zum Theil mit anderen Stämmen
vermischt, zum Theil eigene Kolonien gebildet. Gewisser-
maßen hat dies dem Lande zum Segen gereicht; überall
sind diese Kolonien Mittelpunkte des Handels geworden
und außerdem zeigen diese Vorgänge, welcher Entwickelung
die Massai fähig sind. Uebrigens hielt sich ein großer
Theil der Wakwafi zusammen und fand theils den Weg
nach Leikipia, theils nach dem Hochlande Guas'Ngischu; sie
hätten da glücklich leben können, aber vor etwa 15 Jahren
griffen sie die Massai wieder an; regelmäßige Schlachten
wurden geschlagen, Tausende sielen im Streite; selbst die
Weiber nahmen an demselben Theil, sie hielten Wache und
stachelten die Krieger zum Kampfe der Verzweiflung auf;
zuerst wurden die Massai bis nach Kample zurückgedrängt;
da wendete sich das Blatt, die Wakwafi wurden geworfen,
sie verloren ihr Vieh, der Hunger zwang sie, ihre Kinder
zu verkaufen, nur noch ein Bruchtheil des Stammes blieb
übrig. Endlich glückte es demselben, Frieden zu schließen;
doch war er nun auf die Bestellung des Landes angewiesen;
Thomson's Reise ins Land der Massai.
345
unglücklicher noch waren die Leute von Guas'Ngischu; sie
verschwanden vor den Massai, wie Spreu vor dem Winde.
Die Hütten der Massai sind etwa 1 in hoch, 3 in lang
und 14/-2 m breit und werden aus Zweigen gebaut, über
die eine Mischung von Dünger und Lehm ausgebreitet
wird; in der Regenzeit kommt noch eine Decke von Häuten
dazu. Der Eingang ist so klein wie möglich, eine aus-
gespannte Ochsenhaut dient als Lager. Die Hütten sind
im Kreise um eine große Fläche gebaut, ans welche Abends
das Vieh zusammengetrieben wird, was, weil keine Reinigung
stattfindet, einen etwas unangenehmen Geruch zur Folge
hat; nach der Außenseite hin ist das Lager mit einem
starken Verhau von Dorngestrünch umgeben. In den
Hütten herrscht, wie man sich leicht vorstellen kann, große
Unreinlichkeit.
Wir wollen nun, dem Beispiele Thomson's folgend,
einen Massai auf seiner Lebensreise von der Geburt bis
zum Tode begleiten. Die Geburt geht leicht von Statten,
und mit Freuden wird ein Knabe begrüßt, eben weil er
kein Mädchen ist; am anderen Tage schon geht die Mutter
wieder ihren Geschäften nach, während sie den Kleinen
nährt. Wenn derselbe größer wird, fängt er an, seine
Zähne an dem zähen Rindfleisch zu Probiren, womit er
sich dieselben, die ohnehin ans dem blauen Zahnfleische recht
sonderbar herauslügen, gründlich verdirbt, d. h. sie soweit
nach außen zieht, daß sie wie einzeln stehende Fangzühne
erscheinen. So wächst der Kleine mit seinen Alters-
genossen unter lustigen Spielen auf; Reinlichkeit scheint
keine besonders gepflegte Tugend zu sein und für Kleider
brauchen die Eltern nicht zu sorgen, nur bei besonders feier-
lichen Gelegenheiten wird er mit einer wohlriechenden
Salbe von Fett und Lehm bestrichen, bis er im höchsten
Glanze erscheint, auf welchen er nicht wenig stolz ist. Wenn
der Knabe heranwächst, erhält er einen wirklichen Bogen
mit den dazu gehörigen Pfeilen, ein viereckiges Stück Schaf-
fell wird auf seine Schulter gebunden, die Beine bleiben
bloß. Anstatt wie europäische junge Herren den Schnurr-
bart zu pflegen, dehnt er sich die Ohrläppchen so aus, daß
sie beinahe die Schulter erreichen. Erst wird ein kleines
Stückchen Holz durch das Ohrläppchen gesteckt, dann folgen
immer dickere, bis endlich ein 5 cm langes Stück Elfenbein
guer hindurch getrieben werden kann. In Erwartung der
Zeit, wo er zum Krieger erklärt wird, beschäftigt er sich
damit, die Kühe und Schafe zu hüten, wodurch er sich zu-
gleich einige praktische geographische Kenntnisse seiner Hei-
math erwirbt, die er dadurch, daß seine Eltern ihren Aufent-
haltsort häufig wechseln, noch weiter ausdehnt. Wenn ein
solcher Ortswechsel eintritt, trägt der Esel die eine, die
Familienmntter die andere Hälfte des Hansraths; letztere
erbaut auch die Hütte, in der trockenen Zeit geht es
nach dem Hochlande. Nebenher hört der Knabe auch
wohl von einem höheren Wesen (Ngai), welches auf dem
Kilima-Ndscharo wohnt, und dessen Stimme sich ans bciu
Doenje Engai, einem noch thätigen Vulkane, vernehmen
läßt. Während der Knabe heranwächst, übt er sich im
Gebrauch der Waffen, die er jedoch immer nur noch an
Thieren des Waldes erproben darf; auch muß er sich mit
der Nahrung der Nichtfechter, geronnener Milch, Mais,
Hirse und Rindfleisch begnügen. Wenn er 14 Jahre alt
geworden ist, sucht er sich ein rohes und wildes Ansehen
zu geben; er zieht seine Stirne kraus, er bemüht sich,
wüthende Gesichter zu schneiden, wodurch er sich zu einem
Gegenstände der Bewunderung für die.Knaben, der Zu-
neigung für die Mädchen macht. Endlich ist die Zeit ge-
kommen, daß er ein Krieger werden soll; die Beschneidung
wird an ihm vollzogen und er erhält seine Waffen, d. h. sein
Globus XLVII. Nr. 22.
Vater macht mit ihm eine Rundreise bei den unterworfenen
Stämmen, um ihm, natürlich ohne Bezahlung, Schild und
Speer zu verschaffen; letzterer besteht aus einer eisernen Spitze
von 76 cm Länge, einem hölzernen Schaft von 38 cm und
einem eisernen linierende von 46 cm. Die eiserne Spitze
ist beinahe in ihrer ganzen Länge 5 bis 71/2 cm breit, bis
sie plötzlich spitz zuläuft. Ein Schwert und ein fürchter-
licher Streitkolben vollenden seine Ausrüstung. Auch seine
äußere Erscheinung soll andeuten, daß er ein Krieger ge-
worden ist; sein Haar wird in einen Schopf von einzelnen
Strängen verarbeitet, wobei diejenigen, welche über die
Stirn fallen, kürzer abgeschnitten werden; anstatt des elfen-
beinernen Ohrenstreckers trägt er jetzt eine schwere Ouaste
von Eisenketten; den Hals verziert er mit einem Halsbande
von gewundenem Eisendraht, das Handgelenk mit einem
breiten Armbande von Perlen. Um die Knöchel werden
Streifen von dem schwarzen Fell des Colobusaffen ge-
bunden, eine dicke Lehmschicht, welche durch einigen Zusatz
von Fett weicher und geschmeidiger gemacht ist, bedeckt
Kopf und Hals. Den Schluß des Ganzen bildet ein aller-
dings sehr kleines Mäntelchen von Ziegenfell, welches nur
Brust und Schultern bedeckt.
Bis dahin hat er für einen Knaben gegolten und hat in
dem Kraal der verheiratheten Leute leben dürfen, nun aber
zieht er in einen entfernteren Kraal, in welchem lauter-
junge Leute beiderlei Geschlechts wohnen; einige Rinder
giebt ihm sein Vater zu seinem Unterhalte dorthin mit. In
diesem Lebensalter hat der den edleren Stämmen ungehörige
Massai-Jüngling sich meistens gut entwickelt, die meisten
erreichen 1,85 m Höhe; sie sind nicht herkulisch gebaut,
sondern gehören mehr dem Apollotypus an; viele kann
man wirklich schön nennen. Ungünstig wirkt nur die
Verunstaltung des Gebisses, von dem die zwei unteren
mittleren Schneidezähne ausgezogen sind; Tatuirung kennt
man nicht, wohl aber haben die Männer auf dem Lande
fünf bis sechs Brandwunden.
Wir müssen, da von jetzt an das Leben beider Geschlech-
ter ein gemeinschaftliches wird, ehe wir weiter fortfahren,
einige Worte über die jungen Mädchen beifügen. Zunächst
fei die Bemerkung Thomson's an die Spitze gestellt, daß
die Massaimädchen die hübschesten sind, die er je in Afrika
gesehen habe; nur haben sie, ebenso wie die Männer, dunkles
Zahnfleisch und schlecht gestellte Zähne; das Haar ist voll-
ständig wegrasirt. Eine gegerbte Ochsenhaut, von der die
Haare abgeschabt sind, wird togaartig über der linken
Schulter getragen und geht unter dem rechten Arme durch;
ein Perlengürtel hält dieselbe an der Hüfte zusammen, so
daß nur ein Bein frei bleibt, manchmal fällt diese Haut
von der Schulter und läßt die ganze Brust entblößt. Der
eigenthümliche Schmuck erfordert eine eingehendere Be-
schreibung. Um die Beine wird vom Knöchel bis zum
Knie Telegraphendraht in engen Spiralwindungen herum-
gelegt; ist dieser Schmuck einmal angelegt, so muß er auch
liegen bleiben, weil es mehrere Tage schmerzhafter Arbeit
erfordert, ihn an Ort und Stelle zu bringen. Er ver-
kümmert übrigens die Entwickelung der Wade, so daß die
Massai-Frauen wie auf Stelzen zu gehen scheinen; um
den Arm wird ähnlicher Schmuck getragen und das Gewicht
einschließlich des vom gleichen Eisendraht gebildeten un-
geheuren Halskragens beläuft sich auf etwa 30 Pfund;
außerdem werden noch Perlen und Eisenketten um den
Hals gelegt. Der Jüngling, der in den Kriegerkraal ein-
tritt, wird bald mit den Geheimnissen desselben bekannt
gemacht. Was die Speisen betrifft, fo herrscht eine strenge
Regel: nur Fleisch von Rindern, Ziegen und Schafen und
abwechselnd hiermit Milch ist erlaubt; eine verbotene Speise
44
346
Thomson's Reise ins Land der Massai.
genießen heißt sich die Entfernung ans der Kaste zuziehen;
es gilt schon als eine ungeheure Beleidigung, wenn man
einen Massai nur zum Genuß einer solchen einladet. Im
Kraal darf bloß frische Milch genossen werden, und nur,
wenn bei einem Krieger der Wunsch nach Fleischnahrung
gar zu lebhaft wird, darf er sich, begleitet von einigen
Kameraden, einer Köchin und einem Rinde, nach einer-
einsamen Stelle im Walde zurückziehen. Zunächst müssen
dort die Krieger tüchtig purgiren, um alle Milchnahrung
aus ihrem Körper zu entfernen; dann erst wird das Rind
durch einen Schlag vor den Kopf oder einen Stich in den
Nacken getödtet. Hierauf öffnet man eine Ader, um das
Blut zu trinken, welches den Massai das für den Organis-
nitts nöthige Salz liefert. (Salz in gewöhnlicher Form
wird nie genossen.) Binnen weniger Tage ist das ganze
Rind verzehrt, worauf die Leute in das Lager zurückkehren.
Der Verkehr der beiden Geschlechter ist ein vollkommen
freier, ohne daß der Jüngling oder das Mädchen an eine
bestimmte Person des anderen Geschlechtes gebunden wäre.
Hat der Umgang Folgen, so wird die Frau getödtet. Im
gewöhnlichen Leben hat der junge Krieger eigentlich nichts
anderes zu thun, als dem schönen Geschlecht den Hof zu
machen, alle Arbeiten werden von Dienstboten verrichtet,
nur der Wachtdienst erfordert besondere Aufmerksamkeit,
da ein Kriegerlager mit keiner Dornenhecke umgeben werden
darf. Von Zeit zu Zeit werden allerlei Uebungen vor-
genommen und auch Tänze aufgeführt, die jedoch mit dem
Lärm, den die Neger bei allen derartigen Gelegenheiten
machen, nicht die mindeste Aehnlichkeit haben; auch Musik
ist unbekannt, mit Ausnahme der bei Feierlichkeiten ertönen-
den Gesänge.
Der ganze Kraal steht unter den Befehlen eines erwähl-
ten Leitunu oder Hauptmanns, der unumschränkte Gewalt
über Leben und Tod besitzt. Er ist Richter und leitet den
Krieg, führt aber eigenthümlicher Weise die Mannschaft
.nicht selbst in der Schlacht an, sondern überläßt dies dem
Leigonani, welcher für gewöhnlich der öffentliche Anwalt
des Kraals ist und die Verhandlungen bei Streitigkeiten
leitet; erst wenn der Kampf znm Aeußersten gekommen ist,
stürzt sich der Lcitunu mit seiner Leibwache in den Kampf.
Außer diesen absoluten Herren, deren Wahl aber wider-
ruflich ist, kennen die Krieger keine weiteren Herrscher.
Uebrigens geht es unter ihnen bei allen Versammlungen
sehr formell her, namentlich sollen ihre Redekämpfe, mit
denen sie die Entscheidung herbeizuführen suchen, ganz be-
wundernswerth sein. Wenn ein Raubzug nach der Küste
beschlossen ist, wird das Unternehmen mit vieler Feierlich-
keit in Scene gesetzt, wobei natürlich auch allerlei Zauber-
mittel eine Rolle spielen. Bei solchen Gelegenheiten wird
die Kriegskleidung angelegt; vom Halse abwärts wallt die
Naibere, ein etwa 2 Meter langes, 2/3 Meter breites
Stück Tuch mit einem längs der Mitte aufgenähten
Streifen von bunter Farbe; um den Hals sitzt ein ganz
ungeheurer Kragen von Habichtsfedern, der Mantel von
Ziegensell ist um die Taille gerollt, um die Arme frei zu
lassen. Das Haar wird in zwei Zöpfen, einer vorn, einer
hinten, zusammengebunden, auf dem Kopfe trägt der Massai
eine Kappe von Straußenfedern, die einen elliptischen
Kranz um das Gesicht bilden. Die Beine sind mit Fellen
des Colobus-Affen geschmückt, welche wie Flügel von den
Waden abstehen; sein Leib ist mit der gewöhnlichen Salbe
von Fett und Lehm eingerieben; Speer, Schild, Schwert
und Keule vervollständigen die Ausrüstung. Weit und
breit machen die Massai das Land mit ihren Raubzügen
unsicher; wir können die Beschreibung eines solchen füglich
übergehen und nehmen die Erzählung erst bei der Verthei-
lung der Beute wieder auf. Ein großer Theil derselben
gehört dem Leibon Mbaratien, dem größten Zauberer des
Landes, weil er nämlich den Kriegern eine so kräftige
Medicin gegeben hat, daß sie im Stande waren, den
Gegner zu besiegen; über den Rest der geraubten Gegen-
stände kommt es oft zum blutigen Streite, so daß manch-
mal bei der Theilung mehr Menschen getödtet werden, als
im Entscheidungskampfe. Ein solcher Todtschlag bleibt
übrigens ungeahndet; wenn er aber mit Hinterlist begangen
ist, wird er mit 49 Rindern' gebüßt. Die im Streite
gefallenen Helden werden feierlich bestattet; anders die-
jenigen, die zu Hause sterben: sie werden den Geiern und
den Thieren der Wüste zum Fraß hingeworfen und die
Knochen, welche diese übrig lassen, verächtlich mit dem Fuße
zur Seite gestoßen. Oft wird der Streit durch Zweikämpfe
in größerem Maßstabe entschieden.
So bleibt der junge Mann im Kriegerkraal, bis sein Vater
stirbt; der älteste Sohn erbt alle Herden und, da er sich nicht
mehr so stark und kräftig wie früher fühlt, entschließt er
sich, zu heirathen. Er sucht sich nun eine Schöne ans, die
er um den Preis einer gewissen Anzahl Rinder kauft; ehe
der Bund aber geschlossen werden kann, muß sie sich einer
Operation unterwerfen, und auch nach ihrer Genesung
muß die Feierlichkeit bis zur Zeit des Kalbens verschoben
werden, da Milch nothwendig zur Feier der Honigmonate
gehört. Ihr Haar, welches die Braut seit dem Verlöbniß
hat wachsen lassen, wird bei der Hochzeit wieder abgeschnit-
ten. Bei dieser Gelegenheit legen die Neuvermählten einen
neuen Ohrenschmuck an, auch steckt sich die Frau von
nun an zwischen zwei Häute, von denen eine von den
Schultern, die andere von den Hüften herunterhängt, und
eigenthümlicher Weise muß der Mann nun die Kleider,
welche seine Frau als Mädchen getragen, anziehen und
einen Monat lang gebrauchen.
Mit der ehelichen Treue wird es nicht sehr streng
gehalten; Hauptzweck der Ehe ist es, möglichst viele Kinder
zu bekommen. Nahte sich doch einmal ein ansehnlicher und
reicher Massai, begleitet von seiner jugendlichen und hübschen
Frau, dem weißen Reisenden und die Schöne äußerte mit
Zustimmung ihres ältlichen Gatten denselben Wunsch wie
die karthagische Königin dem frommen Aeneas gegenüber,
„um sich später noch an den entfernten weißen Reisenden
zu erinnern". Namentlich die Ankunft einer Karawane
wird mit Hinsicht aus das vorher Gesagte mit Freuden
begrüßt, und es sind die Frauen, welche den Verkehr an-
bahnen und lebhaft unterhalten. Wenn die erste Frau alt
und häßlich wird, nimmt der Massai eine zweite und,
wenn es nöthig wird, noch weitere; bei dieser Gelegenheit
muß die erste Frau allen Eisendraht ablegen, der gebraucht
wird, um die neue Gebieterin zu schmücken.
Nächst den Massai wäre der Staunn der Audo-
robbo (Wandorobbo bei den Suaheli) zu nennen. Der-
selbe ist über ganz Massailaud zerstreut und lebt aus-
schließlich von der Jagd, da er weder Ackerbau noch Viehzucht
betreibt. Antilope, Büffel und Elefant verschaffen ihm
Fleisch, namentlich der letztere und gewöhnlich findet man
sie nur da, wo derselbe häufig vorkommt. Meistens sind
ihre Dörfer nur klein; die Massai schonen sie, da sie die
Händler von der Küste an sich locken, wodurch den erst-
genannten gewöhnlich eine hübsche Beute zufällt. Auch
sind sie selbst die Unterhändler, deren sich die Massai
bedienen, um sich die nöthigen Bedürfnisse zu verschaffen.
Die Sprache der Andorobbo ist mit der der Massai ver-
wandt; außerdem sind erstere im Stande, sich ganz fließend
in der Sprache der letzteren auszudrücken. Im Allgemeinen
gleichen sie den unteren Klassen der Massai, sitzen jedoch
Thomson's Reise ins Land der Massai.
347
fortwährend in ihren regelmäßig gebauten Dörfern; den
Massai, von welchen sie als eine Art Leibeigener betrachtet
werden, verfertigen sie Schilde für die Krieger und grobe
irdene Kochtöpfe für die Weiber. Zur Elefantenjagd
bedienen sie sich einer eigenthümlichen Waffe, die äußerlich
dem Wischer einer Kanone ähnlich sicht. Am dicken Ende
sitzt ein Dorn, einem dicken, kurzen Pfeile ähnlich, der etwa
4 Centimeter lang und an der Spitze mit dem tödtlichen
Gift des Mnrdju eingeschmiert ist. Mit dieser Waffe
wird der Elefant aus nächster Nähe angegriffen, der Pfeil
löst sich bei dem Stoße ab und bleibt int Körper des Thieres
zurück; wenn cs nöthig ist, wird eine zweite Spitze ein-
gesetzt und der Stoß wiederholt, gewöhnlich aber stirbt der
Elefant bald; ganze Herden sollen in solcher Weise ver-
nichtet werden. Es ist unmöglich, die Geschicklichkeit und
Verwegenheit dieser Jäger zu beschreiben.
Die Wakwafi stammen ursprünglich gewiß vom
Stamme der Massai ab,
haben sich jedoch nach dem
Verluste ihres Viehes von
jenen getrennt. Sie find
jetzt auf die Bebauung des
Bodens angewiesen, doch
scheint der Vegetarianismus
ihnen nicht gut zu bekom-
men, denn was ihr Aenße-
res betrifft, können sie sich
nicht neben ihren Stamm-
verwandten sehen lassen;
namentlich dieFranen haben
die schlanke Gestalt der
Massaisranen verloren und
nähern sich dem Neger-
typus. Die Häuser dieser
Leute sind nach Art der
Heuschober gebaut, der
Flur liegt tiefer als das
umgebende Erdreich; übri-
gens sind die Hütten klein
und unansehnlich. Die
Verhaue von Dorngesträuch,
die auch hier das Lager
umgeben, bringen unter
Umständen mehr Gefahr
als Nutzen, da sie leicht in
Brand gesteckt werden kön-
nen. In ihrem Leben sind
sie den Massai ähnlich, doch
wohnen verhcirathete und unverheirathete Leute in dem-
selben Kraal neben einander, und zwar in beständiger
Angst, von den Massai erdrückt zu werden. Ihre Aecker
bestehen aus dem fruchtbarsten Boden, der vom Gebirge
heruntergewaschen und über eine ziemlich gleichmäßige
Ebene im Süden des Landes ausgebreitet worden ist;
derselbe wird jedoch infolge der großen Trockenheit der Luft
und der sehr geringen Regenmenge hart und unfruchtbar.
Diesem Uebelstande zu begegnen, haben sie ein ganz aus-
gezeichnetes Bewässerungssystem eingeführt, wodurch ihnen
die Möglichkeit geboten ist, Hirse und Melonen zu pflanzen.
Hierdurch und durch den Ertrag der Jagd und der Fischerei
sind sie im Stande, ihren Bedürfnissen zu genügen, im
Nothfall essen sic übrigens auch Natten.
Ebenso wie dieser Stamm sind auch die Wandjems
ganz besonders ehrlich; einer der bemerkenswerthesten Züge
bei ihnen ist die Vertraulichkeit, mit der Frauen und
Mädchen sich Thomson näherten; sie waren in seiner Hütte
liegt nicht, wie es die
früheren Karten angeben,
an der Oftfeite des Sees,
sondern an der nordöstlichen Ecke desselben; dasselbe dehnt
sich ungefähr 30' nördlich und ebenso viel südlich vom
Aeguator ans und bedeckt noch einen beträchtlichen Theil
des Gebietes, der auf der Stanley'schen Karte als znnl
Sec gehörig dargestellt wird. Von allen den Stämmen,
die Thomson besucht hat, nannte er sie den gesittetsten,
trotzdem sie so wenig Kleider tragen. Sie betrieben an
einer Stelle regelmäßigen Bergbau, dessen Produkte in
Schmelzwerken verarbeitet wurden; täglich wurden 15 bis
20 Pfund Eisen gewonnen. Das Material wissen sie in
sehr geschickter Weise zu verarbeiten und sie verstehen cs
sogar, viereckigen Eisendraht zu verfertigen, der ähnlich wie
bei den Massai zum Schmuck verwendet wird. Trotz an-
fänglichen Widerstandes kam man mit ihnen auf guten
Fuß; Tänzfeste wurden gegeben und die Schönen in die
Geheimnisse eines europäischen Walzers eingeweiht; ein
kleiner Diebstahl, dessen Objekt durch Gewalt zurückerobert
wurde, konnte das Vergnügen nur vorübergehend stören;
44*
wie zu Hanse und untersuchten Alles, ungeniert setzten sie
sich auf feine Knie und zwangen ihn, fein sehr bewundertes
Kunststück, das Ausziehen und Einsetzen seiner Zähne, zu
wiederholen. Ein ähnliches Experiment, mit welchem
Martin sich Lorbeeren erwerben wollte, mißglückte und
wäre ihm beinahe schlecht bekommen; er hatte nämlich
erzählt, man könne ihm einen Finger abschneiden, er sei
dann im Stande, denselben wieder anzusetzen. Er hielt
dabei einen Finger in die Höhe, doch che er sich dessen
versah, war derselbe durch einen kräftigen Schnitt beinahe
abgetrennt. Auch der Spiegel, dessen Zweck sie bald
erfaßten, war den Schönen des Landes eine unerschöpfliche
Quelle des Vergnügens; sie singen bald an, von demselben
Gebrauch zu machen, um zu sehen, ob ihre Schmucksachen
richtig saßen. Die Photographien europäischer Damen
besahen sie mit großem Vergnügen, sie glaubten fest, daß
cs lebende Wesen seien; Thomson erklärte ihnen jedoch,
daß dieselben schliefen oder
ausgegangen seien, und
diese Erklärung befriedigte
sie vollständig.
Eine eigenthümliche Er-
scheinung hat Thomson bei
verschiedenen Stämmen
gefunden: die Leichtigkeit,
mit welcher die Berg-
bewohner sich selbst auf sehr-
große Abstände einander
verständlich machen können.
Einmal sah er einen Mann
guer über ein tief cin-
gcschnittencs Thal einem
anderen zurufen, der kaum
noch zu erkennen war, und
doch erhob er seine Stimme
durchaus nicht; die Antwort
konnte Thomson mit voll-
kommener Deutlichkeit ver-
stehen.
Die W a k a w i r o n d o
am Victoria-Njanza stechen
äußerlich sehr von den
Massai ab; sie sind, wie
cs scheint, mit den Negern
verwandt. Ihr Gebiet
Töchter des Häuptlings von Massala.
348
Dos südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Solaren.
im Gegentheil waren die Eingeborenen später so zutraulich,
daß sie sich sogar Photographiren ließen; eine Probe davon
zeigt unser zweites Bild.
Daß Thomson ein großer Jäger ist, haben wir bereits
aus dem Berichte über seine erste Expedition vernommen;
übrigens war es auch die Nothwendigkeit, welche ihn an-
haltend zwang, zur Büchse zu greifen. Denn nur das
große Wild verfolgte er, Geflügel und niederes Wild
blieben unbeachtet und werden nur so nebenher erwähnt,
aber Zebra, Büffel, Rhinoceros, Elefant und Nilpferd
fielen seinem Geschoß zum Opfer, meistens um ihm den
Braten zu liefern, dessen er und seine Leute so dringend
bedurften. Daß die Sache nicht immer gefahrlos war,
Das südwestliche Turkmenien, das
Chr. II. Der durch seine Reisen im Lande der Turk-
menen bekannte Ingenieur Lessar hat in der December-
Sitzung des vorigen Jahres der Kaiser!. Nuss. Geogra-
phischen Gesellschaft ein Memoir über das südwestliche
Turkmenien verlesen, dem wir Folgendes entnehmen.
I.
Lessar, der schon in den Jahren 1882 und 1883 zu
verschiedenen Malen das von Turkmenen bewohnte Gebiet
besuchte (s. „Globus" Bd. 43, S. 101, 123 und 136),
hatte damals keine Möglichkeit gehabt, den Landstrich süd-
lich von Mcrw, das Thal des Mnrghab, kennen zu
lernen. Erst die llntcrwcrfung der Turkmenen von Merw
unter das russische Scepter, wodurch die^Saryk-Turk-
menen unmittelbare Nachbarn der Russen wurden, gestat-
tete es, ohne Gefahr ins Mnrghab-Thal zu gelangen.
In dem oben genannten Vortrage giebt Lessar nun als
Einleitung zuerst eine kurze Schilderung der Vorgänge bei
der Besetzung Merms durch die Russen und dann weiter
eine Beschreibung seiner damals unmittelbar nach der Be-
setzung Merws ausgeführten Reise von Mcrw über
Jolatan nach Pende * 2) und zurück. Einiges aus
dieser Reiseschilderung mag hier mitgetheilt werden.
Nachdem am 3. (15.) März 1884 das russische De-
tachement am linken Ufer des Mnrghab gegenüber der
Teke-Festung Kouschut-chan-Kala in der Oase Merw ein
Lager aufgeschlagen, machte sich Lessar sofort am anderen
Tage aus den Weg. Mit ihm ritten fünf Turkmenen, welche
ihn bereits früher begleitet hatten, ein Dolmetscher Chatym
und ein Merwer Kary-Jagdy, ein vortrefflicher Kenner-
aller Steppenwege. Der Weg bis zur Oase Jolatan
bietet nichts Bemerkenswerthes. Die Befestigung dieses
Namens liegt auf einer Anhöhe des linken Murghab-
Ufers; die Einwohner, geführt von einem ihrer Aeltesten,
Sary-chan, kamen dem Reisenden entgegen, um ihn unter-
offenkundigen Frendenbezeugungen zur Festung zu geleiten.
Jetzt wurde mit Sary-chan über die Weiterreise nach
1) Nach dem Russischen P. M. Lessar's in den „Nachrichten
der Kaiserl. Russ. Geograph. Gesellschaft" 1885, 1. Lieferung,
S. 1—80.
2) Lessar und nach ihm alle russischen Zeitungen schreiben
Pende und nicht Pendsch-deh (ober nach englischer Orthographie
Penjde), wie die deutschen Blätter. Letzteres ist etymologisch das
bessere; der Name bedeutet „die fünf Dörfer".
ist leicht erklärlich. Bald war er in Gefahr, von einem
Rhinoceros todt getreten, oder von einem Löwen an-
gegriffen zu werden; dann wieder hatte er sich verirrt in
der gefährlichen Einsamkeit und nichts deutete ihm die
Richtung an, in welcher er feine Gefährten zu suchen hatte;
doch ging er unverzagt auf die Jagd, wenn auch manchmal
feine Hand vom Fieber zitterte und der sonst so sichere
Schütze fein Ziel fehlte. Am schlimmsten spielte ihm ein
wilder Stier mit, der ihn über sich wegschleuderte; von
den Folgen der Begegnung haben wir oben schon gesprochen.
Aber sonst hat auch bei dieser Expedition das unwandel-
bare Glück, welches Thomson auf seiner ersten Reise zur
Seite stand, ihn nicht verlassen. ,
Land der Saryken und Saloren').
Pendschdeh verhandelt: man bot dem Reisenden ein Geleit von
12 Reitern an; er schlug cs ans und wünschte nur zwei oder
drei mit den Wegen der Steppe bekannte Leute bei sich zu
haben. Das erschien den Einwohnern von Jolatan zu
wenig — endlich gab Lessar nach, daß ihn sechs Saryk-Reiter,
darunter zwei erfahrene Steppcnführer, begleiten durften.
Ehe er Jolatan verließ, sah er sich die Ansiedelung an
und besuchte, einer Einladung folgend, die Läden der hier
wohnenden Juden. Die Judenhaben hier etwa 15 oder 16
stets offene Läden; die Turkmenenhündler dagegen schlagen
ihre Läden nur an den Markttagen auf. Um den Rei-
senden zu begrüßen, versammelten sich alle angesehenen Juden;
ihr semitischer Typus hat sich in seiner ganzen Reinheit er-
halten. Sie äußerten ihre unverhohlene Freude über die An-
kunft der Russen: freilich verfolge man sie nicht wegen ihrer
Religion, man fordere auch nicht ihren Uebertritt zum
Islam, aber sobald sic nur einen gewissen Wohlstand er-
reicht hätten, so würden sie unbedingt ausgeplündert, wie
es ihnen noch vor Kurzem widerfahren sei. Würden ihnen
die Russen helfen? Lessar erwiderte, über das Geschehene
könne nicht mehr abgerechnet werden; neue Gesetze und die
Macht der Russen seien aber Bürgschaft für eine gesicherte
Zukunft. Die jüdischen Kaufleute waren in Buchara, in
Samarkand, in Indien gewesen; sic sind in Herat erzogen,
woselbst zwei jüdische Schulen existiren; von Europa haben
sie eine richtigere Vorstellung als die Turkmenen, wissen
etwas von ihren Glaubensgenossen, kennen Rothschild und
äußerten, er leihe selbst dem Kalifen Geld. Beim Abschiede
theilte ein alter Jude den Reisenden mit, daß schon gestern
ein Reiter nach Pendschdeh abgefertigt sei, um daselbst die
bevorstehende Ankunft Lessar's zu melden. — Am Abend
des 7. (19.) März verfaßten die Turkmenen-Chane eine
Bittschrift, die Einwohner von Jolatan in die russische
Unterthanschaft aufzunehmen; am andern Morgen sollten
die Abgesandten damit ins russische Lager nach Merw
reiten.
