I
Globus.
LII. Band.
Sfili finite
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer Herücksiehtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Aark Mndree.
I n V e r b i n d u n g m i t Fach in ä n n e r n
herausgegeben von
Dr. Aichard Kiepert.
Z w e i n n d f n n f z i g st e r Band.
-'^ÍK=>0<^>G/3 —-
Braunschweig,
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g n n b Sol) n.
18 8 7.
Jnhaltsverzeichniß
Die Bevölkerung der griechisch-römischen
Welt 30.
Deutsches Reich. Der Frankfurter
Verein für Geographie und Statistik 3O.
Die Rhön und ihre wirthschaftlichen Ver-
hältnisse 30. Eine neue Harzkarte 142.
Tod des Polarreisenden Prof. Pansch
175. Statistisches Jahrbuch für das
Deutsche Reich 190. Dernschwam's Reise-
Tagebuch 366.
Oesterreich-Ungarn. Pia zur rumänisch-
ungarischen Streitfrage 175. Der physi-
kalisch-statistische Handatlas von Oester-
reich-Ungarn 318. Aus und über Istrien.
Von Dr. Karl Lechner 327. 346. 361.
Schweiz. Prof. Hcim's Gutachten über
die Katastrophe in Zug 93.
Dänemark mit Island. Vermessung
der isländischen Gewässer 270.
Russisches Asien. Sibirien. Die
Burjäten. Von Otto Genest 11. Der
Handel mit Kamtschatka 31. Das Leben
in Kamtschatka 47. Kapitän Jakobsen's
Reisen im Lande der Golden. Von
Otto Genest 152. 171. 205. 220. Das
Schamanenthum unter den Burjäten
250. 268. 286. 299. 316. Die sibirische
Eisenbahn 302. Getaufte Jakuten 319.
Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete
der Giljaken und auf der Insel Sachalin.
Von Otto Genest 378.
Transkaspisches und mittelasia-
tische Gebiete. Unterrichtskurse in
der Landessprache 47. Die Reise von
Capus und Bonvalot 63. Einiges über
die Galtschas 94. Das Erdbeben von
Wjernoje 95. Konschin's Untersuchun-
gen über den Usboi 271. Höhlen in
der Oase Pendeh 319. Löß ber Samar-
kand. Von O. Hcyfclder 382.
Kaukasien. Baku (nach E. Boulan-
gier) 8. 23. 39. Reisen im Kaukasus
301. 302.
Türkisches Asien. Dr. Jclissejew's Reise
durch Kleinasien 27. Antiker Hochzeits-
brauch in Sidon 80. Palästina in Wort
und Bild 160. 367. Die Verhältnisse
Zähmung des afrikanischen Elephanten 255.
T^>d des Afrikareifenden Dr. Passavant
Marokko. Douls' mißglückte Unternehmung
64.
Algerien und Tunesien. Prähisto-
öS u i o p i.
Skandinavien. Schwedische Seekarten
127. Vermessungen in Schweden 190.
Frankreich. Das Müsse Guimet 190.
Die Schisfahrt auf der unteren Seine
253. Die Bewohner der Dolmens von
Lozsre 270.
Italien. Der physische Typus der heu-
tigen Italiener. Von K. Penka 140.
Bove's Tod 176. Reue Kabel in den
sicilianischen Gewässern 190.
Europäische Türkei. Die bevorstehende
Eröffnung der Bahn Belgrad-Salonichi
176. Hans Dernschwam's orientalische
Reise 1553 bis 1555. Von Prof. H. Kie-
pert 186. 202. Meyer's Türkei und
Griechenland 367.
Rumänien. Bergner's Buch über Ru-
mänien 223. Die Bevölkerungsziffer Ru-
mäniens 240. Anzahl der Deutschen 253.
% s i e n.
des Grundbesitzes in Syrien 176.
Hans Dernschwam's orientalische Reise
1553 bis 1555. Von Pros. H. Kiepert
186. 202. 214. 230. Die Grabes-
kirche in Jerusalem 271. Tod des Herrn
von Quast 352. Handel des Wilajet's
Eharput 367.
Arabien. Glaser's neues Reiseprojekt 143.
Iran. Beginn des Eisenbahnbaues in
Persien 30. Dieulafoy's Ausgrabungen
in Susa 289. 305. 321. 337. 353. 369.
Grum-Grshimailo's Reise 319.
Britisch-Jndien. Die Bergstämme von
Manipur 156.
Hinterindien. Graf Anrep-Elmpt's ge-
plante Reise 95. Lord Brassey über
Malakka und den malayischcn Archipel
112. Mc Carthyss Ausnahmen in Siam
176. Der britisch-chinesische Vertrag
über Birma 224.^ Pavie's Reise im
Grenzgebiete von Siam und Tongking
254. Die Häfen von Tongking 254.
Neuordnung der Verwaltung der fran-
zösischen Gebiete 271. Kohlenscld in
Oberbirma 302.
China mit Vasallenstaaten. Prshe-
walski's dritte Reise in Central-Asien 1.
17. 33. 49. Die Reise Carey's in
Rußland. Schulen bei den Tschcre-
missen 47. Heinrichson's Reise nach
Nownjn Semlja 47. Geographische Pro-
fessuren 95. Die alten Handelswege
zwischen dem Schwarzen Meere und der
Ostsee 111. Baron Bode's Tod 176.
Auftreten der Nebelkrähe in den finischen
Schären 239. Juden in St. Petersburg
301. Expeditionen nach der Halbinsel
Kola, dem Ural und der Petschora 301.
319. 383. Ethnopraphische Erhebung 319.
Wolter's lithauische Forschungen 319. Das
neue Testament in kalmykischer Sprache
319. Die Expedition nach Nowaja
Semlja 319. Anzahl der Klöster 383.
Kusnezow's Expedition in den Ural
383.
Central-Asien 31. 143. Russische Kara-
wane nach Lan-tschsu-su 48. Potanin's
Sammlungen 48. Eisenbahnbau 112.
Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der
Provinz Sz'-tshwan. Von Prof. L. von
Loczy 129. Handelsvertrag mit Frank-
reich 160. Die Umgebung von Hsi-ning-
fu in der chinesischen Provinz Kansu.
Von Prof. L. von Loczy 161. Gromb-
tschewski's Reise in Chinesisch -Turkestan
240. James' Reise in der Mandschurei
254. Bobyr's Expedition nach der Mon-
golei 302. Die bevorstehende Eröffnung
des oberen Jang-tze-kiang 319.
Korea. Kapitän Jakobsen's Besuch bei
den Koreanern. Von Otto Genest
53. 71.
Japan. Dampferverbindung mit Canada
31. Eisenbahnen 191. Anzahl der Frem-
den 191. Der japanische Handel und
die canadische Pacificbahn 254.
Niederländisch-Jndien. Hexenproceß
auf Ceram 3l. Einiges über Amok und
Mataglap. Von Emil Metzger 107.
119. Mitthcilungen über den Toba-See
auf Sumatra 141. Der Sultan von
Sambas 143. Budget 383. Regenmenge
384. Topographische Aufnahmen 384.
Afrika.
rische Forschungen Collignon's in Süd-
tunesien 32. Cagnat's und Saladin's
Reisen in Tunesien 65. 81. 97. 113.
Schnelle Verbindung zwischen Alger und
Marseille 191.
Sudan. G. A. Krause's Vorstoß gegen
Timbuktu 64. Skizzen aus dem Haussa-
land. Von Ernst Hartert 334. 349.
Aegypten und Nilgebiet. Trocken-
legung des Abukir-Sees 32. Cameron
über die Bewohner der Umgegend von
Sunkin 32. Nachrichten von Lupton
Jnhaltsverzeichniß.
VI
uttb Slatin 96. Einwanderung der See-
thiere in den Suez-Kanal 192. Nach-
richten von Emin-Pascha 255.
Abessinien. Russische Kosaken in Abes-
sinien 46. .
Ost afri ka. Todesfälle in der Expedition
der deutsch -ostafrikanischen Gesellschaft
143. H. Meyer's Expedition nach dem
Kilimandscharo 143. Last's Reife zum
Namuli-Gebirge 191. Todesfälle in
Zanzibar 255. Abmachungen über die
zanzibarifche Küste 271. Hans Meyer's
Besteigung des Kilimandscharo 271. 288.
Obock 273. Richard Böhm's Reise-
briefe 367. Die Wanjamwesi 367.
Inneres (Congo-Staat). Dupont's
geologische Erforschung des unteren
Congo 16. Befahrung des Lopori durch
van Gole 96. Die Stanley'sche Expe-
dition nach Wadelai 112. 144. 224.
255. 368. Die Araber an den Stanley-
Fällen des Congo. Bon Oscar Bau-
Erforschung der noch unbekannten Theile 384.
We st a usi rali en. Vernichtung einer
Perlfischer-Flotille 48. Davies' Expedition
128.
mann 145. Neue Kämpfe am un-
teren Congo 143. Wißmann's Ankunft
am Tanganika-See 143. Comber's Tod
143. Neue Münzen für den Congo-
Staat 191. Chavanne's Abschreibereien
240. Zustände an den Stanley-Fällen
255. Ban Gale's Reife nach dem Uälle
255. 303. Pechuöl-Loesche's Congoland
302. Ban de Velde's Expedition nach
dem Osten 320.
Westen (südlich vom Aequator). Am
Ogowe. Von Dr. Pauli 42. 55. Namen-
gebungen in Deutsch-Südwest-Afrika
302.
Westen (nördlich vom Aequator). Die
ehelichen Verhältnisse in Kamerun 63.
Badibu am Gambia von Frankreich be-
setzt 64. Vergrößerung der französischen
Besitzungen am Senegal 64. DieKund'-
schc Station in Kamerun 144. Zur
Kenntniß der Wai-Neger. Von Oscar
Baumann 238. Plantagenbau in
K u jt r a l i e n.
Südaustralien. Statistisches 32. Edel-
steinfunde 303. Lindsay's Expedition
303.
Queensland. Chinesen 303.
Kamerun 240. Zintgraff und Zeuner
nach Kamerun 271. Ein französisches
Kanonenboot in Timbuktu 303. Skizzen
aus den: Haussaland. Von E rn st H a r -
tert 334. 349.
Inseln. Die Kolonisationsversuche in
Madagaskar. Von Dr. C. Keller 75.
87. Zur physischen Geographie der Ka-
narischen Inseln. Von Dr. W. Bier-
mann 177. Pont« Delgada auf San
Miguel (Azoren). Von Dr. H. Sinc-
ro th-183: 198. Ausflüge nach der
Westhälfte von S. Miguel (Azoren). Von
Dr. H. Simroth 236. 245. Aus-
flüge nach Furnas und der Lagoa de
Fogo (Azoren). Von Dr. H. Simroth
261. 278. Eine Azorenfahrt von Insel
zu Insel. Von Dr. H. Simroth 294.
311. Keller's Buch über Madagaskar
320. Die Bevölkerung der Azoren. Von
Dr. H. Simroth 330. 343. 358.
375.
Neu-Süd-Wal es. Ankunft Mit lucho
Maklay's 96. Ausfuhr von Südfrüchten
nach England 128.
Inseln des Stillen Hceans.
Neu-Guinea. Entdeckung zweier Flüsse
im englischen Gebiete 48. Australische
Expedition nach Neu-Guinca 94. Plan-
tagenbau im deutschen Gebiete 128.
Bevan's Forschungsreise in Britisch-
Neu-Guinea 175. Die politische Stellung i
von Britisch-Neu-Guinea 208. Zweite j
Befahrung des Kaiserin-Augusta-Flusses
224. Neue Forschungsreisen in Britisch-
Neu-Guinea 271. Fortschritte in Kaiser-
Wilhelmsland 304.
S o n st i g e europäische Kolonien.
Statistisches über die Fidschi-Inseln 48.
Die Schweden-Inseln im Stillen Ocean
111. Haast's Tod 191. Die Neuen
Hebriden von Frankreich geräumt 336.
Die Inseln unter dem Winde franzö-
sisch 336.
Die übrigen Inseln. Pros. Dana auf
Hawaii 191.
Br itisch-Norda meri ta. Die kanadische
Pacificbahn und der japanische Handel
254. Erläuterungen zu Abbildungen
von Schnitzereien von der Nordwestküste.
Volt F. Boas 368.
Vereinigte Staaten und Alaska.
Die Einwanderung von 1886 in New-
York 16. Das Aufblühen von San
Diego iit Süd - Californien 78. Die
Colombia. Sievers'Reise in der Sierra
Nevada de Santa Marta 28.
Venezuela. Zur Kenntniß Venezuelas.
Von Dr. W. Sievers 134. 149. 169.
Brasilien. Steams' Studien über die
Botocuden 144.
Die Lady Franklin
Nordamerika.
Landesaufnahme der Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika 127. Der Tskan-
Vogel. Von Albert S. Gatschet 137.
Eine Grammatik der Delawaren-Sprache
191. Der Schlangen-Mound in Ohio
191. Heilpriu's Forschungen in Florida
191. Submarine Thäler an der Küste
von Californien 272. Die Lage des Lick
Südamerika.
Bolivia. Die Mazamorra in Bolivien.
Von Chr. Ausser 62. Das Chilin-
chili-Fest der Aymara. Von Chr.
Ausser 123. Die bolivianische Provinz
Pungas. Von Chr. Nuss er 265. 282.
Paraguay. De Brettes' Arbeiten 272.
K o tn r g e b i e t e.
-Bai-Expedition 159. Die australische Süd
Observatory 272. Dawson's Erforschung
des Yukon-Gebietes 320.
Mexiko. Charnay über Jzamal 192.
Düstre Charnay's jüngste Expedition
nach Yucatan 193. 209. 225. 241. 257.
Thomson's Forschungen in Labna 272.
Inseln. Die Bewohner von Green Turtle
Key 384.
Argentina. Brackebusch' Reise in den
Kordilleren 128. Meteorologische Statio-
nen im Staate Cordoba 272.
Ch ile. Ausbruch des Vulkans Llainia 240.
Die Wasserscheide beim Rio Patena 255.
Peru. Paz Soldan's Tod 144.
-Expedition 255.
vermischte Kufsätze und Mittheilungen.
A n t h r o p o l o g i s ch e s. Ploß, Das Weib
in der Natur- und Völkerkunde 192.
Ethnologische s/Pvlyandrie und Poly-
gamie. Von Dr. Emil Jung 90. 103.
^Wic malen sich die Naturvölker den An-
^ sang und das Ende der Menschen aus?256.
V e r mischte s. Zimmerabkühlung in
den Tropen 144. Einwanderung der
Seethiere in den Suez-Kanal 192.
Jnhaltsverzeichmß.
VII
Vom Büchertischc.
W. Sievers, Reise in der Sierra Nevada
^ de Santa Maria 28.
I. Be loch, Die Bevölkerung der griechisch-
römischen Welt 30.
0. Hübner's statistische Tasel 32.
F. von Hellwald, Frankreich. Das Land
und seine Leute 47.
Grandhomme, Der Kreis Höchst a. M.
95.
Devas, Studien über das Familienleben
96.
Greely, Drei Jahre im hohen Norden
159.
Ebers-Gut he, Palästina in Wort und
Bild 160. 367.
Piö, Zur rumänisch-ungarischen Streitsrage
175.
Europäische Wanderbilder 190.
Ploß, Das Weib in der Natur- und
Völkerkunde 192. 304.
R. Bergner, Rumänien 223.
1. Perthes' Specialkarte von Afrika
240. 367.
Bo lau, Der Elephant in Krieg und
Frieden 255.
Treutlein, Dr. Ed. Schnitzer 255.
M. Neumayr, Erdgeschichte 256.
Struve, Landkarten, ihre Herstellung rc.
256.
Pcchuel-Loesche, Congoland 302.
F. von Hellwald, Jllustrirte Kulturge-
schichte 304.
Physikalisch-statistischer Handatlas von
Oesterreich-Ungarn 318.
Keller, Reisebilder aus Ostasrika und
Madagaskar 320.
Meyer's Türkei und Griechenland 367.
F. Hirt's Geographische Bildertafeln 367.
Asie n.
(Prshewalski's Reise in Centralasicn.)
Mongolen von Tzaidam. Der Führer
Tan-to 2.
Salzsümpfe in Tzaidam 3.
Charmyk- und Tamarisken-Hügel 4.
Der Bajan-gol 4.
Chyrma Dsun-sasak 5.
Das Burchan-Budda- Gebirge und der
Nomochun-gol 6.
Kamby-lama. Der Tossalaktschi. Prinz
Dsun-sasak und Gefolge 7.
Die pflanzenfressenden Säugcthiere im
Thalc des Schuga-gol 18.
Tamariskenstrauch (Bumarix Pallasii) 19.
Eiu Jegräer 20.
Flucht der Jegräer 20.
Obo auf dem Gipfel des Berges Bumsa 22.
Das Innere eines tibetischen Zeltes 34.
Tibetisches Lager 35.
Vergiftete Geier 35.
Der Gesandte des Dalai-Lama und seine
Begleiter 38.
Lager der Karawane am Tan-la 50.
Weißbrüstiger Argali (Ovisllodgsoni?) 51.
Ein Obo aus dem Tanla-Paß 51.
Orongo-Antilopen 52.
Chara-Tanguten anr Kuku-Ror 63.
Männer und Frauen der Dalden 54.
Kaukasien (Baku).
Berittener Wasserverkäuser 8.
Der Gouverneur-Palast mit dem Michael-
garten und der Thurm des jungen
Mädchens in Baku 9.
Mitarbeite r.
O. Baumann 145. 238.
W. Biermann 177.
Franz Boas 368.
A. Gatschet 137.
Otto Genest 11. 58. 71. 152. 171. 205.
220. 378.
H. Greffrath 128.
Ernst Hartert 334. 349.
O. Heyselder 382.
Emil Jung 90. 103.
C. Keller 75. 167.
Heinrich Kiepert 186. 202. 214. 230.
K. Lechner 327. 346. 361.
L. von Loczy 129. 161.
Emil Metzger 107. 119.
Chr. Nusser 62. 123. 265. 282.
Pauli 42. 55.
K. Penka 140.
W. Sievers 134. 149. 169.
H. Simroth 183. 198. 236. 238. 245.
261. 278. 294. 311. 330. 343. 358. 375.
Todesfälle u n d Nekrologe.
de Bode 176. Boussingault 30. G. Bove
176. Lady Brassey 301. Comber 143.
I. von Haast 191. Koner 270. Pansch
175. Passavant 288. Paz Soldan 144.
Poläkow 47. von Quast 352.
Verzcichniß von Autoren,
Reisenden u. s. w.
Gras Anrep-Elmpt 95. Aspelin 301. 319.
Barttelot 224. Bergner 224. 240. Bevan
175. Bobyr 302. Böhm 367. de Boi-
viers 272. Boläu 255. Bonvalot 63.
Zllustrati 0 ne
Lände in Baku mit tatarischen Wäsche-
rinnen 9.
Das Thor der Chane in Alt-Baku 10.
Ansicht von Balachani und eines Naphta-
sees 24.
Die große Fontaine Nobel 25.
Tatarische Arba 39.
Tempel der Feueranbeter bei Baku 40.
Der Bahnhof von Baku 41.
C h i n a.
Achteckige Sternthürme in der Landschaft
Ta-tsien-lu 129.
Tibetanisches Hans in der Umgebung von
Ta-tsien-lu 130.
Das, Tsche-to-san-Gebirge bei Ta-tsien-lu
mit Opserflaggen im Vordergründe 131.
Das Gambu-Gebirge zwischen Litang und
Batang 132.
Gletscher zweiten Ranges alte Endmoräne
und Findlinge im Gambu-Gebirge 133.
Die große Mauer mit ihrem Laufgraben
in Kan-su 162.
Wachtthürme an der Heerstraße in Kan-su
163.
Haupttempel des Lamaklosters Tschobsen-
gomba in Kan-su 164.
Blick aus den Kuku-Nor von Osten 167.
Feuerstelle der Nomaden in den Steppen
von Kuku-Nor 168.
Kleinasien.
Drei Steinplatten mit cingchauencn Werk-
zeugen rc. 218.
Brackebusch 128. Lord Brassey 112.
de Brettes 272. Buchner 63. Cameron
32. Capus 63. Carey 31. 143. Cha-
vanne 240. Charnay 192. Collignon
32. Cuthbertson 94. 272. Dana 191.
Davies 128. Dawson 320. Dernschwam
366. Devas 96. Diunik 301. Döring
272. Douls 64. Dupont 16. Emin-
Pascha 144. 255. 271. Fulford 254.
Gallicni 64. Galton 144. van Gèle
96. 255. 303. Gillmann 271. Glaser
143. Grigorjew 319. Grombtschewski
240. Grum - Grshimailo 319. Hagen
141. Harding 271. Heilprin 191.
Heim 93. Heinrichson 47. von Hellwald
304. Herzenstein 383. Hollrung 304.
Hunter 271. Jakobsen 11. 58. 71.
152. 171. 205. 220. 376. James 254.
Jelissejew 27. Jones 302. Keller
320. Kilmann 301. Konschin 271.
Krause 64. Kund 144. Kusnezow 301.
383. Last 191. Liudsay 303. Little
319. Lupton Bey 96. Makarow 302.
von Martens 192. Mc Carthy 176.
Hans Meyer 143.271.288. Oberstlieut.
Meyer 142. Miklncho Maklay 96.
Müller-Frauenstein 255. Neumayr 255.
Palmen 301. 319. Pavie 254. Pcchuel-
Loesche 302. Philippi 240. Ploß 192.
304. Posdnejew 319. Ratzel 304.
Renaud 254. Sayer 272. Schneider
304. von Schleinitz 304. Schräder 224.
Sievers 28. Slatin Bey 96. Stanley
112. 144. 224. 265. 368. Steains 144.
Struve 255. Thomson 272. Topinard
270. Ujsalvy 94. van de Velde 320.
Verbeek 141. Wilkizki 319. Wißmann
143. Wolter 319. Pounghusband 254.
Zeisberger 191. Zeuner 271. Zintgrass
271.
Persien.
(Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.)
Mimose bei Bender Abbas 290.
Palast des Scheich Aissa in Bahrein 291.
Bazar in Bahrein 292.
Haus der Dieulasoy'schen Expedition in
Buschir 293.
User des Karun bei Mohammerah 306.
Heiligengrab Nelzan bei Schuster 306.
Frauen von Schuster 307.
Stute aus dem Hedschaz 308.
Der Unterstatthalter von Dizsül 309.
Das Grab Daniel's und die Burg von
Susa 310.
Verfallenes Heiligengrab bei Susa 310.
Die Citadelle von Susa und die Westccke
des Tumulus Nr. 2, von den Zelten der
Expedition aus gesehen 323.
Arabischer Reiter mit seinen Kindern 324.
Schluchten in den Seiten eines Tumulus
von Susa 325.
Karpfen aus dem Schawur 326.
Stiersragmente 338.
Stierkops 339.
Lurische Arbeiter beim Ausgraben 340.
Knabe aus Dizsul 341.
Arabische Tänzer 342.
Araberin mit einem Schilsbündel 354.
Araberin vom Stamme des Scheich Ali
355.
Kerim Chan's Zelt 356.
Der Baum der Ebene 357.
Stück eines cmaillirten Frieses 358.
Löwensrics 356.
Kelek außerhalb des Wassers 370.
Kelek auf dem Wasser 371.
VIII
Inhaltsverzeichnis
Uebergang über die Kercha 371.
Der Hör 372.
Wachthaus in Basra 373.
Schatt-el-Arab-Straße in Basra 374.
Afrika.
Tunesien.
Auf dem Wege nach Haidra 66.
Gesammtnnsicht von Haidra, von Osten aus
gesehen 66.
Triumphbogen des Septimius Severus in
Haidra 67.
Grabsteine aus der Nekrepole von Haidra 68.
Römisches Mausoleum in Haidra 68.
Ausstieg zur Kalaa es-Senan 70.
Der Zollbeamte von Haidra 81.
Theater in Medeina 82.
Triumphbogen in Medeina 83.
Araber bringen den Reisenden Kuskus 84.
Reitertanz in Medeina 85.
Araberin von Ksur 86.
Pyramidenförmiges Grabmal in Makler 98.
Der Trajansbogen in Makler 98.
Triumphbogen in Hammam - Zuakra 100.
Dolmen bei el-Lehs 101.
Klagegeschrei 101.
Gesamuitansicht von el-Kes 102.
Antikes Botivlnld in Kes 114.
Platz und Brunnen in Kes 415.
Moschee und Zauja des Sidi bu-Maklus
in Kes 116.
Kasbah von Kes 117.
Hos eines jüdischen Hauses in Kes 118.
Mausoleum im Henschir Gergur 119.
Congo.
Der siebente Katarakt der Stanley-Fälle
145.
Rsaki's Dorf an den Stanley-Fallen 146.
Arabische Niederlassung an den Stanley-
Fällen des Congo 146.
Eingeborener vom Stamme der Wagenin
147.
Boot der Wagenia mit Blätterdach 148.
Boot der Wagenia, von oben gesehen 148.
Ruder der Wagenia, von mehr als Mannes-
länge 148.
Tenerife.
Felsen am Jnfierno 178.
Ein Theil des Lavastromes am Lazareth
westlich vom Puerto de Orotava 179.
Barranco de Martianez 180.
Los Roques de Taganana 181.
Bolcan de Guimar 182.
Azoren.
Ponta Delgada, die Hauptstadt von San
Miguel 184.
Bauern von San Miguel 185.
.Ochsenkarren 200.
Esel, mit Maisstroh bepackt 246.
S et e Eit ad es 247.
Basaltische Lava mit Kanälen und Brücken
am Westende von S. Miguel, am Fuße
des Pico das Camarinhas 248.
Theil einer Tusfwand mit Regenrissen 262.
Thermen von Furnas 263.
Lavaklippen an der Küste von Graciosa
312 313.
Velas aus S. Jorge 314.
Criado von San Miguel 344.
Mädchen, Wasser holend 344.
Frauenmantel von Fayal 375.
Theatro 376.
Obock.
Danakil- Gruppe 274. ^
Ansicht von Obock 275.
Frauen von Obock 276.
Danakil-Familie in Obock 277.
Silberschmuck der Haussa in natürlicher
Größe 336.
Nordamerika.
Pucatan.
Die Hacienda Mucuiche 194.
Ein Rinder-Corral in Mucuiche 195.
Götzenbild aus den Ruinen von Nohpat
196.
Die Pyramide Kab-ul bei Jzamal 197.
Basrelief von der Pyramide Kab-ul 198.
Charnay's Reconstruction des Tempels
Kab-ul in Jzamal 210.
Eine Vorstadt von Valladolid 211.
Cenote von Uaima 212.
Das Kloster Sisal in Valladolid 213.
Die Kapelle La Candelaria in Valladolid
214.
Das Stadthaus in Valladolid 226.
Cenote von Valladolid 227.
Aniceto Zul und General Cantón 228.
Kleiner Tempel in Ek-Balam 229.
Ruinen des Palastes der Nonnen in Ek-
Balam 229.
Eine Milpa oder yucatekischcs Ackerfeld 230.
Tempel in Tuloom 242.
Fruchthändlerin in Campeche 243.
Charnay's Wohnung in Jaina 244.
Panorama von Jaina 258.
Strand von Jaina 258.
Verschiedene auf Jaina gefundene Gegen-
stände 259.
Teller aus Gräbern der Insel Jaina 260.
Fischerstation aus Isla de Piedras 260.
Karten u« b Plane.
Grundriß eines koreanischen Gehöftes 73.
Rohrbrunnen bei Boz-öjük 217.
Plan der Moschee von Ewlen-Tschelebi 232.
Vorläufiger Plan der Tumuli von L-usa 322.
besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Kart Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
v i-. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
IV. '}
Mit beut Namen Tzaidam wird ein Gebiet bezeichnet, I
welches die erste Terrasse der tibetischen Vorberge darstellt;
dasselbe liegt nicht weit westlich vom Kuku-Nor. Im Norden
wird es von den Bergen des Nan- schau und Altyn-tag
begrenzt, im Süden bilden die gewaltigen vom Burchan- i
bndda nach Westen sich hinziehenden Gebirgsmassen die
Grenze; die westlichen Grenzen sind unbekannt, im Osten
aber erheben sich Berge, welche als die westlichen Ausläufer
der Gebirge am Ursprung des Hwang-Ho angesehen werden.
Die Ausdehnung des Gebietes von Tzaidam beträgt in der
Richtung von Osten nach Westen etwa 800 Werst (Kilom.);
die Breite dagegen, welche im Osten nur etwa 100 Werst
mißt, wird in der Mitte sehr beträchtlich; die Erhebung Uber
die Meercsfläche beläuft sich auf etwa 9000 bis 11000 Fuß
(2700 bis 3300 na). Man kann das ganze Tzaidam in
zwei scharf von einander geschiedene Theile zerlegen: den süd-
lichen, welchen die Mongolen insonderheit Tzaidam nennen,
und welcher unzweifelhaft einst der Boden eines weit aus-
gedehnten Salzfees war, ist eben, reich an Salzmorästcn
und Sümpfen und bedeckt mit Salzgewächsen; der nörd-
liche Theil ist höher gelegen, bergig, mit unfruchtbarem
sandigem Boden und wird hier und da von Salzmorästen
und kleinen Bergketten durchzogen.
Tzaidam ist — abgesehen von wenigen den östlichen
Theil bewohnenden Tanguten — von Mongolen bevölkert,
Fortsetzung von S. 296 des vorigen Bandes.
Globus LU. Nr. l.
welche gleich den Bewohnern von Kuku-Nor zu den Oljuten
gehören, die ihren eigentlichen Typus vielfach verloren haben.
Man stößt oft auf Mischlingsformen zwischen Tanguten
und Mongolen, und ebenso oft auf chinesische Physiognomien.
Ueber den Charakter und die moralischen Eigenschaften
der Tzaidam-Mongolen läßt sich wenig Gutes sagen. Sie
sind faul und apathisch wie alle ihre Mitbrüder, daneben
sind sie große Spitzbuben und Betrüger, vor allen diejenigen,
welche sich in häufiger Berührung mit Tanguten und
Chinesen befunden haben. Hier wie in anderen Grenzgegcn-
den der Mongolei zeigt sich der fremde Einfluß auf die
Notnaden vor allem darin, daß sie moralisch verdorben
werden. Die Tzaidam-Mongolen stehen in geistiger Be-
ziehung noch niedriger als die Chalcha - Mongolen, obgleich
auch diese letzteren schon sehr gleichgültig sind gegen Alles,
was nicht ihr tägliches Leben betrifft.
Zur Kleidung gebrauchen die Tzaidam-Mongolen ge-
wöhnlich ihre eigenen gewirkten Filze. Sie fertigen sich
daraus lange schlafrockähnliche Gewänder, welche in gleicher
Weise von Männern wie Frauen getragen werden. Leib-
wäsche, wie Hemden und Unterkleider, ist nicht im Gebrauch;
der Körper selbst wird nie gewaschen und die Tzaidam-
Mongolen sind daher äußerst schmutzig. Hosen aus Schaf-
fellen werden nur Winters getragen, ebenso Schafpelze.
Im Winter bedecken sie den Kopf mit einer Mütze aus
Schaffell, im Sommer mit einem rothen turbanartig zu-
sammengelegten Tuche. An den Füßen tragen sie chinesische
1
2
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
<Stiefet {ober eigenfabricirte, welche sie Gut ulen nennen.
Die Kleidung der Frauen unterscheidet sich im Allgemeinen
nicht von derjenigen der Männer; bei Männern wie bei
Frauen herrscht die den Tanguten entlehnte Sitte, den Pelz
oder das Gewand von der rechten Schulter herabzulassen,
so daß der rechte Arm und ein Theil der Brust entblößt ist.
Es geschieht das nicht nur zu Hause, sondern auch unterwegs,
wenn die Kalte nicht zu groß ist; in Anwesenheit einer
älteren Person oder im Gespräche mit einer solchen ist jene
Freiheit aber nicht gestattet.
Die Tzaidam-Mongolen beschäftigen sich mit der Vieh-
zucht und besitzen Schafe, Rindvieh, Pferde, mitunter auch
Jaks und Kameele, doch sind die Kameele klein und schwach,
da das Klima und die Lokalität ihnen nicht zuträglich ist;
auch die Pferde sind klein und häßlich. Alle Heerden
werden Sommers, um der Hitze und den Insekten zu ent-
gehen, in die Gebirge getrieben. — Wegen der bedeutenden
Entfernung Tzaidams von dem kultivirten Theile Chinas
und wegen der dadurch bedingten Schwierigkeit, sich jederzeit
Getreide zu beschaffen, haben die Tzaidam-Mongolen an-
gefangen, selbst Ackerbau zu treiben; am See Kurlyk-Nor
und am Flusse Nomochun-gol konnte sich Prfhewalski
selbst von der Existenz der Getreidefelder überzeugen. Die
Art der Bearbeitung ist sehr klüglich, denn der Ackerbau ist
den Mongolen, wie allen Nomaden, nicht genehm.
In administrativer Beziehung ist Tzaidam dem Wan
von Kuku-Nor untergeordnet; Tzaidam wird in fünf Cho-
schune getheilt: Kurlyk-beisse und Kuku-b eile im Norden,
Mongolen von Tzaidam.
Barun-safsak im Osten, Dsun-sassak im Süden,
Taidfhiner-choschun im Westen. Ueber die Anzahl der
Bewohner Tzaidams konnte Prfhewalski nichts Sicheres
ermitteln: nach einigen Angaben sollen es im Ganzen etwa
1000 Jurten sein, nach anderen etwa 2000 *).
Die Tzaidam-Mongolen leben nicht ruhig. Fast alljährlich
werden sie in einem oder dem anderen Choschun von den
CHaratanguten oder den Golyken, einem tangutischen
Stamme am Flusse Murssu in Nordtibet, überfallen.
Diese Räuber werden unter dem allgemeinen Namen
Orongyn zusammengefaßt. Zum Schutze gegen sie haben
Etwa fünf Menschen auf eine Jurte gerechnet, giebt das
5000 bis 10 000 Individuen.
Der Führer Tan-to.
die Tzaidam-Mongolen in jedem Choschun einen Platz mit
einer Lehmmauer umgeben; eine solche äußerst primitive
Befestigung bezeichnen sie mit dem Namen Chyrma,
d. h. als Festung. Hier werden Nahrungsmittel und
Vorräthe aufbewahrt nlid bei einem drohenden Ueberfall die
Viehhcerden zusammengetrieben. Hier wohnen jederzeit
20 bis 30 mit Säbeln, Lanzen und bisweilen mit Lunten-
flinten bewaffnete Mongolen. Da die Mauern einer Chyrma
etwa 3Sashen (6,3 m) hoch und jede Seite des Quadrates
etwa 30 Sachen (60 m) hoch ist, so ist der Platz für die
Tanguten uneinnehmbar.
Freilich können nicht alle Bewohner in der Chyrma
Schutz finden; solche, welche entlegen wohnen, schützen sich
in anderer Weise, sie graben ihre Vorräthe ein und flüchten
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
sich und ihr Vieh in die Tamarisken- und Charmyk-Gebüfche.
Aber die Räuber finden solche Verstecke bald, und Widerstand
wird nicht geleistet. Wie sollten sie auch — die Armen
müssen nämlich für scden getödteten Räuber der Familie
desselben eine bedeutende Strafe entrichten. So hat es der
Amban von Sinin (der chinesische Gouverneur) bestimmt,
der selbstverständlich einen Theil der Beute erhält.
Die Bewohner der Ebene Syrtyn bewiesen sich im
Allgemeinen recht liebenswürdig gegen Prshewalski und
lieferten gegen Bezahlung Milch, Butter und Schafe. Ein
Führer fand sich auch, doch wagte er nicht, die Reisenden
auf geradem Wege nach Tibet zu geleiten, sondern es sollte
uur auf einem llmwege über den Sitz des Fürsten von
Knrlyk geschehen.
Am 13. August wurde die Weiterreise angetreten. Der
neue Führer Tanto (s. die erste Abbildung) war ein sehr
brauchbarer und in gewissem Sinne civilisirter Mongole;
er wusch sich täglich, reinigte seine Zähne und trug seine
Kleider ordentlich, dabei war er dienstfertig und gutmüthig.
Als er später abgelohnt wurde, beschenkte man ihn ent-
sprechend seinen Neigungen mit Seife, Schecre, Perlen und
ähnlichen Kleinigkeiten.
Der Marsch ging nach Osten, dann nach Süd-Osten
durch eine ebene Wüste und sehr wasserarme Gegend; an
einem Tage wurde eine Strecke von 65 Werst zurückgelegt,
ohne daß man auf Wasser traf. Der Boden war kahl,
lehmig, und hier und da mit kleinen Kieselsteinen bedeckt.
Man durchwanderte die Ebene von Syrtyn, überschritt einen
12 400 Fuß (3780 m) hohen Paß, setzte über den Flnß
Oregyn-gol, weiter über den Fluß Boshin-gol und
gelangte zu einem großen Salzsee Jchc-tzaidamin-Nor
(d. h. der große See von Tzaidam). Derselbe liegt 10800 Fuß
(3240 m) hoch und hat einen Umfang von etwa 35 Werst
(Kilon:.). Nicht weit davon befindet sich noch ein zweiter
kleinerer Salzsee, Baga-tzaidamin-Nor, 10 500 Fuß
(3150 m) über dem Meeresspiegel gelegen, an welchem die
Expedition gleichfalls vorübermarschirte. Auf der Strecke
zwischen den beiden Seen ragte im Osten das Ende des
Salzsümpfe in Tzaidam.
gewaltigen Ritter -Gebirges, auch hier noch 16 0 Futz
(4800 m) hoch, empor. Nachdem der Baga-tzcndamm-No:
passtrt war, wurde eine völlig östliche Marschrichtung em-
geschlagen, um zu dem Standquartier des Fürsten von Kur y
am gleichnamigen See zu gelangen. Am User eines rlemen
von Westen in den Kurlyk-Nor einmündenden Flüßchens
Balgyn-gol wurde Halt gemacht; hier gab cs eine große
Seltenheit: bebaute Ackerfelder in einer Ausdehnung von
etwa 50 Desssätincn (Hektar). Das Wasser dazu wm
mittelst Kanälen aus dem Balgyn-gol herzu geleitet.
Die Gegend am Balgyn-gol ist sehr reich an Char-
myk (Nitraria Schoben), einen:Strauche ans der Fammc
ber Faulbäume (U-hamireae), welcher über ganz Central-
asicn vom Kaspischen Meere bis nach China verbreitet :st.
(4.och kommt der Strauch auch im südlichen Rußland und
in Australien vor.) In Tibet wächst der Charmyk nicht,
ebenso nicht am unteren Tarim und am Lob-Nor. Sein
eigentliches Reich sind die weit ausgedehnten Salzmoräste
des südlichen Tzaidam; doch kommt er ebenfalls sehr reichlich
vor in Alaschan, Ordos und in der mittleren Gobi; je
weiter nach Norden, um so spärlicher wird er: höher als
über 47" nördl. Br. geht er in der Gobi nicht hinaus.
Der Charmyk wächst ans feuchtem, lehmig-salzigem Boden,
häufiger vereinzelt als in dichten Büschen; er ist 2 bis
3 Fuß (0,60 bis 0,90 m) hoch, verkrümmt und dicht belaubt,
in Tzaidam und im Thalc des oberen Hwang-Ho erreicht er
mitunter eine Höhe von 5 bis 7 Fuß (1,5 bis 2,10 m)
und sieht dann stattlicher aus. Er blüht gewöhnlich in:
Mai, die kleinen weißen Blüthen stehen in Trauben dicht
bei einander. Ebenso zahlreich sind auch später die Beeren,
welche Ende August oder Anfang September reis werden,
aber lange am Strauche hängen bleiben. Die Farbe der
Beeren, welche in Gestalt und Färbung etwa an die
schwarzen Johannisbeeren erinnern, ist - dunkelroth bis
schwarz; ihr Geschmack süßsalzig, doch ist der Salzgehalt
je nach der Lokalität, wo der Strauch gestanden, sehr
wechselnd. Die Bewohner Tzaidams benutzen die sehr
saftigen Beeren als Zusatz zu ihrer Speise; sie sammeln
dieselben im Herbst und kochen sie. Man mischt sie mit
Dsamba und kocht sie; auch trinkt man eine süß-salzige
1*
4
Prsheìvo.lski's dritte Reise in Central-Asien
Abkochung derselben. Auch die Kameele lieben die Beeren
des Charmyk, nicht minder die anderen Säugethiere, wie
Wölfe, Füchse, Bären und ebenso die Vögel und Eidechsen.
Die Bären wandern sogar im Herbst aus Tibet in das
südliche Tzaidam und verbringen hier einen oder zwei Monate,
um sich dem Genuß der Charmykbeeren hinzugeben.
Ein anderer ebenso reichlich im südlichen Tzaidam vor-
kommender und für Centralasien charakteristischer Strauch
Charmyk- und Tamarisken - Hügel.
ist die Tamariske, von den Mongolen Suchai-moto
genannt. Am häufigsten kommt unter allen Arten Tamarix
Pallasii (Abbildung derselben siehe in der folgenden Nummer)
vor. Sie gedeiht auf lehmigem Lößboden, doch aus nicht
so salzigem und feuchtem als der Charmyk, und ist ein
stattlicher Strauch von 5 bis 7 Fuß (1,5 bis 2,1 m), ja
Der Bajan - gol.
mitunter bis 10 Fuß (3 na) Höhe. In Tzaidam und im
Thäte des oberen Hwang-ho erreicht sie sogar eine Höhe
von 20 Fuß (6 m); an der Wurzel hat der Stamnl eine
Dicke von 1 bis l^/z Fuß (0,30 bis 0,45 na). Die hell-
grünen Blätter und die rosigen Blüthen im Juni gewähren
einen sehr angenehmen Anblick. Der Stamm selbst giebt
ein sehr gutes Heizmaterial ab und die Blätter werden
von den Kameelen sehr gern gefressen. Die Tamariske
wächst einzeln oder an sehr günstigen Plätzen auch in
; Büschen. Dort, wo der Boden ans lockerem Lößc und Lehm
besteht, treibt der Wind den Boden in die Höhe und be-
j deckt damit einzelne benachbarte Sträucher. Dadurch wird
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
5
allmählich an der Stelle, wo die Tamariske steht, der Boden
erhöht und cs bilden sich hier beträchtliche Hügel, auf :
welchen dann die folgenden Geschlechter der Tamarisken sich
festsetzen. Aehnlichc Hügel werden bisweilen auch durch
die Charmykbüsche gebildet, sie sind mitunter am unteren
^arim, in Ordos, Alaschan und in Tzaidam sehr zahl-
reich.
Am Balgyn-gol kam der Karawane der Fürst von
Knrlyk, cm Beisse, d. h. ein Fürst fünften Ranges, ent-
gegen, um zu vermeiden, daß man ihn in seinem Lager
aufsuchte. Er verweigerte anfangs mit Entschiedenheit
einen Führer, doch als Prshewalski, statt freundlich gegen
u)n zu sein, ihn recht grob behandelte und ihn schließlich
Mts dem Zelte sagte, zeigte er sich willfähriger und williger
darin, wenigstens bis zum nächsten Fürsten, bis Dsun-
sasak, einen Wegweiser zu geben. Ferner ließ er sich be-
wegen, eine Reihe sehr nothwendiger Gegenstände, Schafe,
gedörrtes Mehl, und vor Allem eine Filzjurte zn ver-
kaufen.
Der Führer war freilich fast als Idiot zu bezeichnen,
allein nichts desto weniger geleitete er die Expedition am
Kurlyk-Nor und am Toso-Nor vorbei in südlicher Rich-
tung durch eine fast wasserlosc Gegend bis an den Flnß
Bajan-gol.
Vorher wurde der Fluß Bulnngir (d. h. der Trübe) über-
schritten ; er kommt aus einem Sumpfe Jrgitzyk und strömt
in den Bajan-gol. An der Stelle, wo der Bulnngir
passirt wurde, hat er eine Breite von 3 bis 4 Sashen
(6,3 bis 8,4 m) und ist 1 Fuß (0,30 m) tief: seine Ufer
sind gänzlich frei von Pflanzenwuchs. Um so erfreulicher
war der Anblick des Bajan-gol, des schönsten und größten
Flusses in ganz Tzaidam, mit seinem verhältnißmäßig
üppigen Pflanzcnwnchse. Der Bajan-gol (d. h. reiche
Fluß) entspringt nach den Aussagen der Mongolen aus
einem See Toso-Nor an der Grenze Tzaidams in den
tibetischen Bergen, strömt dann gegen 250 Werst (km)
in nordwestlicher Richtung und fällt in einen flachen Salz-
see, dessen Name nicht zu ergründen war. In seinem
Chyrma Dsun-sasak.
mittleren und unteren Verlaufe zieht der Fluß mitten durch
den östlichen Theil jener ausgedehnten Salzebcncn, an
welchen Tzaidam so reich ist. Die Ebenen bestehen nur
aiis vollkommen unfruchtbaren, leicht welligen Salzmorästcn,
die stellenweise mit einer zollhohen Salzschicht bedeckt sind,
aber auch ans Plätzen, welche mit Tamarisken und Char-
myk-Gebüschen bestanden sind; hier und da finden sich
quellenreichc und sumpfige Gegenden, in welchen Schilf,
Riedgras und andere Sumpfgräser gedeihen, den Hcerdcn
gutes Futter liefernd. Die Ufer des Bajan-gol sind dicht
bewachsen mit Sträuchern verschiedener Art, darunter viel
Charmyk und Tamarisken, außerdem mit Schilfgräsern, und
reichlich bevölkert von Vögeln, darunter eine schon 1872
beschriebene Fasanen-Art (Ph. Vlangali). Füchse gab es
gleichfalls sehr viel.
Der Bajan-gol wurde bequem durchschritten und bald
war die Festung (Chyrma) Dsun-sasak, der Ort, wo
Prshewalski bereits auf seiner ersten Reise geweilt hatte,
erreicht. Drei Werst östlich vom Chyrma wurde das Lager
aufgeschlagen und bald erschien der Besitzer Kamby-lama,
um Prshewalski als seinen alten Freund zu begrüßen. Von
ihm erfuhr Prshewalski allerhand Neuigkeiten, wie den
Tod des jungen Wan von Kuku-Nor, womit das Geschlecht
der Fürsten Tzin-chai-wan von Kuku-Nor ausgestorben ist.
Bis zur Wahl und zur Bestätigung eines neuen Wan
regierte ein Tossalaktfchi, der Gehilfe des verstorbenen
Wan. Sechs Tage laug verweilte der Reisende beim
Chyrma unter fortwährenden Verhandlungen mit dem
Fürsten Dsun-sasak, welcher dem Fortkommen der Reisenden
allerlei Schwierigkeiten in den Weg stellte. Endlich wurde
ein Führer bewilligt; nun wurde ein Theil des Gepäcks
dem alten Freunde Kamby-lama zur Aufbewahrung über-
geben, dem Fürsten Dsun-sasak eine Summe Geldes
abgeliefert, das Gepäck aufs Nene geordnet und am
12. September frohen Muthes der Marsch gen Tibet
angetreten.
Die Karawane bestand aus 34 Kameelen, von denen
aber nur 22 beladen waren, und 5 Pferden; zu den Mit-
gliedern der Expedition war nur der neue Führer hin-
zugekommen. Die Mongolen in Tzaidam hatten alles
Das Burchan - Budda - Gebirge und der Nomochun-gol.
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
Mögliche gethan, um Prshewalsti zurückzuhalten, sie hatten
von dem zu erwartenden starken Schneefalle, von drohen er
Krankheit, von Räubern gesprochen. Sie erzählten a er
auch, daß die Tibeter eine Heeresabtheiluug an der Grenze
ausgestellt hätten, um die Fremden nicht in die Restdenz
hereinzulassen.
Vor den Reisenden lag der gewaltige Bergrücken der
Burchan-budda, der überschritten werden mußte. Um
eiuen beguemen Uebergang zu finden, wurde ein kleiner
Umweg nach Westen bis zum Flusse Nomochun-gol ge-
macht, um dann, diesem folgend, das Gebirge zu passiven.
Am Nomochun - gol trafen die Reisenden abermals auf
Ackerfelder, welche den Mongolen zweier Choschune, von
Dsun-sasak und Taidshiner, gehörten; es waren ungefähr
20 Desssätinen (Hektar) mit Gerste bebaut; das Wasser
wurde aus dem Nomochun herzugeleitet; die Aecker selbst lagen
auf kleinen von Tamarisken freigemachten Stellen. In der
Nähe der bearbeiteten Felder steht ein Chyrma, welcher
seiner Größe wegen den Namen einer Stadt, Nom och un-
chota, erhalten hat; die Festung ist wie gewöhnlich vicr-
Kanrby-lama. Der Tossalaktschi.
eckig; iede Seite hat eine Länge von 130 Sashen (ca. 273 n>),
die Höhe der Mauer ist 23 Sashen (ca. 5 ui) und die Dicke
etwa 1»/, Sashen (3 in); der obere Rand der Mauer rst
zackig. Aussallender Weise aber war die Festung un-
bewohnt. Hier am Nomochun-gol wurde übernachtet; der
Fürst Dsun-sasak bemühte sich nochmals, die dreisenden
durch allerlei Vorspiegelungen aufzuhalten. Prshewalskr
aber ließ sich nicht irre machen, sondern marschirte weiter.
Der Nomochun-gol wird durch kolossale scharfspitzige
Felsmassen aus feinkörnigem Grünstein eingeengt. Weil
der Weg im Engpässe des Flusses hinführte, so mußte der
Prinz Dsun-sasak und Gefolge.
Fluß sehr oft durchwatet werden, und das war für Kameele
und Pferde sehr beschwerlich und ermüdend. Der Weg
über das eigentliche Gebirge Burchan-budda war auch nicht
bequem, das Gebirge sehr wild und durchaus unfruchtbar.
Am 18. September war dasselbe endlich überschritten; die
Expedition befand sich in Dynsy-oboH in einer Höhe von
13100 Fuß (3930 m), auf der letzten Stufe, welche zum
eigentlichen Hochplateau Tibets hinauf führt.
r) Auf der Karte („Globus" Bd. 51, S. 274) steht fälschlich
„Dfun-obo".
Baku.
(N a ch dem Französischen des M. Edgar Bo ul an gier.)
I.
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
Wenn der Dampfer, von Asien kommend, die östlichste
Spitze der Halbinsel Apscheron passirt hat, fahrt er an der
Südküste derselben noch zwei Stunden entlang, ehe er die
Rhede von Baku erreicht. Ganz im Süden ragen die
spitzen Gipfel der Berge von Lenkoran, in denen man
Schwefel gewinnt, in den nebeligen Himmel hinein; dann
erblickt man die Etablissements der russischen Marine, die
persische Stadt mit ihren Zinnenmauern, die russische oder-
weiße Stadt mit ihren geraden, grauen Häuserreihen, die
sogenannte schwarze Stadt („Tschorni Gorod") und die
Rauchwolken, in welchen sie fast erstickt. Schließlich legt
der Dampfer an dem etwa 100 w. in das Meer vor-
springenden, aus Mauer-
werk bestehenden Molo der
Zollbehörde an, wo die
transkaspischen Waaren
visitirt werden. Außerdem
giebt es noch an 20 andere
Landebrücken, die ans Holz
bestehen und auf Pfählen
ruhen; manche davon sind
bis 200 lang, und meist
gehören sie privaten Gesell-
schaften. Sie liegen längs
des sich krümmenden Ufers,
welches nur zum Theil,
aber doch auf eine Strecke
von etwa 2 Irin, mit Quais
versehen ist. Diese Ziffern
geben einen Anhalt für die
commercielle Wichtigkeit
Bakus, welches jetzt der
zweite, bald vielleicht abcr
der erste Hafen des Kaspi-
schen Meeres sein wird.
Seine Bevölkerung soll sich
in den letzten 20 Jah-
ren versechsfacht und von
10000 auf 60000 Seelen
gestiegen (?) sein *). Aus der unbedeutenden Residenz
unbekannter Chane ist unter der russischen Verwaltung
(die Russen nahmen Baku erst im Jahre 1806 end-
gültig in Besitz), Dank der klugen Ausbeutung des Pe-
troleums, eines der reichsten Jndustrieccntren auf der Erde
geworden.
Bonlangier erfreute sich in Baku der Führung und
llnterstützung des dortigen französischen Konsuls, M. Thyß,
der 20 Jahre seines Lebens in Rußland zugebracht hat und
eine Stelle in der bekannten Petroleum-Firma Nobel inne
hatte, seitdem aber, 72 Jahre alt, sich nach Paris zurück-
gezogen hat. Er konnte sich keinen besseren Begleiter zum
Besuche der Naphtaqnellen, der Fabriken, wo die verschiedenen
0 1879 zählte Baku nach officiellen Angaben erst 15604 Ein-
wohner. Red.
Qele, Schwefelsäure, Kerosen, Vaselin u. s. w. hergestellt
werden, des Feuertempels und der sonstigen sehenswerthen
Punkte wünschen. Nach einem raschen Frühstück in einem
trefflichen europäischen Hotel, dessen einziger Fehler — für
den es aber auch nicht die Schuld trägt — der ist. daß cs
bis in die entlegensten Winkel und selbst bis in die Küche
hinein von einem durchdringenden Petrolenmgernche erfüllt
ist, führte ein hübscher Phaeton den Reisenden rasch nach
der französischen Konsularagentur, der Villa Petrolia,
welche ungefähr 3 km von der „weißen Stadt" entfernt ist.
Der Weg dorthin durchschneidet die schwarze Stadt in
ihrer ganzen Länge. Auf die schönen, geraden, gut ge-
pflasterten und ziemlich leb-
haften Straßen der russi-
schen Stadt folgt eine kleine
Sandwüste von 300 bis
400 m Breite, in welcher
die Pferde nur mit Mühe
vorwärts kommen. Dann
erreicht man wieder festen
Boden von röthlicher Farbe;
rechts und links Pfützen
voll einer Flüssigkeit, welche
dem Leberthrane gleicht.
Dieselbe ist der Rückstand
bei der Destillation des
natürlichen Naphtas und
verleiht auch dem Boden,
welcher mit ihr durchtränkt
ist, seine röthliche Färbung.
Regen fällt in diesem Theile
des kaspischen Uferlandes
so selten, daß man die
Straßen Bakus nicht fort-
gesetzt mit süßem Wasser
besprengen kann, sondern
sich dazu des Petroleum-
rückstandes bedient. Daß
das Wasser hier knapp
ist, sieht man vornehmlich auch an den Wasserträgern, die
zwischen Krügen oder Schläuchen auf Pferden und Eseln
sitzend den Haushaltungen das nöthige Naß zuführen. Alles
ist hier von Naphta erfüllt; selbst die Bürgersteige bestehen
aus einem Asphalt, welcher aus Naphta hergestellt wird,
der aber in der Sonne so weich wird, daß man in ihn
wie in halbtrockenen Schlamm einsinkt.
Inzwischen ist die „schwarze Stadt" erreicht, ein Durch-
einander von großen und kleinen Fabriken, welche um die
Wette ihren schwarzen Rauch ausstoßen, abgesehen von
dreien oder vieren, den bedeutendsten und am besten geleiteten,
welche Europäern gehören und ihren Rauch selbst verzehren.
Die meisten aber werden von Armeniern geleitet, die sich
nicht scheuen, die Luft ringsum mit Strömen unreinen und
unathembaren Gases zu verpesten. Ans allen Kräften
peitscht der Kutscher, um diese Strecke zu überwinden, seine
Berittener Wasserverkäufer.
9
Baku.
Gäule einen Hügel hinauf, den drei gewaltige, den Gaso-
metern ähnliche Reservoire für Naphta krönen. Dort oben
herrscht reinere Luft, denn der Wind treibt den Rauch nach
rückwärts, und man genießt eine freie Umschau über sdie
Bucht von Baku und die öden Küsten von Apscheron. Nur
am Fuße des Hügels, unten am Mecresstrande, zeigt sich
eine Art halbgrüner Oase, einige hübsche geräumige Häuser
in einer Sandwüste. Dieselben führen den Namen Villa
Der Gouverneur-Palast mit dem Michaelgarten und der Thurm des jungen Mädchens in Balu.
Petrolia und gehören den Herren Nobel, welche dieselben
für die Oberbeamten ihrer Fabriken erbauten; in Folge
des Vorherrschens südöstlicher Winde athmet man dort eine
viel bessere Luft, als in der weißen Stadt. Nachdem
Boulangier seine junge Bekanntschaft mit M. Thyß erneuert
und den Besuch der Naphtaguellen für den folgenden Tag ver-
Läude in Baku mit tatarischen Wäscherinnen.
abredet hatte, wurde beschlossen, den Nachnnttag für den persi-
schen Stadttheil zu verwenden, wohin man alsbald zuruckteyne.
Eine Wanderung durch Alt-Baku ist in mehr als eurer Hin-
sicht interessant. Man braucht nicht nach Persien zu
reisen, um sich einen Begriff von der persischen ^Baukunst
zu verschaffen, denn Baku nebst dem östlichen ^ranstau-
Globus UI. Nr. 1.
kasien ist noch nicht so lange in russischem Besitze, daß es
sein äußeres Gepräge schon ganz verloren haben sollte.
Seit einem Jahrhundert hat sich in diesen engen, ge-
wundenen und schmutzigen Gäßchen, an ihren weißen
Häusern mit den flachen Dächern, den fast stets geschlosse-
nen Thüren und ihren unsichtbaren Bewohnern nichts
2
10
Baku.
geändert; ihr unentwirrbares Durcheinander bedeckt noch
immer den Abhang desselben steilen Hügels, es sind noch
immer dieselben Minarets, dieselben kleinen Kuppeln über
den Baderäumen, aus Lehm und Schmutz aufgeführt und
mit Kalk geweißt. Dann findet man dort einen Bazar,
der weniger merkwürdig
wegen seiner Kleinheit, als
wegen der dort herrschen-
den Stille ist. In ihren
elenden Budeu hocken dort
persische Krämer und bieten
dem Fremden verschiedene
Sammlungen falscher Edel-
steine, namentlich Türkisen,
an; der Türkis ist in diesem
Lande zu Hause, also muß
niau sich hier und in Tiflis
besonders vor Betrügereien
hüten. Auch findet man
schöne persische Teppiche,
die billiger sind als in
Askabad.
Die einzigen bemerkens-
werthen Bauwerke dieser
Altstadt, welche vielleicht
doch bald verschwinden wird,
sind der „Thurm des jun-
gen Mädchens" und die
Burg oder der Palast der
Chane. Der erstere, 30 in
über das Meer sich er-
hebend, zeichnet sich von
weitem so gut aus, daß
die Russen auf ihm ein
Semaphor und ein Hafen-
feuer errichtet haben. Die
Legende erzählt, daß ein
Chan von Baku einst seine
über die Maßen schöne
Tochter zu einer ihr wider-
strebenden Heirath habe
zwingen wollen, und daß
diese schließlich nur einge-
willigt habe unter der Be-
dingung, daß ihr Vater 2)ct3 Thor der Chane in Alt-Baku
euren hohen Thurm erbaue;
als derselbe vollendet gewesen, sei sie hinaufgestiegen und
habe sich von oben hinabgestürzt.
Ans der Burg ist ein Thor besonders interessant und
gut erhalten; unsere vierte Abbildung stellt es dar. Die
Mauern der Burg sind gewaltig hoch und obendrein mit
Schießscharten für Kanonen versehen; letztere aber haben
die Russen bei ihrer Belagerung Bakus wenig gehindert
und ihnen wenig Schaden zugefügt; denn ihr einziger, wirk-
lich fühlbarer Verlust war ihr General Zizianow, welcher
im Augenblicke, als die Schlüssel der Burg überliefert
wurden, von einem sogenannten Fanatiker meuchlings
niedergestoßen wurde. Ein Denkmal wurde seinem Andenken
errichtet, und seine Ermordung war für Rußland der Grund
zur Annexion Bakus.
Am Fuße der alten Burg liegt heute ein geräumiger
Garten, dessen staubige Ge-
büsche und verkümmerte
Bäume ziemlich jämmerlich
dreinschauen; denn sie wer-
den eben nicht alle Tage
begossen. Das ist der
Michael - Garten. Dort
sind die Wege nicht mit
Sand bestreut, denn dann
wäre es an einem win-
digen Tage nicht auszu-
halten, sondern wie die ge-
wöhnlichen Bürgersteige mit
Bitumen bedeckt. Sämmt-
liche Alleen steigen unmerk-
lich zu einer großen Terrasse
an, von welcher man eine
prächtige Aussicht genießt;
dort liegt der Krushok, eine
treffliche, viel besuchte Re-
stauration.
Unterhalb der Neustadt
ziehen sich am Meere breite
Quais entlang; der Fuß
der dieselben stützenden,
senkrechten Mauern wird
durch mächtige Blöcke ge-
schützt, an denen sich die
Wellen brechen. Wie manche
französische Hafenstädte —
meint Boulangier — und
keineswegs die am wenig-
sten bekannten, wären glück-
lich, ähnliche Anlagen zu
besitzen. Wenn die Sonne
hinter den Hügeln im
Westen der Stadt, auf wel-
chen sich die persischen Be-
gräbnißplätze ausdehnen,
verschwindet, so beginnt sich
hier reiches Leben zu entfal-
ten, und die Spaziergänger strömen herbei, um die Abend-
brise zu genießen. Dann sieht man viele Uniformen und viele
hübsche Toiletten. Auch das einheimische schöne Geschlecht
ist dann an dieser Stelle vertreten, aber nicht oben auf dem
Quai, sondern etwas tiefer, am Meeresstrande, wo auf dem
Sande und den Felsblöcken tatarische Frauen hocken und
Wasche reinigen: ein malerisches Bild, dem es an Komik
nicht gebricht; denn alle sind mehr darauf bedacht, ihre
Gesichter zu verhüllen, als ihre keineswegs verführerischen
Waden.
Gymnasiallehrer Otto Genest: Die Burjaten.
11
Die Burjaten')-
Von Gymnasiallehrer Otto Genest in Halle a. S.
Die Burjaten oder Boraten, welche dem eigentlich mon-
golischen Zweige der mongolischen Race angehören, sind
nach Rittich 2) etwa 200 000 Köpfe stark. So lange sie
bekannt sind, d. h. seitdem sie sich um die Mitte des
17. Jahrhunderts ohne nachhaltigen Widerstand den von
Norden her vordringenden Kosaken unterworfen haben,
bewohnen sie dieselben Gegenden, welche noch heute ihre
Sitze bildenI * 3). Ihr Gebiet, welches sich in einem großen
Halbkreise um das Südende des Baikalsees herumzieht,
gehört zu etwa vier Siebenteln dem Gouvernement Irkutsk,
mit seinem Neste aber Transbaikalien an. Im Norden
reicht es bis an den 55., im Süden bis an den 50. Parallel,
während es sich von Westen nach Osten über 17 Längen-
grade (990 bis 1160 öftt. Gr.) erstreckt und so gleich-
zeitig dem Gebiet des oberen Jenissei und seiner rechten
Nebenflüsse sowie dem des oberen Amur angehörtH. Im
Allgemeinen ist das Land sehr gebirgig; besonders gilt dies
von dem Bezirke zwischen dem Ostufer des Baikal- und dem
westlichen Abhange des Jablonowoi-Gebirges H, während
dagegen das Gebiet nördlich und nordwestlich von Irkutsk
ans beiden Seiten der Angara von Jacobsen als eine mit
zahlreichen niedrigen Hügeln bedeckte Gegend bezeichnet
wird. Hier fand der Reisende auch weit ausgedehnte
Roggen- und Weizenfelder, sowie zahlreiche Dörfer, deren
aus Rüsten und Burjaten gemischte Einwohnerschaft den
Eindruck einer gewissen Wohlhabenheit machte.
Die Burjaten sind nicht mehr, wie ihre nächsten Ver-
wandten, die altajischen Bergkalmüken, durchweg Nomaden,
sondern sic beschäftigen sich auch ziemlich viel mit dem
Ackerbau, wenn es auch ganze Distrikte giebt, in welchen
die alte Lebensweise noch heute die Regel ist. Als eine
Jolge dieses Fortschrittes ist es auch anzusehen, daß ein
großer Theil der Burjaten nicht mehr in den früher all-
gemein üblich gewesenen Jurten wohnt, sondern dieselben
durch Blockhäuser ersetzt hat. Die Blockhäuser, welche in
den von Jacobsen besuchten Dörfern die Regel bildeten,
sind aus starken Balken gezimmert, deren Gefüge demjenigen
ähnlich ist, welches die russischen Bauernhäuser zeigen, aber
sie verrathen durch ihre äußere Form wie durch manche
I Mit dem nachfolgenden Aufsatze beginnt die Veröstentü-
chung einer Reihe von Arbeiten, welche unter Benutzung
vorhandenen Litteratur eine Darstellung der Resultate 0
wollen, die in völkerkundlicher Beziehung durch bre Retz
Kapitäns Adrian Jacobsen erzielt worden sind. Diese .uene
wurde im Aufträge des Königlichen Museums für oolterr
in Berlin in den Jahren 1884 und 1885 unternommen
erstreckte sich auf Rußland. Sibirien, das Amurland. Aordkorca.