Am 8. (20.) März, Morgens 9 Uhr, verließ Lessar
seine Gastfrcunde, nachdem er Sary-chan 50 Kran (ca. 30
Mark) geschenkt hatte, und setzte seinen Ritt nach Kurdschukli
fort, woselbst genächtigt wurde. Als er von hier einen
Ausflug in der Nähe machte, um die Ruinen eines Dammes
zu besichtigen, und sich dabei von zwei Teke und zwei
Saryken begleiten ließ, so wollten durchaus alle Teke ihn
begleiten, weil sie nicht allein mit den Saryken zurückbleiben
wollten; so wenig trauten sie diesen. Lessar aber ließ sie
A
350
Das südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Saloren.
zurück, gerade, um den Saryken keine Gelegenheit zum
Mißtrauen zu geben.
Der Weg ist verhältnißmäßig gut; er zieht sich bald
näher, bald weiter vom Flusse entfernt hin. An einer
Stelle, Imam genannt, befindet sich ein weit ausgedehnter
Begräbnißplatz; daneben die Grabmäler zweier Heiligen
mit persischen Inschriften, außerdem Gräber vieler Leute,
welche bei Raubzügen umgekommen sind. In früherer
Zeit galt der Weg von Merw nach Pendschdeh für den aller-
gefährlichsten der Steppe, und man kann kaum eine Werst
weit reiten, ohne auf ein oder zwei Gräber zu stoßen.
Stöcke mit daran hängenden Lappen weisen darauf hin,
daß hier die Opfer eines Raubzuges (Alaman) liegen,
größtentheils Hirten und Kaufleute. Viele Ruinen und
Trümmerhaufen lassen schließen, daß die Gegend einst be-
lebter war als jetzt, und man darf erwarten, daß nun nach
Wiederherstellung der Ruhe die Straße hier wieder belebter
werde, weil die Ufer des Murghab geeigneter zur Ansiede-
lung sind, als die des Heri-Rud.
In der Nähe von Imam kamen den Reisenden sieben
Saryk-Reiter entgegen, welche offenbar von einem Raub-
zuge (Alaman) heimkehrten; ihr Anführer hieß Ana-nefcs
vom Stamme Mdfchend; ihnen folgten etwa 30 Leute
anderer Stämme. Sie gaben vor, nach Seistan gezogen
zu sein und erzählten, der Raubzug sei nicht von Erfolg
begleitet gewesen: die Perser waren vorbereitet und die Räu-
ber mußten unverrichteter Sache umkehren. In Pendschdeh
hatten sie die Besetzung Merws vernommen und darauf
beschlossen, aus einander zu gehen und nach Haus zu ziehen;
Ana-nefes mit den übrigen Reitern seien bei der Fuhrt
Jungenli zurückgeblieben. Die Tcke-Begleiter Lessar's
wurden dadurch beunruhigt; sie trauten nicht einmal den
mit ihnen ziehenden Saryken und hielten die Nachbarschaft
einer Räuberbande von Saryken für äußerst gefährlich.
Die Verhandlungen wurden mit großer Vorsicht gepflogen,
und die Teke riethen, auf dem Marsche stets bei einander
zu bleiben. Doch nicht allein die Teke zeigten Furcht;
einige Hirten, welche die Lessar'sche Reiterfchar erblickten,
ergriffen sofort die Flucht und konnten nur mit Mühe
beruhigt werden; -sie hatten geglaubt, Räuber aus Merw
vor sich zu sehen. Zur Nacht blieben die Teke nicht an
der Straße, sondern wählten einen offenen Platz seitlich
an derselben zum Nachtlager, um den Blick allseitig frei
zu haben; drei Leute wachten abwechselnd die ganze Nacht
hindurch. Die Saryken schliefen gleichfalls nicht, weil sie
Ana-nefes in der Nähe wußten; andererseits waren sie in
Unruhe wegen Lessar's: sie hatten ihn beredet, nach Pendschdeh
zu reiten und waren doch nicht sicher, wie man ihn daselbst
empfangen würde. Die ganze Nacht hindurch beriethen
sie sich; endlich bei Tagesanbruch ritt einer der Saryken,
Seis-batyr, welcher in Pendschdeh ansässig war, voraus, um
den Empfang vorzubereiten, und bat Lessar, nicht eher über
Jungenli hinaus zu gehen, bevor er ihm nicht mit den
Chanen von Pendschdeh entgegen käme. Lessar selbst war
dagegen in Betreff des Empfanges in Pendschdeh vollkommen
beruhigt: die Besetzung Merws hatte einen tiefen Ein-
druck auf die Steppenbewohner gemacht, das wußte er;
solche Begebenheiten verursachen länger oder kürzer an-
haltende Furcht und Unentschlossenheit, und unterdeß kann
Jedermann ungefährdet sich hinwenden, wohin es ihm
beliebt.
Vor Pendschdeh erfuhr Lessar, daß die Saryken in Betreff
des nicht gelungenen Raubzuges gelogen hatten; die Räuber
hatten ein Grenzdorf überfallen, 12 Perser gefangen ge-
nommen und sofort an die Gersek - Turkmenen verkauft.
Die letzteren genießen sogar unter den Saryken keines guten
Rufes und werden von allen übrigen Stämmen für aus-
gemachte Diebe gehalten.
Kurz bevor der Fluß Kufchk in den Murghab mün-
det, überschreitet die Straße den Murghab mittels einer
aus alter Zeit stammenden Brücke, genannt Dasch-Köpri;
nahe dabei ist zwischen Murghab und Kuschk ein Hügel,
Ak-tepe mit Namen. Bald nachdem Lessar mit seiner
Schar die Brücke passirt, kamen ihnen die Stammältesten
von Pendschdeh entgegen, offenbar reiche, sauber gekleidete Leute
auf guten Pferden. — Lessar wurde zunächst von einem
der Stammältesten in ein noch ganz neues mit guten
Teppichen versehenes Zelt geführt; dann machten sich die
Turkmenen sofort daran, einen Holzhaufen anzuzünden,
denn so groß auch die Hitze fein mag, das Anzünden eines
Feuers gehört einmal zum ehrenvollen Empfange eines
Gastes. Der Wirth war nicht unzufrieden, als Lessar
sich das Anzünden verbat: das Holz ist nämlich dort sehr
theuer und muß von Kala-i Mor und Tschemen-i-bid (am
Kufchk-Flusse) her geholt werden.
Man gönnte dem Reisenden nur kurze Zeit zur Er-
holung; dann begannen die Besuche und Gespräche. Es
war interessant, diesen Räubern zuzuhören; nach ihren
eigenen Berichten hatten sie niemals andere Leute über-
fallen, im Gegentheil, sie hatten allerlei zu erdulden ge-
habt; sie fanden es daher gerechtfertigt, daß der „Weiße
Zar" sie beschützen werde und daß, nachdem Merw den
Turkmenen abgenommen sei, es nun ihnen, den Saryken,
zurückgegeben werde, deren Väter einst jenes Land besessen
hätten; dabei hofften sie aber ihre Selbständigkeit sich be-
wahren zu können, d. h. ihre Nachbarn nach Herzenslust
berauben zu dürfen. Lessar antwortete ihnen unter anderem:
die Russen wünschten Ruhe und Frieden; die Saryken
könnten thun, was sie wollten, unabhängig bleiben oder
nicht, doch möchten sie dessen eingedenk sein, daß, wer sich
einfallen ließe, zu rauben, strenge bestraft werden würde.
Am anderen Morgen, 12. (24.) März wurden die
Besuche fortgesetzt; dann besichtigte Lessar die Ansiedelung
der Saryken. Befestigungen sind keine vorhanden, die alten
beiKönje (Alt-) Pendschdeh und bei TazaPendschdeh
liegen jetzt in Trümmern. Gelegentlich werden in den
Ruinen goldene Münzen gefunden. Als Lessar in Be-
gleitung eines Teke und eines Saryken Pata - Serdar
durch die Oase ritt, wurde er überall freundlich em-
pfangen, nur die turkmenische Neugier siel ihm oft lästig.
Aus Jolatan waren Abgesandte nach Pendschdeh gekommen,
zugleich war eine Waaren-Karawane eingetroffen: das Ka-
meel an der Spitze derselben trug eine große Glocke und
verkündigte schon von weitem die Ankunft der Karawane;
die Leute versicherten, daß bisher erst in Dasch-Köpri
die Glocke angehängt worden sei; jetzt, seit die Russen
Frieden gemacht, töne die Glocke auf der ganzen Strecke
von Jolatan ab. Die Saryken wünschten, Lessar sollte
längere Zeit in Pendschdeh verweilen, sie wollten eingehend
mit ihm verhandeln; er entgegnete aber, zu Verhandlungen
sei er nicht bevollmächtigt; wer das wolle, solle nach Ascha-
bad gehen.
Am 13. (25.) März verließ er Pendschdeh und betrat nach
kurzem Marsche das Thal des Flusses Kuschk, das auf
beiden Seiten von Hügeln begrenzt wird. Der Hügel
wegen ist die Bewässerung der Aecker schwierig. Am an-
deren Tage überschritt er den Kuschk und wandte sich
nach Südwesten, einem Nebenfluß des Kuschk, dem Egri-
gök folgend, um dann gerade nach Westen aufAk-Rabat
loszugehen, woselbst er bereits im August 1882 gewesen
war. Dort wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Ak-
Rabat liegt in Trümmern; die noch hier und da stehen-
r.*Tw»
Aus allen Erdtheilen.
351
den Mauern sind mit turkmenischen wie mit persischen Auf-
schriften bedeckt; die Asiaten haben dieselbe Leidenschaft, sich
zu „verewigen", wie die Europäer. Außer Lessar hat
noch kein Europäer diesen Ort besucht.
Von Ak- Rabat wandte sich Lessar direkt nach Norden;
der Weg geht gerade zwischen zwei hier befindlichen Salz-
seen Jer-ailan oder Dus (Salz) genannt, hindurch,
überschreitet einen Bergrücken Elbirin-Kir und tritt
dann in eine weite gut bewachsene Ebene bis zu den
Brunnen Kojun - kuju. Von hier geht der Weg
95 Werst (Kilom.) durch die Steppe nach Nordwesten
direkt zum Murghab zu den Ruinen von Imam. Am
19./31. Mürz erreichte Lessar die Ansiedelung Jolatan
wieder, verließ den Ort am 23. März und traf am selben
Abend in der russischen Befestigung ein, welche während
seiner Abwesenheit bei Kouschnt-chan-Kala (Merw) ange-
legt worden war.
Aus allen
Asien.
— Dr. Wilhelm Radloff hat sein neuestes Werk
„Aus Sibirien" (2 Bde. Leipzig, T. O. Weigel, 1884),
ans welchem der „Globus" bereits auf S. 301 f. dieses
Bandes eine Probe brachte, auf dem Titel als „Lose Blätter
aus dem Tagebuche eines reisenden Linguisten" bezeichnet.
Es ist aber vielmehr die in vollendete Form gebrachte reife
Frucht zehnjähriger Reisen und noch längerer Studien, als
Tagebuchnotizen, obwohl auch Reiseschilderungen aus dem
Altai und der östlichen Kirgisensteppe, von der chinesischen
Grenze und der westlichen Mongolei u. s. w. nicht fehlen.
Den Haupttheil des ersten Bandes bildet eine ganz vorzüg-
liche ethnographische Schilderung namentlich der Kasak-
nnd Kara-Kirgisen, sowie der östlichen nicht moham-
medanischen Türkstämme Westsibiriens — eine hoch interes-
sante Schilderung auch des geistigen Lebens, wie sie eben
nur ein mit der Sprache des Volkes Vertrauter zu schreiben
im Stande ist. Als Einleitung dazu dient eine Geschichte
der Bevölkerung Südsibiriens und der Dsungarei von den
ältesten chinesischen Quellen an bis herab auf die russischen
Eroberungen und die Jetztzeit, wodurch die heutigen Ver-
hältnisse erst in das richtige Licht gerückt werden. Die
Bevölkerung des Altai hält Radloff (S. 285, 371) für ver-
loren ; sie muß im stillen Kampfe gegen die vordringenden
Russen unterliegen. „Zuerst sinkt ihr Reichthum und ihre
sociale Stellung; aus Fürsten werden Dorfälteste, aus reichen
Herdenbesitzern wurzelnagende Bettler. Durch die verschlech-
terte Nahrung wird die Rasse schwächer und stirbt zuletzt
allmählich aus. Es mag den Philanthropen schmerzen und
jeden guten Menschen betrüben, wenn er die Gewaltthätigkeiten
und U ngcrechtigkeiten der stärkeren Rasse beobachtet; sie entsprechen
aber den Gesetzen der Natur, und aufrichtig muß man bekennen:
die herrlichen Altaithäler sind viel zu gut für die Nomaden, die
den Reichthum des Landes nicht zu heben wissen." Mit den
Steppen ist es anders; ein großer Theil derselben kann,
seinen natürlichen Bedingungen gemäß, nur von Nomaden
bewohnt werden, und es würde ein unbedingter Rückschritt,
eine Entvölkerung eintreten, wenn man die Nomaden in
Ansiedler verwandeln wollte. In dieser Hinsicht aber geht
die chinesische Regierung, welche den Steppenbewohnern ihre
hergebrachten Zustünde durchaus beläßt, entschieden richtiger
zu Werke als die russische, welche in ihren humanistischen
Bestrebungen durch Einengung der den Nomaden nöthigen
Freiheit ihrem Wohlstände mehr Schaden als Nutzen ge-
bracht hat.
Der zweite Band wird mit einem Aufsatze „Das
Schamauenthum und sein Kultus" eröffnet, der dieses
Thema von einer ganz neuen Seite und tiefer auffaßt, als
die bisherigen Berichterstatter. Radloff sieht in den Scha-
manen nicht Betrüger, wie so viele vor ihm, sondern die
Träger der ethischen Idee ihres Volkes; „in ihren Gebeten
E r d t h e i l e n.
spiegelt sich dieselbe Furcht vor den bösen Mächten ab, die-
selbe Hoffnung auf Hilfe der Gottheit des Lichtes, die das
Volk bewegt, und zwar in derselben materiellen, wenn ich
so sagen darf, ungeistigen Weise. In den Handlungen der
Schamanen sind Wahrheit und Dichtung eng gepaart und
untrennbar zu einem Ganzen verschmolzen, ebenso wie bei
vielen Priestern anderer Religionen. Innerlich ist der
Schamane gewiß von der Wahrheit seiner Darstellung über-
zeugt, er geräth gewiß in wahre Verzückung, und dem Wahn-
sinn nahe Hallucinationen mögen ihn häufig in einen Zustand
vollkommener Bewußtlosigkeit versetzen.......... Daß das
Schamanenthum niedriger steht als die es umgebenden und
gleichsam einengenden großen drei Religionsgemeinschaften,
das Christenthum, der Mohammedanismus und der Bud-
dhismus, dagegen wird Niemand streiten; daß es aber auch
gewisse ethische Bestrebungen fördert und enthält, ist nicht
weniger wahr."
Dann folgt ein langer Aufsatz mit vielen Abbildungen
über „Sibirische Alterthümer", welche Radloff durch
eigene Ausgrabungen gründlich kennen lernte, und welche er
drei verschiedenen Perioden, einer Bronze- und Kupfer-, einer
älteren und einer jüngeren Eisenzeit zuschreibt. Für das
Volk der Bronzeperiode hält er die Bilä od^r Gelotschi, die
zu dem rings um den Altai sitzenden Volke der Jenisseier
gehörten, und deren Nachkommen noch bis ins 17. Jahr-
hundert sich mit Metallarbeiten beschäftigten; ihre jetzt sehr
zusammengeschmolzenen Reste heißen Kusnetzi, Schmiede-
tataren. Ein Theil dieser friedfertigen, ansässigen und
gewerbetreibenden Jenisseier, die ihre eigene, nicht zum ural-
altaischen Stamme gehörige Sprache redeten, wurde wahr-
scheinlich durch die Ugro-Samojeden noch vor Beginn unserer
Zeitrechnung vernichtet, die westlichen Jenisseier aber einige
Zeit später, sicher aber vor dem 6. Jahrhundert von Türk-
stämmen unterjocht und von denselben absorbirt. Zu den Türken
gehört dann auch das Volk der älteren Eisenzeit (II, 132).
Von den letzten drei Abhandlungen dieses Bandes
„Streifzüge zur chinesischen Grenze und in die westliche
Mongolei und die dortigen Handelsbeziehungen zwischen
Mongolen und Russen", „Das Jli-Thal" und „Das mittlere
Scrafschan-Thal" kann man nur bedauern, daß sie erst jetzt
veröffentlicht worden sind, anstatt vor 15 oder 20 Jahren.
Referent weiß nichts zu nennen, was das Verhältniß Ruß-
lands zu China und den türkischen Chanaten dem Verständ-
nisse näher brächte, als diese vortrefflichen Aufzeichnungen
Radloff's. Wahrhafte Muster von Völkerschilderungen sind
die Abschnitte über die buntscheckige Bevölkerung des kürzlich
wieder an China abgetretenen Jli-Thales im Jahre 1862,
namentlich der tatarischen Ackerbauer oder Tarantschi
(S. 331 bis 346), denen er Gutmüthigkeit, Treuherzigkeit
und Arbeitsamkeit nachrühmt, und der ganz herabgekommenen
und seitdem vernichteten Mandschu (S. 359 ff.) und über
die fanatischen Bewohner Samarkands. Wir schließen diese
352
Aus allen Erdtheilen.
Anzeige des bedeutenden Werkes, dessen reichen Inhalt wir
kaum anzudeuten vermögen, mit folgender Entlehnung (II,
237), die manches bisher Unverständliche erklärt. „Dem un-
parteiischen Beobachter ist die Gleichgültigkeit, mit der die
russischen Machthaber an der Grenze auf diese Störung
(«o. der russischen Handelsbeziehungen mit Westchina durch >
den Aufstand der Mohammedaner) blickten, vollkommen un-
verständlich. Ruhig ließen sie zu, daß sich an Stelle der für
unsere Grenzruhe so Vortheilhaften chinesischen Macht hier
an dieser Grenze ein uns in jeder Beziehung feindlich ge-
sinntes mohammedanisches Reich bildete, dessen Streben von
Anfang an darauf gerichtet war, die mohammedanischen
Nachbarn ans russischem Gebiete an sich zu ziehen. Gleich-
gültig blickte man zu, wie durch den Fanatismus ein reiches
Land vernichtet wurde, das uns ein so Vortheilhaftes Han-
delsfeld darbot. Wie voraus zu sehen war, zwang die
feindliche Strömung in dem Mohammedaner-Reiche von
Kuldscha zuletzt doch bie russische Regierung, das Land zeit-
weise zu besetzen; aber in weiser Vorsicht hat die Regie-
rung ihren früheren Fehler eingesehen und das Jli-Thal den
Chinesen zurückgegeben. Die einzigen für Rußland vortheil-
haften Nachbarn in Asien sind seit altersher die Chinesen."
Und in Bezug ans die jetzt brennende Tagesfrage äußert
Radloff (II, S. 486): »Dankbar müßte die civilisirte Welt
der russischen Krone sein, daß sie jene Ursitze des Fanatismus
und Despotismus (die türkischen Chanate) in Schranken hält.
Es könnte für England nur von Nutzen sein, wenn Rußland
einst sein Nachbar in Afghanistan würde."
— Von dem Asien-Reisenden Oberst Prshewalski
ist aus O s ch unterm 18. April folgende Meldung einge-
troffen: „Lob-Nor, den 15. März. Während des letztver-
flossenen Herbstes und Winters haben wir den Weg von
Ost'Zaidam zum Lob - Nor zurückgelegt. Der unbekannte
centrale Kuen-Lün ist genügend erforscht und der alte Weg
aus Chotan nach China aufgefunden und weiter verfolgt
worden. Neu entdeckt sind drei mächtige, in ewigem Schnee
liegende Gebirgszüge; benannt haben wir den einen „Mos-
kowski", den anderen „Columbus" - Gebirgszug und den
dritten „Sagadotschny" (Räthselhafter). Der höchste Punkt
des ersten ist d^r Berg „Kreml", des zweiten „Dshinri" und
des dritten »Schapka Monomacha" (Monomach'sMütze).
Sie liegen mehr als 20 000 Fuß über dem Meeresspiegel.
Das an den centralen Kuen-Lün grenzende Tibet-Plateau
hat über 4000 Fuß absoluter Höhe. Bewohner trafen wir
nur in Siid-Zaidam. Weiterhin westwärts ist die Wüste
äußerst arm in ihrer Fauna und Flora. Im December
überschritten die Fröste hier den Gefrierpunkt des Queck-
silbers. Den Februar und die erste Hälfte des Märzmonats
haben wir in Lob-Nor zugebracht. Dieser Tage brechen wir
über Tschertschen nach Keria (in Chotan, Ostturkestan) auf.
Von dort gedenken wir uns für die drei Sommermonate
ins Gebirge von Nord-Tibet zu begeben, wofern uns die
Chinesen nicht daran hindern. Zum Herbst geht's dann nach
Russisch-Turkestan. Alles ist wohl und wir Alle gesund."
A » st r a l i e n.
— Wie mall aus dem nördlichen Queensland berichtet,
existirt in einem dortigen Flusse, genannt Saltwater-
Creek, in 180 59' südl. Br. und 1460 18' östlich von Gr.
ein kleiner, mit feinen stachelschweinartigen Kielen bedeckter
Fisch, welcher sich immer auf dem Grunde des Wassers
aufhält. Die leiseste Berührung mit demselben verursacht
stundenlang die entsetzlichsten Schmerzen. Der von dem
Stiche Betroffene wird sofort wie machtlos und öfters fast
wahnsinnig. Das Baden in diesem Flusse ist daher sehr
gefährlich.
— Die große Dürre, von welcher Australien im
vorigen Jahre zu leiden hatte, hat zu sehr bedeutenden
Verlusten in dem dortigen Viehstapel geführt. Aus
Neu-Süd-Wales wird darüber berichtet, daß diese Kolonie
am 1. Januar 1885 an Pferden 316 915 gegen 326 964, an
Rindern 1 408353 gegen 1 640 753 und an Schafen 31 517 984
gegen 37 334 425 am 1. Januar 1884 besaß. Dieser große
Verlust an Vieh während des Jahres 1885 repräsentirt einen
Werth von 4 242 791 Pfd. Sterling.
— Wie der »Sydney Mornings Herald" berichtet, halten
sich die um Mount Ko sc ins ko, in Neu-Süd-Wales in
36" 24' südl. Br. und 1480 g- östlich von Gr. wohnenden
Eingeborenen alljährlich während des Sommers einige
Wochen lang ans der Höhe dieses Berges, welchen sie Tar-
gan-gil nennen, auf und leben dort dann ausschließlich von
einer großen Motte, genannt Cogong. Zur Abendzeit zünden
sie ein Feuer an: die Motten, durch das Licht angezogen,
kommen aus den Felsen hervor, versengen sich die Flügel
und werden so eine leichte Beute der Eingeborenen, welche
sie sofort verschlingen.
Nordamerika.
— Packard veröffentlicht im „American Naturalist"
Berichte über eine Sammelreise nach den: südlichen
Labrador, die heute noch von Interesse sind, obwohl die
Reise schon 1860 stattfand. Er nennt Labrador ein unfer-
tiges Land, das sich heute noch in dem Zustande befindet,
welchen Neu - England kurz nach dem Ende der Eiszeit
zeigte; die Flüsse "bestehen noch aus Reihen von Seen, es
sind noch keine Terrassen gebildet und die rauhen Felsen
noch nicht durch Anschwemmungen verdeckt. Das Haupt-
hinderniß für die Erforschung des Inneren bildet die Un-
masse von Stechfliegen, vor denen man sich nicht schützen kann
und vor denen selbst die Neufundländer Hunde heulend ins
Wasser entwichen und sich dort so niederlegten, daß nur
noch die Nase heraussah. Die wenigen Ansiedler suchen im
Sommer vor ihnen Schutz auf vorspringenden zugigen Land-
zungen. Es ist faktisch dieses Insekt, welches .die Ansiede-
lung an günstigen Stellen im Inneren unmöglich macht.
— Die Ausfuhr des Deutschen Reiches nach
den Vereinigten Staaten im Jahre 1884 war im
Ganzen befriedigend und überstieg die voll 1883 um 8 Mil-
lionen Mark, diejenige von 1881 um etwa 4lV2 Mill. Mk.
Die wichtigsten Artikel waren Photographie-Albums (aus
Berlin allein für 2V2 Mill. Mk.), Bücher und Musikalien
(2 Mill.), Cigarren und Cigaretten 0 Mill.), Düngesalz
(5 Mill.), Handschuhe (14% Mill.), Kleider (9 Mill.), leinene
und halbleinene Waaren (4V2 Mill.), Lnmpen (6 Mill.),
musikalische Instrumente (5 Mill.), Strumpfwaaren (18 Mill.),
wollene und halbwollene Waaren (11 Mill.), Zucker (14 Mill.).
Ein Zuwachs in der Ausfuhr fand statt in den Consular-
bezirken Berlin, Braunschweig, Chemnitz, Dresden, Hamburg
und Leipzig, eine Abnahme dagegen in Annaberg, Bremen,
Breslau und Stettin.
(„The Chamber of Commerce Journal.“)
Inhalt: G. Révoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajnn 1882 bis 1883. IV. (Mit fünf Abbildungen.) —
Thomson's Reise ins Land der Massai. II. (Schluß.) (Mit zwei Abbildungen.) — Das südwestliche Turkmenien, das Land
der Saryken und Saloren. I. (Mit einer Karte.) — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Australien. — Nordamerika. (Schluß
der Redaktion: 10. Mai 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herüeksichtignng der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
I) r. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1885.
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun
• 1882 bis 1883.
v.
(Sämmtliche Abbildungen uach Photographien.)
In Schingani sind der Thurm Abdul-Aziz und die bei
demselben gelegenen Grabmäler jüngeren Datums die ein-
zigen Reste der Vergangenheit; alles Uebrige hat der Sand
zugedeckt, und dieser Proceß beginnt schon im Jahre 1378,
wie arabische Geschichtsschreiber uns berichteir. Hamarwin
verdankt es wohl nur seiner höheren Lage, daß sich dort
einige beachtenswerthe Gebäude, namentlich Moscheen, er-
halten haben. Der Vermittelung Salem's und des Gou-
verneurs verdankte es Rövoil, daß er dieselben ungehindert
durch den Fanatismus der Metawa besuchen konnte, und
durch gut angebrachte Geschenke erreichte er es auch, daß
er Photographien und Abklatsche von einzelnen besonders
interessanten Theilen der Bauwerke nehmen konnte.
Mogduschu wurde erst hu Jahre 908 unserer Zeit-
rechnung gegründet, während schon 704 der erste Verkünder
des Islam in diese Küstengegend gelangte. Damals
herrschten dort die Perser. Im 12. und 13. Jahrhundert
war die Küste besucht und bekannt genug, daß die orientali-
schen Geographen und Reisenden, wie Edrisi und Jakut,
vom Webiflusse sprechen, den sie „Nil von Mogduschu"
nennen. Als 1337 Jbn Batuta die Stadt besuchte, stand
sie in ihrer größten Blüthe; damals war das Land noch
im Besitze der Emozoiden, die 739 aus Arabien eingewan-
dert waren, und der Mdofför, zu welchen noch vorüber-
gehend die Adschuran, ein nomadisirender Stamm vom
Dschnb und oberen Webi, kamen. Aus jener Zeit stammt
Globus XLV1I. Nr. 23.
der noch an einzelnen Küstenpnnkten in Kraft befindliche
Gebrauch, bei Sonnenuntergang die Beduinen ans den
Thoren zu treiben. Bald darauf kommen aus dem Inneren
die Abgal, vielleicht ein Galla-Stamm, dem cs schließlich
gelang, sich an die Stelle der Mdofför zu setzen. Sultan
dieser letzteren war damals Fachr-ed-Din, dessen Name
auf die schon früher im Jahre 1269 erbaute Moschee El-
Barani übergegangen ist. Endlich erschienen die Portu-
giesen auf dem Schauplätze und bemächtigten sich 1506 der
Stadt Brawa; Mogduschu anzugreifen wagten sie aber
nicht. Aus der Blüthezeit desselben, als es einen Flächcn-
raum von fast 6 qkm bedeckte, haben sich auf den im Süden
des heutigen Ortes gelegenen Höhen noch Reste von Mauern,
Thürmen und Thoren erhalten; so oft Jemand Baumaterial
braucht, schickt er seinen Sklaven mit einer Hacke dorthin,
und derselbe ist sicher, überall bald ans sorgfältig getünchte
und mit Verzierungen versehene Mauern, Reste einer-
höheren Civilisation, zu stoßen.
Die Moschee El-Barani, die dem Scheich Mumen, dem
reichsten Somali von Hamarwin, gehörte, liegt dem jetzt
vom Gouverneur des Sultans bewohnten Fort gegenüber,
am Eingänge zum Markte, dort, wo man von Hamarwin
uach Schingani hinuntersteigt. Aber die Thore ans dieser
Seite sind zugemauert worden, um das Gotteshaus aus-
schließlich den Bewohnern von Hamarwin zu reserviren.
Regen und Wind haben rings um das Gebäude viel Schutt
45
WT
354
Die Moschee Fachr ed-Din oder El-Varani.
G. Rävoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
355
und Staub aufgehäuft, und der Pfad, der in dafselbe hin-
einführt, ist mit Brombeer-und Dornsträuchern überwachsen;
wenn die Verschüttung noch einige Jahre ungehindert fort-
dauert, so wird man die Moschee nur noch gebückt betreten
können.
Von der äußeren Umfassungsmauer ist keine Spur
mehr vorhanden. Durch das erste Thor betritt man einen
Hof, wo sich zur Rechten ein ziemlich tiefer Brunnen und
Tröge für die Abwaschungen befinden. Dann folgt eine
Säulenhalle, wo in dem Augenblicke, als Rävoil eintrat,
einige Somali im Koran lasen; bei feinem Eintritte ver-
hüllten sic ihr Antlitz, klappten die Bücher zu und zogen
sich in einen Winkel zurück. Der Reifende aber wusch sich
den Vorschriften des Koran gemäß sorgfältig die Füße und
trat dann erst in die Halle ein, welche von fünf großen,
auf rohen Pfeilern ruhenden Spitzbogen getragen wird.
In der Mitte dieser Säulenhalle erhebt sich eine Art acht-
eckiger Kuppel, die in eine achteckige Pyramide ausläuft.
Rechts und links von der Eingangsthür der Moschee —
in deren Giebelfeld einst eine Inschrift auf weißem Marmor-
angebracht war, die aber beim Bombardement der Stadt
durch die Schiffe Seid Scid's, des Sultans von Zanzibar,
durch eine verirrte Kugel zerstört worden ist — liegen zwei
Seitenthüren, die in zwei andere Höfe führen. Der für
das Gebet bestimmte Platz ist ein großer viereckiger Raum,
über dessen Mitte sich eine von vier Pfeilern getragene
Kuppel wölbt, welche diejenige der Säulenhalle um etwa
1 m überragt und von einer prächtigen Vase aus chinesischem
iiiiiniut
shHÜH
■Wj
MUMM
St«!
Stücke der Marmorbekleidnng der Moschee El-Barani.
Porcellan gekrönt wird. Gegenüber der Eingangsthür liegt
der Mehrab, vor welchem der Muezzin das Gebet spricht.
Früher waren die Hintere und die beiden Seitcnwände mit
persischen Inschriften, Koranversen und verschiedenen Orna-
menten von bemerkenswerth feiner Ausführung in weißem
Marmor bedeckt; doch haben sich davon nur die einrahmen-
den Gesimse erhalten, und außerdem im Mehrab selbst zwei
merkwürdige kleine Kunstwerke. Das eine davon ist eine
emaillirte Fayencetafel mit Goldgrund, auf welcher sich in
erhabenen arabischen Lettern, die von blauen Streifen ein-
gefaßt find, außer zwei Koranversen, eine Grabschrist des
Hadschi Mohammed ben Abdallah Barani befindet; durch
dieselbe wird auch das Datum der Erbauung der Moschee
auf das Jahr 667 der Flucht — 1269 unserer Zeitrech-
nung fixirt. Unter dieser Grabtafel befindet sich eine
zweite aus weißem Marmor, welche eine hängende Vase
und eine persische Inschrift, wiederum zwei Koranverse,
aber keinen Namen zeigt. Ein in gleichem Stile gehal-
tener geschnitzter Holzrahmen saßt die beiden wcrthvollen
Stücke ein.
Revoil ließ die Sknlptnrreste sammeln und reinigen
und klatschte sie ab oder photographirtc sie; ja es gelang
ihm auch, ein solches Stück von einem Sklaven des Scheich
Mumcn heimlich zu erwerben. Dagegen stieß er bei einem
Sohne des Scheich ans heftigen Widerstand, indem derselbe
ein Holzgerüst, das der Reisende hatte aufstellen lassen,
umwarf und denselben zu erdolchen drohte, falls er noch
einmal die Moschee betreten sollte. Der Scheich selbst
45*
Der große Lab in Mogduschu,
G. Rövoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajnn 1882 bis 1883.
357
suchte zu vermitteln; aber dienlicher als dies war das Vor-
gehen des Gouverneurs, welcher einen Hauptmann mit
40 Soldaten abschickte, damit Rdvoil unter deren Schutze
seine Arbeiten vollenden könnte. Dadurch allein ließen sich
der Sohn des Scheich und dessen Freunde einschüchtern.
Aber die Erregung in der Stadt war doch so groß, daß
der Reisende selbst es für besser hielt, einige Zeit hindurch
keine Moschee zu betreten. Gleichzeitig begann aber auch
das große Lab-Fest und
zog in erwünschter Weise
die Aufmerksamkeit der
Leute von dem Treiben
Revoil's ab.
Es ist bei den Benadir
Gebrauch, während der
Monsun am heftigsten
weht, die Barken auf den
Strand zn ziehen, sorgfältig
zu untersuchen, abzukratzen,
auszubessern und zu kal-
fatern. Zu dieser Arbeit,
welche nur mit Hilfe von
einfachen Stricken, Balken
anstatt der Rollen u. dergl.
ausgeführt wird, ist eine
große Menge von Armen
erforderlich. Jeder Rheder
nimmt also der Reihe nach
die Hilfe der Einwohner-
schaft in Anspruch, und
man benutzt diese Gelegen-
heit zur Veranstaltung
öffentlicher Belustigungen.
Am Morgen beflaggt der
betreffende Eigenthümer
der Barke sein Hans, und
dann muß jeder kräftige
Mann, wenn er nicht eine
Geldstrafe zahlen will, zn
den Waffen greifen. Ron-
den durchziehen die Straßen,
um Arbeiter zusammenzu-
bringen, und alles begiebt
sich dann nach dem Strande
und spannt sich vor das
Seil. Während dessen
tanzt und singt ein Chor
von Abösch-Weibern zum
Klange von Tambonrins.
Greise führen die Aufsicht,
und das Ganze leitet ein
Mann, der in dem schreck-
lichen Getöse Mühe hat
sich verständlich zu machen.
Während der kurzen Ruhe-
pausen führen manche zur
Erholung regellose Kaprio-
len aus. Wenn das Schiff sich vollständig auf dem
Trockenen befindet, fällt ein Flintenschuß; alsdann greifen
die Krieger wieder zn den Waffen und stellen sich, jeder
Clan für sich, in zwei Gliedern ans. Herrscht gerade
Frieden in Mogduschu, so betheiligen sich auch die Be-
wohner beider Ouartiere an dem Lab. Die einzelnen
Züge, welche nur ein Regiment bilden, steigen nun in
guter Ordnung nach dem Strande hinab und theilen sich
dann in zwei Haufen, um nach ihren betreffenden Quar-
tieren zu ziehen, wobei sie den Kricgsgesang anstimmen
und mit wiegendem Körper im taktmäßigen Schritte mar-
schircn. Vor jedem Clan schreiten die Greise einher, ferner
Tänzer, welche mit Lanze und Dolch Scheinkämpfe auf-
führen oder grüne Zweige mit Grazie schwingen, Nament-
lich fiel dem Reisenden ein Tänzer vom Clan Morscho aus
Hamarwin auf, eine Art Herkules mit einem Stiernacken,
der einen Ochscnschwanz schwang und mit der Anmuth
eines Elefanten die er-
heiterndsten Drehungen
ausführte. Kinder trugen
die Flagge der Barke,
dann folgten die Abösch-
Weiber, welche die sonder-
barsten Lustsprünge zum
Besten gaben, und deren
Hauptkunststück darin be-
stand, ganz plötzlich platt
auf den Bauch zn fallen.
Revoil sah dem Schau-
spiele von einem Dache
aus nahe dem Thore von
Harmarwin zu und be-
nutzte die Gelegenheit, den
vorübermarschirenden Zug
mit einigen schnellen
Schüssen aus seinen Gras-
karabinern zu begrüßen,
deren Tragweite den Leuten
mächtig imponirte.
Inzwischen kehrteMahdi
mit der Antwort Omar
Jussuf's aus Gelidi zu-
rück; dieselbe war voll
schöner Versprechungen,
darunter die, daß er dem
Reisenden zwei Mitglieder
seiner Familie als Führer
bis Gananeh beigebcn
werde. Der Gouverneur
aber und Salem waren
durchaus nicht von dem
Erfolge der Sendung be-
friedigt.
Die unruhigen Zustände
in der Stadt dauerten
indessen fort, und alle
Augenblicke wurden die
Häuser rasch geschlossen
und griffen die Einwohner
zu den Waffen. Meist
genügte, daß Jemand das
Herannahen der Daut,
welche die Abgal besiegt
hatten, verkündete, um in
der Stadt eine Panik zu
erzeugen; aber zuletzt kam
es wirklich zum Blutvergießen. Eines Tages stieg ein
einzelner Krieger vom Stamme der Jlbi, welcher mit den
Daut verbündet ist, von den Höhen von Bet-Fras auf dem
Wege herab, welchen die zn Markte kommenden Karawanen
von Gelidi einschlagen. Derselbe, welcher sich als weiße
Linie am Abhänge südwestlich von Hamarwin herabzieht,
dient zugleich als Grenzlinie zwischen den Gebieten der
Wadan und der Abgal. Letztere, welche längst auf eine
solche Gelegenheit lauerten, stürzten herzu und durchbohrten
Jlln-Krieger mit dem Fodfode oder Kriegskopfputzl
358
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
den Jlbi, der noch einige Pfeile abschoß, mit einer Lanze,
worauf er mühsam entfloh und etwa anderthalb Kilometer
vom Marktplatze entfernt zusammenbrach. Die dort ver-
sammelte Menge war dem Verlaufe des Ueberfalles mit
größter Spannung gefolgt; zwei darunter befindliche Daul
aber eilten dem Jlbi zu Hilfe, holten die ihrerseits fliehen-
den Abgal ein und trafen einen derselben mit einem ver-
gifteten Pfeile, so daß er zu wanken begann und nach
einigen hundert Schritten niederstürzte. Nun sprang einer
der Daut hinzu, fetzte ihm das Knie auf die Brust und
durchschnitt ihm mit seinem breiten, zweischneidigen Dolche
die Kehle, so daß er ihm fast das Haupt vom Rumpfe
trennte. Den schwer verwundeten Jlbi hatte man inzwischen
auf ein Tuch gelegt und trug ihn langsam zur Stadt;
unmittelbar dahinter aber schritt der siegreiche Daut, in
der einen Hand den triefenden Dolch, in der anderen das
Eingangsthür und Thi
von Koth und Blut befleckte Gewand des Getödteten und
gefolgt von jubelnden Kriegern und etwa zweihundert
Frauen, die seinen Erfolg mit kreischender Stimme be-
fangen.
Als sich bei dem Jlbi die Wirkung der vergifteten
Waffe zu zeigen begann, und keine Hoffnung aus Ret-
tung mehr blieb, schritt man zu den religiösen Gebeten und
Ceremonien. Ein Greis forderte die Umstehenden zum
Beten auf, hob den Kopf des Sterbenden in die Höhe und
rm der Moschee Shama.
ließ ihn der Sitte gemäß etwas Wasser aus einer Tasse
trinken, auf deren Boden der Scheich Sophi einen Koran-
vers geschrieben hatte. Als dann sein Haupt wieder auf
das Kissen zurückgesunken war, thaten die Anwesenden zu
wiederholten Maten, als spuckten sie auf ihn, und die
Greise versprachen ihm Rache auf Erden und Glück im
Paradiese Mohammed's.
Den Rest des Tages hielt sich die ganze Bevölkerung
Mogduschus unter Waffen. Die Abgal kamen auch bald
Das südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Saloren.
von den Höhen herab, lagerten auf Schußweite von der
Stadt und forderten Erklärungen und ihren Todten, der
übrigens schon beerdigt war; ja sie klagten die Bewohner
Hamarwins der Mitschuld an und stießen Drohungen gegen
dieselben aus. Bald aber kam die Nachricht, daß ihre
Stammesgenossen bereits Vergeltung geübt und einen
zweiten Jlbi aus dem Gebiete der Wadan gctödtet hätten;
in Folge dessen machten die Wadan gemeinsame Sache mit
den Jlbi und Dant, so daß die Abgal es vorzogen, bei
Anbruch der Nacht Sicherheit auf dem neutralen Markt-
platze von Hamarwin zu suchen.
Inzwischen war Hadschi Ali zurückgekehrt, und während
derselbe Vorbereitungen zur Abreise traf, setzte Revoil seine
Wanderungen in der Stadt und die Untersuchung ihrer
Baulichkeiten fort. Von den beiden Thürmen, welche die
Stadt besitzt, und welche beide zu Moscheen gehören, ist
nur derjenige der Moschee Shama von Interesse; leider
ist das Innere derselben so dunkel, daß es dem Reisenden
unmöglich war, seinen photographischen Apparat zu ge-
brauchen. Auch hier muß man einige Stufen hinabsteigen,
um in das Gebäude zu gelangen, dessen Umgebung übrigens
allem Anscheine nach im Laufe der Jahrhunderte durch
Sandanwehungen beträchtlich erhöht worden ist. Der große
Thurm steht im Osten und bildet einen Theil eines der
sieben Schiffe der Moschee, von denen das erste, sechste
und siebente offenbar erst später denr ursprünglichen Baue
zugefügt worden sind. Die Moschee selbst ist wiederum
späteren Ursprunges als der Thurm, als dessen Erbauungs-
zeit eine persische Inschrift über der spitzbogigen Eingangs-
thür den Moharrem des Jahres 663 der Hedschra (1264
n. Chr.) angiebt. Eine baufällige Treppe führt auf die
Spitze des Minarets, dessen Inneres von zahllosen Fleder-
mäusen bewohnt wird und von einem abscheulichen Gestanke
erfüllt ist. Nur die Hoffnung, irgend eine Inschrift zu
finden, veranlaßte Ruvoil, die Treppe zu betreten; aber als
er über und über beschmutzt oben anlangte, entschädigte ihn
nichts für die gehabte Mühe, als ein prächtiger Ueberblick
über die ganze Stadt.
In der Zwischenzeit waren die letzten Vorbereitungen
für die Reise in das Innere getroffen, und am 21. Juni
langten auch sieben Bewaffnete vom Sultan von Gelidi
als Führer und Schutzwache an, denen in den nächsten
Tagen nicht weniger als etwa 250 Genossen folgten, An-
gehörige der verschiedenen Stämme Gclidis, die alle ihren
Antheil an der guten Verpflegung und dem Wegegelde, das
der Franzose zahlen sollte, zu erlangen gedachten. Dieser
aber mußte gute Miene zum bösen Spiele machen, die
Leute in ihren verschiedenen Quartieren aufsuchen, ihnen
gute Worte geben und sehen, ob sie zu ihrer Zufriedenheit
untergebracht wären. Trotzdem bildeten sich unter diesen
Leuten zwei Parteien, die sede für sich das Recht des Ge-
leites und die Bezahlung in Anspruch nahmen: die eine,
bestehend aus den Gabron, einigen Wadan, Mursude u. s. w.,
an deren Spitze der Bruder Omar Jussufs, Müde mit
Namen, stand; die andere Abtrünnige und Meuterer, die
für sich allein Wegegeld verlangten. Bald entstand auch
draußen vor den Thoren eine dritte Partei, Beduinen, welche
die Karawane überhaupt nicht passiren lassen wollten, und
schließlich lagerte noch an dem Brunnen vor der Stadt mit
300 Mann Nur Massa, der früher erwähnte Mörder eines
Kaufmanns von Mogduschu, um sich wieder Zulaß zum
Markte zu erzwingen. Ein unvergleichlicher Wirrwarr
und ein bezeichnendes Bild der im Somali-Lande herr-
schenden Zustände!
Scheich Sala, der Gouverneur der Stadt, blieb jedoch
fest, las den Aeltesten die Befehle des Sultans Said Bargasch
vor und bedeutete sie, daß er die Geleitmannschaft genügend
kenne, um Rache zu nehmen, falls Revoil und seinen Be-
gleitern irgend etwas zustoßen sollte; und so wurde denn
der Abmarsch aus Sonntag, den 24. Juni festgesetzt.
Das südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Saloren.
II. (Schluß.)
Die Gegend zwischen den beiden Flüssen Murgh - ab
und Heri-rud hat weder bei den daselbst wohnenden Turk-
menen, noch bei den Nachbarn einen besonderen Namen.
Englische Geographen haben neuerdings angefangen, die
Gegend mit dem Namen Badchis zu bezeichnen, — aber
mit Unrecht (?). Badchis heißt das bergige Land zwischen
den Flüssen Kuschk und Kasch, linksseitigen Nebenflüssen
des Murg-hab. Lessar schlägt vor, das Gebiet zwischen
Murgh-ab und Heri-rud in Berücksichtigung der daselbst
wohnenden Turkmenen das Land der Saryken und Saloren
oder einfach Südwest-Turkmenien zu nennen.
Bis 1881 hatte man über jenen Landstrich fast gar
keine Nachricht; erst Lessar unternahm im Jahre 1882
zwei und im Jahre 1884 die dritte, oben beschriebene
Reise, um Land und Leute daselbst kennen zu lernen.
Die Grenzen Südwest-Turkmeniens sind gegen Norden
die Merw-Oase, gegen Osten der Murgh-ab und der
Fluß Kuschk, sowie die die Flüsse nach Osten begren-
zenden Hügel, nach Süden das Borchut-Gebirge und nach
Westen der Heri-rud, welcher Turkmenien von Persien trennt.
Die Ausdehnung der Landstrecke betrügt in der Richtung
von Süden nach Norden etwa 250 Werst (Kilom.) und
in der Richtung von Osten nach Westen etwa 180 Werst
(Kilom.) im Mittel.
Das Gebirge Borchut, ein Ausläufer des Hindukusch,
zieht sich zuur Elburs hin; vom Hauptstock ist es durch eine
beträchtliche Senkung zwischen den Pässen Ardewan und
Karwan - aschon getrennt. Eigentlich sind es gar keine
Berge, sondern nur Hügel mit weichem Boden, über welche
einige Wege hinwegführen. Weiter nach Westen zum
Heri-rud hebt sich das Land bis auf 3000 bis 4000 Fuß
(circa 900 bis 1200 m); der Heri-rud selbst fließt durch
eine enge Schlucht des Borchut-Gebirges.
Etwas südlich vom 36. Grade nördl. Br. erhebt sich
eine Reihe Hügel, Elbirin genannt, — welche das Land
in zwei durch Bodenbeschaffenheit, Vegetation und Klima
geschiedene Abschnitte theilt. Die aus Lehm bestehenden
Hügel sind etwa 2000 Fuß (circa 600 Meter) hoch, be-
ginnen am Heri-rud und erstrecken sich gerade von Westen
nach Osten an den Salzseen Jer-ailan vorbei, fast bis zum
Flusse Kuschk; je näher zum Kuschk, um so vereinzelter
und niedriger werden sie.
360
Das südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Saloren.
Zwei große Ströme versorgen das Land mit Wasser:
der Murgh-ab und der Heri-rud; insofern von ihnen ans
durch besondere Kanäle (Aryk) das Wasser zu den Feldern
und Wiesen geleitet wird, bieten sie die einzige Möglich-
keit, hier Landbau zu treiben. Die Ufer des Murgh-ab
sind zu Ansiedelungen geeigneter als die des Heri-rud.
Der Murgh-ab hat einen rechtsseitigen Zufluß, Kaisar-
rud und zwei linksseitige, den Kasch und den Kuscht. Der
Gürlen-su und der Chombau-su, Zuflüsse des Kuscht, haben
fast während ihres ganzen Verlaufes stark salziges Wasser,
das zu Bewässerungszwecken nicht verwendbar ist, doch ent-
halten die am llfer existirenden süßen Quellen reichliches
Wasser. Ueberhaupt giebt es reiche Quellen, namentlich
das Gebiet südlich vom Elbirin hat reichliches und
gutes Wasser, mehr als der Norden. Auch das Gebirge
Borchut ist guellenreich. Das nördliche Gebiet ist an
einigen Stellen wasserarm; auch Brunnen sind selten und
mitunter sind dieselben 80 Werst von einander entfernt.
Das Klima der nördlichen Hälfte ist genau dasselbe
wie das der Kara - Kum - Steppen; sobald der Elbirin-
Kir aber überschritten ist, so gelangt man in den Bereich der
stets scharf wehenden Südwinde. Die Teke behaupten,
hier sei niemals gutes Wasser und die Perser deuten
die Bezeichnung Badchis als das Land, wo sich die
Winde erheben. Badchis hat dasselbe Klima wie die
südlichen Theile Turkmenicns: hier wehen das ganze
Jahr hindurch scharfe Winde; der Aufenthalt in der Oase
Pendschdeh ist deshalb nicht angenehm.
Die Vegetation ist ganz von beut Wasserreichthum ab-
hängig. Am llfer der Flüsse stehen in großer Menge
Pappeln, Maulbeerbäume, Weiden und verschiedenartige
Gesträuche; Futter für die Pferde ist reichlich vorhanden.
Obgleich die genannten Bäume eine recht ansehnliche Größe
erreichen können, so ist ihr Holz gar nicht zum Bauen ju
verwenden, und der vollständige Mangel an jeglichem Bau-
holz ist sehr empfindlich.
Bemerkenswerth sind zwei Salzseen Jer-ailan oder
Dus („Salz") genannt; Jer-ailan bedeutet „Erdsturz".
Es geht die Sage, daß einst hier eine Festung gestanden,
welche zusammenstürzte; an ihrer Stelle entstanden dann
zwei Salzseen. Das Salz ist sehr reichlich vorhanden und
von ausgezeichneter Qualität; es ist etwa 1/2 Arschin (circa
35 cm) hoch mit Wasser bedeckt. Um es zu gewinnen,
bricht man es in Form großer mühlsteinähnlicher Stücke.
Alle Turkmenenstämme holen von hier Salz; die Merwer
und Jolataner beuten den westlichen, die Saryken aus
Pendschdeh den östlichen See aus. Die große Heerstraße, auf
welcher die Karawanen aus Merw zu den Salzseen
zogen, ging über Keleburun und Kojun-Kuju; doch nur
große Karawanen unter starker Begleitung, um gegen
die Ueberfülle der Saryken und Perser geschützt zu sein,
konnten diesen Weg einschlagen, während kleine Karawanen
Nebenwege benutzen mußten. Die Saryken aus Pendschdeh
marschirten zum Salzsee entweder längs dem Kuschk und
weiter über Ak-Rabat ans guten, wasserreichen Wegen oder
direkt von Daschen-Köpri auf wasserlosen Pfaden.
Seitdem die Teke sich in Merw niedergelassen haben,
ist für Südwestturkmenien eine Periode der Unordnung
angebrochen und der Verkehr hat fast gänzlich aufgehört.
Sogar zwischen Jolatan und Pendschdeh ist derselbe nur
schwach, und die Straße von Pendschdeh längs dem Kuschk
. bis nach Herat, einst ein viel betretener Karawanenweg, ist
zu einem unbedeutenden Pfade herabgesunken. Durch das
Land zogen nur gnt bewaffnete Karawanen zu den Salz-
seen oder Räuberscharen aus Merw und aus Pendschdeh,
entweder um sich gegenseitig oder um Perser und Afghanen
zu überfallen und zn plündern. Alle Wege haben gegen-
wärtig nur den Charakter von Saumpfaden, aber die Boden-
beschaffenheit ist so günstig, daß mit Leichtigkeit gute Fahr-
wege angelegt und selbst eine Eisenbahn gebaut werden könnte.
Im Inneren Turkmeniens sind nur wenig Plätze, welche
sich zum Ackerbau eignen; hier kann nur Viehzucht be-
trieben werden. Ansiedelungen der Saryken und Saloren
existiren nur an den Flüssen Murgh-ab und Heri-rud.
Der Stamm der Saryk - Turkmenen sitzt jetzt in den
Oasen Jolatan uub Pendschdeh am Murgh-ab; er zerfällt
in die Abtheilungen: Bairadsch, Sukty Mascha, Choras-
sally und Gerseki. Eine einheitliche Herrschergewalt gab
es hier ebensowenig wie in Merw; jeder thut, was
ihm beliebt, und nur im äußersten Nothfalle vereinigt man
sich zu gemeinsamem Handeln. Die Macht der sogenannten
Chane ist sehr unbedeutend. Sary-Chan in Jolatan
hatte bisher wenig zu bedeuten. Jetzt ist das anders:
Sary-Chan ist russischer Beamter, und als solchem
gehorcht man ihm. Die Saryken behaupten, es seien
ihrer 20 000 Kibitken (Zelte oder Familien; auf jede Fa-
milie werden durchschnittlich fünf Köpfe gerechnet), doch
ist die Halst offenbar mit Absicht zu hoch angegeben;
Petrnscwitsch (cf. „Globus", Bd. XXXVIII, Nr. 14
und 15) zählt 12 000 Kibitken, wovon ein Drittel auf
Jolatan, die übrigen auf Pendschdeh und die Ansiedelungen
am Kuschk, Kasch und Kaisar entfallen. Unter den Saryken
lebt eine geringe Anzahl Juden, welche größtentheils ans
Herat stammen.
In ihren Sitten, Gebräuchen, in ihren Beschäfti-
gungen und ihrer Lebensweise unterscheiden sich die Sa-
ryke» nur wenig von den Teke-Turkmenen. Im Uebrigen
haben die Bewohner von Pendschdeh noch am meisten den
Charakter der Nomaden; während die Bewohner von Merw
sich durch Befestigungen schützen, sind die Bewohner von
Pendschdeh stolz daraus, daß ihre Festung in — Sattel und
Flinte besteht. Letztere sind verhültnißmüßig reich, was sie
ihrem guten Viehstande zu danken haben; sie leben in festen
Zelten und besitzen reichliche Teppiche und allerhand Zubehör.
Der Sprache nach unterscheiden sich die Saloren, Saryken
und Teke nur insofern von einander, als sie für einzelne
Gegenstände besondere Bezeichnungen haben, die sie ihren
Nachbarn entlehnten; z. B. heißt bei den Saryken ein Kanal
nicht „aryk", fonbent „nou-chan“. Bemerkenswerth ist, daß
für einzelne Lokalitäten die Benennung eine verschiedene ist.
Die große Festung bei Merw wird von den Teke Kou-
schnt - chan - Kala oder Mary - schigar (die Merwstadt) ge-
nannt, bei den Saryken heißt sie Changetschan.
In der Kleidung unterscheiden sich die Saryken nur
wenig von den anderen Turkmenenstämmen. Die Sa-
ryken tragen weichlederne Stiefel und darüber Galoschen
aus Buchara mit kupfernen Absätzen. Zu Hause brauchen
sehr viele statt der turkmenischen Mütze aus Schaffell bncha-
rische, mit Pelz verbrämte Tuchmützen. Das Kostüm der
Frauen ist etwas anders als bei den Teke: das lange
Hemd und die weiten Hosen werden auch bei den Teke
getragen; aber fast ausschließlich von blauer Farbe, wäh-
rend bei den Teke die rothe Farbe beliebt ist. Der
Kopfputz ist ein besonderer: er besteht aus einer hohen
Filzmütze, zur Hälfte umwickelt von einem Turban aus
buntem Stoff, welcher hinten breit bis zum Gürtel herab-
fällt, vorn aber das Kinn bedeckt. Die Hauptbeschäftigung
der Saryk-Turkmenen ist Viehzucht und Ackerbau. Handel
und Handwerk ist sehr wenig entwickelt. Der Viehzüchter heißt
Tschoiwe, .der Ackerbauer Tschomur. Die Bewohner von
Pendschdeh sind reich an Herden; die von Jolatan arm. Die
Saryken haben große Schafherden und viele Kameeleund Pferde.
Das südwestliche Turkmenien, das Land der Saryken und Salaren.
361
Der Ackerbau ist unter den Saryken nur wenig ent-
wickelt; der Hauptgrund liegt darin, daß die durchaus
nöthige Bewässerung auf große Hindernisse stößt, insofern
als die den Murgh-ab einengenden Hügel der Anlage von
Kanälen nicht günstig sind. Am Flusse Kuscht liegen die
Verhältnisse besser, hier existirt ein verhältnißmäßig ent-
wickeltes Bewässerungssystem. In der Oase von Jola-
tan und Pendschdeh werden angebaut: Weizen, Sorghum,
etwas Gerste, ausgezeichneter Neis, Sesam, Luzerne und
etwas Baumwolle. Gemüsegärten sind nur wenig vor-
handen; Obstgärten gar nicht.
Die Saryken haben im Ganzen nur wenig Bedürf-
nisse, sind arm und wenig kultivirt — dies und die
Schwierigkeit der Kommunikation mit den Nachbarn ist
der Grund, daß ihr Handel so unbedeutend ist. In Jola-
tan beziehen sie baumwollene Zeuge (sogenannten Zitz)
und feinere Ellenwaaren, eiserne Kessel, Thee und Seide
aus Buchara, lange Röcke (Chalat) ans Chiwa. Aus
Herat werden ebenfalls Thee und Seide, dann persisches
Seidenzeug, Indigo und Kandiszucker bezogen. Der In-
digo geht weiter nach Buchara und Chiwa. In Pendschdeh
sind die Handelsartikel ziemlich dieselben; wegen der gefähr-
lichen Kommunikation zwischen Jolatan und Pendschdeh
handelt Jolatan hauptsächlich mit Buchara, Pendschdeh
dagegen mit Herat. Aus Buchara werden Tischlerarbeiten
und Holzgcgenstäude, Kasten und Thüren herbeigeschafft.
Ausfuhrartikel aus beiden Oasen sind Hammel, welche
nach Buchara, Pferde und Kameele, welche nach Herat
getrieben werden. Der Preis für einen großen Hammel
ist 20 bis 25 Tenge (10 bis 121/2 Mark).
Die ernt Murgh - ab wachsenden Bäume werden ge-
füllt und zum Verkauf nach Merw geflößt, wo ein guter
Baumstamm 1 bis 2 Kran (372 bis 4 Mark) gilt. Der
in Pendschdeh gut gedeihende Neis ist in der ganzen Nach-
barschaft berühmt und wird nach Persien, Herat und Merw
ausgeführt.
Ferner werden einige von den Saryken selbst ange-
fertigte Gegenstände der Hausindustrie ausgeführt: obenan
stehen hier die Teppiche; in ihren Mustern unterscheiden
sie sich etwas von den Merwschen, aber in der Qualität
sind sie geringer, weil Baumwolle beigemischt wird und
Seide fehlt; denn die Saryken treiben, weil der Maul-
beerbaum in ihrer Oase nicht gedeiht, keine Seidenzncht.
Die Preise sind dieselben wie in Merw. Eine Art dünnen
Filzes, Koschma genannt, wird in beträchtlicher Menge in
Pendschdeh angefertigt: ein Stück von 5 Arschin (3,5 m)
Länge und etwa 3 Arschin (2,1 in) Breite kostet 20 Kran
(circa 6 Mark). Aus der Wolle junger, ein- oder zwei-
jähriger Kameele wird ein zu langen Gewändern (Chalat)
sehr geschätzter Stoff bereitet. Eine Frau webt im Laufe
eines Jahres ein Stück von 9 Arschin (6,3 in) Länge und
von 14 bis 15 Werschok (61 bis 66 ein) Breite; das
Gewebe wird in Persien und Herat sehr hoch bezahlt; ein
Stück gilt 200 bis 300 Kran (120 bis 180 Mark). Unter
den Saryken selbst giebt cs keine so reichen Leute, daß sie
Gewänder ans jenem Zeuge tragen konnten. Ein ähnliches
Gewebe in weißer Farbe wird aus Schafwolle bereitet,
das Stück kostet 80 Kran (48 Mark). — Anderweitige
Produkte der Saryken dienen nur zur Befriedigung ihrer
häuslichen Bedürfnisse.
Wegen der unruhigen Lage, in welcher der Landstrich
sich befindet, konnte jegliche Handelsbewegung nur unter
Beobachtung der strengsten Vorsichtsmaßregeln vor sich
gehen. Zum Schutze einer Karawane von 100 Kamcelen
mußten 50 bis 60 Menschen gemietet werden, von denen
jeder 50 Tenge (25 Mark) bis Tschardschui erhielt. Man
Globus XLVJI. Nr. 23.
wanderte mit Kamcelen in 5 bis 7 Tagen, mit Schafen
in 12 Tagen nach Buchara. Die Transportschwierig-
keiten verthenerten den Preis der Waaren: ein Stück Ku-
matsch (rother Baumwollenstoff aus Buchara), welcher an
Ort und Stelle 38 Tenge (19 Mark) kostete, kam in Jo-
latan auf 60 Tenge (30 Mark) zu stehen; ein Pfund
(400 Gramm) Zucker kostet 60 Kopeken (1 Mk. 20 Pfg.).
Auf die wöchentlich zweimal stattfindenden Märkte
werden hauptsächlich lokale Produkte gebracht; Gegenstände
aus fremden Ländern werden nur in den Läden der Juden
verkauft, deren in Jolatan etwa 20 sich aufhalten; in
ihren Händen befindet sich der ganze Transit-Handel zwischen
Herat und Buchara.
Bis jetzt war unter den Saryken hauptsächlich bucha-
risches Geld gangbar: Tenge (2 Tenge etwa eine Mark)
und alte persische Kran (gegen 60 Pfennige).
Die Saloren theilen sich nach den Ermittelungen des
General Petrusewitfch in drei Stämme: Kiptschakcn,
Dagardn-chodscha und Karawan-jalawatsch. Bei Alt-
Scrachs sind jetzt gegen 3000 Kibitken vorhanden (nach
Angabe der Saloren sogar gegen 4000 Kibitken); außer-
dem befinden sich am Murgh - ab unter den Merwern
und Saryken gegen 1000 Kibitken, bei Tschardschui 400,
bei Maimene 200, bei Herat in Pnl-i-Salor etwa
100 Häuser.
Die Saloren sind der allerschwächste und ärmste Stamm
der Turkmenen; sie haben wenig Zelte (Kibitken), sondern
wohnen in Schilfhütten, welche mit Lehm verschmiert sind;
auch besitzen sie keine Herden. Pferde und Kameele sind
selten. Mit Räubereien geben sie sich feit lange nicht
mehr ab; Ackerbau ist vielmehr ihre einzige Beschäftigung.