Japan und Nordwestamerika. Die reichen Sammlungen, w
der Reisende dem Museum zuführen konnte, sind nnt gütiger
Erlaubniß des Herrn Geh. Raths Bastian von dem ^eserentcn
eingehend studirt und ausgiebig verwerthet worden; sie muen
ueben dem Reisetagebuche Jacobscn's und anderen schrlstUchen
und mündlichen Mittheilungen desselben die Unterlage s
biesen und die folgenden Aussätze. ^ ,
*) Ethnographie Rußlands. Ergänzungsh. zu Pcterm.
Mitist f
(yrs[ .k r, ' 24. Behm und Wagner, Bevölkerung der Erde.
ÌÌ.WÌ1* sterni. Mitth. 35, S. 36. giebt nach Wenjukow
Burjaten auf 260000
---.vncu UU1 ¿UUUIIU Ufi.
3) Pcschel-Kirchhoff, Völkerkunde, S. 381 (5. Aust.).
I Peterm. Mitth. 1877, Tafel 1. . ,, „TT
) Generalstabskarte von Russisch-Asien m 8 Blatt, Nr. VII.
Eigenthümlichkeiten ihrer Einrichtung noch deutlich genug,
daß sie aus der Jurte hervorgegangen sind. Ich will mich
hier auf die Anführung von zwei Merkmalen beschränken,
welche besonders charakteristisch für den bezeichneten Ucber-
gang sind. Einmal nämlich sind die burjatischen Blockhäuser
durchgängig achteckig und entsprechen so der runden oder
Polygonen Gestalt der Jurten, und ferner besitzen sie keine
Oefen, sondern nur eine etwa die Mitte des Fußbodens
einnehmende, offene Feuerstelle, deren Ranch wie in den
Jurten durch ein Loch in der Decke entweicht, während
man in den feststehenden Winterwohnnngen der Golden
und anderer Amurvölker mächtige Oefen und Schornsteine
findet, welche den Ranch nach einer Seite des Hauses ab-
leiten.
Vor der Thür findet sich fast stets eine kleine lauben-
artige Vorhalle, während sich rechts vom Beschauer ein
Flügelanban an das Haus lehnt, welcher zur Aufbewahrung
der Milch, des Proviantes und einiger Hausgerüthe dient.
In nächster Nähe des Wohngebäudes liegen die Viehställe,
welche meistens zum Schutze gegen Diebe oder reißende
Thiere mit einem hohen Bretterzaun umgeben sind. Im
Inneren des Hauses steht gerade dem Eingänge gegenüber
die Bettstatt, welche durch einen Vorhang den Blicken des
Eintretenden entzogen wird. Links von dieser erblickt man
eine mehr oder weniger große Anzahl von Kisten, welche
den Reichthum des Hausherrn bergen und so den zu gleichem
Zwecke benutzten Fellsäcken der altajischen Bergkalmüken
entsprechen. Diese Kisten sind häufig sehr reich und nicht
ohne Geschmack bemalt und enthalten namentlich kostbare
Felle und Zeuge, sowie den in Sibirien viel gebrauchten
Zicgelthee, in welchem der Burjate seinen Reichthum be-
sonders gern anlegt. Rechts von der Bettstatt befindet
sich die Küche, in welcher auf dem Fußboden und an den
Wänden Gestelle zur Aufnahme von Milch- und Eßgefäßen
angebracht sind. Die Feuerstelle liegt, wie schon oben be-
merkt, etwa in der Mitte der Hütte in einer Vertiefung
des Erdbodens, während sich rings um sie ein Bretter-
fußboden zieht, der bis an die Wände heranreicht.
Die Kleidung der burjatischen Männer ist dort, wo
Jacobsen sich anshielt, der russischen sehr ähnlich, während
sie zwischen dem Baikalsee und dem Jablonomoi-Gebirge
mehr der chinesischen Mode folgt. Früher freilich hatten
die Burjaten eine Reihe eigenthümlicher Kleidungsstücke
und Waffen, welche aber jetzt nur noch als Kuriositäten
aufbewahrt zu werden pflegen. Dieselben sind für die
Völkerkunde insofern von Wichtigkeit, als sie für die Kunst-
fertigkeit und die Prachtliebe der Burjaten ein deutliches
Zeugniß abgeben. Ich nenne hier zunächst die eigenthüm-
lichen Gürtel, welche früher durchweg von ihnen getragen
wurden, heute aber nur noch selten im Gebrauch sind. Die-
selben bestehen ans einem etwa handbreiten Lederriemen,
dessen eine Seite mit rothem Wollzeuge überzogen und mit
reichem Silberblechbeschlage verziert ist. Dieser Beschlag
zeigt ziemlich mannigfaltige Muster. Bald erscheint er
in Gestalt von größeren, runden Scheiben, bald von Recht-
ecken, bald auch von in Reihen oder anderen Figuren ge-
ordneten kleinen Scheibchen. An der rechten und linken
Seite des Gürtels ist je ein starker Metallring eingelassen,
2*
12
Gymnasiallehrer Otto Genest: Die Burjaten.
an welchen der Köcher und der Bogenbehälter befestigt zu
werden pflegten, so lange die Burjaten sich dieser Instru-
mente für Jagd und Krieg noch durchweg bedienten; denn
jetzt besitzen sie fast sämmtlich Gewehre, die sie recht gut
zu gebrauchen wissen. Tie Bogenbehalter, welche in ähn-
licher Weise wie die Gürtel verziert sind, haben die Gestalt
einer langen, von oben nach unten sich verjüngenden Tasche
und nehmen den Bogen etwa zur Hälfte in sich auf, fo daß
derselbe jederzeit leicht herausgezogen und in Benutzung
genommen werden kann. Die Köcher sind den Bogen-
behältern fast gleich an Gestalt, doch stehen sie ihnen an
Größe natürlich nach. Uebrigens dienen beide dem zu
Pferde sitzenden Burjaten gewissermaßen als Panzer für die
Oberschenkel, über welche sie herabhängen.
Die Unterschenkel und Füße werden mit Stiefeln aus
starkem Leder, die mit hübscher Stickerei verziert sind, be-
kleidet. Tie Schäfte derselben sind weit genug, um die
ebenfalls gestickten Lederhosen aufzunehmen. Der Ober-
körper ist im Sommer mit einem Kittel aus russischem,
chinesischem oder auch einheimischem Zeuge bedeckt, an dessen
Stelle während des Winters ein langer Pelz tritt, der je
nach dem Wohlstände des Besitzers kostbarer oder minder-
werthig ist und nicht selten mit der rauhen Seite nach
außen getragen wird. Man verwendet zu diesen Pelzen
besonders Ziegen- und Schaffelle, die dann häufig mit den
Bälgen der sibirischen Pelzthiere verbrämt sind. Der Kopf
ist während der guten und rauhen Jahreszeit mit einer
Pelzmütze bedeckt, welche auch im Inneren der Häuser nicht
abgesetzt wird. Uebrigens scheinen die Burjaten des Udins-
ker Kreises nicht wie die transbaikalischen Zöpfe zu tragen;
wenigstens sah Jacobsen solche nur bei zwei Schamanen.
Die hölzernen Bogen der Burjaten sind etwa 2 m lang
und mit starken Darmsehnen versehen. Die Pfeile be-
stehen nicht aus Rohr, sondern aus Holz mit einem Horn-
aufsatze, in welchen eine rhombenförmige Eisenspitze ein-
gelassen ist. Der Hornaufsatz ist häufig durchlöchert, so daß
die Pfeile beim Fliegen ein pfeifendes Geräusch verursachen,
um dem Jäger auch im Dunkeln die Richtung, nach welcher
sie geflogen und den Punkt, an welchem sie niedergefallen
sind, anzuzeigen. Sonst dienen noch als Waffen Messer
von oft sehr schöner einheimischer Arbeit, welche in hölzernen
oder ledernen Scheiden in den weiten Stiefelschäften ge-
tragen werden, in denen übrigens auch die Tabakspfeifen
Platz finden. Diese letzteren erscheinen in den mannig-
faltigsten Formen und bestehen theils ans Holz, theils aus
Metall, sind aber nur sehr selten eigenes Fabrikat der
Burjaten, sondern werden vielmehr entweder von den
Chinesen oder von den Russen bei ihnen eingeführt. Ein
eigenthümliches Exemplar einheimischer Pfeifenindustrie,
welches Jacobsen mitgebracht hat, liefert den Beweis, daß
die Burjaten in dieser Beziehung hinter den von ihnen
hervorgebrachten Leistungen auf anderen Gebieten des Hand-
werks weit zurückgeblieben sind. Diese Pfeife besteht uüuilich
aus zwei der Länge nach getrennten Theilen, welche durch
einen mehrfach herumgewuudenen Lederriemen zusammen-
gehalten werden, aber natürlich nicht sehr fest an einander
schließen.
Die Kleidung der Frauen ähnelt sehr derjenigen der
Männer, nur ist sie zierlicher als jene und bei den An-
gehörigen reicherer Familien geradezu kostbar. So sind
die Pelze häufig mit werthvollen Zeugen, wie Sammet und
Seide, überzogen, die Stiefel mit mühsamer Stickerei be-
deckt, und die Gürtel mit langen Streifen verziert, welche
nach Art der oben erwähnten Männergürtel reich mit
Silber verziert sind und an den Seiten herabhängen. Mit
Schmuckgegenständen sind wohlhabendere Burjatinnen reich
versehen. Da finden sich Arm- und Halsbänder aus
Kupfer, Perlen und Korallen, Silber-, Gold- und Kupfer-
münzen mit fein gearbeiteter Metalleinfassung als Kopf-,
Brust- und Rückenschmnck, Messingröhrchen und Ringe
aus demselben Stoffe, welche über die Zöpfe gezogen werden
und, indem sie in der Nähe der Ohren liegen, wie Ohr-
ringe erscheinen oder, am unteren Ende der Zöpfe an-
gebracht, zum Schmucke der Brust dienen, bis zu welcher
die Zöpfe der Frauen herabreichen. Uebrigens sind auch
hier zum Ersatz für den Mangel an eigenem Haarreichthum
falsche Zöpfe im Gebrauch, deren Fülle man noch dadurch
zu verstärken sucht, daß man neben ihnen Zeugstreifen an-
bringt, welche eine Nachahmung der oben erwähnten
Gürtelgehänge im kleineren Maßstabe sind. Uebrigens
kommen alle die Kleidungs- und Schmuckstücke, welche als
dem weiblichen Geschlechte eigenthümlich eben genannt sind,
nur den Hausfrauen zu, während die jungen Mädchen
in ihrem Anzüge den jungen Männern fast vollständig
gleichen.
Die Burjaten sind, wie ihre Verwandten im Altai, aus-
gezeichnete Reiter und setzen ihren Stolz in eine schöne
Ausrüstung ihrer Pferde, von denen reiche Männer stets
mehrere zu ihrem persönlichen Gebrauche bereit stehen haben.
Daher sind denn auch die burjatischen Sättel häufig wahre
Kunstwerke. Die Stirn- und Rückseite derselben besteht
nämlich aus Eisen mit oft höchst geschmackvoller, eingelegter
Arbeit in Silber, so daß ihr Werth ein ganz beträchtlicher
ist. Dabei sei gleich erwähnt, daß diese Kunstwerke fast
durchweg aus den Händen einheimischer Schmiede hervor-
gehen, deren Arbeiten in ganz Ostsibirien wegen ihrer
Trefflichkeit berühmt sind und auch von den russischen An-
siedlern viel gebraucht werden. Diese Sättel werden ans
Filzdecken gelegt und mit breiten Bauchriemen aus Pferde-
haaren befestigt. Aus demselben Material pflegen auch
Zügel und Schwanzriemen zu bestehen, während das Kopf-
geschirr aus Leder hergestellt wird, das häufig mit Silber-
plättchen reich und geschmackvoll verziert ist. Wie groß
das Interesse des Burjaten an feinem Pferde ist, beweist
unter anderem auch der Umstand, daß das am häufigsten
erscheinende Kinderspielzeug aus einem Holzpscrde in voller
Rüstung besteht, neben welchem dann in zweiter Linie
kleine Bogen und Pfeile ohne Spitze vorkommen.
Als Unterlage beim Schlafen dienen Decken, die meist
aus Ziegen- oder Schaffellen hergestellt werden, in reichen
Häusern aber auch aus den Beinfellen der Pferde bestehen.
Als Decken benutzt man sowohl im Winter wie im Sommer
die Pelz- oder Wollkleider, welche am Tage ans dem Leibe
getragen werden. Eigenthümlich sind die Kopfkissen der
Burjaten. Ein Fellsack, dessen Länge die Breite etwa um
das Doppelte übertrifft, wird mit Stroh angefüllt und
dann an beiden Enden durch eine rechteckige Metallplatte
geschlossen, damit er mehr Festigkeit erlangt. Fast in jedem
burjatischen Hause findet sich nahe am Kopfende des Bettes
stehend ein Behälter für die Pfeile des Hausherrn. Diese
Behälter bestehen aus einem Holzgestell, welches mit Leder
überzogen und mit reichen Verzierungen in Stickerei und
Metallbeschlag geschmückt ist. Vier lange Stäbe, welche
nach unten hin ein wenig divergiren, bilden das Holzgestell.
Zwischen ihnen sind Stöcke von Ochsenhaut als Wände
angebracht, so daß das Ganze einer ungleichseitigen, ab-
gestumpften Pyramide ähnelt, deren nach vorn gekehrte
Seitenfläche die größte Breite besitzt. Diese Vorderseite
ist mit langen Lederstreifen, mit Seidenstickereien und mit
Silberplättchen in sehr geschmackvoller Weise dekorirt.
Noch reichere Ornamentirnng zeigt der Deckel des Behälters.
Derselbe ist an einem beweglichen Querholz befestigt, welches
Gymnasiallehrer Otto Genest: Die Burjaten.
13
zwei der vertikalen Stäbe an ihrer Spitze verbindet, und
füllt schräg über die obere Oeffnung hinweg. Da dieses
Geräth bei den Burjaten allgemein sehr hoch geschützt wird,
so konnte Jacobsen es nur mit Aufwand vieler Mühe und
verhältnißmäßig großen Kosten erhalten.
Die Erfahrungen, welche Jacobsen in Beziehung auf
den Charakter der Burjaten machte, gereichen denselben im
Allgemeinen nicht gerade zur Empfehlung. Allerdings sind
sie, wie überhaupt die meisten Eingeborenen Sibiriens,
gastfrei und geben gern, was sie haben, zur Bewirthung
Fremder her. Daneben aber sind sie im höchsten Grade
mißtrauisch, wenn man von ihnen etwas zu kaufen wünscht,
und begegnen allen derartigen Anträgen mit feindseliger
Verschlossenheit. Ja selbst schon verkaufte Gegenstände
mit List oder Gewalt wieder in ihren Besitz zu bringen, sind
sie nicht abgeneigt, wie denn zum Beispiel in einem Bur-
jatendorfe eine Frau versuchte, einen von Jacobsen ihrem
Manne abgekauften Sattel von dem Wagen des Reisenden
wieder wegzunehmen und in ihre Hütte zurückzubringen,
so daß es nur unter Anwendung von Gewalt und durch
eine beträchtliche Erhöhung der schon gezahlten Kaufsumme
gelang, ihrem Verfahren Einhalt zn thun. Gegen die von
der russischen Regierung eingesetzten Beamten in den ein-
zelnen Dörfern zeigen sie sich häufig ungehorsam und
störrisch, während sie den Befehlen ihrer Stammhäuptlinge,
welche übrigens zum Theil verhältnißmäßig gebildete Leute
sind, willig nachkommen. Dem Tabaksgenusse sind beide
Geschlechter fast jeden Alters leidenschaftlich ergeben; kleine
Kinder, welche kaum auf den Füßen feststehen gelernt
haben, rauchen schon den abscheulichen, mit Baumrinde
gemischten Tabak, der bei ihnen allgemein im Gebrauch ist.
Vom Trünke scheinen sie nicht in so hohem Grade be-
herrscht zu sein, wie ihre Stammverwandten im Altai;
immerhin aber spielt bei allen ihren Festlichkeiten der
Genuß des Milchbranntweins eine sehr bedeutende Rolle
und es ist wohl möglich, daß sie denselben nur deshalb nicht
in gleich großen Quantitäten trinken wie die Kalmüken,
weil er bei ihnen beträchtlich schwerer ist als bei jenen.
Auch ihre Habsucht hatte der Reisende Gelegenheit genügend
kennen zu lernen; für die werthlosesten Gegenstände for-
derten sie von ihm ganz exorbitante Preise. Ob der Vor-
wurf hochgradiger Sinnlichkeit gerechtfertigt ist, welchen
Albin Kohnv * * * * x) besonders den Burjatinnen macht, von denen
er behauptet, daß sie ohne Unterschied bereit wären, für
Geld Jedem ihre Reize preiszugeben, wage ich nicht zn ent-
scheiden; immerhin zeugt es nicht von einem Ueberflusse an
Schamgefühl, wenn Jacobsen berichtet, daß der polnische
Schreiber in einem der von ihm besuchten Dörfer mit einem
ganz jungen Ehepaare die Wohnung getheilt habe, ohne
daß die Frau daran den geringsten Anstoß genommen hätte.
Füge ich endlich noch hinzu, daß die Burjaten sehr un-
reinlich in Beziehung auf Kleidung, Speisen und Ge-
tränke sind, so wird das Angegebene genügen, um das zu
Anfang dieses Abschnittes ausgesprochene Urtheil zu begründen.
Was aber den Verkehr mit den Burjaten am meisten
erschwert, ist die abergläubische Gesinnung, von welcher
v) Sibirien und das Amurgebiet. Leipzig,
Bd. I, S. 72, 78, 89. In einzelnen Punkten schemt ,
genannte Schriftsteller zu hart über dre Burjaten zu ur )
jo befouders, wenn er ihnen alle Jndustrre a sp ) , -
Vielmehr sind die Schmiedearbeiten der -Lurzaten fli
Sibirien gesucht, und auch sehr gute und dauerhafte )
arbeiten eigener Fabrikation hat Jacobsen belohnen g su
Vergl. übrigens Rittich a. a. O- Andererseits tnst
urtheilung, welche ihnen in Pesckel-Kcrchhov 3
S. 381 zu Theil wird. auch nicht das Richtige, denn dce Dur
jäten neigen eher zur Gewaltthat als zur Gutartigtei.
sie in ebenso hohem Grade beherrscht sind, wie die übrigen
Stämme Sibiriens. Denn wenn man auch westlich des
Baikalsces von russischer Seite die Einführung des Christen-
thums versucht hat und noch versucht, so sind doch bis
heute diese Bemühungen wie fast alle anderen russischen
Civilisationsbestrebungen unter diesem Volke so gut wie un-
fruchtbar geblieben; besonders hängen die cisbaikalischen
Burjaten noch mit starrer Zähigkeit am Schamanismus
fest. Dieser Mißerfolg liegt wohl zum großen Theil
daran, daß die Träger des Christenthums und der russi-
schen Civilisation, die Popen und die ungebildeten, ja häufig
genug aus Verbrecherkreisen hervorgegangenen Ansiedler,
keineswegs die für den angegebenen Zweck geeigneten Per-
sönlichkeiten sind; einen großen Theil der Schuld aber
trägt auch die Abneigung der Eingeborenen gegen alles,
was einer Aufgabe ihrer alten religiösen Ueberlieferungen
ähnlich sieht. Wenigstens geht das deutlich daraus hervor,
daß auch die Priester des Buddhismus, welcher ans China
in das transbaikalische Burjatenland eingedrungen ist, aller
Anstrengungen ungeachtet ebenso wenig im Stande gewesen
sind, den Schamanismns zu verdrängen, wie die Russen.
Die Erfahrungen, welche der Reisende über die reli-
giösen Anschauungen und Gebräuche der Burjaten während
seines Aufenthaltes unter ihnen zn sammeln vermochte,
will ich hier, ergänzt durch einige Zusätze ans anderen
Berichten, im Folgenden zusammenstellen. Wie bei allen
dem Schamanismns huldigenden Völkerschaften ist auch bei
den Burjaten der Glaube an gute und böse Geister vor-
handen. Die ersteren sind in Abbildungen in allen Häusern
vorhanden. Schon ehe man die Hütte des Burjaten be-
tritt, gewahrt man an der Außenseite derselben dicht neben
der Thür kleine Holzkästchen mit einem Schieberdeckel von
10 bis 16 era Länge und 3 bis 8 cm Breite, welche für
die Behausung des Aliata gehalten werden, dem der Haus-
herr den Schutz über seine Hütte, seinen Hof, sein Vieh
und sonstiges Besitzthum anvertraut. Diese Kästchen werden
auch wohl durch Gehänge aus zusammengebundenen Leder-
streifen und Zengläppchen ersetzt, wie sie auch ant Amur
als gottesdienstliche Geräthe wiederkehren. Als Opfer-
gaben für den Allato, findet man überall neben seiner
Behausung kleine Stückchen ans Filz, welche denselben
Namen wie der Gott führen und in der Vorstellung der
Burjaten wohl bisweilen mit jenem völlig in Eins zu-
sammenfließen mögen. Im Inneren des Hauses finden
wir links vom Eingänge ebenfalls mehrere Götzenbilder,
welche aus einem Holzreif bestehen, in dessen Mitte ein
paar elende Zeuglappen befestigt sind x) ; nur selten tritt
an die Stelle der letzteren ein bis zur Unkenntlichkeit roh und
kunstlos gefertigtes Menschenbild. Trotzdem stehen diese
Götzenbilder in hohen Ehren, denn sie stellen diejenige
überirdische Macht dar, welche den Frauen Fruchtbarkeit
verleiht und die Kinder des Hauses unter ihren besonderen
Schutz nimmt, indem sie die bösen Geister mit Pfeilen,
welche mit Seidenfäden umwickelt sind und dicht neben dem
Bilde hängen, abwehrt. Der Name dieses Götzen ist
Tumurschin-chobün-scheschin-barü.
Daß von den Burjaten auch ein Gott des Feuers ver-
ehrt wird, ist schon daraus zn schließen, daß sie die Gewohn-
heit haben, von jedem Schälchen Milchschnaps, der übrigens
hier ebenso wie bei den Altajern Tarassnn heißt, ein paar
Tropfen als Spende in das Herdfeuer — wenn dieser Aus-
Ganz ähnliche, aber bei weitem sorgfältiger und kunst-
voller gearbeitete Götzenbilder findet man auch in den Jurten
der altajischen Bergkalmüken, während sie bei den Amurvölkern
gänzlich fehlen.
14
Gymnasiallehrer Otto Genest: Die Burjaten.
druck hier erlaubt ist — zu gießen. Außerdem aber wurden
Jacobsen im Jrkutsker Museum zwei Zeugpuppen in einem
Filzfuttcrale gezeigt, welche als eine getreue Nachbildung
des sogenannten Feuerherrn der Burjaten und seiner Frau
bezeichnet wurden. Dem Reisenden selbst gelang es in
keinem der von ihm besuchten Häuser, ein Original dieses
Götzenbildes zu Gesicht zu bekommen, woraus doch wohl
hervorgeht, daß dasselbe von den Burjaten besonders hoch
gehalten und mit großer Sorgfalt den profanen Blicken
Fremder entzogen wird. Damit würde sehr gut überein-
stimmen, daß es die Burjaten ebenso wie die Golden am
Amur für einen schweren Frevel halten, einen Brand von
ihrem Feuer in ein anderes Haus hinüberzutragen oder ihr
Herdfeuer auszulöschen H. Nach dunklen Andeutungen,
welche dem Reisenden gemacht wurden, aber durch andere
Berichte bestätigt werden* 2), nehmen Himmel und Erde unter
den guten Göttern der Burjaten die erste Stelle ein; ihre
höchste Gottheit trügt den Namen Tengeri oder Tengri,
d. h. Himmel3).
Die Art der Gottesverehrung ist eine doppelte. Einmal
besteht sie im Gebet, welches der Burjate mit gen Himmel
gerichtetem Gesichte zu verrichten pflegt, und zweitens in
Opferungen mannigfacher Art. Die Opfer für den AltatL
und die Libationen für den Feuerherrn sind schon erwähnt.
Wenn schon in den letzteren die den Opfern im Allgemeinen
zu Grunde liegende Anschauung von einer Nahrung, welche
den Göttern dargebracht wird, hervortritt, so ist das noch
viel mehr der Fall bei der Verehrung, die man dem
Tumurschin-chobün-scheschln-barst zollt. Derselbe wird
nämlich häufig mit dem Fett geschlachteter Schafe bestrichen I
und starrt in Folge dessen, und da sich auf ihm auch der
Rauch des Herdfeuers niederschlügt, förmlich von Schmutz.
Größere Opferfeste finden jährlich zweimal, und zwar im
Frühling und im Herbst statt. Sie werden auf freiem
Felde abgehalten und geben dem Volke Veranlassung zu
lauter Fröhlichkeit. Die Opfcrthiere sind entweder Hammel
oder Pferde, seltener Rinder oder Ziegen. Nachdem die-
selben geschlachtet worden sind, befestigt man den Schädel,
die Knochen und die Haut ähnlich wie bei den Altajern und
ihren östlichen Nachbarn, den Telenten, derartig auf einem
Gestelle von Birkenholz, daß die Formen des lebenden
Thieres noch zur Geltung kommen. Das Fleisch wird
sodann an Ort und Stelle von der Opferversammluug
verzehrt, und während des Mahles werden Gebete gesprochen
und Libationen von Tarassun dargebracht, die jedenfalls dem
Tengeri gelten. Bei diesen Libationen benutzt n:an große
Holzkannen mit einem Deckel und einem Ausgusse, welche
für so heilig gehalten werden, daß sie ein Burjate auch für
den höchsten Preis, den man ihm bietet, nicht herausgiebt.
Natürlich spielt bei diesen Opferfesten auch der Genuß des
Milchbrauntweins eine große Rolle, wenn auch nicht so
wüst getrunken wird wie bei den Altajern. Auch von den
einzelnen Hausherren werden, besonders bei wichtigen
Familienereignissen, Opfer, bestehend in Schafen und Pferden,
dargebracht, bei denen man ähnlich wie bei den großen
Opferfesten verfährt. Als Zeichen dafür, daß das Opfer
ordnungsmäßig vollzogen ist, pflanzt der Hausherr vor seiner
!) A. Bastian: Besuch bei schamanischen Burjaten. Aus-
land 1860, S. 534.
2) A. a. O., S. 534 und W. Radloff: Das Schamanenthum
und sein Kultus. Leipzig, T. O. Weigel, 1885, besonders S. 6
und 7.
3) Ebenda.
4) Diese Art der Verehrung erinnert lebhaft an die bei den
Golden gebräuchliche Bestreichung des Mundes der Fischgötter
mit Fischblut und -Fett, welche sowohl vor als nach dem Fisch-
fänge eintritt, vorausgesetzt, daß derselbe günstig gewesen ist.
Wohnung einen Birkenstrauch auf, so daß von Jacobsen vor
manchen Häusern förmliche Gehölze dieser Art bemerkt
wurden. Hier und da findet man in. dem Gebiete der
Burjaten auch Gerüste, die hohen Tischen nicht unähnlich
sind. Sie dienen dazu, um vom Blitze erschlagenes Vieh
auf ihnen niederzulegen. Vermuthlich ist auch das eine Art
von Opfer oder doch wenigstens ein Ausdruck dafür, daß
der Burjate das Recht der Himmelsgottheit anerkennt, sich
durch ihren Boten, den Blitz, ein Stück seiner Heerde
anzueignen, das damit für den Genuß von Seiten der
Menschen unbrauchbar wird. Da man sich um die ge-
tödteten Thiere nicht weiter kümmert, so werden sie natürlich
bald eine willkommene Beute der Vögel.
Die höchste Autorität in allen religiösen Angelegenheiten
besitzt der Schamane. Er verfertigt die Götzenbilder und
verkauft sie seinen Landsleuten für Geld oder Vieh, er
vollzieht gegen gute Bezahlung und Bewirthung die Privat-
opfer, er enthüllt als Prophet die verborgene Zukunft, er
heilt als Arzt die Krankheiten feiner Volksgenossen, ja er
soll sogar von den Burjaten bei ihren Rechtsstreitigkeilen
noch immer lieber zum Richter aufgerufen werden als die
russische Obrigkeit I. Bei seiner Thätigkeit als Arzt geht
er von dem Gedanken aus, der dem Schamanenthum in
allen seinen Verbreitungsgebieten eigenthümlich ist, daß jede
Krankheit wie überhaupt jedes Uebel die Folge der Feind-
schaft eines bösen Geistes ist, dessen Zorn der Betroffene
auf sich gezogen hat, und daß es darauf ankommt, den
Teufel zum Ablassen von seinem Opfer zu zwingen. Dieser
Zweck wird natürlich am gründlichsten dadurch erreicht, daß
der Schamane den sich verborgen haltenden bösen Geist
ausfindig macht und dann tobtet. So besteht denn die Heil-
methode der burjatischen Schamanen fast durchweg darin,
daß sie Beschwörungen murmelnd in der Hütte herumlaufen
und den Quälgeist suchen, der denn endlich auch regelmäßig
in Gestalt einer von ihnen selbst in einem Winkel heimlich
vorher versteckten Zeug- oder Papierpuppe entdeckt wird.
Indem nun dieser Geist mit dem Pfeile durchschossen wird,
verliert der von ihm ausgehende Zauber seine Kraft, und
der Kranke wird gesund oder — auch nicht. Tritt der
erstere Fall ein, so fällt natürlich das Verdienst der Heilung
dem Schamanen zu, der sich übrigens auch bei dieser Arbeit
schon vor ihrer Verrichtung feines Lohnes zu versichern
weiß; stirbt hingegen der Kranke, so fällt es trotzdem Nie-
mandem ein, die Kraft des Zauberpriesters in Zweifel zu
ziehen, sein Ansehen ist und bleibt unantastbar.
Die Tracht der burjatischen Schamanen ist im Allgemeinen
dieselbe wie die ihrer kalmükischen Zunftgenossen. Sie
besteht aus einer ledernen Jacke mit daran anschließendem
Unterrocke aus demselben Stoffe. Beide sind mit Thierfellen
und Zeugstreifen dicht besetzt, und zu diesem Schmucke
kommen noch eine Menge von Kupferschnitzelchen, welche
wohl dazu dienen sollen, die Glocken, die sonst bei den
Schamanen Sibiriens gebräuchlich sind, zu ersetzen. Mütze
und Trommel spielen natürlich auch hier eine hervorragende
Rolle; doch scheint die letztere einfacher gearbeitet zu sein
als die kalmükifche. Während nämlich diese einen geschickt
geschnitzten Griff hat, der ein männliches Wesen vorstellen
soll, zeigt die burjatische nur ein einfaches Kreuz aus zwei
Eisenstäben. Der auch bei anderen Völkern gebräuchliche
Schamanenstab hat hier eine eigenthümliche Form. Er
erscheint nämlich in der Gestalt eines hölzernen Pferdebeines,
Bergt. A. Kohn a. a. O. S. 77. Ich bin auf die eigen-
thümliche Stellung der Schamanen mit Absicht nicht näher ein-
gegangen, verweise aber für diesen Gegenstand außer aus Peschel-
Kirchhosf, Völkerkunde, S. 261 ff. auf A. Bastian's und
W. Radloff's oben angeführte Arbeiten.
Gymnasiallehrer Otto Genest: Die Burjaten.
15
an dessen Gelenken Glocken und lang herabhängende Felle
von Eichhörnchen und anderen Pelzthieren befestigt sind,
während bei den Golden lange und ziemlich starke Stöcke
mit geschnitzten Knäufen üblich sind.
Aus sein Verlangen wurde Jacobsen eine Schamanen-
handlung i) vorgeführt, die ich hier nach seinem Berichte
beschreibe. Der Schamane, ein noch junger Mann, trat
in seiner gewöhnlichen Kleidung auf, nur trug er auf dem
Kopse einen großen russischen Filzhut mit lang herabhängen-
den bunten Bändern. Zunächst trat er zu einer links von
der Thür seines Hauses stehenden Lade und nahm aus der-
selben zwei der eben beschriebenen Stäbe heraus, die er dann
mit langsamen und feierlichen Bewegungen aus den Boden
niederlegte. Dann entnahm er aus demselben Kasten eine
Hand voll des heiligen Krautes GangL, und, langsam an
das etwa in der Mitte des Fußbodens brennende Feuer
herantretend, warf er die trockenen Stengel in die Flammen.
In den sich entwickelnden Rauch hielt er dann die Stäbe
und ließ auch, indem er sich weit vornüber beugte, seinen
Oberkörper von demselben umziehen, als ob er sich zu der
bevorstehenden heiligen Handlung weihen lassen wollte2).
Nachdem er daraus die unteren Enden seiner Stäbe in die
Asche des Krautes gestoßen hatte, trat er mit geschlossenen
Augen und mit hoch erhobenen Stäben von der niedriger
gelegenen Feuerstelle aus den etwas höheren Bretterfußboden
des Hauses zurück und nahm in der linken Hälfte desselben —
von dem Eintretenden aus gerechnet — seine Stellung ein.
Noch immer die Augen geschlossen haltend, begann er einen
ziemlich melodischen Gesang, der zunächst eine nicht unan-
genehme Stimmung ausdrücken zu sollen schien. Während
dieses Gesanges hatte Jacobsen den Eindruck, als ob die
zahlreich gegenwärtigen Burjaten sich in sehr wenig erfreu-
licher Stimmung befänden, der sie auch durch das mehr-
malige Ausstößen dumpfer Laute, die wie von halbunter-
drücktem Schmerze ausgepreßt klangen, Ausdruck gaben.
Nach und nach jedoch wurde der Gesang des Schamanen
immer dumpfer und wilder, seine Geberden wurden immer
unruhiger und rascher wechselnd. Die Stäbe wanderten
ohne Unterbrechung von einer Hand in die andere, und
während der Schamane die mit beiden zeitweilig bewaffnete
wie beschwörend in die Höhe hob, fuhr er mit der anderen
konvulsivisch über die Stirn und durch das in langen Strähnen
von seinem Haupte herabhängende schwarze Haar. Je
trauriger und wilder nun der Gesang des Schamanen wurde,
der allmählich in ein fortwährendes Stöhnen und Schluchzen,
untermischt mit unheimlich klingenden Gurgellauten, übcr-
ging, desto mehr hellten sich die Mienen seiner Landsleute
aus, und zuweilen unterbrachen die letzteren den Beschwörer
durch ein kurzes und höhnisches Lachen, so daß es den An-
schein hatte, als ob sie den zu lösenden Zauber schon als
machttos geworden betrachteten und nicht mehr unter seiner
beängstigenden Einwirkung ständen.
Uebrigens ließ sich der Schamane durch das Benehmen
seiner Landsleute durchaus nicht in seiner Thätigkeit stören,
sondern er schritt unaufhörlich mit geschlossenen Augen und
unter fortgesetztem Aufheben und Schütteln der Stäbe vor-
wärts und rückwärts. Aber dabei blieb es nicht; vielmehr
stellte er sich in regelmäßigen Pausen zwei- oder dreimal
tntt dem Gesichte ganz nahe vor die Wand des Hauses und
jucß unter heftigem Kopfschütteln und wie in furchtbarem
Die Schamanenhandlung trügt bei den Burjaten der
lcamen Bolchö, während der Schamane selbst Bo hecht.
2) Ich vermuthe, daß der Rauch dieses Krautes eine Är
von betäubender Wirkung aus den Schamanen ausübt , wetchl
die nöthige Exstase herbeiführen hilft; übrigens war ich mch
im Stande, den Ursprung dieses heiligen Krautes zu ergründen
Schmerze sich krümmend ein gräßliches Gebrüll aus, das
einem gutturalen Grrr glich und iui höchsten Grade un-
heimlich und beängstigend wirkte. Indem er dabei die
Arme mit den Stäben nach hinten ausstreckte und heftig
schüttelte, vermehrte der Klang der Glocken noch den ohne-
hin schon herrschenden Lärm, der für europäische Ohren fast
unerträglich war. Als er zum dritten Male an die Wand
herantrat, schien sich der Zauber, unter welchem der Schamane
gestanden hatte, plötzlich zu lösen. Er flog, wie von einer-
unsichtbaren Hand gestoßen, mitten in das Haus zurück und
wurde nun ruhiger, so daß auch der Reisende, welcher während
des letzten Theiles der Vorführung in höchster Erregung
gewesen war, wieder frei anfathmete. Dann plötzlich die
Augen öffnend und an die oben erwähnte Lade herantretend,
legte der Schamane die Stäbe nieder und trocknete den von
seiner Stirn herabströmenden Schweiß ab, welcher von der
gewaltigen Kraftanstrengung Zeugniß ablegte, die ihm
dieser Auftritt verursacht hatte. Obgleich diese ganze
Schamanenhandlung nur den Zweck hatte, Jacobsen eine
Vorstellung von dem bei den Opferfesten und Beschwörungen
üblichen Verfahren zu geben, so machte sie doch einen tiefen
Eindruck auf ihn und ließ es ihm begreiflich erscheinen, daß
sich russische Ansiedler in Sibirien dem von ihrer Umgebung
gepflegten Schamanismns ebenfalls hingeben.
Diese Erscheinung tritt nämlich nicht nur bei völlig
Ungebildeten ein, sondern auch bei solchen, von denen man
nach ihrer Stellung und geistigen Entwickelung voraussetzen
sollte, daß sie die Fähigkeit Hütten, derartigen Versuchungen
zu widerstehen. So erzählte zum Beispiel der Konservator
am Jrkutsker Museum, Herr Wittkofsky, Jacobsen folgende
Geschichte, für deren Wahrheit er sich in aller Form ver-
bürgte. Ein russischer Geistlicher, der als Missionar unter
den Burjaten lebte, eiferte besonders heftig gegen das Treiben
eines alten , im Volke sehr angesehenen Schamanen, den er
mit den verächtlichsten Ausdrücken zu belegen nicht müde
wurde. Da geschah es, daß er plötzlich schwer erkrankte,
und seine ganze Umgebung war nun fest überzeugt, daß
seine Krankheit nur ein Racheakt des beleidigten Schamanen
sei. Das war nun zwar nichts Auffallendes, wunderbar
aber war es, daß sich auch der Missionar sehr bald dieser
Meinung anschloß nnd sich beeilte, seinen Gegner dadurch
zu versöhnen, daß er ihn zu sich rufen ließ und an ihn die
Bitte richtete, ihm die Krankheit durch seinen Zauber wieder
abzunehmen. Natürlich war der Schamane, welcher schlau
genug war, einzusehen, daß die Erfüllung dieser Bitte mehr
als alles andere zur Erhöhung seines Ansehens beitragen
würde, sogleich zur Beschwörung bereit, und der Missionar
ließ nun alle die Gebräuche, welche er früher als Erfindungen
des Teufels geschmäht hatte, ruhig über sich ergehen, in der
Hoffnung, daß er durch ihre Anwendung von seiner Krank-
heit befreit werden würde. Wirklich - genas er von seinem
Leiden, und seit dieser Zeit stand in der Hütte des christ-
lichen Missionars neben den Bildern des heiligen Iwan
und Michael friedlich nnd im Genusse gleicher Verehrung
das Götzenbild der Burjaten, der Tumurschin-chobün-scheschln-
barü.
Während die Burjaten im Allgemeinen ihre Todten be-
graben, werden die Leichen der verstorbenen Schamanen
verbrannt. Diese Verbrennung geschieht in eigens dazu
bestimmten kleinen Birkenwäldchen, die man in der Nähe
der burjatischen Dörfer häufig antrifft. Da bei diesen
Feuerbestattungen alle Gerüthe des Schamanen, wie seine
Anzüge, Waffen, Zauberstäbe und Anderes in dem Wäldchen
niedergelegt werden, so gäbe ein solches Gehölz für einen
Sammler völkerkundlicher Gegenstände eine reiche Ernte,
wenn ein Europäer es überhaupt wagen dürfte, dasselbe zu
16
Aus allen Erdtheilen.
betreten. Das ist jedoch durchaus unmöglich, denn die
Burjaten pflegen es unausgesetzt zu bewachen und würden
sicherlich jeden fremden Eindringling todten. Diese Birken-
wäldchen sind die Wohnsitze der Geister der verstorbenen
Schamanen. Deshalb wird hier an ihrer Grabstätte ihr
Lieblingspferd geopfert; deshalb hängt man hier auch an
einem in den Boden gesteckten Pfahle ein Kästchen mit Thee,
Zucker und anderen Dingen aus, welche dem Verstorbenen
als Nahrung dienen sollen und jedes Jahr erneuert werden
müssen. Von den Bäumen eines solchen Wäldchens darf
keine profane Hand ein Blatt oder gar einen Zweig ab-
brechen; vielmehr hat nur der Schamane dieses Recht, das
er zu einem einträglichen Handel benutzt, da ja jeder Bur-
jate, wie oben bemerkt, die Vollziehung seiner Privatopfer
durch einen vor seinem Hause aufgepflanzten heiligen Birken-
strauch doknmentiren muß. Uebrigens wird, wie unter
den Bäumen die Birke, so unter den Thieren der weiße
Hase von den Burjaten für ebenso heilig gehalten wie von
den altajischen Bergkalmüken.
Ueber die Eheschließung bei den Burjaten berichtet
Jacobscn auf Grund der Erkundigungen, die er von einem
ihrer Häuptlinge einzog, Folgendes. Wenn ein Mädchen
von einem jungen Manne zur Frau erkoren und der übliche
Kalym oder das Brautgeld an die Eltern desselben bezahlt
ist, so wird die Verbindung der zukünftigen Gatten durch
ein großes Gelage gefeiert, bei welchem die Dorfgenossen
von Seiten der feiernden Familie zahlreiche Geschenke er-
halten. Danach kehrt das Mädchen wieder auf ein Jahr
in das Elternhaus zurück, damit ihr während dieser Zeit
die vorher kurz geschorenen Haare lang wachsen, ehe sie in
den Ehestand tritt. Ist dieses Jahr um, so führt der Mann
sein junges Weib in das eigene Haus ein, ohne daß eine
besondere Feierlichkeit diesen Akt begleitete. Natürlich hat
auch dann das Haar noch keine beträchtliche Länge erreicht,
kann aber doch schon in eine Menge kleiner Zöpfe geflochten
werden, welche rings herum von dem Kopfe herabfallen und
mit Behängen von Gold- und Silbermünzen, mit Korallen
und ähnlichen Schmuckgegenständen verziert werden. Auf
dem Kopfe trägt die jung verheirathete Burjatin eine herz-
förmig gestaltete Silberplatte mit einem silbernen Stirn-
streifen, die jedoch beide fortwährend durch ein großes Kopf-
tuch verdeckt werden, weil ihr Anblick anderen Männern
als dem eigenen nicht gewährt werden darf. Sobald jedoch
die Burjatin ihr erstes Kind geboren hat, legt sie diesen
Kopfschmuck ab und flicht ihr Haar in zwei Zöpfe, die je
nach Geschmack über die Brust oder den Rücken herabfallen.
Uebrigens ist es dem Burjaten durch die Sitte seines Volkes
und durch das russische Gesetz gestattet, mehrere Frauen zu
heirathen; doch wird von dieser Erlaubniß meist nur dann
Gebrauch gemacht, wenn die erste Gattin sich als unfruchtbar
erwiesen hat, da Kinderlosigkeit für die größte Schande des
burjatischen Hauses gilt. Wie dem Reisenden mitgetheilt
wurde, nimmt in neuerer Zeit die Unfruchtbarkeit der bur-
jatischen Frauen immer mehr zu, und man darf wohl schon
aus diesem Grunde das Verschwinden auch dieses verhültniß-
mäßig zahlreichen Volkes in absehbarer Zeit voraussagen,
ohne sich einer falschen Prophezeiung schuldig zu machen.
Immerhin aber werden sich die Burjaten, da sie durch die
Berührung mit Russen und Chinesen, wenigstens zum großen
Theil, von der nomadischen Lebensweise zur Seßhaftigkeit,
von der Jagd und Viehzucht zum Ackerbau übergegangen
sind, noch lange genug erhalten, um in ihrer nationalen
Eigenthümlichkeit noch eingehender erforscht werden zu können,
als das bisher der Fall gewesen ist.
Ans allen
A f r i k a.
— Edouard Dupont, Direktor des naturgeschichtlichen
Museums in Brüssel begiebt sich auf ein halbes Jahr nach
dem unteren Congo, um die Geologie des südlichen Ufers
zwischen Boma und dem Stanley-Pool zn stndiren. Nament-
lich will er suchen, die Epoche zu bestimmen, während welcher
der Congo sich durch die Küstenkette Bahn gebrochen hat,
ebenso das Alter der Küstenkette, und Höhlen untersuchen,
wo er Spuren früherer Bewohner zu finden hofft. Auch
mit der landwirthschaftlichen Geologie jenes Gebietes will er
sich beschäftigen. _
Nordamerik a.
Die Einwanderung von 1886 in New Pork.
Die New Porter Einwanderungs-Commission hat soeben ihren
Jahresbericht veröffentlicht, dem Folgendes entnommen ist:
Von 321814 im Jahre 1886 eingewanderten Personen
waren 73 099 Deutsche, 59 335 Engländer, 29 312 Italiener,
23 987 Russen, 21 905 Schweden, 10 443 Norweger,
15 772 Oesterreicher, 18135 Ungarn, 4222 Böhmen,
8001 Dänen, 5531 Schweizer, 4998 Franzosen, 3323 Hol-
länder, 2461 Rumänier, 1704 Belgier u. s. w. Die
deutsche Einwanderung blieb gegen das Vorjahr um 25 012
zurück, während die Einwanderung ans Oesterreich, Ungarn
und Böhmen um 9082 zunahm; auch in der Einwanderung
rrdtheilen.
ans England und Irland war ein Zuwachs zu verzeichnen.
Von den Eingewanderten gaben 109 554 ihren Bestimmungs-
platz als New Port an, doch verblieb nur eine Minorität
dort. Nach Pennsylvania reisten 42 103, nach Illinois
25 502, Minnesota 12 317, Ohio 9202, New-Jersey 10432,
Michigan 9682, Massachusetts 10161, Wisconsin 9145,
Iowa 7886, Connecticut 8023, California 5633, Missouri
5286, Nebraska 4993, Dakota 4536, Kansas 4327 und
Texas 3001. Die klebrigen vertheilten sich auf die anderen
Staaten und Territorien. Auf Ward's Island fanden
während des Jahres 1886 2354 Einwanderer Zuflucht und
es kamen 102 Todesfälle und 68 Geburten daselbst vor.
In der dort befindlichen Irrenanstalt wurden 147 Patienten
behandelt, von denen 61 nach Europa zurückgesandt wurden,
8 starben, 21 nach anderen Instituten transportirt und 27
als geheilt entlassen wurden. Die Ausgaben der Ein-
wanderungs-Commission beliefen sich im Jahre 1886 auf
125 700,80 Dollars. Der Staat trug hierzu nichts bei, sondern
die Ausgaben wurden von den Kopfgeldern bezahlt, die für
jeden Eingewanderten von der betreffenden Dampferlinie an
die Bundesregierung entrichtet werden mußten. Im Lazareth
in Castle Garden fanden 2295 Patienten temporäre Auf-
nahme, 640 wurden auf längere Zeit verpflegt, 2310 er-
hielten ärztlichen Rath und Medicin, 13 Personen starben
daselbst lind 3 Geburten kamen vor.
Inhalt: Prshewalski's dritte Reise in Centralafrika. VI. (Mit sieben Abbildungen.) — Baku. (Mit vier Ab-
bildungen.) — Die Burjaten. Von Gymnasiallehrer Otto Genest. — Aus allen Erdtheilen: Afrika. — Nordamerika. (Schluß
der Redaction 10. Juni 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 1t, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Utii besonderer Herüeksrchtlgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1887.
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
v.
Nach überschreiten des Burchan-budda und nut er
Ankunft in Dynsy-Obo war die Expedition aus em
Hochplateau von Tibet angelangt. Der Charakter er
Gegend und der Natur hatte sich plötzlich geändert: w
Reifenden sahen sich in eine ganz andere Welt versetz,
in welcher sie vor Allem der außerordentliche Nelchthum
der großen Thiere in Erstaunen brachte. Und die Thiere
scheuten sich gar nicht vor den Menschen; ganz nahe dem
Lagerplatze weideten Heerden von Ehulans, lagen o er
wanderten wieder Jaks, standen männliche Drongos, hüpften
und sprangen die kleinen Ada-Antilopen umher. Die Be-
gleiter Prshewalski's, welche dieses Leben und Treiben zuui
ersten Male beobachteten, konnten sich nicht genug darüber
wundern. __
Nach zweitägigem Aufenthalt in Dynsy-Dbo wurde der
Weitermarsch angetreten. Die bedeutende absolute Hohe
der Gegend machte sich unangenehm fühlbar durch Athem-
beschwerden, Herzklopfen, schnelle Ermüdung, Schwindel mu
allgemeines Schwächcgcfühl, erst allmählich gewöhnte man
sich daran. Dazu kam, daß die Witterung sich plötzlich
änderte: es begann zu stürmen, zu schneien und zu hageln,
es wurde nicht allein Nachts, sondern auch Tags recht kalt.
Vor einer Woche hatten die Reisenden sich in der brennenden
Tonne Tzaidams kaum zu schützen vermocht; jetzt mußten
sie schon Morgens ihre Pelze und dicken Handschuhe anziehen.
Endlich war der Paß über das Schuga-Gebirge,
15 200 Fuß (4560 in) hoch, erreicht und wurde über-
schritten; der Abstieg in das Thal des Schuga-Flusses ist
etwas steil, aber immerhin noch gut passirbar. Das Schuga-
Gebirge zieht dem Burchan-budda parallel und setzt sich
Globus MI. Nr. 2.
nach Osten in dem Gebirge Ur und uschi fort, nach Westen
reicht es bis an den Schuga-Fluß. Trotzdem es noch früh
im Herbst war, war doch die Nordseite der Schuga-Berge
schon mit mehr Schnee bedeckt, als Prshewalski tut De-
cember 1872 und Januar 1873 hier vorgefunden. Das
Thal des Flusses Schuga, in welchem stromabwärts weiter
gewandert wurde, hat Wiesencharakter — es ist unbedingt
die beste Lokalität in Nordtibet. Hoch in seinem mittleren
Theile hat es eilte Breite von 6 bis 8 Werst; die das
rechte Ufer begrenzende und mit dem Flusse parallel lausende
Bergkette ist das Schuga-Gebirge; das am linken Ufer sich
hinziehende ist von Prshewalski als das Marco-Polo-
Gebirge bezeichnet worden.
Die vortrefflichen Weideplätze im Thäte des Schuga-
Flusses locken eine große Menge pflanzenfressender Thiere
herbei: ununterbrochen wurden bei der Wanderung Chulans,
Jaks und Antilopen gesehen. Mit Verwunderung und
Neugier blickten die Thiere auf die Karawane, ohne sich zu
scheuen. Die Chulanheerden gingen nur wenig zur Seite,
um die Karawane vorbei zu lassen, mitunter folgten sie
sogar eine Zeit laug den Kameeleu. Die Antilopen
(Orongo und Ada) weideten in Ruhe, die schwerfälligen
Jaks gaben sich gar keine Mühe auszustehen, sie bliebeii
ruhig liegen. Es schien, als seien die Reisenden in das
ursprüngliche Paradies gekommen. Dieser friedliche Zu-
staud, den das beigegebene Bild veranschaulichen soll, wurde
aber durch die Jagdlust der Reisenden bald zerstört. Die
Mitglieder der Expedition gaben sich der ungetrübten Jagd-
freilde hin, wenngleich dieselbe hier und da mit Gefahren
verbunden war.
3
Prshewcilski's dritte Reise in Central - Asien.
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
19
Nachdem die Expedition dem Flusse eine Strecke weit
gefolgt mar, wurde das Marco-Polo-Gebirge im Passe
Tschum-tschnm überschritten. Der Uebergang, obschon
16 300 Fuß. (4890 m) hoch, ist sehr bequem, der süd-
liche Abhang ist nur kurz. Jetzt endlich befanden sich die
Reisenden ans dem eigentlichen Hochplateau von Tibet;
bei der Weitermandcrung wurde eine geringere Höhe als
14 000 Fuß (4200 m) nicht mehr beobachtet.
Aber ungastlich empfing die Reisenden das mächtige
Gebirgsplatcau! Heftiger Sturm aus Westen, eine bis
auf die Knochen dringende Kälte, schwere Schneewolken
und die weinerliche, trübe Physiognomie des Führers
alles das verkündigte nichts Gutes. Und nun erklärte der
Mongole, weiter kenne er
den Weg nicht; es seien schon
15 Jahre her, daß er ihn ge-
wandert sei; er rathe zur Um-
kehr, sonst würden alle unter-
gehen. Da aber derselbe
Mongole früher stets ver-
sichert hatte, er kenne den
Weg nach Lhassa sehr genau,
so traute Prshewalski ihm
nicht. Es wurde ihm eine
beständige Wache beigcgcben
und ihm angedroht, daß man
ihn bei nächster Gelegenheit
erschießen würde, sobald er
die Reisenden irre führen
würde. Jetzt verlor der ängst-
liche Mongole ans Furcht
wirklich den Weg. Nach vie-
lem Hin- und Herirren kamen
die Reisenden an ein kleines
Flüßchen, welches der Vcr-
mnthung Prshewalski's nach
in den Naptschitai - ulan-
mnren, einen Zufluß des
Mur-nssu, strömte. Diesem
Flüßchen entlang marschirte
man und stieß auf die Spuren
desNachttagers einer Kameel-
Karawane; hieraus konnte
man schließen, daß eine Pil-
gerkarawane dort gerastet
h atte, denn Handelskaraw anen
benutzen zum Transport keine
Kameele, sondern Jaks. Da
nun alle Pilger entweder von
Lhassa kommen oder dahin gehen, so war sene Spur ein
sicheres Zeichen, daß die Expedition sich auf der richtigen
Fährte befand.
Aber die Unbill der Witterung steigerte sich und Menschen
llnd Thiere hatten viel zu leiden. Frisch gefallener Schnee
„ 5cbccftc den Boden und ließ die Kameele nicht das Futter,
die Leute nicht immer den Argal finden, und der gefundene
Argal war feucht und brannte schlecht. Und doch wollte
^ vor der strengen Külte, welche bis —2.3" R. stieg,
schützen. Zwei Tage verblieb die Expedition auf einem
Ficck, eine Besserung des Wetters abwartend — dann
wurde weiter marschirt. Der Himmel hellte sich freilich auf,
avee das brachte neues Ungemach mit sich, indem in Folge
des 0* tanzcs die Augen der Reisenden und der Kameele
erkrankten.
Ungeachtet aller beiden und Strapazen wurde die Wan-
derung in der Richtung nach Süden zum Kuku-schili-
Tamariskenstrauch (Tamarix Pallasii). (Vgl. oben S. 4.)
Gebirge fortgesetzt — der Weg führte über eine stark
wellige Ebene, wie solche für das nördliche Tibet charakte-
ristisch sind. Der Boden ist lehmig, hier und da mit Kiesel
bedeckt, selten sandig, jedoch überall unfruchtbar; nur hier
und da waren Spuren einiger Gräser sichtbar. Charakte-
ristisch aber sowohl für die eben betretene Ebene, wie für-
ähnliche in Nordtibet, ist der Uebcrflnß an Wasser: es giebt
viele kleine Seen, Ouellcn und von den benachbarten Ge-
birgen herabströmende Flüßchen.
Nach drei Tagemärschen war das Kuk u -sch ili- G e bir g c
erreicht; obgleich die Külte Nachts —20° betrug, so
war es Tags, wenn die Sonne schien, recht behaglich. Das
Kuku-schili-Gebirge ist die directe nach Westen gerichtete
Fortsetzung des Gebirges B a -
jan-chara-ula und soll sich
vorn Fluß Naptschitai-
ulan-muren an etwa 6OO
Werst nach Westen hinziehen;
es ist etwa 16 OOO Fuß
(48OO m) hoch, aber wegen
der außerordentlichen Höhe
der ganzen Ebene ragt der
Kamm des K u k u - s ch i l i
nur etwa 1000 bis 2000
Fuß (300 bis 600 m) über
der Ebene hervor. Die Vege-
tation ist hier äußerst dürftig;
auch die Fauna bietet nichts
Besonderes bis auf einen neuen
Büren, welcher von Prshe-
walski mit dem Namen Ursus
lagomyarius benannt worden
ist, weil er sich vor allem von
Pfeifhasen nährt. Der tibe-
tische Bär hat die Größe des
gewöhnlichen braunen Bären,
unterscheidet sich aber von ihm
durch den Pelz und die Fär-
bung. Beim Männchen ist die
hintere Hälfte des Rumpfes
dunkelbraun mit einem An-
fluge von Gran, der Widderist
fast schwarz, die Brust roth-
weiß, der Kopf hellroth, die
Schnauze noch heller, das Kinn
braun, die Ohren dunkelbraun.
Die Beine sind braun, die
Pfoten weiß. Das Fell trägt
lange, dicht stehende Haare.
Der mongolische Führer leitete die Karawane schließlich
in ein enges Thal des Kukn-schilt-Gebirges und erklärte,
den Weg nicht weiter zu kennen — zum Lohn dafür wurde
er körperlich gezüchtigt und fortgejagt. Nun übernahm Prshe-
walski selbst die Führung. Nach einigem Suchen gelangte
man in ein Seitenthal und aus diesem ohne besondere
Schwierigkeit an die Südseite des Kuku-schilt-Gebirges.
Vor den Reisenden breitete sich eine weite Ebene aus,
welche abermals von Gebirgsmassen, dem Dumbure, be-
grenzt war. Dieselbe war bald durchwandert, ein Ueber-
gang über das Dumbnrc-Gebirge rasch gefunden und einem
nach Süden strömenden Flusse, dein Dumbure-gol, folgend,
gelangte die Expedition in das Thal des großen Flusses
Mur-nssu, eines Nebenflusses des Blauen Flusses; hier war
Prshewalski bereits einmal im Januar 1873, nur etwas
weiter nordöstlich, gewesen; doch hatte er damals nicht weiter
vordringen können und mußte umkehren.
3*
20
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
Die Expedition marschirte nun längs des Mur-ussn
hin, dessen Thal reich an Wiesen ist und viel Thierleben
zeigt. Demnach gab es hier wenig Strapazen; vier Kameele
und ein Pferd mußten als unbrauchbar zurückgelassen werden.
Schließlich erreichte man eine Fuhrt im Flusse und fand
deutliche Spuren einer kürzlich hier durchgezogenen Kara-
wane.
Der Mur-nssu, 14 000 Fuß (4200 m) hoch, hatte hier
eine Breite von 30 Sashen (63 m) und eine Tiefe von
nur 2 lj-2 Fuß (75 cm); offenbar war nur zufällig der
Wasserstand so niedrig; jedenfalls war der Fluß leicht zu
passiren. Nachdem am Ufer des Mur-ussn ein zweitägiger
Halt gemacht worden war, den man zu Jagdausflügen be-
nutzte, wurde auf der Tanla-Ebene weiter marschirt. Die
Witterung war anhaltend kalt
und unfreundlich, die Reise-
strapazen sehr groß. Einen
traurigen Anblick gewährte die
Leiche eines offenbar verun-
glückten mongolischen Pilgers;
große Raubvögel saßen aus
und neben ihr, um sie zu ver-
zehren.
Das Plateau vor dem
Tanla-Gebirge ist etwa 17000
Fuß (5100 m) hoch, das
Tanla-Gebirge selbst etwa
19000—20000 Fuß(57O0
bis 6000 m). In Folge
dieser bedeutenden Höhe ist
das Klima hier noch viel un-
günstiger als in den anderen
Thälern: im Winter stetige
Stürme und heftige Kälte.
Prshewalski beobachtete An-
fangs November bei Sonnen-
aufgang — 30° C., Mitte
December — 31,5° C.; im
Sommer giebt cs ununterbro-
chen Regen, Hagel oder Schnee.
Die Vegetation ist äußerst ärm-
lich und die Fauna bietet gar
nichts Charakteristisches dar.
Obgleich hiernach das
Tanla-Plateau für den Men-
schen so unwirthlich als nur
möglich ist, so traten hier dem
Reisenden dennoch seit Tzai-
dam zum ersten Male wieder
Eingeborene entgegen. Es
waren das Jegräer und Golyken, zwei zu den Tanguten
gehörige Volksstämme. Beide sind roh und ein Theil jener
nordtibetanischen Nomadenstämme, welche unter dem Namen
Sok-pa bekannt sind. Die Jegräer nomadisiren beständig
tut Tanla-Gebirge, indem sie je nach dem Futterreichthum
der Gegend ihren Aufenthaltsort wechseln. Die Golyken
dagegen nomadisiren im Thale des Mur-ussn, dort, wo der
Naptschitai-ulan-muren in denselben einmündet. Letztere
kamen der Expedition gar nicht zu Gesicht; die Jegräer aber
stießen mit ihr bei ihrem Uebergange über das Tanla-Ge-
birge zusammen.
So weit Prshewalski die Jegräer beobachten konnte,
unterscheiden sie sich nicht viel von den Tibetern, welche
südlich vom Tanla nomadisiren. Es werden gewiß Unter-
schiede bestehen, aber für den flüchtigen Beobachter sind diese
nicht auffindbar. Der in der Abbildung hier vorgeführte
Ein Jegräer.
Jegräer glich in seinem Gesichtsausdrucke nicht ganz seinen
Mitbrüdern.
Von den Tibetern wird später die Rede sein — fast Alles,
was dort gesagt werden wird, bezieht "sich auch auf die
Jegräer. Die zu letzteren gehörigen Leute haben lange,
mühnenartig auf die Schulter herabhängende, schwarze Haupt-
haare; Schnurr- und Kinnbart sind schwach; das Gesicht
niedrig, ebenso der Kopf; die Hautfarbe dunkelgelb; ihre
Kleidung ist sehr schmutzig; bewaffnet sind sie mit Säbel,
Luntenflinte und Lanze; so sitzen sie zu Pferde. Durch die
beständige Unterwürfigkeit der mongolischen Pilger verwöhnt,
haben sie ein sehr zuversichtliches, fast freches Auftreten,
doch sind sie ebenso feige, wie überhaupt alle Asiaten. Die
Jegräer leben, den Tibetern gleich, in schwarzen, aus groben
Wollgeweben angefertigten
Zelten, die an den Lager-
plätzen nicht dicht beisammen
stehen, sondern nur zu je zwei
oder einigen bei einander. Die
Jegräer beschäftigen sich in-
sonderheit damit, die von Nor-
den her nach Lassa ziehen-
den Karawanen, besonders
die Pilger, anzugreifen und zu
berauben — mitunter ein
sehr lohnender Beruf. Sie
bewachen den Weg und den
Paß über den T a n l a so streng,
daß nicht eine einzige Ka-
rawane ihnen entgehen kann,
nehmen den Reisenden einen
Theil des Geldes und des
Gepäckes ab und lassen sie
dann weiter ziehen. Ist die
Karawane sehr zahlreich und
wird sie gut bewacht, so stehen
die Jegräer von ihrem Vorha-
ben ganz ab oder sie vereinigen
sich mit den Golyken zu einem
gemeinsamen Ueberfall, um
so ihren Zweck sicher zu er-
reichen. JmJahrc 1874 über-
fielen 800 Mann die Kara-
wane des von Lassa nach
Peking zurückkehrenden Resi-
denten, welcher außer seinem
Eigenthum noch gegen 30
Pud (480 kg) Gold mit sich
führte. Die aus 200 Mann
Soldaten bestehende Schutz-
wache des Residenten wurde aus einander getrieben, das Gold
und andere Kostbarkeiten geraubt; zur Strafe für den ge-
leisteten Widerstand zertrümmerten die Jegräer die Trag-
bahre des Residenten, so daß dieser, der des Reitens fast
unkundig war, gezwungen wurde, bei der Fortsetzung seiner
Reise sich eines Reitthieres zu bedienen.
Die Jegräer ernähren sich neben ihren Räubereien von
den Erträgnissen der Jagd und der Viehzucht; trotz des
schlechten Klimas und der schlechten Weiden steht es mit
ihren Viehheerden recht gut. Sie züchten Jaks, Schafe und
auch Pferde, welche sehr ausdauernd und vortrefflich die
steilen Berge zu erklettern im Stande sind. Man rechnet
gegen 400 Zelte, was, fünf Individuen aus ein Zelt an-
genommen, etwa 2000 Individuen beiderlei Geschlechtes
giebt. Sie bilden einen Aimak und sind dem Häuptlinge
der Golyken untergeordnet; sie zahlen ihm alljährlich einen
Flucht der Jegräer.
22
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
sehr geringen Tribut: 2 Gin (ca. 500 g) Butter und ein
Lammfell von jedem Zelt.