Ihre Ansiedelungen liegen theils bei Alt-Serachs, theils
bei den Ruinen von Kouschnt-Kala (nördlich von Serachs).
Am Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts, als der Emir von Buchara, Maassum, Merw
zerstört hatte und die Einwohner desselben theils nach
Buchara, theils nach Meschhed und Herat geführt worden
waren, nahmen die Saryken - Turkmenen die Gegenden
am Murgh-ab bei Bairam-Ali-Kala ein und blieben
daselbst bis gegen das Ende der fünfziger Jahre dieses
Jahrhunderts: von hier aus verübten sie ihre Ranbein-
fälle, wobei sie auch die von anderen Turkmenenstämmen
besetzten Gegenden nicht schonten. Am Ende der zwan-
ziger Jahre unterwarfen sich die Saryken dem Chan
von Chiwa, allein sie beruhigten sich deshalb nicht, sondern
führten einen fortwährenden Kampf gegen Chiwa: Me-
demj - Chan von Chiwa mußte fast alljährlich einen Feld-
zug gegen sie unternehmen. Die Spuren dieser andauernden
Kämpfe haben sich bis heute in den Ruinen der verschie-
denen Befestigungen erhalten. Im Jahre 1855 aber
wurde Medemj von den Teke - Turkmenen, welche bei
Alt - Serachs lebten, geschlagen und gelobtet; in Folge
dessen zogen sich die Chiwaer sowohl aus Serachs wie
aus Merw zurück. — Bald darauf rückten die Teke
unter Führung von Konschnt - Chan, durch die Perser
gedrängt, ans Serachs ans Merw zu nnd verjagten nach
zweijährigen Kämpfen die in Merw sitzenden Saryken.
Jetzt zogen sich diese rückwärts nach Pendschdeh und ver-
trieben die bis dahin hier lebenden Saloren. Wegen des in
Pendschdeh herrschenden Mangels an gutem Boden zog sich
ein Theil der Saryken allmählich wieder nach Norden und
besetzte 1867 Jolatan.
Am Anfang der dreißiger Jahre saßen in Alt-Serachs
Salor - Turkmenen. Dasselbe galt für einen besonders
wichtigen Punkt, um den sich die Chane von Chiwa und von
Buchara stritten. Als Abbas-Mirza seine Macht von
46
362
Josef Menges: Die Basen oder Kunama.
Chorassan bis zum Opus ausdehnen wollte, hielt er es
zuerst für geboten, Alt-Serachs zu erobern. Das that er
im Jahre 1832. Die Ansiedelung wurde geplündert,
der größte Theil der Bewohner niedergemacht; der Rest,
ungefähr 5000 Mann, wurde vom Chan von Chiwa aus-
gelöst mit der Bestimmung, die persische Grenze gegen die
Teke und die Saryken zu schützen. — Die übrigen am
Heri-rud sitzenden Saloren zogen nun an die Ufer des
M.crgh-ab und erbauten Taza-Peude und die Befestigung bei
Jolatan, woselbst sich später die Saryken festsetzten. Aus
Pendschdeh wurden deshalb die Jersaren (Tschorschangeu)
vertrieben, welche nach Schibirchan und Balch zogen. Die
Saloren blieben in Pendschdeh, bis sie abermals von den
Saryken verdrängt wurden; sie waren nun so geschwächt, daß
sie den Saryken keinen Widerstand leisteten, sondern ihnen
auswichen und zwar zunächst nach Z u r a b a d (westlich
vom Heri-rud). Später, weil die Ländereien bei Zurabad
nicht ausreichten, gingen sie wieder au das rechte Heri-rud-
Ufer nach Alt-Serachs, um im Aufträge der Perser die
Grenzen gegen die Saryken und Merwer zu vertheidigen.
Von den Merwern aber wurden sie gezwungen, nach Merw
zu ziehen, woselbst es ihnen recht schlecht ging. Erst 1881
gestattete man ihnen, zum Heri-rud zurückzuziehen, woselbst
sie bei Serachs in der Stärke von 2000 Kibitken sich
niederließen. Allein der Chan von Chorassan zwang den
größten Theil der Saloren. wieder nach Zurabad zu gehen
und nur ein kleiner Theil blieb bei Serachs. Die Saloren
hegten nicht das geringste Interesse für Persien, die ber-
gige Gegend bei Zurabad war ihnen sehr unlieb, und von
den Persern selbst wurden sie schlecht behandelt. Sobald
daher die Russen die Befestigung Konschut-Kala bei Se-
rachs eingenommen hatten, wanderten alle Saloren von
Zurabad zum Heri-rud, so daß setzt etwa 3000 Kibitken
daselbst leben.
Die Saryken können den Verlust von Merw bis heutigen
Tages nicht verschmerzen; sie hoffen sogar, daß nun nach
der Besetzung Merws durch die Russen (3. Mürz 1884)
die Teke verdrängt und ihnen, den Saryken, Merw
übergeben werde. Gewissermaßen suhlten die Saryken,
speciell in Jolatan, sich abhängig von den Teke in Merw
und deren Schicksale; als daher die Russen in Merw ein-
gezogen waren, baten die Saryken direkt um Aufnahme in
den russischen Unterthan-Verband. Die Saryken in Pendschdeh
hörten sofort auf zu plündern; denn sie ahnten, daß die
Einfälle in das jetzt russische Gebiet nicht ungestraft bleiben
würden.
Die Beziehungen der Saryken zu ihren westlichen Nach-
barn, den Persern, sind die allerschlechtesten; die Perser,
welche früher sich sehr wenig um ihre östliche Grenze am
Heri-rud gekümmert hatten, wurden nach der Einnahme
von Göklepe (12./24. Januar 1881) aufmerksamer,
schoben ihre Posten bis an den Heri-rud vor und versuchten
ans alle nur mögliche Weise, die Saryken zurückzudrängen,
ja sie sandten zu diesem Behufe sogar ihre Wachen auf
das rechte Heri-rud-Ufer; doch hatten sie damit keinen
sonderlichen Erfolg, Nach den eingehenden Mittheilungen
des Generals Petrusewitsch, welcher jene Gegenden bereiste,
läuft die faktische Grenze Persiens gar nicht am Heri-rud
entlang, sondern weiter westlich.
Zu Herat und Kabul hatten die im südlichen Tnrk-
menien sitzenden Stänime keine weiteren Beziehungen, als
daß sie die an der Grenze liegenden afghanischen Ansiedelungen
von Zeit zu Zeit überfielen und plünderten. Mit dem Chan
von Buchara dagegen suchten die Turkmenen in Pendschdeh
zu einem Theil in Frieden zu leben: die Saryken-Chane
reisten nach Buchara und ließen sich daselbst beschenken. Trotz-
dem plünderten sie die Bucharischen Karawanen. Die
Afghanen kümmerten sich gar nicht weder um die Turk-
menen, noch um ihre andauernden Streitigkeiten mit Chiwa.
Medemj-Chan von Chiwa befand sich sogar eine Zeit lang
in Pendschdeh und zog dann nach Serachs, ohne daß in Kabul
wie in Herat davon Notiz genommen wurde. Als aber
Göklepe in die Hände der Russen gelangte, änderte sich die
Stellung des Afghanen-Chans. Abdul-Nahman sandte
gegen Ende des Jahres 1883 1000 Reiter (Chazareh und
Dschemfchiden) nach Mnrgh-ab-i-bala, verdrängte die in dessen
nächster Nähe ansässigen Saryken und verlangte, daß alle
Saryken, auch die in Pendschdeh, Abgaben zahlen sollten. Die
Saryken weigerten sich dessen, weil sie keine Vortheile von
Seiten Afghanistans für sich erwachsen sahen; sie werden
daher dem Einrücken der Russen in Pendschdeh leine Schwierig-
keiten bereiten.
Die Basen oder Kunama.
Von Josef Menges.
I.
Eingeschlossen zwischen den mohammedanischen Stämmen
des Ostsndan und den christlichen Abessiniern von Tigre,
mit schnellen Schritten der Bekehrung zum Islam und dem
vollständigen Verlust seiner bis jetzt bewahrten Freiheit
und Unabhängigkeit und der Unterwerfung unter die moham-
medanischen und christlichen Nachbarn entgegengehend, haust
das heidnische Volk der Basen oder Kunama in den Wild-
nissen am oberen Setif und Gasch. Werner Munzinger,
der als der erste Europäer 1862 von Adiabo bis Amideb
das Basnlaud durchzog, verdanken wir die ausführlichsten
und besten Nachrichten über dieses eigenthümliche Volk, mit
dem außer dem genannten Forscher nur sehr wenige Euro-
päer in direkte Berührung gekommen fiitb1).
Während alljährlicher Züge nach dem Ostsndan von
1876 bis 1881, zum Zwecke Sammlungen von lebenden
wilden Thieren für die bekannte Thierhandlung des Herrn
Carl Hagenbeck in Hamburg zusammen zu bringen, hatte
ich öfters Gelegenheit, mit den Basen, deren Land einen der
0 Oben S. 55 bis 59 brachte der „Globus" nach dem
Reiscwerke des Engländers James eine Schilderung „Im Lande
der Bass", welche durch vorliegende Arbeit des bekannten Reifenden
wesentlich erweitert, ergänzt und berichtigt wird. Red.
Josef M enges: Die Basen oder Kunama.
363
besten Jagdgründe bildet, Bekanntschaft zu machen, und es
dürsten manche der dabei gemachten Beobachtungen der
Wiedergabe werth sein, wenn sie auch keinen Anspruch auf
irgend welche erschöpfende Vollständigkeit machen oder die
trefflichen Arbeiten Munzinger's berichtigen und ergänzen
sollen.
Die Kunama, wie sie sich selbst nennen, während die
Sudanesen sie Basen und die Abessinier Schangalla nennen,
bewohnen ein ziemlich beschränktes Terrain, dessen Süd-
grenze der Sctit oder Takazie bildet. Der Hauptsitz des
Volkes ist zwischen Setit und Gasch oder Mareb und
nördlich von diesem Strombett, obwohl sie nicht bis zum
Chor Baraka reichen. Nach Osten grenzen sie an die
Länder der Abessinier von Adiabo, Serawi und Dembelas.
Ihre Nachbarn im Nordwesten, nördlich des Gaseh, bilden
zuerst die am Chor Baraka nomadisirenden mohammedani-
schen Beni-Amerstämme, im Norden das verwandte Volk
der Barca und im Nordwesten und Westen am Gaseh
wieder Beni-Amerstämme. Im Westen zwischen Gaseh
und Setit liegt die Grenze in der großen unbewohnten
Ebene, östlich von der stark betretenen Karawanenstraße
von Gaseh nach Homran, während die westlichen Nachbarn
am Setit die Homran-Araber bilden.
Doch halten sich an diesen ungefähren Grenzen die
Basen von ihren Nachbarn sorgfältig fern und lassen viele
meilenbreite Strecken unbewohnten und selten betretenen
Landes an den Grenzen ihres Gebietes liegen. Eine Aus-
nahme davon machen nur die beiden Stämme von Bitama
und Elit, die auf zwei isolirten Gebirgsstöckcn nördlich des
Gaseh und hart an der Grenze der Beni-Amer leben.
Diese beiden Stämme sind jedoch schon seit vielen Jahren
Mohammedaner und deshalb nicht den Verfolgungen aus-
gesetzt, die ihre heidnischen Verwandten von Seiten der
Mohammedaner und Christen zu erleiden haben. Das Land
der Basen bildet größtenthcils ein wild zerrissenes Hügel-
oder Gebirgsland von geringer Erhebung und nur am
Gaseh und Setit breiten sich große Ebenen aus, die jedoch
nicht bewohnt, sondern nur gelegentlich durchstreift werden.
Der höchste Berg dürfte der Latakatura auf dem nördlichen
Ufer des Setit sein, der zugleich die Südgrcnze der Basen-
dörscr bildet. Die Zahl der auf diesem beschränkten Ter-
rain wohnenden Basen ist nicht stark, und mit einiger
Sicherheit kaum festzustellen; indessen dürfte sie nach
Schätzung zwischen 100 000 bis 200 000 Seelen betragen,
nach meiner Ansicht die 100 000 nicht viel übersteigen.
Die Basen sind ein hübscher Volksstamm, der sich in
der äußeren Erscheinung von den Bedja, ihren mohammc-.
dänischen Nachbarn, nicht sehr stark unterscheidet. Es sind
dieselben schlanken Figuren, wie die Bedja, auch die Haar-
frisur ist bei vielen genau dieselbe; nur sind bei Manchen,
namentlich bei den Bewohnern von Elit und Bitama, die
Lippen ziemlich stark aufgeworfen und die Nasen platter,
als bei den Bedja, die meistens sein geschnittene Gesichter
haben. In dieser Beziehung gleichen die Basen sehr den
Schukrieh von Kedarif, die zwar nur arabisch sprechen,
aber sich seit lange schon stark mit Sklaven gemischt haben.
Bei den am meisten nach Osten unmittelbar an der abessi-
nischen Grenze wohnenden Basen sah ich viele lange fein
geschnittene Gesichter, ohne jede Spur von ausgeworfenen
Lippen oder flachen Nasen, ebendaselbst viele Individuen
mit fast schlichten, nur schwach gekräuselten Haaren und
spitzen Bärten. Die Hautfarbe wechselt zwischen Rothbraun
und Tiefschwarz, wie bei ihren Nachbarn, Abessiniern und
Bedja. Die Mädchen und Frauen der Basen sehen, so
lange sie noch jung und nicht von der harten Arbeit gebeugt
sind, sehr gut aus, altern jedoch schnell und ist erst einmal
die erste Blüthe vorbei, so werden sie abschreckend häßlich.
Eine Frau von 25 Jahren macht den Eindruck, als wenn
sie 50 hinter sich hätte.
Die Basen sind alle Ackerbauer und in festen Dörfern
wohnhaft, die immer aus den unzugänglichsten Höhen, nie
in der Ebene angelegt werden. Ueberall im Basalande
sieht man die Dörfer, bestehend anö den auch sonst bei der
seßhaften Bevölkerung des Sudan und Abessiniens gebräuch-
lichen runden kegelförmigen Strohhütten, wie Krähennester
auf den höchsten und steilsten Hängen der Berge liegen,
die häufig auch nie versiegende Quellen bergen. Die Felder
der Kunama liegen meistens an den Ufern der Flüsse und
Strombetten in der Ebene, doch sind manche der Bergstöcke
plateauartig und die Felder liegen dann aus der Hochebene,
wie z. B. auf Aulla, dem nördlichsten von Basen bewohn-
ten Gebirgsstock. Der Ackerbau beschränkt sich auf Durra,
Dochn, Bohnen und Tabak. Baumwolle wird nicht gebaut,
obwohl der Boden an den Flußufern sehr geeignet dazu ist.
Das von den Basen theilweise getragene grobe arabische
Baumwollenzeug (Damur) wird von dem Beni-Amerstamm
der Haikoota eingeführt. Der größere Theil der Basen
bekleidet sich mit einem um die Hüfte geschlungenen gegerb-
ten Ziegenfell. Die Viehzucht wird nur sehr schwach
betrieben, woran theils die unaufhörlichen Raubzüge der
Nachbarn, theils auch die in gewissen Theilen des Landes
vorkommende Giftfliege, die die größeren Hausthiere nicht
aufkommen läßt, Schuld ist. Diese Fliege, ähnlich oder
identisch mit der Tsetse, kommt besonders am oberen Mareb
vor, wo sie daö ganze Jahr über heimisch ist und sich in
der Regenzeit auch nach dem Setit und Baraka hin ver-
breitet. Die Wirkung des Stiches ist dieselbe wie bei der
Tsetse; die Thiere, die häufig gestochen werden, magern ab,
werden kraftlos und gehen nach einigen Wochen ein. Dies
gilt besonders von den größeren Thieren, Kamcelen, Pfer-
den und Ochsen, von denen die beiden ersteren von den
Basen gar nicht gezogen werden, während Rindvieh in den
von der Fliege nicht heimgesuchten Lokalitäten nur wenig
gezüchtet wird. Das Lastthier der Basen bildet der Esel,
der weniger von den Stichen der Fliege leidet; Ziegen,
Schafe und Hunde werden in jedem Dorfe gehalten und
die Hunde werden so gut wie Ziegen und Schafe gegessen.
Ueberhaupt sind die Basen nicht wählerisch in Bezug auf
die animalische Nahrung, denn sie verzehren jedes Thier,
das ihnen in die Hände fällt, Schlangen, Mäuse, Hyänen,
Aasgeier rc. und betrachten den großen Pavian als
besondere Delikatesse. Auch, schon ziemlich stark mit Haut-
gout behaftetes Fleisch wird mit Wonne verzehrt. Das
Basaland bildet einen beliebten Rückzugsort für die von
abessinischen und arabischen Jägern verwundeten Elefan-
ten, denen die Jäger, wenn sie in kleiner Zahl sind, nicht
in das feindliche Land der Basen nachzufolgen wagen. Gar
manche dieser großen Thiere verenden in den Wildnissen
und die Basen, die von der Höhe ihrer Berge ans immer
auf der Wache sind, erkennen ans dem Kreisen der Aas-
geier den Platz und sicheren sich selbst die Beute. Das
ganze von den Basen bewohnte Gebiet ist sehr wildreich
und birgt zahlreiche Herden von Elefanten, Giraffen,
Büffeln, Antilopen re., besonders in den Grenzdistrikten
nach Abessinien zu und den von der Fliege heimgesuchten
Gegenden, da bekanntlich der Stich der Fliege den wilden
Thieren, wie auch dem Menschen selbst, nicht nachtheilig
ist. Gleichwohl sind die Basen schlechte Jäger und thun
dem Wilde nur wenig Schaden; das meiste, was sic von
Wild bekommen, erhalten sie durch die unfreiwillige Mit-
hilfe der arabischen und abessinischen Jäger, oder auch in-
dem sie iu großen Scharen mit den ihr Land besuchenden
46*
364
Josef Meng es: Die Basen oder Kunama.
Beni-Amerjägern herumziehen und das Fleisch der von den-
selben erlegten Thiere, nachdem es in Streifen geschnitten
und getrocknet ist, in ihre Dörfer schleppen. Auf einem
solchen Zuge war unsere Gesellschaft von mindestens
200 Basen begleitet, und obgleich wir in etwa 20 Tagen
2 Elefanten, 6 Giraffen, 6 Büffel, 1 Rhinozeros und
ca. 20 verschiedene Antilopen tödtcten, so kann ich doch
versichern, daß von dem Fleische sehr wenig den Geiern
und Hyänen zur Beute fiel. Wolda Gabriel, ein abessini-
scher Jäger meiner Bekanntschaft, ist stets von einer Com-
pagnie Basen begleitet, die sein Gepäck tragen, die häus-
lichen Dienste im Lager verrichten, als Spürhunde und
Wächter dienen und für diese Arbeit durch das Fleisch der
gctödteten Thiere und einige Hautstücke belohnt werden.
Ueberhaupt geht wohl selten eine Gesellschaft arabischer
Jäger ins Basenland, ohne von Scharen von Basen
begleitet zu sein, während die abessinischen Jagdgesellschaften,
die meistens ihre eigenen Leute aus den heimischen Dörfern
mitbringen und von den Basen immer als geschworene
Feinde betrachtet werden, ohne diese Begleitung sind, mit
Ausnahme des oben erwähnten Wolda Gabriel. Die von
den Kunama selbst betriebene Jagd beschränkt sich auf
Schlingenlegen, und zuweilen auf Anlegen von Fallgruben
für Elefanten; dann und wann auch Hetzen sie Büffel
und Antilopen mit Meuten ihrer windhnndartigcn fuchs-
rothen Köter. Erst in den letzten Jahren haben die Basen
von Sogoda, dem westlichsten Stamme am Mareb, die
sudanesische Jagdmethode (Agahr) angenommen, Hetzen das
Wild zu Pferde und erlegen es mit dem Schwerte.
Umgeben von Christen und Mohammedanern, sind die
Basen als Heiden allen Verfolgungen ihrer Nachbarn
ausgesetzt und bilden von jeher ein Hauptobjekt für die
Sklavenjagden und Gasnas ihrer Feinde. Die ärgsten
Gegner der Basen sind die Abessinier, die alljährlich vor-
der Regenzeit das Basalaud mit regelmäßigen Plünderungs-
zügcn heimsuchen. Die Basen flüchten vor diesen unver-
söhnlichen Feinden in Höhlen, werden jedoch oft verrathen
und von den Abessiniern zur Uebergabe gezwungen, indem
man sie ausräuchert oder zum Anszuge zwingt, indem
Säcke voll von zerriebenem röthern Pfeffer in die Höhlen
geworfen und durch hineingefeuerte Schüsse der beißende
Pfeffer zum Herumstäuben gebracht wird. Die gefangenen
Weiber, Kinder und jungen Leute werden zu Sklaven ge-
macht, die Unbrauchbaren meistens ermordet, manchmal
auch laufen gelassen. Zuweilen suchen sich die unglücklichen
Basen durch Tributzahluug an die Häuptlinge der abessini-
schen Grenzprovinzen zu schützen, doch hilft dieö nicht sehr
viel, denn wenn die Häuptlinge auch die Basadörfcr in
Ruhe lassen, so treibt sich doch gerade an der Grenze viel
unbeschäftigtes und unbotmäßiges Raubgesindel herum, das
bei jeder passenden Gelegenheit sicher irgend einen Hand-
streich auf die einzelnen Dörfer macht. Die Basen rächen
sich an den Abessiniern ans jede Weise, indem sie sich in
der Nähe der abessinischen Grenzdörfer herumtreiben, ein-
zelne Leute tobten und Weiber und Kinder rauben, die
wieder als Sklaven an die mohammedanischen Stämme ver-
kauft werden. Auch lauern sie gerne an den Uebergängen
des Takazic und Mareb den nach und von der Küste ziehen-
den abessinischen Karawanen auf und vollführen manchen
glücklichen Streich gegen die abessinischen Händler. So
wurde im Sommer 1881 während meiner Anwesenheit
am Gasch eine von Rabta nach Massawa ziehende abessi-
nische Karawane am oberen Mareb von den Basen über-
fallen, sämmtliche 200 Eselsladungen geraubt und die Be-
sitzer, 24 Mann stark, gefangen. Die letzteren wurden
nach Kassala als Sklaven verkauft, darunter auch ein
abessinischer Hofmusikus, der auf der Wallfahrt nach Jeru-
salem begriffen, mit sammt seiner Geige gefangen wurde
und NUN den Triumph der Sieger mit seinem Spiel ver-
herrlichen mußte.
Außer den Abessiniern sind die schlimmsten Feinde der
Basen die Bergstämme von Algaden und Sabderat, die
überhaupt im ganzen Ostsudan den Ruf der ärgsten Räu-
ber genießen. Diese Horden machen alljährlich regel-
mäßige Ranbzüge zu Hunderten in das Basaland, wobei
namentlich die gepanzerten Reiter eine große Rolle spielen,
und führen das Vieh der Basen weg, während die Besitzer
zu Sklaven werden. Eben so eifrige Verfolger der Basen
sind bis in die letzten Zeiten die ägyptischen Garnisonen
gewesen, namentlich die Besatzung von Amideb im Barea-
lande. Unter dem Vorwände, Tribut einzutreiben, unter-
nahmen diese Helden von Zeit zu Zeit Ranbzüge in die
Basaländer und außer Vieh führten sie immer eine gute
Menge Kinder, namentlich junge Mädchen, zurück, die als
Sklavinnen in die Harems der Offiziere und Beamten
wanderten. Von ihren anderen Nachbarn, den Beni-Amcr
und Homran, hatten die Basen verhältnißmäßig wenig zu
leiden, obwohl auch diese Stämme von Zeit zu Zeit eine
Gasua Veranstalteten, namentlich wenn es galt, den Tribut
an die ägyptische Regierung zu bezahlen. Einen sehr-
wirksamen Schutz gegen ihre Feinde, namentlich die Abessi-
nier, besitzen die Basen in dem Klima ihres Landes. Wäh-
rend und zwei Monate nach der Regenzeit, also von Juni bis
Mitte November, ist das Basaland höchst ungesund, nament-
lich die Ebenen ane Mareb und Setit, die oft versumpfen
und tödtliche Fieber entwickeln, während im Gegentheil die
Gebirgslandschaften und einzelnen Gebirgsstöcke wie Aulla,
Eimasa, Bitama, Elit, Latakatura ein verhältnißmäßig
gesundes Klima haben und sogar als Gesundheitsstationen
gelten können. Die Abessinier sammt und sonders haben
nun einen heilsamen Respekt vor der fieberschwangeren
Luft der heißen Tiefländer am Fuße ihrer Berge und
wagen sich nur in dieselben, wenn das Land vollständig
ausgetrocknet und das hohe Gras abgebrannt ist, also von
März bis Ende Mai. Auch die Furcht der meistens berit-
tenen abessinischen und sudanesischen Räuberbanden, die
Gegenden, wo die Giftfliege haust, zu passiren und ihre
Pferde dadurch zu verlieren, hält dieselben von allzu häu-
figen Jagden ab, so daß die Basen vor den Sklaven-
jagden im großen Stile alljährlich etwa sechs Monate
„Schonzeit" genießen.
Außer diesen großen regelmäßigen Raubzügen der Abes-
sinier und Sudanesen, die im großen Stile immer zu
Hunderten umernommen werden, währt der kleine Krieg
gegen die heidnischen Basen jahraus, jahrein. An der
ganzen Grenze des Basalandes treiben sich Gaunergesell-
schaften, meistens 6 bis 12 Mann stark, und aus Beni-
Amer, Algaden, Jalin rc. bestehend, herum, die nur den
Moment erspähen, um einzelne Leute, die Honig suchen,
Kinder, die die Ziegen hüten, holzsammelnde Weiber rc.
wegzufangen und in die Sklaverei zu schleppen, so daß das
unglückliche Volk wirklich keinen Augenblick sich der Ruhe
und Sicherheit erfreuen kann. Ich bin auf meinen Touren
am Gaseh häufig diesen Grenzstrolchcu begegnet, die aus
ihrem Vorhaben kein Hehl machten, und konnte danach
beurtheilen, was die von Aegypten angeblich in Scene
gesetzte Unterdrückung des Sklavenhandels den Basen ge-
nutzt hatte, auch wenn ich nicht Zeuge der von der Garni-
son von Amideb ausgeführten Sklavenjagden, die unter
Gordon's Regierung stattfanden, gewesen wäre.
Gordon selbst hat gewiß von diesen Zügen nie etwas gewußt,
obwohl die Thatsache im Ostsudan überall genau bekannt war.
Kürzere Mittheilungen.
365
Kürzere Mi
Dr. Pechuel-Lösche über das Herero-Land.
Am 5. Mai hielt Dr. Pechuel-Lösche vor der geographi-
schen Gesellschaft in Greifswald einen Vortrag über das
Herero-Land, überhaupt den ersten nach seiner kürzlich erfolg-
ten Rückkehr von dort. Wir entnehmen dem „Kreisanzeiger
für den Kreis Franzburg" von: 8. Mai 1885 darüber das
Folgende.
Das Herero-Land ist für uns Deutsche deshalb besonders
Interesse erweckend, weil es das Hinterland der kürzlich unter
deutschen Schutz gestellten Besitzungen in Südwest-Afrika ist.
Das Herero-Land ist eine vom Meere aus gauz allmählich
bis zu einer Höhe von 1300 bis 1500 m ansteigende glatte
Fläche, an der nirgend ein gebirgiger Charakter wahrnehmbar
ist. Eigenthümlich sind derselben zahlreiche, bis 50 m hohe
Felsspitzen, welche aus der sonst ebenen Fläche hervorragen.
Zur Erklärung dieser eigenartigen Bodenverhältnisse nimmt
man an, daß zu der Zeit, als dieser Theil Afrikas noch
Meeresgrund war, die auf demselben zwischen vorhandenen
Erhöhungen besindlichei: Vertiefungen durch Sand und Ge-
röll ausgefüllt worden sind, so daß die vorerwähnten Spitzen
als die Gipfel der mit Erde bedeckten Berge zu betrachten
sind. In der Nähe der größeren Abflußrinnen des Landes
werden die die Vertiefungen ausfüllenden Erd- und Saud-
massen zum Theil weggeschwemmt, so daß dort die zerklüftete
Gestaltung zu Tage tritt. Wegen seiner ungünstigen Lage
an der Grenze der im centralen Afrika und im Kaplande
auftretenden periodischen Regen und der über das Land hin-
wehenden austrocknenden Winde ist das Herero-Land außer-
ordentlich wasserarm, da dort Regen äußerst selten fällt.
Säkulare Verschiebungen in den klimatischen Verhältnissen
bewirken, daß es in einzelnen Theilen des Landes in einem
ganzen Jahre überhaupt nicht regnet, ja es giebt dort Leute,
die überhaupt keinen Regen kennen. Infolge dieses Regen-
mangels giebt es Flüsse im Herero-Lande gar nicht; die
größeren Abflußrinnen erreichen nur äußerst selten das Meer.
Dagegen finden sich in einzelnen Theilen des Landes Quellen,
die aber auch leicht wieder versiegen. Das nöthige Wasser
zum Tränken der Ochsen verschaffen sich die Herero, indem
sie in den Abflußrinnen 3 bis 4 m tiefe Löcher graben und
das ans den unteren Bodenschichten darin sich sammelnde
Wasser, unter günstigen Verhältnissen etwa ein Liter in der
Minute, ausschöpfen. Der Wasserarmuth wegen ist der
Pslanzeuwnchs ein äußerst dürftiger. In Abständen von
etwa im ist der Boden mit Grasbüscheln bedeckt, die den
zahlreichen Ochsen der Herero zur Nahrung dienen. Außer
manchen anderen Gewächsen gedeiht dort auch eine dorn-
strauchühnliche Pflanze, welche große Dimensionen annimmt
und kürbisartige Früchte trägt, von denen sich die Hotten-
totten nähren. An sieben bis acht Stellen des Landes, tvo
die in den Abflußrinnen angelegten Löcher sich bis zum Rande
mit Wasser füllen, wird auch etwas Ackerbau getrieben,
während die Herero sonst ausschließlich auf die Rinderzucht
ttheilungen.
angetviesen sind. An Thieren fanden sich noch bis vor we-
nigen Jahren zahlreiche Herden von Elefanten, Straußen
und Springböcken im Herero-Lande, so daß die Ausfuhr von
Elfenbein und Straußenfedern über Walfischbai jährlich eine
Million Mark betrug. In den letzten Jahren haben aber
besonders schwedische und englische Jäger derartig unter den
erwähnten Thieren aufgeräumt, daß diese äußerst selten ge-
worden sind. Paviane sind in großer Menge vorhanden.
An Mineralien findet sich in der Nähe der Walfischbai und
auch weiter im Inneren gutes Kupfererz. — In diesem
Lande, welches ungefähr die Größe des Deutschen Reiches
hat, leben etwa 250 000 Menschen, also je einer ans zehn
Quadratkilometer. Hiervon sind etwa 90 000 Herero, die
übrigen andere Völker ans Central-Afrika und Hottentotten.
Zwischen den Herero und den Hottentotten herrscht ununter-
brochen Fehde, da letztere besitzlos, beständig den Rindern der
ersteren nachstellen, welche sie theils für sich verbrauchen, theils
gegen Lieferung von Feuerwaffen nach Kapstadt vertauschen.
Durch den Besitz der letzteren war es den Hottentotten mög-
lich, sich eine Zeitlang zu Herren der Herero zu machen, bis
diese sich auch Gewehre zu verschaffen wußten. Um sich
Sicherheit gegen die fortwährenden Einfälle und Diebereien
der Hottentotten zu verschaffen, haben die Herero, durch eng-
lische Kommissare veranlaßt, schon mehrere Male um eng-
lischen Schutz nachgesucht, doch ist ihnen derselbe bisher nicht
gewährt worden, da weder die Kapregierung, noch die englische
Regierung die Kosten tragen will. Der einzige Reichthum
der Herero besteht in ihren Rinderherden, mit denen ein
förmlicher Kultus getrieben wird. Die 90000 Herero sollen
Millionen Rinder besitzen, sie sind im Gegensatze zu den
leichtlebigen, leichtsinnigen, genußsüchtigen, unzuverlässigen
und diebischen Hottentotten ernste, vertrauenerweckende, zu-
verlässige Männer, so daß der Europäer in ihrem Gebiete
ziemlich sicher reist. Unter einander wird freilich kein anderes
Eigenthum, als die Rinder, respektirt. vielmehr huldigen die
Herero in ausgedehntester Weise dem Kommunismus. Dabei
sind sie sehr geizig und verhungern eher, als daß sie eins
ihrer Rinder schlachten. Sie nähren sich von der Milch der-
selben, die nur sauer genossen wird. Vor dem Genusse muß
sie von dem Häuptlinge des Dorfes gekostet werden. Die
Tochter desselben nimmt eine sehr hervorragende Stellung
ein. Sie hat das heilige Feuer in ihrer Hütte zu bewahren
und dasselbe als Zeichen zum Beginne des Melkens gegen
Abend ins Freie zu bringen. Sie hat ferner die Knaben
den verschiedenen Kasten, in welche die Herero geschieden sind,
zuzutheilen. Eine Kaste darf nur Rinder von bestimmter
Farbe haben. Sonderbare Ceremonien finden beim Begräb-
nisse statt. Der Gebrauch des Wassers zum Waschen ist dem
Herero unbekannt; er wäscht sich nie. Gewöhnlich wird der
Körper mit einer rothbraunen, fettigen Salbe eingeschmiert.
Das Reinigen der Hände vor: Fett, z. B. zur Begrüßung
von Europäern, geschieht durch Kuhdung.
Aus allen
Europa.
— Das todte Brügge soll jetzt zu einem Seehafen
nmgeschaffen werden. Die belgische Regierung hat beschlossen,
bei Heyst unweit Brügge einen Hafen von 74 ha Areal und
Erdtheilen.
7]/2 m Tiefe bei Ebbe anzulegen und denselben durch einen
Kanal mit der Stadt Brügge zu verbinden.
— Der bekannte und beliebte Reiseführer von Dr.
Gsell-Fels „Italien in 60 Tagen" (Leipzig, Biblio-
366
Aus allen Erdtheilen.
graphisches Institut) ist eben in 3. Auflage erschienen. Da-
durch, daß das stetig an Umfang zunehmende Buch jetzt
praktischer Weise in zwei handliche Theile zerlegt worden ist,
wird es sich bei denjenigen, welche in wenigen Wochen
möglichst viel von Italien sehen wollen, gewiß neue Freunde
erwerben.
— Wie „La Gazette Géographique" vom 23. April
d. I. mittheilt, sind die Arbeiten zur Entwässerung
des Kopais-See in Böotien, welche im Februar 1883
von einem französischen Unternehmer begonnen, aber nicht
sehr eifrig betrieben wurden, jetzt in vollem Gange, nachdem
eine gleichfalls französische Gesellschaft, deren Kapital 15 Mil-
lionen Francs betrügt, die Sache in die Hand genommen
hat. Zwischen dem Suinpfsee Kopais oder, wie er heute
genannt wird, Topolias (95 m über dem Meere) und der
Meerenge von Talanti liegen zwischen Bergen und Hügeln
noch zwei kleinere Seen, der Stiert (45 m) und der Para-
li m n i (35 m); diese sollen durch Kanäle und Tunnels mit
einander und mit dem Topolias einerseits, dem Meere an-
dererseits in Verbindung gesetzt werden und zugleich als
Reservoirs dienen, welche im Winter das Wasser auf-
sammeln und in der trockenen Zeit zur Berieselung der
Ebenen des Topolias und derjenigen von Theben wieder
hergeben. In Likeri soll das Wasser um 35 m höher, als
sein jetziger Spiegel steht, im Paralimni um 22 m höher
gestaut werden. Den Fall zwischen beiden Seen einerseits
und dem Paralimni und dem Meere andererseits, welcher
auf 12 000 Pferdekräfte geschätzt wird, denkt man gleichfalls
auszunutzen, den ersteren durch eine hydraulische Maschine,
welche das Wasser zur Berieselung der Topolias-Ebene auf
die erforderliche Höhe heben soll. Der Tunnel zwischen
Topolias und Likeri (630 m lang) ist bereits zu zwei
Drittel fertig, derjenige zwischen Likeri und Paralimni
(1000 m lang) an vier Stellen in Angriff genommen; ebenso
befinden sich zwei der zuführenden Kanäle in Arbeit.
Asien.
— Die „Nowoje Wrjcma" bezeichnet den Weiterbau der
central-asiatischen Bahn als eine beschlossene Sache.
Die 345 Werst lange Strecke vom Michailow-Busen (Kras-
nowodsk) überKizil-Arwat und Aschabad bis Kaachka (bei
Luftabad) soll bereits int Herbst dieses Jahres fertig sein.
Von Kaachka bis Merw, 180 Werst, werden im nächsten
Frühjahre und die letzten 240 Werst von Merw bis zum
Amu-darja zum Sommer des nächsten Jahres fertig werden.
Abgesehen von Schienen und Betriebsmaterial soll der Bau
der Bahn, welcher dem General-Lieutenant Annenkow über-
tragen worden ist, 12 Millionen Rubel (ca. 24 Mill. Mk.) kosten.
— Die Zeitung „ Sibir" hat am 26. Februar aus
Chabarowka aus der Kanzlei des General-Gouverneurs
der Amur-Provinz folgendes, die Goldwäscher an der
chinesisch-russischen Grenze (vergl. oben S. 269 f.)
betreffendes Telegramm erhalten: „Es ziehen viele Leute aus
verschiedenen Gouvernements an die Sheltuga, woselbst die
Preise enorm steigen; die Resultate der Arbeit sind gering-
fügig. Käufer für Gold giebt es wenige; der Preis desselben
ist gefallen. Die Wege sind nnpassirbar, eine Hungersnoth
droht; es ist die Anordnung getroffen worden, das gewonnene
Gold als Kontrebande zn arretiren. Man veröffentliche dies,
rede den Arbeitern die Hinreise aus, um viel Unglück zu
verhüten." — Hieraus ergiebt sich, daß die russischen Be-
hörden ebenso gegen die Goldwüscher Partei ergriffen haben,
wie die chinesischen.
— Die indische Regierung hat jetzt den „Tinies" zufolge
angefangen, ein der Asiatic Society vor Jahren gegebenes
Versprechen zu erfüllen, nämlich das einer systematischen
zoologischen Untersuchung der indischen Meere
uebst einer Aufnahme der Küsten. Letztere ist schon seit
einigen Jahren im Gange, und nun ist auch dem Aufnahme-
Dampfer „Jnvestigator" ein geeigneter Naturforscher, Dr.
Giles, nebst den nöthigen Apparaten beigegeben worden.
Derselbe hat kürzlich während einer Kreuzfahrt im Meer-
busen von Bengalen an verschiedenen Stellen gedredscht und
einige anscheinend neue Thiere erbeutet.
Afrika.
— Unseren Lesern ist der englische Jäger James durch
seine Jagdzüge im Lande der Bass oder Knnama (vergl.
oben S. 55) bekannt. Im vergangenen Winter unternahm
derselbe mit vier Begleitern eine kühne Reise in das Innere
des Somali-Landes; er beabsichtigte durch Ogadeen
(zwischen 60 und 7° nördl. Br.) bis zum Webi zu gehen,
was in Berbera mit Kopfschütteln aufgenommen wurde.
War doch gerade in Ogadeen unlängst der Italiener Sacconi
von den Eingeborenen ermordet worden! Die Reise ist in-
dessen, wenigstens zum Theil, geglückt; Hr. JosefMenges
schreibt nlis darüber aus Berbera, den 23. April 1885:
„Es dürfte Sie vielleicht interessiren zu erfahren, daß die
englischen Sportsmen James, Philipps rc. von ihrer Tour
nach dem Webi am 16. April d. I. wider Erwarten glück-
lich zurückgekehrt sind. Die Herren, die am 23. December
vorigen Jahres von hier abreisten, haben sehr große Schwierig-
keiten zn überwinden gehabt und nur durch große Geschenke
sich den Weg durch Ogadeen bahnen können, waren aber
dennoch in beständiger Gefahr, angegriffen zu werden. Den
Webi haben sie glücklich erreicht, ihre Absicht aber, von da
flußabwärts nach Makdischu (am Indischen Ocean) zu gehen,
nicht ausführen können, da ihre Leute sich weigerten, weiter
zu gehen und es unmöglich war, mit den Anwohnern des
Webi, die seßhaft sind und mit den nomadisireuden Somali
fast immer auf dem Kriegsfuße stehen, ein Abkommen über
den Weitermarsch zu treffen. Sie kehrten deshalb durch die
wasserlose Steppe nach Berbera zurück, wobei sie auf einer
Strecke neun Tage ohne Wasser marschiren mußten. Das
geographische Resultat dieser Reise ist sehr bedeutend; da-
gegen waren die Herren in Bezug auf Sport sehr enttäuscht.
Die Reise soll circa 5000 Pfd. Steri, kosten."
— Der Sekretär der Baptisten-Missionsgesellschaft in
London schreibt an die „Times" : „Wir haben soeben die
Nachricht erhalten, daß der Rev. G. Grenfell nach einer
Reise aus dem oberen Congo von Stanley-Pool nach
Stanley-Falls, cine Entfernung von 1060 Meilen, in dem
der Baptisten-Missionsgesellschaft gehörigen Dampfer „P e a c e"
glücklich zurückgekehrt ist. Er hat auf seinem Wege viele
Nebenflüsse erforscht — den Mobangi bis 4°30' nördl. Br.,
den Ukere bis 2° 50' nördlich und den Lubilandschi bis
1050' südlich. Der Mbura ist von seiner Vereinigung mit
dem Congo nur 10 bis 12 Meilen weit schiffbar, dann
blockiren Katarakte die Passage. Der Mobangi ist ein schöner
Fluß, aber die dortige Bevölkerung ist äußerst wild. Ein
umständlicher Bericht ist noch nicht eingegangen; es ist indeß
sehr befriedigend zu erfahren, daß der Congo nunmehr fried-
lich befahren werden kann und derartige Forschungsreisen
mit Sicherheit unternommen werden können. Hr. Grenfell
wurde auf dieser Reise von Frau und Kind und einer
kleinen Anzahl von Misfionsgehilfen begleitet. Der Aus-
flug nahm 5 Monate in Anspruch. Der „Peace" ist ein
Doppclschraubendampfer von 70 Fuß Länge und wurde von
der Firma Thornycroft u. Cie. in Chiswick gebaut. Nach
einer Versuchsfahrt auf der Themse wurde er in Stücke zer-
legt und in diesem Zustande nach dem Congo gesandt. Die
Platten u. s. w. wurden dann auf den Köpfen von Männern
über Land nach Stanley-Pool — eine Strecke von 225 Meilen —
getragen. Dort wurde der Dampfer von Hrn. Grenfell und
seinen Negerdienern wiederum zusammengesetzt, und nach
einer oder zwei kurzen Fahrten wurde diese prächtige Reise
Aus allen Erdtheilen.
367
ausgeführt, welche den ganzen oberen Fluß als der Civili-
sation, dem Handel und Missionsunternehmungen geöffnet
erwiesen hat. Vieles ist hierbei der Internationalen Afri-
kanischen Gesellschaft unter der fähigen Führerschaft von
Hrn. H. M. Stanley zu danken. Der Congo-Staat, mit
König Leopold II. als Souverän, hat eine große Zukunft
vor sich, und zwar nicht in weiter Ferne." (?)
— Hugo Zoller schreibt d. d. Vivi 6. April in der
„Kölnischen Zeitung" vom 12. Mai 1885 unter anderem
Folgendes über die Aussichten des neuen Congo-
Staates. „Während im ganzen Verlause der Welt-
geschichte ein civilisirter Staatsorganismus der Schlußstein
langer Kulturbestrebungen gewesen ist, will man hier damit
anfangen, und alles klebrige soll erst nachfolgen. Wird
der Versuch gelingen? Unter günstigen Vorbedingungen
würde ich ihn nicht für aussichtslos halten, aber hier scheinen
niir die Vorbedingungen leider nicht ganz so günstig zu sein,
wie man wohl in Europa annimmt. Hoheitsrechte irgend
welcher Art sind von der Association bisher noch nicht aus-
geübt worden. Um die Verhältnisse am Congo richtig zu
beurtheilen, sollte man nicht vergessen, daß einige westafrika-
nische Kaufmannsfirmen, wie z. B. das große holländische
Haus, über einen eben so großen Stab an weißen und
schwarzen Angestellten verfügen, wie die Association. Die
Association hat ganz Außerordentliches geleistet, indem sie in
verhältuißmäßig sehr kurzer Zeit Stationen um Stationen
immer weiter ins Innere hinein vorschob. Hat man ein
Recht, ihr vorzuwerfen, daß sie nicht noch mehr geleistet hat?
Ich glaube kaum. Aber ob der Congo und das Congo-
gebiet überhaupt einen so hohen Werth haben, wie man in
Europa annimmt? Im Februar und März dieses Jahres
ist ein diplomatischer Agent der Bereinigten Staaten (Herr
Thistle) bis nach Stanley-Pool hinausgegangen und soll über
die Hilfsquellen des Landes ein ziemlich ungünstiges Urtheil
gefällt haben. Ich habe noch keinen mit den Congoverhält-
nissen Vertranten, sei er nun Kaufmann oder was immer,
gesprochen, der nicht über Stanlcp's in Europa gehaltene
Reden gelächelt und erklärt hätte, daß dieselben ebensowenig
ernst zu nehmen seien, wie jede andere Reklame. Es besteht
allerdings, wie ich durch das, was ich mit eigenen Augen
gesehen habe, bezeugen kann, ein arger Widerspruch zwischen
den übertreibenden Schilderungen des gewandten Amerikaners
und dem Aussehen des kahlen und nicht sehr dicht bevölkerten
Landes. Welch ein Paradies an Fruchtbarkeit und Ueppig-
keit ist im Vergleich hierzu Kamerun und namentlich das
Kamerun - Gebirge .... Bei aller Hochachtung vor dem
Werke, dessen wahrhaft großer und erhabener Grundgedanke
vom König der Belgier ausgegangen ist, kann ich doch nicht
läugncn, daß die Aussichten für die Zukunft mir trotz der
Konferenz und ihrer Entscheidungen ein wenig trübe zu sein
scheinen."
— Bei seiner Abreise nach Afrika hat Ed. Robert
Flegel „Drei Briefe an die Freunde deutscher
Afrika-Forschung, kolonialer Bestrebungen und
der Ausbreitung des deutschen Handels" (Ham-
burg 1885) veröffentlicht, in denen er wiederum sich bestrebt,
das Interesse für die gründliche Durchforschung und Nutzbar-
machung des Benuö-Gebietes durch Deutschland zu
erwecken. Nach seiner Ansicht gehört dasselbe zu den viel-
versprechendsten Theilen Afrikas, kann Handel und Plantagen-
ban reichlich lohnen, ja gestattet vielleicht selbst Ansiedelung.
Flegel's Plan geht dahin, dort Stationen zu errichten und
von diesen aus durch Fachmänner aller Art das Land ein-
gehend untersuchen zu lassen, in praktischer sowohl als auch
wissenschaftlicher Hinsicht. Ein Anfang dazu ist ja bereits
durch Flegel's eigene neue Expedition gemacht worden; aber
ihm liegt daran, weitere und namentlich kaufmännische Kreise
für seine Gedanken zu erwärmen. Möge ihm darin das
Glück günstig sein!
— In jetziger Zeit, wo die deutschen Kolonialbcstrebungeil
im Vordergründe des Interesses stehen, ziemt es sich wohl,
auf deren allererste Anfänge zurückzublicken, und neue authen-
tische Beitrüge zu deren Geschichte sind sicher, mit Interesse
aufgenommen zu werden. Das ist gewiß der Fall mit dem
Merkchen „Brandenburg-Preußen auf der West-
küste von Afrika 1681 bis 1721" (Berlin, E. S. Mittler
& Sohn 1885), welches die Abtheilung für Kriegsgeschichte
im Großen Generalstabe fast ausschließlich nach den Akten
und Urkunden des Berliner Geheimen Staatsarchivs ver-
faßt und mit einer Uebersichtskarte und fünf sehr interessanten
Plänen und Rissen der westafrikanischen Forts ausgestattet hat.
Daß hierbei der kriegswissenschaftliche und politische Gesichts-
punkt am meisten in den Vordergrund tritt, ist natürlich;
aber neben der pragmatischen Darstellung von der Errichtung
und dem Untergänge der westasrikanischen Faktoreien fehlt es
nicht an merkwürdigen Streiflichtern auf andere Wissens-
gebiete. — Brandenburg resp. Preußen hat vor 200 Jahren
an zwei Punkten Westafrikas Faktoreien und Forts besessen,
an der Goldküste und nördlich vom Senegal. Am ersten
Tage des Jahres 1683 ergriff Major Otto Friedrich von
der Gröben Besitz vom Berge Manfro (westlich vom Cap
Tres Puntas) und errichtete dort das Fort Groß-Friedrichs-
burg, östlich von welchem später noch bei Taccrama, Accada
und Taccarary Befestigungen angelegt wurden, trotzdem die
Holländer das Festsetzen der Brandenburger nach Kräften zu
hindern suchten. Obwohl die Gegend ungesund war und
die Besatzung von Groß-Friedrichsburg gleich zu Anfang
starke Verluste durch das Fieber erlitt (S. 19, Anmerk.), so
entwickelte sich doch der Handel in ergiebiger Weise: in der
Zeit vom 28. December 1711 bis 24. December 1713 legten
dort 95 Schiffe an. Allein König Friedrich Wilhelm I. brachte
den Kolonien keine Sympathien entgegen und verkaufte die-
jenigen an der Goldküste am 22. November 1717 für
6000 Dukaten und 12 Negerknaben an die Holländisch-West-
indische Kompagnie. — Sehr ausgedehnt war der zweite
Kolonialbesitz Brandenburgs, das Land Argien, welches
die westafrikanische Küste vom Senegal bis fast zum
25. Grade nördl. Br. umfaßte, ein Gebiet, dessen nördliche Hälfte
heute von Spanien, dessen südliche von unabhängigen mau-
rischen Stämmen occupirt ist. Der wirkliche Besitz aber be-
schränkte sich wohl aus die Insel Argnin (20'35' nördl. Br.)
und das darauf befindliche Kastell. Davon ergriff Branden-
burg Besitz am 5. Oktober 1685. Mit der Zeit wurde
Argnin der größte Stapelplatz für den internationalen Gummi-
handel, was den besonderen Neid der großen Kolonialmächte
erregte. Der erste Besitzer (seit 1441) war Portugal gewesen,
dann seit 1580 Spanien, von 1638 bis 1678 die Niederlande,
von da an Frankreich, welches aber bald selbst diese Besitzung
aufgab, um später seine Ansprüche wieder geltend zu machen
und die Insel am 10. März 1721 den seit 36 Jahren dort
sitzenden Brandenburgern resp. Preußen mit Gewalt wieder
abzunehmen. Damals bestand die ganze Besatzung nur noch
aus 3 Christen und 40 Mohren; sie unterlag französischer
Uebermacht, mehr aber noch wegen der Gleichgültigkeit des
Mutterlandes. Und doch hieß es in einem Berichte ans dem
Jahre 1713 an den König unter anderem: „Die Erste
Forteresse heißt Argyn und liegt an der Capo Blanco, ist
von lauter Klipp-Steinen aufgebaut und so fest und wohl
8ituu-et, daß wenn 30oder 40Mann daselbsten Guarnison
halten, sie vor niemanden, wer es auch ist, sich zu fürchten
hat . . . Dieses Arguyuische Königreich ist 150 Meilen
lang, nämlich von Bananen bis an den Arguyn 70, und
von Argnyn bis Lenegal 80 Meilen südwärts und 70 Meilen
ostwärts breit. Das Commercium auf dieser Argnyn'schen
Küste besteht vornehmlich in Gummi, auch etwas Gold,
Sklaven, Elephanten-Zühne, Bezoar-<Steitteit, Pfeffer, Häuten
von Tigern, Ochsen, Böcken, Cabritten, weißem und schwarzem
Ambra de Gris, zuweilen viel, zuweilen wenig, nachdem die
See solchen auswirft, Straußfedern, Fisch und Salz in
großer Menge. Die Lust in Argnyn ist gesund, und ob es
368
Aus asten Erdtheilen.
daselbst schon große Hitze giebt, so werden doch die Leute
gemeiniglich sehr alt."
I n s e l n des Stillen Oceans.
— Ueber die Ergebnisse der deutsch - englischen
Südsee - Kommission bringt die „Kölnische Zeitung"
Mittheilungen, denen wir Folgendes entnehmen. Die Staats-
angehörigen beider Mächte sollen in den beiderseitigen Be-
sitzungen gleiche Rechte genießen. Englische und deutsche
Schiffe stehen überall auf gleichem Fuße. Unterscheidungs-
zölle werden nicht eingeführt, Waffen, Schießbedarf und
alkoholische Getränke nicht zugelassen. Die Schiffer-, Salo-
mon- und Freundschafts-Inseln, sowie die N«m-Hybriden
gelten ausdrücklich als unabhängige Gebiete. Ebenso bleiben
die Caroline-, Marschall-, Gilbert-, Ellice- und andere Insel-
gruppen unabhängig, nur erkennt England das besondere
Interesse Deutschlands als einer nord-pacifischeu Macht auf
die Caroline- und Marshall-Jnseln an, wofür Deutschland
den Engländern denselben Dienst in Bezug auf die Gilbert-,
Ellice- und andere Inseln im südlichen Theile des Stillen
Oceans leistet, obschon auch dort der deutsche Handel den
englischen überwiegt. Beide Theile verpflichten sich, im
Stillen Ocean keine Strafkolonien anzulegen. Wie hier
hervorgehoben wurde, suchen die Engländer dadurch Deutsch-
land gegen Frankreich auszuspielen; auch glauben sie mit
der Anerkennung der Unabhängigkeit der von Frankreich
begehrten Neu-Hebriden durch Deutschland schon ihren Zweck
in diesem besonderen Punkte erreicht zu haben. Die An-
werbung von Eingeborenen auf den noch unabhängigen
Gebieten wird von Deutschland und England nur unter
gewissen sehr streng abgefaßten Bedingungen vorgenommen
werden. In Bezug auf die Samoa-Inseln befleißigte
sich der Ausschuß einer diplomatischen Enthaltsamkeit. Die
dabei betheiligten Staaten England, Deutschland und Nord-
amerika werden sich daher in Zukunft noch besonders damit
abzugeben haben. (Ueber die deutsch-englische Grenze auf
Neu-Guinca vergl. oben S. 256.)
— Bekanntlich beabsichtigt die niederländische
geographische Gesellschaft mit Unterstützung der
Regierung eine wissenschaftliche Expedition nach dem west-
lichen Theile von Neu-Guinca zu entsenden. Ueber
den Stand der Angelegenheit wurden in der letzten allgemeinen
Versammlung nähere Mittheilungen gemacht. Die Regierung
hat sich bereit erklärt, die Gesellschaft mit einer die Summe von
jährlich 10 000 Gulden nicht übersteigenden Beihilfe zu unter-
stützen; man war dabei von dem Gedanken ausgegangen,
daß eine Station als Ausgangspunkt genommen werden
solle, wo man im Besitz einer regelmäßigen Verbindung mit
anderen Theilen des Archipels ist; als solche waren Doreh
und Onin in Vorschlag gebracht worden. Später war man
der Ansicht, daß die Wahl Dorehs weniger empfehlenswerth
sei. Besonders wird Werth auf Flußuntersuchungen gelegt.
Mit Rücksicht auf die verfügbaren Mittel wird man vorläufig
von naturwissenschaftlichen Untersuchungen Abstand nehmen
und sich aus geographische Forschungen beschränken. Der
Vorsitzende konnte mittheilen, daß sich sehr viele Personen
angeboten hatten, welche geneigt waren, die Expedition mit-
zumachen; zur Orientirung hatte er ausführliche Mittheilun-
gen über Onin und Kowiai zusammengestellt, die in der
Zeitschrift der Gesellschaft veröffentlicht werden sollen.
— Felsenbilder in Neu-Guinea. Anknüpfend
an eine Stelle seines im „Globus", Bd.XITII, S. 94 erschie-
nenen Aufsatzes, wo von dem Vorkommen von Bildern auf
der Felswand einer kleinen Insel im McCluer-Golf
gesprochen wurde (welche Thatsache aber noch der Bestätigung
bedurfte), hat unser Mitarbeiter Herr E. Metzger in „Nature"
vom 9. April 1885 alles zusammengefaßt, was über solche
Bilder seither bekannt geworden ist. Sie kommen an drei
Stellen, theils im McCluer-Golf, theils auf den Key-Inseln,
vor und befinden sich theils in der Nähe der Meeresober-
fläche, theils in großer Höhe über derselben. In einem der
zuletzt erwähnten Fülle wird hervorgehoben, daß der ganze
Felsen von unten bis oben mit Seemuscheln bedeckt ist.
Aus den Berichten scheint sich zu ergeben: 1) daß einzelne
Inseln der Key-Gruppe und im Me. Clner-Golf sich bedeu-
tend gehoben haben; 2) daß vermuthlich die Hebung in nicht
zu entfernter Zeit stattgefunden hat, und 3) daß die Hebung
keine allgemeine war, sondern sich, obwohl an weit von ein-
ander entfernten Punkten beobachtet, nicht bei allen Inseln
der Gruppe zugleich findet, ja vielleicht auf einzelne Theile
einzelner Inseln beschränkt ist.
N o r d a m e r i k a.
— Der Prasident dcr Rcpnblik Mexiko Hat einDekrct
erlassen, welches solgende Hafen und Grenzzollhauser
als dem fremden Handel geoffnet erklart: am Meer-
busen von Mexiko Matamoros, Tampico, Tuxpan, Vera-
cruz, Coatzacoalcos, Frontera (Tabasco), Isla del Carmen,
Campeche und Progreso; am Stillen Oceane Seconusco,
Tonala, Salina Cruez, Puerto Angel, Acapulco, Manza-
nillo, San Blas, Mazatlan, Altala, Gnaymas, La Paz
Cabo de San Lucas, Bahia de la Magdalena und Todos
Santos. („The Chamber os Commerce Journal.“)
Südamerika.
— Ein sehr unterhaltendes und amüsantes Buch sind
die „Bilder aus Brasilien" von C. von Koseritz
(Leipzig und Berlin, W. Friedrich, 1885). Der bekannte,
seit 33 Jahren im Lande ansässige Vorkämpfer des Deutsch-
thums giebt darin 94, im Sommer 1883 geschriebene Feuille-
tons , namentlich über Rio de Janeiro und S. Paulo. in
denen er kein Blatt vor den Mund nimmt und bis zu den
höchsten Kreisen hinauf seine Kritik übt. Ein solches Buch
kann nur Jemand schreiben, dcr so lange die Verhältnisse
und Personen aus eigenster Anschauung kennt; darum ist cs
von hohem Werthe für Jeden, der sich für Brasilien inter-
essirt. Man muß ihm tvohl glauben, wenn er schreibt, daß
„des Unverstandes Name Brasilien ist" (S. 11) oder „Es
ist ein eigenthümliches Land, dieses Brasilien: was unver-
nünftige Wirthschaft nur leisten kann, wird gemacht; aber
das Land ist so kolossal reich, daß es eben gar nicht zu
rniniren ist, wäre es überhaupt zu ruiniren, so hätten es
die Menschen schon längst unter den Hammer gebracht" (S. 122).
Daß das Buch manches enthält, was einem deutschen Leser
gleichgiltig sein kann, und daß umgekehrt anderes einer
näheren Erklärung für Nicht-Brasilianer bedürfte, ist nicht
zu leugnen; aber wir wüßten nicht, wo anders man sich
über Rio, seine Bevölkerung, seine wissenschaftlichen und
sonstigen Anstalten, Theater, Zeitungen, den Hof, das Parla-
ment, das dortige Deutschthum, seine hervorragenden
Bürger u. s. w. bessere Auskunft erholen sollte.
Inhalt: G. Növoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajnn 1882 bis 1883. V. (Mit fünf Abbildungen.) —
Das südwestliche Turkmenien, das Land dcr Saryken und Caloren. II. (Schluß.) — Josef Meng es: Die Basen oder
Kunama. I. — Kürzere Mittheilungen: Dr. Pechuel-Lösche über das Herero-Land. — Ans allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. — Nordamerika. — Südamerika. (Schluß der Redaktion: 18. Mai 1885.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Verli», S. W. Lindenstraße 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicwcg und Sohn in Vraunschweig.
ii besonderer Hernebsrehirgung der Anthropolog re und Ethnolog re.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braun schweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zn beziehen.
1885.
G. RevoiOs Reise im Lande der Benadir, Svinali und Bajnn
1882 bis 1883.
VI.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Sobald am 24. Juni Morgens der Ruf des Muezzin er-
tönte, der die Gläubigen zum Morgengebet einlud, erschienen
zwanzig kräftige Sklaven, um das Gepäck in einen Garten
von Hamarwin zu tragen, wo die 25 Lastkameele und die
beiden Esel beladen werden sollten. Dank der frühen
Stunde und den Soldaten des Gouverneurs, welche bis
zn dem Garten hin aufgestellt waren, ging das Hinüber-
schaffen ohne Hinderniß vor sich. Als aber die Sonne
aufging, sammelte sich eine solche Volksmenge am Ein-
gänge des Gartens an, daß es schwer war, dieselbe in
Ordnung zn halten. Zu allem Unglücke ließen auch die
Kameelc drei Stunden lang auf sich warten, und es wurde
neun Uhr, ehe sie eintrafen; dadurch wurde wieder die
Geleitmannschaft in schlechte Laune versetzt, eilte sich
möglichst mit dem Beladen der Thiere und verursachte
dadurch allerlei Unordnung. Zuletzt konnten auch die
Soldaten die neugierige Menge nicht mehr im Zaume
halten, die sich nun ungehindert überall herzudrängte und
manchen Strick und manche Matte entwendete. Trefflich
benahm sich wie immer Salem, thätig und kaltblütig, er-
ging und lief vom einen zum anderen, hier tadelnd, dort
antreibend; selbst den Chef der ganzen Karawane, Hadschi
Ali, mußte er an seine Schuldigkeit erinnern, denn er fand
ihn im Schatten einer Mauer sitzend ganz vertieft in ein
Gespräch mit dem unheimlichen Scheich Awes, der schon seit
Mörka mit Rtzvoil zusammen gereist war. Als endlich
Globus XLVII. Nr. 24.
alles bereit war, erschien Müde Jussuf, übernahm stolz
den Oberbefehl über die Eskorte, welche sich in lauter
kleinen Abtheilungen vor und hinter jedem Lastthiere ver-
theilt hatte, und schwur, den Franzosen gesund nach Gelidi
zn bringen oder an seiner Seite zn fallen; ein letztes
„Hakim! fi aman Illah u rasul“ (Doktor, möge dich
Allah schützen und sein Prophet!) von den Lippen des
trefflichen Salem, und die Karawane setzte sich in west-
licher Richtung in Bewegung.