Die Golyken sind viel zahlreicher. Sie bilden drei
Aimak mit 1500 Zelten, sind also etwa 7500 Personen
beiderlei Geschlechtes stark. Sie leben am Blauen Flusse,
etwas unterhalb der Einmündung des Naptschitai-ulan-
murcn, treiben Viehzucht, beschäftigen sich mit der Jagd,
aber auch mit Goldwäschen am Mur-ussu. Sie sind eben
solche Räuber wie die Jegräer, doch dehnen sie ihre Raub-
züge weiter aus als jene, z. B. bis nach Tzaidam. Sie
berauben aber auch die mongolischen Pilger und die tibetischen
Kaufleute, welche mit ihrer Waare von Lhassa nach Donkyr
oder Siuin und zurück ziehen. Sowohl die Golyken, wie
die Jegräer sind (rothe) Buddhisten I. Sie erkennen zwar
weder die chinesische noch die tibetische Oberhoheit an, doch
besuchen Abgeordnete beider Stämme nicht selten Lhassa;
ihr Chef Artschumbum überreicht dann dem Dalai-Lama
Geschenke, und ebenso erhalten die chinesischen Beamten in
Sinin ihre Gaben.
Das Ueberschrciten des Tanla-Gebirgcs kostete acht Tage.
Die Expedition marschirte langsam; Thiere wie Menschen
waren ermüdet und fühlten sich in der bedeutenden Höhe
sehr unbehaglich. Der Weg, ein Saumpfad, war schlecht,
dazu kamen Futtermangel, heftige Nachtfröste und starke
Winde.
Hier im Tanla-Gebirge traf Prshewalski zu wiederholten
Malen auf kleinere und größere Hausen von Jegräern. Die
ersten waren über die fremden Leute sehr verwundert, doch
waren die Beziehungen anfangs sehr freundschaftlich; es
konnte sogar ein kleiner Handel, der Ankauf einiger Schafe
und einiger Gin Butter, mit ihnen abgeschlossen werden;
doch hielten sie sich dabei stets etwas zurück. Allmählich
aber wurden sie dreister; am Tage, als die Expedition die
Paßhöhe des Tanla überschritten hatte, am 7./19. Novem-
ber 1879, folgten etwa sieben berittene Jegräer derselben,
und sobald etwa 11 Werst südlich vom Kamme das Lager
aufgeschlagen worden war, verschwanden sic. Jetzt erschienen
etwa 15 bis 17 Jegräer unter dem Vorwände, Butter zu
verkaufen. Während des Handelns stahl einer dem Dol-
metscher Abdul Jussupow ein Messer aus dem Gürtel. Als
Abdul dasselbe zurückforderte, zog der Jegräer seinen Säbel
und schlug damit auf den linken Arm Abdnl's, ohne jedoch
mehr als den Pelz und das Gewand zu verletzen. Ein
anderer Jegräer warf sich mit seiner Lanze gleichzeitig auf
Obo auf dem Gipfel
des Berges Bumsa.
Abdul. Glücklicher Weise gelang es dem dabei stehenden
Lieutenant Roborowski, die Lanze zu erfassen und sofort zu
zerbrechen. Jetzt griffen einige Jegräer nach ihren Lanzen,
Säbeln und Schleudern, andere zündeten die Lunten ihrer
Flinten an und eilten hinter den nächsten Felsen, offenbar
um von da auf die Russen zu schießen; wieder andere wurden
mit den Kosaken handgemein. Alles war in einer Minute
geschehen, so daß die Russen kaum nach ihren Gewehren
greisen konnten. Jetzt begannen die Jegräer ans ihren
Verstecken heraus zu schießen und mittelst ihrer Schleudern
wohlgezielte Steine zu werfen. Nun kommandirte Prshewalski
Feuer — Schnellfeuer: bei der ersten Salve schon begannen
die Jegräer zu fliehen — weitere Salven begleiteten sie:
In Tibet bestehen drei Hauptsekten des Buddhismus:
die Sekte Pön-bo ist die älteste; sie scheidet sich streng von der
Sekte der rothen Buddhisten, deren Lamas rothe Kleidung
tragen. Die Sekte der rothen Buddhisten, im VII. oder
VIII. Jahrhundert gegründet, ist im östlichen Tibet, Nepal,
Butan u. s. w. verbreitet. Die dritte Sekte ist die der gelben
Buddhisten, nach der gelben Kleidung der Lamas so genannt;
sie wurde im XIV. Jahrhundert durch den großen Reformator
Don-Kaba gestiftet und ist die zahlreichste, jetzt vorzüglich in
Tibet und der Mongolei verbreitete. Charakteristisch für die
Sekte der gelben Buddhisten ist die Ehelosigkeit der Lamas.
vier Räuber waren todt, einige verwundet; die übrigen
flüchteten in die Berge.
Die Nacht ging ohne Störung vorüber. Am anderen
Morgen wurde die Karawane so geordnet, daß die drei
Echelons neben einander marschirten, während die Glieder
der Expedition alle bei einander vorn an der Spitze waren.
Alle waren bis aufs Aeußerste bewaffnet. So wurde bis
zum Eingänge einer Schlucht marschirt: die Jegräer standen
mit ihren Pferden davor, offenbar daselbst Wache haltend;
eine andere Abtheilung hatte am Abhange eines Berges
Platz genommen und eine dritte sammelte sich im Rücken
der Karawane. Zwei Werst wurden so unter steter Auf-
sicht der Jegräer gemacht, die Karawane war jeden Augen-
blick eines llebcrfalles gewärtig: die Entfernung zwischen
ihr und den Jegräern verringerte sich allmählich. Prshewalski's
Geduld war am Ende: er kommandirte auf 600 Schritte
Feuer und 12 Kugeln schlugen in den nächsten Haufen der
Jegräer, und ehe diese sich besinnen konnten, folgte eine
zweite und dritte Salve. Die Feinde flogen aus einander,
so schnell sie konnten — einige Salven wurden ihnen nach-
gesandt — Prshewalski kümmerte sich nicht viel darum, ob
es Todte und Verwundete gegeben, sondern eilte, nur aus dem
Engpässe herauszukommen. Die Jegräer waren verschwunden.
Baku.
23
Beim Weitermarsche stieß man auf heiße Mineralquellen,
bei denen früher Zelte gestanden hatten, weil Kranke aus
Lhassa hier Heilung suchten; setzt war aus Furcht vor dem
Näubergesindel Niemand hier.
Eine kurze Strecke ging der Weg längs einem Flüßchen
Tantschu, welcher in den Santschu einmündet. Der
Santschu heißt bei den Mongolen Bugyn-gol, strömt
nach Südosten und ergießt sich in den Nap-tschu oder
(mongolisch) Chara-ussu. Am Santschu begegneten den
Reisenden die ersten wirklichen Tibeter, welche am Tantschu
nomadisiren, aber nicht dem Dalai-Lama, sondern den Chinesen
in Sinin unterstehen. Von nun wurden die Niederlassungen
häufiger und die Bewohner kamen den Reisenden überall
entgegen, um Schafe, Butter und andere Dinge zum Ver-
kaufe anzubieten.
Zwei Tagereisen vom Santschu kamen der Karawane
drei Mongolen entgegen, von denen der eine Dadai, ein
alter Bekannter aus Tzaidam, die beiden anderen Lamas
waren, und theilten Folgendes mit: Die Tibeter seien ent-
schlossen, die Russen nicht nach Tibet hereinzulassen, weil
sich das Gerücht verbreitet hatte, man wolle den Dalai-Lama
rauben. In der Residenz desselben schreie Alt und Jung:
„Die Russen kommen, um unsere Religion zu vernichten;
wir lassen sie nicht herein, erst müssen sie uns alle todten,
dann können sie in unsere Stadt gelangen!" Um die Russen
vom weiteren Vordringen abzuhalten, seien militärische
Posten von dem Grenzdorfe Nap-tschu bis zum Tanla-
Gebirge errichtet worden, nur fetzt während des Winters
seien dieselben eingezogen.
Bald trafen die Reisenden auch mit den vorausgeschickten
tibetischen Beamten zusammen; letztere benahmen sich sehr
anständig, schrieben Namen und Zahl der Begleiter Prshe-
walski's auf, prüften seinen chinesischen Paß und baten
schließlich, die Karawane solle nicht weiter vorgehen, sondern
Nachrichten aus Lhassa abwarten. Eine Erholung that den
Mitgliedern der Expedition sehr noth — mit Gewalt konnte
nichts ausgerichtet werden, folglich fügte sich Prshewalski
und ließ am Fuße des Berges Bumfa das Lager auf-
schlagen.
Der Berg Bumsa. 17 000 Fuß (5130 in) hoch, Mar-
der südlichste Punkt, bis zu welchem er vordringen konnte;
trotz seiner bedeutenden absoluten Höhe erhebt er sich nur
1600 Fuß (480 in) über das Plateau, auf welchem die
Expedition lagerte. Der Gipfel ist ziemlich flach und trägt
einen sogenannten Obo, wie solche an verschiedenen Stellen
der Mongolei und Tibets angetroffen werden. Ein solcher
Obo besteht ans Pyramiden- oder kegelförmigen Steinhaufen,
zwischen denen Stäbe oder Stangen in den Erdboden ein-
getrieben sind; an Seilen, welche zwischen den Stangen aus-
gespannt sind, hängen kleine mit Gebeten beschriebene Lappen.
Dazwischen liegen auf dem steinbedeckten Boden Schädel
wilder und zahmer Jaks. Es ist das ein buddhistisches
Heiligthum; jeder Buddhist, der einen solchen Ort betritt,
bringt eine Gabe dar, einen Knochen oder einen Stein;
wenn er gar nichts zur Hand hat, so reißt er wenigstens
seinem Pferde oder feinem Kameele ein Büschel Haare aus
und legt es daselbst nieder.
Der Berg Bumsa erreicht die Schneelinie nicht, auch
jetzt am Ende des November war sein Gipfel frei von Schnee;
sogar Spuren von Pflanzen fanden sich zwischen den Steinen.
Vom Gipfel ist nach Süden zu der schneebedeckte Gebirgs-
zug Samtyr-Kansyr, nach Norden zu die Höhe des Tanla-
Gebirges deutlich sichtbar; nach Westen und Osten zieht sich
das wellige Terrain bis zum Horizont hin.
Baku.
(Nach dem Französischen des M. Edgar Bo ulangier.)
II.
(Die Abbildungen nach Photographien.)
Das Gebiet, aus welchem Naphta vorkommt, es
sich nicht auf den Kaukasus allein; es beginn un 1
bei Kertsch, umfaßt die beiden Abfälle des Ge riige '
man noch in 2750 na Höhe Petroleum erbohrt ha ,
hin und erstreckt sich quer durch das Kaspische >
welchem an verschiedenen Stellen Gase und Oe e ?
steigen, über die Insel Tscheleken bis zum Balkan- 8 ,
wie wir gesehen haben. In dieser weiten Zone ist a er
weitaus wichtigste Gebiet die Umgegend von Baku, v )
die unterirdische Thätigkeit ihr Maximum erreich.
Boden ist dort an vielen Stellen mit thätigen S
kratern bedeckt und verändert fast beständig seine O ers a )e,
aus Spalten entweicht brennbares Gas, welches man ur
einen Funken in Brand stecken kann. Steigt mau in cmer
ruhigen Nacht ans den Thurm des jungen Mädchens, so
kaiin man leicht die ganze Halbinsel Apscheron mit phos-
Phorcscirendcn Lichtern bedeckt sehen. Im Jahre .8
stieß einer der Schlammvulkane eine 300 Fuß hohe Gas-
säule aus, welche in der Nacht in Brand gerieth und den Hiinmet
mit Phantastischem Noth färbte; aber schon nach einer Stunde
hörte das Feuer ebenso plötzlich, als es begormen hatte,
wieder ans, zur großen Freude der geängstigten Einwohner.
Wenn schon im 19. Jahrhundert solche Erscheinungen
die skeptischsten Geister fesseln, so begreift man, daß sie den
abergläubischen Völkern des Alterthums als etwas Ueber-
natürliches erscheinen mußten. Darum hat von Urzeiten
an bis auf unsere Tage Baku den Anhängern der Licht-
religion für einen heiligen Ort gegolten, wohin sie von
Persien aus gepilgert sind. Und daran haben weder die
Befehle des Kaisers Heraclius, welcher das von den Parsi-
priestern unterhaltene Feuer auslöschen ließ, noch die Ver-
folgungen der Persien erobernden Araber etwas zu ändern
vermocht — nur daß sich die Zahl der Gläubigen gewaltig
verringert hat. Der Tempel ist stehen geblieben und wird
noch heute von Parsis besucht, welche die Fahrt über den
Indischen Ocean nicht scheuen.
Das brennbare Gas ist nichts als Petroleumdämpfe,
welche durch den hohen Druck innerhalb der unterirdischen
Spalten und Höhlungen nach oben getrieben werden. Ueber
die Entstehung des Petroleums sind die Geologen dagegen
noch nicht einig; die einen halten die dunkelbraune, fast
opalisirende Flüssigkeit des natürlichen Naphta für ein
Destillationsprodnkt der Kohle und führen für diese Be-
hauptung die täuschende Aehnlichkeit des Natnrerzeugnisses
24
Baku.
mit demjenigen an, welches man in den Laboratorien auf
ktinstlichem Wege durch solche Destillation erhält.
Andere — und deren Zahl ist größer — glauben, daß es
durch langsame Zersetzung von Thieren und Pflanzen, die
an den Gestaden vorweltlicher Meere lebten, entstanden ist.
Durch die Gührung dieser Stoffe entstanden Gase, welche
sich in den unterirdischen Hohlräumen zusammen mit dem
Petroleum und Salzwasser eingcschlosseu .finden. Damit
sind aber die Erklärungsversuche noch keineswegs erschöpft.
Eine besondere Eisenbahn verbindet Baku, wo sich nur
die Destillcrien befinden, mit den in Ausbeutung befindlichen
Petroleumguellen; dieselben liegen etwa 14 km nordöstlich
von der Stadt auf dem etwa 200 Fuß über das Meer sich
erhebenden Plateau von Balachani-Sabuntschi. Man stelle
sich einen Circus von 3 bis 4 km Durchmesser vor, der
von niedrigen Kalksteinhügeln umgeben ist, und dessen Grund
aus Sauden, die mit Schichten harten Mergels abwechseln,
besteht. In diesen Boden hat man über 400 x) Brunnen
eingesenkt, welche fast alle gute Resultate gegeben haben;
dicht neben einander gedrängt finden sich hier die Anlagen,
welche theils Gesellschaften, theils Privatpersonen gehören,
48 im Bezirke von Balachani und 31 in Sabuntschi. Hat
der Zug nach 38 Minuten sein Ziel erreicht, so erblickt
man 200 bis 250 Kasten aus schwarzem Holz, die großen
Fabrikschornsteinen gleichen, vor sich. Aus einer Entfernung
von 8 bis 10 km könnte man sie wohl für große dunkle
Ausicht von Balachani und eines Naphtasees.
Bäume hatten, die eine Oase in dieser Wüste bilden, und
das um so mehr, als man in Folge von Luftspiegelung
öfters am Fuße dieser angeblichen Bäume Wasserflächen
erblickt. Jeder dieser Holzthürme, im Russischen Wischka
genannt, überdeckt einen artesischen Brunnen, welche zur
Aufsuchung des Mineralöls in verschiedene Tiefen getrieben
sind. Die schönen Zeiten, wo man bloß die Erde aufzu-
kratzen brauchte, um die kostbare Flüssigkeit hervordringen
zu sehen, sind längst vorüber; heute muß man 100, 200 m
und darüber in die Tiefe bohren, und auch dann findet man
sie nicht immer. Wenn die pennsylvanischen Bohrlöcher,
welche bis 2000 Fuß hinabgehen, oft gewaltige Kosten ver-
ursachen, so kommen andererseits doch auch diejenigen von
Balachani mitunter theuer zu stehen. M. Thyß zeigte dem
Reisenden ein 300 m tiefes Bohrloch, welches 60 000 Mk.
gekostet und eine einjährige Arbeit erfordert hat, ohne bisher
irgend einen Ertrag gegeben zu haben. Bei einem anderen
Brunnen versucht man seit einem Vierteljahre vergeblich,
eine einzige Terrainschicht zu durchbohren; der Grund davon
soll der gewaltige, bis 150 Atmosphären betragende Druck
sein, welchen die in den petroleumhaltigen Sauden einge-
schlossenen Gase ausüben, und in Folge dessen sich das vom
Bohrer hergestellte Loch immer sofort wieder schließt.
Ueber solche Fragen, wie die besten Stellen für neue
Anlagen oder die wahrscheinliche Tiefe der petrolenmsührcn-
den Schichten, hat man noch keine Daten und Anhaltspunkte;
alles ist dem Zufall überlassen. Da man im Ueberslusse
x) Im Jahre 1885 waren es 344 mit einer durchschnittlichen
Tiesc von 147 m.
Die grotze Fontaine Nobel.
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Bà
26
Baku.
schwamm, dachte man nicht an die Zukunft und unterließ es,
Beobachtungen namentlich wissenschaftlicher Art anzustellen
oder auch nur Buch zu führen Uber die bei den Bohrungen ge-
machten Erfahrungen. Nur so viel ist bestimmt nachge-
wiesen, daß das Erdöl nicht gleich dem Grundwasser sich
in einer horizontalen, zusammenhängenden Schicht vorfindet.
Wie wäre es sonst möglich, daß nur wenige Meter von
einander entfernte Brunnen die verschiedensten Resultate
ergeben, daß der eine ein sehr ergiebiges Reservoir erschließt,
während der andere gar nichts liefert. So gehen vier be-
nachbarte Brunnen resp. bis zu 78, 168, 85 und 105 na
hinab; so erzielte neben einem alten, noch immer ertrag-
reichen Bohrlochc von 20 na Tiefe ein neu angelegtes erst
bei 126 m Ergebnisse. Auch kommt es vor, daß ein pro-
duktiver Brunnen infolge der Anlage eines zweiten in
nächster Nähe versiegt. Alle diese Erscheinungen erklären
sich, wenn man annimmt, daß das Petroleum in Hohl-
räumen sich befindet, welche unregelmäßige Gestalt haben
und unregelmäßig im Erdboden vertheilt sind; dieselben ent-
halten zu unterst Salzwasser, aus welchem das Petroleum
schwimmt; über letzterem wiederum befinden sich Gase.
Der Bohrer kann solchen, etwa in schräger Richtung von
oben nach unten sich erstreckenden Hohlraum treffen oder
auch dicht daran vorbeigehen; er kann ihn in seinem oberen
Theile treffen, und dann strömt aus dem Bohrloche nur
Gas aus, oder in seinem mittleren, petrolcumhaltigen oder
auch ganz unten. Ist im ersten Falle das Gas mit Heftigkeit
entwichen, so tritt zwischen dem unterirdischen und dem
atmosphärischen Druck schließlich das Gleichgewicht ein, und
man muß das Oel durch Pumpen herausschaffen. In den
beiden anderen Füllen steigt das mit Salzwasser und Saud
gemischte Petroleum plötzlich mit Macht herauf, was sich
durch ein betäubendes Geräusch ankündigt; dann müssen
die Arbeiter schleunigst flüchten, denn der Andrang ist so
mächtig, daß die Flüssigkeit den ca. 300 kg schweren Bohrer
nebst Gestänge und dem Obertheile des Thurmes hoch in
die Luft schlendert. Die Höhe solcher Springbrunnen ist
sehr wechselnd; man hat schon Strahlen bis zu 90 ru Höhe
gemessen, welche in 24 Stunden bis acht Millionen Kilo-
gramm lieferten, genug, um eine Stadt wie Paris ein ganzes
Jahr lang zu erleuchten. Anfangs, als man auf solche
Ereignisse noch nicht vorbereitet war, wurde der Besitzer
eines solchen kostbaren Springbrunnens durch denselben
keineswegs immer zum reichen Manne, sondern verarmte
zuweilen in Folge der aufgewendeten Kosten. Jetzt legt
man vorsichtiger Weise rings um sedes Bohrloch Kanäle an,
in welche der Petroleumregen hineinfallen kann; diese leiten
die Flüssigkeit in große Gräben, wo sie eine Zeit lang
bleibt, um den Saud abzusetzen, woraus sie von Dampf-
maschinen in eiserne Behälter gepumpt wird.
In seinem Buche „The region of the eternal fire“
beschreibt Eh. Marvin als Augenzeuge den Ansbruch der
Fontaine Drushba, welcher große Verwüstungen anrichtete.
Das Getöse war auf mehrere Stunden in der Runde zu
vernehmen. Es war ein wahrhaft imposantes Schau-
spiel .... Der Springbrunnen traf den oberen Theil
der 20 in hohen Wischka, riß die Bretter aus einander und
stieg noch über 60 in höher auf, rundete sich dann zu einem
gefälligen Bogen und siel unter dem Andränge des Windes
in einer dichten Wolke zu Boden. In den ersten 24 Stunden
des Ausbruches hatte sich der aus dem Bohrlochc aus-
geworfene Sand bis zu den Dächern der Magazine und
Schuppen angehäuft; in einem Umkreise von 50 in waren
die umliegenden Wischkas 2 bis 2x/2 m hoch davon bedeckt,
und am Mundloche des Brunnens hatte sich eine 6 in hohe
Saudmasse aufgehäuft. — Hier und da waren Arbeiter
aufgestellt, welche die Kanäle um den Brunnen herum in
Stand halten und vertiefen mußten, um der Flüssigkeit
freien Abfluß zu gewähren; ihre Beschäftigung war weder
gefahrlos noch angenehm; Kopf und Schultern trieften
ihnen von Petroleum und Sand, und sie mußten sich zu-
weilen sehr in Acht nehmen, um nicht in den Wirbel der
Fontaine hineingerissen zu werden .... Das Petroleum
erfüllte zuerst zahllose Kanäle, überschwemmte dann die
Niederungen und verwandelte sie in Seen, deren manche
groß und tief genug waren, um einem Boote freie Fahrt
zu gewähren. Endlich traten diese Seen aus und ergossen
sich in das Kaspische Meer. Der Strahl der Drushba
behielt mehrere Wochen lang seine Gewalt bei, und die
Petroleumüberschwcmmung wurde so bedrohlich, daß von
Petersburg zwei Ingenieure abgesandt wurden, um die
Quelle zu fassen. Die Gesellschaft hatte von dem Ereigniß
nicht nur keinen Vortheil, sondern wurde durch die Ent-
schädigungssumme, welche sie ihren Nachbaren zahlen mußte,
ruinirt.
So etwas kommt heute nicht mehr vor, zuerst weil man
Fontainen von solcher Stärke nicht mehr findet, sondern nur
kleinere, welche in 24 Stunden 900 000 bis 1500 000 hg
liefern, sodann weil für Anlage von Kanälen und Teichen
genügend Vorsorge getroffen ist, und schließlich weil mau
jetzt, sobald man durch das unterirdische Geräusch gewarnt
wird, sofort ans der Röhre eine mit einem Hahne versehene
eiserne Kappe befestigt, mittels deren man den Ausfluß nach
Belieben regeln kann. Nur ausnahmsweise, wenn das
Petroleum zu rasch und heftig anstritt, läßt sich die Kappe
nicht anbringen oder sie wird zerschmettert, wie das bei der
großen Fontaine Nobel der Fall war. Diese lieferte in
24 Stunden bis 16 Millionen Kilogramm Petroleum, die
sorgfältig gesammelt werden konnten und einen täglichen
Ertrag von 240 000 Mk. abwarfen. Leider hörte diese
„Goldgrube,, nach 31 Tagen auf zu existiren.
Meist dauert dieser freiwillige Austritt des Ocls nicht
länger als zwei Monate, und daun muß man zum Pumpen
seine Zuflucht nehmen, welches oft nur eine tägliche Ausbeute
von 48 000 bis 64 000 hg liefert. So unbedeutend die-
selbe gegenüber den kolossalen Erträgen der Springbrunnen
erscheint, so genügt sie doch, uni den Betrieb zu einem
lohnenden zu gestalten.
Es kommen auch intermittirende Quellen vor, deren
eine Boulangier besuchte. Dieselbe wurde in 280 m Tiefe er-
schlossen und lief einen Monat lang, und zwar so, daß sie
immer eine Minute floß, dann sechs Minuten ruhte, dann
wieder eine Minute floß u. s. f. In dieser Abwechselung,
welche mit dem Chronometer verfolgt und gemessen wurde,
fand keine Aenderung auch nur um eine Sekunde statt.
Woher sie rührte, vermag man nicht zu sagen. Daß sich
der Druck des unterirdischen Gases vermindern muß, wenn
sich der Hohlraum leert, liegt auf der Hand; aber wie kommt
es, daß er wieder eintreten kann, und namentlich mit solcher
mathematischen Periodicität?
Kürzere Mittheilungen.
27
Kürzere Mittheilungen.
Tr. Jelifsejkw's Reise durch Kleinasien.
Dr. med. A. W. Jclissejcw hat, wie bekannt, vor
Kurzem ans Veranlassung der k. Russischen Geographischen
Gesellschaft eine Reise durch Kleinasien gemacht, um ethno-
graphische und anthropologische Forschungen daselbst
anzustellen. Die orthodoxe Palästina-Gesellschaft be-
nutzte diese Gelegenheit und schlug dem Dr. Jelissejew vor,
den vom Kaukasus nach dem heiligen Lande führenden und
mitunter von russischen Pilgern betretenen Weg zu unter-
suchen. Jelissejew hat auch nach seiner Gilde Februar er-
folgten Rückkehr sowohl in der Palästina-Gesellschaft (23. Fe-
bruar), als auch in der Russischen Geographischen Gesellschaft
einen Vortrag über seine Reise gehalten; den kurzen darüber
in der „Nowoje Wrjema" (Nr. 3951 und 3957) erschienenen
Berichten entnehmen wir Folgendes.
Der nächste Weg, welcher von russischem Gebiet aus
nach Jerusalem führt, geht über Erzerum nach Charput und
von hier über Malatia, Aintab, Aleppo, Hamah und Höms !
nach Damaskus, von wo man einerseits leicht nach Beirut
»lud Sidon, andererseits nach Nazareth und Tiberias gelangen
kann. Die all der kurdischen Grenze herrschenden Unord- !
ttungen bestimmten aber den Reisenden, nicht vom Kaukasus j
ans nach Süden, sondern in umgekehrter Richtung von Lüden !
her nach dem Kaukasus zu reisen.
Jelissejew schiffte sich daher in Konstantinopel ein und
landete in Alexandrien, woselbst auch die Pilger das Land
betreten. Von dort geht der Weg über Beilan nach Anta-
kich (Antiochia) ans einer Chaussee; er ist an einer Stelle
nicht ungefährlich, obgleich man im Allgemeinen sich scheut,
einen Europäer zu berauben. Von Antiochia bis Aleppo
zieht sich der Weg durch ein Thal (wohl die Mnlde el-Amk
mit dem See Ak-Deniz) hin, wo im Frühling und Sommer
schreckliche Tod bringende Fieber herrschen. Hinter dem
Dorfe Jeni-schar wird der Weg in Folge der räuberischen
Neberfälle der Tscherkesseli gefährlich. Dr. Jelissejew zog von
Aleppo aus mit einer Karawane unter dem Geleite einiger
Zapties weiter nach Norden. Mit Hilfe der letzteren erhielt
er unterwegs Quartier in schmutzigen, kurdischen Hütten, lvo
kaum eine Matte zn finden war. In jedem kleinen Dörfchen
eröffnete er sofort ein Ambulatorium ulid lieferte den Kranken
die Arznei umsonst; häufig konnte er dabei unter der Form
der Krankenuntcrsuchung anthropologische Messungen machen.
Der Uebergang über den Berg ist sehr schwer: keine ge-
bahnte Straße, sondern nur ein Pfad, ans dem viele Steiu-
und Basaltstücke liegen. Aintab ist bemerkenswerth durch
seine amerikanische Kolonie, durch eine kleine medicinische
schule und eine Menge gebildeter Armenier, welche hier den
Russen angeblich nicht abgeneigt sind, ebenso wenig als die
Mohammedaner. Eine der ersten an Jelissejew gerichteten
Fragen war-. „Kommen die Russen bald hierher?" Auf dem
Weitermarsche nach Malatia gelangte der Reisende an den
schwierig zu passirenden Kara-Dagh; der Paß führt anfangs
1 tud) eine niedere Bodenschlncht, dann steigt er sehr stark an
k'd) über ein Waldplateau, welches von Wölfen,
-oiim: und Wildschweinen bewohnt sind; hier finden oft
Beraubungen statt. Der Abstieg vom Gebirge ins Thal des
Kara-su ist gleichfalls schwierig. Weiter geht es wieder über
Berge und den Kizil-Dagh, dann steigt man durch einen
schönen Hohlweg Burungei hinab. Das unterwegs berührte
Dorf Sürghy ist bemerkenswerth, weil hier bis 10 Häuser
unter einem gemeinschaftlichen Dache vereinigt sind. Die
nahen zackigen Gebirge gewähren einen prachtvollen Anblick.
Hier beginnen schon die Streifereien der Kizil-baschen,
eines sehr räthselhaften Volkes, das persisch spricht und dessen
Religion ein Gemisch von Mohammedanismns und Christen-
thum ist. Der Reisende muß hier sehr auf der Hut sein, da die
Kurden und Kizil-baschen ohne Rücksicht auf die Gastfreund-
schaft sogar diejenigen berauben, welche bei ihnen über-
nachteten.
Ist man nach Malatia gelangt, so befindet man sich in
einer Villenstadt, jedes Häuschen steht im Grünen. Die
Bevölkerung besteht vorzüglich ans Armeniern, doch sind
Beraubungen sehr häufig. In einem Winter wurden in der
Stadt und Umgegend ltirfjt weniger als 29 Menschen ge-
tödtet. Von dort bis Charput beträgt die Entfernung
etwa 100 Werst (km); dort ist etwa die Hälfte der Ein-
wohnerschaft christlich. Eine besondere Merkwürdigkeit der
Stadt ist eine alte in den Felsen eingehauene Kirche. In
Charput führte Dr. Jelissejew anthropologische Messungen
aus, machte Ausflüge in die Umgebung und suchte nack)
Alterthümern. Von Malatia aus wandte sich Jelissejew in
nordwestlicher Richtung zun: Schwarzen Meere: unterwegs
besuchte er Ansiedelungen der Tscherkessen, welche einst den
Kaukasus verließen und sich jetzt dahin zurück sehnen; er
wurde von denselben warm empfangen. Unterwegs glückte
es ihm, einige interessante archäologische Funde zu machen,
doch wurde er dreinral beraubt. Freilich wurde ihm Vieles
wieder erstattet, aber ein Theil der Sammlungen wurde dabei
zerstört und ging zn Grunde; Schädel und Knochen wurden
ihm confiscirt; man behauptete, der Giaur habe Gräber der
Gläubigen geplündert. Mit vieler Mühe gelangte er nach
Silvas, wo ihm andere Unannehmlichkeiten bevorstanden:
der dortige türkische Beamte vermuthete in ihm einen mili-
tärischen Spion, und so mußte er eine Stunde Weges als
Gefangener unter den: Geleit türkischer Gendarmen, welche ihn
keinen Augenblick verließen, zurücklegen. In Tokat wollte
der Polizeimeister mit ihm nack) der Strenge des Gesetzes ver-
fahren; seine Koffer wurden erbrochen und eine Anzahl
Schriftstücke fortgenommen. Endlich langte er in Samsun
am Schwarzen Meere an und reiste von hier über Sinob
nack) Konstantinopel, woselbst er eine Klage über die ihm zu
Theil gewordene Behandlung einreichte. Von hier ans
inachte er noch einen Ausflug an den See Mainos, lvo er
eine Ansiedelung von Nekrassew-Kosaken besuchte.
Was die ethnographische Aufgabe Jelissejew's betrifft, so
bestand sie hauptsächlich darin, russische Kolonien, von
denen man wiederholt geschrieben hatte, zu suchen; die Ge-
rüchte über das Bestehen von Kosaken-Ansiedelungen in Ana-
tolien haben sich bis jetzt ungestört erhalten. In Folge
seiner Reise und der vielfachen Nachfragen ist Jelissejew zur
Ueberzeugung gelangt, daß jene Gerüchte bedeutend über-
trieben sind. Außer der Ansiedelung Mo in os und einigen
vorübergehenden Lagerplätzen von Kosaken-Fischern an den
Mündungen einiger Flüsse giebt es, wenigstens auf der
Linie, welche Jelissejew kennen lernte, keine russische Ansiede-
lungen in Kleinasien.
Die anthropologischen Untersuchungen Jelissejew's ge-
langten glücklich zur Ausführung: der Zirkel, mit welchem er
seine Messungen anstellte, übte einen magischen Einfluß aus.
4.*
28
Kürzere Mittheilungen.
Ein kindischer Aga bot z. B. dem Reisenden zehn Ochsen für
die Zaubermaschine. — Jelissejew behauptet, daß die türkische
Bevölkerung in Kleinasien auszusterben beginnt. (Ein
Gleiches behaupten Kenner des Landes, wie Humann,
für das westliche Anatolien. Red.) Statt der türkischen
Dörfer findet man große Begräbnißplätze hier und da an
den Straßen, an den Bergabhängen, inmitten grüner Felder.
Das Aussterben der türkischen Rasse wird- bedingt durch
häufige Hungersnöthe, starke Steuerauflagen und durch das
Haremsleben. Uebrigens verlieren die Türken Kleinasiens
ihren reinen Typus immer mehr in Folge der Mischehen mit
den Töchtern Grusiens, Albaniens, den Inseln des Archipels
uitb anderen. Sehr verbreitet sind in Kleinasien die Armenier,
welche im Gegensatz zu den Türken ihre Nationalität streng
bewahren. Auch die Kurden haben ihre Selbständigkeit
sich erhalten. Außer den schon genannten Kizil- haschen und
Jeziden traf Jelissejew Griechen, Araber, Maroniten, Syrier,
Tscherkessen und Juden an.
Eine Reihe archäologischer Beobachtungen machte Dr. Je-
lissejew ans dem Wege von Antakieh nach Aleppo und
weiter von hier nach A int ab. In einer Höhle entdeckte er
eilt menschliches Skelett, einen Haufen verbrannter Reste, einen
großen Sarkophag und viele alte Inschriften.
Slkvers' Neise in der Sierra Nevada de Santa Marta.
Dr. W. Sievers, unseren Lesern bereits durch Beiträge
znm „Globus" bekannt, hat in seinem eben erschienenen Buche
„Reise in der Sierra Nevada de Santa Marta"
(Leipzig, Greßner und Schramm, 1887) seine auf Kosten der
Berliner Karl-Ritter-Stiftung unternommene Erforschung
jenes Gebirges, die dort gewonnenen Eindrücke und Erlebnisse
für ein größeres Publikum geschildert, und das mit vielem
Glück. Die wissenschaftlichen Resultate behält er sich vor, an
anderer Stelle zu veröffentlichen, hier tvill er nur unterhalten,
was ihm trefflich gelungen ist. Aber es ist ein trauriges
Bild, was er vor uns aufrollt: die Schwerfälligkeit im
Handel, der allgemeine Verfall, der Mangel an Wegen, die
Gesetzlosigkeit, die Faulheit und Unzuverlässigkeit der Bevölke-
rung , das Beamtenproletariat, die Aussichtslosigkeit der
colombianischen Zustünde, speciell des Staates Magdalena,
all das geht noch über die Verhältnisse hinaus, die wir für
die Türkei als typisch anzusehen uns gewöhnt haben. „Colombia
ist, besonders auch neuerdings durch die Revolution von 1885
(durch welche auch die Souverünetät der einzelnen Staaten
aufgehoben wurde) in einen ganz verzweifelten Zustand ge-
rathen, aus welchem sich herauszuarbeiten schwer fallen dürfte;
es ist gar nicht abzusehen, auf welche Weise das Land jeinals
wieder ans einen grünen Zweig kommen könnte" (S. 215).
Daß mit der Anlage von Straßen und Eisenbahnen und mit
der Einrichtung von Dampferlinien hier zu helfen sei, ist
eitele Hoffnung, denn vor allem fehlt es an Geld und zweitens
producirt der Staat Magdalena fast nichts, was irgend tvelcheu
Ausfuhrwerth haben könnte (S. 213). Abgesehen von Villa-
nueva (S. 160) am Fuße der Anden-Cordillcre, wo in Folge
des dort aufblühenden Kaffeebaues Lebhaftigkeit und geschäftiges
Treiben herrscht, sind sämmtliche Städte im Verfall und ver-
wandeln sich allmählich in Dörfer mit Strohdächern (S 153).
Von Produkten giebt es nur einige Häute und Felle, während
das völlig entwerthete Brazilholz nicht einmal die Frachtkosten
decken könnte. Dividivi (Oonltoria tinotoron), eine Schotcn-
srucht, die als Farbstoff benutzt wird, kann in größeren
Quantitäten und besseren Qualitäten an der Goajiraküste
gesammelt werden; Bananen und andere Früchte bezieht Rio
Hacha besser und billiger von Dibulla und Camarones als
von dem Inneren, Chinarinde guter Qualität giebt es nicht;
Cacao wird erst neuerdings gebaut, Tabak existirt nicht, und
Zucker lohnt die Ausfuhr nicht mehr; Erze giebt cs nicht,
obwohl jeder seine Gold- und Silberminen haben will; kurz,
es ist nicht ersichtlich, womit die Kosten der Anlage eines
guten Verkehrsweges gedeckt werden sollten, und wozu über-
haupt ein solcher angelegt werden müßte.
Klingt es nicht wie Hohn, daß Dr. Sievers im ganzen
Staate Magdalena, abgesehen von den Brücken der kurzen
Eiseubahustrecke, nur eine einzige vou den Colombianern er-
baute, nämlich die über den Manzanares bei Santa Marta,
gefunden hat, während die Arhuacos-Judianer in der Sierra
Nevada deren sieben besitzen (S. 142)?
Mau lese ferner Folgendes über die Beamten (S. 118).
Die Beschäftigung aller augenblicklich Stellenlosen ist — Trinken.
Andererseits trinken diejenigen, welche eine Stelle besitzen,
erst recht, weil sie sie besitzen; die anderen aber trinken,
weil sie sie nicht besitzen, sie aber gerne haben möchten. Die
vorzügliche Verfassung, welche alle zwei Jahre einen Wechsel
aller Beamten vorschreibt, erzieht auf diese Weise ein politisches
Proletariat, welches natürlich auf die erste beste Gelegenheit
wartet, um eine Revolution zu machen und sich Brot und
Stellung zu verschaffen. Ist daun die augenblicklich am
Ruder befindliche Partei gestürzt, so bildet diese wieder ihrer-
seits ein politisches Proletariat, welches dieselbe Laufbahn durch-
macht; es ist also ein übler eiroulrw vitiosns.
Als Hauptkrebsschaden der südamerikanischen Republiken
bezeichnet Sievers (S. 166), daß ein jeder thut, was er will;
die Gesetze an und für sich sind ganz vorzüglich, sie scheinen
aber nur dazu da zu sein, um übertreten zu lverden. Von
allen Zweigen der Verwaltung liegt wohl die Justizpflege
noch am meisten im Argen; stand doch auf Mord in Vene-
zuela uud Colombia (bis 1865) als höchstes Strafmaß eine
Zuchthausstrafe von 10 Jahren, uud konnten doch die Zucht-
häusler überzeugt sein, daß sie bei der ersten besten Revolution
von der Gegenpartei befreit wurden, wie es thatsächlich 1884
in Trujillo in Venezuela und 1885 in Pamplona im Staate
Santander in Coloiubia geschah. Dr. Sievers erzählt mehrere
Beispiele höchst laxer Justiz, von welchen nur Folgendes an-
geführt sei. Als vor Jahren einmal in Rio Hacha ein Ein-
geborener einen Franzosen erschoß, vernrtheilte man ihn zu
fünf Jahren Zuchthaus und schickte ihn nach Santa Marta;
hier jedoch gestattete man ihm, sich einen kleinen Laden an-
zulegen und nach Herzenslust seine Geschäfte zu betreiben, nur
Nachts mußte er in die Strafanstalt zurückkehren. Als er
auf diese Weise seine fünf Jahre abgesessen hatte, kehrte er
mit einem kleinen Vermögen nach Rio Hacha zurück!
Freilich verdient es das Volk nicht, von seinen Beamten
besser behandelt zu werden; Faulheit und Unzuverlässigkeit
sind seine am meisten hervorstechenden Eigenschaften (S. 168),
und kaum glaublich ist die beim Handel entwickelte Schwer-
fälligkeit, worüber man S. 67 ff. nachlesen möge.
Mit den ursprünglichen Bewohnern des Landes, den
Indianern, steht es in vieler Hinsicht nicht besser; die
Arhuacos, vielleicht Reste verschiedener Stämme, welche
sich vor den Spaniern in die Sierra Nevada gerettet haben
und dort in einer Anzahl von etwa 3000 Seelen leben,
bezeichnet wenigstens Dr. Sievers als wenig gastfrenndlich,
körperlich und geistig schwerfällig und überaus trüge. Das
6. Kapitel, welches vou diesen Arhuacos eingehend handelt,
ist eines der interessantesten im ganzen Buche.
Eigenthümlich ist bei ihnen die Sitte der scharfen Tren-
nung der Geschlechter (S. 84). In Folge derselben stehen
die Häuser meist zu zweien einander gegenüber, eines für die
Frau und Kinder, das andere für den Mann. Die Geschlechter
dürfen nicht in demselben Hause sein; diese Sitte wird streng
eingehalten, und Dr. Sievers sah oft, daß, sobald die Frau
Kürzere Mittheilungen.
29
m das Haus trat, der zufällig anwesende Manu sofort !
herauskam. Zwischen beiden Häusern befindet sich ein Stein;
ans diesen setzt die Frau eine Schale mit Essen für den
Mann; hier verzehrt derselbe seine Mahlzeit und unterhält
sich mit seiner in der Thür stehenden Ehehälfte, bei Regen-
wetter eine wenig bcneidenswerthe Lage. Daher kommt es
auch lS. 90), daß die ehelichen Pflichten niemals im Hause
ausgeübt werden, weil eben die Geschlechter nicht zusammen
in demselben Hause weilen dürfen; die Arhuacos begeben sich
daher zu genanntem Zwecke ans das Feld oder in die Ba-
unnenpflanznilgen. Selbst auf die Kultur der Cocapflanze,
deren Blätter als unentbehrliches, anregendes und hunger-
stillendes Mittel von den Indianern mit pulverisirten Muschel-
schalen zusanunen ständig gekaut werden, erstreckt sich diese
Trennung. Das Pflücken der Blätter geschieht ausschließlich
durch die Frauen — dieselben dürfen zu jeder Jahreszeit,
jedoch nur einzeln, gesanunelt werden — während die Arbeit
des Säens nur von Männern vollzogen werden kann. Aus
der angeblichen Kunst des Säens, das zn allen Zeiten, be-
sonders aber im März bis Mai, stattfindet, machen sie ein
großes Geheimniß, indem sie behaupten, daß, wer es nicht
verstehe, die Pflanze richtig zn säen, sterben müsse. Den
Männern füllt dann wiederum die nach dem Pflücken ein-
tretende Zubereitung, nämlich das Rosten, zn (S. 84 ff.).
Sonst scheint die Stellung der Frauen bei den Arhuacos
derjenigen der Männer in vielen Beziehungen ebenbürtig zu
sein; wenigstens haben sie starken Einfluß auf den Kauf.
Häufig kann eine Verabredung nicht als gesichert gelten, wenn
man versäumt hat, die Zustimmung der Frau einzuholen.
Ans allen seinen Wegen tvird der Arhuaco von seiner Frau
begleitet, und zwar geht dieselbe stets vor ihm her, so daß,
wenn man mit indianischen Führern tut Gebirge herumzieht,
stets die Frauen dabei sind und den Vortrab bilden; daun
folgen die Männer, hierauf die Reisenden. Im Uebrigen
liegt der Frau alle Hausarbeit ob, und auch die Bearbeitung
der Anpflanzungen ist ihre Aufgabe.
Außer dem Kapitel über die Arhuacos enthält das
Sievers'sche Buch noch eiu zweites ethnologisches über die
Goajiros; da indessen der „Globus" schon früher (Bd. 49,
S. 155 f.) nach Simons über dieselben berichtet hat, so gehen
tvir hier nicht näher darauf ein.
Der geographisch wichtigste Theil der Reise betraf das
Hochgebirge der Sierra Nevada, mit welchem sich hauptsächlich
das 7. und 14. Kapitel beschäftigen; genauer werden wir
dasselbe freilich erst kennen lernen, wenn des Autors Karte
in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin
erschienen sein wird Z.
Der höchste Theil des Gebirges, das Hauptziel des
Dr. Sievers, bildet einen ziemlich regelmäßigen Kamm von
etwa 4000 bis 4800 m, über welchen sich einzelne Gipfel
von zum Theil schroffen Formen erheben, einige mit dem
weißen Schneemantcl völlig bedeckt, andere nur zum Theil
. 9 Das Fehlen einer, wenn auch einfachen Uebersichtskarte
erschwert das Verständniß des Buches sehr; nur wenige Leser
dursten im Besitze der Simons'schen oder Codazzi'schen Karten
1"» und nur diese erlauben es bis jetzt, der Route des Autors
zu solgen. So vorzüglich die acht dem Buche beigegebenen Ab-
Uoungcn von Prof. A. Göring auch sind, so hätten wir doch lieber
1 UT eine oder die andere derselben verzichtet, als aus eine Karte.
in Schluchten, Spalten und Rinnen Schnee führend, da die
steilen Abstürze zuweilen dem Schnee verwehren, liegen zu
bleiben. Im Ganzen zählt man etwa 8 bis 10 große und
kleine Schneegipfel, von denen besonders zwei hervorragen;
sie liegen sämmtlich in einer von W nach O streichenden Linie,
und zwischen ihnen breiten sich Schneefelder und auch ein
kleiner Gletscher aus. Das ganze Gebirge macht im höchsten
Grade den Eindruck des Verlassenen und Verödeten, und
wenn das schon für die Trockenzeit gilt, so in noch weit
höherem Maße an Regentagen. Im Allgemeinen gilt die
Regel, daß die Nordabhänge des Gebirges bewaldet sind, die
Südabhänge kahl, offenbar eine Folge der Vertheilung und
Menge der Niederschläge: die dem Meere und den feuchten
Seewinden zugekehrte Seite ist mit frischer, üppiger Vegetation
bedeckt, die dem Meere abgewendete Seite leidet an Wasser-
mangel; hier trocknen die Flüsse im Cesärthale ein, dort stößt
man ans die ungeheure Wasserfülle und Vegetation des Nord-
abhanges, wie sie uns das Titelbild vor Augen führt. Diesem
Nordabhange galt der letzte Theil der Reise, und hier lernte
Sievers den Urwald in seiner vollen Großartigkeit, aber zu-
gleich auch mit seinen entsetzlichen Plagen, beit Mosqnitos,
Zancudos, Je-jön, Fliegen, Skorpionen, Tausendfüßen, Mos-
quitowürmern und Zecken zur Genüge kennen.
„Wer einen solchen echt tropischen Urwald nicht gesehen
hat, — schreibt Sievers S. 267 — vermag sich durchaus
keinen Begriff davon zu machen; die ungeheure wandartige
Pflanzenmasse, die sich zu beiden Seiten des sogenannten
Weges ausdehnt, das domknppelartige Gewölbe riesiger
Palmen aller möglichen Arten, welche im Verein mit einer
Unzahl von anderen Bäumen und Schlingpflanzen von beispiel-
loser Wucherung ein undurchdringliches Laubdach bilden, ruft
gänzliche Abgeschlossenheit hervor; kaum ein Strahl der Sonne
dringt in diese in einander verschlungenen Kronen, in diesen
unentwirrbaren Wust von Vegetation hinein; ungeheure
Wurzeln, die eine bis zur Brust eines ausgewachsenen
Mannes reichende Höhe besitzen, spannen sich ans dem Boden
aus, so daß die Thiere häufig nur mit Mühe über sie hinweg
schreiten können; von oben herunter hängen Rauken und
Bogen der Luftwurzeln und Lianen bis zur Dicke der größten
Schiffstaue; häufig entgeht man nur mit knapper Noth der
Gefahr des Anfhängcns .... Baumstämme in unendlicher
Zahl ragen über den Weg; bald stößt man zur Rechten an
einen Stumpf, bald reißen die Dornen von links das Gewand
entzwei; bald muß man sich bis auf den Hals des Thieres
bücken, um unter einem quer über den Weg in der Brusthöhe
des Reiters liegenden Staunn hiudurchzuschlüpfen..............
Papageien der großen, rothen Guacamayo genannten Art,
sowie auch die grünen Loros und die kleinen grünen Pericos
kommen in Menge vor; sie turnen auf den Kronen der Bäume,
oder fliegen in Schaarcu vorbei, oder sitzen nahe am Wege
und schwatzen ihre seltsamen Laute; Affen erfüllen plötzlich
mit ihrem Geschrei die todte Stille des Waldes, in welchem
man sonst nur das Echo des Hufschlags, das Athmen der
Pferde und das Brechen und Knacken der Zweige vernimmt,
die man mit seinem eigenen Körper zerbricht. Grauenhaft
großartig ist diese Ruhe; man erhält den Eindruck, als sei
man in eine andere Welt versetzt; und. trotz der Strapazen
und Mühen bei Durchschreitung derartiger Wälder bilden
diese Stunden doch fast die schönsten Erinnerungen der Reise."
30
Aus allen Erdtheilen.
Aus alle»
Europa.
— Am 8. December des vorigen Jahres feierte der
Frankfurter Verein für Geographie und Sta-
tistik, der Zweitälteste im Deutschen Reiche und der vierte
Europas, sein 50jähriges Stiftungsfest mit Festreden seines
Vorsitzenden von Oven und des Prof. Th. Fischer (Die Fort-
schritte und die Entwickelung der geographischen Wissenschaft
in den letzten 50 Jahren) und Ernennung zahlreicher Ehren-
mitglieder. Jene lesenswerthen Reden bringt der 50. Jahres-
bericht für 1885 bis 1886 (Frankfurt a. M., Gebr. Knauer),
welcher außerdem einen Nekrolog auf den um Frankfurt hoch-
verdienten Dr. G. Varrentrapp, Bemerkungen zur Litteratur
über die Ethnologie Amerikas von Prof. Gerland, welcher
nachdrücklich auf die großen Fortschritte in diesem Wissens-
zweige hinweist, und einen Aufsatz P. Scheitweiler's über
„Die Rhön und ihre wirthschaftlichen Verhält-
nisse" (auch im Separatabdruck, ebenso wie die Fischer'sche
Festrede, erschienen) enthält. Letzterer giebt eine kurze
Schilderung der natürlichen Beschaffenheit und der Bewohner
des zwischen vier deutschen Staaten getheilten Gebirges und
weist au der Hand der Statistik nach, daß die sprichwörtlich
gewordene Armuth der Rhön im großen Ganzen nicht vor-
handen, daß sie wohl in einzelnen Dörfern zu finden ist,
aber nicht ain ganzen Gebirge haftet. Es giebt vielmehr in
Deutschland Gegenden, die zweifellos erheblich ärmer sind
als die Rhön, z. B. das Usinger Land im Taunus und be-
sonders die ain nördlichen Fuße des Feldberges belegenen
Dörfer, deren Steuererträgniffe noch hinter denen der Rhön
zurückbleiben. Außerdem aber sind in neuerer Zeit von
Sachsen-Weimar, Bayern und Preußen vier Eisenbahnlinien
zum Theil bereits ausgeführt, zum anderen Theil gesetzlich
genehmigt, welche das Gebirge ausschließen und seine wirth-
schaftlichen Verhältnisse verbessern werden. Sie sollen eine
Verwerthung seiner immerhin mäßigen Bodenschätze erst er-
möglichen, eine Ausnutzung des Waldes, in welchem das
Holz heutzutage fast werthlos ist, gestatten, den Viehexport
erleichtern und umgekehrt die zahlreichen Bedürfnißartikel,
wie Getreide, Kolonialwaaren, Eisen rc., die von außen her
in die Rhön eingeführt werden müssen, verbilligen. So ist
Hoffnung vorhanden, daß auch dieses Gebiet zu einem wirth-
schaftlich starken Theile unseres Vaterlandes emporgehoben wird.
— Am 11. Mai 1887 starb in Paris im 86. Lebens-
jahre der Cheiniker und Südamerika-Reisende Jean Baptiste
Joseph Dieudonuü Bonssingault. Geboren 2. Februar
1802 in Paris, studirte er ans der Bergbauschule in St.
Etienne, ging dann, wenig über 20 Jahre alt, im Auf-
träge einer englischen Minengesellschaft nach Kolumbien und
blieb 10 Jahre im nördlichen Südamerika, wo er Beob-
achtungen über Geologie, Erdmagnetismus, Meteorologie,
Höhenverhältniffe und Botanik anstellte und mit welchen er
A. v. Humboldt's ganzen Beifall erwarb. Auch während
der Feldzüge, in denen er den General Bolivar als Oberst
begleitete, fuhr er damit fort und bereiste außer Kolumbien
noch Venezuela, Ecuador und Peru. Nach Frankreich zurück-
gekehrt, wurde er Professor der Chemie in Lyon, 1839 Mit-
glied des Instituts in Paris. Die eine Hälfte des Jahres
lebte er in Paris, die andere ans seinem elsässischen Gute
Bechelbronn, wo er das erste landwirthschaftliche Laboratorium
einrichtete. Seine Schriften beziehen sich hauptsächlich auf
Agricnltnrchemie.
E r d t h e i l e n.
— Eine philologische Untersuchung, welche für Geographen
und namentlich Statistiker nicht ohne großes Interesse ist,
ist Professor I. Beloch's Buch: „Die Bevölkerung der
griechisch-römischen Welt" (Leipzig, Duncker & Humblot,
1886). Die Quellen und die Daten, auf welchen sich dieselbe
aufbaut, sind freilich ganz andere als die, mit welchen Geo-
graphen und Statistiker sonst hantiren: zerstreute Angaben
der Klassiker, namentlich über Heeresstärke und Getreidever-
brauch, Inschriften und Jnschriftensragmente u. dergl., und
sie sind spärlich genug, aber vielleicht nicht spärlicher, als sie
uns heute für einen großen Theil der Erde zu Gebote stehen,
für welchen man dennoch versucht, Areal- und Bevölkernngs-
ziffern zu construiren. Belach behandelt als Erster die ganze
hierher gehörende Ueberlieferung nach philologischer und sta-
tistischer Methode iin Zusammenhange und wendet in müh-
samer Rechnung die Regeln und Gesetze, welche für ein
wohlbekanntes Gebiet festgestellt worden sind, auf andere un-
bekannte an. So gelangt er, oft im scharfen Gegensatze zu
Autoritäten wie Böckh und Mommsen, zu merkwürdigen Re-
sultaten, welche den kolossalen Bevölkernugsziffern früherer
Gelehrten diametral gegenüberstehen. So schlug Justus Lipsins
die Bevölkerung des kaiserlichen Roin auf 4 Millionen au,
Isaak Vossius gar auf 14 Millionen und noch Riccioli hält
eine Bevölkerung von 410 Millionen für das römische Reich
unter Augustus für wahrscheinlich. Selbst Montesquieu be-
behauptete, es gäbe zu seiner Zeit auf der Erde nur uoch den
zehnten Theil der im Alterthum vorhandenen Menschenzahl.
Diesen Uebertreibungen trat 1752 David Hume entgegen,
der aber von der Aufstellung bestimmter Zahlen absieht; seit-
dem haben die einschlägigen Fragen wohl manche Förderung
im einzelnen erfahren, aber keine umfassende Behandlung,
wie sie Beloch bietet. Natürlich ist hier nicht der Ort, seinen
Untersuchungen im Detail zu folgen; einige Hinweise müssen
genügen. So findet er, daß Athen im Jahre431 nur 110000
bis 115 000, gauz Attika 235 000, ganz Griechen-
land mit Einschluß von Macédonien 3 051 000 Einwohner
(darunter etwa 1 Million Sklaven) gehabt hat. Für Rom
ermittelt er auf drei verschiedene Weisen für die ersten drei
nachchristlichen Jahrhunderte, während welcher seine Bevölke-
rung nur wenig geschwankt hat, eine Zahl von 800 000 See-
len, für Sulla's Zeit etwa 400 000, und für das ganze römische
Reich bei Augustus' Tode ein Areal von 3 339 500 qkm
und eine Bevölkerung von 54 Millionen, wovon 23 Millionen
auf Europa (6 Millionen auf das festländische Italien, 1 100 000
auf die italischen Inseln, 6 Millionen auf Spanien, 1 x/2 Millio-
nen ans die Narbonensis, 3 400 000 ans die drei Gallien,
2 Millionen ans die Donauländer, 3 Millionen auf die grie-
chische Halbinsel), 19^2 Millionen auf Asien und 11 x/2 Millio-
nen auf Afrika entfallen würden.
Asie n.
— Am 17. Mai hat sich in Brüssel die Belgisch-
Persische-Eisenbahngesellschaft constituirt und hat
dann sofort ihren Delegirten in Teheran beauftragt, die erste
der zu erbauenden Strecken zwischen Teheran und dem 10 km
entfernten Wallfahrtsorte Schah-Abdul-Azim in Angriff zu
nehmen. Am 5. Juni haben die Arbeiten in der That
begonnen. Jene kurze Strecke soll nach der Absicht der
Gesellschaft dasAnfangsglied einer, ganz Persien vom Kaspi-
Aus allen Erdtheilen.
31
scheu Meere bis zum Persischen Meerbusen durchschneidenden
Eisenbahn werden.
— Die in Moskau lebenden sibirischen Kaufleute haben
eine Ausstellung von Waaren, welche aus Kamtschatka
ausgeführt sind, veranstaltet (vergl. „Globus", Bd. 51, S. 191).
Ueber die leitenden Gründe dabei, sowie über die Lage des
russischen Handels in Kamtschatka schreibt man der Zeitung
„Sibir", 1887 (Nr. 14 bis 15). Die Ausstellung umfaßt
Proben und Muster verschiedener Waaren, sowohl russischer
wie fremder, wie solche gegenwärtig in Kamtschatka verkauft
werden. Dieselben sind zum Theil in Petropawlowsk in
Kamtschatka, znm Theil auf der Kupfer- und Bering-Jnscl
eingekauft. Zweck der Ausstellung ist, die Moskauer Fabri-
kanten und Händler dafür zu interessiren, daß sie ihre Pro-
dukte nach Kamtschatka ans den Markt bringen, daß sie aber
auch in Kamtschatka selbst vor allen Rauchwaaren einkaufen
sollen. Kamtschatka ist reich an solchen, und Eichhörnchen
(Beh), Fuchs, Zobel, Eisfuchs und viele andere Pelzthiere
giebt es dort in Menge; daneben kann auch Fischbein ein-
gehandelt werden. Daß der Verkehr mit Kamtschatka jetzt
der freiwilligen Flotte übergeben worden ist, wurde schon
früher mitgetheilt; es sollen jährlich zwei Reisen gemacht
werden, eine nach Wladiwostock und Petropawlowsk, die andere
eine Küstenfahrt, um alle Küstenorte zu berühren. Die Fracht
beträgt von Moskau bis nach Kamtschatka oder irgend einem
Ochotsker Hasen etwa 1 Rubel 60 Kopeken bis 2 Rubel
20 Kopeken (3 Mk. 20 Pfg. bis 4 Mk. 40 Pfg.) für das
Pud (16 Kilo), die Versicherungsgebühr etwa 2 Proc. Als
Dauer des Transportes können von Moskau bis an die
äußersten Punkte Kamtschatkas etwa 70 bis 75 Tage ge-
rechnet werden. Die Beförderung von Waaren hat schon
so zugenommen, daß int vorigen Jahre ein Schiff mit voller
Ladung von Nikolajewsk und Wladiwostock nach Kamt-
schatka ging; in diesem Jahre werden zwei Schiffe befrachtet
werden.
— Von dem Reisenden Caretz (vergl. „Globus", Bd. 51,
S. 222 und 335) sind Briefe aus Leh in Ladak eingegangen,
worin er sein zweites Reisejahr in Centralasien beschreibt.
Am 30. April 1886 war er von seinem Winterquartier
Tschaklik im Süden des Lob-Nor aufgebrochen, um die wenigen
Sommermonate zur Erforschung des nördlichen Tibet zu ver-
wenden; er überschritt die ans Prshewalski's Berichten be-
kannten Gebirge Altyn Tagh und Tschamen (Tschiman) Tagh
und gelangte an den Fuß einer hohen Gebirgskette, welche er
für den Kwen-lün erklärt; es ist das wohl dieselbe, deren
einzelnen Theilen Prshewalski auf seiner letzten Reise die
Namen Marco-Polo-, Columbns- und Moskau-Gebirge
beigelegt hat (vergl. „Globns", Bd. 48, S. 27). Hier gelang
es seinen Führern nicht, einen Paß zu finden, der so früh im
Jahre zugänglich gewesen wäre, und so mußte er durch eine
öde und unwegsame Gegend ziemlich weit nach Osten reisen,
bis zuletzt ein Weg über das Gebirge gefunden wurde, welcher
südlich in das Thal des Ma-tschu, d. h. eines Qnellflnsses
des Jang-tse-kiang, führte. Diesem folgte man, wie cs scheint,
abwärts, bis man die große Straße, welche den Kukn-Nor
>"ld Lhassa verbindet, erreichte; hier zwang Mangel an Pro-
viant und Futter die Expedition, nach Norden zurückzugehen
und den Kwen-lün auf Pässen wieder zu überschreiten, die
ans bereits aus den Berichten Prshewalski's und des Pan-
diten A. . . i bekannt sind. Carey befand sich nun in
Tzaidam, ließ seine Karawane zu ihrer Erholung in Golmo
zurück und unternahin selbst eine interessante Rundreise durch
die Gegend, während welcher er vielfache Berührungen mit j
ix’it dort hausenden nomadischen Kalmüken und Mongolen '
hatte. Dieselben waren friedlich, aber wenig gastfreundlich
gesinnt nnd weigerten sich öfters, Lebensmittel oder Korn
gegen Geld herzugeben. Im Herbste machte Carey schließ-
lich noch eine zweite Reise über den Kwen-lün und zog
dann quer durch Tzaidam und die Gobi nach Chami
nnd Urumtsi, der anl Nordabhange des Titzn-schan gelegenen
Hauptstadt von Chinesisch-Turkestan. Dort nahm ihn der
chinesische Statthalter freundlich auf und entließ ihn nach
Jarkand, wo er im Anfange des laufenden Jahres eintraf
und von wo er am 7. März nach Ladak aufbrach. Die
Hauptschwierigkeiten, mit denen er ans seiner kühnen Reise
zu kämpfen hatte, waren Schnee, Mangel an Futter und die
Widerspenstigkeit seiner Pony-Treiber. Bon Tschaklik am
Lob-Nor bis zu dem Punkte, wo er im Juli die Lhassa-
Straße erreichte, war er 83 Tage unterwegs, ohne daß er
während dieser ganzen Zeit einem einzigen Menschen begegnete.
Ein großer Theil seiner ausgedehnten Reiseroute führte durch
bisher unbekanntes, jungfräuliches Gebiet.
— Wie dem „Neuen Rotterdamer Courant" ans Batavia
geschrieben wird, hat auf Cer am Folgendes stattgefunden:
Vor etwa acht Monaten befand sich während einer Epidemie,
die man fälschlich für Cholera hielt, zu Klein-Keffeng (Ceram
Kee) eine junge, von Key stammende Frau, die man für
eine Hexe erklärte und der man die Epidemie, welche so viele
Opfer forderte, zuschrieb. Die ganze Bevölkerung flüchtete,
die der Hexerei beschuldigte Frau natürlich auch, da sie für
ihr Leben fürchten mußte. So kam sie, indem sie bei Fluth-
zeit in den Bäumen Schutz suchte, bei Ebbe sich am Strande
entlang bewegte, ohne Nahrung oder irgend welche Erleichte-
rung zu erhalten, zu Ernanau (Regentschaft Kwaos, Insel
Groß-Ceram) an. Auch da wurde sie für eine Hexe (swangie)
erklärt. Von dem Imam (Priester) und einigen Leuten des
Dorfes wurde ein Floß ans Zweigen der Sagopalme ver-
fertigt, die Frau mit langen Stangen auf dasselbe befördert
und hierauf das Floß durch ein Boot an einem langen Strick
ans Schlepptau genommen und in das offene Meer hinaus-
geführt, wo man das Tan los machte, damit die Frau durch
die Wellen oder durch Hunger ihren Tod fände. Glücklicher
Weise befindet sich in der Nähe die ziemlich lebhafte Passage
zwischen der kleinen Insel Gesser und Groß-Ceram. Die Frau,
die von Kälte nnd Hunger sehr gelitten hatte, wurde von der
Bemannung eines Schiffes bemerkt und aufgenommen. Sie
wurde vor den damaligen Posthalter von Warn gebracht, der
jedoch erklärte, die Sache nicht verfolgen zu können, da Be-
weise fehlten. Was muß nun, fragt der Korrespondent, in
solchen Fällen, die in jener Gegend ziemlich häufig vorkommen —
so wurde die Papua-Frau Abis lebendig begraben, doch die
Sache wurde nicht verfolgt, da nach der Ansicht des Vorsitzen-
den im Landrath zn Banda nur Theilnehmer an der Handlung,
aber keine Zeugen derselben anwesend waren — geschehen, da
ja so ein Mord straflos bleibt und die Ceramer ermuthigt
werden, allerlei Vorwände zn erfinden, um sich ihrer Feinde
zu entledigen?