Es war fast Mittag geworden; glühend brannte die
Sonne vom Himmel herab und die Rückstrahlung von
den Dünen war fast unerträglich. Bon dem Gipfel des
Hügels, welcher die Moschee und den Thurm Uliad trügt,
warf Novoil noch einen letzten Blick auf das Meer und
Mogduschn zurück; dann galt es nach vorwärts zu schauen.
Dort hatten sich wohl 500 bis 600 Beduinen vom Starnine
der Abgal und Mürsude einige hundert Meter vor ihnen
aufgestellt und schienen entschlossen, ihnen den Durchzug
zn wehren. Doch gelang es, rasch einen kleinen Hügel zn
gewinnen, von dem ans man die Ebene zn überschauen
vermochte; ein Dutzend von den Gobron scharte sich um
Rtzvoil, während die die Karawane begleitenden Greise,
ihre Rosenkränze schwingend, den ranblnstigcn Beduinen
entgegenschritten, die zwar die Straße besetzt hatten, sich
aber doch in respektvoller Entfernung hielten. Denn die
Karawane bot ihnen keine schwache Stelle; jedes Thier
47
370
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
ohne Ausnahme wurde von einem Manne geführt, und an
beiden Flanken befanden sich Reihen gut bewaffneter, kampf-
bereiter Krieger. Auf die Beduinen schienen die Worte
der Greise keinen Eindruck zu machen; da ließ Müde die
Karawane sich in Trab setzen und seine Krieger theils
nach beiden Seiten, theils nach hinten Front machen. Diese
Bewegung glückte; denn die Abgal näherten sich zwar,
wagten aber doch keinen Angriff, sondern begnügten sich
mit Steinen und Knüppeln zu werfen, bis sie, wahrschein-
lich einen Angriff der weiter landeinwärts sitzenden Wadan
fürchtend, ihre Verfolgung aufgaben. Die Karawane
aber betrat alsbald den vor ihr liegenden Wald, wenn
man diese Bezeichnung auf das dichte Gestrüpp und die
Dornsträucher anwenden will. Der sich hindurchziehende
sandige Pfad ist so schmal, daß man nur im Gänsemarsch
vorwärts kommen konnte; dazu herrschte eine erdrückende
Hitze, stachen die Moskitos und zerrissen die Dornen Kleider
und Haut. Aber man mußte eilen, um noch vor Sonnen-
untergang Lafol zu passiren, wo Nur Muss« den Durch-
zug hindern wollte. Zu irgend welchen Beobachtungen
war keine Zeit; kaum daß der Reisende bemerkte, daß die
Vegetation aus Akazien, Kaktus und baumartigen Euphor-
bien bestand. Julian war bereits ermüdet und nahe daran,
einen Sonnenstich zu bekommen; die Esel, welche die
Chronometer trugen, konnten kaum noch am Zaume mit-
geschleppt werden. Endlich um fünf Uhr näherte man sich
Lafol, und nun bildeten die Gabron zu beiden Seiten eine
Art Mauer ans ihren Schilden, während einzelne Krieger
die nächsten Gebüsche absuchten. Auf einer Lichtung machte
die Karawane Halt, ein kurzes Gebet wurde gesprochen,
und dann schritten wieder die Greise voran auf das Lager
der Wadan zu, dessen Nähe das Meckern der Ziegen ver-
rieth. Etwa 1000 Krieger waren hier zu beiden Seiten
des Weges versammelt, und wieder mußte die Karawane
Rövoil's Marsch von Mogduschu über Gelidi nach Warman. (Maßstab 1:100 000.)
im Laufschritt sich hindurchwinden; aber jeder Kameeltreiber
vertheidigte sein Thier nach Kräften mit Dolch und Lanze,
und die drei, welche in die Hände der Gegner geriethen,
wurden denselben auch wieder von Müde unversehrt ent-
rissen.
Allerdings mußte man fürchten, daß sie der Karawane
auf den Fersen bleiben würden, da die Sonne sich stark
dem Untergänge zuneigte. Glücklicherweise wurde der Boden
hinter Lafol fester; er besteht dort aus Lehm und war durch
die Hitze fest und hart geworden. Dafür quälte ein ent-
setzlicher Durst die Reisenden, denn ihr eigener Schlauch
war von den Dornen zerrissen worden und die Leute hatten
in der Eile des Aufbruches vergessen, ihre Kalebassen zu
füllen. Endlich zeigten sich in der Ferne die ausgedehnten
Dhurrafelder von Gelidi, und das flößte allen neuen Muth
ein. Bald begegnete man auch einer Schar Frauen; eine
davon, ein kräftiges, munteres, mit einer Lanze bewaffnetes
Weib, eine der Gattinnen Omar Jussnfs, hatte das Ge-
rücht vernommen, daß die Karawane geplündert und die
Reisenden gctödtet seien, und hatte sich voll Muth selbst
aufgemacht, um die Wahrheit zu erfahren. Um 7 Uhr-
Abends erreichte man vollständig erschöpft die Ufer des
Webi; die vom Durst gepeinigten Krieger stürzten sich
darauf los und schlürften in langen Zügen nach Art der
Thiere, während andere sich ihrer Schilde als Schöpfgefäße
bedienten und sie gefüllt dem Reisenden brachten. Dann
ordneten sie sich wieder in zwei Reihen und führten ihren
Kriegstanz, den Lab, aus, während die Karawane am
Strome entlang zog und zuletzt an einer Flußbiegung aus
einer großen Wiese Halt machte, um dort für die Nacht
zu lagern. In der Dämmerung konnte man noch am
jenseitigen Stromufer den Hüttenkomplex von Gelidi er-
kennen ; am Ufer hatte sich eine gewaltige Menge von Neu-
gierigen - angesammelt und beantwortete den Kriegsgesang
und die Flintenschüsse mit lautem Geschrei.
Auf dem Flusse giebt cs hier und da kleine Fährkähne,-
G. Róvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Vajun 1882 bis 1883.
371
welche mittels einer über das Wasser gespannten Liane den
Verkehr zwischen beiden Ufern aufrecht erhalten. In einem
derselben fetzten Rovoil und Julian nach Gelidi über und
nahmen nur ihre Instrumente und das auf den Eseln ver-
ladene Gepäck mit sich, die Karawane der Fürsorge der
Kameeltrciber unter Hadschi Ali's Oberaufsicht überlassend.
Drüben landeten sie mit einiger Schwierigkeit zwischen der
lärmenden Volksmenge, die sehr enttäuscht war, die beiden
Europäer in arabischer Tracht zu erblicken; mit Mühe nur
konnten sich die von Omar Jussuf abgesandten Personen
den Fremden nähern, und ihre Begrüßungsworte wurden
von dem Geschrei der Leute übertönt. Unter diesen ein-
flußreichen Personen befand sich Omar Kassadi, ein Araber
von Makalla und alter Freund von Salem, den Rovoil
vielfach in Mogduschu gesehen hatte; dieser ergriff den
Reisenden bei der Hand und führte ihn durch das Dorf
nach der für ihn bestimmten Hütte, welche neben derjenigen
des Sultan Omar lag. Ihre gesammte Ausstattung be-
stand fast nur aus einigen Ochsenhäuten; aber dem von
einem 7^/zstündigen Marsche in glühender Sonne ermüdeten
Reisenden kam dieselbe beinahe luxuriös vor, und ohne das
ihm vorgesetzte gekochte Fleisch und Milch auch nur zu
berühren, legte er sich nieder und entschlief.
Am nächsten Morgen wurde er mit einer Unglücks-
botschaft geweckt: die Wadan von Lafol waren der Kara-
wane gefolgt, hatten in der Nacht das Lager überfallen,
die leichten Gepäckstücke fortgeschleppt, die schweren mit
ihren Dolchen aufgeschnitten und geplündert und schließlich
Ankunft am Ufer des Webi.
die Lastthiere fortgetrieben. Die sorgfältig vorbereitete
Expedition war bereits 24 Stunden nach ihrem Aufbruche
vollständig desorganisirt worden. Wie sollte es möglich
sein, ohne Kameele die Reise fortzusetzen? Und was nutzten
die Versicherungen Müde Jussuf's, daß Rävoil unter dem
Schutze des Scheichs der Gobron und mächtigen Sultans
von Gelidi stehe, und daß dieser die Wadan züchtigen
werde? Hadschi Ali, der Karawanenchef, wurde durch den
Vorfall wenig berührt und antwortete auf alle Zornesaus-
brüche des Reisenden nur mit „Allah hat es gewollt!"
Mahdi Nur aber und Hadschi Othman, ein Vertrauens-
mann, den Salem der Expedition mitgegeben hatte, fanden
es unerklärlich, wie die Karawane ohne die Mitschuld der
Geleitmannschaft hatte geplündert werden können. Sobald
Ravoil das letzte der ihm gebliebenen Gepäckstücke in Sicher-
heit gebracht hatte, eilte er, den Sultan von Gelidi aufzu-
suchen, um zu erfahren, ob dessen Macht und Einfluß
wirklich so groß waren, als der Ruf davon. Die Wohnung
Omar Jussuf's war eine elende kegelförmige Hütte nahe
der seiuigen, deren ganze Einrichtung aus ein paar mit
Ochsenhaut überspannten Sesseln bestand; ein Vorhang aus
Häuten theilte den Raum in zwei Theile. Als Rovoil mit
dem üblichen Grnße eintrat, hockte der Scheich der Gobron
in dem hinteren, halb dunkeln Raume auf einem Sessel.
Durch eine Fistel am Beine, die Folge eines tiefen Dorn-
stiches, gehindert, verließ er seine Hütte nicht, fastete bei
Tage und betete Nachts, wodurch die Achtung und Ver-
ehrung, die er weit und breit genoß, stetig zunahm, so daß
47*
Ansicht von Gelidi. (Nach einer Photographie.)
G. Rövoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
373
zahlreiche Gläubige und Pilger bei ihm zusammenströmten.
Ein Rosenkranz von 1000 Perlen, mehrere an den Wänden
hängende Korane und ein beständig geöffnet vor ihm liegen-
der legten Zeugniß ab von feinem religiösen Eifer. Sein
krankes, mit Lumpen umhülltes Bein stemmte er gegen den
Pfahl, welcher das Dach der Hütte trug. Ein großes Tuch
hüllte ihn vollständig ein, und mit einem Zipfel desselben
bedeckte er sorgfältig fein Gesicht, so daß kaum seine Augen
herausguckten. Die elende Behausung des angesehenen
Häuptlings war voll von Fliegen, Kakerlaken und sonstigem
Ungeziefer und stank entsetzlich.
Mit einer Handbewegung verabschiedete Omar Jussuf
alle Begleiter Rdvoil's bis auf Hadschi Ali, der als Dol-
metsch dienen sollte. Er versprach, das Gestohlene wieder
zur Stelle zu bringen und die Karawane zu reorgauisiren,
kam aber bald mit seinen wahren Gedanken zum Vorschein,
indem er sagte: „Bezahle deine Gelcitmannschaft für diese
erste Strecke, von Mogduschu bis Gelidi, und dann werden
wir sofort eine andere zusammenbringen; meine Leute sind
alle bereit." Das erweckte Verdacht bei Ravoil, der seinen
Wirth bat, sich vor allem mit der Wiedererlangung des
Geraubten, dessen Werth ein sehr beträchtlicher war, zu
befassen, ehe er von ihm neue Opfer au Geld oder Stoffen
verlangte. Aber Omar bestand ans seiner Forderung und
brachte es dahin, daß ihm der Reisende 200 Maria-The-
resia-Thaler zusicherte. Als derselbe in seine Hütte zurück-
gekehrt war und mit der Pflege seines erkrankten Dieners
beschäftigt war, trat das Lieblingsweib des Sultans bei
ihm ein, jene große starke Frau, welche ihm am Abend
zuvor begegnet war. Sie wollte dem Fremden zu verstehen
geben, daß sie dieselben als ihre Kinder betrachte, und zu
diesem Zwecke ergriff sie sie beim Kopfe, spuckte sich in die
rechte Hand und rieb es ihnen auf die Stirne; dann hob
sie ihre beiden Brüste in die Höhe, als wollte sie ihnen zu
Zusammenkunft mit Omar Jussuf.
trinken geben. Diese lächerliche Scene wurde aber durch
lautes Geschrei auf der Straße unterbrochen: Müde Jussuf
und die Gobron kamen wie toll gelaufen und riefen, daß die
Wadan von Lafol über den Webi setzten; um sie zu be-
friedigen, müsse der Reisende noch drei Ballen Zeug (im
Werthe von über 200 Thalern) opfern, sonst steckten sie
Gelidi an allen vier Ecken au. Von allen Seiten auf das
heftigste bestürmt, mußte sich Ravoil auch dieser neuen Er-
pressung fügen. Aber die gelieferten drei Ballen fand
Ravoil zu seiner Ueberraschung am nächsten Morgen in der
Hütte des Sultans, lind so gingen die Forderungen weiter,
vorn Häuptlinge angefangen bis herunter zu dem Fähr-
manne, der ihn über den Strom gesetzt hatte. Die Kameel-
treiber, welche nun keine Thiere mehr zu besorgen hatten,
benutzten die Gelegenheit, um mit den erhaltenen Vorschüssen
zu verschwinden; dann empfahl sich Hadschi Othman, Fieber
vorschützend, und ließ eine Zeltdecke nach Mogduschu mit-
gehen, und ihm folgte der französisch sprechende Mahdi Nur,
indem er einen Karabiner nebst Zubehör stahl. Kurzum,
eines Tages stand Ntzvoil mit Julian und Hadschi Ali
allein da. Selbst das Umhergehen im Dorfe untersagte
chm Omar Jussuf, bis die durch seine Ankunft unter den
Somali entstandene Aufregung sich gelegt haben würde.
Dabei fuhr er fort, sein doppeltes Spiel zu treiben, indem
er einerseits sich den Anschein gab, als wollte er die Plün-
derer zur Rechenschaft ziehen, damit er nicht die Gunst
Salem's und des Gouverneurs in Mogduschu verlöre,
andererseits den Reisenden unter den verschiedensten Vor-
wänden nach Kräften ausbeutete und die Sache möglichst
in die Länge zog.
Endlich wurde es Rtzvoil gestattet, seine Hütte zu ver-
lassen; aber als er freudig seinen ersten Umgang durch den
Ort antrat, begleiteten ihn wohl au 200 Neugierige, unter
denen sich besonders die Frauen durch ihre Zudringlichkeit
374
G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Basun 1882 bis 1883.
auszeichneten. Allerdings ersparten ihm sein arabisches
Gewand, die mohammedanische Haar- und Barttracht und
der Rosenkranz an seinem Halse so manche anzügliche Be-
merkung.
Gelidi besteht ans sechs Quartieren, die nur kegel-
förmige Hütten, aber kein einziges Haus aus Stein oder
Lehm enthalten. Afgoi, eines der Quartiere, das auf dem
linken Ufer des Webi liegt, wird von Wadan bewohnt; die
anderen, Sagalat, Belguri,
Rareile, Segalo und El-
Rode, von den Stämmen
Gobian, Gobron, Abdikero
und Mamasobe. Sagalat
und Belguri liegen etwa
2 km abseits. Die „Min"
oder Hütten sind mit Stroh
bedeckt und ruhen auf dem
„Udub", einem großen
Mittelpfahle; dieser trägt
das kreisförmige Gerüst
aus Aesten und Flechtwerk,
welches die Wände bildet
und mit einem Gemische
aus Thonerde und Kuhmist
überzogen ist. Jeder So-
mal besitzt zwei bis drei
solcher Hütten, die mit
anderen zusammen, welche
das Vieh, die Küche und
die Vorräthe enthalten,
von einer gemeinsamen
Umzäunung eingeschlossen
werden. Die schmalen
Thüren werden meist durch
ein einziges Stück Holz
verschlossen und haben keine
Schlüssel; von innen wird
ein Holzriegel vorgeschoben
und durch ein Guckloch
kann man den Einlaß
Begehrenden sehen. Die
einzeln stehenden Moscheen
sind nichts als große
„Min", die mit Ochsen-
häuten ausgekleidet sind;
im Eingangshofe stehen
große Krüge mit Wasser
für die Abwaschungen. Bei
den Hütten befinden sich
mitunter einige Palmen,
Brustbeer- und große
Feigenbäume (Ficus In-
dica) nebst Mimosen, kleine
Gürten bildend, die von
stacheligen Kaktushecken
umschlossen werden.
Mitten durch den Ort
fließt der nicht über 50 m breite Webi, zu dieser Jahreszeit
mit gelbem, lehmigem Wasser; große Rinderherden kommen
zum Trinken an seine Ufer, an denen sich zahlreiche Ibis,
Regenpfeifer und wilde Gänse aufhalten. An vielen Stellen
giebt es unter freiem Himmel Schlächtereien, denen alte
Baumstämme als primitive Ladentische dienen. Ober- und
unterhalb des Ortes zeigt die Vegetation der Flnßufer
wenig von der tropischen Ueppigkeit der äquatorialen Ströme,
ausgenommen große, mit Lianen behängte Bäume, in denen
Ugadin-Krieger in Marschausrüsluug. (Rach einer Photographie
sich große Huudskopfassen schaukeln, während im Schlamme
riesige Krokodile mit halb geöffnetem Rachen schlafen. Von
dem glänzenden Lichte der aufgehenden Sonne beleuchtet,
bietet die Landschaft ein sehr belebtes und malerisches Bild.
Hier wird Getreidemarkt abgehalten, dort Viehmarkt, und
gravitätisch schreiten die Somali einher, den Dolch im
Gürtel, aber ohne Lanzen. In großen klassisch geformten
Krügen holen die Frauen Wasser vom Flusse, und ab und
zu trifft man unglückliche
Sklaven mit schweren
Eisen an den Füßen,
gebeugt unter der ,Last
schwerer Ballen.
Auf dem großen Platze,
welcher Rareile von Bel-
guri trennt, stieß Rcvoil
auf einen großen Tumulus,
der etwa 20 qm Flächen-
raum bedeckte und oben
mit Aesten belegt war;
das war die Begräbniß-
stätte mehrerer angesehener
Männer des Ortes, wie
es solche noch an anderen
Stellen giebt. Auf diesem
Platze von Belguri findet
der große Markt von Ge-
lidi statt, und hier rasten
die Karawanen, ehe sie auf
ihrem Wege nach Mog-
duschu den Webi über-
schreiten. Augenblicklich
befand sich dort eine solche
mit Straußenfedern und
Fellen aus dem Lande der
Ugadin vom oberen Webi;
die dazu gehörigen Bedui-
nen waren finster blickende
Männer von röthlicher
Farbe, die etwa gebrannter
Terra di Siena glich; ihre
Gesichter waren regel-
mäßig, aber sehr ver-
schieden von dem Typus
von Gelidi und eingerahmt
von langen lockigen Haaren,
die bis auf ihre Gewänder
von Leder und Leinwand
herabfielen.
Revoil unterhielt sich
mit ihnen; ihr Dialekt
ähnelte demjenigen der
Medschurtin, und der
Krieger, an welchen er sich
gewandt hatte, stützte sich
beim Antworten auf feine
Lanzen, wie es die An-
wohner des Kap Guardafui zu thun pflegen. Die linke
Lanze diente ihm als Stütze,
beim Sprechen eine Linie in
während er mit der anderen
den Boden zeichnete. Auf
der Schulter trug er den „Messale", ein Stück Leder, das
nach dem Plane der Moschee in Mekka zugeschnitten ist,
und das jeder Beduine auf der Reise mit sich führt, um
darauf zu beten, während der „Ubo", ein strohumflochtener
Kürbiß, das zu den Abwaschungen erforderliche Wasser
enthalt. Schließlich feuerte Rsvoil auf einige Krokodile
G. Rsvoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883.
375
und setzte dadurch alle Welt in Staunen und Schrecken;
alles flüchtete, kehrte aber bald zurück, um zwei tödtlich
getroffene Saurier sich am Ufer wälzen zu sehen.
Am Abend theilte ihm der Sultan mit, daß vor dem
Ende des demnächst beginnenden Rhamadan keine Aussicht
für ihn bestünde, weiter zu kommen, und er mußte sich wohl
oder übel darein finden, da Geduld und Ergebung in seiner
Zwangslage allein ihm nutzen konnten. Hadschi Ali
aber benutzte diese Ankündigung, um alsbald nach
Mörka zu gehen und seinen Herrn nebst Julian allein
als gezwungene Gäste des Gobron- Scheichs in Gelidi
zurückzulassen.
Es war ein trauriger Abend, der erste, den beide gänz-
lich verlassen in ihrer engen, mit den Ucberbleibseln ihrer
Ausrüstung angefüllten Hütte verbrachten; draußen heulte
der Wind, strömte der Regen herab, miauten wilde Katzen
und heulten die Hunde, so daß an Schlafen nicht zu denken
war. Und als Rövoil nach seinem Revolver griff, um
einen derselben zu erschießen, fehlte seine Waffe; sie war
offenbar von einem der zahlreichen Besucher gestohlen wor-
den. Nicht ohne Unruhe erinnerte er sich, daß seinem
unglücklichen Vorgänger, dem Baron C. C. von der Decken
wenige Tage vor seiner Ermordung durch die Somali von
Bardera Aehnliches begegnet war. Am nächsten Morgen
benachrichtigte er sofort den Sultan und Omar Kassadi
von seinem Verluste, und letzterer rieth ihm, den „Fal"
oder Zauberer behufs Wiedererlangung des Gestohlenen
kommen zu lassen. Er ging widerstrebend auf den Vor-
schlag ein, und es erschien ein großer Kerl von Beduinen
mit einem verschmitzten Gesichte, der nur von seinen Be-
Das Weissagen des Zauberers. (Nach einer Photographie.)
trügereien lebte und keine andere Unterkunft hatte, als die
verschiedenen Moscheen des Dorfkomplexes. Mit ihm zu-
gleich erschien Jussuf Mohammed, der eigene Bruder Sul-
tan Omar's. Der Zauberer ließ sich Asche geben, breitete
dieselbe sorgfältig auf dem Boden ans, bildete mit seinem
„Adde^, der aus wildem Kaperstrauchholze gefertigten Zahn-
bürste, eine Reihe länglicher Häufchen, warf dieselben wieder
zusammen und formte sie von neuem, bedeckte dann seine
Augen mit der Hand, murmelte einige Zaubersprüche und
beschrieb dann wirklich ganz genau den Revolver, die dazu
gehörige Tasche, die Zeit, zu welcher der Diebstahl bemerkt
worden war, u. s. w. „Sei ruhig, sagte er, deine Waffe
befindet sich im Besitze einer Frau, der sie die Diebe über-
geben haben; in drei Tagen wirst du sie wieder haben, ohne
es zu bemerken, und wenn nicht, sollst du den „Fal" für
einen Lügner erklären!"
Durch Omar Kassadi's Vermittelung erfuhr dannRsvoil
die Namen zahlreicher Diebe und Hehler seiner gestohlenen
Sachen, welche sich auch wirklich dummer Weise auf dem
Markte in Mogduschu abfassen ließen und dort in Eisen
geworfen wurden. Dies Beispiel wirkte, und in der dritten
Nacht nach Befragung des Zauberers wurde Rövoil durch
ein Geräusch geweckt, fand den oben genannten Bruder des
Sultans bei seiner Hütte herumstreichen und entdeckte dann
auch seinen Revolver. Der nächste Verwandte seines Wirthes
hatte ihn also bestohlen! Von nun an war er taub gegen
alle Bitten um Arzneien und wies allen Besuchern un-
erbittlich die Thür. Aber sein Gefühl glich dem eines
kleinen Vogels, der in die Klauen eines Geiers gerathen
war; nur geschickte Politik, Ruhe, Klugheit und Festigkeit
konnten ihn aus seiner gefährlichen Lage befreien.
(Fortsetzung folgt in einer späteren Nummer.)
X
376
Josef Menges: Die Basen oder Kunama.
Die Basen oder Kunama.
Von Josef M e n g e s.
II. (Schluß.)
Der Charakter der Basen wird natürlich von ihren
Nachbarn in den schwärzesten Farben geschildert, und ist
es schließlich begreiflich, daß ein seit Jahrhunderten ohne
Unterlaß verfolgtes und geplagtes Volk gegen seine llnter-
drücker nicht die besten Eigenschaften herauskehrt. Nament-
lich ist ihre Treulosigkeit und Verrätherci verrufen und,
wie ich glaube, mit Recht. Obwohl sie oft wochenlang in
friedlichem Verkehr mit den sie besuchenden Händlern und
Jägern stehen, so genügt häufig ein geringfügiger Streit
für sie, um über ihre Gastfreuude herzufallen, natürlich
nur, wenn sie dies im Hinterhalte fertig bringen können,
da sie niemals einen offenen Angriff auf die ihnen in der
Bewaffnung überlegenen Nachbarn wagen. Zahlreiche ver-
bürgte Beispiele solcher Treulosigkeit lassen sich anführen
und die Zahl der einzelnen Opfer unter den Jägern und
Händlern, die im Basenlande heimtückisch ermordet wurden,
ist nicht gering. Manchmal werden diese Angriffe an-
scheinend ohne seden Grund gemacht. So wurde 1882
ein sudanesischer Elefantenjäger, Satd-Tigelel, der schon
Jahre lang im Basalande gejagt und sich wochenlang in
Balka aufgehalten hatte, plötzlich von seinen Gastsreunden
ermordet. Der Grund war, daß zur selben Zeit Leute
von Algaden eine Razzia gegen eines der Dörfer von Balka
unternommen hatten. Vor etwa 15 Jahren wurde ein
englischer Sportsman, Mr. Powell, mit Frau und Kind
und Dienern, der schon wochenlang mit den Basen gejagt
hatte, in Ainal überfallen und ermordet. Gleichzeitig mit
Powell wurden zwei schwedische Missionare, die ihn begleitet
hatten, umgebracht, obwohl sie mehrere Jahre lang unter
den Kunama gelebt hatten und ihnen persönlich gut
bekannt waren. Man muß übrigens zugeben, daß die
Basen sehr gute Gründe zur Treulosigkeit gegen die Bedja
haben und ihnen eigentlich nur Gleiches mit Gleichem
vergelten. So stand vor ca. 25 Jahren am Gasch bei
Barbars ein Hallcngadorf der Tarifat, das Jahre lang im
friedlichen Verkehre mit den benachbarten Basastämmen lebte
und nie behelligt wurde. Namentlich der Schech dieses
Dorfes, ein frommer Pilger, Hadji Mahammed, übte einen
großen Einfluß, eine Art Herrschaft, über seine heidnischen
Nachbarn aus. Durch Zufall stellte es sich endlich heraus,
daß die Tarifat das Vertrauen der Basen benutzt hatten,
die sie Besuchenden zu Reisen nach Kassala zu Handels-
zwecken zu beschwatzen, und einmal in Kassala angekom-
men, ihre Gastfreunde kaltblütig verkauften. Die Folgen
dieses Jahre lang betriebenen Verrathes kann man sich
denken: das Dorf wurde von den Basen überfallen, die
Männer sämmtlich niedergemacht und die Weiber und
Kinder in die Sklaverei geschleppt. Diese unberechenbare
Treulosigkeit bildet die einzige wirkliche Gefahr bei Reisen
unter den Basen und nur die anhaltendste Wachsamkeit
kaun dagegen schützen. Wie schon oben gesagt, wagen die
Basen nie einen offenen Angriff, am wenigsten gegen
Feuerwaffen, und die Jäger im Basalande, die oft in sehr-
schwacher Zahl und weit von den Lagern sich aufhalten,
achten sich am Tage und mit dem Gewehre in der Hand
vollständig sicher. Die Lager selbst werden häufig nur
van einem einzigen Manne mit einem Gewehre bewacht,
ohne daß die Basen es wagten, sie anzugreifen. Wenn
ein Angriff erfolgt, so geschieht er meistens in dunkler
Nacht oder in dem Dorfe selbst, wenn die Gäste, im Ver-
trauen auf die genossene Gastfreundschaft, sich sicher wäh-
nen und die gewöhnliche Vorsicht außer Acht lassen. Eine
gut bewaffnete und vorsichtige Gesellschaft kann ohne son-
derliche Gefahr das ganze Land durchstreifen. Vor einer
Reihe von Jahren desertirten von Senhitt (Keren) drei
schwarze Soldaten mit der kühnen Absicht, ihre Heimath
am Blauen Nil zu erreichen. Da sie mit Remington-
gewehren unb Munition gut versehen waren, würden sie
wohl glücklich durchgekommen sein, hätten sie sich nicht ver-
leiten lassen, in Balka in eines der Dörfer einzukehren und
der von den Basen gespendeten Merissa zuzusprechen, bis
sie total betrunken waren. In diesem Zustande wurden
sie von ihren Wirthen abgeschlachtet und die Gewehre
später an die Regierung von Kassala abgeliefert.
Diese durch Jahrhunderte lange Verfolgung erworbene
unberechenbare Tücke ist der schlimmste Zug in dem Cha-
rakter der Basen. Die schwedischen Missionare, die mehrere
Jahre lang bei Koluku am Gasch eine Station hatten, die
in Folge der Ermordung Powell's und zweier Missionare
aufgegeben wurde, geben ihnen trotzdem ein gutes Zeugniß
und stellten sie in moralischer Beziehung höher als die
Bedja und Abessinier. Sie erklärten die Basen für gut-
müthig, intelligent und leicht lenksam und würden trotz
dem ersten Mißerfolge ihre Thätigkeit unter den Kunama
wieder aufgenommen haben, wenn nicht der ägyptisch-abes-
sinische Krieg, der Tod Munzinger's und die allgemeine
Verwirrung und Unsicherheit in den Grenzländern dies
unmöglich gemacht hätten. Trotz der fortwährenden Ver-
folgung, die sic ausgehalten haben, sind die Basen doch ein
fröhliches Volk und große Freunde von Musik und Tanz.
Wenn die Durraernte gut ausgefallen ist, werden die schö-
nen Moudscheinnächte bei der Merissaschale mit Trommeln
und Tanzen zugebracht, und die Glückseligkeit ist doppelt
groß, wenn sie über reichliches Fleisch zu verfügen haben.
Obwohl ein Objekt fortwährender Sklavenjagden, wer-
den die Basen als Sklaven doch nicht sehr geschätzt und
möglichst weit von ihrer Heimath verkauft, da sie sonst
unbedingt ausreißen und mit großer Findigkeit den Weg
nach ihrem Lande zurückfinden. Es find Fälle bekannt,
wo Basasklaven von der arabischen Küste des Rothen
Meeres entflohen und wirklich ihre Heimath erreichten.
Den Hauptverkehr mit den Basen vermittelt der Grenz-
stamm der Beni-Amer, die Haikoota, die fast immer mit
denselben auf friedlichem Fuße stehen und nur sehr selten
in Fehde mit ihnen liegen. Der ganze Handel ist natür-
lich Tauschhandel, da den eigentlichen Basen geprägtes
Geld unbekannt ist, während die Leute von Bitama, Elit
und Sogoda den Maria-Theresia-Thaler kennen und
benutzen. Zum Tausche dienen im Sudan gewebte 1/2
Meter breite und 4 Meter lange Stücke groben arabischen
Josef Meng es: Die Basen oder Kunama. 377
Baumwollcnzeuges, Damur, die gegen Tabak, Dhurra,
Elfenbein und besonders Honig von wilden Bienen, au
dem das Basalaud sehr reich ist, umgetauscht werden. Von
Amideb aus werden zuweilen durch Händler von Mafsawa
Kupfer- und Messingdraht, sowie einzelne Schwertklingen
eingeführt, doch ist das Schwert keine bei den Basen sehr
gebräuchliche Waffe, die nur bei den westlichen Stämmen
durch Verkehr mit den Beni-Amer mehr eingeführt ist.