— Der „Allgemeinen Zeitung" wird aus Tokio geschrieben,
daß die „Canadian Pacific Line", welche im An-
schlüsse an die canadische Pacific-Eisenbahn die Dominion of
Canada mit Ostasien und im Besonderen Victoria auf Van-
couver mit Aokohama verbinden soll, am 29. Mai von
Yokohama aus ihre Fahrten beginnen wird. Die Dampfer
sollen solche ersten Ranges sein (4000 Tonnen mit einer
Schnelligkeit von 13 bis 14 Knoten) und in Zwischenräumen
von 20 Tagen abgehen. Die neue Linie wird die ameri-
kanische Linie zwischen Tokio und San Francisco zn bedeuten-
der Concurrenz anspornen, nnd man darf daher hoffen, daß
die Zeit von etwa 35 Tagen, welche ein Brief von Japan
über San Francisco nach Deutschland bisher brauchte, in
Zukunft sich noch um einige Tage verkürzen wird.
82
Aus allen Erdtheilen.
Afrika.
— Die Forschungen Collignon's in Südtunesien
haben einen überraschenden Reichthum an Feuersteinwerk-
zeugen ergeben, sowie eine Menge alter Arbeitsstätten. Es
ist von großem Interesse, daß die letzteren säst ausschließlich
an Stellen liegen, denen es auch heute noch nicht an Wasser
fehlt, an ausdauernden Brunnen oder am Abhange von
Thülchen, in welchen nur im Sommer das Wässer verschwindet.
Es scheint also seit der Steinzeit der Zustand des Landes
sich nicht wesentlich geändert zu haben. Die Werkzeuge ent-
sprechen theils dem typ6 cli elle en, zum größeren Theile
aber dem type mousterien, oder sie sind neolilhisch. Mit
dem Vorschreiten nach Norden werden sie immer seltener;
nördlich und östlich von Sbeïtla und Scherischcra wurden
keine mehr gefunden. Das Gebiet der megalithischen Monu-
mente bildet einen unregelmäßigen Fleck an der Nordgrenze
der Feuersteinzone; die Dolmen bilden vier Hanptgrnppen,
eine große geschlossene um Ellöz, eine zweite bei Tebursuk,
eine dritte bei Sbeïtla, die letzte und bekannteste in der Domäne
Enfida. Bei Gafsa finden sich Steinbeile in einem quater-
nären Konglomerat, das nur durch einen Fluß von ziemlicher
Bedeutung gebildet worden sein kaun.
— Am 14. Mai haben englische Unternehmer mit der
Trockenlegung des Abukir-Sees im Osten von
Alexandrien begonnen, und hoffen den größten Theil der
Arbeit, durch welche ein Gebiet von 18 000 bis 20 000Fcd-
dans für den Ackerbau gewonnen werden soll, bis zum Ende
dieses Jahres fertig zu stellen. Es werden dadurch nicht
allein die gesundheitlichen Verhältnisse von Ramle und selbst
von Alexandrien gebessert werden, es ist auch dadurch für
mehrere Tausende Arbeiter Beschäftigung auf längere Zeit
geschaffen, es werden etwa 4000 Familien neu angesiedelt
werden können, und schließlich hofft man auch noch ans
bessere Erträge der Eisenbahnlinie Alexandria-Rosette.
— In einem Artikel über die Bewohner der Umgegend
von Suakin erwähnt D. A. Cameron, daß die echten
Suakiner von den umwohnenden Arabern Hadareb genannt
werden; daraus schließt er auf ihre Abstammung von den
Bewohnern von Hadramaut in Südarabicn, welche Hadranu
genannt werden. Es ist das wieder ein Beweis, mit welcher
Leichtfertigkeit Conjecturen gemacht und in die Oeffentlich-
keit gebracht werden. Genau mit demselben Rechte könnte
Herr Cameron auch die nordafrikanischen Mauren zu Kolo-
nisten aus Hadramaut machen, denn Hadar, Hausbewohner,
heißt der Stadtaraber überall in arabischen Ländern im
Gegensatz zu dem zeltbewohnenden Nomaden, dem Hal bit
eschschür oder Rahhala, dem Umherschweifenden, der bei
Suakin nach Cameron mit dem Namen Orb an belegt wird.
Ko.
A u st r a l i e n.
— Die Kolonie Südaustralien hatte am 28. Deccm-
ber 1886 ein Alter von fünfzig Jahren erreicht. Sie
wird es durch eine am 20. Juni 1887 in der Hauptstadt
Adelaide zu eröffnende internationale Industrieausstellung
feiern. Den Fortschritt der Kolonie in diesem Zeiträume
constatiren in Kürze die nachfolgenden statistischen Angaben,
welche sich auf beit Schluß des Jahres 1886 beziehen. —
Südaustralien umfaßt jetzt einen Flächeninhalt von 42 501
deutschen Quadratmeilen. Davon entfallen 17 875 ans die
Kolonie im engeren Sinne, also ans den südlichen Theil, und
die übrigen auf den nördlichen oder das Northern Territory.
In Privatbesitz waren 4410 617 ha übergegangen und davon
1114843 unter Kultur gebracht. Die Hauptfrucht ist Weizen.
Es standen darunter 797 200 ha mit einem Ertrage von
10 835 000 Büschel (36,34 Liter). — Die Bevölkerung be-
lief sich ans 318 610. Die City of Adelaide zählte 45 333
Seelen und mit den Vorstädten 57 610. Die Finanzen der
Kolonie sind zur Zeit in sehr schlechtem Zustande. Die Ein-
nahmen im Jahre 1886 betrugen 1 975 269 Pfd. St., die
Ausgaben erforderten 2 234 395 Pfd. St. Unter Hinzu-
rechnung der Unterbilanzen in den Vorjahren bestand ein
Deficit von 1 043 248 Pfd. St. Die Haupteinnahmen
stoffen aus den Eisenbahnen, den Eingangszöllen, dem Post-
und Telegraphenwesen, der Einkommensteuer und dem Ver-
kaufe von Kronlaud. — Die öffentliche Schuld war auf
19 203 300 Pfd. St. oder 60 Pfd. St. 51/2 Sh. (1206 Mark)
pro Kopf der Bevölkerung angewachsen und ist jährlich niit
796 224 Pfd. St. zu verzinsen. — Die Einfuhr int Jahre 1886
hatte einen Werth von 4 862 760 Pfd. St., wovon aber tut
Betrage von 1 666 870 Pfd. St. wieder ausgeführt wurde.
Auf Großbritannien und dessen Besitzungen entfielen
4 546 693 Pfd. St. und auf andere Staaten nur 316 067
Pfd. St. (ans Deutschland 43 986 Pfd. St. gegen 38 966 Pfd.
St. und 61 727 Pfd. St. in den Vorjahren). Die Ausfuhr
ohne die Wiederausfuhr nach Großbritannien und dessen
Besitzungen bewerthete 2 616433 Pfd. St. und nach anderen
Staaten 205 705 Pfd. St. (nach Deutschland 4740 Pfd. St.
gegen 580 Pfd. St. und 2286 Pfd. St. in den Vorjahren).
Zu den wichtigsten Exportartikeln zählten 127 540 Ballen
Wolle zu 1 447 971 Pfd. St., Mehl mit 544 476 Pfd. St.,
Weizen mit 82134 Pfd. St., Kupfer mit 230868 Pfd. St.,
Häute und Felle mit 125 322 Pfd. St., Gold mit 32 535
Pfd. St., Wein mit 23 731 Pfd. St. u. s. w. — Der Vieh-
stapel der Kolonie bestand in 168 420 Pferden, 389 726
Rindern, 6 696 406 Schafen und 163 807 Schweinen. —
Die Kolonie besaß 1950 hur fertiger Eisenbahnen, deren
Ban 8 590 384 Pfd. St. gekostet hatte. Das Telegrapheu-
netz besaß 8603 km Länge. Die Zustände der Kolonie
liegen zur Zeit sehr ungünstig. Die schwache Bevölkerung
ist nicht im Stande, die gewaltige Schuldenlast zu verzinsen;
die Auswanderung steigert sich in bedenklicher Weise; der
Grundbesitz sinkt immer mehr im Werthe; Noth und Elend
ist allgemein und Bankerott an der Tagesordnung. Der
Grund liegt in den niedrigen Preisen der Stapelprodukte
(Wolle, Getreide und Kupfer), in den häufigen schlechten
Ernten und in der großen Schuldenlast, welche um so schwerer
ins Gewicht fällt, als die Hälfte der Staatsschuld für nicht
prodilktive Zwecke verwendet wurde.
Vermischtes.
— O. Hübner's statistische Tafel ist soeben für den
Jahrgang 1887 erschienen (50 Pfennig-Ausgabe in Taschen-
format, gebunden 1 Mark). Diese ungemein praktische, wegen
ihres reichen Inhalts, ihrer Gründlichkeit und Uebersichtlich-
keit allgemein eingebürgerte Tabelle hat wiederum eine sehr
bedeutende Umarbeitung erfahren. Sie giebt nach streng
amtlichen Mittheilungen über tausenderlei, den ganzen Erdball
umfassende Dinge Auskunft. Die Tafel ist daher jedem
Zeitungsleser zur Anschaffung sehr zu empfehlen, denn sie
bringt die neuesten Zahlen nicht allein über Industrie und
Handel, sondern auch über die Heeres-, Bevölkerungs- und
Münzverhältnisse tc. aller Länder.
Inhalt: Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien. V. (Mit fünf Abbildungen.) — Baku. II. (Mit zwei Abbildungen.) —
Kürzere Mittheilungen: Dr. Jelissejew's Reise durch Kleinasien. — Siever's Reise in der Sierra Nevada de S. Maria. —
Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien. — Vermischtes. — (Schluß der Redaction am 19. Juni.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag don Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
SUt besonderer Herueksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
D r. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 18 87,
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
VI.
Während Prshewalski mit seiner Karawane am Jußc
des Berges Bumsa, aus Antwort aus Lhassa wartend, ver-
weilte, hatte er Gelegenheit, sich mit den nomadisirenden
Tibetern, welche in nächster Nähe lagerten, bekannt zu
machen.
In ihrem äußeren Ansehen haben die Tibeter viel
Aehnlichkcit mit ihren Stammesbrudern, den Tan guten.
Tibeter wie Tangutcn sind weder den Mongolen, noch den
Chinesen ähnlich, am ehesten erinnern sie noch an die russischen
Zigeuner-, doch macht ihr Gesicht oft den Eindrucks als
handele es sich um ein Gemisch aus Mongolen und Zigeu-
nern. Der Wuchs der Männer ist im Allgemeinen ein
mittlerer, selten ein hoher, die Brust etwas flach, wie ein-
gefallen, der Körperbau nicht kräftig; die Hautfarbe dunkel-
gelb, wie heller Kaffee; der Schädel länglich von der Seite
zusammengedrückt, so daß das Gesicht vortritt; die Stirn
flach; die Nase meistens gerade und sein; die Wangenhöcker
wenig vorspringend, das Auge groß, schwarz, nicht schief
gestellt und nicht tiefliegend; die Ohren von mittlerer Größe,
nicht abstehend, die Lippen mitunter dick. Das Kinn vor-
tretend; die vorderen (Schneide-) Zähne, durch weite Zwischen-
räume von einander getrennt, ragen mitunter aus der Mund-
öffnung vor. Der Bartwuchs ist sehr schwach; oft werden
die Haare ausgerupft. Die Haupthaare sind schwarz, lang
und liegen bündelweise beisammen, wie die Schweifhaare
on^s ^ak. Dieselben werden nie gekämmt und nie ge-
schnitten,^ sondern fallen in Unordnung auf die Schultern
herab; hinten werden sie zu einem Zopf geflochten. Die
Lamas scheeren und rastren den Kopf. Der Zopf wird
mit seidenen Fäden umschlungen und mit knöchernen Ringen,
rothen Perlen, kupfernen und knöchernen Plättchen verziert.
Globus LH. Nr. 3.
Außerdem tragen die Männer nicht selten im linken Ohr-
läppchen sehrgroßesilberneOhrringeund andenFingern Ringe.
Die Frauen der Tibeter sind klein, schmutzig und im
Allgemeinen häßlich, nur hier und da sieht man angenehme
Physiognomien. Die Gesichtsfarbe ist Heller, die Vorder-
zähne sind regelmäßiger als bei den Männern. Die Haare
werden vorn gescheitelt und seitlich wie hinten in viele kleine
Zäpfchen geflochten, welche sowohl auf der Höhe der Schulter,
als auch weiter unten an ihren Enden durch zwei breite
Querbänder zusammengehalten werden; die Bänder sind
je nach der Wohlhabenheit mit Perlen, Steinen, kleinen
Schellen, silbernen und kupfernen Plättchen, sogar mit chine-
sischen Kupfermünzen geschmückt. Bon der Mitte des oberen
Querbandes füllt hinten ein langes, breites, ebenso verziertes
Band oft bis auf den Fußboden herab; auch die Frauen
tragen Ringe in den Ohren und an den Fingern.
Die Winterkleidung der Männer wie der Frauen besteht
ans einem langen Schafpelz, der bei Wohlhabenden mit
Dalemba oder einem rothen Wollstoff überzogen ist. Der
Pelz, wird durch einen Gürtel so zusammengehalten, daß
oberhalb des Gürtels ein Beutel entsteht; der rechte Aermel
wird bei den Männern meist herabgelassen und der Arm
bleibt oft auch in kalter Jahreszeit entblößt. Hemden und
Hofen sind nicht im Gebrauch, statt der Hosen werden
Kniestücke aus Schaffell über die Knie gezogen. Die Stiefel
sind aus grobem Wollstoff gefertigt und mit grünen und
rothen Längsstreifen verziert; die Schäfte reichen bis zum
Knie, die Sohlen sind ans Leder. Strümpfe sind unbekannt.
Als Kopfbedeckung werden Mützen aus Schaf- und Fuchsfell
getragen; oft aber bleibt auch bei strenger Kälte der Kopf
unbedeckt.
34
Prfhewalski's dritte Reise in Central - Asien.
Die Männer tragen im Gürtel einen Säbel, dessen
Klinge sehr schlecht ist, dessen Griff und Scheide aber reich
mit Silber, Türkisen und rothen Korallen verziert sind.
Außerdem tragen sie im Gürtel eine lauge Pfeife, ein
Messer und ein Beutelchen mit verschiedenen Kleinigkeiten.
Der durch den Gürtel gebildete Sack ihres langen Pelz-
Nockes beherbergt eine hölzerne Schale, ein Tabaksbeutel-
chen u. s. w. — mitunter auch ein Taschentuch, das wirk-
lich gebraucht wird. Die Frauen tragen ebenfalls am
Gürtel ein Messer und ein Säckchen mit Kleinigkeiten, mit-
unter auch Schlüssel und aufgereihte chinesische Kupfer-
münzen. — Einzelne Männer tragen auf der rechten
Schulter viele kleine Fetzen von Zeug oder Tuch, welche
mit Türkisen oder Korallen besetzt sind — es sind das
Talismane, welche gegen Krankheit und anderes Ungemach
schützen sollen; ihre Wirksamkeit erhalten sie von den Lamas.
Die Wohnung der Tibeter ist Sommers wie Winters
ein schwarzes Zelt; das Material dazu liefert ein grober,
aus Jakhaaren angefertigter Wolleustoff. Die Form des
Zeltes ist fast viereckig; die Höhe diejenige eines großen
Mannes; der Flächenraum ist verschieden, je nach der Größe
der Familie und der Wohlhabenheit des Besitzers. Als
Stützen des Zeltes dienen drei hölzerne Pfähle, von denen
einer im Mittelpunkte steht, die beiden anderen dagegen an
den Seiten des fast flachen Daches. Von der oberen Ecke
des Zeltes und von der Mitte jeder Seitenwand gehen
Stricke aus, welche an deut Erdboden mittels Pflöcken be-
festigt sind. Aber fast in der Mitte des Daches ist eine
Oeffnung, damit Licht hereindringt und der Rauch einen
Ausgang findet. Unter dieser Oeffnung in der Mitte des
Zeltraumes ist ein viereckiger Herd aus Lehm erbaut, in
welchem Winters stets Argal brennt; hier wird in einem
flachen eisernen Kessel Thee und Essen zubereitet. Neben
dem Herde find Schaf- und auch Wolfsfelle ausgebreitet,
auf ihnen sitzt man Tags und schläft Nachts. An der einen
Fläche der Seitenwände der Zelte sind ringsum Massen
von getrocknetem Argal aufgehäuft, mitunter bedeckt mit
grobem Wollstoff; auf die so gebildete Unterlage stellt man
die Vorräthe an Speisen, Hausgeräth und Geschirr; hier
bewahrt mau auch die Kleider. Das Geschirr ist sehr
Das Innere eines tibetischeu Zeltes.
einfach; es besteht außer einigen Töpfen und Schalen für
jedes einzelne Familienglied aus nicht großen hölzernen
Gefäßen, in denen saure Milch gehalten wird, ferner aus
thönernen Krügen oder aus leeren Jakhörnern, in denen
frische Milch aufbewahrt wird. — Um jedes Zelt wird mit
Argal ein Raum abgegrenzt, in welchem die Schafe die
Nacht verbringen.
Einige Zelte, zehn oder mehr oder weniger, sind zu
einem Lager vereinigt. Der Ort wechselt je nach der Jahres-
zeit und dem Vorrath an Futter für das Vieh. Bei sehr
reichlichem Viehbestände muß der Lagerplatz sehr oft ge-
wechselt werden.
Die Hauptnahrung der uomadisirenden Tibeter ist Schaf-,
selten Jakfleisch; oft wird dasselbe roh gegessen. Die Ursache
dafür liegt wohl darin, daß es im Sommer äußerst schwierig,
oft ganz unmöglich ist, den durch Regen völlig durchnäßten
Argal in Brand zu bringen. Es ist kein angenehmer An-
blick, die Tibeter um den Herd herumsitzen und essen zu
sehen. Der Hausvater wirft jedem Familienmitgliede oder
auch den anwesenden Gästen ein Stück rohen Fleisches vor,
als wären es Hunde. Jeder empfängt sein Antheil, zieht
sein Messer heraus und ißt gierig das blutige Fleisch.
Außerdem kochen sie sich von Zeit zu Zeit eine Suppe aus
zerschlagenen Schaf- oder Jak-Knochen, welche zu diesem
Zwecke drei bis vier Monate lang gesammelt worden sind.
Man meint, daß der Genuß einer solchen Knochenabkochung
der Gesundheit sehr zuträglich sei. Neben dem Fleisch ge-
nießen die Tibeter Thee, welchem sie getrockneten Quarkkäse
zusetzen; außerdem thun sie zum Thee noch Milch und
Butter. Eine besonders beliebte Speise ist der Taryk,
das ist gekochte und daun gesäuerte Milch.
Die uomadisirenden Tibeter beschäftigen sich ausschließlich
nlit der Viehzucht und kennen nichts Anderes; sie züchten
Jaks und Schafe, hier und da Pferde und Ziegen; das ge-
wöhnliche Hausrind giebt es hier gar nicht.
Der Jak hat in Tibet seine eigentliche Heimath; hier
auf den hochgelegenen Ebenen, welche von Bergen durchzogen
werden, findet er alles, was er braucht: Wasser, kühle Luft
nnb weite Weideflächen. Die tibetischen Jaks liefern eine ganz
ausgezeichnete Milch, aus welcher vortreffliche Butter, Quark
Tibetisches Lager.
36
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
und Taryk hergestellt wird. Ferner versieht er seinen Herrn
mit Fleisch, Knochen und grober Wolle und wird schließlich
in ganz Tibet als Last- und Reitthier benutzt, wie das
Kameel in der Mongolei. Er klettert sehr geschickt, läuft
auch gut auf gefrorenem Boden oder über Eis. Seine
Haarfarbe ist gewöhnlich schwarz, sehr selten kommen weiße
Exemplare oder schwarze mit weißem Schweife vor, welche
letzteren in Indien und China sehr geschätzt sind.
Interessant ist, was Prshewalski über den Charakter
der Tibeter mittheilt. Unter allen Nomaden Mittelasiens,
welche er gesehen, seien die Tibeter in moralischer Beziehung
die schlechtesten. Die alle Mongolen in gleicher Weise
charakterisirende Gastfreundschaft und Gutmüthigkeit ist den
Bewohnern des nördlichen Tibet völlig fremd; in Bezug
auf Schlauheit, Geldgier, Betrügerei und Scheinheiligkeit
können sie mit erfahrenen Großstädtern sich messen. Prshe-
walski überzeugte sich wiederholt in Folge der häufigen Be-
rührung mit den Tibetern davon, daß die Leute völlig ge-
wissenlos, meist Betrüger waren. Hiermit stimmte auch
das Urtheil überein, welches die Mongolen selbst über die
Tibeter in Lhassa und in ganz Tibet fällten: Ihre Seele
ist so schwarz wie Ruß! Einen anderen, namentlich einen
Fremden, zu bestehlen oder zu betrügen, gilt in der Residenz
des Dalai-Lama fast für ehrenvoll, sagten die Mongolen.
Außerdem ist ein sehr charakteristischer Zug der Tibeter,
wie aller Nomaden — ihre Faulheit.
Die Tibeter bekennen sich zum Buddhismus und zwar,
so weit es sich ermitteln läßt, zum rothen. In Erfüllung
ihrer Religionsgebräuche sind sie sehr peinlich und eifrig.
Immerfort und überall murmeln sie Gebete, deren Bedeu-
tung sie nicht verstehen; dabei drehen sie in der linken Hand
einen kleinen Cylinder, welcher mit Gebeten beschriebene
Papierfetzen enthält. Am Halse tragen sie besondere Amn-
lete, kleine Kästchen, welche Idole, verschiedene Reliquien,
Vergiftete Geier.
aufgeschriebene Gebete und Beschwörungsformeln enthalten.
Die Lamas haben einen unbegrenzten Einfluß auf das
gemeine Volk; ihre Worte sind für die Menge Gesetz.
Die Tibeter sind neugierig und redselig, unterthänig
gegenüber Reichen und Mächtigen; im Gespräche mit älteren
Personen, vor allem mit Beamten, gebraucht der Tibeter
häufig das Wort „ l a k e n “ als Zeichen der Bejahung.
Durchaus anders benimmt er sich aber ihm untergeordneten
oder von ihm abhängigen Personen gegenüber. — Loben
kann man an ihm nur, daß er im Allgemeinen etwas ener-
gischer als der Mongole ist; doch ist er ebenso feig wie
der letztere.
In Bezug auf das Familienleben ist ein Zug hervorzu-
heben, der schon von anderen Reisenden unter den Bewoh-
nern des südlichen Tibets, Butan und Ladak, beobachtet
worden ist, nämlich die Vielmännerei (Polyandrie).
Zwei, drei, sogar vier Männer haben eine gemeinschaftliche
Frau, mit welcher sie ohne Eifersucht und ohne Streit
zusammen leben; nur die sehr Wohlhabenden halten sich ihre
eigene Frau, bisweilen sogar zwei. Als Grund der sonder-
baren Erscheinung wurde angeführt, es geschehe das, um
billiger zu leben, weil die Frauen besondere Abgaben zu
zahlen hätten. Die Frauen selbst sind sehr leichtfertig,
verschenken gern ihre Gunst gegen Geld, sogar mit Wissen
der Männer. Hieraus kann für das Familienleben nicht
viel Gutes hervorgehen; überdies bringen die unverheirathc-
ten Lamas auch nur allerlei Sittenverderbnisse in das Volk.
Nach der Aussage des bei Prshewalski befindlichen mon-
golischen Dolmetschers reden diejenigen Tibeter, mit welchen
Prshewalski in Berührung kam, dieselbe Sprache, wie das
Volk in Lhassa, dagegen sei diese Sprache eine ganz andere,
als die der Tanguten am Kukn-Nor.
Von den Sitten sei nur Einiges hier angeführt: Bei
gegenseitigen Besuchen wechseln sie keine Karten, sondern
sog. Chatak, kleine Tücher oder Handtücher von weißem
oder grünlichem Seidenzeug; derselbe Gebrauch ist auch bei
37
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
den südlichen Mongolen und den Tanguten zu finden.
Bei der Begrüßung und beim Abschied nimmt der Jüngere
vor dem Aeltcren die Mütze ab, neigt das Haupt und-----------
zeigt etwas die Zunge. Alle, Männer wie Frauen, rauchen
sehr gern, aber trinken keinen Branntwein. Die Trunk-
sucht ist überhaupt ein in Centralasicn fast unbekanntes
Laster. Jedermann besitzt seine eigene Trinkschale; Speise
oder Trank aus einer fremden Schale zu nehmen, gilt als
große Sünde.
Die Todten werden nicht begraben, sondern einfach aufs
Feld geworfen, den Wölfen, Naben und Geiern zur Beute;
nur die Lamas werden bestattet. In Lhafsa selbst wird
das Schicksal der Todten vom Urtheil der Lamas abhängig
gemacht: dieselben bestimmen, ob die Leichname verbrannt
oder in den Fluß geworfen, oder eingegraben, oder den
Raubthieren vorgeworfen werden sollen. Das Andenken
der Todten wird heilig geachtet.
Alle nomadifirendcn Tibeter find in administrativer Be-
ziehung nicht dem Dalai-Lama, sondern dem chinesischen
Gouverneur von Sinin untergeordnet. So begreift der Be-
zirk Sinin das kolossale Gebiet Kuku-Nor, Tzaidam und
das nordöstliche Tibet bis an die Grenze der Besitzungen
des Dalai-Lama, d. h. bis zur Provinz Ui. Der Bezirk
Bumsa befindet sich nur etwa 10 Werst vou der tibetisch-
chinesischen Grenze. Die Kopfzahl der zu Sinin gehörigen
Tibeter beträgt etwa 7000.
Achtzehn Tage hielt sich die Expedition im Bezirke
Bunlsa auf, stets in der Erwartung einer Antwort aus
Lhafsa. Die Zeit wurde ausgefüllt mit Ausflügen in die
nächste Umgebung, mit Ordnen der Kleidung und des Ge-
päcks, mit der Jagd auf verschiedene Thiere, insonderheit
auf Lämmer- und Schncegeier. Die großen Vögel waren
außerordentlich zutraulich; die Lämmergeier setzten sich un-
mittelbar neben die Küche, oft nur 20 bis 30 Schritte ent-
fernt von den Kosaken, welche mit der Zubereitung der
Speisen beschäftigt waren. Die Schncegeier oder Greife
(Gryp8 himalayensis 8. nivicola Sewertzowii) Wistvcn etwas
vorsichtiger. Es war sehr eigenthümlich zu beobachten, wie
die Lämmergeier, diese kolossalen Vögel, welche mit aus-
gebreiteten Flügeln 10 Fuß (3 m) messen, die Jurte um-
kreisten und sich ganz nahe niedersetzten; es wurden einige
mittels Schüssen erlegt. Den Greifen war schwerer bei-
zukommen, sie konnten weder im Fluge noch sonst geschossen
werden; um sie zu erlegen, wurde schließlich Gift angewandt.
E's wurden die Eingeweide eines Schafes mit Cyankali
bestreut und an den Ort gebracht, wo die Greife zu sitzen
pflegten; allein die Vögel schienen Verdacht zu haben. Gegen
30 bis 40 Stück versammelten sich und umkreisten die
Beute, ohne sie zu ergreifen. Endlich machte sich ein
Vogel daran, sofort folgte die ganze Schaar — aber kaum
t)stttc der letzte sich niedergelassen, so flogen alle wieder auf
und davon. Sechs hatten indessen von dem Fleische ge-
nossen und das Gift wirkte so schnell, daß sie sofort todt
Nledcrstürzten.
. "Nachdem Prshcwalski eine Woche vergeblich gewartet,
schickte er, als einst die tibetische Wache gewechselt wurde,
LlUcut Kosaken und den Dolmetscher mit der abziehenden,
um in Naptschu, dem ersten tibetischen Dorfe, Einkäufe
zu machen und verschiedene Erkundigungen einzuziehen.
" £ mcm ließ sie nur bis zur Grenze, dann mußten beide
Eine Abwechselung brachte die Ankunft einer Ha
karawane, welche aus dem Wege von Lhassa nach
im Bezirke Bumsa Halt machte. Dieselbe besinn
200 beladenen Jaks, einigen Kameelen und 22 1 e
Sie führten Tuch, Räucherkerzen und andere G egem
des Kultus, heilige buddhistische Schriften, Arznen
Süßigkeiten, Zucker u. s. w. mit sich. Alle diese Waaren
gehen zum Theil über Sinin ins Innere von China, zum
Theil in die Mongolei. Von Sinin nach Lhafsa werden
chinesische Waaren, Seidcnzeug und andere Zeugstoffe,
allerlei Geschirre, Sättel, eiserne Schalen, Stiefel, Feuer-
zeuge, Messer, Pfeifen u. a. m. ausgeführt. Die Kosten
des Transportes sind sehr gering; denn die Lastthiere, die
Jaks, sind sehr genügsam und die zum Transport nöthige
Zeit hat, wie für alle Asiaten, nur einen geringen Werth.
Mit der Handclskarawane kehrten auch jene drei Mon-
golen zurück, welche Prshewalski bereits früher getroffen;
zwei von ihnen, welche gut tibetisch redeten, wurden als
Dolmetscher und Führer angeworben und erwiesen sich als
äußerst nützlich.
Endlich am 30. November langten zwei Beamte aus
Lhafsa in Begleitung des Chefs von Naptschu im russischen
Lager an; sie erzählten, daß in Naptschu ein Gesandter,
(Gutzaw) Nomun - Chans, des Beherrschers von Tibet,
nebst Gefolge eingetroffen fei; er könne nicht herkommen,
weil er erkrankt sei. Doch Hütte er die Weisung Nomun-
Chans mitgebracht, den Russen nicht zu gestatten, nach
Lhassa zu gehen. Auf die Frage Prshewalski's, was der
chinesische Resident in Lhassa dazu gesagt hätte, wurde ge-
antwortet, die Tibeter hätten selbst darüber zu entscheiden,
sie hätten mit den Chinesen nichts zu thun. Prshewalski
ließ den beiden Beamten verkünden, er wünsche selbst den
Abgesandten zu sprechen; er verlange, daß man dem chine-
sischen Residenten Mittheilung ntadje und er drohe, falls
der tibetische Gesandte nicht zu ihm käme, dann ginge er zu
ihm nach Naptschu.
Am anderen Tage erschien der Gesandte mit seiner
Begleitung; kurz vorher waren in der Nähe des russischen
Lagers zwei Zelte aufgeschlagen worden; hier kleideten die
Tibeter sich um und dann erst kamen sie zu Prshewalski.
Der Gesandte hieß Tschigmed-Tschoitschor und war
einer der bedeutendsten Würdenträger Tibets, vielleicht einer
der vier Gehilfen Nomnn-Chans. Bei ihm befanden sich
die Oberen dreier bedeutender Klöster und die Vorgesetzten
von13Aimaks (Bezirken) der Besitzungen des Dalai-Lama.
Der Gesandte selbst war mit einem kostbaren Zobelpelz,
dessen Haare nach außen gekehrt waren, gekleidet; seine
Begleiter trugen einfache Gewänder. Der Gesandte fragte
zunächst, ob die Ankömmlinge Russen oder Engländer seien.
Als ihm die Frage beantwortet worden war, sprach er in
längerer Rede sich darüber aus, daß Russen noch niemals
in Lhassa gewesen seien, daß von Norden her nur Mongolen,
Tanguten und Chinesen kämen — schließlich, daß sowohl
der Beherrscher von Tibet, Nomnn-Chan, als der Dalai-
Lama selbst, wie auch das ganze Volk die Russen nicht in
Tibet hinein lassen wollten. Alle Einwände und Entgeg-
nungen Prshewalski's waren durchaus vergeblich. Die
Tibeter wiederholten nur dasselbe, dabei fügten der Gesandte,
wie die Begleiter die Hände auf der Brust zusammen und
baten in innigster Weise ganz unterthänigst, Prshewalski
solle nicht weiter vordringen. Von irgend welchen Drohun-
gen war keine Rede; ja der Gesandte erbot sich, alle Reise-
kosten zu decken, sobald die Russen nur umkehrten.
Obgleich Prshewalski sich schon allmählich mit dem Ge-
danken, unverrichteter Sache umkehren zu müssen, vertraut
gemacht hatte, so fiel es ihm schließlich doch schwer, das
entscheidende Wort zu sprechen. Das so nahe geglaubte
Ziel wurde wieder in weite Ferne gerückt; aber mit Gewalt
war gar nichts auszurichten — er mußte sich der Noth-
wendigkeit fügen und — umkehren.
Er erklärte sich also bereit, zurückzukehren; die Bezahlung
der Reisekosten lehnte er ab und erbat sich nur ein Schrift-
stück mit Auseinandersetzung der Gründe, warum man ihn
Der Gesandte des Dalai-Lama und seine Begleiter.
Baku.
39
nicht in die Residenz des Dalai-Lama hineingelassen habe.
Der Gesandte bedauerte, ein solches Schriftstück nicht ans-
liefern zu dürfen, dazu sei er nicht bevollmächtigt. Darauf
ließ Prshewalski ihm sagen, sobald man ihm das erbetene
Schriftstück ausliefere, wolle er abziehen, wenn nicht, so
marschire er sofort nach Lhassa. Nun versprach der Ge-
sandte das Schreiben; zuletzt ließ ihm Prshewalski sagen, er
reise nn.n schon viele Jahre umher, aber so schlechte und
ungastliche Leute, wie die Tibeter, habe er nirgends an-
getroffen; er werde darüber etwas schreiben und die ganze
Welt solle es dann erfahren; früher oder später käme der
Europäer doch zu ihnen und würde sich den Zugang mit
Gewalt erzwingen.
Am anderen Morgen mit Sonnenaufgang erschien der
tibetische Gesandte nochmals und überbrachte das betreffende
Schreiben; es wurde verlesen, aus dem Tibetischen ins
Mongolische und ans dem Mongolischen ins Russische über-
setzt, dann vom Gesandten untersiegelt und Prshewalski
eingehändigt, welcher nun befahl, das Lager abzubrechen und
fortzumarschiren. Er that es mit schwerem Herzen —
zum vierten Male mußte er umkehren, ohne sein Ziel, Lhassa,
erreicht zu haben; allein es war nicht anders möglich!
Baku.
(Nach dem Französischen des M. Edgar Bo ul an gier.
III.
(Die Abbildungen nach Photographien.)
Das rohe Erdöl wird, wie schon envähnch m Behältern
ans Eisenblech gesammelt, ehe es m den Ra m
Baku verarbeitet wird; daran est mch l - / Ist
Ort und Stelle zu reinigen, wegen der Feuersgesa) . ^
es doch nicht einmal erlaubt, dort eure Ergare s
Gußeiserne Röhren, die halb in der lo er
senkt sind, dienen dazu, die
Flüssigkeit nach den Rafst-
nerien zu leiten, und um
ihre Geschwindigkeit zu
vergrößern, sind in den
Röhren Kolben angebracht,
welche durch Druckpumpen
in Bewegung gesetzt werden.
Der Stoß dieser Kolben
gegen das Ocl klingt wie das
Ausschlagen eines Ramm-
klotzes, und dieses Geräusch
pflanzt sich auf der ganzen
Länge der Leitung, welche
9 biö 10 km beträgt, fort.
An einem der Nobel'fchen
Reservoirs zählte Boulan-
gier sieben solcher Röhren-
leitungen, sede von 15 cm Tatarische Arba.
Durchmesser. Die Legung
dieser eisernen Röhren, . r. .
welche den Amerikanern nachgeahmt wurde, san i
kaum 12 Jahren statt und war mit großem Verdruß v -
knüpft, wenn sie auch andererseits viel embrrng.
Anbringung dieser Verbesserung wurde das rohe ^iDoi
w Fässern aus tatarische Arbas (Wagen) verladen, welche
lncht, schmal und so großräderig waren, daß stch umer
dem Kasten in der Höhe der Achsen noch een zweites Faß
aufhängen ließ. Diese sonderbaren Wagen waren vor-
tresslich î«v r •
uq]uci) für sene sandige Gegend und ehre I
schlammlöcher, bewegten sich ohne Unterlaß M I
Quellen und dem Meeresuser hin und her und_
ine sührlichenDurchschnitt wohl 200000 Mk. Dee Mve«-
leitnngen machten diesem Erwerbszweige enet eenem ^ ) 3
ein Ende, so daß man es leicht begreift, daß die za ) reich
ruinirten Wagenbesitzer sich, besonders durch oq )<• 3 9
der Röhren, zu rächen versuchten.
Die Eisenbahn Baku - Balachani geht noch über den
letztgenannten Ort hinaus bis Surachani, von dessen
Quellen jetzt nur uoch wenige ausgebeutet werden. Eine
einzige Röhrenleitung genügt, um das dort gewonnene
Petroleum nach den Raffinerien in Baku zu leiten, so daß
der Ort eines Besuches nicht werth wäre, befände sich da-
selbst nicht der Tempel- der
sogenannten Feueranbeter,
ein kleines viereckiges Bau-
werk, von einer Kuppel mit
einer Anzahl ganz kleiner
Schornsteine bedeckt und ge-
schmückt mit Spitzbogen,
Zinnen u. s. w., umgeben
von einem Hofe, den eine,
an den fernen Orient er-
innernde Mauer einschließt.
Aus allen jenen Schoru-
steinen leuchtete einst bren-
nendes Gas heraus, und
zahlreiche Gläubige verrich-
teten ihre Andacht vor dem
ewigen Feuer. Heute aber
bewachen nur zwei elende
Parsis den heiligen Ort,
denen die Quellenbesitzer der
Nachbarschaft aus Erbar-
men etwas von ihrem gewonnenen Gase abgeben, und seit
mehreren Jahren haben sie keine anderen Pilger zu Gesicht
bekommen, als neugierige Europäer. Keiner derselben ver-
säumt es, uiit einem Streichholze die Gase, welche aus
Erdspalten hervordringen, anzustecken und die Flamme nach-
her wieder auszublasen, womit er wider Willen ein Sakrileg
begeht, indem er das reine Element mit seinem unreinen
Athem vermischt.
Wie die Ausbeute und die Lage der ganzen Industrie
sich gegenwärtig stellt, zeigt folgende Tabelle:
Erschöpfte Brunnen...............
Aufgegebene Brunnen ....
Angehaltene Brunnen.............
Brunnen, die vertieft werden
In Bohrung begriffene Brunnen
Balachani Sabuntfchi
37 18
49 11
11 6
8 9
74 13
40
Baku.
Balachani Sabuntfchi
Projektirte und in Vorbereitung
befindliche Brunnen................ 11 8
In Ausbeutung befindliche Brunnen 99 46
Springbrunnen............................ 4 46
Tägliche Ausbeute in kg............. 4 700 000 2 500 000 ^
Am nächsten Tage wurden die Raffinerien der „schwarzen
Stadt" besucht; die kleineren daselbst sind in ihrer Einrichtung
ziemlich ursprünglich, während die großen, im Besitze der
Herren Nobel, Boulfroy, Rothschild u. s. w., den besten
amerikanischen Fabriken nicht nachstehen. _ Das Rohöl,
welches Tag und Nacht aus den Röhren sich in ein isolirtes,
feuersicheres Gebäude ergießt, wird in einer Reihe von
Retorten verschiedenen Hitzegraden (von 15 bis 4OO" C.)
ausgesetzt und verliert darin allmählich seine flüchtigen
Elemente; natürlich bedarf es dabei großer Vorsicht. Die
zwischen 15 und 180° gewonnenen Produkte bilden die so-
genannten Petroleumessenzen (Petroleumäther, Benzin u. s. w.);
bei 180 bis 250° gewinnt man die Brennöle, deren Dichtig-
keit zwischen 0,800 und 0,820 variirt; bei 250 bis 4OO»
destillirt man das Paraffin, und dann bleiben die „schweren
Oele", welche zum Fetten von Maschinen dienen, übrig.
Die letzten Retorten endlich enthalten Rückstände, welche
auf den russischen Eisenbahnen, Dampfern und selbst in
Privathaushaltungen als Brennmaterial Verwendung finden,
nicht minder auch in den Raffinerien, so daß also das Pe-
troleum sich durch sich selbst raffinirt. Heutigen' Tages
werden täglich 8000 ellm Rohöl in den Raffinerien be-
handelt. Die Arbeit dauert jährlich etwa 200 Tage; die
meisten Fabriken feiern nämlich während der fünf Winter-
monate.
Der Herstellungspreis des gereinigten Petroleums ist
48 Kopeken (knapp 1 Mark) für 100 kg; die zur Heizung
verwendeten Rückstände kommen auf 0,36 Mark für 100 kg,
das Maschinenöl auf 7,20 Mark zu stehen. Beachtenswerth
Tempel der Feueranbeter bei Baku.
hierbei ist die große Billigkeit der Rückstände, welche keinen
Ranch, dafür aber ebenso viel Hitze erzeugen, wie die drei-
fache Menge Kohlen. In Rußland ist man deshalb auch
0 Wir fügen einige Daten nach C. Engter (das Erdöl
von Baku) hinzu, welche wir Petermann's Mittheilungen 1887,
Litteraturbericht Ar. 212, entnehmen. _ Danach sollen die ge-
sammten kaukasischen Petroleumfelder einen Umfang von etwa
31000 qkm haben, während die in Ausbeutung begriffene
Fläche auf der Halbinsel Apfcheron nur etwa 12 qkm umfaßt.
Die Produktion betrug in Tonnen (zu 1000 kg):
Rohöl Raffinirtes Erdöl
1863 bis 1865 23100 —
1866 bis 1870 93 700 —
1871 bis 1875 283 000 107100
1876 bis 1880 1546 000 490 200
1881 bis 1885 4-736 000 1 398 050
Im Vergleiche mit der amerikanischen Produktion (1881 bis
1885: 17 640000 Tonnen Rohöl) ist die von Baku freilich noch
damit beschäftigt, diese Rückstände auf den Dampfern zu
benutzen, weil sie nicht nur billig sind, sondern dadurch auch
bedeutender Raum für Waaren, welchen bisher die Kohlen-
vorräthe eingenommen haben, gewonnen wird.
Begiebt man sich von den Raffinerien nach der Meeres-
küste, so lernt man eine andere zweckmäßige Einrichtung der
Gebrüder Nobel kennen, die Cisternen- Schisse. Früher
wurde das gereinigte Petroleum in Fässern transportirt,
jetzt läßt man es durch Röhren über die hölzernen Molen
hinweg unmittelbar in Dampfschiffe laufen, welche 75 m
laug und 8,5 m breit sind, vorn mtb hinten Reservoire und
gering; aber schon im Jahre 1885 war erstere nicht mehr ganz
doppelt so groß, als die in Baku (29,09 gegen 16,36 Millionen
Tonnen). Die Zahl der auf den amerikanischen Oelfeldern er-
bohrtcn Quellen betrug 1885 21950, die der Apfcheron-Quellen
nur 344; aber die Ergiebigkeit der letzteren soll bedeutend größer
fein. Das Bakuer Petroleum ging bis jetzt fast ausschließlich
nach Rußland.
41
Baku.
Bottiche zur Aufnahme des Oels und in der Mitte die
Kessel und ihre mit Rückständen geheizten Maschinen haben.
Ein solcher Dampfer kann im Ganzen 225 000 Gallonen
fassen und in 4^/z Stunden gefüllt werden; seine Schnellig-
keit beträgt 10 Knoten und bei einer Fahrt von 460 See-
meilen verbraucht er nur 30 Tonnen Heizmaterial. An der
Wolgamündung muß der Inhalt freilich in kleinere Schisse
übergepumpt werden, welche das Petroleum bis Tzaritzyn,
364 Seemeilen vom Kaspischen Meere entfernt, bringen;
dort ist ein Centraldepot von 22 Millionen Liter, aus
welchem das ganze europäische Rußland versorgt wird. Da
die Wolga aber vier Monate hindurch gefroren ist, so
mußten noch andere Reservoire angelegt werden, und zwar 36,
deren vor Beginn des Winters gefüllte Bassins zusammen
163 Millionen Liter fassen. Auf den Eisenbahnen wird
das Oel in Cisterncnwagen transpornrt, deren die Gesell-
schaft Nobel 1500 besitzt. 20 bis 25 Wagen werden in
einer Stunde gefüllt, und 60 Petroleumzüge sind beständig
auf den russischen Eisenbahnen unterwegs.
Der Export ans der Bahn Baku-Poti resp. Datum
ist verschwindend gegenüber demjenigen nach der Wolga.
Uebrigens scheint Rußland auch gar nichts daran zu liegen,
wenigstens vorläufig, daß dies Produkt, welches es so nöthig
braucht, in Masse ausgeführt wird, und außerdem ist der
Export zu Schiffe über das Mittelmeer, namentlich zur
Sommerszeit, bei der großen Entzündbarkeit des leicht ver-
dampfenden Petroleums ungemein gefährlich. Sind doch
schon mehrmals ans der transkaukasischen Bahn in der heißen
Jahreszeit ganze Petroleumzüge in Brand gerathen.
Von der Gesammtproduktion an raffinirtem Petroleum
werden jährlich etwa 7/io in Rußland verbraucht, während
3/io für die Ausfuhr verfügbar bleiben. Aber wird die
augenblickliche Ausbeute auch von Dauer sein und nicht
über kurz oder lang, und währte es auch ein paar Jahr-
hunderte, abnehmen oder ganz aufhören? Eine Aclien-
gesellschast lebt nicht lange, aber für ein Volk sind ein paar
Hundert Jahre wenig. Und selbst die Gesellschaften und
einzelnen Industriellen sind über die Zukunft keineswegs
Der Bahnhof von Baku.
beruhigt; auch fehlt es an wissenschaftlichen Daten, um me
Frage nach einer etwaigen Erschöpfung der Brunnen be-
antworten zu können. Nur so viel steht fest, daß man nach
jedesmaliger Gewinnung von 160 Millionen Kilogramm me
Brunnen um ein Sachen (2,13 m) tiefer machen resp. neue,
um so viel tiefere anlegen muß. Aber auch über die Frage,
wo man am besten Bohrversuche macht, ist man durchaus
im Dunkeln; der Eine ist voller Zuversicht, der Andere
sieht schwarz in die Zukunft. Wer Recht hat, das kann
nur die Zeit lehren.
Mit Bedauern kehrte Boulangier schließlich der inter-
essanten Stadt den Rücken und ließ sich von M. Thyß nach
dem originellen, aber allen Anforderungen eines regen Ver-
kehrs entsprechenden Bahnhöfe der transkaspischen Eisenbahn
begleiten, um Uber Tiflis und das Schwarze Meer nach
Europa zurückzukehren.
Globus UI. Nr. 3,
6
42
Dr. Pauli: Am Ogowo.
Am O g o w e.
Von Dr. Pauli.
I.
Von Kamerun aus waren Dr. Passavant und ich, um
Träger zu engagiren, nach dem Süden gefahren. Doch
hörten wir schon in Gabun, daß wir unseren Zweck nicht
erreichen würden, weil die südlich vom Aeguator wohnenden
Küstenstämme in Stanley's Diensten üble Erfahrungen ge-
macht hatten i).
Da wir zur Regenzeit ohne Träger im unbekannten
Hinterlande von Kamerun, dem weißen Fleck, doch wenig
hätten erreichen können, benutzten wir das uns von Herrn
Stein ans Klein-Elobi gemachte Anerbieten, im Juni und
Juli 1884 den Unterlauf des Ogowe bis nahe Njole zu
befahren.
Brazza, der aufs Neue hinausgegangen ist, als eornissaire
général d6 la Republique die französischen Interessen im
Ogowe-Congogcbiete zu wahren, befand sich damals auf
seiner dritten Reife in Aeqüatorialafrika. Die Ansichten
über seine Intentionen waren zu senerZeit getheilt: denn
abgesehen von seinen Forschungen meinte man, er verfolge
französische Handelsinteressen, andererseits sprach man von
militärischen, resp. politischen Absichten. Wie dem aber
auch sein mochte, auffallend blieb, daß zu unserer Zeit der
Handel auf dem Oberlaufe des Ogowe außer den Franzosen
anderen Weißen verschlossen war, so daß ein deutsches
Handelshaus lange Zeit den von ihm ans dem oberen Flusse
angekauften oder eingetauschten Gummivorrath nicht in seinen
Besitz bringen konnte.
Obgleich nur wenige Breitengrade von Kamerun entfernt,
sind doch die Witterungsverhältnisse am Ogowe
andere. Für die dortige Gegend hatte eben die große
trockene Zeit begonnen, die sich von Mai bis September
erstreckt. Besonders das Grün der Büsche und Gräser
erschien erheblich gelb, wie auch am 18. Juni Abends, als
wir in der Kap-Lopez-Bai vor Anker lagen, zwei große
ausgedehnte Brände, die weithin sichtbar waren, den Beweis
für die Trockenheit in der Savanne gaben. Oktober bis
Mitte März umfaßt die große Regenzeit, die in der Regel
im Januar circa drei Wochen lang von der kleinen Trocken-
zeit unterbrochen ist. März bis Niai wird die kleine Regen-
zeit genannt. Ausfallend soll sein, daß in der kleinen
trockenen Zeit der Himmel sehr viel mit Wolken bedeckt ist,
ohne daß Niederschläge fallen.
Während unseres Aufenthaltes war es Tags über sehr-
warm, Nachts leidlich kühl — die von uns gemessene
Temperatur-Amplitude war 20,50(5. bis 33,0° (5. — so
daß wir Nachts hätten schlafen können, wenn nicht die blut-
sangenden und stechenden Weibchen der Mosquitos, vor
allem aber auch Sandsliegen, deren Stiche erst anderen Tags
heftig suckten, uns die Ruhe geraubt hätten. Ich für meine
Person litt hier gar sehr unter einem lästigen Hautausschlag,
i) Nach ihrer Aussage hatten sie zu viel Prügel, zu wenig
Bezahlung und zu schlechte Verpflegung erhalten. Beiläufig
will ich erwähnen, daß die im November 1884 von Dr. Passa-
vant an der Sklavenküste aus Lagos gewonnenen 80 Träger,
zum Theil Haussa, ausdrücklich ausmachten, später nicht zum
Congo von uns geführt zu werden, besorgt gemacht durch Mit-
theilungen der von dort zurückkehrenden Landsleute. Zwei Weiße,
die während Passavant's Anwesenheit in Lagos Leute für Stanley
zu werben suchten, mußten damals unverrichteter Sache zum
Congo zurückkehren.
dem sogenannten rothen Hund (prickly head der Eng-
länder , boutouL de ehaleur der Franzosen, als lieben
tropicus in der Medicin bekannt), wie sonst nie wieder
während meines nahezu 1^ jährigen Aufenthalts in Afrika.
Da der Ausschlag näßt und juckt, fühlte ich mich nur wohl
im Wasser, was mir zwar Linderung verschaffte, aber das
Leiden selbst verschlimmerte. Auch ein anderes Uebel sollten
wir noch kennen lernen trotz all unserer Vorsichtsmaßregeln,
die Spuren des Sandflohes I.
Das etwa 500 Meter hohe Gebirgsland, welches
von Kamerun aus südlich in circa 50 km Entfernung
parallel der Küste zieht und bisher das Hinterland vom
belebenden Elemente abgeschlossen hat, so daß jenes Gebiet,
der weiße Fleck, noch immer der Erforschung harrt, wird
nur stellenweise von einzelnen barocken, Würfel- und pyra-
midenförmigen Spitzen 2) überragt, so daß man sie als
Gneisgranit ansprechen kann, tritt aber an dem Unter-
laufe des Ogowe nach dem Inneren zu zurück.
Ist von Kamerun aus der Saum der Bay von Biafra
(wie dieser Theil des Meerbusens von Guinea genannt wird,
ohne daß man aber selbst mit Hilfe der Eingeborenen von
Batta und Batanga I eine Erklärung für diesen Namen
beibringen könnte) von tropischem Urwald eingefaßt, so
behalten innerhalb der Gezeiten in den vielen Lagunen
und Creeks des Ogowe die immergrünen Mangroven auf
dein fuulpfigen Schlammboden, wie auch bei anderen Mün-
dungen westafrikanischer Flüsse in erster Linie den Vorrang;
erst flußaufwärts kommen Pandanus und Raphiapalmen
hinzu, deren Erscheinen dafür bürgt, daß man bald mehr-
festeres Land sehen werde. Da jene Rizophoren mit ihrem
weitverzweigten Geflecht und Netzwerk von Wurzeln und
Luftwurzeln vorzügliche Landbildner sind, indem sie die festen
Bestandtheile des Flußwassers in ihrem Laufe hemmen, so
entstehen in kürzester Frist an den verschiedensten Orten
Untiefen (Colmatirnng).
Dazu kommt noch, daß allein bei Tage der erfahrene
Seemann sein Schiff durch das labyrinthische Gewirr der
Wasserwege zu führen vermag. Wir mußten daher bei
Kap Weze aus die erst am nächsten Morgen eintretende
Fluth warten, konnten aber einerseits den hier häufig vor-
kommenden, sehr schmackhaften, besonders aber durch Farben-
_i) * * * * * * * * x) Bekanntlich soll 1872 durch die Mannschaft des englischen
Schisses „Thomas Mitchell" von Südamerika her dieses Insekt
nach Afrika verschleppt sein, wenn es nicht, wie Skripitzin meint,
schon früher hier heimisch gewesen wäre. Das Weibchen des
Sandflohes (Sancopsylla, Dissoux, Jicker resp. Jigger)
bohrt sich selbst durch Stiesel unter die Zehennägel mit dem
Kopfe und legt dort seine Eier, die gleich dem Echinococcus
in einem Sacke bis zu Erbsengroße wachsen und unbeachtet zu
Vereiterungen führen, wie man selbst bei nachlässigen Weißen
beobachten kann. In Kamerun habe ich viele Kinder der
Schwarzen angetroffen, denen sämmtliche Nägel auf diese Weise
weggeeitert waren. Merkt der Neger bald sein Leiden am
eigenen Körper, so weiß er es ganz geschickt mit einer Nadelspitze
zu beseitigen. Sandflöhe und Sandfliegen find Thiere von
Sandkorn- und Stecknadelkopfgröße.
2) Die Namen „der Elephant", „die Brüste" bezeichnen sehr-
gut ihre Form.
ch Batanga, wie Kamerun, auch Kollectivname für die
Orte Mawihli, Bakoko, Bungaheli.
Dr. Pauli: Am Ogowe.
43
Pracht und eigenartige Zeichnung sich hervorthuenden Papagei-
fisch (Scarus) schätzen lernen, andererseits Jagd machen auf die
hier im Brackwasser viel ihr Wesen treibende Seekuh *).
Etwa einen Breitengrad dehnt sich südlich vom Aegnator
das Mündungsdelta des Ogowe aus, der nicht nur
zur Zeit des Anschwcllens von seiner Hochebene und seinen
Flußufern gelben Lehm und Mergel, sowie viele pflanzliche
Bestandtheile, besonders Algen, mit sich führt. Unter dem
Mikroskop erkennt man in dem trüben, gelben Wasser neben
Chlorophyll auch öfters kleine Felstrümmer, Sphärosiderit,
von den Katarakten Hergetrieben. Denn wie die bei
Kamerun mündenden Flüsse und wie der Congo, hat auch
der Ogowe als Plateaustrom seine Wasserfälle. Er ent-
springt von der Binnenseite des westafrikanischen Randge-
birges und sein etwa 900 km langer Lauf liegt im Bereiche des
Calmengürtels, etwa entsprechend der Länge des Rheins.
Zur Einfahrt in den Ogowe wählten wir den für
Fahrzeuge bis zu 3m Tiefgang zulässigen als Nazaret-
River bekannten und zumeist befahrenen Arm. Rechts
und links, vorn und hinten scheint man bald in den Man-
grovewaldungen verirrt zu sein; nur vereinzelte Wasser- und
Sumpfvögel beleben die monotone Landschaft. Aeußerst
selten sieht man tief aus dem Dickicht eine Flaggstange mit
französischer Tricolore ragen als Zeichen, daß dort einzelne
armselige Fischerhütten mit ihren Bewohnern Brazza nicht
unbemerkt blieben. Ueberall am Ogowe hat dieser Forscher-
in den einzelnen Ortschaften, die weiter stromaufwärts, ab-
gesehen von ihrer Namensführung in der Eingeborenensprache,
an deutlich kennbaren Pfählen fortlaufende Nummern tragen,
die französische Flagge gehißt mit dem Bemerken, daß sein
großer Vater ihn gesandt habe, die sich gutwillig unter-
werfenden Schwarzen zu schützen.
Erst bei Ngola wird die Scenerie eine andere. Wir
mußten an diesem Orte halten, damit der hier stationirte
französische Zollbeamte die Passagiere des Schiffes
und auch unsere Bescheinigung musterte. Denn damit wir
auf dem Ogowe gute gezogene Gewehre mitführen durften,
hatten wir in Gabun die Erlaubniß des dortigen Komman-
danten Cornut Gentil einzuholen, die uns in liebenswürdigster
Weise gewährt wurde.
Es bestand bis dahin nämlich ein Verbot, welches sowohl
i^cn Weißen der verschiedenen dort Handel treibenden
Nationen, als auch den Schwarzen untersagte, gezogene
Gewehre zu besitzen, um nicht erhebliches Blutvergießen bei
den öfteren Reibereien zwischen Eingeborenen und Weißen
herbeizuführen, sondern das Vorrecht guter Waffen allein
der französischen Militärmacht vorzubehalten, die damals
auf dem Ogowe der durch seine interessante Abkunft be-
kannte französische Marineofficier Felix als Kommandant
auf dem kleinen Kanonenboote „Basilik" zur Unterstützung
der Brazza'fchcn Expedition und Aufrechterhaltung der Ord-
nung unter den rebellischen Negern in den Händen hatte.
Jedoch ein Jahr später, nachdem von den die Ufer be-
wohnenden Schwarzen ein kleiner deutscher Dampfer energisch
attackirt war, so daß der deutsche Kapitän mit mehreren feiner
Besatzung verwundet, ein Krn selbst gelobtet wurde, ist diese
eigenartige Bestimmung für die Weißen aufgehoben worden.
Auch mußten wir auf unserem deutschen Schiffe ebenso wie
rni Hafen von Gabun die französische Flagge hissen, weil unter
an erer als französischer Flagge segeln eine erhebliche Gcld-
lUase nach sich zieht. Als unserer Weiterfahrt seitens der
Pouane leine Schwierigkeiten mehr im Wege standen, konnten
wrr diesen Dampfer nur noch bis zum Kama-Creek benutzen,
da das Wasser au jenem Tage erheblich fiel (V3 m). Jenes
m'n erwähnte Kanonenboot „Basilik" sahen wir bei unserer
U Vergl. „Globus", Bd. 51, S. 347. Anm. 2.
Ausfahrt in der Nähe von Chingagano auf den Grund ge-
kommen, in Folge dessen es erst nach den Mühen einiger
Tage wieder flott wurde. Das ist übrigens kein seltenes
Vorkommniß, welches aber besonders verhängnißvoll zur
trockenen Zeit ist, weil die Wasser mehr und mehr abfließen.
Zur Hochwasserzeit, wo das Wasser durch den andauernden
Regen 4 m und höher steht, können den Fluß größere Schiffe
noch weiter hinauf befahren.
Durchschnittlich ist der Ogowe 300 m breit: wo an-
stehendes Gestein zur Erscheinung tritt, wie in der Nähe
der Azzanguä-Berge, die sich am Horizont, weit über
den Hochwald hinaus, mit ihren vielen Kuppen prächtig
ausnehmen, ist der Fluß eingeschnürt; wo er verbreitert ist,
haben sich Sandbänke gebildet, in dieser trockenen Zeit
der Lieblingsaufenthalt von Pelikanen, Flammingos, grauen
Reihern und weißen Störchen. Das schlammige Wasser
fließt zwischen den Ufern hin, die bestanden sind von Hoch-
wald, Buschwald und Busch. Des Oeftcren treten die Ufer-
waldlinien zurück, um Gräsern von hohem Wuchs Platz zu
machen. Ueber letztere hinweg sieht man dann bis zu einer-
halben Stunde weit landeinwärts die majestätischen Galerie-
wälder als Hintergrund, so daß der Landschaft ein ganz
eigenartiger Stempel der Abgeschlossenheit aufgedrückt wird.
Wald und Busch besteht der Hauptsache nach aus den Ver-
tretern, wie sie am Kamerunberge *) angetroffen werden.
Nur wird von hier viel eifriger Ebenholz nnb Gummi durch
die Eingeborenen exportirt. Zur Regenzeit fließt hier die
rosig weiße Milch aus den in die Kautfchukranken gemachten
Einschnitten sehr reichlich.
Die blätterreichen Zweige der Bäume selbst und die
anmuthig sich rankenden Schlingpflanzen hängen über das
Wasser herab, so daß man oft bei der weitverzweigten
Dichtigkeit des Laubwerkes dahinter Böschungen oder Ge-
bäude vermuthen könnte, wie an den Geländen und grün
bewachsenen Ruinen unseres Rheins. Doch ein leichter
Windstoß belehrt uns eines Besseren.
Des Oesteren reißt die Gewalt des Stromes des Ur-
waldes Ricsenbäume mit sich fort, die dann schwer zu beseitigen
sind und der Schiffahrt unüberwindliche Hindernisse ent-
gegensetzen, oder unterwühlt die Lehmufer, welche abgerissen
als kleine Jnselcomplexe den Fluß herabgetrieben werden.
Wo die Ufer von der Savanne aus steil ab zum
Wasser fallen, dehnen sich oft weite Papyrosbcstände1 2)
aus mit grünen, kugelrunden, zarten Büschelkronen auf den
graziös wogenden Schäften. Wo immer Papyros auftritt,
ist gutes Fahrwasser.
Frische Schüttungen des gelben Lehmufers sind stellen-
weise die Spuren von Flußpferden, die sich ebenso gern
vermöge ihrer Schwere ins Wasser gleiten lassen, als sie
vom flachen Ufer hineintapsen. Ueber den Fluß fliegen weiß-
köpfige, dunkelbraune Adler, blaue Schwalben, schwerfällig
sich bewegende Eisvögel, ein schwarz und weißgestreifter3),
sowie der farbenprächtige Königsfischer. Aus dem undurch-
dringlichen Hochwalde tönen die Stimmen krächzender Riescn-
helmvögel, weiß und schwarzer Hornvögel, bunter Kukuke,
schlanker Lach- und anderer in allen Farben schillernder
Tauben. Nur selten sah man Affen: ihr Geschrei —
was uns auch häufig Nachts störte und äußerst unangenehm
klingt, so daß wir blinde Schüsse abgaben, sie zu verscheuchen —
das Rauschen der Zweige, das Brechen der Sparren nach
ihren kühnen Sprüngen gaben Kunde von ihrem wechselnden
Aufenthalte.
1) Bergt. „Globus", Bd. 51, S. 347 und 348.
2) Bergt. „Globus", Bd. 49, Nr. 16 das in meinem Artikel
„Porto Novo" über Papyros Gesagte.
s) Cerule rudis.
6*
44
Dr. Pauli: Am Ogowe.
Glücklicher Weise wurden wir gelegentlich eines Streif-
zuges auf dem Lande eines ChimpansenH habhaft; vom
Gorilla erwarben wir Schädel nur durch Kauf von den
Schwarzen in dem Gebiete, wo einst du Chailln und
Koppenfels sagten.
Als weitere Vertreter der hiesigen Fauna möchte ich noch
aus dem eigenartigen Helldunkel des tropischen Waldes dicke
schwarze Giftschlangen und fußlange Skorpione nennen, die
jedoch nur, wenn sie gereizt oder aus Unvorsichtigkeit von
dem Menschen getreten sind, gefährlich werden. Weder hier,
noch bei Kamerun ist mir je ein Fall von Vergiftung durch
Schlangen berichtet worden, obwohl unsererseits oft genug
danach gefragt wurde. Prachtvoll grün gezeichnete Baum-
schlangen ringeln sich an dünnen Aesten. Eidechsen und
Kröten stellen Insekten und Gewürm nach. Wanzen,
Fliegen, Spinnen, Mücken, Schnacken, Gnitzen — letztere
Arten den Menschen scheinbar nur zur Plage geschaffen —
werden Beute des farbenwechselndcn Chamäleons. Von
uns in der Gefangenschaft gehaltene Chamäleons zeigten
nicht die gleichen Farbentöne so deutlich, ebenso wenig wie
die herrlichen sammetfarbenen Schmetterlinge* 2) nur annähernd
noch im Tode ein wahres Bild ihrer Pracht geben können,
wenn sie im unregelmäßigen Fluge, in den wechselnden
Lichteffekten, in den feucht-moderigen Niederungen die Blumen
umgaukeln, oder wie der Schildküfer (Cassida), welcher im
Leben in prächtigen Metallfarben schillert, todt aber fade
gelb erscheint 3).
An einzelnen Orten hatten Hunderte von Graupapageien
ihren Sitz: es ist ein ohrenzerreißender Lärm, den sie ver-
ursachen. Ihre Anzahl ist so groß, da sie im Mai Brutzeit
hatten. Nicht so scheu wie diese Thiere sind die immer
nahe den Negerortschaften lebenden afrikanischen Sperlinge
und Schwalben, sowie die schön gefiederten Singvögel, wie
Glanzstaare, Finken, Feuerweber und Paradieswittwen.
Mit viel Glück haben wir erfolgreiche Jagd auf Kroko-
dile gemacht, da dieselben, entgegengesetzt den Beobachtungen
«anderer Forscher, gar nicht scheu und wachsam waren. In
der Mittagssonne konnten wir den anfeinem aus dem Flusse
hervorragenden Baumstämme oder im Uferschlamme schlafen-
den Sauriern im Boote sehr nahe kommen und ihnen die
tödtliche Kugel senden. Wir haben nie die Beobachtung ge-
macht, daß Expansionskugeln oder aus dem Vetterligewehre
geschossene Munition vom Schuppenkleide abgeschlagen sei.
Doch nur ein Schuß durch Schulterblatt und Herz, so daß
sie sich völlig überschlugen, brachte sie in unseren Besitz, was
stets einen großen Jubel der Neger zur Folge hatte; an-
geschossen verscharren sie sich im Userschlamm in gleicher
Weise, wie ungeschickt und auf zu weite Entfernung von
uns getroffene Flußpferde, von denen wir allein eines
habhaft wurden, weshalb wir diese Jagd nur unter den
günstigsten Bedingungen getrieben haben.
Wie man erst nach und nach das Auge schärfen lernt,
um die plumpen Leiber der Krokodile von dem fast gleich-
farbigen Lehnlboden oder Baumstämmen zu unterscheiden,
so wurden wir auch erst allmählich gewahr, daß, wenn
U Von Dr. Passcivant dem Baseler Institut gesandt.
2) Dem Tübinger Institut gesandt. Außer dem Papilio
Antimachus war besonders ein kleiner blauer oder blauweißer
Falter interessant durch je zwei lange Schwingen, welche von jedem
der beiden Hinteren Flügel gleich Fasanenschweisen nach rückwärts
abstehen. Letzterer Schmetterling ist für Afrika besonders charak-
teristisch.
ch An der Goldküste zeigte nmn mir eine todte handlange
Eidechse, welche in bunten Farben schillerte. Die Akkra sagten,
das sei im Leben nicht der Fall, sondern nur im Tode. Ich
hielt cs nur für eine Leichenerscheinung resp. einen Fäulnißproceß
und kann für die Wahrheit der Behauptung nicht einstehen.
Die Eidechse wurde von den Goldküstennegern Lisot genannt.
scheinbar kleine zackige Spitzen oder runde Erhabenheiten
aus den Fluthen emportauchten, solches die spitzen Ohren
und die Rundungen der Mäuler von Flußpferdköpfen sind.
Und dennoch entdeckten die Luchsaugen der Kru viel früher
als die unserigen den Standort der Thiere. Unser Bemühen,
gelegentlich Nachts auf einer Flußinsel zuzubringen, wo
häufig die Nächte vorher Flußpferde gesehen wurden, ist
uns niemals belohnt worden. Sie waren sehr scheu und
vorsichtig. In Heerden bis zu 15 Stück haben wir die
Hippopotamen sich tummeln sehen. Besonders frech erschien
eines Tages ein alter Bulle, der sich von seiner Heerde ab-
sentirt hatte. Alle 4 bis 5 Minuten kam er hoch, schnob,
so daß das Wasser weiß schaumig erschien, um dann mit
Hinterlassung großer Ringe auf der Wasseroberfläche wieder
zu verschwinden. Ans dem Fell, in dem man oft gehacktes
Blei oder Eisenstücke antrifft, die von den Schüssen der
Schwarzen herrühren, schneidet man Peitschen, die der Weiße
als Seele der Nationalökonomie bei den Schwarzen gelten
läßt, wie ich es unlängst beschrieb I. Das Fleisch schmeckt
trocken und zähe, wird aber in größeren Stücken von den
Eingeborenen gedörrt und aufbewahrt.
Die an der Flußmündung wohnenden Eingeborenen ver-
fertigen aus den fußlangen Eckzühnen der Dickhäuter Haar-
pfeile (Jtondo), welche ihre Frauen tragen. Man schätzt
die aus Hippopotamuszähnen geschnitzten Haarnadeln höher
als die aus Elfenbein hergestellten, weil erstere nicht gelb
werden. An die lange Spitze setzt sich ein breiterer Schaft
an, der durchbrochen ist, auch Ebenholzeinlagen zeigt. Doch
ist das Angebot dieser ausgezeichnet geschmackvollen Toiletten-
gegenstände nicht der Anfrage entsprechend, da die schwarzen
Industriellen zu faul in der Anfertigung sind. Will ein
Weißer einige Jtondo erwerben, so stellen sie besonders un-
verschämte Preise. —
Eine scharfe Trennung der einzelnen V ölkerstämme,
welche am Ogowe wohnen, ist jetzt noch möglich, wird aber mit
der Zeit immer schwerer werden, da ein mächtiges, kriege-
risches, afrikanisches Volk von NW her auf der Wanderung
und im Drängen nach der Küste zu begriffen ist. Es ist der
Stamm der F a u oder F a n- F a n, auch F a m, Mp a n g u e
oder Oscheba geheißen. Wie am Ufer des Ogowe selbst
ihre Dörfer auf Rufweite von einander entfernt urplötzlich
aus der Erde emporzuwachsen scheinen, so trafen wir auch
schon südlich von Kamerun bei B atta versprengte Vorläufer
der Fan. Ihr Streben ist, direkt mit den Weißen in
Handelsverbindungen zu treten, ohne Zwischenhandel mit
anderen schwarzen Stämmen zuzulassen: sie wollen sich selbst
erfreuen an den von Europäern gebrachten Waaren. Dann
gleitet wohl über ihr sonst starres Gesicht ein befriedigtes Lächeln.
Der Name wird hergeleitet von kn — Messer oder
fana — Wald. Stets sieht mau die erwachsenen Männer mit
meistens zwei Messern bewaffnet eiuhergehen, und ihr
Hervorbrechen in großen Schaaren aus den dichten Wäldern
Aequatorialafrikas beobachteten wir selbst.
In der Gegend von Red e vo lo, auf dem rechten Fluß-
ufer gelegen, sind wir vielfach mit diesem Volke in Verkehr
getreten, dem man nachsagt, daß es die Anthropophagie
übe. Ich kann mich dabei nur auf die Aussagen eines, aus
kaufmänuischeu Interessen hier weilenden Mulatten berufen,
der mit dem Häuptling eines Fandorfes in besonders enge
Berührung gekommen war und sogar Blutsfreundschaft in
der Weise mit ihm getrunken hatte, daß etwas Bkut aus
einem Ritz am Arme des Schwarzen von den Lippen des
Mulatten weggesogen wurde und umgekehrt. Die auf diese
Weise gefestigte Freundschaft, die im Beisein vieler Stammes-
genossen seitens der Fan noch durch unbedeutendere Cere-
Bergt. „Globus", Bd. 51, S. 347.
Dr. Pauli: Am Ogowe.
45
monien, wie Tanz und Sang, bekräftigt ward, konnte eine
Versicherung für den Mulatten fein, daß er ungefährdet
unter den Fan weilen könne. Jede Beleidigung oder gar
Mord des Mulatten würde bitter durch jenen Blutsfreuud,
den fchwarzen Häuptling, gerächt werden. Eine Bestätigung
für die Existenz des blutigen Eidschwurs wurde mir durch
einen Theiluehmer der Brazza'schen Expedition, Fourchcl.
In Bezug auf den Kannibalismus habe ich persönlich
als Anhalt nur zwei Punkte. Zunächst sah ich in der Um-
gebung von Sakuma und Gualaka, wo damals zwei
sehr rauflustige Häuptlinge Jugudemba und Femme hausten,
undbeiMemedika, wo Gulcndame Häuptling war, mehrere
kräftige Männer, welche besonders kriegerisch fein sollten,
als Halsband auf Fädeu gezogene Menschenw irb cl
tragen, da nach ihrer Meinung solches stark mache. Dieser
Umstand entsprach auch ihrer sonstigen Auffassung, daß sie
als Fetisch oder Amulett Felle oder Stücke von Thierfellen
an einem Riemen über die Schulter trugen, um dadurch
hervorragende Eigenschaften jener Thiere, wie Schnelligkeit,
Klugheit oder Kraft, zu erwerben. Nur einmal habe ich in
der Hütte eines Fan einen Mcuschenfchädel entdecken können.
Ob er von einem sonst verspeisten Feinde herrührte? Jeden-
falls haben wir weder im Dorfe selbst, noch in größerer Ent-
fernung Beinhäuser angetroffen, doch kann es fein, daß bei
ihrem Wanderungstrieb die Bewohner eines Dorfes sich
überhaupt derartige Trophäen vom Feinde nicht sammeln
wie anderorts, um nicht bei ihrem Vorrücken unnöthigcn
Ballast mitzuschleppen.
Andererseits machte man uns auf einige Schwarze auf-
merksam, welche, nachdem sie gar sehr dem Genuß von
Menfchcnfleisch gehuldigt haben sollten, besonders am Rumpf
des Körpers runde, erhabene, rauhe Flecke von der Größe
eines silbernen Zwanzigpfennigstücks zeigten — Mab ara
bou ihnen genannt. Doch möchte ich bei der Kürze der jewei-
ligen Beobachtung und der sonstigen Unreinlichkeit der Fan
eher an den Beginn einer schuppenartigen Flechte jRingwurm
— engl, ringworm (hepes tonsurans) oder Krätze (craw-
caw)] denken, auch nicht behaupten, daß die Menschen-
fresserei unter den Fan unmittelbar ein Ausdruck ihres thieri-
schen Wesens sei, obgleich der erste Eindruck, den ich von ihnen
gewann, ein keineswegs günstiger war.
Stieren Blickes, fast diabolisch, wenn die sonst weiße
Hornhaut ins Gelbliche schimmert, und offenen Ai und es mit
spitzgefeilten Zähnen starren uns die Männer an, wie
schon erwähnt mit kriegerischem Schmuck und Fellen be-
hängen. Nur wenn wir längere Zeit diese Schwarzen
intensiv fixirten, wichen sie mit ihrem Blick oft lachend und
achselzuckend uns aus, als ob sie sagen wollten: „Was wollt
ihr weißeil Fremdlinge unter uns?" Außerhalb ihres
Wohnorts könnte man, abgesehen vou ihrer relativen Nackt-
heit, behaupten, daß sie bis an die Zähne bewaffnet gingen,
weil ein europäisches Gewehr— am Lauf in der Hand gehalten,
während der Kolben über die Schulter herausragt —
mehrere einheimische Speere und Schwerter ihre Aus-
rüstung vervollständigen.
Unter dem weiblichen Geschlecht scheinen besonders
Picken und Fetten mit wulstigen Lippen und laugen
Ulsten ästimirt zu sein.
Kinder gehen in der Regel bis zum zehnten Jahr
f Einige Fantribus üben an den Knaben die Be-
s {J8- Die Erwachsenen tragen aus Bast geflochtene
. eu enschürzen, welche die Scham nur nothdürftig decken,
un em von einer um die Hüften laufenden stärkeren Schnur
e wa handbreite, doppelt so lange Zipfel fransenartig herab-
sangen. Beide Geschlechter schützen Kettenschmuck aus
fünf11 oder Ringen sehr. Mit großer Vorliebe durch-
slechten |ie die Haare mit Glasperlen oder ziehen auf die
zu Berge stehenden Haarsträhne Perlen auf, wie uns auch
besonders ein Mann auffiel, der einen Kinnbart in ein-
zelne Zöpfe ausgezogen und diese mit Perlen bezogen hatte,
so daß der Bart durch ein paar Perlenschnüre markirt wurde.
Mit nicht wenig Stolz trug er diesen eigenartigen Putz zur
Schau, denn nur selten traf man Männer mit Barthaaren
an. Die Fan-Negerinnen behalten für gewöhnlich ihre
Haare in wüster Unordnung auf dem Kopf. Die Männer'
rasiren denselben häufig kahl, auch lassen sie gleich der alt-
bayerischen Helmraupc eine einzige centimeterbrcite Haar-
tour als Kamm vom Nacken bis zur Stirn laufen oder
nur zwei concentrische Haarwülste über jedem der Ohre stehen
oder conserviren nur einzelne Büschel auf dem sonst kahlen
Schädel. Die Ohrläppchen der Frauen sind oft gespalten
und lang gezogen. Am Oberarm und Unterschenkel werden
mit Vorliebe vom weiblichen Geschlecht fingerdicke, runde,
aber hohle Messingringe getragen, auf deren Glänzen mehr
Werth als auf körperliche Sauberkeit gelegt wird; oft sind
die Weiber mit rother, gelber und weißer Farbe betüpfelt,
die nicht jeden Tag frisch aufgetragen zu werden scheint.
Manches Mal habe ich an dem einzelnen Unterschenkel von
den Ringen bis zu 12 Stück gezählt. Aber bei beiden
Geschlechtern ergreift der Genius der Reinlichkeit entsetzt
das Hasenpanier, denn mehr wie einmal haben wir die
dortigen Negerinnen zum Flußufer oder an kleinere Bäche
ziehen sehen, um mit Sand ihren schweren Schmuck zu be-
arbeiten, ohne den übrigen Partien des Körpers den gleichen
und doch so wünschenswerthen Vorzug angedeihen zu lassen.
Es stehen diese Völker Jnnerafrikas betreffs der Reinlichkeit
in auffallendem Gegensatze zu den Küstenbewohnern, wie
Kru- und Kamerun-Negern. Elfenbeinringe, respective
Elfenbcinmanschetten sahen wir nur vereinzelt, die Männer
scheinen diesen kostbaren Artikel lieber in europäische Waaren
umzusetzen, als ihre Frauen damit geschmückt zu sehen.
Tragen die Frauen ihre minderjährigen Kinder nicht
rittlings auf den Hüften, so sitzen die letzteren in einem
aus Bast geslochteneu handbreiten Bandelier, welches über
eine Schulter gehängt, einen Querricmen als Stütze für
den Rücken des Kindes darbietet. Tatuirungen aus
Brust und Arm beobachtet man, doch ist der Umfang der
Zeichnungen, welche geschlängelte und gerade Linien, Vier-
ecke mit eingestreuten Flecken und Punkten darstellen, kein
sehr großer. Frauen jedoch, deren Brüste reichlicher mit
Tatuirungen bedeckt waren, schienen sich für genügend be-
kleidet zu halten, insofern ihr Lendenschurz in diesem Falle
kaum der Erwähnung werth war.
Die Sitte der Sklaverei und Vielweiberei bringt es
mit sich, daß das Weib das Lastthier des Mannes ist. Eine
Hauptbeschäftigung der Frauen und Kinder ist der Fischfang,
zu dem die Männer außerordentlich haltbare Netze aus ge-
klopftem Baumbast (Pisangrinden) herstellen, wie sie auch
geschickt Körbe und Matten flechten. Ueberhaupt sahen
wir die Männer verhältnißmäßig weniger unthätig, was
bei ihrem sonstigen kriegerischen Sinne hervorzuheben ist.
So sind sie leidenschaftliche Jäger, bauen sich kleinere, wenn
auch plumpe Kanoes und schälen von den Riesenstämmen
des Urwaldes die Borke ab, welche in geraden Platten die
Seitenwände ihrer Hütten ausmachen.
Die Art zu rudern ist bei den schon längere Zeit am
Wasser domicilirenden Fan eine eigenartige. Sie stehen
im Kanoe und führen sehr langschaftige Ruder, die an
ihrem Ende nur kleintellergroß und etwas oval sind. Bei
schärferen Wendungen auf dem Wasser nöthigen sie uns
durch ihr Geschick, mit dem sie Balance halten, Bewunde-
rung ab. Die Knaben fordern sich gegenseitig zu Wett-
fahrten heraus, wobei sich diese Buben sehr couragös be-
nehmen. Doch fahren sie nur an Orten, wo der Fluß
46
Kürzere Mittheilungen.
Ausbuchtungen macht, da sonst die Stromgeschwindigkeit
eine große ist, die uns gelegentlich beim Baden leider ein-
mal selbst in der unangenehmsten Weise fühlbar wurde.
Es tröstete uns aber bei dieser Gelegenheit die ausgelassenste
Freude der Eingeborenen, denn abgesehen davon, daß die
weiße Farbe unseres ganzen Körpers sie in Erstaunen setzte,
erregte die Kunst, daß wir auf dem Rücken schwammen,
ihre besondere Verwunderung.
Kürzere Mi
Russische Kosaken in Abessinien.
Vor einiger Zeit war ein russischer Kosak Aschiuow
mit einer Anzahl Genossen in Begleitung eines Herrn A. P.
Magnus in Abessinien. Was die eigentliche Veranlassung
zu dieser Expedition gewesen, darüber ist nichts in dieOeffent-
lichkeit gedrungen. Aschinow's Begleiter Magnus hat nun
am 16. (28.) Mai d. I. in der ethnographischen Sektion der
k. Russischen Geographischen Gesellschaft in St. Petersburg
über seine Reise und die auf derselben gesammelten Eindrücke
berichtet. Einem kurzen Auszug aus seinen Mittheilungen,
welche die „Nowoje Wrjema" (1887, 18. (30.) Mai,
Nr. 4028) gebracht hat, entnehmen wir Folgendes. Ueber
die Motive zur Reise, über seine Beziehungen zum Kosaken-
führer Aschiuow, über die Zahl der Theilnehmer u. s. w.
sagt der Auszug nichts, sondern giebt nur eine Beschreibung
der Reise. Die russische Karawane hatte sich reichlich mit
Waffen, Pulver und allerlei Kirchengeräthen versehen und
betrat in Massanah den afrikanischen Boden. Nachdem die
Erlaubniß des Herrschers von Abessinien zur Weiterreise ein-
gelaufen war, traten die Russen theils zu Kameele, theils zu
Pferde dieselbe an. Die Nachricht von ihrem Kommen ver-
breitete sich mit großer Schnelligkeit im ganzen Lande: überall
wurden sie von den Abessiniern mit großer Freude und vielen
Ehrenbezeugungen begrüßt. Unter militärischer Begleitung
rückten sie allmählich vor. Die Kosaken, um sich dankbar zu
erweisen, beschenkten die abessinischen Beamten mit Waffen,
geistlichen Geräthen, Heiligenbildern und Kreuzen. Unter
Gesängen und frohen Muthes erreichten die Russen endlich
A s m a r a, den Aufenthaltsort des Vicekönigs R a s - A l n l a,
des Befehlshabers aller abessinischen Truppen und des Chefs
der Provinz. Der eigentliche Herrscher, gleichzeitig das geist-
liche Oberhaupt, der Negus, nennt sich wohl König der
Könige des äthiopischen Landes, hat aber in gewisser Be-
ziehung nur nominelle Macht. Als die Kosaken sich Asmara
näherten, wurden sie von einer großen Militär-Abtheilung
empfangen, mit Willkommenrufen, mit Gesang und Tanz
begrüßt. Der Anführer der Heeresabtheilung verneigte sich
drei Mal und berührte mit der Hand den Erdboden; er
wandte sich zu den Kosaken wie zu lang erwarteten Gästen,
zu Glaubensbrüdern. Diese erschienen vor dem Bicekönig;
er nahm sie freundlich ans und umarmte sie. Reichliche Ge-
schenke wurden ihnen zu Theil. Etwa zehn Tage verweilten
die Kosaken in Asmara, und wurden von Seiten des könig-
lichen Hofes reichlich verpflegt. Dann begaben sie sich zum
Negus, welcher sie ebenso freudig empfing wie Ras-Alula.
Die Kosaken knüpften schnell freundschaftliche Verbindungen
mit dem abessinischen Volke und mit dessen Herrschern an,
lebten eine Weile im Gebirge und verbrachten die Zeit, indem
sie Löwen und Leoparden jagten.
theilungen.
Magnus beobachtete dabei die Abessinier und sammelte
mancherlei Erfahrungen über ihre Lebensweise.
Als Kleidungsstück dient ein großes, weißes, mantelartiges
und ärmelloses Tuch, „Sch ama" genannt. Alle gehen
barhäuptig, sogar der Negus und die übrigen Heerführer —
sie begründen diese Sitte damit, daß der Heiland einst unbe-
deckten Hauptes gewandelt sei. Die Männer tragen die
„Schama" mit rothen Streifen; die Frauen außerdem lange
gestickte Hemden mit Kreuzen auf dem Rücken und der Brust.
Die armen Leute gehen übrigens vollkommen nackt oder tragen
Felle, auf denen sie Nachts schlafen. Die Frauen lieben es, sich
mit wohlriechenden Oelen, Balsam und Moschus einzureiben.
Die Männer tragen Ringe an den Armen und an den Beinen
zum Schmuck; die Frauen haben Ohrgehänge mit kleinen
Kreuzen, tragen Kreuze an der Stirn und den Schläfen, Arm-
bänder an den Armen und Ringe an den Beinen.
Die Haut ist an verschiedenen Stellen tatuirt: Kreuze,
Figuren u. s. w. sind dargestellt. Diejenigen, welche in
Jerusalem waren, haben auf ihren Händen eine Abbildung
des Kreuzes oder der Mutter Gottes.
Die aus Rohr oder aus Bambus errichteten Wohnungen
haben eine kegelförmige Gestalt, spielen aber im Allgemeinen
keine große Rolle im Leben der Abessinier, weil dieselben
fast die ganze Zeit unter freiem Himmel zubringen. Die
Wohnungen der Herrscher sind stattlicher, und man bemerkt
an ihnen den Einfluß der europäischen Architektur. Die
Abessinier sind kriegerisch, wild, rachsüchtig — dabei äußerst
abergläubisch; fast alle tragen Waffen, Lanze, Schild ans
Nashoruhaut und Säbel; sie haben auch viel Remingtou-
Gewehre, welche zum Theil den gefangenen und erschlagenen
Aegyptern abgenommen, zum Theil von den Engländern
erworben sind. Obgleich das Volk moralisch nicht hoch steht,
so werden Sitten und Gebräuche doch sehr streng beobachtet.
Man sieht viele Leute, welche für verschiedene Vergehen und
Verbrechen verstümmelt worden sind: das Tabakrauchen wird
mit dem Abschneiden der Nase und der Zunge bestraft.
Eine sehr hohe Bedeutung hat die Geistlichkeit. Die
Geistlichen stehen in großem Ansehen, find sehr reich und von
allen Abgaben befreit. Die religiösen Gebräuche und der
Gottesdienst zeigt viel Auffallendes: Beim Gottesdienste sind
Trommeln und Schellen in Thätigkeit; die Kirchendiener
singen durch die Nase und schlagen mit Stöcken auf den Fuß-
boden. Jeder Geistliche wird von Dienern begleitet, welche
ehteu Sonnenschirm über ihm tragen und mit einer Glocke
klingeln; die Vorübergehenden fallen vor ihm auf die Knie.
Kirchen und Klöster sind nach derselben Weise erbaut, wie die
übrigen Wohnungen, nur find sie viel geräumiger und mit
einem achtspitzigen Kreuze geschmückt. Die Klöster stehen
gewöhnlich auf Berggipfeln. Der Negus und das ganze Volk
ist den Russen, sowie allen orthodoxen Christen sehr zugethan.
Aus allen Erdtheilen.
47
Aus allen Erdtheilen.
Europa.
— Von dem F. von Hellwald'schcn Prachtwerke „Frank-
reich in Wort und Bild" (s. „Globus" Bd. 51, S. 143)
hat die Verlagsbuchhandlung Schmidt und Günther in Leipzig
jetzt eine Textausgabe unter dem Titel „Frankreich. Das
L a n d u n d j e i n e L e n t e" (Preis 6 Mark) veranstaltet. Neu
durchgesehen und auf das Sorgfältigste verbessert, wird sie sich
hoffentlich recht viele neue Freunde erwerben. Der Verfasser
behandelt seinen Gegenstand mit unverkennbarer Liebe, die
Schilderungen sind äußerst lebendig und können nicht ver-
fehlen, das höchste Interesse des Lesers zu erwecken. Hell-
wald war selbst Officier, und sein Urtheil über die militä-
rischen Einrichtungen verdient hohe Beachtung. Das Werk
darf als die gelungenste geographische Arbeit des Verfassers,
der Frankreich durchaus kennt, bezeichnet werden.
— Die Permische Gouvernements-Zeitung meldet: Die
neu errichteten Schulen, in welchen die Tschercmissen-
Kindcr mit Russen gemeinsam unterrichtet werden, üben
einen sehr wohlthätigen Einfluß. Weder die mohammedani-
schen Tataren, noch die russischen Scktircr haben jetzt noch
den Einfluß auf die Tscheremissen, den sie bisher gehabt
haben. Seit 1878 fiub die jungen Tscheremissen schon im
Stande, ein Examen zu bestehen, um gewisse Vortheile bei
der Ableistung der Wehrpflicht zu erreichen. Die Tschere-
nrissen fangen sogar an, ans ihre eigenen Kosten Schulhäuser
erbauen. Im Dorfe Nishne Potam ist kein Knabe, der
nicht die Schule besucht; ja mitunter sieht man auch fast
erwachsene Tscheremissen in die Schule gehen; hier und da
kommen sogar die Eltern der Knaben zum Unterricht, um zu
hören, was der Lehrer erzählt.
— Ein junger (inländischer Naturforscher W.Heinrich-
s o n ist in Begleitung zweier Gehilfen und eines Photo-
graphen fiir eigene Rechnung nach Nowaja Scmlja gereist,
unr daselbst saunistische und geologische Studien zu machen.
Der jüngst verstorbene Iwan Scmcnowitsch
Poläkow (Poljakow) wurde 1846 in der Stanitza Tsuru-
ch aitnisk im Bezirke Nertschinsk in Transbaikalien als Sohn
eines armen Kosaken und einer Burjätin geboren. Nachdem
cx in Irkutsk eine Volksschule besucht, trat er als Kosak in
bie Armee, doch nur für kurze Zeit. Durch Vermittelung
A. Krapotkin's wurde er vom Militärdienste befreit
und 1865 als Lehrer an der Militär-Elementarschule und
Aufseher am Gymnasium in Irkutsk angestellt. Hier begann
^ jeine zoologischen Studien. Aber schon 1866 gab er beide
Stellungen auf und betheiligte sich als Naturforscher an
eurer Expedition nach dem Olekma-System, welche gute Resul-
kate, vor allem eine Karte des Olekma-Witimer Gebirgslandes,
U'ferte; Poläkow selbst sammelte Thiere und Pflanzen in
großer Menge. Im nächsten Jahre 1867 brachte er aus
östlichen Sajanischcn Gebirge gleichfalls reiche Beute
Bei der Bearbeitung des gesammelten Materials em-
dic Lücken seines Wissens und das Bedürfniß,
dem
heim.
Pfand xx
gründliche
--.."“«je Dtndien zn machen. Deshalb ging er nach
St. Petersburg, später nach Charkow, bestand hier endlich
das Maturitätsexamen, stndirtc in St. Petersburg und erhielt
dort den Grad eines Kandidaten der Naturwissenschaften.
1871 unternahm er als Mitglied der k. Russischen Geogra-
phischen Gesellschaft eine sechsmonatliche Reise an das Ost-
user des Onegasees , hauptsächlich in zoo - geographischem
Interesse; der Bericht darüber ist unter dem Titel: „Unter-
suchungen über die Steinzeit im Gouvernement Olonetzk"
und in den Schriften der Geographischen Gesellschaft, Bd. IX,
gedruckt. 1873 führte er eine zweite Reise in das Gou-
vernement Olonetzk aus; das Resultat war die „Physisch-
geographische Beschreibung des südöstlichen Theils des Gouver-
nements Olonetzk". 1874 untersuchte er die Umgegend der
Stadt Ostaschkow mit besonderer Rücksicht ans die Wasser-
und Landstraßen und wurde dann als Konservator ain zoo-
logischen Museum der Akademie angestellt. Im Jahre 1876
wurde Poläkow von der Akademie der Wissenschaften zn zoo-
logischen und ethnologischen Forschungen an den Ob geschickt;
die Resultate veröffentlichte er in „Briefe und Berichte über
die Reise in das Ob-Gebiet" 1877. 1877 reiste er nach
Kusnezk (Bezirk Mariinsk), um eine angeblich daselbst ge-
fundene Mammuthleiche zu besichtigen, und besuchte auf der
Rückreise das westliche Altai-Gebirge, sowie die SeenAchakul
und Balkasch. 1878 war Poläkow in Helsingfors und arbeitete
daselbst im zoologischen Museum, später unternahm er eine
Reise ins Innere des Russischen Reiches, um im Auftrage
der Moskauer Anthropologischen Gesellschaft an verschiedenen
Stellen Ausgrabungen zn veranstalten. Die Resultate dieser,
sowie einiger früheren Reisen sind in den Schriften der
Moskauer Gesellschaft für Anthropologie erschienen. In der
zweiten Hälfte des Jahres 1878 machte er eine wissenschaft-
liche Reise nach Deutschland, Dänemark, Paris und der
Schweiz und arbeitete überall in den zoologischen Museen.
Im Jahre 1879 bereiste er abermals einige Gegenden von
Süd- und Central-Rußland, um vorgeschichtliche Archäologie
zn treiben. Die Resultate dieser bis zum Fuße des Ararat
ausgedehnten Expedition wurden 1880 in St. Petersburg
veröffentlicht. Die letzte größere Reise nach Sachalin trat er
1881 an; er war drei Jahre unterwegs, besuchte Sachalin,
Japan und das südliche China und konnte noch einen vor-
läufigen Bericht über seine Reisen abschließen. Dann aber
erkrankte er schwer, suchte im Frühling 1886 ans dem Lande
bei Moskau vergeblich Heilung, kehrte nach St. Petersburg
zurück und starb daselbst am 5./17. April des laufenden
Jahres im Marien-Hospital.
Asien.
— In Samarkand sind für die Beamten Unterrichts-
kurse in der Landessprache eröffnet worden. Der dortige
Generalgouverneur hat diese wichtige und nützliche Angelegen-
heit Herrn Kahl, einem früheren Zögling der St. Peters-
burger Universität, der daselbst den Kursus jn der Fakultät
für orientalische Sprachen beendigt hat, übertragen. Die
erste Vorlesung hielt Herr Kahl an: 17. März im dortigen
Militär-Klub; die Zahl der Zuhörer betrug 60 bis 70. Es
werden wöchentlich drei Vorlesungen stattfinden. Gleichzeitig
mit diesem Sprach - Unterricht sollen Vorträge über die Ge-
schichte des Islam gehalten werden, um dadurch ein Verständ-
niß für viele Eigenthümlichkeiten im Leben der Eingeborenen
bei den russischen Beamten zn erzielen.
— Von dem Leben in Kamtschatka entwirft die
Zeitung „Wladiwostock" kein günstiges Bild. Das Leben der
Eingeborenen wie der Russen ist schwer und bedanernswerth.
Noch im Jahre 1739 sprach Steller von Kamtschatka wie
von einem goldenen Boden, in welchem unberührte Schätze
liegen; er lud thätige und aufgeklärte Männer ein, um die Ein-
geborenen über die Verwendung der Naturschätze zu belehren.
48
Aus allen Erdtheilen.
Aber Steller's frommer Wunsch erfüllte sich nicht — Kamt-
schatka ist im Zustande der Erstarrung geblieben bis auf den
heutigen Tag. Auch die allerbescheidensteu und beschränkte-
sten Bedürfnisse der Landbewohner können nicht erfüllt wer-
den; die allereinfachsten Bequemlichkeiten des Lebens fehlen.
Der größte Theil der Bewohner besteht aus Jägern; der
Jagderwerb ist das einzige Mittel, um sich eine Existenz zu
schaffen, aber cs ist nicht ausreichend. Im Jahre 1885
—1886 wurden 4000 Zobel zu 16 Rubel, also im Werth
von 64 000 Rubel (128 000 Mark), 1000 Füchse zu
3 Rubel für 3000 Rubel (6000 Mark), 200 Ottern zu
8 Rubel für 1600 Rubel (3200 Mark) und Bären und
andere Pelzthiere für 1400 Rubel (2800 Mark) erlegt,
demnach im Ganzen für 70 000 Rubel (140 000 Mark).
Man zählte etwa 10 000 Einwohner auf der Halbinsel,
demnach kommen auf jeden einzelnen etwa 7 Rubel (14 Alk.).
Der Jagdbetrieb währt im Ganzen 4x/2 Monate, vom
15. Oktober bis zum 1. März; die erworbenen Geldsummen
sind während dieser Frist auch verbraucht; wovon die Lente
während der übrigen Zeit des Jahres leben, ist ein Räthsel,
Ueberdies kommt der Jagderwerb allmählich in Verfall, zum
Theil, weil die Pelzthiere sich allmählich vermindern, zum
Theil, weil von den Pelzwaaren ein hoher Zoll erhoben wird,
zum Theil, weil ans den europäischen Märkten die Ranch-
waaren sehr im Preise gesunken sind. — Das Land birgt in
seinem Inneren reiche mineralische Schätze, welche unberührt
daliegen; alljährlich werden 10 000 Renthierfelle, aus denen
das schönste Leder bereitet werden könnte, als unbrauchbar
fortgeworfen; der Tschawitscha (Oncorhynchus orien-
talis Pall.), der herrlichste Seefisch der Welt, wird nicht aus-
geführt. Man sehnt sich danach, daß die Regierung endlich
Maßregeln ergreife, den Handel zu heben und die ökono-
mische Lage der Eingeborenen zu bessern.
— Ein in Chami lebender russischer Kaufmann N. M.
Tjnstiu hat dem russischen Konsul in Kaschgar mitgetheilt,
daß eine von Sava Morosow ausgerüstete Karawane am
26. December 1886 in einer Entfernung von 70 Werst (km)
Chami passirt und glücklich Lan-tschtzu-fu erreicht hat. Der
Handel in Chami ist Vortheilhaft; er würde noch besser gehen,
wenn die chinesischen Behörden nicht so oft dabei hinderlich wären.
Die russischen Waaren kommen von Biisk über Kosch-agatsch,
den chinesischen Posten Chak, die Stadt Kobdo, durch einen
Theil der Wüste Gobi, Suchaita genannt, über San-to-chu, die
Stadt Barkill und den Paß Nan-sjän-chu nach Chami.
— Die Sammlung von Mineralien, welche Po tan in
von seiner Reise heimgebracht hat, ist dem Professor der Geo-
logie au der Petersburger Universität Jnostranzew zur
Bearbeitung übergeben worden. Die zooologischen und bota-
nischeN'Samnllungen werden von Mitgliedern der St. Peters-
burger Akademie der Wissenschaften bestimmt und untersucht
werden, die übrigen ordnet er selbst und lvird dann in Irkutsk
das Amt eines Geschäftsführers der ostsibirischen Abtheilung
der k. Russischen Geographischen Gesellschaft übernehmen.
A n st r a l i c n.
— Am 21. u. 22. April dieses Jahres wurde eine an der
Nordwestküste von W e st a n st r a l i e n, in der Ninety-mile Beach
in 200 südl. Br. und 119° Lstl. v. Gr., mit Perlfischerei
beschäftigte Flottille von einem der furchtbarsten Orkane über-
fallen. Sie bestand aus meist nach Sydney gehörigen
20 Schonern und 100 Luggers, und davon wurde über die
Hälfte total vernichtet und der Rest stark beschädigt. Von
der Besatzung verloren 300 Mann ihr Leben in den Fluchen.
Die Zeit der gefährlichen Orkane an der Nordwestküste be-
ginnt im Dcccinber des Jahres und pflegt sonst gegen Ende
März aufzuhören. Während dieser Zeit suchen dann die
für Perlfischerei engagirten Schiffe in dem 95 km südwest-
lich von der Ninety-mile Beach gelegenen Port Headlaud Schutz.
Inseln des Stillen Oceans.
— Ans Queensland wird Mitte Mai telegraphisch ge-
meldet: „Die Victory Expedition nach Neu-
Guinca erzielte bedeutende Erfolge. Zwei neue große
Flüsse wurden entdeckt, welche der Dampfer „Victory" auf
mehr als 100 Miles (161 km) hinauffahren konnte. Man
stieß auf fünf besondere Stämme der Eingeborenen. Was
bisher als Aird-Fluß galt, ist nichts weiter als eine der
vielen Mündungen eines der neu entdeckten beiden Flüsse,
welcher nunmehr den Namen Dong las erhielt. Der andere
große Fluß wurde Jubilee benannt und fließt östlich vom
Donglas." Man kannte, fügen wir hinzu, voin Aird bisher
nur dessen Mündung, welche in 7045' südl. Br. und 144»
15' östl. von Gr. auf der Höhe des Papua-Golfes liegt.
Die diesem für Schiffe sehr gefährlichen Golfe anliegende
Küste ist noch immer wenig bekannt. Der obige Fluß wurde
zu Ehren des Honor. John Douglas, Special Commissionen
des englischen Neu-Gninea, Douglas benannt. — Es sollten
in Australien drei besondere Expeditionen zur Erforschung
des englischen Neu-Gninea in verschiedenen Richtungen aus-
gerüstet werden; die eine in Queensland, die zweite in
Neu-Seeland und die dritte von der Geographischen Gesell-
schaft in Melbourne.
— Der Stand der englischen Kolonie der Fidschi-Inseln
mit einem Flächeninhalt von 378 deutschen Qnadratmeileu
war Ende 1885 folgender. Die in Parenthese beigefügten
Zahlen beziehen sich ans das Vorjahr. Die gcsammte Be-
völkerung zählte 127 279 (— 1 244). Unter Kultur be-
fanden sich 15 515 ha (+• 1 108) Land. Der Viehstapel
bestand aus 650 (ff- 40) Pferden, 5 953 (ff- 1 353) Rin-
dern, 6 350 (ff- 481) Schafen und 50 000 Schweinen.
Die Einnahmen ergaben Pfd. St. 76 669 (— 14 854), die
Ausgaben betrugen Pfd. St. 92 209 (— 6 259), und im
Jahre 1887 resp. Pfd. St. 72 169 und Pfd. St. 73 607.
Die öffentliche Schuld belief sich auf Pfd. St. 264 025
(ff- 10 000). Der Import bcwerthete Pfd. St. 294 585
(— 139 937), der Export Pfd. St. 326 750 (— 18 594).
Die wichtigsten Exportartikel bildeten Zucker mit Pfd. St.
211 729 (- 6 495), Kopra mit Pfd. St. 67 077 (- 2 565),
Früchte mit Pfd. St. 23 905 (ff- 4 195), Mais mit Pfd.
St. 3 132 (ff- 588) u. s. w. Es liefen 124 Schiffe
(— 26), darunter sieben deutsche, mit einem Tonnengehalte
von 54 056 (— 9 190) ein und 135 (— 9) mit einem
Tonnengehalt von 55 892 (— 8 839) aus.
Inhalt: Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien. VI. (Mit vier Abbildungen.) — Baku. III. (Mit drei Abbil-
dungen.) — Dr. Pauli: Am Ogowe. I. — Kürzere Mittheilungen: Russische Kosaken in Abessinien. — Aus allen Erdthcilcn:
Europa. — Asien. — Australien. — Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion 24. Juni 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Dr. Richard Kiepert.
SRvrtimVnotrt Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QQ1)
lUWU'uilull[0 zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. 1 ° ‘ *
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
vie
Die ersten Tage des Rückmarsches erschienen den
Reisenden ganz besonders langweilig. Lhassa war ihnen
unerreichbar gewesen — und nun lagen wieder viele Hunderte
von Kilometern schwierigen Weges durch Nordtibet vor ihnen
in der Eiseskälte des tiefen Winters! Dabei drohten aus
dem 4mnla die Jegräer und der Ausland der Karawane war
bei weitem nicht mehr befriedigend. Trotz aller Anstrengungen
hatten an der Quelle Nier-tschungu nur 10 Pferde gekauft
werden können; von deu Kameelen waren nur noch 26 Stück
brauchbar, und darunter war fast die Hälfte sehr schwach.
Au Nahrungsmitteln hatte man außer einigen Schafen,
sowie etwas Butter, nur 5 Pud (80 kg) Dsamba und 8^
sehr schlechten Ziegelthees beschaffen können, schließlich
waren die Reisenden durch das Ausbleiben aller Nachrichten
aus der Heimath verstimmt worden; sie hatten die an
sie gerichteten Briefe von Peking nach Lhassa befördern lassen,
aber die tibetischen Gesandten weigerten sich mit Entschieden-
heit, für dieselben zu sorgen; sie erklärten, daß, falls der
chinesische Resident in Lhassa wirklich Briefe aus Peking
erhalten hätte, dieselben wiederum nach Peking zurückgeschickt
werden würden, lind so geschah es wirklich.
Ais Führer diente der Expedition der schon genannte
Mongole ausTzaidam, Namens D ad ai; er war ein Nesse
des Mongolen Tschutun-dsamba, welcher bereits 1672 und
1873 Führerdienste geleistet hatte. Dadai kannte den Weg
ausgezeichnet; bereits acht Mal hatte er mit Pilgern oder
Kaufleuten die Wegstrecke von Tzaidam bis nach Lhassa
zurückgelegt. Er erhielt eine Bezahlung von 40 Lau (etwa
240 Mark); außerdem mußte Prshewalski ihm ein Reit-
pferd liefern und ihn verpflegen.
Dadai war ein vortrefflicher Führer: unter seiner Bei-
hilfe wurden einige Nahrungsmittel und noch vier Reitpferde
Globus Ui. Nr. 4.
erworben. Er verrieth den Reisenden auch, daß hinter ihnen
etwa in einer Entfernung von einer Tagereise eine Abtheilung
von 30 berittenen tibetischen Soldaten folge; dieselben hätten
die Verpflichtung, täglich nach Naptschu zu berichten, was
die Expedition mache; unterdeß blieben die Gesandten au
Ort und Stelle, um abzuwarten, bis Prshewalski den Tanla
überschritten hätte.
Der Rückmarsch wurde anfangs ans demselben Wege,
wie der Hinmarsch, gemacht, dann aber wurde etwas ab-
gewichen, um den Tanla an einer anderen Stelle zu über-
schreiten und dadurch denJegräern aus dem Wege zugehen.
Drei Tage wurde am Flusse Santschu gerastet, dann folgte
man dem Flusse Tantschu, allmählich zum Tanla heran-
steigend. Der Weg ist gut — von den Jegräern war nichts
zu sehen; so konnte der Paß desTanla-Gebirges, auf dessen
Höhe sich ein „Obo" befand, in Ruhe überschritten werden.
Dabei erzählte der Führer Dadai zwei Legenden, welche
an jene Gegend anknüpfen. Die erste lautete:
In alten Zeiten lebte auf jenen Bergen nahe am Paß
ein böser Geist, welcher den vorbeiziehenden Karawanen nur
Unannehmlichkeiten bereitete. Durch keinerlei Opfer ließ er
sich versöhnen. Da legte sich ein tibetischer Heiliger, welcher
von Lhassa nach Peking reiste, ins Mittel; er brachte mittels
seiner Gebete und Beschwörungen den bösen Teufel so weit,
daß dieser sich zum Buddhaglauben bekehrte und in einen
guten Geist („Bnrchan") verwandelte, der nun die Wan-
derer beschützte. Seit der Zeit ist es hier viel sicherer als
früher.
Die zweite Sage erzählt: Vor vielen Jahren, als noch
alle Buddhaheiligen nach Tibet kamen, machte sich Galdsn-
abnte, der Chan der Chalcha, mit einem Kriegsheere auf
den Weg, um den Dalai-Lama zu rauben und ihn in seine
50
Prshewalski's dritte Reise in Central - Asien.
eigenen Besitzungen zu schassen. Die Tibeter konnten mit
offener Gewalt die Mongolen nicht zurückhalten, aber die
Heiligen von Tibet bewirkten es, daß ein Steinhagel vom
Himmel fiel und den größten Theil des feindlichen Heeres
vernichtete; ein Theil wurde von den wilden Jaks zu Grunde
gerichtet. Aber Galdsu-abute marschirte mit einem ihm
gebliebenen geringen Reste von 16 Mann-nach Lhassa, be-
mächtigte sich eines der vornehmsten Heiligen (des Chubilgon)
und schleppte ihn in seineHeimath nach Urga. Seit jener
Zeit lebt daselbst der große Kutuchta. Die damals vom
Himmel gefallenen Steinmassen aber liegen noch heute am
Nordabhange des Tanla am Ursprung des Flusses Temi-
schn. Später wurde den Reisenden wirklich an einem
kleinen von den westlichen Bergen herabkommenden Flüßchen
ein Ort gezeigt, wo große Haufen von Steinkugeln von
Haselnuß- bis Wallnußgröße lagen; es waren das offenbar
Kalkconcremente, welche aus dem Löß ausgewaschen und durch
die starken Frühlingswässer weiter getragen worden waren.
Die schlauen mongolischen Lamas sammeln ganze Ladungen
dieser Steine und bringen sie nach Chalcha, um sie dort zu
ihrem Vortheil zu verkaufen.
Beim Herabsteigen vom Tanla-Gebirge verloren die
Reisenden einige Kameele und verließen endlich das ungast-
liche Gebiet, wo die Winterkälte mit allen ihren Schrecken
und Gefahren sie begleitet hatte. Sie folgten dem Flusse
Mur-ussu bis zum Gebirge Tzagon-obo, woselbst ein
Aufenthalt von vier Tagen genommen wurde, weil einer
der Kosaken, Garmajew, schwer erkrankt war. Dabei klagte
der Führer Dadai stets darüber, daß er unwohl sei; zu
reichliche Fleischnahrung schien die Ursache seiner Krankheit
zu sein; er litt außerdem durch Ungeziefer, obwohl er täglich
massenweise die in seiner Kleidung steckenden Parasiten ver-
nichtete. Auffallend war es, daß weder Prshewalski noch
seine Begleiter von Ungeziefer zu leiden hatten, trotzdem daß
alle äußerst schmutzige Wäsche trugen, an deren Reinigung
gar nicht gedacht werden konnte. Die Mongolen haben
übrigens die Ansicht, daß ein Mensch ohne Ungeziefer Gott
nicht wohlgefällig sei.
In den Bergen Tzagon-obo wurde fleißig gejagt; ins-
besondere wurden tibetische Rebhühner (Ullar genannt,
Megaloperdie thibetanus) und Kukujamans, und von
I Prshewalski's eigener Hand ein großer Bär erlegt.
Lager der Karawane aut Tanla.
Vom Tzagon-obo-Gcbirge aus wurde ein Weg gewählt,
der etwas östlicher lag als derjenige, welchen die Expedition
auf dem Hinmarsch eingeschlagen hatte; er lief anfangs bis
zum Paß über den Kukuschili dem alten fast parallel.
Das Dumbure-Gebirge (Paßhöhe 4800 in) wurde glücklich
überschritten. Hier schoß der Kosak Kalmykin ein ausge-
zeichnetes Exemplar des Askars oder des weißbrustigen
Argalis (Ovis Iloclgsoni?). Das schöne hier abgebildete
Thier kommt im ganzen Gebiete von Nordtibet in großer
Menge vor.
Viel hatten die Reisenden und ihre Lastthiere von Schnee-
stürmen zu leiden; im Marco-Polo-Gebirge trat in Folge
eines sehr heftigen und andauernden Schneesturmes Futter-
mangel ein, so daß Kameele und Pferde zwei Tage lang ohne
Nahrung blieben. Die Kameele sind an solche Hungertage ge-
wöhnt, die Pferde eigentlich nicht; doch erwies sich hierbei
das tibetische Pferd außerordentlich leistungsfähig und sehr
genügsam. Einige fraßen sogar bereitwillig Fleisch. Als die
Noth am höchsten war, wurden alle 14 Pferde zusammenge-
trieben und ihnen eine Masse von etwa 30 kg Chulan-M ist
vorgeworfen, der unterwegs gesammelt worden war. Die
hungrigen Pferde warfen sich mit Begierde darauf und fraßen
alles aus — den folgenden Tag mußten sie wieder einen an-
strengenden Marsch machen. Das dem Marco-Polo-Ge-
birge sich anschließende Thal ist durchaus unfruchtbar, am
Nordabhange des Gebirges befinden sich weit ausgedehnte
Gletscher. Im Juli ist das Thal sehr belebt: Hierher strömen
von allen Seiten die weiblichen Orongo-Antilopen zusammen,
um ein Junges zu werfen, während die Männchen an den
alten Standplätzen zurückbleiben; deu Weibchen folgen aber
Bären, Wölfe und große Raubvögel, um während der etwa
einen Monat andauernden Wurfzeit sich der leichten Beute
bemächtigen zu können. Später ziehen die Weibchen mit
ihren Jungen wieder zurück an die heimischen Plätze. Was
die Antilopen zu dieser Wanderung veranlaßt, ist unbekannt. —
Der Führer erzählte eine Lokalsage, welcher zufolge alle tu
Tibet befindlichen Orongo-Antilopen eine Hochzeitsgabe der
Tochter eines Geistes seien, der im Gebirge Amne-matschiu
am Ursprung des Gelben Flusses haust. Die nun ver-
heirathete Tochter lebt jetzt auf dem Berge Baldyn-dordsh;
am Fuße dieses Gebirges versammeln sich alljährlich alle
Orongo-Antilopen zur Musterung.
Prshewalski's brüte Reise in Central - Asien^
51
Im Flußthale des Naidschin-gol begegneten der Kara-
wane endlich Mongolen, denen Nahrungsmittel und Last-
thiere abgekauft werden konnten. Die Zahl der Kameele
war auf 17 zusammengeschmolzen; die Lasten wurden auf
Jaks vertheilt. Das Gebirge, ein westlicher Ausläufer des
Burchan-Budda, wurde im Paß Kukutom Überschritten und
nun befand sich die Expedition abermals in der weiten
Tzaidam-Ebene. Der Weg wendete sich nach Osten; am
31. Januar 1880 wurde die Festung (Chyrma) Dsun-
safak erreicht. Von 37 Kameelen, mit welchen die Kara-
wane von hier abgezogen war, kehrten nur 13 zurück, die
übrigen waren den Reisestrapazen, und besonders dem Futter-
mangel erlegen. Die Reisenden selbst waren ermattet und
abgezehrt. In Dsun-sasak wurde deshalb gerastet, um mit
Weißbrüstiger Argali (Ovis* HodgsoniV).
frischen Kräften ans schon bekanntem Wege den Marsch zum ' wurde den Reisenden zurückgeliefert, aber auch — ihre
Kuku-Nor beginnen zu können. Briefe. Als Prshcwalski auf der Heimreise Dsun-sasak
Alles in Dsun-sasak zurückgelasscne Gepäck, alles Silber i passirte, übergab er dem Fürsten daselbst Briefe, welche über
Ein Obo auf dem Tanla-Paß.
Sinin nach Peking zur Weiterbeförderung nach Rußland
gcschickt werden sollten. Bis Sinin kamen dieselben, der
dortige Gouverneur (Amban) beförderte sie aber nicht weiter,
sondern schickte sie nach Dsun-sasak zurück, wo man sie der
Expedition wieder eiuhändigte. Der Weitermarsch der Kara-
wane zum Kuku-Nor durch den östlichen Thcil von Tzaidam be-
wegte sich auf derselben Route, welche Prshcwalski bereits in
den Jahren 1872 und 1873 genommen hatte. Ueber den Fluß
Bajan-gol hinüber am Sumpfe Jrgitzyk vorbei wanderten
die Reisenden durch das Kuku-Nor-Gebirge, woselbst der
lange nicht genossene Anblick von Bäumen sie hoch erfreute,
und gelangten glücklich an den Kuku-Nor.
Dieser, der Blanc See, spielte einst in der Geschichte
vieler Nomaden in Centralasien eine bedeutende Rolle. Er-
liegt hart an der Grenze, wo chinesisches Kulturleben und
mongolisches Nomadenthum, wo Mongolen, Chinesen und
7*
52
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
Tangnten zusammenstoßen, aus dem Wege von China nach
Tibet; an ihm befinden sich ausgezeichnete Weideplätze, welche
die Nomaden stets anlocken; so war der See mit seiner
Umgebung seit Alters her ein Schauplatz für Ueberfälle,
Eroberungen und Räubereien, — den guten Bissen wollte
Jeder haben. Das Resultat war einerseits ein stetes Wachsen
der Nomadenbevölkerung an den Seeufern, andererseits das
stete Bestreben Chinas, jene Nomaden sich zu unterwerfen.
Das gelang den Chinesen schließlich am Ende des 17. und
am Anfang des 18. Jahrhunderts unter der Regierung des
Kaisers K ansi, eines Zeitgenossen Peter's des Großen. Für
die Ureinwohner dieser Gegend kann man die Tanguten
halten, welche unter dem Namen Fan oder Sisan bekannt
sind; aber als die herrschende Bevölkerung gelten die Mon-
golen, welche in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
unter Anführung Guschi-chans
hierher kamen und das Land
sich unterwarfen. Jene Mon-
golen gehörten zum Stamme
der Choschoten; zu ihnen
stießen später ihre Stammes-
genossen, die Torgouten, Choi-
ten, Tschorossin und einige
Chalcha-Mongolen. Alle ins-
gesammt waren in 29 Cho-
schune (Fahnen) getheilt; ihre
Fürsten wurden als erbliche
bestätigt. Aber trotzdem
wurde es am Kuku-Nor nicht
ruhig. Zuerst erhob sich ein ge-
wisser Lobzsan-Danzsin,
welcher aber bald unterdrückt
wurde. Dann fielen die Dshun-
garen ein und abermals gab
es neue Unordnung. Jetzt
wurden die Ueberfälle der Tan-
gnten immer häufiger, weil
sie nicht davon lassen konnten,
den Kuku-Nor als ihren Besitz
anzusehen. Eine Bande von
Tanguten vernichtete zu Be-
ginn des jetzigen Jahrhunderts
fast alle Mongolen. Endlich
ergriff die chinesische Regierung
energische Maßregeln zur Be-
ruhigung des Landes: die Räu-
bcrhorden wurden auseinander-
gesprengt , und alle Tauguten
an das Südufer des Oberlau-
fes des Hwangho übergesiedelt.
Zeitweilig herrschte nun Ruhe
am Kuku-Nor. Aber der Dshuugaren-Aufstand brachte
den dortigen Mongolen neues Leid. Abwechselnd sielen die
Sininschen Dshuugaren und die Tangnten über sie her.
Dabei hat das taugutische Element in den letzten Jahren
entschieden am Kuku-Nor ein gewisses Ucbcrgewicht über die
Mongolen gewonnen.
Von den Tanguten, welche bei den Mongolen Chara-
tanguten heißen, wird später Näheres berichtet werden; hier
nur die Bemerkung, daß sie durch ihre eigenen „Aeltesten"
regiert werden und die chinesische Oberhoheit nur in ge-
ringem Maße anerkennen.
Nach kurzem zweitägigem Aufenthalte am Seeufcr wurde
der Marsch nach Sinin fortgesetzt, der Fluß Aragol über-
schritten und bald war die kleine Stadt Doukyr erreicht,
von wo eine Eskorte von 15 chinesischen Soldaten die
Karawane nach Sinin, dem Sitze des chinesischen Gou-
verneurs, geleitete; kurz vor der Stadt bezog die Karawane
ein Lager. Der chinesische Beamte in Sinin machte anfangs
viele Schwierigkeiten, endlich aber ließ - er sich bewegen, die
Weiterreise zum Oberlaufe des Gelben Flusses zu gestatten.
Die Umgebung von Sinin ist hügelig und bergig; die
Stadt selbst, sowie die Ebene, ist sehr dicht bewohnt von
Angehörigen folgender Stämme: Chinesen, Dunganen,
Tangnten, Dalden, Mongolen und Kirgisen.
Die Chinesen sind das herrschende Element; ihre
Zahl wird seit der Niederwerfung der Dshuugaren und
in Folge des Zuzugs aus dem Inneren Chinas immer
größer. Ihrem Berufe nach sind sie hier Ackerbauer und
unterscheiden sich gar nicht von ihren Stammesgenosseu;
doch giebt es auch viele chinesische Kaufleute in Sinin
und anderen Städten der Provinz Gansu.
Die Dunganen nehmen
der Zahl nach die zweite
Stelle in der Sininschen Be-
völkerung ein: es sind zum
Mohammcdanismus bekehrte
Chinesen, die von den eigent-
lichen Chinesen mit dem Na-
men C h o i - ch o i bezeichnet
werden. Die siegreichen Chi-
nesen richteten ein furchtbares
Blutbad unter ihnen an, aber
ungeachtet dessen ist ihre Zahl
recht groß; man rechnet in
Sinin und Umgebung gegen
50000 bis 60 000 Familien,
etwa 250 000 bis 300 000
Individuen beiderlei Geschlech-
tes. Die Dunganen gehören
zur Sekte der Schiiten; in
ihrem Aeußeren gleichen sie den
Chinesen keineswegs, sondern
erinnern eher an die russischen
Tataren. Sie selbst erzählen
auch, daß sie vor 400 Jahren
aus der Umgebung Samar-
kands unter der Leitung eines
Imam Rabbane hierher nach
Sinin gekommen seien. Sie
halten an ihrer Religion sehr-
fest und beharren in ihrem
Hasse gegen die Chinesen, doch
sonst sind sie den Chinesen
ganz gleich. Sie haben ge-
nau dieselbe Kleidung wie die
Chinesen, nur tragen sie ein
kleines Käppchen (eine Calottc);
sie rasiren das Haupt und lassen am Hiuterhaupte einen
Zopf stehen. Ebenso sind ihre Weiber in ihren Kleidern und
Haartracht von den Chinesinnen durchaus nicht zu unter-
scheiden. Alle Dunganen sprechen jetzt chinesisch; beim Got-
tesdienste bedienen sie sich aber der arabischen Sprache.
Sie bereiten sich ihre Speise ganz wie die Chinesen, nur
das Schweinefleisch verschmähen sie. Ihrem Charakter nach
sind sie etwas energischer als die Chinesen, dabei sehr fleißige
und gute Ackerbauer; daun haben sie auch große Neigung
zum kaufmännischen Geschäfte und verstehen es gut, Geld
zu verdienen.
Die Zahl der in der Nähe von Sinin lebenden Kirgisen
ist nicht sehr groß; sie leben nomadisirend nahe bei der
Stadt, in der Umgebung von Donkyr und zum Theil am
Kuku-Nor. Ihre Muttersprache haben sie fast ganz ver-
gessen; nur einige wenige Greise kennen sie noch, die Jugend
Orongo - Antilopen.
Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien.
53
nicht mehr; dieselbe spricht nur mongolisch, tangutisch oder
chinesisch. In ihrer Kleidung tragen sie sich wie die
Dunganen. Sie sind ihrem Typus nach ohne Weiteres als
Kirgisen zn erkennen; ihren mohammedanischcnGlauben halten
sie fest. Sie erzählen, daß sie 500 Familien stark unter der An-
führung eines Taidshi-achun vor etwa 200Jahren nach
China eingewandert seien; der größere Theil zog in das Ge-
biet Alaschan, der kleinere blieb in der Umgebung von Sinin.
Während des letzten Dunganen-Aufstandes wollten die Kir-
gisen nach Samarkand zurückziehen, aber weil ihnen dazu
die materiellen Mittel fehlten, mußten sic in China bleiben.
Die Tanguten, von den Chinesen Si-fan genannt,
bewohnen tu beträchtlicher Menge sowohl die UtNgcgend von
Sinin, als auch einige Orte der Provinz Gansu. Sie
werden von den Chinesen unterschieden in Bei-fan,
d. h. gelbe, und Chei-fan, d. h. schwarze Tangntcn.
Die gelben, welche ihren Namen wahrscheinlich nach der
gelben Tracht der Lamas haben, sind den Mongolen schlecht-
hin als Tanguten bekannt; sie wohnen in der Ebene von
Sinin und in den Gebirgen, welche sich zn beiden Seiten
des Flusses Tetunggol hinziehen. Ein Theil dieser Tangntcn
ist seßhaft und lebt bei Sinin in chinesischen Häusern
(Fansen) mitten unter Dalden und Chinesen und beschäftigt
sich mit Ackerbau. Die anderen in den Bergen am Tetung
lebenden treiben keinen Ackerbau, bauen sich hölzerne Hütten
und halten nur Vieh. Wieder andere Tanguten ziehen
nomadisirend in den Bergen umher und bewohnen schwarze
Zelte.
Ehara - Tanguten am Kuku-Nor.
Die eigentlichen schwarzen Tanguten oder mon-
golischen Charatanguten, welche sich in ihrem Aeußeren
von allen ihren Stammesgenossen unterscheiden, bewohnen
das Gebiet des Oberlaufes des Gelben Flusses und theil-
weise die Gegend am Kukn-Nor. Sie zerfallen in viele
Geschlechter und erkennen zum Theil die chinesische Ober-
hoheit nicht an. Von diesen schwarzen Tanguten wird später
"och mehr die Rede sein. Der kleinere Theil der Chara-
langnten sitzt an den Ufern des Gelben Flusses südlich und
südwestlich von Sinin und beschäftigt sich mit Ackerbau; der
größere Theil nomadisirt. Außerdem leben im Bezirke
Ghe-tscheu. südöstlich von Sinin, jenseits des Hwangho,
die Salyr-Tan guten, welche Mohammedaner sind. Sie
machten während des Aufstandes mit den Dunganen ge-
meinsame Sache gegen die Chinesen, sind aber jetzt, wie es
scheint, ruhig und der chinesischen Macht unterthänig.
Glicht weit von Sinin im Norden lebt daö kleine, aber
interessante Völkchen der Dalden oder Dolden, von den
Tanguten Karlnn, von den Chinesen Tun-shen genannt.
Das Gebiet, welches sic inne haben, fängt am Abhange der
Tetung-Berge in der Nähe der Städte Ujam-bu und Mu-
baischinta an. Sie leben theils in diesen beiden Städten, theils
in Dörfern gemischt unter Chinesen und Tanguten und
treiben Ackerbau; ihre Zahl mit Sicherheit zn erfahren, war
unmöglich; Prshcwalski schätzt sie auf etwa 10 000 Indi-
viduen beiderlei Geschlechts.
Die Männer der Dalden gleichen in ihrem Aeußeren
den-Chinesen und zum Theil den Mongolen; sic tragen
chinesische Kleidung, rasiren sich den Schädel und lassen nur
am Hinterkopfe einen Zopf stehen. Die Frauen dagegen
unterscheiden sich gänzlich von den Chinesinnen und erinnern
am ehesten an russische Bäuerinnen, sowohl in ihren Ge-
Männer und Frauen der Dalden.
Dr. Pauli: Am Ogowe.
55
sichtszügen, als in ihrer Kleidertracht und ihrem eigenthüm-
lichen Kopfputz. Letzterer besteht ans einer großen, dem
russischen Kokoschnik ähnlichen Kappe, welche aber vorn mit
Fransen versehen ist, welche die Stirn fast vollständig be-
decken. Hinten sind die Kappen durch einen breiten Streifen
blauen Zeuges (Dalcmba) bedeckt, welches bis zum Gürtel
herabreicht. Ferner wird oben an der Kappe ein dicker,
aus rothen, baumwollenen Fäden zusammengeflochtener
Strang befestigt, welcher rechts und links zum Halse herab-
fällt, dabei aber durch zwei große, zwei bis drei Zoll im
Durchmesser haltende Ringe hindurchgeht. Diese aus
Kupfer bestehenden Ringe werden wie Ohrringe getragen,
lind aber nicht in die Ohrläppchen eingehängt, sondern
werden durch Bänder am Kopfe befestigt. Die rothen
Schnürchen am Halse sind mit falschen Korallen verziert;
überdies wird ein großer eiserner Ring, der mit rothem
Stoffe überzogen und mit knöchernen und thönernen Plättchen
behängt ist, um den Hals getragen.
Die Haare anl Kopse einer Daldensran werden in der
Mitte gescheitelt und durch ein Band gehalten; die seitlich
herabfallenden Haare werden hinten auf ein kleines Hölzchen
gebunden, so daß eine Art Chignon entsteht. Sehr selten
wird eine Frisur wie die der Tangutenfrauen gemacht,
d. h. die Haare werden in der Mitte gescheitelt und seitlich
zu einer llnzahl kleiner Zäpfchen zusammengeflochten, deren
Enden, an ein Stück Zeug genäht, vorn auf die Brust
herabhängen. Die Kleidung der Frauen besteht ans einem
dunkelblauen Dalembagewand ohne Aermel, einem Hemde
mit bunten Aermeln, dunkelblauen Dalembahosen und chine-
sischen Schuhen. Das Obergewand wird durch einen
Dalembagürtel mit bunten Enden zusammengehalten.