Ebenso selten ist der Schild, während die Hauptwasfe die
Lanze bildet. In Folge dieser schlechten Bewaffnung sind
die Basen ihren Nachbarn, die gut bewaffnet und meistens
auch gut beritten sind, ganz abgesehen von den Feuerwaffen,
nicht gewachsen.
Der von Amideb ans eingeführte Kupfer- und Messing-
draht wird zu Armbändern, Ohrringen, zur Verzierung
der Lanzen rc. verwendet, während Silber- und Goldschmuck
unbekannt oder wenigstens nicht beliebt ist. Für die Leute
von Haikoota bietet diese bekannte Liebhaberei der Basen
Gelegenheit zu guten Tauschgeschäften, indem sie das durch
die Basen den Abessiniern geraubte Gold und Silber für
Stücke Damur eintauschen. Auch die dem erschlagenen
Mr. Powell abgenommenen Goldstücke kamen auf diese
Weise in den Besitz der Haikoota. Indessen schmücken sich
die Basen mit farbigen Glasperlen oder mit einfachen
Stücken von Dompalmenblüttern, die zu Armbändern und
Fußspangen verarbeitet werden.
Die Basen sind ihrer größeren Zahl nach Heiden, und
über die Art ihrer Religion ist bei ihren mohammedanischen
Nachbarn, die als Muslimin sich nicht um die Religion
der „Kufar" (Ungläubigen) bekümmern, wenig bekannt.
Weit verbreitet ist, wie bei den Negern am Weißen Nil,
der Glaube an die Macht der Zauberer, namentlich der
Regenmacher. Individuen, die im Rufe stehen, Regen
machen zu können, werden von dem Stamme, dem sie ange-
hören, mit besonderer Verehrung angesehen und mit Ge-
schenken überhäuft, falls die Beschwörungen des Regens
erfolgreich sind. Andererseits ist das Amt des Regen-
machers auch ein recht gefährliches, denn wenn es nicht ge-
lingt, den nöthigen und gewünschten Regen herbeizuschaffen,
so fallen die unglücklichen Zauberer oft der Volkswnth zum
Opfer und werden von der versammelten Menge gesteinigt,
wobei der nächste Verwandte des verurtheilten Zauberers
den ersten Stein werfen muß. Es geschieht dies, um die
Blutrache zn vermeiden, die bei den Basen gebräuchlich ist
und stets dem nächsten Verwandten eines Ermordeten ob-
liegt. Da in diesem Falle nun der nächste Verwandte zu-
gleich als Thäter gilt, so fällt natürlich die Rache fort.
Beiläufig bemerkt, ist dieser Glaube an Regenmacher auch
bei den mohammedanischen Sudanesen und sogar bei Türken
und Aegyptern im Sudan noch weit verbreitet. So richtete
sich in der Regenzeit des Jahres 1880, als die Regen sehr-
spärlich im Ost-Sudan gefallen waren, der Verdacht, dies
zu verschulden, gegen einen von Aegypten nach Kassala
verbannten unterägyptischen Scheich. Der Unglückliche
wurde auf Befehl des damaligen Gouverneurs Abd el
Kerim Pascha, eines fanatischen Kurden, ins Gefängniß
geworfen, ans dem er nicht mehr lebend hervorging, da er
unter den an ihm versuchten Torturen den Geist aufgab,
ohne daß deshalb der gewünschte Regen eingetroffen wäre,
was aber natürlich die aufgeregte Menge nur noch mehr
im Glauben an seine Schuld bestärkte.
Obwohl die Basen noch größtentheils Heiden sind, so
macht doch der Islam ganz bedeutende Fortschritte und die
gänzliche Mohammedanisirung derselben ist nur eine Frage
der Zeit und einer nicht sehr langen, wie denn ihr heid-
nisches Nachbarvolk, die Barca, schon jetzt größtentheils
Globus XLVII. Nr. 24.
Mohammedaner sind. Missionare des Islam sind hier
wie überall im Sudan die mohammedanischen Händler, und
dann ist der praktische Vortheil, als Mohammedaner gegen
die Sklavenjagden der mohammedanischen Nachbarn so ziem-
lich, wenn auch nicht gänzlich, gesichert zu sein, für die
Basen in die Augen springend. Aus diesem Grunde ist
z. B. der Scheich Musa von Ainal mit einem Theile seines
Volkes zum Islam übergetreten und ist ein eifriger Ver-
ehrer des ostsudanesischen Heiligen Sitt el Hassen von Hatmie,
der ihn durch seinen Einfluß so ziemlich gegen die Raub-
züge der Bergstämme von Sabderat und Algaden beschützt
hat. Die Leute von Bitama und Elit sind schon seit
geraumer Zeit Mohammedaner, theilweise auch die von
Betkom und Sogoda, und die übrigen Basa-Stämme werden
schnell nachfolgen. Mit der Mohammedanisirung der
Basen Hand in Hand geht der Verlust der politischen
Unabhängigkeit dieses Volkes, wenn man bei einem Volke,
das eigentlich nur von der Laune und Gnade seiner Nach-
barn abhängt, von Unabhängigkeit sprechen kann. Diese
Unabhängigkeit hat wirklich schon zum größten Theile jetzt
aufgehört. Die Stämme von Aúlla, Betkom, Atoms und
Mai-Daro stehen unter der Herrschaft eines von der ägyp-
tischen Regierung eingesetzten Scheiches, eines früheren
Basa-Sklaven, der gewöhnlich in Betkoni residirt; die Basen
verabscheuen das Regiment ihres Landsmannes und anderer-
seits benutzt dieser wieder die Unterstützung der ägyptischen
Garnison von Amideb, um Razzias gegen die „Rebellen"
auszuführen, bei denen manche Sklaven nebenbei in die
Hände der Soldaten fallen.
Achmed Hadjadj, dem Häuptling von Algaden, sind die
Stämme von Selest Logodat, Cimasa und Dauda unter-
worfen; dies verhinderte jedoch nicht, daß die Basen von
Cimasa 1881 von einer Räuberbande von Algaden aus-
geplündert wurden und 200 Stück Vieh verloren. Achmed
Hadjadj setzte mit ägyptischen Truppen den Räubern nach,
holte sie im Gasch-Bette ein und zwang sie zur Ausliefe-
rung des geraubten Viehes, das jedoch den Eigenthümern
erst gegen eine Abgabe von 1 Thaler pro Kuh und Hz Thaler-
pro Ziege und Schaf ausgeliefert wurde, während die mit-
geführten Gefangenen wieder freigegeben wurden. Die
Stämme von Bitama, Elit und Sogoda stehen unter der
Herrschaft des Scheiches Ali Nureen von Sabderat und
bezahlen an denselben einen geringen Tribut, während die
nach Osten an der abessinischen Grenze wohnenden Stämme
von Latakatura, Toola, Eibaro, Batombe rc. einen unbe-
deutenden Tribut an die Abessinier von Qabta und Adiabo
entrichten, der sie jedoch nicht gegen die Raubzüge derselben
schützt. Es lag in der Absicht der ägyptischen Regierung,
die sämmtlichen Baren- und Basastämme unter dem Befehle
des Scheiches Achmed Hadjadj von Algaden zu vereinigen
und in Mai-Daro, sowie in der Nähe von Latakatura
am Setit zwei Militärlager zu errichten, doch gelangte diese
Absicht bei der nach dem abessinisch - ägyptischen Kriege
1875/76 stetig zunehmenden Schwäche des ägyptischen
Regimentes nicht zur Ausführung, denn die Aegypter
konnten sich kaum nach 1875 in Amideb halten, bis in
dessen Nähe die Abessinier 1881 ihre Ranbzüge ausdehnten.
Augenblicklich sind die Basen in eine ziemliche Zahl
kleinerer Stämme gespalten, die unter einander und mit
den benachbarten Barca häufig in Fehde liegen. Zu einer
allgemeinen Vereinigung aller Basenstämme unter einem
Häuptlinge ist es nie gekommen, obwohl eine solche Ver-
einigung das einzige Mittel gewesen wäre, sich wirksam
gegen die sie mit Verwüstung bedrohenden Feinde zu schützen.
Die numerisch stärksten Stämme sind augenblicklich die
von Aúlla, Cimasa und Latakatura, die in ihren fast unzn-
48
378
Von der deutschen westafrikanischen Expedition.
gänzlichen Bergen natürliche Festungen besitzen, von denen
aus sie sich mit Erfolg vertheidigen können.
Würden die Basen sich unter einem Oberhaupte ver-
einigen, so könnten sie bei ihrer beträchtlichen Zahl und
begünstigt durch die wilde Natur ihres Landes sich wohl
mit Erfolg gegen ihre Nachbaren behaupten, da es ihnen
durchaus nicht an persönlichem Muthe fehlt, wie sie in
manchen Kämpfen bewiesen haben. So aber sicht jeder
Stamm für sich und erliegt auch einzeln, und die Unab-
hängigkeit des Basen-Volkes geht mit der fortschreitenden
Mohammedanisiruug dem schnellen Untergänge entgegen,
doch wird sie der Islam wenigstens gegen die völlige Ver-
nichtung schützen. Möglicherweise ist der Aufstand des
Mahdi und die darauf folgende Verwirrung auch im Ost-
Sudan den Basen selbst sehr günstig, da die aufstän-
dischen Araber-Stämme, die gegen die ägyptischen Garni-
sonen und gegen einander alle Hände voll zu thun haben,
sich wohl kaum um die Befehdung der Basen kümmern,
sondern sich wohl mehr mit den mehr Beute ver-
sprechenden Angriffen auf die Marktplätze und Plünderung
der Karawanen abgeben werden.
Ueber die Herkunft und Abstammung der Basen will
ich mich jeder Vermuthung enthalten, glaube jedoch noch
anführen zu dürfen, daß die schwedischen Missionare Lagger
und Lundahl, die sich Jahre laug im Kunamalande auf-
gehalten hatten und die Sprache des Volkes gründlich
kannten, die Vermuthung aussprachen, die Basen seien Ver-
wandte der am Blauen Nile wohnenden heidnischen Berta,
Burum rc., worauf die Sprache schließen lasse. Daß sie
mit ihren Nachbarn, den Bedja und Abessiniern, nicht nahe
verwandt sind, ist sicher; doch dürften sie mit den Barca
näher verwandt sein, obwohl auch die Baren eine von der-
jenigen der Basen verschiedene Sprache sprechen. Zu er-
wähnen ist noch, daß auch die Bewohner von Bitama und
Elit, die aus ihren vereinzelten Gebirgsstöcken abgeschlossen
Hausen, einen besonderen Dialekt sprechen, über den ich
jedoch keine weitere Auskunft geben kann. Untersuchungen
über diesen Gegenstand und andere Punkte, die der Auf-
klärung bedürfen, werden jedoch vor der Hand noch auf
sich warten lassen müssen, da der große Aufstand im
Sudan ein jedes Reisen im Basa-Lande und überhaupt
im Sudan vielleicht noch auf Jahre hinaus unmöglich
macht.
Wenn ich auf die häuslichen und socialen Verhältnisse
der Basen nicht näher eingehe, so hat dies seinen Grund
darin, daß ich darüber nichts Zuverlässiges, auf eigenen
Beobachtungen Beruhendes mittheilen kann. Obwohl ich
häufig mit den Basen in Berührung kam, so geschah dies
doch meistens nur mit einzelnen Leuten, die unsere Seriben
besuchten oder im Basalande selbst mit den Scharen, die
unseren Jagdgesellschaften in der Hoffnung auf Fleisch
folgten. Die Dörfer selbst zu betreten, hatten wir keine
Veranlassung, da dieselben immer weit ab von den wild-
reichen Ebenen liegen, und so fehlte natürlich auch jede
Gelegenheit, mit dem Volke in seinem eigentlichen Heim
bekannt zu werden und Näheres über seine sicherlich inter-
essanten und von denen der Nachbaren abweichenden Gebräuche
kennen zu lernen, was übrigens auch seine Schwierigkeiten
hat, da die Basen scheu und mißtrauisch sind und man nur
selten Leute trifft, die die Sprache genügend kennen. Hoffent-
lich ist es künftigen Reisenden, die nur wissenschaftliche
Zwecke verfolgen, beschieden, Ausführlicheres zu erfahren, als
einer Gesellschaft, deren Hauptzweck die Jagd ist, möglich
sein kann; bis dahin dürften jedoch diese einfachen und
unvollständigen Notizen immerhin von einigem Nutzen für
die Kenntniß des merkwürdigen Stammes fein.
Von der deutschen westa
Ueber die deutsche westafrikanische Expedition (siehe
„Globus", Bd. 47, S. 78, 128 und 320) bringt das
eben ausgegebene Heft der „Mittheilungen der Afrikanischen
Gesellschaft in Deutschland" (Bd. IV, Nr. 5) die letzten
Nachrichten. Am 18. December 1884 langten Lieutenant
Schulze und Dr. R. Büttner in San Salvador an,
erkrankten aber dort um Weihnachten beide am Fieber.
Als Dr. Büttner hergestellt war, unternahm er am
20. Januar einen zwölftägigen Ausflug ostwärts nach den
großartigen Wasserfällen des Ambrisette (1880 von Reve-
rend Comber „Arthington Fall" getauft) und von dort,
stets in geringerer oder größerer Entfernung von diesem
Flusse, nach den Quellen des Lunda, Luesi und Koko (linke
Zuflüsse des unteren Congo). Fieber nöthigte ihn, nach
San Salvador zurückzukehren, wo am 2. Februar auch
Dr. Wolfs eintraf, und wo Lieutenant Schulze inzwischen
von Neuem erkrankt war und am 15. Februar starb. Die
Expedition hat sich getheilt: während Dr. Wolfs und Dr.
Büttner in direkt östlicher Richtung nach der Residenz des
Muene Puln Kassongo reisen wollen, beabsichtigten die
Lieutenants Kund und Tappenbeck von der Missionsstalion
Underhill aus am 15. Mürz aufzubrechen und am linken
Congoufer nach Stanley-Pool zu gehen; von dort bis zur
Quango-Münduug können sie den Dampfer der Baptisten-
mission unentgeldlich benutzen, um schließlich am Quaugo
frikanischen Expedition.
aufwärts zum Muene Putu Kassongo zn ziehen und dort
mit ihren Geführten wieder zusammenzutreffen.
Den Berichten des Botanikers Dr. Büttner entnehmen
wir das Folgende:
San Salvador, den 4. Februar 1885.
„Ich bin vor wenigen Tagen von einem größeren Aus-
fluge nach hier zurückgekehrt, der im Ganzen 12 Tage in
Anspruch genommen hat. Am 20. Januar verließ ich San
Salvador mit 8 Loangos sowie 3 Cougoleuten, um nach
dem Wasserfalle des Ambrisette zn gehen. Am dritten
Tage erreichte ich denselben bei Kisulu. Das Wasser des
Ambrisette oder Mbidisi, wie der Fluß von den Ein-
geborenen genannt wird, füllt hier von einem Gebirgsplatean
in die Ebene herab. Dieser Wasserfall ist weithin sichtbar,
bei klarem Wetter selbst von San Salvador aus. Ich
glaube, es ist ein Fall, der mehrere hundert Fuß hoch ist,
und sein Anblick ist in Wahrheit ein großartiger. Ich
unternahm Beobachtungen an seinem oberen Anfange, in
der Ebene und an der Niedersturzstelle des senkrechten Falles.
Dieser — der wirklich senkrechte Fall — ist vielleicht
100 Fuß hoch, vielleicht 150, eine Schätzung ist gar zu
schwierig. Es ist sehr schwer, an diese Stelle zu gelangen
und der Rückweg war fürchterlich. Daß ich bei dem Auf-
stiege an hohen, ganz senkrechten Felswänden mit bodenlosen
Non der deutschen westafrikanischen Expedition.
370
Abgründen nicht den Sturz in die Tiefe gemacht habe, ist
mir noch heute wunderbar. Ich will offen gestehen, daß
ich für mein Leben gezittert habe und die Hoffnung des
Gelingens des Rückweges aufgegeben hatte. Noch kein
Mensch war an diesen Orten gewesen und meine Begleiter
wollten nicht für 20 Pfd. St. dorthin zurückkehren. In-
dessen bedaure ich mein Unternehmen nicht, der Lohn war
doch ein reicher. Es gewährte einen imposanten Eindruck,
am Fuße des Falles das Wasser mit feiner ganzen Gewalt
an dem ganz senkrechten hohen schwarzen Felsen herab-
kommen zu sehen, wie es in einen Regen zerstäubt, der in
weitem Umkreise alles mit immerwährender Feuchtigkeit
durchdringt — weshalb über fußhohes Moos und herrliche
Blumen die Vegetation bilden — wie das niederfallende
Wasser zu Staubwolken sich umwandelt, die viele Meilen
weit sichtbar sind. Das niederstürzende Wasser bewirkt
einen kalten Wind, der einem dasselbe in Regenschauern
über den Körper weht. Von diesem Wasserfalle aus hat
man eine weite, weite Aussicht: das Land mit seinen un-
zähligen Bergen und Schluchten, die schon so manchen
Schweißtropfen forderten, mit seinen Flüssen, die in
Schlangenlinien mit Bäumen bestanden, sich von der an-
deren Vegetation gut abheben. Ich durch- und überschritt
den Fluß an diesem Tage sechs- bis achtmal, was jedesmal
nicht ohne Gefahr abgeht, weil das Wasser mit unbändiger
Kraft nicderranscht und dem Fuße den Halt nicht gönnt,
der überhaupt nur sehr unvollkommen ans den schlüpferigen,
im Bache liegenden Felsblöcken ruht.
Von Kisultt ging cs am fünften Tage weiter ostwärts
nach Loma, um zu hören, ob es dort einen See gebe oder
nicht.
Zurückgekehrt nach Kisnlu verfolgte ich meinen Weg
meist in geringerer oder größerer Nähe des Ambrisette, um
zu den Quellen der Lunda und dcsLnesi zu kommen. Am
dritten Tage dieser Tour, d. i. am achten der ganzen Reise,
hatte ich einen starken Fiebcranfall, der mich schon Vor-
mittags nöthigte, Halt zu machen und zn Bett zu gehen.
Am nennten Tage erreichte ich Toto, wo ich wiederum
Fieber hatte. Am zehnten Tage sah ich die Quellen der
beiden Flüsse, sowie des Koko, hatte Nachmittags wiederum
Fieber, so daß ich mit Dank am elften Tage die mir von
König Toto freundlich zur Verfügung gestellte Hängematte
benutzte und in zwei starken Märschen am elften und zwölften
Tage nach hier zurückkehrte, wo ich etwas schwach, sonst
aber gesund ankam. Jetzt bin ich wieder vollständig her-
gestellt. Die ganze Tour geht mit Ausnahme der ersten
Tage durch neues Gebiet und hat somit manche Resultate
ergeben: die Bestimmung der Höhe des Falles, sowie des
Plateaus, den Lauf des Ambrisette, die Nichtiglcgnng der
Quellen. Dazu brachte ich Pflanzen, Mineralien, Insekten,
sowie manches für die ethnographische Sammlung."
San Salvador, den 2. März 1885.
Wenn ich Ihnen einen Bericht über die Kulturver-
hältnisse von San Salvador sende, so habe ich
dabei das Gefühl der Furcht, es möchten durch denselben
bei einigen meiner Landsleute über diesen Theil von West-
Eentral-Afrika Vorstellungen erweckt werden, zu denen ich
in keinem Falle Veranlassung geben möchte. Um nun
solche Vorstellungen zu vermeiden, will ich sogleich be-
merken, daß San Salvador eine Ausnahmestellung ein-
nimmt, daß die einschlägigen Verhältnisse hier so günstig
liegen, wie ich sic bisher an den Usern des Congo bis Vivi
hinauf, ferner auf der Reise von Underhiü (Tunduva)
nach hier, sowie ans meinen Ausflügen in der weiteren
Umgebung von San Salvador nicht wieder angetroffen habe.
Die User des unteren Congo sind geradezu trostlos
und für jede Kultur unfähig, Hügel über Hügel aus stein-
hartem Lehm bestehend und dicht bedeckt mit unzählbarem
scharfkantigem Gestein verschiedener Art. Trotz der gün-
stigen Jahreszeit, während welcher ich mich zu Tunduva
aufhielt — Regenmonate November und December, in
denen übrigens wöchentlich nur ein- oder zweimal Regen
fiel — gab es in dieser Landschaft selbst für den Botaniker,
der gewiß doch leicht zufrieden zu stellen ist, fast gar keine
Ausbeute; es ist hier eben weiter nichts als das in großen
Büscheln wachsende Kampinengras zu finden, das stellen-
weise nicht einmal eine ordentliche Höhe erreicht. Kultur-
fähiger Boden findet sich nur an einigen tiefer gelegenen
Stellen, wohin die Regengüsse ihn von den Bergen geführt
haben mögen; diese Stellen sind dann von den Dörfern
der Eingeborenen okkupirt. Die Missionsstation Tunduva,
Vivi gegenüber gelegen, illustrirt die Verhältnisse vortreff-
lich. Man ist für die Anlage eines Gartens gezwungen,
bessere Erde kistenweise von entfernter gelegenen Orten
herbeizutragen, um damit den kahlen Lehmboden, nachdem
er von den Steinen gereinigt ist, fußhoch zu bedecken.
Nebrigens ist man trotz der Regenzeit gezwungen, die Kul-
turen zu begießen, zn welchem Zweck wiederum jeder
Tropfen Wasser von den Kruboys vom Flusse zum Berge
hinaufgetragen werden muß, auf dessen Höhe man ans
Gesundheitsrücksichten für die Missionare die Station anzu-
legen sich genöthigt gesehen hat.
Der Marsch vom Flusse nach San Salvador, so-
wie der Ausflug nach den Arthingtonfällen und dem
Quellgebiet der Lunda und des Luesi zeigten überall
dasselbe Bild. Man tritt stets, Hügel auf, Hügel ab, den
gelben harten und dröhnenden Boden und bewegt sich mit
Muhe durch das schneidende, jetzt über mannshohe Steppen-
gras hindurch. In dem weiten kahlen Gebiete finden sich
sehr sparsam zerstreut — oft meilenweit von einander ent-
fernt — kleinere Waldbestände: diese ziehen sich entweder
in sehr geringer Breite den Wasserläufen entlang oder
aber sie sind in den Gründen zwischen den Hügeln und
seltener ans der Höhe abgeplatteter Hügel gelegen. Hier ist
man dann jedesmal sicher, ein Dorf der Eingeborenen zu
finden, welche den besseren Boden beim Dorfe mit ihren
bescheidene Ansprüche stellenden Nahrungspflanzen bestellt
haben: man sicht Maniok- und Erdnußfelder, unmittelbar
bei den Hütten den breitblätterigen Pisang.
Einen viel besseren Eindruck gewährt San Salvador;
jedoch bemerke ich, daß ich dasselbe zur besseren Jahreszeit
gesehen habe, daß europäischer Einfluß überall zu Tage tritt
und daß es als Centralpunkt auch die Erzeugnisse der Um-
gebung darbietet. San Salvador liegt auf der plateauartig
abgeflachten Höhe eines bedeutenderen Berges und hat guten
fruchtbaren Boden. Außer den wie überall vorhandenen
Maniok- und Erdnußfeldern sieht man ausgedehnte Culturen
von Bohnen, von denen man mehrere Arten baut und die
den europäischen in nichts nachstehen. Ein anderes wohl
von Europa überkommenes Gemüse des Congomannes ist
der Kohl, für unseren Geschmack allerdings etwas herbe
und bitter. Ich habe indessen die Kohlkultur nicht so aus-
gebreitet gefunden, wie Professor Bastian erzählt; man
sieht in der Stadt nur einige wenige Gärten damit bestellt.
Man baut ferner Mais, Pisang und Bananen, Zwiebeln,
Flaschenkürbis und Pompions. In vereinzelten Füllen
kultivirt man Zuckerrohr und bringt aus der Umgebung
Ananas, Jngwerwurzeln und Kaffee. Letzterer bildet mit
Kautschuk und Elfenbein die einzigen Exportartikel. Die
Oelpalme liefert Oel, ebenso wie die Erdnüsse, und Wein,
von dem man nach der Art der Gewinnung die drei Arten
48*
380
Franz Kraus: Nom krainerischen Karste.
malnvns man8amb6, Illbulu und essoka unterscheidet.
Die Bainbupalme giebt malavu metombe. Ferner trinkt
man Bier ans Mais und Kassadamehl bereitet, von wel-
chen! Getränk man ein Wasserglas mit einer größeren
rothen Perle bezahlt. Beau würzt die Speisen mit ver-
schiedenen Sorten von ndunga, Chilepfeffer, und raucht
selbstgebauten Tabak, den man auch zu dem bei beiden Ge-
schlechtern gleich beliebten Schnupftabak verarbeitet. Ans
Cuba hier eingewanderte frühere Sklaven brachten Samen
mit sich, deren Produkt uns in Gestalt von etwas an-
rüchigen Cigarren vorliegt.
In den Gürten der portugiesischen Degradirten, sowie
(in sehr beschränktem Maße) der beiden Missionen kultivirt
man mit gutem Erfolge Kohl, Salat, Kartoffeln, süße
Kartoffeln, Tomaten, Radies, Melonen, Zwiebeln, Peter-
silie, Pfefferminze, Papaws, selbst einige europäische Blu-
men, wie Geranien.
Ziegen, Schafe, Schweine, Ochsen (aus kurzer Entfer-
nung von Osten hergebracht), Hühner, Enten und Tauben
sieht man reichlich; außer diesen Thieren ißt man und
finden selbst Europäer Geschmack an mit Palmöl zube-
reiteten Ratten und Spitzmäusen. Nur selten sieht man
in San Salvador Fische, von denen eine Welsart am
meisten beliebt ist; der Congomann verschmäht indessen
auch die Heuschrecken nicht.
Trotz dieses günstigen Berichtes über San Salvador
kann dasselbe doch nicht deutschen Auswanderern an-
empfohlen werden, denn abgesehen davon, daß deren doch
nur sehr wenige hier Platz fänden, würden sie in kurzer
Zeit dem Klima, das durchaus nicht körperliche Arbeit
zuläßt, erliegen, und — die Eingeborenen als Arbeiter zu
verwenden? Die Erziehung der Neger zur Arbeit ist in
Congo bisher ebensowenig geglückt, wie an anderen Stellen
des tropischen Afrika, wo den Weibern allein die Feld-
arbeit obliegt; ich bin sogar der Ueberzeugung, daß jener
Ausdruck immer dasselbe bleiben wird, was er bisher ge-
blieben — eine leere Phrase.
Vom krainerischen Karste.
Von Franz Kraus.
.Es giebt in Europa kaum ein anderes Land, in welchem
alle Verhältnisse so vom gewohnten Geleise abweichen, als
der Karst, dessen Oberfläche ans der Vogelperspektive be-
trachtet nur mit jenen Ansichten der Mondobersläche ver-
glichen werden kann, die uns durch die neueren Fortschritte
der Photographie in ganz deutlicher Weise veranschaulicht
wurden. Erhebungen umgeben mehr oder minder tiefe
kreisförmige oder längliche Thäler, die unter einander keine
sichtbare Verbindung haben, und die Flüsse und Seen er-
scheinen und verschwinden scheinbar ganz nach Belieben.
Auch die Vegetation, sowie der Boden, der sic nährt, ist
abnorm; denn an einem Orte wuchert üppiger Wald auf
den zerklüfteten Felsbergen, und an anderen Orten gleicht
eine weite Strecke einem Leichenfelde, wo man die Leichen-
steinc wirr durch einander geworfen hat.
Die merkwürdigen Mulden- oder Kessclthäler sind wohl
das Absonderlichste, was man auf dem Karste treffen kann,
und das Flußsystcm ist in Folge dieser Oberslächen-
gestaltung nicht minder interessant. In vielen dieser
Kessclthäler giebt es nämlich Flüsse, die stark genug sind,
um Sägewerke und Mühlen in großer Zahl in Bewegung
zu setzen, und diese Wasserläufe verschwinden entweder
plötzlich im Boden in einem mächtigen Schlunde oder sie
versickern allmählich durch zahlreiche sogenannte Sauger-
oder Sauglöchcr, um nach einem unterirdischen Laufe von
oft mehreren Meilen plötzlich wieder in einem anderen
Kesselthale zu erscheinen, und dasselbe Spiel zu wiederholen.
Diese sonderbaren hydrographischen Verhältnisse, die
ans einem so ausgebreiteten Terrain herrschen, welches von
der Laibacher Ebene im Norden beginnend, sich bis an das
Adriatische Meer erstreckt, bringen natürlich mannigfaltige
Uebelstände mit sich. Die unterirdischen Abstußkanäle
genügen nämlich nur knapp für mäßige Niederschlags-
mengen. Jede Vermehrung der Niederschläge bringt daher
eine Uebcrschwemmnng in einem oder in mehreren der
Kessclthäler mit sich, und je höher die Fluthen steigen,
desto stärker wird der Wasserdruck aus die kommunicirenden
tiefer gelegenen Thalkessel und es treten immer mehr von
den höher gelegenen Sauglöchern in Aktion, welche die
aufgenommenen Wassermengcn durch die mit ihnen kor-
respondirenden Speilöcher über die unteren Thäler ergießen.
Der größte Uebelstand besteht aber darin, daß diese
Kanüle unzugänglich und daher nicht kontrollirbar sind.
Jeder Deckenbruch kann sie verengen oder ganz verlegen,
und die für die Entwässerung so wichtigen Sauger, die
mit diesem Kanäle in Verbindung stehen, hören dann auf
zu funktioniren. Es wurde daher schon vor mehr als
100 Jahren darauf hingewiesen, daß etwas geschehen müsse,
um einen geregelten Abfluß zu sichern. Trotzdem geschah
durch geraume Zeit gar nichts, und erst vor wenigen Jahren
(1876 und 1879) begann man damit, zuin mindesten die
Sauglöcher vom eingeschlämmten Erdreich und Holzwcrk
zu reinigen, was für kurze Zeit sich als sehr wirksam
erwies, aber nicht radikal helfen konnte.
Seit drei Jahren betreibt aber Schreiber dieses eine
rastlose Agitation, um nach einem von ihm entworfenen
neuen Plane eine dauernde Lösung der Entwässerungsfrage
vorzunehmen. Für diesen Plan traten auch erste Autori-
täten der Wissenschaft (Hofrath von Hauer, Professor
Sueß u. a.) ein, und der österreichische Touristen-Klub nahm
die Durchführung in die Hand, indem er ein Spccial-
komito einsetzte, welches die hiermit in Verbindung stehen-
den wissenschaftlichen und technischen Fragen zu prüfen und
die Oberleitung der praktischen Arbeiten zu besorgen hat.
Nach reiflicher Erwägung wurde beschlossen, vorerst
jene Partie in Angriff zu nehmen, für welche das meiste
Interesse von Seiten des großen Publikums zu erwarten ist.
Es ist dies das Grottensystem von Adclsberg, welches sich
weithin verzweigt und sowohl den unterirdischen Hauptlanf
der Poik, als auch andere derzeit noch unbekannte aber
gcmuthmaßte Zuflüsse derselben birgt. Diese Wasser-
mengcn treten durch die Kleinhänslergrotte in das Pla-
ninathal hinaus, welches viel von Ueberschwemmungen
leidet, weil demselben außer schlecht funktionirenden Sau-
Kürzere Mittheilungen.
gern keine genügenden Abzugskanäle zu Gebote stehen,
während Adclsberg außer dem mächtigen Schlunde nächst
der Adelsberger Grotte noch die Schwarzbachhöhle besitzt,
die beide auch die größten Hochwassermengen in kurzer Zeit
zu verschlingen vermögen.