Die Männer sind von mittlerer Größe, die Frauen
meistens klein. Die Sprache der Dalden besteht ans einem
Geuiisch von mongolischen, tangntischen und chinesischen
Worten mit ihrer eigenen ursprünglichen Muttersprache.
Die Dalden bekennen sich zum Buddhismus und werden von
Mongolen und Chinesen wegen ihrer Arbeitsamkeit und
ihren geistigen Fähigkeiten sehr geschätzt. Ueber ihre Ab-
stammung wissen sie selbst nichts, auch die Chinesen konnten
oder wollten nichts darüber mittheilen. Bei den Ordos-
Mongolen hat sich dagegen die Tradition erhalten, daß die
Dalden ein den Mongolen stammverwandtes Volk seien,
das nur zufällig an den jetzigen Wohnort gekommen sei.
Die Sage lautet: Als Tschingis-Chan in Ordos verweilte,
besaß er ein ausgezeichnetes Roß, mit welchem er in einem
Tage bis zum Kuku-Nor reiten konnte. Einst nahm er
einen seiner Helden und eine Kriegerschaar mit sich aus die
Jagd; auf der Rückkehr verirrten sich die Krieger und blieben
bei Sinin. Von ihnen aber stammen die Dalden, welche
von den Ordos-Mougolcn den Namen der weißen Mongolen
(Tzagan-Mongol) erhalten haben. Daß das Volk der
Dalden ein von Westen oder Norden nach Sinin verzogener
Stamm ist, scheint richtig zu sein — woher sie stammen,
haben die Dalden längst vergessen. Der Typus der Frauen
scheint dafür zu sprechen, daß das Volk eher der arischen,
als der mongolischen Rasse angehört hat.
Schließlich leben bei Sinin Mongolen, welche wahr-
scheinlich vom Kuku-Nor hierher übergesiedelt sind. Ihre
Zahl ist nicht bedeutend; sie wohnen im Norden von Sinin
bei den Klöstern Altyn und Tscheibsen und führen ein halb
nomadisirendes Leben.
Nachdem Prshewalski in Sinin mit dem daselbst residircn-
den Gouverneur sich'abgefunden hatte, traf er die nöthigen
Reisevorbereitungen, um sobald als möglich in die Berge
am Gelben Flusse abznmarschiren.
(Fortsetzung folgt in einer späteren Nummer.)
A in O g o w e.
Von Dr. Pauli.
II.
(Schluß.)
Die Dörfer am Ogowe nahe der Meeresküste werden
rechterseits non den Mpongnevöllern, besonders den Orangu,
linkerseits vom Kama-, Gallon- und Akellestamm bewohnt.
Diese Ortschaften liegen unmittelbar nahe dem Flußuser,
so daß die Hütten der Eingeborenen — trotz der sie schützen-
den riesengroßen, hellgrünen, saftigen Blätter der Bananen
und Pisangs, welche hier vor Winden durch den umgeben-
den Wald mehr geschützt und daher weniger eingerissen
sind — doch leicht vom Flusse aus erkannt werden. Jedoch
weiter stromaufwärts heben sich malerischer die Fan-
dörser am Ogowe hervor, weil sie mit Vorliebe auf be-
waldeten und zerklüfteten Hügeln an Stellen anfgebant
sind, wo man den Fluß zu übersehen vermag. Besonders
die Gegend bei Redevolo ist ungemein reizvoll. Hier
lli'gcn aus beiden Ufern die aufsteigenden Ortschaften ein-
ander gegenüber. Ich wurde in gewisser Weise an die
> nge von Andreasberg im Harz erinnert.
Zu unserer Zeit sahen wir mehrfach Dörfer entstehen.
Eene Anzahl großer Bäume war gefällt, das Unterholz ab-
gehackt, verdorrt und verbrannt, einzelne Rüstern noch im
i stimmen und Rauchen begriffen. Viel abgeholztes Ge-
strüpp hatte man in den Flnß gewälzt in der Erwartung,
daß später die Flnthen des Hochwassers dasselbe fortspülcn
würden. Augenblicklich konnten an diesem Orte nur müh-
sam die stromaufwärts kommenden Kanoes sich dazwischen
durch bewegen, da menschliche Kräfte nur nahe am Ufer,
nicht aber mitten im Strome gegen das Wasser ankomnren
können.
Man kann bei den berganliegenden Ortschaften der
Fan dentlich eine gerade Straße unterscheiden; abseits lie-
gende Hütten sind erst von Nachzüglern angelegt worden.
Die Hütten sind im Viereck gebaut. Vier in jdie Erde ge
setzte dicke Pfähle bilden das Grnudgerüst und tragen das über-
hängende Dach. Dieses letztere wird in der Regel aus über ein-
ander gelegten Palmwedeln und langen Gräsern hergestellt;
wenigstens bemerkt man nur äußerst selten geflochtenes Dach-
werk, wie in Kamerun. Sobald sich eine Lücke zeigt, werden neue
Zweige zur Aushilfe gelegt, so daß schließlich eine ziemliche
Dicke durch die bedeckende Schicht ausgemacht wird. Damit
nun nicht vom Winde das Dach, welches bei der Leichtig-
keit des Materials dieser Gefahr ausgesetzt ist, fortgeführt
wird, sind lange, schwere Stämme in bunter Anordnung
darüber gelegt. Eine gewisse Kunstfertigkeit legen die
Fan bei dem Ban der Seitenwände ihrer Hütten an den
56
Dr. Pauli: Am Ogowe.
Tag, die, wie ich oben erwähnte, aus der borkigen Rinde
großer Waldbäume construirt sind. Diese oft manns-
hohen und meterbreiten Stucke werden nämlich abwechselnd
mit der rauhen oder der inneren glatten Seite nach außen
gestellt und befestigt. Dabei sind die glatten Seiten künst-
lich mit denl Messer schraffirt, oder zwei eingekerbte Diago-
nalen gezogen, oder überhaupt schräge Linien, so daß Ob-
longe entstehen. Eine Thür, welche nur schwer sich in dem
als Angel dienenden Bast oder Notang dreht, führt in die
Hütte und ist die einzige Ventilation, denn Fenster oder
deren Stelle vertretende Klappen kennen die Fan nicht.
Aus der Hütte, welche, abgesehen von einer primitiven
Bettlade für den Herrn des Hauses, ein paar Kisten, einem
europäischen Koffer, aufgespeichertem Ebenholz, Elfenbein,
Gummi und Palmöl in Flaschenkürbissen oder flachen
großen Holzschalen, nichts Nennenswerthes enthält, dringt
ständig dicker Qualm. Denn losgebrochene Stücke von
Termitenbauten sind außer Holz ihr beliebtes Brennmate-
rial, welches sich sehr lange glimmend erhält. Die Ein-
fuhr von Zündhölzern scheint hier noch eine geringe zu
sein. Ich habe des Oefteren erst nach langem Hin- und
Herpalavriren irgend eine Negerin aus dem Nachbarhanse
mit einer glühenden Kohle herauskommen sehen, woraus
ich schloß, wie hoch die betreffende es anzuschlagen habe,
daß ihr Feuer geschenkt sei; andererseits scheinen die Fan
nur wenig mittheilsam unter einander zu sein, wie man es
sonst gelegentlich beobachten kann bei den Kru von der
Pfefferküste, welche beim Essen und Trinken sich gegenseitig
gern aushelfen.
Beim Betreten der Hütte, was uns nicht immer ge-
stattet, oft geradezu versagt wurde, müssen wir uns bücken,
um nicht das weit übergreifende Dach zu streifen. Ucber-
füllt, wie es wohl vorgekommen war, eine Dorfschaft die
andere, so schleicht man sich Nachts in den zu plündernden
Ort, bohrt in die Seitenwände heimlicher Weise Löcher
und schießt nun munter darauf los, um auf gut Glück die
Insassen zu tödten. Am Ogowe sollen besonders in Bir-
mingham gefertigte Steinschloßgcwehre als Exportartikel
viel begehrt sein. Stellenweise trifft man noch auf Pisang-
und Bananenbestände zwischen frisch aufstrebendem dichtem
Unterholz, ein Beweis, daß hier noch vor Kurzem ein Dorf ge-
standen hat, weil Musaceen nur ein Naturgewächs sind.
Die Bewohner sind getödtet oder als Sklaven fortgeführt,
das Vieh, europäische Waaren, sowie Landesprodukte er-
beutet, die Hütten verbrannt.
Ich erinnere zum Schluß noch an ein Spiel der dor-
tigen Fankinder. Den armdicken, rundlichen, weichen Schaft
der Musa paradiciaca oder sapientium, der mit seinen
Früchten den Bewohnern der Tropenländer unsere Kartoffel
ersetzt — denn diese entarten, wie ich an verschiedenen
afrikanischen Plätzen beobachtet habe, zu großen wässerigen
süßen Knollen — schneiden sie in zolldicke Scheiben. Eine
Partei rollt dieselben übereinen freien Platz zu dem Gegen-
über; in der Mitte stehen Buben mit federkieldicken, einen
halben Meter langen spitzen Stückchen bewaffnet und suchen
damit die rollenden weichen Scheiben zu treffen, so daß sie um-
fallen, was stets einen großen Jubel der kleinen schwarzen
Schaar zur Folge hat. Wie unsere Kinder mit Holz-
pferden und Wagen spielen, schneiden sich die dortigen ans
Holzstücken kleine Schiffe, die sie auf1 dem Lande an Ranken
über den Grund hinziehen oder auf dem Wasser schwimmen
lassen. Ebenso oft treiben sie sich aber auch mit den dor-
tigen Hausthieren, Hunden, Ziegen, Schafen, Schweinen,
Enten und Hühnern, umher; derartige Thiere zu quälen,
verstehen sie leider sehr gut. Allein sie sehen nichts Besseres
von den Erwachsenen, die dem Federvieh, abgesehen davon,
daß man ihm die Flügel stutzt, die Zehen oder den Lauf
abschlagen, damit solches nur humpelnd und langsam sich
fortbewegen und sich nicht leicht im nahen Walde verlaufen
kann. Bei Kamerun bindet man den Hühnern zu diesem
Zweck schwere Klötze an.
Ueber La mb are ne, eine Etappenstation, vonBrazza's
dritter Expedition herrührend, und den Ngunie, den
größten Nebenfluß des Ogowe, sind bislang die Fan noch
nicht nach dem Süden und Südosten vorgedrungen, wes-
halb sich hier der Strom der Melle noch völlig rein er-
halten hat.
Bis hierher sind auch von Gabun ans die frères de
la congrégation du St. Esprit et du St. Coeur de Marie
gegangen, welche mit viel Eifer und nicht ohne Geschick
den Negern das praktische Christenthum zu bringen sich
bemühen, indem sie kranken Schwarzen Hilfe leisten, ihnen
Unterricht im Handwerk und Ackerbau ertheilen und sie
nur gelegentlich im Gegensatz zu der auch hier ansässigen
amerikanischen Baptistenmission zu beten und zu singen an-
halten. Gleichfalls gehen von Gabun aus Nonnen von
der unbefleckten Empfängniß von Castres in die Wildniß,
um den Schwarzen in werkthätiger Liebe beizustehen. Aller-
dings acconnnodiren sich die Mitglieder der Jesuitenmission
mehr als nach einer Richtung hin den dortigen Verhält-
nissen. Im unbequemen Kanoe sahen wir eines Tages
einen ihrer Genossen, der mehrere Monate dort gewirkt
hatte, seine Rückreise zur Küste antreten.
Von Lambarene erwähne ich noch, daß Ulan etwa faust-
lange und zollbreite, stellenweise sogar größere, knorpelige,
aber noch grünlich aussehende Sägen zeigte, die von hier
gefangenen Sägefischen herrühren sollten. Mehrere Weiße
behaupteten dieses mit apodictischer Sicherheit; doch möchte
diese Angabe wohl mit Vorsicht aufzunehmen sein, da hier
gerade von derselben Seite gleichzeitig die Aeußerung gethan
wurde, wenn man ein halbes Jahr in Afrika sei und ver-
stehe nicht kühn zu combiniren, so solle man nur nach
Hanse gehen.
Im Gebiete der Akelle liegt auch der romantische, sagen-
reiche Jonanga-See, rings von Berg und Wald um-
schlossen, mit drei Ausflüssen in den Ogowe. Sein ruhiges
klares Wasser, aus dem einzelne Klippen vorragen, seine
Abgeschlossenheit, in welcher mit aufgehendem und sinkendem
Tagesgestirne sich die hier vorkommenden Thiere ein
Rendezvous geben, wie 140 nördlicher am Tschadsee, haben
die dortigen Schwarzen zu einem gewissen Naturalismus
geführt, so daß sie ihn als heilig verehren.
Auch das kleinste Dorf in unserem Vaterlande möchte
eine Post, einen Telegraphen, eine Eisenbahn besitzen, um
aller Vortheile der Kultur möglichst schnell theilhaftig zu
werden. In gleicher Weise geht der Ehrgeiz der Schwarzen
am Ogowe dahin, eine Faktorei zu besitzen, d. h. einWaaren-
depôt seitens des weißen Händlers. Gewöhnlich setzt der
europäische Kaufmann an einem solchen Orte einen so-
genannten christlichen Neger ein, zu dem er ein gewisses
Vertrauen hat, das indessen, da ein solcher Schwarzer meistens
zu sehr auf seinen Gewinn erpicht ist, nicht zu weit gehen
darf. Jedoch kann der Weiße nicht immer dem Wunsche
der Eingeborenen am Ogowe willfahren; einerseits ist die
Ausfuhr an Landesprodukten aus dem Orte zu gering,
andererseits giebt das Ansehen des Dorfältesten oder Häupt-
lings, mit Vorliebe König genannt, nicht genügend Sicher-
heit für ein solches Risiko. Denn es kommt auch vor, daß
ein von dem Weißen eingesetzter schwarzer Faktorist nächt-
licher Weile in seinem Magazine überfallen, bestohlen oder-
gar ausgeräubert wird, er selbst aber froh sein kann, wenn
er das Leben rettet. Als nun Herr Stein auf unserer
Reise an einem Orte, der sich durch Ebenholzlieferungen
auszeichnete, dem Wunsche der Eingeborenen nachkam und
Dr. Pauli: Am Ogowe.
einen Corisco-Neger als Händler mit den nöthigen Waaren j
zum Austausch einsetzte, war des Jubels Tags über und
in der kommenden Nacht kein Ende; Johlen, Lärmen,
Schreien, gar laute Gewchrsalven (die für die nicht gerade
sehr soliden Gewehre zu viel Pulver enthielten, so daß uns,
die wir am Orte nächtigten, aus diesem Grunde öfters für
unsere Existenz bangen mußte) dauerten bei übermäßigem
Gelage von Rum die ganze mondscheinhelle Nacht hindurch.
Leider war zu unserer Zeit ein westlich vom Jonanga-
See regierender Häuptling Rcngua gestorben. Weiße
Kaufleute hatten in gutem Einvernehmen mit ihm gestanden,
Reisende hatte er in ihrem Fortkommen unterstützt und ihnen
Freundschaftsdienste erwiesen. Nach dem Berichte eines glaub-
würdigen amerikanischen Missionars Menkel lebte in diesem
Gebiete ein zweiter Negcrfürst Renoki, der, um geistig
besser zu sehen und seine Untergebenen berathen zu können,
sich beide Augen mit siedendem Wasser blind machen ließ.
Ein solcher Neger wird uns mehr Achtung abnöthigen, als
ein anderer Häuptling im Mündungsgebiete des Ogowe,
der seine Hüften mit buntem Firlefanz umhangen hatte,
darüber einen schwarzen Rock und auf dem Kopfe einen
Cylinder trug. Beim Gehen wurden die Knie sichtbar, bis
wohin Strümpfe reichten. Da die Füße in Schuhen mit
Hacken steckten, ging er nur schwerfällig. Denn erst in
letzter Zeit schien er, der sonst barfuß lies, sich in der Weise
europäisirt zu haben. An den Fingern saßen viele silberne
Ringe; in der linken Hand trug er einen langen Spazier-
stock, dessen blanker Knopf durch umgewickelte Lappen ver-
deckt war.
Doch nochmals zurück in das Gebiet der Akelle oberhalb
des Ngunie! Hier befand sich ein Handelsplatz Nbomi
auf dem linken Ogowe-Ufer, dessen Charakterisirung uns
einen Einblick in das Leben vom Stamme der Akelle
giebt. Sie sind wesentlich von den Fan verschieden. Ihre
Häuser sind besser gebaut, die Wohnungen und sie selbst
reinlicher. Außer einer Thür haben die Hütten Fenster-
klappen. Die Gesichter der Männer sind milder und in-
telligenter als die der Fan, die der Weiber sympathischer.
Haarputz und Toilette mit europäischen Lendentüchern er-
innern an die Küstenneger. Das weibliche Geschlecht schien
mehr Achtung zu genießen und nicht so sehr zu Sklavinnen
bestimmt zu sein. So hatte sich eine Schaar Männer um
eine Gruppe von vier sangen Mädchen gesammelt, die au
einem primitiven Tische auf leeren Ginkisten saßen, Pfeifen
rauchten und — mit französischen Karten spielten. Angeblich
sollten sie drei Variationen des Kartenspiels kennen. Das-
jenige, was wir beobachteten, kam unserem einfachsten Spiele
gleich, in dem derjenige Sieger resp. Gewinner des Stiches
ist, dessen Karten die meisten Augen oder den höchsten Werth
aufweisen. Drollig war es für uns zu beobachten, wie
weibliche Schalkheit und Gewinnsucht sie mehr als ihre
eigenen Karten ansehen ließen, ein Umstand, der von den Geg-
nerinnen ernst gerügt wurde. Ob eine der Spielerinnen
welche ledergelb war, ohne sedoch Mulattin zu sein, einstmals
im Verkehr mit Europäern das Spiel erlernt hatte, weif
ich nicht. Wir mußten nämlich etwas Derartiges vermuthen
weit sie auf der Innenseite des rechten Unterarmes bis an
einen Buchstaben, welcher das kleine lateinische b repräsen
Urte, mit großen lateinischen Lettern das Wort WAEb ein
SJfcwt hatte neben anderen blauen Tatuirungen vor
Arabesken auf Oberarm und Rumpf. Auf französische
englische und portugiesische Anrede reagirte sie nicht, womi
unser Latein zu Ende war. Den Eindruck großer Mädchen
hufter Schüchternheit machte sie keineswegs.
Aeltere Männer und Frauen rauchten aus einen
zwei Faust großen Pfeifenkopfe — wie wir ein Exempla
dort aus getrocknetem Mergel schneiden und aushöhle!
Globus UI. Nr. 4.
sahen — in der Weise, daß derselbe mit einer nahezu zwei
Bieter langen Weinpalmenrippe, welche gleich spanischem
Rohr porös ist, in Verbindung gebracht war, durch dieses
wurde der Rauch eingesogen. Dabei sah man, wie Jeder
hinzuging und mehrere tiefe Inspirationen machte, um dann
einem Nachfolger Platz zu machen, sich selbst aber meist in
hockender Stellung im Kreise zur Beobachtung der mit
großer Würde dem Genusse des Rauchens obliegenden Person
hinzusetzen. Der Pfeifenkopf felbst war in den Boden ein-
gescharrt. Unter einem spitzen Winkel stand das dicke Rohr
davon ab, welches die Raucher oder Raucherinnen zwang,
den Mund gehörig weit aufzureißen.
Außer einem rothen Pulver aus Nothholz, das sie mit
Wasser zn einem Brei anrührten, bereiteten alte Negermütter
eine gelbe Schmiere, beides, um die Gesichter damit zu be-
malen, oder auch, wie man uns sagte, sie im trockenen
Zustande als Medicin zu verwenden. Andere bereiteten
Odika, eine pflaumenartige Frucht, zu einer Paste von
Billardkugclgröße oder noch voluminöseren Inhaltes. Diese
Masse wird getrocknet, um später mit Oel und rothem
Pfeffer besonders Fischspeisen zugesetzt zu werden. Ein
solches Gericht sieht nicht sehr ästhetisch aus, zumal wenn
es in grünlich blauen Blättern, mit Bast umwickelt, so daß
das gelbe Oel davon abträufelt, wenig elegant von einer-
älteren Negerin servirt wird. Allein die Speise schmeckt
sehr aromatisch und angenehm; der Geschmack erinnert unter-
anderen entfernt an Cacao.
Aus einer Jagdbeute erzielten wir noch ein anderes eigen-
artiges Gericht. Von ganz jungen Krokodilen, welche jedoch
nicht länger- als ein halbes Meter sein dürfen, kocht man
Schwanz und Füße zu einem Stew, das Kalb- und Hühner-
fleisch nicht unähnlich schmeckt. Die übrigen Theile sowie das
Fleisch von älteren Krokodilen schmecken unangenehm terpen-
tinartig und thranig, wurden aber doch von unseren Kru
verspeist. Beide Gerichte — wie überhaupt die der Ein-
geborenen, wohin ich vor allen das mit Palmöl, Palm-
kernen, rothem Pfeffer, Salz und Pa ms zubereitete Fleisch
der Hausthiere rechne, das palm-oil-shop — mundeten
mir auf die Dauer besser, als die meist nüchtern bleibenden
Konserven, was aber wohl zum Theil daran liegt, daß unser
schwarzer Koch sie nicht mit der nöthigen Sorgfalt behandelte.
Die hiesigen Kanoes waren zwar aus einem Stück
geschnitten, aber liefen hinten in einen Kiel aus, woran ein
selbständiges Steuer saß.
Als wir das Dorf durchgingen, wo es viele Hausthiere
gab, kamen wir am Ende des Ortes durch ein Gemeinde-
haus, von welchem nach beiden Seiten hin eine Ein-
friedigung um ganz Nbomi auslief. Etwa 100 m weiter
in ebenem Terrain kamen wir zwischen Panis-, Maniok-,
Coco-, süßen Kartoffel-, Bohnen- und Erbsenpflanzungen
i hindurch auf schmalem Pfade zu einem neuen Gemeinde-
hause, von welchem aus gleichfalls nach beiden Seiten eine
Umzäunung auslief und einen anderen Ort umgab. Die
Vegetation bringt es mit sich, daß frisch eingesteckte Stöcke
' meistcntheils Wurzel schlagen und so eine lebende Einfriedi-
gung bilden, welche ursprünglich nur ein Zaun sein sollte.
Das Innere der Gemeindehäuser, welche äußerlich (wie die
Juju-Häuser in Bakundu nordöstlich vom Kamerungebirge
oval, aus Lehm gebaut, mit festem hohem Dach versehen)
nicht besonders auffallen, enthalten innerhalb von Ver-
gatterungen seitlich vom Durchgänge Speere, Messer, Kopf-
schmuck, Trommeln und einige Schädel. Für Nbomi war
das Gemeindehaus der einzige Durchgang nach demHinter-
orte, der seinerseits wieder sein Gemeindehaus von dieser
j Seite als alleinige Passage hatte. Zu Palavern sanunelt
man sich um dieses Haus, da sein Inneres kaum für mehr
als 20 Männer Gelaß bieten würde.
8
58
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
Der Sohn des Obersten aus dem Unterorte von
Nbomi schenkte uns eine Ziege, angeblich ans Freude, daß
wir Weißen gekommen seien, seines Vaters bedeutenden Ort
anzusehen, im Stillen aber hoffend und erwartend, daß wir
ihm ein mehr als gkeichwerthiges Gegengeschenk machen
sollten. Uebrigens mochte dieser Ort etwa 200 Einwohner-
haben und wurde uns vom Häuptlingssohue natürlich weit
über Nbomi hervorgehoben.
Bei dem Verladen des Gummis war die Art des
\ Zählens seitens der Akelles merkwürdig. Das Gummi,
welches aus den Schnitten der armdicken Ranken der wilden
Apocynaceen in zähen, verschiedenen, bis klein kindskopf-
großen, unregelmäßig runden oder länglichen Ballen fließt,
ist ursprünglich rosig-milchig, wird dann grau und erst
später, wenn es in Gruben aufbewahrt wird, dunkelt es noch
nach. Man könnte mit einem frischen Stück sofort radiren.
Das Gummi wird hier nun nach Stückzahl verkauft, indem
man eine große und eine kleine Kollektion von vornherein
gestattet. Nachdem nun der Akelleneger 10 Stück aus der
Grube in einen Korb geworfen hat, bricht er einen Span
Holz ab und legt ihn abseits, was sich nach jeden weiteren
10 Gummiballen wiederholt. Schließlich wurden diese
Holzstäbchen, die jedes eine Dekade repräsentirt, auch wieder
abgezählt, indem jedesmal eines bei Seite gelegt wird. Der
Neger weiß ganz genau, wie viel Nullen er nach unseren
Begriffen hinter die bleibende Anzahl Holzstäbchen zu setzen
hat, um zu seinem Verdienst zu kommen.
Nachdem alles Gummi aus der Grube genommen war,
wurden vom Verkäufer vom letzten Korbe ein paar Stück
zurückgenommen und in die Grube zurückgeworfen, „damit
das Glück nicht fortgehe", entsprechend unserem Heckpfennig!
In gleicher Weise sahen wir an vielen Orten von den
Eingeborenen Schcithausen von 100 Stück Klafterholz auf-
speichern, welches sie an die vorüberfahrenden Dampfer des
französischen Gouvernements, oder die englischen, deutschen
und französischen Faktoreien verkaufen. Oft befand sich als
Heizmaterial geschlagenes Rothholz (Camwood) an solchen
Orten auf Lager, dessen Einfuhr nach Europa sich gegenüber
von Cochenille, Fernambukholz oder der billigen Herstellung
von Anilinfarben nicht mehr rentirt.
In lebhafter Erinnerung ist mir Nbomi auch noch, da ich
hier (am 4. Juli) zum ersten Male das eigenartige Schau-
spiel der Nachdämmerung genoß. Bekanntlich folgen
am Acgnator Tag und Nacht rasch auf einander, eine
eigentliche Dämmerung giebt es nicht nach dem Sinken des
Tagesgestirns. Wir beobachteten damals unsere niedrigste
Temperatur (20,5° C.), in Folge dessen uns der Abend
empfindlich kalt erschien. Es erfolgten bei reiner klarer Lust
reichlich feuchte Niederschlüge.
Die Nachdämmerung besteht nun darin, daß etwa 15 bis
30 Minuten nach eingetretener Dunkelheit noch einmal der
Himmel im ganzen Westen aufleuchtet. Ich habe auch
später in Kamerun bei abgekühlter Luft und vielem Nieder-
schlag von Wasserdünsten dieses prachtvolle Phänomen ge-
sehen, das bis zu einer halben Stunde andauert, schnell
erlischt und dem Schatten der Nacht weicht.
Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
I.
In den ersten Tagen des März 1885 fuhr Jacobsen
von Chabarowka ans den Ussuri aufwärts, welcher noch
immer völlig mit starkem Eise bedeckt war, verließ denselben
dann am 6. März und bog in das Thal seines linken
Nebenflusses Sungatscha ein, welcher aus dem Chanka-See
auf dessen Ostseite hervorströmt. Indem er dann dem Ost-
ufer dieses großen Wasserbeckens folgte und den von Süden
her ihm zuströmenden Lefu überschritt, gelangte er nach der
Endstation der Amur - Ilssnri - Dampferlinie, Kamennyi
Rybolow, d. h. der steinerne Fischer, so genannt von einem
großen, früher aufrecht stehenden, jetzt aber umgestürzten
Steine, welcher die Gestalt eines Fischers haben sollte.
Dieser Ort liegt an der Südwestecke des Chanka-Sees und
ist zugleich eine Station an der großen Straße, welche von
der mandschurischen Stadt San-sing ernt Snngari zuerst
in südöstlicher und dann in fast südlicher Richtung nach
Wladiwostok an der Bai Peters des Großen führt. Indem
Jacobsen dieser Straße nach Süden folgte, gelangte er am
Abend des 7. März in die russische Niederlassung Nikolskoi
in der Nähe des Flusses Snifun, welcher sich unfern von
Wladiwostok in das Japanische Meer ergießt. In der Um-
gebung dieser Ansiedlung, etwa 25 bis 30 kni von ihr ent-
fernt, liegt eine Anzahl von koreanischen Dörfern auf russi-
schem Gebiete. Ihnen beschloß der Reisende einen Besuch
abzustatten, um auch hier eine Sammlung völkerkundlicher
Gegenstände zu veranstalten. Bei diesem Ansfluge, der vom
9. bis 11. März stattfand und von gutem Erfolge gekrönt
war, diente Jacobsen ein koreanischer Dolmetscher als Führer,
der vielleicht damals der einzige Angehörige seines Volkes
war und wahrscheinlich auch heute noch ist, welcher Europa
gesehen hat; er war mit einer deutschen Familie in der
Schweiz gewesen und zeichnete sich durch Intelligenz und ein
wirklich feines Benehmen aus. Nachdem Jacobsen von
dieser Expedition, welche ihn in die Dörfer Korsakowski
und Kronowski führte, nach Nikolskoi zurückgekehrt war,
reiste er am 12. März nach Wladiwostok und von hier nach
dem südwestlich davon gelegenen Possiet-Busen, in dessen
Nähe er am 18. März ein ebenfalls auf russischem Gebiete
gelegenes Koreanendorf Namens Jensjike besuchte. Gern
hätte er die nahe gelegene koreanische Grenze überschritten,
doch verzichtete er auf die Ausführung dieser Absicht, als
ihm von Kennern der Gegend erklärt wurde, daß er dort
nicht viel Erfolg für seine Zwecke zu erwarten habe, da die
Dörfer auf koreanischem Gebiete viel armseliger wären als
die auf russischem. Zum dritten und vierten Male trat er
dann auf koreanischem Boden selbst mit dem merkwürdigen
Volke in Verkehr, indem er auf der Reise von Wladiwostok
nach Nagasaki am 22. April in dem Hafen Gen-sau an
der Broughton-Bai und am 24. in Fu-san an der Korea-
Straße an Land ging I. Es versteht sich von selbst, daß
i) Beide Orte sind bekanntlich japanische Vertragshäfen;
ersterer seit Mai 1880, letzterer seit Anfang 1877 geöffnet.
Siehe Petermann's Mittheilungen, Bd. 26, 1880, S. 235, 317,
366 ff. Uebrigens scheinen auch die Russen zur Zeit von
Jacobsen's Anwesenheit mit Erfolg in Korea eingegriffen zu
haben; wenigstens traf er in Gen-san mit einem russischen
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
59
*
dieser int Ganzen nur sechstägige Verkehr mit den Koreanern
nicht ausreicht, um das Material zu einem einigermaßen
abgerundeten Bilde von dem Charakter, dem Leben und
Treiben des Volkes zu geben; trotzdem aber glaube ich, daß
bei dem Dunkel, welches noch immer über dieser Station
liegt, jeder Beitrag erwünscht ist, der dazu dienen kann, auf
diesem Felde mehr Licht zu verbreiten. Von diesem Ge-
sichtspunkte sind die nachfolgenden Ausführungen zu be-
trachten, welche ältere Nachrichten theils bestätigen, theils
ergänzen, hier und da aber auch mit ihnen im Widersprüche
stehen.
Ehe ich zu dem eigentlichen Gegenstände meiner Aus-
führungen übergehe, sei es mir gestattet, mit wenigen
Worten das Land zu charakterisiren, welches Jaeobsen
zwischen dem Chanka-See und dein Japanischen Meere bereiste.
Die Umgebung des Sees ist nach Osten und Süden dnrch-
aus flach; während aber in ersterer Richtung das Land
ziemlich unfruchtbar ist und darum fast gar keine russischen
Ansiedlungen aufweist, besitzt der Boden auf der Südseite
eine hohe Ertragsfähigkeit und ist daher in den letzten Jahren
von zahlreichen russischen Auswanderern besiedelt worden.
Dieselben erhalten während des ersten Jahres ihres dortigen
Aufenthaltes von Seiten der Regierung eine Unterstützung
durch Geld, Vieh und Sämereien, werden aber nachher sich
selbst überlassen. Da der Boden fast durchweg für den
Anbau der europäischen Getreidcsorten und Gemüse wohl
geeignet ist, so erfreuen sich diese russischen Niederlassungen
eines gewissen Wohlstandes, und dasselbe gilt von den eben-
dort angesiedelten Koreanern. Eigenthümlicher Weise giebt
es südlich vom Chanka-See wenig Wald, während das
Ussurlthal nördlich des Sees fast überall einen herrlichen
Bautnwuchs anfweist. Wahrscheinlich hat das seinen Gründ
darin, daß die früher in diesen Gegenden nomadisirenden
Mandschu und Koreaner durch ihre Unvorsichtigkeit viele
Gras- und Waldbrände verursacht und damit den Boden
für den Waldwnchs verdorben haben. Je mehr man sich
der Küste nähert, desto unebener wird das Land und desto
schlechter werden auch die Wege, so daß man in der Gegend
Zwischen Wladiwostok und Possiet cs kaum mehr wagen
kann, im Wagen zu reisen, sondern fast stets reitet. Dabei
ist aber zu beachten, daß im Hintergründe der Bai Peters
des Großen sich eine tiefe Senkung zwischen die südlichen
Ausläufer der Suhota Alin und die koreanische Küstenkette
einschiebt, welche die beste Straße vom Japanischen Meere
in das Innere gewährt. Das Klinia des von Jaeobsen
durchreisten Landstriches ist nicht iiberall ein gleiches. An
dem Ausflusse des Sungatscha aus dem Chanka-See über-
raschte den Reisenden am Nachmittage des 6. Mürz ein
heftiger Schneesturm bei beträchtlicher Kälte, während am
Südwestende des Sees kaum noch so viel Schnee vorhanden
war, daß man mit einem Schlitten vorwärts kommen konnte,
und alles schon den nahenden Frühling verkündete. Mit
der Zunahme der Bodenerhebung wächst nach der Küste zu
auch die Ungunst der Tempcraturverhältnisse, die am Strande
selbst am allerschlimmsten ist. So bleibt der Hafen von
Wladiwostok etwa bis Mitte April vom Eise geschlossen,
und wenn auch der von Possiet etwas früher aufzugehen
pflegt, so war doch auch hier noch im letzten Drittel des
Äkärz die Eisbedeckung des Meeres und der Küstcnbäche
so stark, daß man sie wohlgemuth mit Wagen und Pferden
überschreiten konnte. Die Thierwelt ist besonders in der
gebirgigen Küstengegend sehr zahlreich. Tiger, Panther
Baron zusammen, der von der Hauptstadt Seul aus das Lan
ehuss emer Untersuchung durchkreuzt hatte. Nicht bloß Jacobser
sondern auch andere in Gen-san anwesende Europäer hielten ih
kur emen Agenten der russischen Regierung.
und Leoparden sind häufig, ebenso Rothwild und Fasanen I.
Seeadler sah Jaeobsen im Possiet-Busen in ganzen Schaaren
auf dem Eise sitzen und an offenen Stellen auf empor-
tauchende Fische warten, die sowohl im Meere wie in den
Flüssen in großen Mengen vorhanden sind. Die Bevölkerung
dieses Landstriches besteht aus russischen Einwanderern,
Mandschn und Koreanern, welche von der russischen Re-
gierung eifrig herangezogen werden. Die Einwanderung
derselben in die Küstenprovinz muß jährlich Tausende be-
tragen, denn Jaeobsen begegnete in der kurzen Zeit, welche
er dort zubrachte, zahlreichen Zügen derselben, welche ans
Ochsenwagen ihr Hab und Gut mit sich führten, sich also
jedenfalls auf einen bleibenden Aufenthalt auf russischem
Boden einrichteten. Besonders strömen sie nach Wladiwostok,
wo sie im verkehrreichen Sommer als Arbeiter sehr gern
gesehen sind. Auffallend war es dem Reisenden, daß sich
unter den ihm begegnenden koreanischeil Auswanderern nur
sehr wenige Frauen befanden. Diese starke Auswanderung
sowie die Bemerkung Jacobsen's, daß er die ganze Ostküste
von Korea, an deren Saum er vorbeifuhr, sehr dicht be-
völkert fand, lassen vielleicht den Schluß zu, daß die Halb-
insel noch dichter bevölkert ist, als gewöhnlich angenommen
wird 2).
Im Folgenden will ich zunächst versuchen, auf Grttnd
von Jacobsen's Mittheilungen ein Bild von dem Charakter
der Koreaner zu entwerfen. Nicht nur ans russischem Ge-
biete, sondern auch in Gen-san und Fu-san zeigten sie sich
dem Fremden gegenüber zur Offenheit und Vertraulichkeit
geneigt. Während am Amur der Eintritt des Reisenden in
ein Dorf oder ein Haus hänsig nur unter Protest der Be-
wohner hatte erfolgen können, kam man ihm hier sehr freund-
lich entgegen und erlaubte ihm mit Ausnahme der Franen-
gemächer alle Räume des Hauses zu besichtigen. Stets
war er von einer Schaar von Dorfbewohnern umgeben3),
welche sich in lebhaftester Weise ihre Bemerkungen über ihn
mittheilten, und in Gen-san umdrängte ihn das Volk, ohne
doch zudringlich 31t werden, so dicht, daß ein ihm zum Schutze
mitgegebener Soldat mehrmals mit dem Schafte seiner Lanze
Platz schaffen mußte. Auch aus dem Dampfer, mit welchem
er von Gen-san nach Fu-san fuhr, befanden sich eine An-
zahl von Koreanern, welche ihm auf seine Einladung ohne
Scheu in seine Kabine folgten und die Bedeutung der
gesammelten Gegenstände erklärten, während die Amur-
bewohner zu letzterem Dienste stets nur nach langer Weige-
rung bereit waren. Der beste Beweis aber dafür, wie
wenig mißtrauisch sie sind, liegt darin, daß sie alle ihre
Habseligkeiten bereitwillig verkauften, wenn sie nur einen
guten Preis erhielten, während dagegen die Amurvölker
sowie die Burjaten und Altaikalmüken nur mit der größten
Mühe dazu bewogen werden konnten. Allerdings sind sie
stets darauf bedacht, möglichst hohe Preise im Handel mit
Fremden zu erzielen, aber trotzdem darf man sie nicht nn-
chrlich nennen, denn sie nannten dem Reisenden häufig den
Preis, welchen sie selbst für die Waaren gezahlt hatten, und
die Sumnie, welche sie an ihnen verdienen wollten. Auch
1) Diese werden fast nie geschossen, sondern in Schlingen
gefangen und sind daher sehr wenig scheu.
2) Behin und Wagner (Bevölkerung der Erde, Jahrg. VII,
Ergänzungsheft zu Petermann's Mittheilungen S. 32) geben
die Größe der Halbinsel auf 236 781 qkm, die Bevölkerung auf
8 500 000 Einwohner an, fo das; die Bevölkerungsdichte sich auf
35,9, d. h. etwa gleich der Pyrenäischen Halbinsel stellen würde.
ch Nur die Frauen waren scheu und wichen ihm aus, wo
sie ihm begegneten. So ging einmal eine Koreanerin, welche
er auf dem Wege antraf, weit von der Straße ab, obgleich das
Land neben derselben tnit tiefem Schnee bedeckt war, und wandte
das Gesicht so lange ab, bis sie glaubte, von ihm nicht mehr
gesehen zu werden.
8*
60
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
darin bewiesen sie ihre Ehrlichkeit, daß sie sich nicht abgeneigt
zeigten, Jacobsen Waaren int Werthe von 50 Rubeln auf
Kredit zu überlassen, da ihm das Kleingeld ausgegangen
war und sich Niemand fand, der ihm seine Hundertrubel-
scheine hätte wechseln können ft. Auch von großer Gut-
müthigkeit erwiesen sich die Koreaner dort, wo Jacobsen
Gelegenheit hatte, mit ihnen zu verkehren. 'Obgleich es
verboten ist, ein koreanisches Haus zu betreten, dessen Herr-
abwesend ist, that der Reisende dies doch mehrmals, ohne je
zurechtgewiesen oder beleidigt zu werden. Die Stöße, welche
der ihn begleitende Soldat in Gen-san austheilte, nahm
das Volk ruhig hin, obgleich sie durchaus nicht sanft aus-
fielen; es grollte darüber weder dem Kriegsknechte noch ihm,
der doch die indirekte Ursache dieser Mißhandlungen war,
sondern setzte sich mit irgend einer witzigen Bemerkung dar-
über hinweg. Auch die Dolmetscher, welche den Reisenden
begleiteten, waren nicht dazu zu bewegen, für die ihm ge-
leisteten Dienste Bezahlung zu nehmen, wahrend sonst die
Koreaner, wie schon gesagt, den Werth des Geldes wohl zu
schätzen wissen. Weiterhin sind sie sehr gastfrei, wenigstens
gilt das für die auf russischem Gebiete wohnenden. Sie
waren stets bemüht, dem Reisenden das Beste, was sie
besaßen, vorzusetzen und konnten nie bewogen werden, dafür
Bezahlung anzunehmen. Die Speisen waren appetitlich
zubereitet, wie sich denn überhaupt die Koreaner, mit welchen
Jacobsen in Berührung kam, durch Reinlichkeit auszeichneten
und sich in dieser Beziehung höchst Vortheilhaft von den
Chinesen und den vorher besuchten Amurvölkern, aber auch
den Russen unterschieden, in deren Mitte sie wohnten. Auch
tünchten sie auf den Reisenden den Eindruck, als ob sie in
geschlechtlichen Dingen viel strengere Grundsätze hätten als
die benachbarten Völker, und dieser Eindruck wurde dadurch
bekräftigt, daß ihm Kenner des Volkes mittheilten, daß die
Ehen zwar sehr früh geschlossen würden, aber die eheliche
Treue nie verletzt zu werden pflege ft. Zum Schlüsse sei
noch bemerkt, daß die Nordkoreaner von den Russen in
Wladiwostok und anderen Orten der Küstenprovinz als
Arbeiter sehr gesucht werden, weil sie fleißig, ausdauernd
und genügsam sind und auch über bedeutende Körperkräfte
verfügen, die sie namentlich zu Lastträgern tauglich machen.
Fasse ich das Gesagte noch einmal zusammen, so ergeben
sich eine ganze Anzahl von guten Eigenschaften, die man
den Koreanern auf Grund von Jacobsen's Erfahrungen
zuschreiben kann. Sie sind offen und ohne Mißtrauen
gegen Fremde, auf ihren Vortheil bedacht, ohne jedoch un-
ehrlich zu werden, gutmüthig und gastfrei, reinlich, sitten-
streng und arbeitsam. Es ist charakteristisch, daß der
Reisende in seinem Tagebuche auch nicht ein einziges Mal
Gelegenheit findet, etwas zu erzählen, das geeignet wäre,
aus die Koreaner ein schlechtes Licht zu werfen. Natürlich
fehlt es aber nach den Berichten anderer Reisenden dem
Charakter des Volkes nicht an Schattenseiten. Es wird
den Koreanern starke Neigung zum Trunk und zum Ueber-
maß im Essen vorgeworfen; auch beschuldigt man sie der
Feigheit unb der Grausamkeit, doch glaube ich, daß die
letztere Anklage mehr die grenzenlos despotische frühere
ft Freiherr v. Nichthosen (Zeitschr. für Erdk., Berlin 1870,
S. 324) berichtet im Gegensatze zu dem im Texte Gesagten,
daß die an dem Thore von Korea mit den Chinesen verkehrenden
Einwohner der Halbinsel nichts aus Kredit verkaufen, dagegen
alles auf Kredit von jenen entnehmen. Ich wage nicht zu ent-
scheiden , ob dieses Verfahren dem Charakter der chinesischen
Händler seinen Ursprung verdankt oder nicht.
ft Jacobsen begegnete in Gen-sän einem Knaben in dem
üblichen Bräutigamsanzuge — weißer Hut, rothes Wams mit
grünem Ueberwurs und weiße Beinkleider — der nicht älter als
acht Jahre war. Natürlich tritt das Zusammenleben der Ver-
heirateten erst mit Beginn der Geschlechtsreife ein.
Regierung trifft als das Volk. Der schwerste Fehler des
Volkes liegt, wie mir scheint, in der großen Geringschätzung,
mit welcher man dem weiblichen Geschlechte begegnet, welche
sich außer in der starren Absperrung der Frauen von dem
Verkehr mit der Außenwelt auch in der Vielweiberei zeigt,
die zwar nicht häufig geübt wird, aber doch durchaus ge-
stattet ist. Damit hängt auch zusammen, daß die korea-
nischen Kinder fast ohne Zucht aufwachsen, da die Mutter
eine solche nicht üben darf und der Mann sie nicht üben
will, und es ist sehr zu bewundern, daß unter solchen Ver-
hältnissen noch derartige Charaktereigenschaften sich ent-
wickeln können, wie sie vorher namhaft gemacht sind.
Ueber ihre Sitten und Gebräuche sowie über ihre
religiöse Stellung hat Jacobsen bei der Kürze seines Auf-
enthaltes leider keine belangreichen Nachrichten sammeln
können. Nur eins will ich hier erwähnen. Es ist ihm
gelungen, eine Trommel zu erstehen, welche nach der Aus-
sage des Verkäufers von den Priestern bei Krankenheilungen
benutzt werden soll, sonst aber auch zur Begleitung des
Gesanges bei Gelagen dient. Auf den ersten Blick scheinen
diese beiden Bestimmungen des Instrumentes einander aus-
zuschließen : wenn man aber bedenkt, daß sich größere Gelage
meist an die Opfer anschließen und dadurch gewissermaßen
einen religiösen Charakter erhalten, so erscheint die Jacobsen
gewordene Mittheilung schon glaubhafter. Wir haben es
hier ans jeden Fall mit einem Ueberbleibsel des auch früher
bei den Koreanern oder den vor ihnen in der Halbinsel be-
findlichen Ureinwohnern herrschend gewesenen Schamanismus
zu thun, der wenigstens äußerlich jetzt durch die Religion
des Buddha und die Lehre des Konfucius verdrängt ist.
Uebrigcns macht sich der Einfluß Chinas bei den auf
russischem Gebiete wohnenden Koreanern nicht bloß in
religiöser Beziehung geltend, er zeigt sich auch in vielen
Stoffen und Geräthen, die entschieden chinesischen Ursprungs
sind, wenn auch ihre Besitzer behaupten, sie selbst gefertigt
zu haben. Dagegen scheint die russische Kultur bisher ganz
spurlos an ihnen vorübergegangen zu sein.
In dem äußeren Habitus konstatirt Jacobsen einen
nicht unbedeutenden Unterschied zwischen den Chinesen und
Amurvölkern einerseits und den Koreanern andererseits. Er
bezeichnet die letzteren als im Allgemeinen hoch gewachsene
und kräftige Leute mit gewandten Bewegungen und vergleicht
sie in letzterer Beziehung mit den Japanesen. Im Süden
des Landes schienen ihm die Leute kleiner zu sein als die
auf russischem Gebiete angesiedelten, immerhin aber zeigten
sie sowohl im Körperbau als auch in den Gcsichtszügen eine
beträchtliche Verschiedenheit von den Chinesen. Der Aus-
druck der Gesichter entspricht im Allgemeinen dem offenen
Charakter des Volkes; die verhältnismäßig hohe geistige
Bildung, welche den Koreanern eigen ist, spiegelt sich auch
in ihren Zügen wieder, welche nicht selten an die von An-
gehörigen der mittelländischen Rasse erinnern. Ein besonders
charakteristischer Unterschied zwischen Chinesen und Koreanern
besteht darin, daß letzteren nicht bloß viel früher der Bart
sproßt, sondern daß er sich auch viel kräftiger, namentlich
viel länger entwickelt als bei jenen. Auch die Frauen der
Koreaner haben viel angenehmere Züge als die Chinesinnen;
in Fu-san sah Jacobsen auf der Straße eine Anzahl von
Frauen, welche an Lieblichkeit den japanischen Schönheiten
nichts nachgaben, vor ihnen aber noch das voraus hatten,
daß sie sich nicht die Zähne schwarz gefärbt hatten, wie das
in Japan die verheirathcten Frauen zu thun pflegen.
Die Koreaner sind vorwiegend Viehzüchter und Acker-
bauer, während der Handel trotz der wahrscheinlich großen
Zahl einheimischer Produkte infolge der bisherigen Ab-
geschlossenheit der Halbinsel nach außen und der Unweg-
samkeit des inneren Landes noch wenig entwickelt ist. Da-
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch Lei den Koreanern.
61
gegen ist die Fischerei an den Küsten in hohem Grade
lohnend. Unter den in Korea gezüchteten Thieren nimmt
das Rind die erste Stelle ein. Es ist zwar nicht sehr
ge'vß, aber außerordentlich kräftig und sehr gut zur Mast
geeignet. Man genießt sein Fleisch und seine Milch, benutzt
es aber auch als Zug- und Reitthier. Leider ist es sehr-
scheu und kann vor allem den Anblick fremder Pferde nicht
vertragen, durch den es, wenn es der Leiter an Aufmerk-
samkeit fehlen läßt, leicht zum Durchgehen bewogen wird.
Jacobsen erlebte es selbst, daß fast ein ganzer Zug von
koreanischen Auswanderern, der ihm begegnete, auf diese
Weise aus der Ordnung gebracht wurde; die meisten der
Reiter wurden in den Schmutz der Landstraße geschleudert.
Neben dem Rinde spielt das Pferd eine untergeordnete
Rolle; dagegen werden überall im Lande zahlreiche, meistens
schwarze Schweine gehalten. Ihr Fleisch genießt man be-
sonders gern zu einem Gericht, das den italienischen Macca-
roni ähnlich ist. Hunde werden ebenfalls in allen Dörfern
in Menge gefunden. Sie gleichen den Eskimohunden an
Größe und Gestalt und sind außerordentlich bissig. Ihr
Fleisch wird mit vielem Vergnügen verzehrt. Schafe
züchtet man fast gar nicht: Jacobsen erwähnt nicht, daß er
auch nur ein einziges in einem der von ihm besuchten korea-
nischen Orte gesehen hätte. Federvieh hingegen findet man
überall in Menge, und die Eier desselben bilden ein wichtiges
Nahrungsmittel der ärmeren Klassen.
Trotzdem die Halbinsel sehr gebirgig ist, hat sie doch,
besonders in den Thälern, fruchtbaren Boden, und die Feld-
marken der auf russischem Gebiete gelegenen koreanischen
Dörfer zeichnen sich durch bedeutende Ertragsfähigkeit aus.
Das wichtigste Erzeugniß ist im Süden und in den mittleren
Landschaften der Reis, den man sogar nach Japan ausführt,
während im Norden unsere Getreidearten und mehrere
Gemüse, besonders Hülsenfrüchte, ausgezeichnet gedeihen.
Die Bewohner der koreanischen Dörfer bei Wladiwostok und
Possiet versorgen zum Beispiel diese beiden und noch andere
Städte mit Äckerfrüchten fast vollständig und behalten doch
noch immer genug für den eigenen Bedarf übrig. Zur Auf-
lockerung des Bodens verwendet man Hacke und Pflug.
Erstere besteht aus einer spatenförmigen Klinge und einem
nur 50 cm langen Stiel, so daß der sie benutzende Arbeiter
eine sehr gebückte Stellung einnehmen muß. Die Pflüge
bestehen oft nur ans Holz ohne Eisenbeschlag. Sie sind
in der Konstruktion von den unseren ganz abweichend. Das
Hauptstück derselben bildet eine im stumpfen Winkel gebogene
Stange, welche am unteren Ende in eine sich allmählich
zuspitzende Pflugschar ansläuft, am oberen Ende aber ihren
Abschluß in einem Querholze findet, das als Handgriff für
den Lenker des Pfluges dient. Die Pflugschar ist der Breite
uach von zwei Stäben durchbohrt, an deren Enden parallel
mit den Seiten der Pflugschar laufende und nach der Spitze
derselben hin konvergirende Stäbe befestigt sind, die dazu
dienen sollen, das Zurückfallen der aufgewühlten Erde in
die Furche zu verhindern. Ob mit der Hand oder mit
Ochsen gepflügt wird, weiß ich nicht anzugeben; nach der
Bauart des Pfluges scheint mir das erstere wahrscheinlicher.
Höchst eigenthümlich sind die von den Koreanern benutzten
Harken. Sie bestehen aus einer Anzahl — das mitgebrachte
Exemplar aus 10 — etwa 90 cm langen, an der Spitze
hakenförmig gekrümmten und zugespitzten Wurzeln, welche
durch Trocknen ihre Elasticität verloren haben. Sie sind
so zusammengelegt, daß sie einander in der Mitte ihrer
Länge kreuzen. Um ihnen die nöthige Festigkeit des Zu-
sammenhaltes zu geben, sind sie an dieser Stelle mit einem
in der Längsrichtung der Stäbe verlaufenden Bastbande
verknüpft, und ein gleiches Band umschlingt sie in der Quer-
richtung dicht vor ihrer hakenförmigen Biegung. Die freien
Enden der Stäbe sind durch eine nochmalige Krümmung
einander derartig genähert, daß man sie mit einer Hand
umfassen kann. Ein eigenthümliches Instrument benutzen
die Koreaner zum Säen des Kornes und der Hirse. Eine
etwa 1^2 cm im Durchmesser haltende ziemlich lange Holz-
röhre wird durch einen Kürbis gesteckt, welcher an einer
Seite offen ist, um die Saat in sich aufzunehmen. Ist
dieselbe hineingeschüttet, so wird die Oeffnung mit einem
Strohpfropfen oder einem Tuche fest verschlossen. Am
unteren Ende der Holzröhre befindet sich ein längliches Loch,
ähnlich dem einer Orgelpfeife. Indem nun der Säende
dieses Ende nach unten kehrt, fällt der Samen in die Acker-
furche hinab. Geht dies zu schnell, so stopft man etwas
Stroh in das Loch.
Die Lasten werden entweder auf Wagen und Schlitten
oder auf dem Rücken der Menschen fortgeschafft. In
letzterem Falle wird ein Trageholz verwandt, welches große
Aehnlichkeit mit den in Norddentschland gebräuchlichen
Wassertragen hat, doch wird dasselbe nicht einfach über die
Schultern gelegt, sondern die beiden Hebel sind an einem
starken Brette befestigt, welches nach Art eines Tragkorbes
oder Tornisters auf den Rücken geschnallt wird. Ob es
richtig ist, was einige Schriftsteller berichten, daß es im
Inneren der Koreanischen Halbinsel wegen der Unebenheit
des Terrains keine Wagen gebe, bedarf wohl noch einer
eingehenderen Untersuchung; bei den Koreanern auf russischem
Gebiete waren sie in jedem Gehöfte vorhanden. Sie ruhen
auf zwei Rädern, die ziemlich groß und häufig aus ver-
schiedenen Holzarten zusammengesetzt sind, je nachdem der
Wagenbauer bei dem in jener Gegend herrschendeil Holz-
mangel das Material hat erhalten können. An dem Wagen
selbst ist das Holz nach Möglichkeit gespart. Die Leitern
sind mit Bast durchstochten, der Boden aber besteht nur
aus drei starken Latten, welche über der Axe liegen und
vorn und hinten von einem Querbalken getragen werden,
die auch den Leitern als Stütze dienen. Die Scheerendcichsel
des stets einspännigen Karrens ist vorn durch eine Qucr-
stange geschlossen, so daß sie den Zugthieren von oben herab
über den Kops heruntergezogen werden muß. Das Geschirr
gleicht ungefähr dem unseren; die Zugochsen tragen aber
alle Nasenringe. Die Schlitten, welche den bei uns auf
dem Lande üblichen gleichen, dienen besonders zur Herbci-
schafsung des Holzes aus dem Gebirge.
62
Chr. Nusser: Die Mazamorra in Bolivien.
Die Mazamorr
Von Chr
Die geologische Beschaffenheit der in Bolivien zwischen
den West- und Ostcordilleren der Anden ans Hunderte von
Stunden sich erstreckenden Hochebene ist öfters an besonders
ausgesetzten Punkten, d. h. da, wo tiefe Rinnsale die Hoch-
ebene durchschneiden, Ursache von Terrainveränderungen,
welche in eigenthümlicher Gestalt auftreten. In ihren
Wirkungen sind diese Erscheinungen den Bergstürzen ähn-
lich, die in jüngster Zeit in den schweizerischen Gebirgen
Verheerungen angerichtet haben, in ihrer Form weichen
sie von jenen aber ganz bedeutend ab.
Wenn man z. B. den ungeheuren Einschnitt untersucht,
durch welchen sich unter 16° südlicher Breite die Quellen des
La Paz-Flnsses winden, so sieht man auf den ersten Blick,
daß die Hochebene durch eine Anschwemmung von Sand,
Thon und Kieseln entstanden ist, in welche große, oft viele
Centner schwere Rollsteine eines sehr glimmerreichen Granits
eingebettet sind. Dieses Alluvium, welches an dem erwähnten
Punkte wohl eine Mächtigkeit von 1500 Fuß hat und
wahrscheinlich auf einer Unterlage von metamorphischen
Gesteinsarten ruht, ist unstreitig von den Fluthen zwischen
den die Gebirgsketten bildenden Plutonischen Formationen
abgelagert worden. Da Schichtung gar nicht vorhanden
oder nur schwach angedeutet ist, so ist man zu der An-
nahme berechtigt, daß die Ablagerung sich beinahe ohne
Unterbrechung vollzogen hat. Das Gefüge dieses Alluvial-
bodens ist übrigens sehr schwach und der Regen durchnagt
ihn fortwährend an abschüssigen Stellen. An vielen Punkten
sind daher die oberen Partien der Einschnitte ans die
sonderbarste Weise zerklüftet und zeigen unzählige Aus-
höhlungen oder Vorsprünge, letztere oft in Form von
riesigen Stalaktiten.
Bemerkenswerth ist, daß ausgedehnte Nester von reinem
oder mit feinem Sand gemischtem Thon, und zwar mehr
in den unteren Lagen, zwischen hineingeschoben sind, die von
einer Menge von Blasen und Hohlräumen durchzogen
werden. Werden diese Nester zufälliger Weise bloßgelegt,
so entsteht durch die Abspülungen der atmosphärischen
Niederschläge ein Terrain, das den Anblick größerer oder-
kleinerer Kessel bietet. Diese Formation ist im Gegensatz
zu dem sehr lockeren Alluvium wasserdicht, und das sich
in ihr ansammelnde Wasser verschwindet, wenn es offen zu
Tage steht, nur durch Verdunstung.
Es ist möglich, daß von derartigen, zwischen dem
lockeren Alluvium steckenden Wasserbehältern die Natur-
ereignisse herrühren, von welchen oben die Rede war.
Hat sich in den Bcrgabhängen in Folge innerer Brüche
oder Durchwaschuugen oder einer sonst durch die Natur
herbeigeführten Hemmung der Ablauf und die gewöhnliche
Sickerung der atmosphärischen Wasser gestaut und das
Terrain vollgesogcn, so entsteht an dem schwächsten Punkte
eine Bewegung, ein langsamer Rutsch der aufgequollenen
Erdmassen, und diese letzteren sind es, die man eine Maza-
morra (Brei) nennt. Selten stürzen die aus dem Gleich-
gewicht gekommenen Berglehnen mit Heftigkeit zu Thal,
aber unaufhaltsam schieben sie sich unter dem Gewicht der
nachrückenden Abbröckelungen vorwärts, bis endlich der von
oben kommende Druck nachläßt. Wenn die Mazamorra
also zufälliger Weise bei einem Dorfe oder Landgnte hervor-
bricht, können sich die Leute, je nach der Ausdehnung der
a in Bolivien.
Nusser.
durchweichten Strecke, wohl sagen, daß sie innerhalb einer-
gewissen Zeit, die manchmal ein paar Jahre betragen kann,
ihres Grundbesitzes beraubt sein werden. In der Thal-
schlucht von Mecapaca umfluthete die Mazamorra die
Kirche, so daß man durch die Fenster ins Innere gelangen
konnte, und von einem prächtigen, viel Wein producirenden
Landgute fraß sie mehr als die Hälfte.
Einer Katastrophe dieser Art, die aber urplötzlich herein-
brach und manches Menschenleben kostete, wohnte ich im
Jahr 1873 in La Paz bei.
An der südöstlichen Seite der Stadt dehnen sich in an-
steigender Richtung weithin die Felder und Behausungen
der Indianer bis an den Fuß des mindestens tausend Fuß
hohen Abhanges der alluvialen Hochebene aus. Am
31. August Morgens konnte man trotz der großen Ent-
fernung mit bloßem Auge einen ungeheuren, durch seine
helle Farbe von der übrigen Bergwand abstehenden Fleck
unterscheiden, der auf einen dort stattgefundenen Absturz
hindeutete. Ohne das geringste Geräusch war um 3 Uhr-
Morgens eine Tausende von Tonnen haltende, inr Rutschen
zerbröckelnde Erdmasse herabgeglitten und hatte zwei Jn-
dianeransiedelungen, Llojeta und Tembladerani,
zerstört. Fünf Hütten mit den ans achtundzwanzig Gliedern
bestehenden Familien verschwanden mit sammt dem bei den
Wohnungen eingefriedigten Vieh spurlos unter dem von
der Wand sich ablösenden Geröll, das, selbst unterminirt,
die Mazamorra, welche sich wahrscheinlich schon seit lange
unter den Jndianerhöfen gebildet hatte, auf vier Kilometer-
Erstreckung zum Ausbruch und Aufquellen brachte; denn
von der Absturzstelle senkt sich das Terrain längs der Wand
hin in einer sehr flachen Rinne noch etwa um weitere
300 Fuß ab, bis in die Nähe tiefer, zerrissener Neben-
schluchten des La Paz-Flnsses.
Nicht weit von den Ansiedelungen waren seit undenk-
lichen Zeiten Teiche, welche in der Regenzeit von den von
der Bergwand herabschießenden Wassern gespeist wurden
und im Sommer zur Bewässerung der niedriger gelegenen
Aecker dienten; sie waren verschwunden bis auf zwei, welche
oberhalb der Unglücksstätte angelegt waren, und für deren
Entwässerung sofort gesorgt werden mußte, um einer viel
größeren Kalamität vorzubeugen, da auf einem weiten Um-
kreise das unterirdische Fundament ins Wanken gekommen
zu sein schien.
Es ist erklärlich, daß die Bestürzung allgemein war,
denn man befürchtete den Ruin der größeren Hälfte dcr
anf der rechten Flußseite gelegenen, mit Kulturen und Jn-
dianerhütten bedeckten Ländereien. Diese Furcht war für-
ängstliche Gemüther wohl gerechtfertigt, wenn man sich
dem Schauplatz der Katastrophe näherte. Schon von
weitem, auf eine Distanz von 1 Vs Kilometern, stieß man
auf lange, tiefe, oft einen Fuß aus einander klaffende Erd-
spalten, die in einen Halbkreis ausstrahlten, dessen Mittel-
punkt die einstigen neben einander liegenden Dörfer Llojeta
und Tembladerani waren. Oesters aber noch waren die
Risse geschlossen, das heißt, die eine Hälfte des geborstenen
Bodens hatte sich um einen oder zwei Fuß gesenkt, so daß
treppenartige Absätze entstanden, die so scharfkantig waren,
wie wenn sie mit einem Messer getrennt worden wären.
Es war ein wunderlicher Anblick, bepflanzte Felder zu
Aus allen Erdtheilen.
63
sehen, welche durch Senkung in drei oder vier Streifen
von verschiedener Höhenlage getheilt worden waren. War
cs schon unheimlich, über diesen noch keineswegs zur Ruhe
gekommenen Boden zu schreiten — obwohl die Neugierde
viele Besucher aus der Stadt herbeiführte — so war es
noch weniger räthlich, sich dem Rande der eigentlichen
Mazamorra zu nähern, denn einerseits konnte ein unvorher-
gesehenes Weiterfressen der Mazamorra stattfinden, anderer-
seits rieselte das Geröll ununterbrochen von der Bergseite
herab. Hart neben diesem letzteren Punkte, ein wenig ober-
halb desselben, standen noch einige Jndianerhütten, deren
Insassen, wie mau von weitem wahrnehmen konnte, unruhig
ein- und ausgingen, unschlüssig, ob sie den Platz räumen
sollten oder nicht, während ein Geistlicher mit mehr Un-
erschrockenheit als Klugheit sich davor postirt hatte und,
Weihwedel und Rauchpfanne schwingend, das Unheil durch
bas 8alv6 und den Rosaris zu beschwören suchte. Leider
mußte dem Pfarrer in der Presse zu Gemüthe geführt
werden, daß es seines Amtes nicht sei, die unwissenden In-
dianer durch unsinnige Behauptungen, wie z. B. die Griugos
(Ausländer) seien an dem Unglücke Schuld und dergleichen
Albernheiten mehr, zu fanatisiren.
Außer den fünf spurlos verschwundenen Hütten fielen
noch fünfzig andere zusammen, deren Insassen sich aber
retten konnten, weil der Absturz nicht bis zu ihnen reichte.
Dagegen war der größte Theil ihrer Felder vernichtet,
d- h. für viele Fahre hinaus war die Mazamorra, in welche
sich die Ackerkrume hinein verloren hatte, nicht anbaufähig.
Längs der Bergwand nämlich zog sich, wie früher erwähnt,
eine Rinne oder Einsenkung hin, die aber so unbedeutend
angedeutet war, daß man von Thalbildung nicht sprechen
konnte. In dieser Einsenkung, die 4 km von Tembladerani
in einem tiefen Kessel endet, lagen die Kulturen, die nun
in einen mit Wasser gesättigten Mergel umgewandelt waren.
Jener Kessel selbst machte aber auf den Beschauer einen
beängstigenden Eindruck, denn hier offenbarte sich die un-
berechenbare, unglaubliche Gewalt der Naturkräfte in un-
geahntester Weise. Eine der ihn umgebenden Anhöhen ist
mit einer niedlichen Kapelle gekrönt, von der aus man einen
herrlichen Ausblick auf die hier sich kreuzenden Hochthäler
und den Jllimani hat. Von der Kapelle führte ein steiler
Pfad in den mit gelbblühendcn Sträuchern bewachsenen
Nessel hinab, um sich ebenso steil an der gegenüberliegenden
Anhöhe hinaufzuwinden. Zur gleichen Stunde, zu welcher
die beiden Ansiedelungen zerstört wurden, füllte sich dieser
ungeheure Raum zur Hälfte mit Mazamorra, die aber
nicht zugeflossen, sondern nur das Ergebniß des 4 km davon
entfernten Druckes der Gcröllablösnng war. Die ganze
^cgetation, die, so ärmlich sie auch war, in dieser geschützten
Vertiefung den steinigen, harten Alluvialboden schmückte,
war verschwunden.
Unter dem Boden des Kessels mußte das Alluvium von
den keinen Abfluß mehr findenden Wassern erweicht und
nun in die Höhe gehoben worden sein. Mit einem Worte,
cs sah aus, als ob ein Teig durch die Hefe zum Aufgehen
gebracht worden wäre. Nach einem Vierteljahre war die
Oberfläche wieder trocken und es führte ein neuer, nunmehr
sehr abgekürzter Pfad über die erhärtete Masse. Während
20 Tagen dauerte an verschiedenen Punkten das Aufquellen
(la ebullición) der Erde, und es bildeten sich selbst kleine
Teiche. — In den dreißiger Jahren löste sich die Hälfte
eines am Nordrandc der Stadt gelegenen Alluvial-Kegels
von der anderen ab und glitt zum Schrecken der Einwohner
während einiger Zeit langsam dem dortigen Stadtviertel
zu, kam aber glücklicher Weise noch rechtzeitig zum Stillstand.
Auch schon von früheren Zeiten her existiren Ueberlieferungen
über Ortschaften, die durch Mazamorras zerstört worden
sind. Im Jahre 1600 verschwand z. B. das Dorf Acho-
call a unter den gleichen Umstünden wie Llojcta und Tem-
bladerani, mit welchen es damals in der gleichen Höhe
gelegen war. Später entstand wieder eine Ortschaft an
derselben Stelle, aber bedeutend unter dem Niveau der beiden
genannten Orte. 33 Jahre vorher hatte sich ein ähnlicher
Fall ereignet. Ein altes Manuskript berichtet darüber:
„Im Jahre 1567 existióte ans die Entfernung von einer
Legua von Chuquiapo (heute La Paz) ein Anco-anco
genanntes Jndianerdorf, in welchem die Sittenverderbniß
allgemein war; in dem gleichen Jahre strafte es Gott wie
die verruchten Städte (Sodom und Gomorra), denn die Erde
verschlang es und seine Stelle war nun von einem sumpfigen
Teiche bedeckt." Es ist wohl möglich, daß das alte Auco-
anco mit Tembladerani identisch ist, welches seit jener Zeit
diese Bezeichnung getragen zu haben scheint, denn Tcm-
bladerani stammt unstreitig aus dem Spanischen und mag
mit „die Stelle, die zittert" übersetzt werden. Llojcta ist
hingegen ein echtes Aymara-Wort, welches „Zusammen-
gestürzter Ort" bedeutet.
Im vorliegenden Falle war der Gürtel, der die Maza-
morra umschloß, noch zu stark, um durchbrochen zu werden;
das bleibt aller Wahrscheinlichkeit nach späteren Zeiten vor-
behalten.
Die Indianer haben für alle diese Vorkommnisse, Erd-
beben u. s. w. nur eine Erklärung: „Die heilige Jungfrau
steht ans einer Schlange. Wenn die Schlange ihren Schwanz
bewegt, so zittert die Erde." Die nächste Wirkung, welche
die Katastrophe auf die davon betroffenen Indianer hervor-
brachte, war, daß sie sich in einen Zustand fortwährender
Betrunkenheit versetzten und weder zur Vernehmung noch
zum geordneten Empfang der für sie eingegangenen milden
Spenden herbeigezogen werden konnten. Man möchte bei-
nahe glauben, diese Rasse sei zu ewiger Knechtschaft und
Unwissenheit verdammt.
Aus allen Erd theilen.
Asien.
- Capus und Bonvalot, die französischen Rei-
senden, welche das kühne Wagstück unternommen haben, m
Winter das Pamir-Platean zu überschreiten (vergl. ,,Mobu,' ,
Bd. 51, S. 271), solleu unterwegs zweimal angefallen und
ausgeplündert worden und ohne Mittel in -rsehllnil ange-
langt sein. Die englische Regierung hat ihnen <?t st ge-
sendet.
Afrika.
— Ueber die ehelichen Verhältnisse in Kamerun
erzählt Dr. M. Büchner in seinem „Kamerun" (S. 31 ff.)
wie folgt. „Je nach dem Reichthum des Mannes richtet sich
die Anzahl der Frauen, die er besitzt. King Bell soll, so-
viel ich weiß, deren 80 haben, doch dürfte die gewöhnliche
Ziffer sich zwischen 2 und 8 bewegen. Die Weiber sind das
Kapital des Mannes, und die Kinder, die er ans ihnen zu
erzielen hofft, sind seine Zinsen. Unfruchtbare werden daher
64
Aus allen Erdtheilen.
ihrem früheren Eigner, sei das der Vater oder ein ehelicher
Vorgänger, gegen Erstattung des Kaufpreises zurückgegeben.
Denn alle, auch die vornehmsten Gattinnen, werden gekauft.
Um das zarter auszudrücken, könnte man vielleicht meinen:
„Der Bräutigam bringt seine Braut durch eine Morgengabe,
die er der Familie entrichtet, in seinen Besitz." Daß dabei
vorher schmählich geschachert wurde, braucht ja der Feinfühlige
nicht zu wissen. In Weibern werden auch alle größeren
Zahlungen, von einem Palaver auferlegte Strafen z. B., ge-
leistet, wobei je nach dem Stande erhebliche Werthunterschiede
in Betracht kommen. Eine Hünptlingstochter kann bis zu
6000 Bars (nominell 6000 Schilling) kosten, eine gewöhn-
liche Freie bis zu 2000, Sklnvinen bis zn 800 Bars. —
Will ein Hänptlingssohn eine ebenbürtige Frau nehmen, so
kauft er sich von einem befreundeten Häuptling eine Vollblut-
tochter. Der Preis, den ein solches Verheirathungsgeschäft
dem Vater einbringt, dient dann gewöhnlich dazu, dem ans
die verkaufte Tochter folgenden Sohn ein standesgemäßes
Ehegespons zu erwerben. In Kamerun ist es also von Vor-
theil, Töchter und Schwestern zu haben. Im schlinrmsten
Fall, bei einer ideal gleichmäßigen Gruppirung der Geschlechter
in beiden Familien, müssen sich Ein- und Ausgaben schließlich
decken, aber die Väter behalten dann doch noch die angenehme
Erinnerung an das schöne Schachervergnügen oder vielleicht
das noch süßere Bewußtsein einer gelungenen Uebervortheilung.
Es scheint, daß allmählich die Unsitte eingerissen ist, für das
gekaufte Weib immer nur die Hälfte anzuzahlen und die
andere Hälfte auf unbestimmte Zeit schuldig zu bleiben. Eine
Menge Klagen und Streitigkeiten entsprangen aus dieser
Ursache. Zwar bestand ein Gesetz, daß jedes Frauenzimmer
der „Half- and Hals" - Klasse (Sprößlinge von Freien und
Sklavinnen) 800 Bars kosten und nicht eher an den Bewerber
ausgehändigt werden sollte, als bis der ganze Preis erlegt sei.
Aber kein Mensch kehrte sich daran. Die Mädchen werden
nicht selten lange vor Eintritt der Reife vergeben, ohne des-
halb sogleich zu ihrem zukünftigen Gatten zu ziehen. Manch-
mal aber ist dieser mißtrauisch und nimmt seine Errungenschaft,
die ihm sonst etwa wieder entgehen könnte, sobald als möglich
in Beschlag. Eine Frau aus allererster Familie wird natür-
lich höher gehalten, als andere Weiber geringerer Abkunst.
Sie hat ihre eigenen Dienerinnen, braucht nicht zu arbeiten
und ist niemals von der Gefahr bedroht, veräußert zu werden,
es müßte denn sein, daß ihr Mann in einem Kriege vernichtet
würde. Aber auch die Stellung der Weiber im Allgemeinen,
dis der Sklavin mitgerechnet, ist trotz des Gekauftseins und
trotzdem, daß ihnen die ganze, übrigens nicht sehr bedeutende
Feld- und Hausarbeit obliegt, durchaus keine so gedrückte und
niedrige, wie man denken möchte, und es wohnt hier in diesen uns
so sehr befremdenden Verhältnissen viel mehr wahres Menscheu-
glück als in Europa. Wenn auch die Sklavin dutzendmal
ihren Herrn wechselt, es macht ihr das bei ihrer glücklichen,
heiteren Gemüthsart viel weniger Kummer als unseren Dienst-
mädchen das Antreten einer neuen Stelle. Die Negerin läßt
sich nicht so leicht zum willenlosen Werkzeug niederbeugen,
dazu hat sie einen viel zu selbständigen, der Opposition ge-
neigten Sinn. Auch die Weiber ganzer Dorfschaften thun
sich gelegentlich zusammen, um zu striken. So sollen vor
etwa 20 Jahren die sämmtlichen Dualla-Weiber eines schönen
Tages ausgezogen sein und sich irgendwo im Freien ein
Separatdorf gebaut haben, um ihren Männern eine Ver-
größerung des ihnen bis dorthin nur sehr dürftig zugemessenen
Hüftentuches abzutrotzen, und der Erfolg soll glänzend gewesen
sein. Die Negerin ist überhaupt ein stark veranlagtes, gern
resolut auftretendes Wesen. Gynokration ist in Afrika
ziemlich häufig, und oft genug findet man auf Handclsstationcn
Weiber postirt, die Interessen ihrer Gatten wahrzunehmen und
zu vertreten. — Eine eigentliche freie Prostitution existirt
nicht, da es ja keine Frauenzimmer giebt, die nicht in festen
Händen wären. Dieselbe wird dadurch ersetzt, daß die Männer
ihre Weiber an die Europäer als Concubinen vermiethen.
Aus solchen unsauberen Verhältnissen entspringen nicht selten
Situationen von einer Gemeinheit, die jeder Beschreibung spottet."
— G. A. Krause, welcher von Akkra an der Gold-
küste nach Timbuctu aufgebrochen war (vgl. „Globus", Bd. 51,
S. 110), hat einen nicht unbedeutenden Erfolg erzielt, indem
er quer durch eines der unbekanntesten Gebiete Afrikas, näm-
lich das vom Niger in weitem Halbkreise umflossene Land,
wirklich bis in die Nähe von Timbnctu vorgedrungen ist.
Zuerst erreichte er das einst berühmte Königreich Mossi,
wohin die Portugiesen im 16. Jahrhundert eine Gesandt-
schaft schickten, die aber ihr Ziel nicht erreichte. Am 26. Ok-
tober 1886 verließ Krause Wago-dugu (Woghodogho unserer
Karten), die Hauptstadt von Mossi und gelangte im November
nach Banban im Reiche Massina, dessen König er in seiner
Hauptstadt Bandschagara aufsuchte. Aber er erhielt den Be-
fehl, zurückzukehren und mußte etwa 230 km vor Timbuctu
umkehren. An: 24. April 1887 befand er sich in der Handels-
stadt Salaga, wohin er über Mossi und durch das nördliche
Asante gelaugt war, und wollte von dort nach Togo-Land reisen.
— In Folge eines Streites zwischen Frankreich und
dem Sultan von Badibu (am nördlichen Ufer des Gambia-
Flusses, 44 km oberhalb von dessen Mündung bei der eng-
lischen Stadt Bathurst) ist in Badibu die französische
Flagge gehißt worden. Frankreichs Grenzen sind dadurch
um einen halben Breitengrad nach Siiden vorgeschoben
worden. Frankreich unterhandelt gleichzeitig mit Groß-
britannien über die Abgrenzung des beiderseitigen Einflusses
in jenen Gegenden, wie es früher mit Portugal unterhandelt
und dieselben festgestellt hat.
— Der vom Oberstlieutenant Gallioni geleitete Feld-
zug des letzten Winters hat dem französischen Senegal-
gebiet, für welches schon der Name „Sudan français"
vorgeschlagen wird, einen gewaltigen Zuwachs gebracht. Man
hatte es mit drei Gegnern zu thun, dem Marabut Mahmadu
Lamin am oberen Senegal, dem Sultan Ahmadu von Segu
Sikoro am Niger und mit dessen Nebenbuhler Samory am
linken Ufer des oberen Niger, und gegen alle drei war man
glücklich. Mahmadu Lamin wurde verjagt und trat auf
englisches Gebiet über, die beiden anderen erkannten die
französische Oberherrschaft an, welche nun gegen Südwesten
vom Senegal bis an den Gambia, zwischen 9° und
11° n. Br. bis an das Meer und weiter südlich bis au die
englische Kolonie Sierra Leone und die Republik Liberia
heranreicht und außerdem auf dein rechten Ufer des Niger
noch einen Theil des Landes Segu umfaßt. — Auf dem
N i g er schwimmen jetzt schon zwei Kanonenboote, der „Niger",
der zn Anfang Juni Kabara, den Hafen von Timbnctu, be-
suchen wollte und der an Ort und Stelle aus afrikanischem
Holze erbaute „Mage".
— Der im Aufträge des französischen auswärtigen
Ministeriums reisende Camille Douls (s. „Globus",
Bd. 51, S. 255), welcher bei Kap Bojador landete und,
wie es scheint, von da nach Timbuctu wandern wollte, wurde
sehr bald von den Eingeborenen geplündert und mußte nm-
kehren. Eine Karawane brachte ihn über Tendus nach
Ogilmim, von wo er nach Maraksch geschafft und ins Ge-
fängniß geworfen wurde, ans welchem ihn erst die Da-
zwischenkunft des englischen Ministerresidenten befreite.
Inhalt: Prshewalski's dritte Reise in Central-Asien. VII. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Pauli: Am Ogvwe. II.
(Schluß.) — Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern. I. — Chr. Ausser: Die Mazamorra in
Bolivien. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. (Schluß der Redaktion: 3. Juli 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herurksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern- Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise voll 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Cagnatts und Saladillas Reisen in Tunesien.
XIII. >)
Wir hatten die Reisenden verlassen, als sie die Nuinen-
stätte Kasserin verließen, um in nordwestlicher Richtung
über die Berge hinweg diejenige von Haidra zu erreichen.
Eine Stunde nach dem Aufbruche überschritten sie das Wed
el-Hathob und rasteten kurze Zeit bei derKubba desSidi-
bu-el-Aaba, gleichfalls einer Stelle, wie Kasserin, wo der
Kaid der Fraischisch gern seine Smalah aufschlagt, wenn
ihn Mangel an Weideplätzen und Uebersluß an Flöhen in
den Zelten von feinem bisher eingenommenen Standorte
vertreibt. In Bu-el-Aaba hat er sich sogar einige Häuser
bauen lassen, die aber schon wieder verfallen sind, und eine
Art oben offenen Bades, das niemals vollendet wurde.
Diese Nomaden des inneren Tunesien sind eben so wenig
an Häuser gewöhnt, daß, wenn sie aus Laune oder Eitelkeit
sich ein solches errichten lassen, dasselbe meist gar nicht fertig
oder so oberflächlich gebaut wird, daß es bei der ersten Ge-
legenheit wieder zusammenstürzt.
_ Jenseits Bn-el-Aaba gelangt man, dem Wed el-Hathob
aufwärts folgend, in eine ausgedehnte Ebene, Bahirt
ttnssana genannt, zu deren Durchkreuzung die Reisenden
ornen vollen Tag gebrauchten; nach den zahlreichen Dorf-
ruinen, welche sie trägt, muß sie einst sehr gut angebaut
ñewesen sein. Die Namen auf den Leichenstcinen dieser
Drte sind in der Mehrzahl römisch, in der Minderzahl ein-
heimisch, woraus sich die Herkunft der hier einst angesiedelten
Bauern klar ergicbt. Aehnlich stand es übrigens im ganzen
römischen Afrika, wo das phönikische und libysche Element
vor den römischen Eroberern und Kolonisatoren in die Ge-
orge zurückwich. Alle diese Dörfer, Henschir el-Gallal,
*) Fortsetzung von Band 51, S. 36.
Globus Ul. Nr. 5.
Henschir Ktöf u. s. w. besitzen zahlreiche Reste von Oel-
uttd Weinkeltern, und wo sich solche finden, kann man sicher
sein, daß man den Wiederanban von Oelbäumen und Reben
mit Erfolg versuchen kann. Ebenso geben die Stauwerke
und Dämme, welche man vielfach noch in Ruinen antrifft,
einen Hinweis darauf, wie und wo man am besten durch
Ansammeln von Wassern und Anlage von Berieselungs-
gräben der Landwirthschaft zu Hilfe kommen kann. Die
Dörfer in der Fussana-Ebene, welche die Reisenden be-
rührten, liegen z. B. vom Wed el-Hathob ziemlich weit ent-
fernt, aber ihre Felder wurden durch die Bäche, welche von
den Bergen im Norden (Dschebel B i r e n o) herunterkommen,
getränkt; im Wed Gergur z. B. wurde dicht unterhalb der
Berge das Wasser durch einen 2y2 m dicken Damm auf-
gestaut und durch jetzt nicht mehr vorhandene Leitungen
über die tiefer gelegenen Felder vertheilt. Daß in dieser
Ebene in alten Zeiten reges Leben und ein gewisser Wohl-
stand geherrscht haben muß, das beweisen außer den Dorf-
ruinen die Wein- und Oelpressen, sculptirte Gesimse, Kapitale
aus christlicher Zeit und zahlreiche steinerne Sarkophage,
die herumliegen.
Die Nacht brachten die Reisenden in einem gastfreund-
lichen Duar beim Henschir (Ruinenstätte) Zuairuhu
am Nordrande der Ebene zu; dicht vor sich hatten sie dort
die bewaldeten Berge, welche sie zu überschreiten hatten, um
auf dem kürzesten Wege Haidra zu erreichen. Die Land-
schaft wird von da ab eine vollständig andere; statt der
kahlen, schattenlosen Ebenen bergiges Terrain, zum Theil,
bedeckt mit hohen Bäumen, dichtem Buschholz oder Gestrüpp,
in welchem noch ab und zu Löwen und Panther vorkommen.
Dieselben waren einst so zahlreich, daß die Beys von Tunis
9
66
Cagnat's und Salndin's Reisen in Tunesien.
dem dort hausenden Stamme der Uled-Sidi-bu-Ghanem die
Steuern erließen unter der Bedingung, daß er sich von
Löwenfleisch nähre; die Felle der erlegten Bestien mußten
sie dem Bey abliefern. Sie haben denn auch gründlich mit
denselben aufgeräumt, so daß nur wenige oder gar keine
Exemplare noch vorhanden sein mögen; doch da das Wald-
gebiet bis an die algerische Grenze reicht, so' kann ans der
Provinz Constantine, wo die Zahl der reißenden Thiere
immerhin noch beträchtlicher ist, wohl hin und wieder eines
übertreten. Um so zahlreicher sind Hasen und Rebhühner,
Auf den: Wege nach Haidra. (Nach einer Skizze Saladiu's.)
von denen eine ziemliche Anzahl erlegt wurde; auch sonst
war der Ritt zwischen den Felsen und Bäumen hin unter-
haltend genug, nur daß der bedeckte Himmel nichts Gutes
versprach. Und in der That, als am Abend die Zelte kaum
aufgeschlagen waren, begann es zu schneen, erst unmerklich,
dann aber immer stärker und stärker, so daß es unmöglich
Gesammtansicht von Haidra, von Osten aus gesehen. (Zeichnung nach der Natur von H. Saladin.)
war, das Abendessen int Freien zu nehmen. Die Pferde
wurden, so gut es ging, unter den dichtesten Fichten unter-
gebracht, und die Leute, welche in ihren kleinen Zelten zu
erfrieren fürchteten, zogen es vor, die Nacht bei einem großen
Feuer wachend zu verbringen und sich mit den wunderbarsten
Geschichten gegenseitig anzulügen. Sie waren trotzdem am
nächsten Morgen so durchfroren, daß sie sich gern über das
Verbot des Propheten hinwegsetzten und durch eineBrannt-
weinspcnde erwärmen ließen.
Noch ein Tagesritt über Berge und Hügel und durch
68
Cagnat's und Saludin's Reisen in Tunesien.
Wald, und Haidra war erreicht, das antike Arnmaoäara,
an der großen Straße von Carthago nach Theveste (Tebessa)
und Lambäsis (Lambäse) und unweit der heutigen Grenze
zwischen Tunesien und Algerien,
schon im Flußgebiete des Med-
scherda gelegen. Zuerst erblickten
sie die byzantinische Citadelle, deren
dicke und zum großen Theil noch
aufrecht stehende Mauern sich zu
dem im Süden der Ruinenstätte
vorbeiziehenden Wed hinabziehen,
dann nach Ueberschreitung des-
selben ringsum Reste des Alter-
thums und moderne arabische Hau-
ser, in deren einem, das während
des letzten Krieges theilweise nie-
dergebrannt war, oder vielmehr
in dessen Hose sie sich einrichteten.
In dem einzigen, mit einer
Decke versehenen Zimmer desselben
wohnte nämlich der Vorsteher des
Zollpostens, welchen der Bey hier an dem Hauptverbindungs-
wege zwischen Tebessa und dem nördlichen Tunesien errichtet
hatte. Die Erhebung des
Zolles von Waaren aller
Art geht im Allgemeinen
viel ruhiger und friedlicher
von statten als in Europa;
überdies trägt der Ein-
nehmer, dem nur ein Schrei-
ber und ein Diener beige-
geben ist, als Zeichen seiner
Würde einen langen Stock,
den er gegebenen Falles
wohl auch zum Dreinschla-
gen benutzen würde. Vor-
dem Hause sind einige
Zelte von Arabern aufge-
schlagen; dieselben sollen
den Einnehmer beschützen
und etwaige Defraudanten
am Entkommen verhindern.
Hai'dra war früher sehr-
unsicher, so daß die Vor-
gänger von Cagnat und
Saladin immer nur wenige
Stunden dort verweilt ha-
ben. So besuchte Loon
Renier auf seiner großen
archäologischen Reise durch
Algerien 1852 mit zahl-
reicher Geleitsmannschaft
von Tebessa aus die Stätte;
aber kaum hatte manAbends
die Feuer ausgelöscht, als
von jenseits des Wadi ein
Schuß abgegeben wurde und
eine Kugel in die Zeltstange
schlug, so daß man die Nacht
hindurch scharfe Wache hal-
ten mußte. Zehn Jahre
später- wagte Guorin nicht,
die Nacht über dort zuzu-
bringen, sondern durfte die
Ruinen nur bei Tage, in
waffneten und berittenen Scheichs, besuchen
aber Alles so ruhig, daß unsere Reisenden den
Grabstein ans der Nekropole von Haidra.
lZeichnung von H. Saladin nach der Natur.
Römisches Mausoleum in Haidra. (Zeichnung von.H. Saladin
nach der Natur.)
Begleitung von fünf wohlbe-
Jetzt ist
prächtigen
Ruinen wenigstens eine volle Woche zu widmen im Sinne
hatten.
Ammaeriara wird in der Geschichte wenig genannt; aus
seinen Inschriften aber erfahren
wir, daß dort in der Epoche der
Flavier, vielleicht durch Vespasiau,
eine Kolonie errichtet wurde. Un-
weit der Stadt, halbwegs nach
Tebessa hin, wurde im Jahre 398
der Tyrann Gildon von Mascazil,
dem General des Kaisers Honorius,
besiegt. Justinian endlich machte
nach der Angabe des Prokop die
Stadt zu einer der festesten in
Afrika, und das wird durch die
noch vorhandenen Ruinen der
Citadelle, die zu den größten und
imposantesten des Landes gehören,
vollauf bestätigt. Von welcher
Seite man sich ihnen auch nähern
mag, stets ist man von dem Anblicke
überrascht. Kommt man von Süden, so übersieht man schon
von weitem die ganze, an einem Hügel sich hinaufziehende
Stadt, rechts den Triumph-
bogen und geradeaus die
halb zerfallenen, gelblichen
Burgmauern; nähert man
sich von Tebessa ans, so
füllt der Blick zuerst auf
eine gewaltige Säule, die
fast an einen Fabrikschorn-
stein erinnert; erst beim
Näherkommen erkennt man,
daß es die letzte, über 10 m
hohe Säule eines zusammen-
gestürzten Tempels ist. Von
Osten dagegen gesehen
zeigt sich in der Mitte der
Triumphbogen, zur Linken
ein schönes Mausoleum und
dahinter Mauertrümmer
von jeglicher Form und Ge-
stalt. Folgt man diesem von
Carthago herkommenden
Wege weiter bis zu den Rui-
nen selbst, so bewegt man sich
aus einer mit großen Platten
gepflasterten Straße, die
schon anderthalb Jahrtau-
sende besteht; dieselbe führt
geradeswegs zu dem Hanse,
in weichem die Reisenden
wohnten.
Die Stadt wird in west-
östlicher Richtung von einem
Flusse, dein alten Arckalio,
durchströmt, der stets von
einer starken Quelle gespeist
wird und stellenweise hübsche
Kaskaden bildet; in den
Felslöchern unterhalb der-
selben halten sich zahlreiche,
leicht zu fangende Barben
auf, deren schwerste ein hal-
bes Pfund wiegen. Im Medscherda giebt es zwar zehn-
mal schwerere, aber leider schmecken sie nach dem schlammigen
Grunde des Stromes. Die Citadelle, wie gesagt, ein Werk
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
69
Jnstinian's, bildet ein mächtiges, unregelmäßiges Viereck
von etwa 200 zu 110 m Seitenlänge; im Osten und Westen
sind die Umfassungsmauern auf ganze Strecken hin ein-
gestürzt, im Norden sind sie vor etwa 20 Jahren von der
tunesischen Negierung, welche sich hier ein Bollwerk gegen
die Einfülle algerischer Stämme schassen wollte, wieder
aufgerichtet worden. Doch blieb das Werk unvollendet liegen.
Tritt man von der Flnßseite her durch ein noch vollständig
erhaltenes Thor ein, so gelangt man über mächtige Haufen
von Bausteinen zu einer verfallenen Treppe, welche aus den
Mauerrundgang hinaufführte, der noch jetzt stellenweise
erhalten ist. Weiter stößt man ans die Apsis einer kleinen
Kirche, vor welcher zwei schöne Cipolinsäulen stehen, deren
eine noch ihr Kapital ans weißem Marmor trügt; die Apsis
war mit sieben runden Nischen geschmückt, die von Säulchcn
mit Kapitälen getragen wurden. Zwei Oberschwellen der
mittelsten Nische, welche am Boden liegen, tragen noch die
Worte: Gloria in excelsis Deo in terra pax hominibus
bonae voluntatis. Manche der Architekturstücke zeigen
deutlich, daß sie älteren heidnischen Bauten entlehnt sirid,
die wohl in den Vandalenkriegcn zu Grunde gegangen waren.
Sonst bietet das Innere der Burg, von einer noch erhaltenen
Cisterne abgesehen, deren es indessen mehrere gegeben haben
muß, wenig mehr als wirre Steinhaufen. Natürlich aber
verwandten beide Reisenden, der Archäologe wie der Architekt,
einen großen Theil der Zeit, welche sic in Haidra zubrachten,
ans diese, der Zeit ihrer Erbauung nach genau bekannte
Burg, maßen, zeichneten, klatschten lateinische Inschriften
ab, welche in die Mauern verbaut waren u. s. w.
Aus der römischen Kaiserzeit rühren verschiedene Denk-
mäler her, der schon erwähnte und ein zweiter verfallener
Triumphbogen, ein fast bis zur Unkenntlichkeit entstelltes
Theater, ein scchsfensteriges Gebäude, das im Inneren mit
zahlreichen Säulen von buntem Marmor geschmückt war,
und zuletzt mehrere Mausoleen. - Der Triumphbogen von
Haidra ist einer der schönsten, welche in Tunesien noch
existiren. Der Inschrift zufolge wurde er unter Septimius
Severus errichtet. Die innere Höhe des Bogens beträgt
5,75 in, die Tiefe etwa 6,37 IN; auf beiden Seiten springen
zwei Vorbaue, deren jeder auö zwei korinthischen Säulen
mit vollständigem Getäfel besteht, vor km eigentlichen
Bogen vor. In byzantinischer Zeit hatte man das Denkmal
in eine kleine Befestigung verwandelt und cs in vier Mauern
eingeschlossen, welche glücklicher Weise jetzt zum größten
Theil eingestürzt sind und die Umgebung des Bogens,
sowie die Thoröffnung hoch mit ihren Trümmern bedecken.
Mausoleen oder deren Reste finden sich fast nach allen
Richtungen, denn nach antikem Gebrauche zogen sich die
Begrälmißplätze von Ammaedara längs der großen Straßen
hin, also in der Richtung nach dem heutigen Tunis, Tebessa,
Kef und Gafsa. Manche Grabmäler sind noch an Ort
und Stelle, und man brauchte nur 2 in tief zu graben, um
das Grab selbst noch unverletzt zu finden; andere wurden
bei dem Baue der Befestignngswerke und sonstigen Gebäude
verwendet, wie denn eine Basilika nahe dem großen Triumph-
bogen fast ausschließlich ans Grabsteinen errichtet ist. Die
Gräber sind von zweierlei Art; die einen bestehen aus
großen, sechseckigen Cippen (Halbsäulen), welche unten und
oben mit Gesimsen verziert sind und an den Seiten Grab-
schriften nebst Blumengewinden oder Basreliefs tragen;
diese weichen von den sonst im römischen Alterthum üblichen
Grabcippen fast gar nicht ab. Die andere Art dagegen
ist für das römische Afrika charakteristisch; es sind Halb-
cylinder, welche auf der Durchschnittsfläche oder auf einem
Parallelepipedon von demselben Durchschnitte ruhen; in der
Anbringung der Inschriften und Leichensteinattribute herrscht
dagegen die größte Verschiedenheit. Ost sind über dem
Halbcylinder noch kleine Altäre angebracht, deren Vorder-
seite allein mit einem Relief versehen ist; manchmal nehmen
drei oder vier solcher Altäre, jeder mit einer Grabschrift
geschmückt, die ganze eine Seite des Denkmals ein. Andere
Denkmäler sind mit mehr oder weniger sorgfältig aus-
geführten Basreliefs bedeckt, wie solches unsere Abbildung
zeigt. Die Leichen selbst wurden, wie die Reisenden sich
überzeugten, in Leintücher und Binden gehüllt und in ein
mit Kalk gefülltes Grab gelegt, letzteres mit Erde zugeschüttet
und darauf der Grabstein gesetzt. Von Sarkophagen fanden
sich nur die kurz und klein geschlagenen Trümmer eines
prächtigen Exemplars von weißem Marmor, darunter Füße,
Hände und Gewandfalten von ziemlich guter Arbeit; Grab-
stelen sind in den Ruinen östlich der Citadelle erhalten,
aber es geschieht nichts, sie und ähnliche werthvolle Reste
vor dem Vandalismus der Eingeborenen zu schützen, während
cs doch so leicht wäre, dieselben in einem der besser erhaltenen
Gebäude zu einem kleinen Museum zu vereinigen.
Endlich giebt es noch Mausoleen, darunter besonders
zwei schöne, ein sechseckiges und eines in Form eines Tem-
pels, dessen Abbildung wir geben. Schätzcsuchende Araber-
haben in den Unterbau, welcher die eigentliche Grabkammer
bildete, ein Loch gebrochen, während er ursprünglich wohl
unzugänglich war. Die Bildsäulen, welche ohne Zweifel
die darüber befindliche Cella enthielt, sind verschwunden;
eine große, wenigstens zum Theil in Hexametern abge-
faßte Inschrift, die auf dem Unterbau angebracht war, ist
jetzt fast vollständig verwischt. In diesen Mausoleen, wie
in den Thürmen der Citadelle nisten Schaaren wilder
Tauben, welche sich Tags über am Flusse und in den
Gerstenfeldern der Umgegend aufhalten und für gewöhnlich
von Niemandem in ihren Schlupfwinkeln gestört werden.
Die christliche Kunst ist in Haidra durch mehrere Kir-
chen vertreten, wovon zwei, diejenige in der Burg und die
Basilika neben dem Triumphbogen, schon erwähnt wurden;
vier andere liegen nördlich von der Burg. Eine derselben,
an welche ein Kloster anstieß, scheint von den Arabern nach
der Eroberung zu einem Pferdestalle umgewandelt worden
zu sein. Bei einer anderen besteht das Pflaster des Fuß-
bodens fast ganz ans Grabsteinen, darunter einige inter-
essante; einer derselben, welcher vom 14. Jahre des Van-
dalenkönigs Thrasamnnd datirt ist und also etwa aus dem
Anfange des 6. Jahrhunderts herrührt, gestattet einen
Schluß auf das Alter des Bauwerks.
Ehe die Reisenden ihren ziemlich ausgedehnten Besuch
der Ruinen von Haidra abgeschlossen, statteten sie noch dem
Berge Kalaa cs - Senan, von welchem man ihnen eine
verlockende Schilderung entworfen hatte, einen Besuch ab.
In Begleitung ihres Dieners Mohammed und eines
eingeborenen Führers ritten sie zunächst 2 x/2 Stunden lang
in nördlicher und nordnordwestlicher Richtung aus einem
schmalen und schwierigen Pfade durch ein dicht mit Thuyas
und Fichten bestandenes Gebiet und erreichten dann Aia
Safsaf, die Pappelqnelle, von wo aus sic in einer Entfer-
nung von etwa 12 bin jenseit einer Aufeinanderfolge nie-
driger Hügel zuerst die fast horizontal abgeschnittene, tisch-
förmige Masse des 1452 in hohen Kalaa es-Senan, die
sich gelb von dem tiefblauen Himmel abhob, erblickten. Sic
erreichten den Fuß des Berges über eine, im Südosten
desselben befindliche, ansteigende Ebene, über welche sich
mindestens 50 in hoch eine senkrechte Felswand erhob, welche
man auf einem steilen, steinigen Wege umgehen muß. An
der Ostseite waren Gräber im Felsen ausgehöhlt, kleine
viereckige Kammern von 3^/zin Seitenlänge, wie sie sich
im nördlichen Tunesien in Menge finden, und die vorrömi-
schen numidischen Ursprunges sein sollen. Endlich erreichte
man die ostnordöstliche Seite des Berges, ließ die Pferde
70
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
unter Aussicht eines Eingeborenen zurück und begann den
Aufstieg, zuerst aus einer roh in den Felsen gehauenen
Treppe, welche bis zu einem, mit einem Holzdache über-
deckten Absätze führt. Dort ändert sie ihre Richtung und
wird schwieriger; oben erhebt sich ein viereckiger Thurm,
von welchem Kinder neugierig hcrabschauen. Frauen ans
den Duars der Ebene in ihren schönsten, grellen, "bunt-
geblümten Kleidern kommen von oben herab; denn es ist
Freitag und man hat die Moschee besucht. Auch Esel und
und Prachtgebäuden verfallene Hütten, Schmutz und Un-
rath, statt einer schönen Moschee eine elende Zama des
Sidi Abd-el-Dand, unregelmäßig aus kleinen Steinen auf-
geführt. Jenseits des Dorfes dehnt sich ein weites, vege-
tationsloses Felsplatean ans, in welches etwa zehn viereckige
große Bassins von 3 bis 4 in Breite und 50 (?) ni Tiefe
eingegraben sind, die allent Anschein nach weder arabischen,
noch römischen Ursprunges sind. Offenbar hat dieses schwer
zugängliche Adlernest zu allen Zeiten Leuten von unabhän-
Manlthiere begegnen den Reisenden, welche Mühe haben,
sich auf der engen Treppe bei ihnen vorbei zu drücken. Zu-
letzt hören die Stufen aus und man klimmt über sehr ans-
getretene Felsplatten zum Gipfel, dessen Zugang durch eine
Nachts verschlossene Thür gebildet wird. Dort wurden die
Reifenden von dem Scheich und den vornehmsten Einwoh-
nern des Dorfes freundlich empfangen; aber von den
Wunderdingen, welche da oben vorhanden sein sollten, war
nichts zu sehen, statt der Ruinen von angeblichen Palästen
gigem Sinn oder bösem Gewissen als Zufluchtsort gedient;
das beweisen unter anderen: eine punische Stele und eine
römische Grabschrift, welche die Reisenden in dem Dorfe
fanden.
Prachtvoll ist der Blick von den: Rande des Felsens
gegen West auf die Berge der Provinz Constantine, gegen
Norden und Osten über die Ebenen und Höhen von Tune-
sien und ganz fern am Horizont auf den hohen Hügel, der
die Stadt Kef trägt. Bei dem schönen Lichte der afrika-
Aufstieg zur Kalaa es-SeuLn. (Nach einer Skizze Cagnat's.)
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
71
Nischen Sonne waren selbst die kleinsten Terrainwellen deut-
lich zu erkennen.
Erst spät nach Sonnenuntergang trafen die Reisenden
wieder in ihrem Lager ein und brachten dann diesen letzten
Abend ihres Aufenthaltes in Hai'dra bei dem Zollbeamten
zu, der ihnen zu Ehren eine Anzahl Gerichte nach seinem
Geschmacke, d. h. Hammelfleisch mit Oel in allen möglichen
Gestalten, hatte zubereiten lassen. Aber der durch den
weiten Ritt erzeugte Hunger war die beste Würze des
Mahles.
Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
II.
Die Dörfer der Koreaner unterscheiden sich von denen
der Russen, mit welchen sie in der Gegend von Nikolskoi
und Possiet zusammen wohnen, gleich auf den ersten Blick
dadurch, daß die einzelnen Gehöfte nicht zu Straßen ver-
einigt sind, sondern abgesondert von einander daliegen, ohne
daß irgend eine Regelmäßigkeit in ihrer gegenseitigen Lage
zu bemerken wäre *). Die koreanischen Dörfer erinnern
in dieser Beziehung lebhaft an die mancher niederdeutscher
Gegenden. Jedes einzelne Gehöft ist mit einem dichten
Gehege von Weidengcflecht umgeben, das rund herum läuft
und eine Höhe von etwas mehr als 2 m hat. Gestützt
wird dieses Gehege durch starke in den Boden eingerammte
Pfähle, die ihm eine bedeutende Festigkeit verleihen. Wenn
man ein solches Gehege aus der Ferne betrachtet, so gewährt
es den Anblick eines umgekehrten Fischkorbcs ohne Boden.
Auf der einen Seite des Zaunes befindet sich eine ziem-
lich breite Thorfahrt, welche auf den Hof führt. Dieser ist
fast vollständig von Gebäuden umgeben. Gerade dem Ein-
gänge gegenüber liegt das Wohnhaus, je nach der Wohl-
habenheit des Besitzers ein mehr oder weniger großer Bau.
Es ist wie alle übrigen Gebäude aus Lehmziegeln erbaut,
welche an der Sonne getrocknet werden, und weiß getüncht.
Uebrigens besitzen die koreanischen Wohnhäuser stets nur ein
Stockwerk und sind ebenso wie die übrigen Gebäude mit
Stroh oder Ziegeln gedeckt. Wenn man in die Thür ein-
tritt, so gelangt man zunächst in einen weiten Vorraum, der
fast die Hälfte des ganzen Hauses einnimmt und als Küche
benutzt wird. Rechts von diesem Raume befindet sich ein
kleineres, mit einem besonderen Eingänge vom Hofe her
versehenes Gelaß, in welchem die zum Reiten und Fahren
benutzten Ochsen ihren Platz finden. An der Wand zwischen
diesem Raume und der Küche sind die Krippen befestigt,
welche aus ausgehöhlten Baumstämmen bestehen. Hinter
dem Ochsenstalle liegt ein zweiter kleiner Raum, welcher
gewissermaßen als Speisekammer dient, denn in ihm werden
außer den Hand- und Fußmühlen, die zum Zerstampfen der
Maiskörner dienen, auch Speisen in irdenen Töpfen auf-
bewahrt. Beinahe die Hälfte der Küche ist von einem
mächtigen Ofen eingenommen, der etwa lm über den Erd-
boden emporragt und dessen Oberfläche den beliebtesten
Aufenthalt der Hausbewohner bildet. Man steigt auf einer
an der Vorderseite des Ofens angebrachten kleinen Treppe
hinauf, muß aber, ehe man die Plattform betritt, die Schuhe
ausziehen, um die Matten/welche dort ausgebreitet sind
und als Lagerstätte dienen, nicht zu beschmutzen. In der
Frontseite des Ofens befinden sich gewöhnlich zwei Oeffnungen
i) Im südlichen Theile der koreanischen Ostküste jedoch finden
sich auch zusammenhängende Dörfer mit durchgehenden Straßen;
es fehlen dort auch die umgebenden Gehege. Uebrigens sind
die Häuser der auf russischem Boden wohnenden Koreaner be-
deutend größer als die an der Ostküste vorhandenen.
zur Aufnahme des Brennholzes; man gelaugt zu ihnen
durch ein paar stark vertiefte Gänge, lieber derjenigen
Feuerungsöffnung, welche der Hausthür am fernsten liegt,
sind zwei eiserne Kessel von chinesischer Arbeit in den Ofen
eingelassen, welche zur Zubereitung der Speisen dienen.
Selbst für den Fall, daß in kleineren Häusern nur eine
Feuerungsöffnung vorhanden ist, sind doch diese Kessel stets
paarweise zu finden. Die Größe des koreanischen Ofens
hat wohl vor allen Dingen darin ihren Grund, daß durch
denselben nicht nur die Küche, sondern das ganze Haus
erwärmt werden soll. Man erreicht dies, indem man von
dem Ofen aus Holzröhren in alle Zimmer leitet, durch
welche die Wärme fortgepflanzt wird. Damit diese Röhren
nicht gesehen werden und auch den Platz in den Wohnräumen
nicht verengen, werden sie unter den Fußboden der Zimmer
gelegt, der dieselbe Höhenlage hat, wie die Plattform des
Ofens. Durch ein anderes Rohr wird, wie in den Häusern
der Chinesen und Amurvölker, der Rauch bis an die eine
schmale Wand des Hauses geleitet, wo er durch einen etwa
1'/2 m hohen ausgehöhlten Baumstanuu, welcher als Schorn-
stein dient, ins Freie geführt wird. Die Plattform des
Ofens dient übrigens auch als Standort irdener und
metallener Gefäße sowie der kleinen Eßtischchen, welche später
noch Erwähnung finden werden.
Die zweite Hälfte des Hauses wird von vier Zimmern
eingenommen, welche durch ziemlich starke Wände von ein-
ander getrennt sind und als Arbeits- und Schlafgemächer
dienen. Die Fußböden derselben, welche ungedielt sind,
werden mit dicken Matten belegt, und die Fensteröffnungen
sind mit chinesischem Papier überzogen I. Rings um diese
Zimmer ziehen sich an den Wänden hohe Bänke entlang,
welche je nach der Wohlhabenheit des Hausbesitzers mit einer-
größeren oder geringeren Menge von oft recht kunstvoll ge-
arbeiteten Kisten und Kasten besetzt sind. In diesen Behältern
ist ebenso wie bei den Burjäten der Vorrath an Kleidungs-
stücken und der übrige werthvolle Besitz der Familie auf-
gestapelt. Eins dieser vier Gemächer gehört dem Hausherrn
besonders und dient neben anderen Zwecken auch zur Auf-
bewahrung der Hutschachteln, in welchen die zahlreichen und
mannigfachen Kopfbedeckungen untergebracht sind, die von
den Koreanern gebraucht werden und später noch zur Be-
sprechung kommen. Ein anderes Zimmer, und zwar das-
jenige, welches von der Thür am weitesten entfernt ist, dient
zum Aufenthaltsort für die tut Hause vorhandenen jungen
Mädchen, wenn Fremde das Gehöft besuchen, denn die
Koreaner lieben es nicht, ihre jungen Mädchen den Blicken
nicht zum Hause gehöriger Leute auszusetzen.
Links von dem Wohuhause — wenn man nämlich auf
letzteres blickt — steht ein kleineres Gebäude, in welchem
Glas ist in Korea ganz unbekannt.
72
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
die Getreidemühle des Gehöftes aufgestellt ist. Dieselbe ist
in Nordkorea meist von mandschurischer Arbeit und zeigt
eine sehr einfache Konstruktion. Sie besteht nämlich aus
zwei Steinen, von denen der untere, horizontal liegende
feststeht, während sich der obere auf ihm um eine Welle dreht.
Die Drehung wird wie bei den in meiner niederdeutschen
Heimath noch viel gebräuchlichen Oelmühlen durch ein Pferd
bewerkstelligt, das an einer mit dem oberen Steine zu-
sammenhängenden horizontalen Stange befestigt ist und mit
verbundenen Augen die Maschine umkreist. Dem Wohn-
hause gegenüber steht ein Stall, in welchem alles Vieh
außer den Ochsen untergebracht wird. Zugleich wird der-
selbe, soweit er von dem Vieh nicht in Anspruch genommen
wird, als Aufbewahrungsort für Heu und andere Produkte
des Landes benutzt. Die vierte Seite des Hofes endlich
wird durch ein kleineres Vorrathshaus begrenzt, in welchem
das eingeerntete Korn, Ackergeräthe, Fischnetze und viele
andere Dinge aufbewahrt werden, während der große vier-
eckige Hofraum mit Wagen, Schlitten und dergleichen an-
gefüllt zu sein pflegt. Uebrigens findet man in Nordkorea
in der rechten Ecke jedes Gehöftes zwischen Vorrathshaus
und Thoreinfahrt einen mächtigen, kegelförmigen Hausen
gespaltenen Brennholzes, der auf den Höfen in den südlicheren
Gegenden der Ostküste nicht vorhanden ist.
Wenn ein Fremder den Hof betritt, so hat er zunächst
zu fragen, ob der Hausherr zugegen ist. Ist dies nicht der
Fall, so hat der Besucher den Hof wieder zu verlassen, denn
es gilt den Koreanern als unanständig, das Haus ohne die
ausdrückliche Erlaubniß des Besitzers zu betreten. Ist der
Hausherr aber in seiner Wohnung und ertheilt er die Er-
laubniß, dieselbe zu betreten, so geht der Besucher nicht durch
die in den Vorraum führende Thür, sondern durch eins der
Fenster, welche sich nach außen öffnen. Deshalb liegt auch
vor jedem dieser Fenster ein großer Holzklotz, der als Stufe
bient ; ebenso gelangt man mit Hilfe eines solchen Klotzes
in die Hausthür. Da die Fenster nur etwa 160 cm hoch
und 1 m breit sind, so ist der Weg durch sie etwas unbequem,
aber er hat den Vortheil, daß er den Besucher sogleich in
eins der Wohnzimmer führt.
Die Kleidung der koreanischen Männer besteht meistens
aus weißen Stoffen, wenn auch Ueberjacken aus blauer,
grüner und violetter Seide bei vornehmeren Männern und
an Festtagen auch bei ärmeren vorkommen, während dagegen,
wie dem Reisenden mitgetheilt wurde, die Benutzung rother
Stoffe für die Männerkleidung verboten sein soll J). Ein
Hemde ist weder bei Männern noch bei Frauen gebräuchlich,
vielmehr tragen jene an Stelle eines solchen im Sommer
eine dünne, mit langen Aermeln versehene Unterjacke ans
weißem Zeuges, welche an ihrem unteren Ende um die
Hüften herum durch Bindebänder geschlossen wird. Diese
Jacken sind jedoch fast nur bei den wohlhabenderen Klassen
tut Gebrauch, während die Arbeiter allerdings ganz gleich
geformte, aber aus sehr grobem, grauem Drell bestehende
Unterkleider tragen. Da diese Drelljacken durch den bei
der Arbeit sich entwickelnden Schweiß leicht au dem Körper
festkleben, so pflegen die Koreaner unter denselben ein hemd-
artiges Unterkleid aus Wurzel- oder Bambugcflecht mit sehr
weiten Maschen zu tragen, das nach Art der von den * 2
0 Den Grund für dieses Verbot konnte Jacobsen nicht
erfahren. Die verschiedene Farbe der Oberkleider soll übrigens
auch ihre Bedeutung für die Unterscheidung der Stände haben,
wie wir das später noch bei einem anderen Kleidungsstücke er-
fahren werden, doch sind die Mittheilungen, welche über diesen
Gegenstand gemacht wurden, zu unbestimmt, als daß sie hier
eingehender erwähnt werden könnten.
2) Das Zeug wird von den Koreanern selbst hergestellt
und ähnelt an Feinheit und Durchsichtigkeit am meisten der
Baroge.
mittelalterlichen Herolden getragenen Ueberwürfe ohne Aermel
ist und in der Mitte ein Loch hat, durch welches man den
Kopf steckt. Es bedeckt auf diese Weise nur Brust und
Rücken und bleibt an den Seiten des Körpers ohne Ver-
schluß. Ueber die Unterjacken werden Oberkleider gezogen,
die, wie schon erwähnt, aus bunter Seide oder auch aus
weißem Stoffe bestehen und sehr weite Aermel haben. Bis-
weilen zeigen sie eine sehr eigenthümliche Form. Sie gleichen
nämlich in ihrem oberen Theile vollständig den Unterjacken
und werden um den Hals herum mit Bändern befestigt.
Oberhalb der Hüftengegeud aber theilen sie sich in drei
Theile, von denen einer über den Rücken, die beiden anderen
au den Seiten nach Art der Frackschöße herabhängen. Um
die Hüften wird dieses flatternde Gewand durch tuten
seidenen Gürtel zusammengehalten, der oft nur aus einer
mit au den Enden herunterhängenden Ouasteu versehenen
dünnen Schnur besteht. Daran schließen sich weiße Bein-
kleider entweder ans demselben leichten Stoffe, der zu den
Unter- und Ueberkleidern für den Oberkörper benutzt wird,
oder aus Drell an. Dieselben reichen bis zur Mitte der
Brust herauf und sind außerordentlich weit; die von Jacobsen
mitgebrachten und im Museum in Berlin aufbewahrten
messen am unteren Rande 70 cm und an den Oberschenkeln
sogar einen Meter an Umfang für jedes Bein. Die
Füße sind mit sehr pluntp geformten Strümpfen von
ebenfalls weißer Farbe bekleidet, die sehr dick gefüttert
sind und nur wenig über die Knöchel hinaufreichen. Die
Schuhe sind in den mannigfaltigsten Formen vertreten.
So sind für den Winter starke Holzschuhe im Gebrauch,
deren Spitzen stark nach oben gebogen sind und deren Sohlen
auf zwei hohen Stöckeln ruhen. Da letztere fast vollständig
unter der Hinteren Hälfte des Fußes liegen, so erschweren
sie jedem Ungeübten das Gehen ganz außerordentlich.
Ferner trägt mau int Winter starke Schtche aus Rindleder,
die zwar im Uebrigen den bei uns gebräuchlichen gleichen,
aber wie die Holzschuhe nach oben gebogene Spitzen haben.
Ihre dicken Sohlen sind mit zahlreichen starken Eisennägeln
beschlagen, welche ihnen ein ziemlich bedeutendes Gewicht
verleihen. So lange diese Schuhe tlicht angezogen werden,
steckt mau in sie Leisten hinein, mit zu verhindern, daß sie
ihre Form verlieren. Diese Leisten bestehen nicht lute die
maserigen aus Holz, sondern aus einem dicken Schilfstengel,
der in Gestalt eines menschlichen Fußes gebogen, mit dickem
Bast umwickelt, und dann getrocknet ist. Bei größeren
Wanderungen im Winter, besonders aber bei der Besteigung
der Berge zum Zwecke der Versorgung mit dem nöthigen
Holze, begnügt man sich nicht mit diesen ledernen Schuhen,
sondern tragt noch ziemlich hohe dreizackige Eissporeu,
welche mit starken Lederriemen an den Füßen, befestigt
werden. Im Sommer ist die Fußbekleidung bei weitem
leichter. Da tragen alle Männer ohne Unterschied des
Standes pantosfelartige Schuhe aus Bindfaden oder Bast.
Die Kappe dieser Schuhe besteht aus einem runden und
dünnen Hölzstübchen, welches sich von einer Seite der
Sohle bis zur anderen um den Hacken herumzieht und auf
demselben ruht. Um ein Heruntersinken dieses Stäbchens
zu verhindern, wird es durch ein zweites am Ende des
Schuhes vertikal stehendes gestützt, so daß also der Hacken
des Fußes im Großen und Ganzen von dem Schuh unbe-
deckt bleibt. Da das Oberleder — wenn von demselben
hier überhaupt gesprochen werden kann — so kurz ist, daß
es kaum die Zehen bedeckt, so ist es nothwendig, die Schuhe
über dem Spann mit Bändern zu befestigen, damit sie
namentlich beim Reiten nicht vom Fuße hcrunterglciten. —
Der Kopf wird mit Mützen und Hüten bedeckt, deren Stoss
und Form nicht nur nach der Jahreszeit, sonderu auch nach
den Persönlichen Verhältnissen des Besitzers einem Wechsel
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
73
unterworfen sind. Gewöhnlich tragen die Männer einen
Kopfring aus Bast, über diesem eine fezartige schwarze
Mütze aus Pferdehaar und über dieser wieder einen breit-
randigen Hut aus Stroh, Bast oder dünnen Holzstäbchcn,
der mit langen Bändern oder Perlenschnüren unter dem
Kinn befestigt wird. Diese Hüte erscheinen meist in der
dachförmigen Gestalt, wie sie bei den Chinesen üblich ist,
doch kommt auch die europäische Form nicht selten vor.
Bei regnerischem Wetter schützt man die Hüte durch einen
Ueberzug von Oclpapicr, der der Form jener vollständig
angepaßt ist. Bei dieser Gelegenheit sei gleich erwähnt,
daß das Oelpapier auch sonst bei den Koreanern eine
wichtige Rolle spielt. So fertigen sie aus ihm ihre Regen-
mäntel, die allerdings in hohem Grade Primitiv sind. Sie
bestehen nämlich nur aus einem rechteckigen Stück von etwa
2 m Länge und 1,5 m Breite, das um die Schultern ge-
schlagen und mit der Hand über der Brust zusammen-
gehalten wird. Merkwürdiger Weise sind die Mäntel voll-
ständig mit Schriftzeichen bedeckt, und dasselbe gilt von den
aus Oelpapier hergestellten koreanischen Reisenecessärs und
Tabaksbeuteln. Im Winter werden
die Hüte durch sehr große, gefütterte
Mützen von eigenthümlicher Form
ersetzt. Dieselben ähneln am meisten
einer Kapuze, deren hintere Seite
Kopf und Genick umhüllt und
ziemlich tief ans den Rücken herab-
fällt. Ihr unterer Rand legt sich
kragenförmig um die Schultern
und den Hals und wird vorn zu-
gebunden. Für das Gesicht ist ein
Ausschnitt vorhanden, dagegen ist
die Stirn mit einem schmalen Strei-
fen bedeckt, welcher jedoch kurz über
ihr aufhört, so daß die Mütze auf
dem Scheitel offen ist. Im Allge-
meinen bestehen diese Kopfbedeckun-
gen aus weißem Leinenzcuge mit
dicker Fütterung; vornehmere Män-
ner aber benutzen anch andere
Farben und Stoffe und Pflegen
den unteren Rand der Miltzc mit
kostbarem Pelz zu verbrämen.
Oben wurde schon angedeutet,
daß gewisse persönliche Verhältnisse
der Koreaner sich durch die von
ihnen getragene Kopfbedeckung documentiren. So zeichnen
sich die Soldaten, die Lehrer, die Kutscher und manche andere
Stände d^rch besondere Formen von Hüten und Mützen aus;
so wird aber auch die Trauer um verstorbene Familienglieder
durch die wechselnde Gestalt der Kopfbedeckungen ausgedrückt.
Am auffallendsten durch Größe und Form sind die Hüte,
welche während der angeblich zweijährigen Trauerzcit um den
Tod des Vaters getragen werden. Sie haben einen Durch-
messer von mehr als 60 cm und gleichen den chinesischen
Hüten bis auf den unteren Rand, welcher nicht rund ist,
sondern vier halbkreisförmige Ausbuchtungen zeigt. Damit
der ziemlich hohe Hut nicht zu tief in das Gesicht hinab-
sinkt, ist in seinem Inneren ein Gestell von dünnen Stäben
und ein Ring ans Bast befestigt, welcher fest auf dem
Kopfe liegt. Ein ähnlicher, aber weit kleinerer Hut von
weißer Farbe wird bei der Trauer um die Mutter getragen,
doch konnte Jakobsen nicht mit Sicherheit erfahren, wie
lange diese Verpflichtung dauert. Dieselbe Unsicherheit ist
vorhanden in Bezug auf die Trauerzcit bei dem Tode eines
Oheims oder Bruders oder auch einer Schwester, wenn sie
noch unverheirathet ist, denn anch hier schwankten die An-
Globns HI. Nr. 5.
gaben der Koreaner sehr. Die Kopfbedeckung ist während
dieser Zeit eine sezartige Mütze von grauweißer Lein-
wand 1).
Während unverheirathete Männer das Haar in der
Mitte scheiteln und am Hinterkopfe in einen Zopf zusammen-
flechten, rasiren die verheircrtheten die Mitte des Kopfes
und wickeln den Zopf auf dieser kahlen Stelle zusammen,
indem sie ihn gleichzeitig mit Nadeln aus Silber und Knochen
befestigen. Um auch das Stirnhaar nach der Mitte des
Kopfes zu drängen, werden Stirnbänder von schwarzem
Pferdehaar angelegt, welche ihren Zweck so vollständig er-
füllen, daß kein Haar über sie in das Gesicht hinabhängt.
An diesem Stirnbande pflegen vornehme Männer ein halb-
mondförmiges Stück Bernstein zu tragen, das vielleicht die
Bedeutung eines Aumlets hat. Au dem Gürtel werden
mancherlei Geräthc befestigt. So ein aus Holz oft recht
kunstvoll geschnitzter röhrenförmiger Behälter für Ohrlöffel,
Zahnstocher u. s. w., ferner in enteilt Futteral ein Messer
mit Eßstäbchen, welche bei wohlhabenderen Männern häufig
aus Silber hergestellt sind, die Pfeife und der Tabaksbeutel.
Weiterhin trägt jeder Koreaner
am Gürtel einen seidenen Geld-
beutel, und wenn er aus Reisen ist,
so steckt er ein ganz flaches hölzernes
Trinkschälchen hinein. Zum Schlüsse
sei noch erwähnt, daß im Sommer
weiße Manschetten aus Pfcrdehaar
gebräuchlich sind, sowie daß nur die
Männer Fächer tragen, die in den
mannigfaltigsten Formen erscheinen
und häufig stark parfümirt sind.
Brillen mit plumpen Horugestellen
sind besonders bei den koreanischen
Gelehrten häufig anzutreffen; doch
spricht Jacobsen die Meinung ans,
daß sie chinesisches Fabrikat sind2 2).
Fingerringe nahm Jacobsen bei
Männern gar nicht wahr.
Die Kleidung der Frauen besteht
zunächst aus einer weißen, braunen
oder blauen Jacke, welche vorn so kurz
ist, daß sie den Busen unbedeckt läßt,
der überhaupt von den koreanischen
Frauen im Allgemeinen nicht mit
einer Hülle versehen zu werden
pflegt. Der Reisende bemerkt aus-
drücklich, daß die Brüste der Koreanerinnen meist recht voll
und wohlgebildet sind und selbst bei älteren Frauen selten
schlaff herunterhängen, wie das bei den Gilden, Giljaken und
anderen Völkern Ostsibiriens die Regel ist. Wenn Fremde
zu Besuch kommen, so wird unterhalb der Brüste eine ge-
fütterte Binde von weißem Zeuge, die etwa 1 m lang und
25 cm breit ist, um den Leib gelegt, um den Unterleib
und die untere Brust zu schützen, doch ist auch sie nicht im
Stande, den Busen ganz zu verbergen. Die Beine sind
mit doppelten Hosen bekleidet, von denen die unteren etwa
0 In Beziehung auf die Trauerzeit für den Vater waren
Jacobsen's Berichterstatter ziemlich einig; die Angaben über die
Trauer bei dem Tode der Mutter schwankten zwischen 14 und
3 Monaten, die für den dritten Fall zwischen 6 und 3. Da
nicht anzunehmen ist, daß die Koreaner über diese Dinge selbst
im Ungewissen waren, so liegt die Vermuthung nahe, daß sie
dem Reisenden die Wahrheit nicht sagen wollten; vielleicht ge-
schah das aus religiösen Gründen.
2) Jacobsen erwähnt auch, daß in Korea Brillen aus
„Edelstein" getragen würden, und daß er selbst derartige gesehen
habe. Ich kann mir den Ausdruck des Reisenden nicht recht
erklären; vielleicht meint er Bergkrystall.
Grundriß eines koreanischen Gehöftes.
A A Gehegt. B Wohnhaus. a Vorraum und
Küche, b Oft», c Ochsenstall, d Speisekammer,
e Zimmer des Hausherrn, f und h Schlafgemächer,
g Fraucngcmach. C Mühlengebändc. D Viehstall.
E Vorrathshaus. F Holzstoß. G Thorcinfahrt.
H Hofraum.
10
74
Otto Genest: Kapitän Jacobsen's Besuch bei den Koreanern.
bis an die Hälfte der Wade reicht und wie ein Unterrock
geformt ist. Erst ganz nahe am unteren Rande theilt sie
sich durch eine Abnaht in zwei etwa l72m weite Beinlinge;
auch ist sie dadurch von den Beinkleidern unserer Frauen
verschieden, daß sie keinen Schlitz hat. Das Zeug zu diesem
Kleidungsstücke ist je nach dem Wohlstände der Besitzerin
von größerem oder geringerem Werthe und je nach der
Jahreszeit stärker oder dünner. Ueber diese Unterhose ziehen
die koreanischen Frauen eine zweite von weißem Zeuge,
welche bis an die Knöchel reicht und hier ganz eng anschließt,
im klebrigen aber den in Europa gebräuchlichen Frauenhofen
gleicht. Die Beinkleider nun werden wiederum bedeckt durch
einen etwa 1 m langen weißen Rock, welcher um die Hüften
mit Bändern befestigt wird. Derselbe ist wie eine Schürze
hinten offen, aber von einer derartigen Weite, daß die Enden
so weit über einander greifen, daß das Sichtbarwerden der
darunter liegenden Kleidungsstücke selbst bei starkem Winde
nicht möglich ist. Die Strümpfe der Frauen gleichen voll-
kommen den bei den Männern gebräuchlichen, und dasselbe
gilt auch von den Schuhen, die sich nur durch zierlichere
Arbeit und buntfarbigen Zeug- und Lederbesatz von denen
jener unterscheiden.
Die Haare werden in zwei Zöpfe geflochten und, wenn
sie schwach sind, durch falsche ersetzt. Beide werden vom
Genick aus, wo man auch die falschen zu befestigen Pflegt,
oberhalb der Ohren nach vorn gelegt und auf dem Vorder-
kopfe in eine Rosette zusammengesteckt, welche im Allgemeinen
den einzigen Kopfschmuck der Koreanerinnen bildet. Denn
nur die Bräute Pflegen an ihrem Hochzeitstage einen etwa
65 6NI langen und 20 ein breiten Streifen ans schwarzem,
dünnem Zeuge, der in einfachster Weise mit weißen Perlen
benäht ist, vermittels einer Hornnadel in den Haaren zu
befestigen, so daß derselbe ans dem Rücken herunterhängt.
Uebrigens kommt bei derselben Gelegenheit auch noch ein
anderer Kopfschmuck zum Gebrauch, der aus einem kleinen
weißen Zeugkissen besteht. Dasselbe ist ebenfalls mit weißen
Perlen benäht und trägt in der Mitte ein kleines viereckiges
Holzstückchen, welches roth gefärbt ist. Mit ähnlichen Kopf-
bedeckungen sind auch die kleinen Kinder versehen, doch
weichen sie von den vorher genannten dadurch ab, daß sie
noch an den Seiten eine Reihe von bunten Zengstreifen
tragen, welche längs der Backen herabhängen. Damit diese
Streifen nicht zu sehr flattern und namentlich nicht die
Angen verletzen, werden sie durch querlaufende Bänder, die
man darüber näht, festgehalten. Der ganze Schmuck ge-
währt einen mehr wunderlichen als schönen Anblick H.