Es ist klar, daß durch eine Verbindung des Adelsberger
Höhlenzuges, welcher derzeit durch Einstürze und Ver-
schlämmungen theilwcise unterbrochen oder mindestens arg
verengt ist, dann die Hochwässer des Adelsbergerthalcs viel
rascher als bisher nach Planina gelangen und dort die
ohnedies sich so häufig einstellenden Hochwässer nur steigern
würden. Um dies zu verhüten, soll daher gleichzeitig im
Thale von Planina ein Abzugskanal aufgesucht und erweitert
werden. Dieser wird von der Vranja Jama (Rabcnloch)
genannten Schachthöhlc aus gesucht, durch welche bei Hoch-
wasser ein langsam rinnendes Wasser fließt, und die bei
niederem Wasserstande im Planinathale trocken ist. Ans
drücksicht für das Planinathal wird auch im Adelsberger
Bezirke die ganze Arbeit nicht eher vollendet werden, als
bis der Abfluß aus Planina gesichert ist. Es wird daher
bei Adelsberg vorläufig nur die Verbindung zwischen der
Pinka Jama (Poikhöhle) und der weltberühmten Adels-
berger Grotte hergestellt werden, wodurch diese hervorragende
Sehenswürdigkeit von Oesterreich eine bedeutende Erweite-
rung durch bisher noch von keines Menschen Fuß betretene
Räume erfahren wird. Die Gcsammtlünge des ganzen
Adelsberger Höhlenzuges dürfte inclusive aller Ver-
zweigungen sechs bis acht deutsche Meilen betragen, worunter
etwa die Hälfte auf trockene Räume und der Rest aus
schiffbare Wasserhöhlen entfallen mag.
Nach Vollendung der sämmtlichen Arbeiten auf den
Strecken Adelsberg-Planina und Planina-Oberlaibach
soll dann das Becken von Zirknitz in Angriff genommen
werden, welches nicht viel Schwierigkeiten bereiten dürfte,
weil der Laus der Gewässer fast auf der ganzen Strecke
kl 81
bekannt ist, indem dieselben mehrere Male zu Tage treten.
Das Phänomen des Zirknitzer Sees muß dann aus unseren
Lehrbüchern der Geographie gestrichen werden. Nach Zirknitz
folgt das höher gelegene Becken von Laas, welches zuletzt
in Angriff genommen werden muß.
Von jenen Becken, die ihre Niederschläge in andere
Flüsse entsenden, wäre vor Allem das Natschnathal zu er-
wähnen, in welchem die kraincrische Landesregierung eine
separate Hilfsaktion in Scene setzt, und zwar indem die
Verbindung zwischen Obergurk und Klein-Ratschna, für die
man in der Volkstradition Anhaltspunkte findet, aufgesucht
und erweitert werden soll. Der Angriffspunkt dürfte die
Grotte bei Obergurk fein, an deren Ende ein fließendes
Wasser sich befindet, welches man für das Wasser hält,
welches in der Höhle bei Klein-Ratschna verschwindet und
in der nahen Gurkquelle nach wiederholtem oberirdischem und
unterirdischem Laufe nun definitiv der Oberfläche treu bleibt.
Äußer dem wissenschaftlichen Interesse, welches die
Arbeiten am Karste wachrufen, werden eine ganze Reihe
von Sehenswürdigkeiten und Naturmerkwürdigkeiten dem
Publikum zugänglich werden, die einen Besuch des sonder-
baren Landes wohl verlohnen, und unter letzteren dürften
wohl jene des Bezirkes nördlich von Adclsberg die meiste
Anziehungskraft ausüben, weil sie in herrlicher landschaft-
licher Umrahmung liegen, deren schönste Zierde die wohl
gehaltenen Forste sind, über welche auf jedem Aussichts-
punkte die weißen Häupter der Hochgebirge emporragen.
Beim Detailstudium lernt man den Karst erst wirklich
kennen, und man findet ebenso romantische, als traurig öde
Partien dort.
Die Arbeiten des Karst-Comite können aber nicht ver-
fehlen, das Aussehen der Thalgründe wesentlich zu ver-
ändern; ob sie landschaftlich dadurch gewinnen werden,
das mag dahin gestellt bleiben, wirthschafttich gewinnen sie
aber sicherlich.
Kürzere Mi
Adolf Erik Freiherr von Nordenskiöld, Studien
und Forschungen, veranlaßt durch meine
Reisen im hohen Norden. Ein populär-wissenschaft-
liches Supplement zu „Die Umsegelung Asiens und
Europas auf der „Vega". Autorisirte deutsche Aus-
gabe. Leipzig, Brockhaus, 1885. gr. 30. 521 Seiten mit
über 200 Abbildungen, 8 Tafeln und Karten.
Es ist ein bedeutendes und gediegenes Material, welches
die sieben in dem stattlichen Oktavbande vereinigten Essays
dem Publikum bieten, jeder Aufsatz eine bestimmte Frage
gründlich und erschöpfend behandelnd. Nur zwei sind von
dem berühmten Reisenden selbst, die übrigen von berufenen
skandinavischen Fachgelehrten; sie sind verschiedenen Inhalts,
aber alle hochinteressant.
Nr. 1 enthält die Rede, welche Nordenskiöld bei
Nicderlcgung des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften
über die Reise derGebrüder Zeno und die ältesten
Karten über den hohen Norden hielt, eine Erweiterung
der darauf bezüglichen Angaben in der Vegareise.
Nr. 2 von Wittrock behandelt die Schnee- und Eis-
flora, die niedersten Pflanzenorganismen, welche nicht zwischen
Schnee und Eis, sondern in diesen selbst leben.
Nr. 3 von Nordenskiöld wird wohl am meisten Auf-
sehen erregen und Diskussionen hervorrufen. Die Abhandlung
t t h e i l n n g e n.
führt den Titel: UeberdiegeologischeBedeutungdes
Hcrabfallens kosmischer Stoffe auf die Ober-
fläche der Erde nnd ist bestimmt, den Beweis zu liefern,
daß die Kant-Laplace'sche Erdbildungstheorie einer sehr er-
heblichen Modifikation bedürfe. Nicht die ganze Erdmasse
ist aus zusammengeballtem Urnebel auf einmal entstanden,
dann glühend geworden und hat sich langsam abgekühlt, cs
bildete sich vielmehr anfangs nur der innerste Kern, der aus
gediegenem Eisen besteht, und alle äußeren Theile entstanden
aus Meteorstaub und Meteorsteinen, welche im Laufe un-
gezählter Jahrmillionen nach und nach auf die Erdoberfläche
herabfielen. Die vulkanischen Erscheinungen sind nur Folgen
von chemischen Vorgängen in den kosmischen Geröllanhäufnngen,
die Plutonischen waren es ebenso; ziemlich alle bis jetzt be-
kannten Bestandtheile unseres Planeten, auch Wasser und
Kohlensäure, werden ihm ständig von außen neu zugeführt,
und somit sind die Befürchtungen mancher moderner Forscher
vor einer Austrocknung der Erde ebenso unbegründet, wie
die vor einer fortschreitenden Verkleinerung. Die Erde nimmt
vielmehr immer noch erheblich an Umfang zu, erheblicher noch,
als man vermuthen sollte, denn die getvöhnlich allein beachteten
Meteorsteine sind nur ein winziger Theil der Meteore. Die
Feuerkugel allein, welche am 29. April 1872 bei Lnlca
explodirte, müßte, wenn sie die Schwere der atmosphärischen
382
Kürzere Mittheilungen.
Luft gehabt hätte, gegen 6 Millionen Tonnen gewogen haben;
Staubmassen, welche im Jahre 1881 den Schnee in Skan-
dinavien färbten, wogen, wenn man nur 1 mg auf den
Quadratkilometer annimmt, mindestens 1000 Tonnen. Der
Autor hat einen unendlichen Scharfsinn und eine sehr be-
deutende Belesenheit für die Begründung seiner neuen Theorie
aufgewendet, aber er hat auch alle Erscheinungen ausschließ-
lich im Sinne seiner Ansichten gedeutet und es wird seinen
Gegnern nicht sonderlich schwer werden, die schwachen Stellen
in der Beweisführung herauszufinden.
Gleich der folgende vierte Aufsatz von Nathorst, Bei-
trüge der Polarforschung zurPflanzengeographie
der Vorzeit, reißt ein bedenkliches Loch in Nordcnskiöld's
Beweisführung, indem er aus den Pflanzenversteinerungen
nachweist, daß früher das Klima auf der ganzen Erde gleich-
mäßiger warm bis zu den Polen hinauf tvar, was sich, wenn
man nicht eine Veränderung der Lage der Erdachse annehmen
will, doch wohl nur durch eine frühere stärkere Erwärmung
von innen heraus erklären läßt. Man hat zwar neuerdings
nachzuweisen versucht, daß eine andere Vertheilung der Land-
massen und eine veränderte Richtung der Meeresströmungen
ausreichen würden, um eine reichere Vegetation im Norden
hervorzurufen, aber Nathorst wendet dagegen ein, daß die
Erwärmung sich nicht nur auf den Norden beschränkt, sondern
genau ebenso zu derselben Epoche in den gemüßigten Breiten
nachweisbar ist, also doch wohl die ganze Erde betroffen
haben muß. Sein Aufsatz hat das Verdienst, die botanische
Begründung der Atlantismythe völlig haltlos zu machen, in-
dem er zeigt, wie die Verwandtschaft der Pflanzenformen zu
beiden Seiten des Atlantischen Oceans sich viel leichter und
ungezwungener durch die Ableitung derselben von einer ge-
meinsamen eirkumpolaren Flora erklären läßt, welche vor der
beginnenden Eiszeit nach Süden rückte. Auch die Verwandt-
schaft der alpinen und der arktischen Fauna wird genügend
erklärt und aus den Pflanzenversteinernngen von M o g i süd-
lich von Nagasaki, welche die „Bega" entdeckte, nachgewiesen,
daß auch dort zur Eiszeit eine Erniedrigung der Temperatur
stattfand, in Folge deren die nordjapauische Flora bis zur
Südspitze des Archipels herabrückte und die früher vor-
handene subtropische verdrängte. Die heutige Flora ist als
nach der Eiszeit eingewandert zu betrachten.
Hohes ethnographisches Interesse bietet die fünfte Abhand-
lung von Hildebrand, Beitrüge zur Kenntniß der
Kunst der niederen Naturvölker, welche die Kunst-
produkte der Tschnktschen und der Eskimos in eine Parallele
bringt mit der der Höhlenbewohner Südsrankreichs und ver-
schiedener heute noch existirendcr Naturvölker; sie ist mit
Abbildungen sehr reich ausgestattet.
Der sechste Aufsatz von Chr. Aurivillius behandelt das
Insekten!eben'in arktischen Ländern. Die Anzahl
der bekannt gewordenen Arten ist recht erheblich; aus dem
arktischen Skandinavien sind 2596 Arten bekannt; aus dem
arktischen Asien 667, von Island 319, von Grönland 174,
von Novaja Semlja 171, selbst von dem eisigen Spitzbergen
noch 70. Die Fauna ist offenbar eine selbständige, zu-
sammengehörige, aber es lassen sich drei Provinzen, eine
europäische, eine asiatische und eine amerikanische unterscheiden.
Sehr interessant ist der Abschnitt über den Einfluß der In-
sekten auf die Blumen.
Einen würdigen Abschluß des Bandes bildet der Aufsatz
von K j e l l m a n n „Aus dem Leben der Polar-
pflanze". Er stellt cs sich zur Aufgabe, klarzulegen, welches
die Waffen sind, mit denen die Vegetation hoch oben im
Norden um ihr Dasein kämpft und in diesem Kampfe sieg-
reich besteht, die Mittel, durch welche sich die Pflanzenwelt
zum Herrn über die ihr feindlichen äußeren Verhältnisse ge-
inacht hat. Es ist das nicht, wie man vielfach geglaubt hat,
die Verlegung der wichtigsten Theile in die Erde, denn diese
gefriert bis tief hinab selbst unter dem Schnee und kann
somit keinen Schutz bieten. Kjellmann führt als Haupt-
eigenthümlichkeiten der Polarpflanzen folgende vier an:
1) die Verlegung in den Herbst oder Spätsommer von einem
bedeutenden Theile der Thätigkeit, welche südlichere Kräuter
im Frühjahr und Sommer entwickeln; 2) ihr Bestreben, der
Vegetationsperiode die größtmöglichste Dauer zu geben, indem
sie mit ihrer Thätigkeit so lange als möglich fortfahren;
3) ihre Sparsamkeit mit dem Material und 4) ihre Aus-
bildung dahin, daß sie während der Vegetationsperiode, und
ztvar gleich zu deren Anfang eine Menge Organe in der-
selben Richtung wirksam haben.
Einen eingehenderen Auszug zu bringen erlaubt leider
der Raum hier nicht; wir können daraus auch um so eher
verzichten, als das Buch ohnehin in der Bibliothek eines
Naturforschers nicht fehlen darf.
Schwanheim a. Main. Dr. W. Kobelt.
Die Fischerei der Amerikaner an der Westküste von
Grönland.
In dem mittleren Theile der Davisstraße, zwischen den
dänischen Kolonien Sukkertoppen und Holstensborg liegen in
einer Entfernung von ca. 4 Meilen von der Küste ausge-
dehnte Banken, auf denen seit vielen Jahren die Dorsch-
fischerei besonders von amerikanischen, aber auch während
einiger Zeit von dänischen Fischern versucht worden ist. Die
große Unsicherheit in dem Vorkommen und den Zügen des
Dorsches verursachte jedoch, daß diese Fischerei nach und
nach aufgegeben werden mußte; aber gleichzeitig hiermit ent-
deckten die Amerikaner, daß eine andere Fischart, nämlich die
größere Heilbutt, einen lohnenderen Ertrag geben könne,
indem dieselbe nicht solchen Zufälligkeiten wie denjenigen
unterworfen sei, welche die Menge des Dorsches in den ver-
schiedenen Jahren bestimmen. Im Jahre 1879 sandte die
„United States Fish Commission" mit einem der Fischer-
fahrzeuge einen Vertreter nach der Davisstraße, um die
dortigen Fischereiverhältnisse genau zu untersuchen. In
seinem vor einiger Zeit erstatteten Reiseberichte giebt derselbe
eine Uebersicht über den bisherigen Ausfall der dortigen
Fischerei und spricht die Ansicht aus, daß dieselbe eine viel-
versprechende Zukunft für sich habe.
Die erste Nachricht von dem großen Reichthum an Heil-
butten außerhalb der Westküste Grönlands wurde von Wal-
fängern nach Massachusetts gebracht. Aus dieser Veran-
lassung wurde im Jahre 1866 der erste Fischerschooner dorthin
expcdirt; derselbe segelte am 29. Juni ab und kehrte am
14. Oktober mit einer Ladung im Werthe von 5500 Dollars
zurück. Da das Schiss zu spät die Banken erreicht hatte, so
hatte es keine volle Ladung erhalten. Da dies Resultat
wenig befriedigte, so wurde jene Fischerei wenig beachtet, bis
im Jahre 1870 ein anderes Schiff mit einer Ladung im
Werthe von 19000 Dollars von Grönland zurückkehrte. In
den nächstfolgenden drei Jahren wurden daun jährlich fünf
oder sechs Schiffe ausgerüstet, aber aus irgend einem Grunde
wurde mit wenig Erfolg gefischt, und gleichzeitig fielen auch
die Preise für gesalzenen Fisch. Wegen des Mangels an
Seekarten und wegen der Unbekanntschaft mit den Häfen an
diesem Theile der öden Küste Grönlands wurden die Fischer
außerdem bedenklich, diese Reisen zu unternehmen. Trotz
dieser Schwierigkeiten und der ungeheuren Entfernung von
500 Meilen war aber doch die große Wahrscheinlichkeit eines
lohnenden Fanges so verlockend, daß von 1866 bis 1881 nicht
weniger als 31 Reisen von Gloucester nach der Davisstraße
wegen des Heilbuttenfanges unternommen wurden. Wie die
Einfuhrlisten ausweisen, sind während der erwähnten Zeit
im Ganzen 3 283 765 Pfund gesalzene Heilbutten von Grön-
land nach Gloucester gebracht worden, was durchschnittlich
aus jedes glücklich zurückgekehrte Schiff 113 233 Pfund cr-
giebt. Zwei Schisse gingen verloren, indem das eine auf
der Hinreise aus den großen Banken (Newfoundlands?) und
Aus allen Erd theilen.
das andere auf der Rückreise mit Ladung strandete. Zu
bemerken ist, daß alle diese Fangschiffe nur sehr klein waren,
meistens unter 75 Tons. Das Schiff, mit welchem der Ver-
fasser reiste, wurde für ungewöhnlich groß und gut ausge-
rüstet angesehen; es war ein Schooner von 100 Tons Trag-
fähigkeit und hatte mit Einschluß des Kapitäns und des
Kochs im Ganzen 14 Mann Besatzung.
Wenn man diese Fischerei mit derjenigen ans den großen
Banken vergleicht, heißt es in dem Bericht, dann spricht sehr
viel zu Gunsten derselben. Das Wasser ist nicht so tief
und der Nebel nicht so häufig als auf den großen Banken.
In Fällen von Stürmen, welche auch nicht häufig vorkommen,
sind gute Häfen in der Nähe. Das Klima ist ausgezeichnet,
weder zu kalt noch zu warm. Das beständige Tageslicht
gestattet die Arbeit ununterbrochen und man braucht nicht
so besorgt dafür zu sein, daß die Fischerjollen das Schiff
aus Sicht verlieren werden. Ein großes Hinderniß ist
jedoch die weite Entfernung von der Heimath und der Man-
gel an Nachrichten aus der civilisirten Welt. An Fischen
ist aber Ueberfluß, und wenn die Fischer nur genaue Karten
und die Häfen der Kolonien Sukkertoppen und Holstensborg
Hütten, dann würde man nicht so viel an die große Ent-
fernung denken, da man dann eines günstigen Resultates voll-
kommen sicher sein würde. Gleichzeitig mit den Heilbutten
fangen die Fischer auch Dorsch, was aber ohne Bedeutung
ist, da ans 15 Heilbutten nur 1 Dorsch kommt. Die Eskimo
fangen innerhalb der Schären beide Fischarten, und mag der
Dorsch dort zahlreicher sein, aber dafür ist er auch kleiner.
383
Es wäre möglich, daß auch der gute Lachs in den Fjorden
eine lohnende Fischerei geben könnte.
Verfasser erwartet, daß der Ertrag der Heilbuttenfischerei
bei Grönland in der Zukunft ein bedeutend größerer werden,
ja an Wichtigkeit sogar mit der Sommerfischerei auf den
großen Banken werde wetteifern können. Im Berichte wer-
den dann schließlich eingehende geographische Mittheilungen
über den Theil des Fahrwassers an der Küste von West-
grönland gemacht, ans welchen sich die Fischerei der Amerikaner
bisher beschränkt hat, nämlich, wie bereits erwähnt, die
Strecke zwischen Holstensborg und Sukkertoppen. Ferner
werden die Wassertiefe auf den Banken, die Strömungen,
die Klimaverhältnisse rc. angegeben und die Häfen der beiden
Kolonien werden beschrieben. Eine ausführliche Darstellung
der bei Grönland gebräuchlichen Fischereigeräthschaften, der
Behandlung und Verpackung der gefangenen Heilbutten ist
dem Berichte angefügt.
Beunruhigt nicht nur durch die stetige Zunahme der ame-
rikanischen Fischerfahrzeuge in den grönländischen Gewässern,
sondern mehr noch durch die Eingriffe der Amerikaner in
das dänische Handelsmonopol und durch ihre verdächtigen
Verbindungen mit den Eingeborenen, erachtete es die däni-
sche Regierung im vorigen Sommer für angezeigt, den
Kriegsschooner „Fylla" nach jenen Gewässern zu senden, um
allen Betheiligten zu Gemüthe zu führen, daß sie ihre Be-
sitzrechte auf Grönland entschieden zu wahren gesonnen ist.
W. Finn.
A ll s allen
Europa.
— Ein erfreuliches Zeichen nicht nur der Theilnahme,
sondern auch der Behandlung, welche die geographischen
Wissenschaften in weiteren Kreisen finden, sehen wir in dem
1. und 2. Jahresbericht des erst 1882 ins Leben ge-
rufenen „W ü r t e m b e r g i s ch e n V e r e i n s für Handels-
geographie rc. zu Stuttgart." Es würde zu weit
führen, hier auf die in demselben mitgetheilten, im Verein
gehaltenen Vorträge näher einzugehen; hervorheben wollen
wir nur, daß auch die wissenschaftliche Richtung namentlich
in zwei Vorträgen des Vorsitzenden, Herrn L. C. Beck,
„Zur Geschichte der handelsgeographischen Bestrebungen" und
„Die Aufgaben der Geographie mit Berücksichtigung der
Handelsgeographie" zum Ausdruck kommt.
— Das eiserneZeitalter begann auf Fouln, einer
der Shetlands-Inseln, vor etwa hundert Jahren. Damals
schickte der Eigenthümer einen Schmied nach der Insel, um
Spaten und andere Geräthschaften für die Eingeborenen zu
machen, die bis dahin Muscheln als Spaten und Hacken und
zugespitzte Hölzer als Angeln gebraucht hatten. Noch lebt
ein alter, 98jähriger Mann auf der Insel, welcher sich des
Schmiedes noch erinnerte, der sich jedoch bereits vor der Ge-
burt des Erzählers auf der Insel niedergelassen hatte.
lScottish Geographica! Magazine.)
— Wie bedeutend die Gotthardbahn den Handel
von Frankreich und Deutschland mit Italien
beinflußt hat. geht aus folgenden Zahlen hervor, die dem
„Chamber of Commerce Journal" (Bd. IV, Nr. 38, S. 100)
entnommen sind. 1882 schon zeigte der französische Export
nach Italien eine Abnahme, der deutsche eine Zunahme.
1883 stieg letzterer von 84^ Millionen Francs auf fast
113 Millionen und der französische fiel von 200y2 auf
176Vä Millionen. In den zwei Jahren 1881 bis 1883 fiel
Erdtheilen.
der französische um 105,6 Millionen, während der deutsche
um 47,4 Millionen stieg. Daß dies wesentlich eine Folge
der Eröffnung der Gotthardbahn ist, zeigen folgende Ziffern
der Schweizer Zollbehörde; es betrug der stets steigende
deutsche Transit durch die Schweiz nach Italien:
1880
1881
1882
1883 .... 184 360 „ ,
der fortgesetzt abnehmende französische dagegen in denselben
Jahren 65 873, 43 765, 41095 und 35 406 Tonnen. Nach
dem „Movimento Commerciale bei Regno d'Jtalia" nimmt
unter den deutschen Einfuhren bei weitem die erste Stelle
ein Bietall (1881 für 11 Millionen Francs, 1883 für
38,7 Millionen, eine Steigerung von 27,7 Millionen 0; dann
folgt Wolle (1883 für 10,3 Millionen), Kolonialwaaren und
Tabak (8,7 Mill.), Baumwolle (6,4 Mill.), Häute uud Leder-
waaren (5,7 Mill.), Chemikalien und Arzneimittel (5,3 Mill.),
Steingut und Glas (4,8 Mill.), Farben (4,6 Mill.), Korn
und Mehl (3,9 Mill.), Seide (3,6 Mill.), Vieh und Produkte
(3,6 Mill.) u. s. w.
A s i e n.
— Dr. Karl Gottsche, Privatdocent an der Univer-
sität Kiel, ist von seinen Reisen in Ostasien zurück-
gekehrt. Nachdem er mehrere Jahre an der Hochschule in
Tokio Mineralogie und Geologie docirt hatte, unternahm er
von April bis December 1884 im Auftrage der koreanischen
Regierung eine wissenschaftliche Bereisung von
Korea. Auf dieser etwa 3000km langen Reise hat er nicht
nur den geologischen Ban der Halbinsel festgestellt, sondern
auch über Land und Leute reiche Erfahrungen gesammelt
384
Aus allen Erdtheilen.
so daß sein in Aussicht stehendes Werk wohl geeignet sein
wird, die bisherigen Kenntnisse über das eben erst erschlossene
Reich zu ergänzen und wesentlich zu verbessern.
Afrika.
— Der neue französische Gesandte in Marokko soll
nächstens dem Sultan in Mekiues (MiknLsa) sein Beglaubi-
gungsschreiben überreichen. Ihn begleitet der vorzügliche
Kenner Nordafrikas, Henri D uv eyrier, um im Austrage
der Regierung wissenschaftliche Untersuchungen in Marokko
anzustellen.
— Anscheinend wichtige Reisen, welche sich über den Zeit-
raum von fast einem Jahre erstrecken, hat kürzlich der Spanier
Saturnino Gimenez im nordwestlichen Marokko
ausgeführt. Dieselben reichten im Süden der Grenzstation
Udschda bis auf das Hochplateau des Atlas und in die Nähe
der Oase Figig; dann wurde das Thal des unteren Mnluja
bereist und auf dem Landwege durch das Gebiet der Beui-
Sinassen, das noch kein Europäer betreten hat, die spanische
Kolonie Melilla erreicht; es ist das erste Mal, daß dies
einem Christen geglückt ist. Gimenez hat weite Esparta-
selder erworben und mehrere Handelsfaktoreien im Nord-
westen Marokkos errichtet. Sein Gefährte Garcin Miranda
befindet sich jetzt in Figig.
— Der inzwischen ermordete italienische Afrikareisende
Bianchi hatte in Godscham (Süd-Abessinien) den Inge-
nieur Salimbeni zurückgelassen, um dort über den Blauen
Nil eine Brücke zu bauen, welche Godscham mit den süd-
licher gelegenen Gebieten verbindet. Unter vielen Schwierig-
keiten ist dieselbe jetzt vollendet worden. Salimbeni hat nun
die Leitung der italienischen Station in Godscham über-
nommen, welche zur Anstellung meteorologischer Beobach-
tungen, zur Unterstützung von Reisenden und Kaufleuten,
zur Anlegung naturwissenschaftlicher Sammlungen u. s. w.
dienen soll- Eine andere meteorologische Station will die
italienische Regierung in Makkale in Abessinien errichten. —
In Turin hat sich ein Komitee gebildet, um für Augusto
Franzoj die Mittel zu einer Expedition von Zeila nach
Kaffa und den äquatorialen Seen zusammenzubringen.
— Nach einmonatlichem Aufenthalte in Harar, von
wo sie einige Ausflüge unternahmen, sind Dr. von Har-
degg er und Prof. Paulitschke (vergl. „Globus", Bd.46,
S. 64) am 21. März dieses Jahres nach Zeila und Mitte
April nach Wien zurückgekehrt. Ueber die Reichhaltigkeit
ihrer ethnographischen, kartographischen und natnrhistorischen
Sammlungen äußern sie sich sehr befriedigt. Ein weiteres
Vordringen von Harar nach Schoa ward leider durch die
Unsicherheit des Landes vereitelt. Den Reisenden ist die
Errichtung zweier meteorologischer Stationen in Harar und
Zeila zu danken, deren Instrumente von englischen Beamten
abgelesen werden. — Am 8. April ist, wie dem „Temps"
aus Aden geschrieben wird, in Dungareta (südlich von
Zeila), einem Hafen der Gibril-Abakor, und am 10. in Hel n,
das dem Stamme der Gadibursi gehört, die französische
Flagge gehißt worden.
Nordamerika.
— Ueber das Sas kats ch ewan - G eb iet, welches
eben durch den Aufstand der halbblütigeu Trapper und der
Indianer wieder die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht,
bringt „Science" einen interessanten Artikel von Dawson.
Das Gebiet der Insurrektion liegt nahe dem Nordrande der
großen Prairienflüche, welche sich quer durch fast ganz Nord-
amerika erstreckt und, obschon zum größten Theile im Gebiete
der Vereinigten Staaten liegend, doch noch ca. 300 Miles
ins englische Gebiet hineinreicht. Die Nordgrenze, durch die
ausgedehnten Wälder der nördlichen Waldregion bezeichnet,
zieht von der Stadt W innip eg westlich bis zum Zusammen-
fluß des A s s i n i b o i n e und des Qu' ap pelle, dann nord-
westlich znm Zusammenflüsse der beiden Saskatschewan-
Quellflüsse, dem südlichen folgend wieder westlich bis Edmon-
ton, dann südwestlich nach Calgarh am Bow und
schließlich südlich zum Fuße der Felsengebirge. Prairien, nur
hier und da mit spärlichem Baumwuchs, bedecken gegen
300000 Quadratmiles. Sie bilden eine nach Nordosten ab-
fallende ebene Fläche, aus horizontalen Laramie- und Kreide-
schichten gebildet, die nur da, wo sie an die angrenzenden
älteren Schichten stoßen, zu einer verworrenen Hügelkette,
dem Missouri Coteau, aufbrechen. Die Berge erreichen
ihr Ende in den theilwcise bewaldeten Eagle-Hills bei
Battlcford. Die Oberfläche ist mit Gletscherschutt be-
deckt und verdankt seiner unregelmäßigen Ablagerung ihren
Hanptcharakterzug, die Unzahl kleiner Seen und Teiche, die
großentheils im Sommer austrocknen. Die Flüsse sind tief
eingerissen und bilden im Frühjahre ernstliche Verkehrshinder-
nisse; erst in neuerer Zeit hat man an den wichtigsten Ueber-
gangspullkten Führen aufgestellt. Nur wenige Wasserlüufe
können aber dem Verkehre wirklich dienen, die meisten sind
seicht, vielfach gewunden und voller Kiesbänke; nur ein paar
kleine „sttzrmvüeol^-Dampsboote kursiren auf dem Saskat-
schewan zwischen Winnipeg und Edmonton, und neuerdings
auch auf dem südlichen Arme. Bis in die neueste Zeit er-
folgte der Verkehr ausschließlich mit Karren, aber die Er-
bauung der Canadian Pacific-Eisenbahn hat die Ver-
hältnisse völlig umgestaltet und ganz neue Verkehrswege ge-
schaffen. Selbst der Regierungssitz ist von B a ttlef o rd am
nördlichen Saskatschewan nach Regina an der Eisenbahn
verlegt worden, und von dort soll auch binnen Kurzem eine
Eisenbahn nach PrinceAlbert mit einer bedeutenden Ab-
zweigung nach Edmonton erbaut werden. Das Land ist
ungemein fruchtbar und wird rasch einen bedeutenden Auf-
schwung nehmen, besonders wenn die geplante Verbindung
mit der Südküste der Hudsonsbai zur Thatsache werden
sollte.
Südamerika.
— Nach dem Journal do Commercio belief sich der
Gesammtwerth des Exports von Rio de Janeiro im
Jahre 1884 aus 215 457168 Francs, wovon nicht weniger
als 205 969 622 Francs auf Kaffee entfallen, von welchem
nahezu 220 Millionen Kilogramm ausgeführt wurden. Der
Rest von circa 9x/2 Millionen Francs bestand aus Sprit,
Zucker, Leder, Tabak, Wolle, Gold- und Silberwaaren, Ta-
pioca u. s. w. Am meisten eingeführt wurden in demselben
Jahre Butter, Bier, Fichtenholz, Pech, Cement, Kohlen,
Terpentinesseuz, Mehl, Branntwein, Theer, Fett, Olivenöl,
Atáis, Petroleum, Rosinen, indischer Reis, Salz, Kleie,
Thee, Talg, getrocknetes Fleisch und Wein.
Inhalt: G. Revoil's Reise im Lande der Benadir, Somali und Bajun 1882 bis 1883. VI. (Mit fünf Abbildungen
und einer Karte.) — Josef Meng es: Die Basen oder Kunama. II. (Schluß.) — Von der deutschen westafrikanischeu
Expedition. — Franz Krans: Vom krainerischen Karste. — Kürzere Mittheilungen: Norde nskiöld, Studien und For-
schungen. Von W. Kobelt. — Die Fischerei der Amerikaner an der Westküste von Grönland. Von W. Finn. — Aus
allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. (Schluß der Redaktion: 22. Mai 1885.)
IxMbhotnS
Universitatisl
Frider. 6uü.,
Jlerolia,
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindeiistraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vicweg und Svhn in Brannschrveig.