Da jeder Koreaner Soldat ist, so sind sie auch alle mit
Waffen versehen. Jaeobsen sah bei ihnen neben alten Ge-
wehren und ziemlich plumpen Lanzen besonders Bogen und
Pfeile. Die ersteren, welche keine bedeutende Länge haben,
bestehen aus Horn und sind mit Bast umwickelt; als Sehnen
dienen entweder Darmsaiten oder Stricke. Dort, wo der
Pfeil anfliegt, zeigt sich der Bogen beträchtlich verdickt, wohl
um fester in der Hand des Schießenden zu ruhen. Die
Pfeile bestehen aus Holz und Rohr mit angelartiger Spitze.
Sie werden in röhrenförmigen Köchern aufbewahrt, welche
nach dem fein polirten Holze, aus welchem sie bestehen, und
nach dem ziemlich kunstvollen Metallbeschlage, mit welchem
sie verziert sind, zu urtheilen, chinesisches Fabrikat zn sein
scheinen. Köcher und Bogen pflegt man in kleberzüge aus
starkem Leinenzeug zu stecken, um sie vor schädlichen
Witterungseinflüssen zu schützen.
In der Korbflechterei sind die Koreaner außerordentlich
geschickt. Als Material dazu dient ihnen Bast und die
st Die koreanischen Frauen scheinen nicht sehr auf den Putz
bedacht zusein; die einzigen Schmuckgegenstände, welche Jaeobsen
bei ihnen sah, waren Fingerringe, deren jede Koreanerin zwei trug.
Rinde des Bambu, die in feine Streifen geschnitten wird.
Den Produkten ihrer Kunst geben sie die mannigfaltigsten
Formen. Bald sind die Körbe viereckig, bald rund; bald
sind sie mit Deckeln versehen, bald oben offen; bald sind sie
nicht ohne Geschmack bunt bemalt oder mit nach japanischer
Art lackirtem Papier überzogen, bald haben sie ihre Natur-
farbe behalten; immer aber legen sie Zeugniß von der nicht
gewöhnlichen Fertigkeit und dem Schönheitssinn ihrer
Schöpfer oder Schöpferinnen ab. Dasselbe darf man be-
haupten von den in den mannigfaltigsten Formen erscheinen-
den muldenartigen Holzschalen, welche sie zum Aufbewahren
unb Aufträgen der Speisen oder auch als Trinkgefäße be-
nutzen, und ferner auch von den bemalten Holzkisten, welche
ihnen, wie oben bemerkt, zur Aufbewahrung ihrer Habselig-
keiten dienen.
Die Speisen werden in größeren Ouantitäten für den
ganzen Haushalt in den großen Kesseln des Ofens zubereitet;
für die Zubereitung kleinerer Portionen benutzen sie einen
tragbaren Herd eigenthümlicher Art. Derselbe besteht aus
einem mächtigen irdenen Topfe mit Zuglöchern an den
Seiten, der mit Kohlen gefüllt und dann an der Oberfläche
mit einem Deckel geschlossen wird. Auf dieses Gesäß, das
sich sehr schnell erwärmt, werden dann in kleineren Metall-
schalen die Speisen gestellt und zum langsamen Kochen ge-
bracht. Eigenthümlich ist es, daß jede einzelne Person ihr
Mahl an einem besonderen kleinen Tischchen einnimmt.
Diese Tischchen sind etwa 30 cm hoch und bestehen aus
einer runden, oft recht hübsch verzierten Platte, welche auf
vier kunstvoll geschnitzten Füßen ruht. Zn jedem dieser
Tische, an denen sich die Essenden auf den Boden nieder-
kauern, gehören sieben bis acht flache Metallschüsseln, welche
so gearbeitet sind, daß eine immer in die andere nächst
größere hineinpaßt. Jede derselben hat einen Deckel, um
die Speisen warm zn halten. Man ißt entweder nach
chinesischer Manier mit Eßstübchcn, welche, wie oben bemerkt,
jeder Mann in einem Behälter am Gürtel trägt, oder auch
mit Löffeln. Die Hauptnahrung bildet der Reis; die bei
den von Jaeobsen besuchten Koreanern in der Gegend von
Nikolskoe beliebteste Speise war jedoch eine ans vegetabilischen
Stoffen bereitete Suppe, die gar nicht übel schmeckte und,
wie es ihm schien, in ganz besonderem Maße als ein Gericht
angesehen wurde, das man seinen Gästen vorsetzen dürfe;
wenigstens wurde es öfters angeboten. Auch ein stark ge-
würzter Fischsalat mit pikanter Sauce spielte bei seinen
Wirthen eine bedeutende Rolle; ärmere Leute begnügen sich
meistens mit Hirse und Eiern anstatt des Fleisches.
Von weiterem Hausrath der Koreaner führe ich hier
noch Folgendes an. In jedem Hause findet man Staubbesen
aus Fasanenfedern und ein röhrenförmiges Gestest zur Auf-
nahme der Schreibpinsel. Zu diesem gehört als weiteres
Schreibgeräth ein rechteckiger, oben etwas eingetiefter Stein
und ein kleines Töpfchen. Auf dem ersteren wird die Tusche
zerrieben, welche man zum Schreiben verwendet, nachdem
man in die Vertiefung ans dem Töpfchen etwas Wasser
gegossen hat. die Schreibkunst ist übrigens ebenso wie das
Lesen fast allen Koreanern völlig geläufig; die Volksbildung
steht auf einem viel höheren Standpunkte als in einigen
europäischen Staatenr). Beim Rechnen bedienen sich die
Koreaner einer Anzahl von kleinen Stäben, welche in be-
stimmte Figuren zusammengelegt werden, die dann Zahlen
bedeuten. Eigenthümlich ist ein Geräth, welches die
Koreanerinnen zum Plätten der Kleider gebrauchen. Das-
selbe hat eine Länge von etwa 40 ein und besteht aus einem
hippenartig gekrümmten Stück Eisen, das in einen Hohlgriff
Die vornehmeren Koreaner beherrschen übrigens fast
sämmtlich auch die chinesische Sprache.
Dr. C. Keller: Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
75
eingelassen ist. Die Außenseite des eisernen Bogens wird
in glühenden Kohlen erhitzt und dann nach Art unserer
Plätten benutzt.
Das Möblement der koreanischen Wohnungen ist sehr-
ärmlich. Tische cxistiren nur in der Form der Eßtischchen,
Stühle fehlen gänzlich, da man sich auf den mit Matten
bedeckten Fußboden meist in hockender Stellung niederläßt;
ja selbst eigentliche Betten scheinen nicht vorhanden zu sein.
Soweit Jaeobsen in dieser Beziehung sich unterrichten
konnte, schläft man auf häufig recht kunstvoll gefertigten
Matten, die auf den Fußboden gebreitet werden, und benutzt
als Decken Filztcppiche, die aber vielleicht nicht eigenes
Fabrikat sind. Hier will ich noch ein bcttschirmarliges
Gestell erwähnen, welches nach Jacobsen's Berichte in jedem
wohlhabenden Hanse vorhanden ist und sich durch recht ge-
schmackvolle Malerei auszeichnet, nach den Andeutungen
des Reisenden aber eine Bedeutung im Kultus zu haben
scheint. Dieser Schirm wird halbkreisförmig anfgesteUt
und zwar je nach der betreffenden Gelegenheit so, daß ein-
mal die eine Seite desselben den inneren Bogen des Halb-
kreises bildet, im zweiten Falle die andere. Er kommt zur
Berwendung, wenn die junge koreanische Haussran am Tage
nach ihrer Hochzeit von älteren Frauen ihrer Bekanntschaft
besucht und in aller Form in den Kreis der Frauen auf-
genommen wird. Dann nimmt die Gesellschaft, welche
außer der jungen Ehefrau nur fünf Personen zählen darf,
innerhalb des Bogens Platz, der in diesem Falle seine
Bilder freundlichen Inhalts ihnen zukehrt, womit vielleicht
den guten Wünschen für die neue Ehe Ausdruck gegeben
werden soll. Die andere Seite des Schirmes kommt zur
Geltung, wenn Vater oder Mutter gestorben sind. Die
Leichen werden dann drei bis vier Tage in den durch den
Schirm gebildeten Halbkreis gestellt, welcher auch nach ihrer
Entfernung noch längere Zeit — vermuthlich während der
oben schon angegebenen Trauermonate — als Aufenthalts-
ort der Verstorbenen angesehen wird. Das geht ans dem
Umstande hervor, daß die Hinterbliebenen dorthin die Kleider
der Todten bringen und täglich Tabak, Pfeifen, Speisen und
Getränke dort aufstellen.
Die Erleuchtung des koreanischen Hauses wird durch
Oellampen und Kerzen bewerkstelligt. Erstere, den antiken,
in der Form ähnlich, haben ihren Platz besonders in dem
großen Vorraum des Hauses und stehen dort auf einfachen
Holzgestellen. Die Kerzen sind nicht wie die unseren vertikal
gestellt, sondern horizontal. Sie bestehen aus einem dünnen
Holzstabe, der mit Werg umwickelt ist. Um denselben an
dem Holze festzuhalten und wohl auch um fein zu schnelles
Verbrennen zu hindern, wird er mit einem Teige aus Hirse
belegt. Bei dem Scheine dieser primitiven Beleuchtung
spielen die koreanischen Männer nach gethaner Arbeit am
Abend Domino oder Karte — diese sind aus Oelpapier
hergestellt — oder unterhalten sich mit Brettspielen und
Rauchen, bis sie zum Theil in den Schlafzimmern, zum
Theil auf dem großen Ofen ihr Lager aufsuchen.
Die Lückenhaftigkeit der vorstehenden Mittheilungen,
welche Niemand deutlicher empfindet als der Verfasser selbst,
wird in Jedem, der ein lebhaftes Interesse für völkerkundliche
Fragen besitzt, den Wunsch rege machen, daß es bald gelingen
möge, Korea, das noch immer „ein verschlossenes Land" ist,
dem Verkehr der europäischen Völker und damit der Wissen-
! schaft zu öffnen, für welche hier noch ein weites Feld dcr
I Forschung bereit ist.
Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
Von Dr. C. Keller.
I.
Die ostafrikanischcn Gebiete, welche lange Zeit hindurch
in Europa wenig beachtet wurden, dafür aber seit alter Zeit
die Aufmerksamkeit der Araber in hohem Maße in An-
spruch nahmen, treten in der Gegenwart in den Vorder-
grund der kolonialen Interessen Europas. Auf dem Fest-
lande hat Deutschland begonnen, sich in größere Unter-
nehmungen einzulassen, ans der ostasrikanischen Inselwelt,
insbesondere in Madagascar, hat Frankreich einen erneuten
Kolonialanlauf genonunen. Das alte Europa, dessen Gewand
vielfach zu eng geworden, versucht sich hier auszudehnen,
sich hier neue Absatzgebiete zu verschaffen und günstige
Prodnktionsgebiete zu erwerben.
Betrachten wir die Seite ganz nüchtern, ohne Schwär-
merei, aber auch ohne unmotivirten Pessimismus, so werden
Schwierigkeiten und zeitweise Enttäuschungen nicht aus-
bleiben — eine Kolonie wird nicht von heute auf morgen
geschaffen, niag man eine Ackerbaukolonie oder eine bloße
Handelskolonie im Auge haben. Geschick und Ausdauer,
vor allen Dingen auch materielle Opfer find unerläßlich;
eine Kolonie muß oft auch ihre Kinderkrankheiten durch-
machen, bis sic erstarken kann. Dennoch steht für mich
fest, daß die ostafrikanischen Gebiete einen Aufschwung
nehmen müssen. Dies wird namentlich auch von dem noch
so wenig bekannten Jnselland Madagascar gelten, über
welches wir in Europa noch sehr ungenaue Vorstellungen
besitzen. Wer das Land aus eigener Anschauung kennt, wird
kaum begreifen, warum dieses wcrthvolle Besitzthum bisher
noch so wenig gewürdigt wurde, obschon bereits gegen die Mitte
des 17. Jahrhunderts seine Kolonisation ernstlich in Angriff
genommen und seither die Versuche immer wieder erneuert
wurden. Nur die Geschichte giebt uns hierüber einen
richtigen Aufschluß, und wenn man dieselbe durchgeht, so
ist sie höchst lehrreich. Sie hat gerade in der Gegenwart
ein erhöhtes Interesse, nicht weil die Kolonisationsversuche
in Madagascar immer mustergültig waren, sondern weil
sie im Gegentheil zeigen, wie schwer sich die Mißgriffe
und Fehler bei der Kolonisation rächen können.
Es war im 15. und 16. Jahrhundert, als die see-
fahrenden Nationen Europas ihre Unternehmungen in den
indischen Gewässern anbahnten. Vasco de Gania hatte die
Südspitze von Afrika erreicht und den Seeweg nach Indien
gefunden. Da konnte die große im Südosten Afrikas
gelegene Insel nicht mehr lange verborgen bleiben. Zwar
hatte man schon durch Marco Polo Kunde von derselben
erlangt und die arabischen Handelsschiffe hatten schon längst
deren Küsten besucht, aber die eigentliche Entdeckung erfolgte
erst 1506 durch die Portugiesen. Trotz der glänzenden
Schilderungen, welche die Seefahrer von Madagascar ent-
warfen, begnügten sich dieselben, sie SanLorcnxo zu taufen;
Kolonien legten sie nicht an. Die Welt war damals noch
10*
70
Dr. C. Keller: Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
nicht vertheilt, man griff nur nach den besten Bissen, es
entstanden damals noch keine Händel wegen ein paar Jn-
selchen, der Papst hatte noch nicht als Schiedsrichter wegen
einem liliputanischen Archipelchen zu fungiren — und fo
gab man Madagascar den Holländern preis, welche sich
indessen nur vorübergehend ansiedelten, so daß mit Beginn
des 17. Jahrhunderts die Insel bereits verlassen war. Sie
blieb es bis zum Jahre 1642. Unter der Herrschaft
Lndwig'sXlll. richteten die Franzosen ihre Blicke auf dieselbe.
Das System der Kolonisation war damals ein anderes
als heute, wo die Regierungen von Anfang an einen ge-
wissen Verwaltungsapparat einsetzen und entweder eine
militärische oder eine bürgerliche Einrichtung herstellen.
Man überließ damals die Kolonisation mehr der Initiative
privater Gesellschaften, welche Ländereien für kürzere oder-
längere Dauer zugesichert erhielten und auf eigene Rech-
nung und Gefahr Kolonien gründen und nach Belieben
Vortheile ans ihren ttnternehmnngen ziehen konnten. So
bildete sich denn unter Kapitän Rigault eine französische
Gesellschaft, welcher der Kardinal Richelieu das Recht ver-
lieh, für 10 Jahre ausschließlich die Reichthümer der Insel
auszubeuten unter der Bedingung, von derselben im Namen
des Königs Besitz zu ergreifen.
Die Leitung des Unternehmens wurde einem Agenten,
einem gewissen Pronis, übertragen, welcher mit 12 Fran-
zosen im März die französische Küste verließ und im Sep-
tember in Madagascar ankam. Er setzte sich im Süden
der Insel, in Mangafia, fest und erhielt bald nachher noch
70 weitere Kolonisten. Man ging alsdann an die Er-
bauung des Fort Dauphin.
Der große Nachtheil, den eine private Gesellschaft bei
einer Kolonialunternehmung hat, beruht in dem Umstande,
daß so zu sagen alle Gewalt in den Händen eines Agenten
ruhen muß, und die Auswahl eines solchen nicht immer
mit der Umsicht geschehen kann, wie es einem staatlichen
Verbände möglich ist. Gerade für den Anfang ist große
Umsicht, Energie, aber auch humanes Wesen gegen Ange-
hörige wie Eingeborene unerläßlich. Die Gesellschaft
Rigault hatte in der Wahl ihres Agenten entschieden kein
Glück. Pronis war ein Tangenichts und roher Mensch
zugleich. Schon nach kurzer Zeit ging in dem Fort
Dauphin alles darunter und darüber. Die Kolonisten
litten Mangel und die Eingeborenen nahmen eine drohende
Haltung au. Der Madagasse ist von Natnr ein gut-
müthiger Mensch, verlangt aber vor allen Dingen eine ge-
rechte und schonende Behandlung. Welche unerhörte Treu-
losigkeit aber Pronis gegenüber den Eingeborenen beging,
beweist folgender Vorfall: Eines Tages kam der Gouver-
neur von Mauritius, Vandermester, nach Madagascar hinüber
und verlangte von Pronis eine Anzahl Sklaven für die damals
holländische Besitzung. Der herzlose Agent ließ einfach die
Madagassen, welche im Fort Dauphin arbeiteten oder
Lebensmittel brachten, aufgreifen und lud nachher die Ein-
geborenen der Umgebung in das Fort ein unter dem Vor-
wände, er wolle ihnen Geschenke an Fleisch verabreichen,
sperrte sie dann ein und ließ sie auf das holländische Schiff
bringen. Daß dieser Vorfall die Eingeborenen aufs Tiefste
empören mußte, liegt auf der Hand. Die Aufführung des
Agenten war derart, daß seine eigenen Leute revoltirten,
ihn gefangen nahmen und in Fesseln schlugen. Erst dem
Kapitän eines später ankommenden Schiffes gelang es,
ihn wieder zu befreien.
Unterdessen hatte man in Frankreich Kunde über den
Gang der Dinge in Madagascar erhalten und 1648 sandte
die Gesellschaft Flacourt ab, um den bisherigen Agenten
zu ersetzen. Flacourt war ohne Zweifel eine wackere Natur
und ein Mann von tüchtiger Bildung. Das von ihm
hinterlassene Werk über seine Erfahrungen in Madagascar
im Jahre 1661 veröffentlicht, gehört heute noch mit zu dein
Besten, was über jenes Land geschrieben wurde, und ver-
räth eine ungewöhnliche Gabe der Beobachtung. Er scheint
aber mehr Theoretiker als Praktiker gewesen zu sein und
verstand es nicht, die Eingeborenen zu gewinnen. Er ging
von dem Grundsatz ans, daß eine militärische Disciplin
und eine unerbittliche Strenge gegenüber beu Eingeborenen
am sichersten zum Ziele führe. Allein dieser Grundsatz
wird bei allen primitiven Völkern nur abstoßen, und geht
man seine Berichte durch, so kehren die fortwährenden
Klagen über die Unzuverlässigkeit der Madagassen immer
und immer wieder; er schildert seine fortwährenden Kämpfe
und Kriege und läßt in zwei Jahren 50 Dörfer zerstören.
Also immer noch permanenter Kriegszustand. So waren
die 10 Jahre der Concession abgelaufen, die Gesellschaft
Rigault hatte kein greifbares Resultat erlangt und die Ein-
geborenen verwünschten die Weißen.
In Frankreich hatte dies derart verstimmt, daß der bis-
herigen Gesellschaft keine neue Concession gegeben wurde;
es bildete sich eine andere. Sie betraute einen gewissen
Champmorgou mit der Leitung des Unternehmens in
Madagascar und dieser trat anfänglich mit den: richtigen
Takte auf, schloß mit den angesehensten Häuptlingen der
Umgebung Friedens- und Freundschaftsverträge, bei welchen
ein seit Jahren im Lande ansässiger Franzose, Namens
Lacase, gute Dienste leistete.
Unglücklicher Weise tauchte später die Idee auf, eine
möglichst schnelle Christianisirung, welche auch Flacourt
in seinem Reiseberichte empfahl, vorzunehmen. Es erschien
der Pater Etienne, ein Lazarist und fanatischer Kopf,
welcher die Bekehrungsversuche ebenso naiv wie tempera-
mentsvoll betrieb. Er hatte es zunächst auf den einfluß-
reichen Häuptling Dian-Manong abgesehen, reiste in sein
Dorf, drang in sein Hans ein, stellte ihm Himmel und
Hölle vor, warf seine Götzenbilder gleich altem Plunder
ins Feuer und wollte ihn taufen. Man braucht nicht
Madagasse zu sein, um zu begreifen, daß eine solche Hintan-
setzung aller Rücksichten auf das Hausrecht damit endigte,
daß der Diener der Kirche etwas unsanft an die Luft ge-
setzt wurde. Der Häuptling gerieth derart in Wuth, daß
er den Pater auf seinem Heimwege angriff und erwürgte.
Die unerquicklichsten kriegerischen Ereignisse waren die un-
mittelbarsten Folgen dieses Zwischenfalles, blutige Scenen
folgten, die Kolonisten hatten Unglück und wurden im Fort
Dauphin eingeschlossen.
Trotzdem schien Madagascar auf einen Schlag einer-
großen Zukunft entgegen gehen zu sollen. Unter dem
| Minister Colbert bildete sich 1664 eine große ostindische
Kompagnie mit einem Kapital von 15 Millionen Franken,
für die damalige Zeit eine ganz hübsche Summe. Diese
große ostindische Kompagnie sollte im großen Stile vor-
gehen und gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe treffen.
Sie sollte in Indien und China große Handelsoperationen
! ausführen und gleichzeitig Madagascar kolonisiren. Die
Insel lag ja auf halbem Wege nach Indien, sie konnte zur
Berproviantirung der Schiffe dienen, es ließen sich groß-
artige Handelsdepots auf derselben anlegen und nebenbei
versprachen die natürlichen Hilfsquellen des Landes reichen
Gewinn. Als Sitz der administrativen Vertretung war
Fort Dauphin ausersehen. Man fand sich mit der bis-
herigen Madagascar-Kompagnie ab. Zwar kam der Vor-
fall mit dem Pater Etienne etwas ungelegen, aber die
Beziehungen mit den Eingeborenen ließen sich ja mit
einigem Geschick wieder in das richtige Geleise bringen.
Schon 1665 ging die Vorhut der großen ostindischen
Expedition nach Madagascar ab, die Verwaltungsbeamten
Dr. C. Keller: Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
77
richteten sich in Fort Dauphin ein und nahmen mit richtigem
Takt die Beziehungen zu dem erzürnten Dian - Manong
wieder auf. Er sowohl als zahlreiche andere eingeborene
Fürsten ließen sich für diesmal noch besänftigen, glaubten
an die Ehrlichkeit der Weißen und leisteten den Eid der
Treue. Die friedliche Eroberung von Madagascar War-
ans besten Wegen, die Hauptexpedition mit dem General-
gouverneur war eingetroffen. Altes war dazu angethan,
eine sichere Etappe nach Indien zu begründen, aus Mada-
gascar eine blühende Kolonie zu schaffen, und niemals ver-
einigten sich so viele günstige Umstände zu einem gemeinsamen
Ziele. Hätte man dieses Ziel verfolgt, so hätte Frankreich
einen reichen Gewinn gezogen und die späteren Verlegen-
heiten wären ihm erspart geblieben.
Unglücklicher Weise machte sich im Schooße der ostindischen
Gesellschaft immer mehr die Anschauung geltend, man solle
das Kolonisationsprojekt in Madagascar fallen lassen und
sich aus rein commercielle Unternehmungen in dem reichen
Indien einlassen, damit keine Zersplitterung der Kräfte
erfolge. Die Regierung trat darauf ein und begnügte sich,
den Admiral La Haye als Kommandanten nach dem Fort
Dauphin zu schicken, um die französischen Interessen zu
überwachen. Dieser verfuhr als Soldat, behandelte die
Leute mit rücksichtsloser Strenge und verwickelte sich in
neue Händel mit der eingeborenen Bevölkerung. Unter der
letzteren entstand eine derartige Gährung, daß der Komman-
dant mit Rücksicht auf seine Sicherheit zur Abreise genöthigt
wurde. Die zurückgebliebenen Unterbcamten suchten fried-
liche Unterhandlungen anzubahnen, allein die Eingeborenen
erklärten, daß sie fortwährend znm Besten gehalten worden,
und schlugen jede Versöhnung aus. Sie belagerten das
Fort Dauphin, stürmten 1672 die Festung und erwürgten
sämmtliche Europäer. So hatten also die Fehler in der
Behandlung des eingeborenen Elementes, die Mißgriffe in
der Verwaltung und die Unklarheit in den zu verfolgenden
Zielen ein vollständiges Fiasko herbeigeführt. Die Kolo-
nisationsversuche waren nach der kurzen Periode von
30 Jahren gescheitert und damit auch für lange Zeit un-
möglich gemacht.
Indessen ganz ohne Früchte blieben diese Bestrebungen
nicht, wenn sie auch ein jähes und klägliches Ende nahmen.
Die Aufmerksamkeit war einmal auf jene Meeresgebiete
gerichtet worden und sowohl Pronis als Flaconrt hatten
bereits die Ostküste, dann auch die benachbarten Mascarencn-
inseln gelegentlich besucht. Als unter der Gesellschaft
Rigault eine Meuterei ausbrach , wurde ein Dutzend der
Empörer nach dem benachbarten Mascarenhas, der späteren
Insel Bourbon oder dem heutigen Rounion, in die Ver-
bannung geschickt. Die heruntergekommenen Kolonisten
fanden ein fruchtbares Land mit herrlichem Klima vor, in
welchem sie sich bald erholten. Später kamen neue Elemente
und siedelten sich zunächst an der Westküste an. Nachdem
die Holländer ihre Niederlassungen auf der Insel Mauritius
aufgegeben hatten, nahmen die Franzosen von derselben
Besitz und die beiden Inseln wurden nach und nach zu aus-
blühenden Kolonien.
Mit dem verlassenen Madagascar, in welchem sich nur
vereinzelte Abenteurer ab und zu gehalten hatten, wurde
auf dem Wege des Tauschverkehres wieder Fühlung ge-
wonnen. Mit der Zunahme der Bevölkerung von Bourbon
und Mauritius mit den immer ausgedehnteren Pflanzungen
mußte der Bedarf an Fleisch von außen bezogen werden,
da diese Inseln verhältnißmäßig wenig Weideland besitzen,
und MadagaScar mit seinen reichen Biehhcerden war die
natürliche Bezugsquelle. Es entwickelte sich jener Verkehr
mit der Ostküste, wie er heute noch von den kreolischen
Händlern geübt wird. Damit fand allerdings auch der
Alkohol in verderblicher Weise seinen Weg nach Madagascar
mit), wenn man die Berichte von Flacourt liest, welcher sich
über das Volk der Betsimisaraka außergewöhnlich günstig
ausspricht, so sieht man nur zu deutlich, wie furchtbar rasch
dieses Volk durch ihn heruntergekommen sein muß. Daß
der Handel ziemlich schwunghaft betrieben wurde, geht dar-
aus hervor, daß durch königlichen Erlas; im vorigen Jahr-
hundert den Kreolen wiederholt in Erinnerung gebracht
wurde, daß die Regierung sich ausdrücklich die Handelsrechte
an der Küste von Madagascar wahre.
Ein Jahrhundert war bereits über die traurige Kata-
strophe von Fort Dauphin hinweggegangen, als Frankreich
wiederum daran dachte, sich ans Madagascar in neue
Kolonialunternehmungen einzulassen. Hatten die Versuche
der Periode von 1642 bis 1672 nach anfänglichen Miß-
griffen schließlich einen ernsthaften Charakter angenommen,
so wurde in der neuen Periode ein anderer Weg betreten,
welcher vom eigentlichen Schwindel verzweifelt wenig ab-
wich — es begann die Aera BeniowSky. Dieser Name
ist heute noch nicht vergessen, und man weiß, daß Graf
Beniowsky eine der merkwürdigsten und abenteuerlichsten
Figuren im vorigen Jahrhundert war. Maßlos eitel und
aufgeblasen, von der Sucht besessen, stets von sich reden zu
machen, war dieser Mann andererseits wieder von einer
erstaunlichen Gewandtheit im Verkehr nicht nur mit hohen
und höchsten Personen, sondern beherrschte durch sein
fascinirendes Wesen auch primitive Menschen mit derselben
Leichtigkeit. Er ist ein seltsames Gemisch von Genie und
Aventurier. Er hat heute noch seine Vertheidiger, wenn
auch nüchterne Naturen oft schonungslos über ihn urtheilen
mußten.
Beniowsky, erst in Ungarn lebend, verwickelte sich in eine
russische Verschwörung und wurde nach Kamtschatka verbannt.
Seine Intelligenz und seine weltmännische Bildung ver-
schafften ihm dort ein erträgliches Loos, er wußte sich beim
Gouverneur einzuschmeicheln, erhielt dessen älteste Tochtcr
zur Frau und benutzte dieses außerordentliche Zutrauen, um
einen Fluchtversuch zu bewerkstelligen. Er bemächtigte sich
eines Schiffes und brannte mit seinen Geführten durch.
Ohne nautische Kenntnisse zu besitzen, gelangte er in die
chinesischen Gewässer; der Kapitän eines französischen Han-
delsschiffes nahm ihn an Bord, war aber froh, als er die
Gesellschaft auf den Mascarenen los wurde. In der Kolonie
trat er anmaßend aus und reiste bald nach Frankreich,
wohin ihm sein Ruf vorausgegangen war. In Paris, wo
man eine pikante Persönlichkeit immer mit Sympathie
aufnahm, wußte er sich zum Tagesgötzen zu machen und
hatte vielfach Beziehungen zu gonvernementalen Kreisen.
Er heckte nichts Geringeres aus, als die Idee der
Kolonisation von Madagascar und er erhielt in der That
die officielle Mission, dieses Unternehmen in Ausführung
zu bringen. Man versprach ihm 300 Mann Truppen
mitzugeben und ihm Jahr für Jahr 120 Kolonisten, ferner
Waffen, Munition und Waaren zum Tauschverkehre zu
schicken. Er bereitete sich zur Abreise vor und wenige
Stunden vor derselben übergab man ihm ein Schriftstück
zur Legitimation gegenüber dem Gouverneur von Mauritius
und Bourbon. Vorsichtiger Weise war darin die bisher
verschwiegene Klausel enthalten, daß die nöthigen Mittel
von der Administration dieser Inseln gebilligt werden müssen.
Da der Graf gegen diese Klausel Einsprache erhob, beruhigte
man ihn mit der Versicherung, der Gouverneur werde durch
eine besondere Verfügung angewiesen, die Bestrebungen
Beniowsky's zu unterstützen. Sei es aber, daß man im
Ministerium dem Landfrieden nicht traute, sei es, daß die
Sache vergessen wurde — diese Verfügung ging niemals
nach Mauritins.
78
Das Aufblühen von San Diego in Süd - Californien.
Am 22. September 1773 landete Beniowsky in Mau-
ritius. Da seine Persönlichkeit dort bereits nicht mehr ganz
unbekannt war, bereitete man ihm keineswegs einen glänzen-
den Empfang. Der Gouverneur Ternay erklärte, er sei
ohne Instruktionen von Paris und zog den Grafen mit
ausweichenden Bescheiden hin. Die Anhänger von Beniowsky
haben dieses Verhalten als kleinlichen Neid ausgelegt. Allein
wer die Verhältnisse in Bourbon und Mauritius näher
kennt, muß sofort gestehen, daß es den Kolonisten dieser
Insel, welche heute noch vielfach von Madagascar abhängig
sind, durchaus nicht gleichgültig sein konnte, was ans dieser
großen Insel unternommen wurde. Angenommen, eine
europäische Kolonie in Madagascar hätte Erfolge erlangt,
sich aber der Verwaltung von Bourbon und Mauritius
unfreundlich gegenüber gestellt, so wäre es ihr möglich
geworden, die bereits bestehenden Kreolen - Kolonien zu
lahmen oder gar zu ruiniren. Es hätte ein Gouverneur
von Madagascar ganz einfach die Viehausfuhr, die Ausfuhr
von Arbeitern und den Eintritt kreolischer Händler verbieten
können. Es war daher ganz natürlich, daß die Admini-
stration, die Händler und die Pflanzer mit aller Macht
gegen ein unabhängiges Vorgehen von Beniowsky, dessen
Geriebenheit zu fürchten war, zu stemmen begannen.
Dessenungeachtet ging derselbe nach Madagascar und
setzte sich 1774 in der großen Bucht von Antongil fest und
gründete dort an einer möglichst ungesunden Stelle die
Niederlassung Louisbourg; aber die Fieber machten seine
Leute alsbald krank. Im Verkehr mit den Eingeborenen
von einer nicht gewöhnlichen Gewandtheit, wußte er mit
den übrigens sehr gutmüthigen Küstenstämmen sich in gutes
Einvernehmen zu setzen, die Sakalaven jedoch, damals die
Beherrscher der Insel, nahmen eine feindselige Haltung an
und bedrohten die Unternehmung, wobei das Glück Beniowsky
günstig war. Nach den Schilderungen eines Augenzeugen
muß es damals an der Antongilbai originell genug aus-
gesehen haben. Die Stadt Louisbourg muß sich bei näherer
Betrachtung auf eine sehr bescheidene Anlage einiger Bauten
beschränkt haben; die Kolonisten sahen elend und zerlumpt
ans; Beniowsky war umgeben von einer Schaar phantastisch
herausgeputzter Soldaten; der Geschäftsgang soll bei der
Kontrole sehr zu wünschen übrig gelassen haben; die Ver-
waltung von Mauritius behauptete, die Mittel würden
verschleudert; Beniowsky seinerseits behauptete, seine An-
gestellten hätten ihn betrogen. Wer Recht hat, soll unent-
schieden gelassen werden; so viel ist aber sicher, daß das
ganze Unternehmen ans unsolider Basis beruhte und daher
vom Mutterlande aus auch nicht mehr unterstützt wurde.
Die Komödie war zu Ende und man verabschiedete den
Grafen mit dem wohlseilen Ehrensäbel, den man für solche
Fülle in Bereitschaft hat.
Einem Phantasten wie Beniowsky mußte aber dieses
Ende eines Abenteuers zu prosaisch vorkommen. Er wandte
sich an die Eingeborenen; eine alte Madagassin, die den
Namen Susanne erhalten, wurde gewonnen; sie mußte den
Eingeborenen die Idee beibringen, daß Beniowsky von einer-
alten fürstlichen Madagassenfalnilie abstanuue; es wurde
eine große Volksversammlung, ein madagassischer Kabar,
veranstaltet und Beniowsky znm Könige ausgerufen. Man
hat daraus folgern wollen, daß er damit ein eminentes
Meisterstück vollführte und in seltenem Grade die Gunst
der Eingeborenen erwarb. Aber man vergißt, daß das
weiße Blut in Madagascar von jeher in großem Ansehen
stand; in ähnlicher Weise hat früher ein französischer
Korporal ein Königreich begründet und noch zu Ansang
dieses Jahrhunderts war ein Mulatte König von Tamatave.
Diese Leistung ist also keineswegs staunenswerth.
Im Jahre 1776 reiste der Graf nach Frankreich, uni
sein Königreich gleichsam auf dem Präsentirteller zu über-
reichen. Aber in Paris hatte man längst einem anderen
Tagesgötzen zugejubelt und das Ministerium in Paris blieb
kühl. Nach diesem Mißerfolge wandte er sich nach Oester-
reich und England, um sein Königreich anzubieten, aber ohne
Erfolg. Es ist kaum begreiflich, daß die Vertheidiger des
Aventuriers, welche heute noch voll Bewunderung für
Beniowsky's Thaten sind, niemals eingesehen haben, daß in
diesem Schritte eine Rechtsverletzung der allergröbsten Art
vorlag. Beniowsky hatte kein Königreich in Madagascar
an eine fremde Regierung zu verschenken; es konnte ihm so
wenig als den Ministern, mit denen er unterhandelte, un-
bekannt sein, daß Frankreich sofort gegen einen derartigen
Eingriff in herkömmliche Rechte Protest erheben werde.
Der Graf wandte sich schließlich nach Amerika und kehrte
1784 nach Madagascar zurück, wo seine Haltung gegenüber
der Verwaltung in Mauritius eine feindselige wurde. Die
Kreolen verlangten energische Maßregeln; man schickte eine
kleinere Truppenabtheilung nach der Antongilbai — eine
Kugel machte dem edlen Grafen ein Ende. Damit hatte
die zweite Kolonisationsära, welche schon bei ihrem Beginne
den Stempel des Schwindels an ihrer Stirne trug, ihren
regelrechten Abschluß gefunden.
Ganz vergessen blieb Madagascar jedoch nicht. In der
Folge kamen zahlreiche Kreolen von den Mascarenen herüber
und begründeten an der Küste Handelsniederlassungen und
Pflanzungen. Dieselben blühten derart auf, daß eine be-
sondere Agentur errichtet werden mußte, welche der Ver-
waltung von Mauritius unterstellt war.
Das Aufblühen von Sau Diego in Süd-Californien.
Unter den Städten Süd-Californiens hat San Diego,
wie die dort erscheinende „Süd-California Deutsche Zeitung"
schreibt, während der letzten zwei Jahre einen wunderbaren
Aufschwung genommen. Die Bevölkerung der Stadt, welche
sich im Jahre 1870 auf 2300, in 1880 ans 2600, im
April 188,6 auf 6300 Seelen belief, beträgt jetzt nach der
im März dieses Jahres abgehaltenen Zählung über 11 300.
San Diego liegt an der Bai gleichen Namens, in der
südwestlichen Ecke von Californien, unter 32" nördlicher
Breite und 117° westlicher Länge, 480 englische Meilen
südlich von San Francisco und 15 Meilen nördlich von
der mexicanischen Grenze. Der Hasen resp. die Bai von
San Diego ist circa 14 Meilen lang (25 Quadratmeilen
Flächeninhalt) und variirt in der Breite von einer Meile
vor der Stadt bis zu 2^ Meilen gegenüber National
City, der 4 Meilen weiter südlich liegenden und an das
Stadtgebiet von San Diego fast angrenzenden Schwesterstadt.
Die Bai wird durch eine Landzunge gebildet, welche
dieselbe vom Meere trennt; die Einfahrt in dieselbe liegt
zwischen dieser Landzunge und einem hohen Vorgebirge und
ist den größten Seeschiffen zugänglich, weil selbst zur Ebbe-
zeit die Tiefe des Wassers noch 23 Fuß ans der Barre be-
trägt. Da das Wetter fast stets klar ist und das Meer
vor der Einfahrt nur einen sehr geringen Wogenschlag hat,
so ist das Einlaufen in den Hafen ein ganz gefahrloses.
Die Bai hat überall sicheren Ankergrund, keine verborgenen
»MW»
»
Das Aufblühen von San
Klippen und ist einer der wenigen natürlichen Häfen an
dieser Küste. Schiffe liegen darin vor allen Stürmen voll-
ständig geschützt, und selbst der kleinste Kahn kann beini
heftigsten Sturme ungefährdet von Ufer zu Ufer fahren.
An der langgestreckten Küste von San Francisco bis
Acapulco in Mexico giebt es außer dem vorzüglichen Hafen
von San Diego keinen zweiten von nur irgend welcher
praktischen Bedeutung, und nächst der Metropole am Gol-
denen Thore ist diese Stadt durch ihre äußerst günstige
Lage unzweifelhaft dazu berufen, die zweitgrößte Handels-
stadt an der Küste des Stillen Meeres zu werden.
Warum nun San Diego nicht schon früher zu feinem
ihm gebührenden Range in der Reihe der Städte gelangte,
hat feinen Grund darin, daß es bis vor wenigen Jahren
ganz vom Verkehre abgeschlossen war und erst feit ganz kurzer
Zeit durch eine direkte Ueberlandbahn mit dem Osten ver-
bunden worden ist. Zwar beabsichtigte man schon zu ver-
schiedenen und viel früheren Zeiten, Eisenbahnen dorthin zn
erbauen, wie die „Mcmphis-El Paso - und Pacisic-Bahn".
Nachdem diese vor mehr denn 20 Jahren zu Grabe getragen,
folgte ihr die „Texas und Pacific", von deren Fertigstellung
San Diego Großes erhoffte, und welche sie daher durch bedeu-
tende Landschenkungen unterstützte; aber außer dem Erbauen
einiger Meilen Erddämme und Nivelliren nach Fort Puma
wurde am Pacific-Ende nichts weiter gethan. Diesem Pro-
jekte folgte das der „Atlantic und Pacific", welche von
St. Louis aus nach San Diego und auch nach San Fran-
cisco eine direkte Verbindung Herstellen wollte, welcher aber
bald das Geld zum Bauen ausging. Endlich erschien der
Retter in der Noth! Die „Atchisou-, Topeka- und Santa
Fe", deren Eisenbahnnetz schon von Missouri über Kansas
und Colorado bis nach New Mexico reichte, beschloß ihren
Endpunkt bis an das Stille Meer vorzuschieben, und erkor
San Diego als ihren Port. Bei Ausführung dieses Vor-
habens wurden der Gesellschaft jedoch viele Hindernisse in
den Weg gelegt, so daß es erst im November 1885 gelang,
San Diego direkt mit dem Osten zn verbinden. Im
Jahre 1881 war es dieser Gesellschaft nun gelungen, eine
126 Meilen lange Linie unter dem Namen „California
Southern" von Colton, an der von San Francisco nach
New Orleans führenden Southern Pacisic-Bahn, bis San
Diego zu erbauen.
Bis zu der Zeit war die Stadt von allem Verkehr fast
ganz abgeschlossen und stand auf dem Landwege nur durch
elende Stagekutschcn mit Santa Ana, auf der Route nach
Los Angeles, in Verbindung, während zn Wasser es sich
wegen Mangel an Transit-Handel für die großen, zwischen
San Francisco und Central-Amerika laufenden Dampf-
schiffe nicht lohnte, in San Diego einzulaufen. Deshalb
beschränkte sich der Seeverkehr nur auf die Dampfer der
süd-californischen Küstenlinie, welche den Verkehr mit der
Außenwelt herstellte.
Heute steht aber San Diego zn Lande mit Kansas City
(Missouri) und Los Angeles durch zwei tägliche Züge in
Verbindung. Verschiedene neue Bahnen sind zur Zeit im
Bau begriffen, nämlich von Santa Ana nach San Diego
sowohl durch die Atchison-, Topeka- und Sante Fe, als auch
die Southern Pacific, ferner die „San Diego Central".
In Kürze wird auch eine 150 Meilen lange Bahn von
Puente, einer Station in der Nähe von Colton, über South
Riverside, Niagara und Elsinore nach San Diego erbaut,
welche die „Los Angeles-, Niagara- und San Dicgo-Eisen-
bahn" genannt wird, sowie noch vor dem Herbst mit dem
Bau einer Bahn von San Diego über Ensenada nach der
Bai von San Quentin (Mexico) begonnen werden soll.
Zur See hat San Diego alle vier Tage per Dampfer der
Pacisic-Küsten-Dampser-Linie Verbindung mitSan Francisco,
Diego in Süd-Califormen. 79
sowie zweitägig mit Ensenada in Mexico; ferner werden in
Kürze eine Dampferlinie nach den Häfen in Central-Amerika
ihre Fahrten beginnen und wahrscheinlich die großen Dampfer
der Panama-San-Francisco-Linie dort einlaufen.
Die Bai von San Diego liegt der Westküste von Mexico,
Central- und Süd-Amerika 500 englische Meilen näher als
San Francisco; Australien, Neu-Seeland und die Südsee-
infeln haben eine kürzere Entfernung von 300 Meilen, und
China und Japan von 100 Meilen. Die Ueberland-Ent-
fernung nach New Pork ist fast 500 Meilen kürzer als
dorthin von San Francisco, welches jetzt allen Handel mit
diesen überseeischen Ländern von der Pacific-Küste aus be-
treibt. Die Atchison-Gesellschaft, welche sehr reich und eine
der bedeutendsten Eisenbahn-Gesellschaften in den Vereinigten
Staaten ist, wird gewiß versuchen, wenigstens einen Theil
des Handels mit besagten Ländern dorthin zn leiten, denn
cs ist kaum anzunehmen, das diese Gesellschaft ans anderen
Gründen San Diego als den westlichen Ausgangshafen
ihrer Transkontinental-Linie auserwählt hat.
Während nun San Diego bis vor wenigen Jahren ein
fast verschollener Platz war, hat sich das Bild desselben im
Lauf des letzten Jahres gewaltig verändert. Mit der Fertig-
stellung der Ueberlandbahn war diese Stadt erst im Stande,
ihr Haupt-Produkt, nämlich ihr Klima, in den Markt zn
bringen, denn es giebt auf dem weiten nordamerikanischen
Kontinente keine andere Stadt, wo dasselbe das ganze Jahr
hindurch so vorzüglich wie dort ist. Dieses wunderschöne
Klima ist das eigentliche Großkapital von San Diego und
hat im letzten Sommer und Winter Tausende aus den öst-
lichen Unionsstaaten dorthin gelockt, um sich vor großer Hitze
und Schneestürmen zu flüchten. In sanitärer Beziehung
wird San Diego von keiner Stadt auf dem Erdenrunde
übertroffen, weshalb Tausende dorthin strömen, theils um
dauernd dort zu leben, theils um Genesung zn suchen.
Folgende Zahlen geben die Durchschnittstemperatur von
San Diego für jeden Monat im Jahre und zwar für
die wärmste Tageszeit, d. i. um 5 Minuten vor 2 Uhr des
Nachmittags, von der „United States Signal Service“
in der Stadt angegeben: im Januar 64", Februar 59°, März
62», April 65», Mai 65», Juni 57», Juli 74», August 74»,
September 70», Oktober 68», November 66», December
60» Fahrenheit. Die mittlere Temperatur für die Frühlings-
monate beträgt 60», für den Sommer 68», für den Herbst
63» und für den Winter 54» Fahrenheit.
Der Negenfall in San Diego beträgt durchschnittlich
10 Zoll im Jahre. Der geringste, den man für ein Jahr
verzeichnet hat, betrug 23/s Zoll und der höchste 17 Zoll.
Daraus ergiebt sich, daß die Stadt eine gesunde und trockene
Atmosphäre hat. Man hat keinen plötzlichen Temperatur-
wechsel; dieselben Kleider genügen für Sommer wie Winter,
und die Abende im Freien bieten den höchsten Genuß.
Als Kurort steht San Diego ohne Gleichen da, und
wenn cs schwächlichen und kränklichen Naturen nicht gelingt,
unter diesem sonnigen, ewig blauen Himmel und bei den
erfrischenden Seewinden zu gesunden, dann dürfte die Welt
für sie verschlossen sein. Die Bai und der nahe Mccreö-
strand bieten den besten Badegrund von reinstem Sande,
die Temperatur des Seewassers ist fast stets dieselbe wie
die der Luft, und deshalb beinahe das ganze Jahr hindurch
zum Baden zu benutzen.
Während vor wenigen Jahren die Bevölkerung der Stadt
sich noch hauptsächlich ans dem spanisch-mexikanischen Ele-
mente rekrutirte und einen dem entsprechenden Charakter-
trug, ist heute dieser Typus schon ganz in den Hintergrund
getreten. In erster Linie stehen heute die Amerikaner oben
an, denen sich die Deutschen und Irländer zunächst anreihen.
Das Stadtgebiet von San Diego nimmt einen Flächen-
80
Aus allen Erdtheilen.
raum von 43 0O0 Acres ein, wovon 1 400 Acres, inmitten
der Stadtgrenzen, für einen öffentlichen Park reservirt find.
Vermöge seiner günstigen Lage ans einem sich gegen den
Hafen sanft abhebenden wellenförmigen Terrain genießt man
von den meisten Punkten ans nicht nur eine prachtvolle
Aussicht auf die reizend gelegene Bai und die das Westyfer
derselben bildende Landzunge, welche die Scheidewand vom
Stillen Ocean herstellt, sondern auch noch darüber hinweg,
ans das Meer selbst und die dasselbe begrenzenden Höhen-
züge und Gebirgsketten, wie auch der auf Point Loma am
Eingänge zur Bai errichtete Leuchtthurm (450 Fuß hoch
und der zweithöchste auf der Erde) eine große Anziehungs-
kraft ausübt.
Die Auslegung der Stadt ist quadratmäßig rechtwinkelig
mit Straßen von 80 bis 100 Fuß Breite, wovon die im
Gcschäftstheile von Norden nach Süden laufenden numerirt
und die dieselben kreuzenden alphabetisch geordnet sind. Der
Plan der Auslegung der Stadt ist für die Aufnahme von
wenigstens einer halben Million Menschen berechnet und
umfaßt einen Raum von 10 englischen Quadratmeilen.
Was an städtischen Einrichtungen zum Nutzen, Gedeihen
und zur Annehmlichkeit der Bewohner gethan werden konnte,
wurde nicht unterlassen, und haben dieselben mit dem Wachs-
thume der Stadt gleichen Schritt gehalten. Die Stadt
besitzt eine freie Bibliothek, organisirte Feuerwehr, Gas-
und elektrische Beleuchtung, ausgedehnte Telephonverbin-
dungen, eine gute Wasserleitung und wird in Kürze mit
dem Ban der Kanalisation (Sonors) begonnen werden,
wofür 400 000 Dollar verausgabt werden sollen. Wenn
man des Abends die Hanptgcschäftsgegcnd, die Fünfte Straße,
durchwandert und das Leben und Treiben in derselben be-
obachtet, dann kommt man in die Versuchung, zu glauben,
man befinde sich in einer der Hauptgeschäftsstraßen einer
Stadt von mindestens der dreifachen Bevölkerung, wie sie
San Diego zu verzeichnen hat. Die Stadt hat gute Volks-
schulen, sowie höhere Bildungsanstalten; zwei Theater, ver-
schiedene Fabriken und viele Hotels, wovon einige eine Zierde
der Stadt sind.
An Verkehrsmitteln ist kein Mangel, denn außer den
verschiedenen Pferdebahnen wird zur Zeit an der Vollendung
einer Dampfstraßenbahn mit voller Kraft gearbeitet, welche
National City und Otay mit San Diego verbinden wird.
Mit dem Ban von zwei elektrischen Bahnen wird in Kürze
begonnen werden, sowie auch eines „Dry Docks“ und
„Marine Railway“ (Trockendocks) und großen Central-
Bahnhofgebündes. Die Bundesregierung hat San Diego
zum Hafenplatz für den Eingang von zollpflichtigen Waaren
bestimmt und demgemäß ein Zollamt hier errichtet.
Unter den verschiedenen religiösen Gemeinden befinden
sich auch eine deutsche Methodisten- und eine evangelisch-
reformirte Gemeinde. Logen und Vereine sind zahlreich
vertreten und steht unter den letzteren als Repräsentant
des Deutschthnms der San Diego-Turnverein oben an.
Folgende Zeitungen erscheinen dort: „8an Diego Union“
und „The Bee“, sowie seit Kurzem „The Daily News“
(Morgenblätter), „The Daily Sun“ und „The Daily San
Diegan“ (Abendblätter), „Golden Era Magazine“ und
„Semi Tropic Planier“ (monatlich), sowie die „Süd-
California Deutsche Zeitung“ (wöchentlich).
Die Zukunft der Stadt ist eine glänzende und wird sich
die Einwohnerzahl jedenfalls von Jahr zu Jahr verdoppeln.
San Diego wird ohne Zweifel eine Großstadt und be-
deutender Mittelpunkt des Handels werden. Die Bai und
der an der östlichen Grenze des Countys entlang laufende
und für Dampfer fahrbare Colorado-Fluß, sowie die ver-
schiedenen Eisenbahnen bieten der Stadt ausgezeichnete
Transportwege zu Wasser und zu Lande. Das County
enthält 15 000 Quadratmeilen Land, welches zum Anbau
von Weizen, Gerste, Hafer, Kartoffeln, Gemüse, Orangen,
Citronen, Oliven, Wein, Rosinen, Birnen, Pflaumen, Aepseln,
Kirschen, Wallnüssen, allen Arten Beeren u. s. w., sowie
für Schaf- und Bienenzucht ausgezeichnet ist.
Aus allen
A s i e n.
— Wie langsam sich der Orient verändert, wie fest er
an mancher alten Sitte hält, dafür finden wir in Gnthe's
„Palästina in Wort und Bild" einige interessante Beispiele,
zunächst in einem Hochzcitsbranche der lateinischen
Christen in Sidon (Bd. II, S. 66). Die Braut wird
von allen geladenen Männern und Frauen zu beut Hanse
des Bräutigams geleitet, und in den Straßen, die der Zug
berührt, sprengt man als freundliche Begrüßung Orangen-
wasser ans die Theilnehmer. Aber nur zögernd darf sich die
Braut ihrer zukünftigen Wohnung nähern; lilehr als einmal
setzt sie den Fuß, wenn sie zwei Schritte vorwärts gethan hat,
wieder zurück und stößt dabei einen lauten Seufzer aus, als
ob sie das nahe Ziel nicht herbei wünsche, sondern fürchte.
Sobald sie die Thür des Hauses erreicht hat, klebt sie eine
Hand voll Teig und einen Granatapfel darüber. Jeder übt
gewissenhaft diesen Brauch, aber Niemand vermag ihn zu
deuten. Ulis ist die Verwendung der Granate sofort ver-
ständlich: dieser Apfel, das Symbol der Fruchtbarkeit, war
der lebengebenden Astarte heilig. — Aehnliches hat sich im
Libanon erhalten (I, S. 504; II, S. 24). Etwa eine Stunde
E r d t h e i l e n.
vom Dorfe Rndschar am südlichen Abhange des Hermon
stehen nahe bei einander vier oder fünf große Bäume, die
von den nusairischen Einwohnern „Schadscharat el- Aschara"
oder „Bäume der Aschara", d. h. der semitischen Göttin und
Genossin des Baal, genannt werden und zu der Gattung der
in Syrien nur selten vorkommenden Acacia alhida gehören.
Auch die Muslimen halten diese Bänme heilig. Daß unter
Aschara wirklich eine Göttin zu verstehen ist, beweist eine
andere Aussage der Einwohner von Radschar, wonach jene
Bäume „lis-Sitt il-Kebiri", „der großen Frau", gehören.
Eine zweite Gruppe solcher Bäume findet sich in der Nähe
des ans Befehl des Kaisers Konstantin zerstörten Vcnnstempels
beim Dorfe Afka, an dessen Stelle ursprünglich ein Heiligthum
der phönikischen Astarte gestanden hatte. Diese „Sitt el-Kebiri"
oder „große Frau" findet man überall im Libanon wieder.
Die Einwohner, selbst Christen, weihen ihr noch Gelübde
und hängen als deren Zeichen Tücher, Lappen und Lampen
au den Bäumen ans, die ihr geheiligt sind. Das sind Reste
des alten Dienstes der weiblichen Göttin, die neben dem Baal
angebetet und unter verschiedenen Namen (bei den Phönikicrn
Astarte, Baalat oder Baaltis, im südlichen Kanaan Aschcra)
bei den Völkern Syriens verehrt wurde.
Inhalt: Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien. XIII. (Mit sechs Abbildungen.)-— Otto Genest: Kapitän Jacobsen's
Besuch bei den Koreanern. II. (Schluß.) — Dr. C. Keller: Die Kolonisationsversuche in Madagascar. I. — Das Aufblühen
von San Diego in Süd-Californicn. — Aus allen Erdtheilen: Asien. (Schluß der Redaction am 15. Juli 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berli», S. W. Lindenstraße 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Mit besonderer Herürksrchtigung der Antbropologie und Ethnologie.
B e g r ü n d e t von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
XIV.
Am nächsten Morgen ivurden alle Sachen zusammen-
gepackt, was kein kleines Geschäft war, und dann verließen
die Reisenden Hai'dra, um aus der alten Römerstraße,
welche einst Carthago mit Theveste verband, sich nach Kef
zu begeben. Bald begegneten sie einem ganzen Zuge von
Fuhrleuten, vor denen zwei Europäer ritten, Ingenieure,
welche zwischen Tebessa und Gassa in Hinsicht ans zukünftig
zu erbauende Eisenbahnen Terrainstndien machten. Weiter-
Dcr Zollbeamte von Haidra.
hin trafen sie auf einen alten Mann, der eine hellgelbe
Gandura (ärmelloses Hemd) und in der Hand einen großen
Rohrstock trug und auf einem Maulthiere ritt; hinter ihm
ein Diener, der mit den Beinen seinem Esel gemächlich an
die Flanken trommelte. Bon ihnen erfuhr man, daß der
Glvbus LII. Nr. 6.
(Nach einer Skizze Saladin's.)
Steueraufseher von Hai'dra nach einem anderen, nicht so
weit von Tunis entfernten Posten versetzt worden war, wo-
nach er schon längst sehnliches Verlangen trug, und daß der
Greis in der Gandura sein Nachfolger sei.
Zu beiden Seiten der Straße liegen meist zerbrochene
11
82
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
Meilensteine, mitunter drei bis vier an derselben Stelle,
von denen einer die Zeit der Erbauung der Römerstraße,
die anderen die der jedesmaligen Ausbesserung angaben.
Es sind große, bis 3 in hohe Cylinder, die nicht in die
Erde selbst, sondern in steinerne am Boden befestigte
Rahmen eingelassen waren und jetzt meist umgestürzt.sind,
wodurch es öfters unmöglich gemacht ist, ihre Inschriften
zu lesen; denn es fehlte den Reisenden an Werkzeugen, um
die schweren Steine umzudrehen.
Etwa nach einer Stunde Reitens gelangte man auf
eine mit buschigem Grase! bedeckte Ebene, auf welcher die
Hunde alle Augenblicke ein Stück Wild aufjagten. Die
Reisenden, welche ringsum keine Ruinen erblickten, die ihre
Thätigkeit hätten in Anspruch nehmen können, gingen also
der Jagd nach; kaum aber war der Erste abgestiegen und
gab den ersten Schuß ab, als sein Pferd im Galopp davon-
jagte. Zwei Diener eilten ihm nach, aber alle verschwan-
den bald hinter den nächsten Anhöhen. Als man nun
überlegte, was zu thun sei, stellte es sich heraus, daß das
entlaufene Thier von einem Bewohner des Fleckens Thala,
der etwa 20 km östlich von Haidra liegt, gekauft war,
daß es die Richtung nach dieser seiner alten Heimath ein-
geschlagen habe, und daß es darum das Beste sei, ihm zu
folgen und die nächste Nacht in Thala Station zu machen.
Man überschritt also zuerst den Wed Haidra, dann eine Reihe
niedriger Wellenhügel, die Gerstenfelder trugen, und erreichte
bald das Ziel, wo sich das ganz mit Schweiß und Schaum
bedeckte Pferd und seine beiden Verfolger richtig vorfanden.
Theater in Medeina. (Nach einer Skizze Saladin s.)
Thala (1017 m) ist eine antike Ortslage, welche ihren
Namen unverändert aus dem Alterthum in die Jetztzeit
hinübergerettet hat; doch ist es nicht jene Stadt, in welcher
Jugurtha der Erzählung Sallust's zufolge seine Schätze
aufbewahrte, und welche weiter im Süden des Landes zu
suchen ist. Dieses Thala spielt vielmehr eine Rolle unter
Kaiser Tiberius; die Römer hatten dort einen Militärposten
errichtet und sümpften hier gegen den Rebellen Tacfarinas,
jenen großen Feind der Römerherrschaft im damaligen
Afrika. Die ziemlich niedrigen und wie stets verfallenen
Häuser des heutigen Ortes stehen zu beiden Seiten einer
gepflasterten Straße, welche sich im Grunde eines kleinen,
vom Dschebel Schar herabkommenden Thales hinzieht. Kaum
zwei oder drei sind besser gebaut als die übrigen, und selbst
das des Kald, in welchem die Reisenden übernachteten, war
schlecht im Stande gehalten und starrte von Schmutz. Die
alte Stadt war viel größer, als die jetzige, denn ihre
Ruinen umgaben letztere von allen Seiten, und mit
Wasser war sie vortrefflich versehen: die Quelle mitten in
Thala ist eine der schönsten in ganz Tunesien und trotz der
grenzenlosen Vernachlässigung und Verunreinigung durch
j die Araber noch immer von bemerkenswerther Klarheit.
! Der Suk oder Bazar des Ortes, welcher die beiden Haupt-
straßen einnimmt, genießt eines gewissen Zinses und ist auch
verhältnißmäßig gut versehen; die Reisenden konnten dort
Kaffee, Zucker, Datteln, getrocknete Trauben und selbst einen
Spiegel einkaufen.
Der Weg, welcher von dort nach Medeina führt, ist
ziemlich einförmig; zuerst passirt man ein großes Gebüsch
j von Feigenbäumen, in dessen Mitte sich einst der Bordsch
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
88
des Kaid-el-Arbi erhob, der aber heute schon viel mehr ver-
fallen ist, als die umliegenden Römerbauten. Dann steigt
man in eine weite, angebaute Ebene hinab, welche sich bis
an den Fuß des 1268 m hohen Dschebel Bu-Hanesch, des
„Vaters der Schlangen", ausdehnt, umgeht denselben an
seiner Westseite, wo das Land unangebaut und fast vegeta-
tionslos ist, und erreicht endlich das ziemlich fruchtbare Thal
des Wed-el-Hallus, wo man die Nacht lagerte. Am näch-
sten Morgen ging es, soweit es die Gestaltung des Bodens
erlaubte, in gerader Linie weiter nach Norden, resp. Nord-
osten vorbei am 1070 m hohen Kes Gurraia; dicMarabnts
von Sidi-Barsata, die fast den Einsturz drohen, blieben
etwas zur Linken, dann zeigte sich etwa 2 km vor den
Ruinen von Medeina auf einem Hügel links vom Wege
ein einzelner Dolmen, wie sie auch in der Umgegend von
Thala, besonders aber im Centrum der Regentschaft, zwi-
schen Medeina und Keruan, vorkommen, einem bergigen
Gebiete, wo das eingeborene Element festen Fuß behalten,
den Eindringlingen widerstehen und selbst nach der Erobe-
rung seine Ueberlieferungen bewahren konnte.
Medeina ist das antike Tltllidurus, von welchem die
Geschichte absolut nichts zu melden weiß; auch die dort ge-
fundenen Inschriften sind in dieser Hinsicht inhaltsleer.
Die interessanteste unter denselben ist eine dem Baal ge-
weihte, punische, welche in einem arabischen Hause an einer-
schwer zugänglichen Stelle eingemauert war, von dem ver-
storbenen Straßburger Professor Willmanns aufgefunden und
später von dessen Führer Malaspina, einem wenig chren-
Triumphbogen in Medeina. (Zeichnung H. Saladin's nach der Natur.)
werthen und jetzt ganz heruntergekommenen Italiener, an
die Antikensammlung des Louvre verkauft wurde.
Die Ruinen von TltllUmrus liegen in einem ziemlich
engen Thäte am Zusammenflüsse zweier Bäche, welche den
Wed Medeina bilden; dieser, durch zahlreiche kleine Zuflüsse
verstärkt, fällt in den Wed Melleg. In Folge der guten
Bewässerung ist der Boden dort sehr fruchtbar und es
giebt dort schöne Gärten; der ganze Thalgrnnd und selbst
die Abhänge der umgebenden Hügel sind mit üppigen
Gerstenfeldern bedeckt, auf denen das Auge im Frühjahr
mit Vergnügen weilt. Leider sind die dortigen Einwohner-
wenig gastfreundlich, diebisch und selbst gegen ihren Kaid
ungehorsam, so daß der Civilcontroleur in Kes, M. Roy,
scharfe Saiten gegen sie hat aufziehen müssen, um sie
etwas zur Vernunft zu bringen.
Der größte Theil der Ruinen liegt auf dem rechten Ufer
des Wed Medeina; die bedeutendste gehört einem Theater
an, welches etwa 60 m im Durchmesser mißt; die Scene
ist etwa 36 m breit und 10 m tief. Leider ist das ganze
Bauwerk fast bis zur Höhe der Arkaden des Erdgeschosses
mit Erde und Schutt überdeckt; einige der am wenigsten
verschütteten haben die Araber an der einen Seite mit
Aesten geschlossen und benutzen sie als Viehställe. Aber
da sie sich nicht die Mühe nehmen, den Mist herauszn-
rüumen, so werden die Räume in wenigen Jahren voll-
kommen verstopft und ausgefüllt sein. Das obere Stock-
werk des Theaters ist zu zwei Dritteln schon herabgestürzt,
aber im Inneren sind noch einige der Stufen an ihrer
Stelle — kurz das Gebäude ist so weit erhalten, daß man
sich leicht eine Vorstellung davon machen kann, wie es
11*
84
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
einst ausgesehen haben muß. Leider ist es viel schwieriger,
sich von den dort aufgeführten Lustspielen und Tragödien
einen Begriff zu machen; diese ganze dramatische Litteratur
der Provinz ist für immer verloren.
Unweit des Theaters liegt der Tempel, dessen Porticus
von vier korinthischen Säulen ebenso wie die Hintere Cella-
Mauer vollständig zusammengestürzt ist, während die Thür
noch ziemlich gut erhalten ist. Der aus später Zeit her-
rührende Triumphbogen ist von ziemlich roher Banart, bietet
aber ein hübsches Bild dar am Eingänge zu den Ruinen.
Ans dem Hügel tut Westen der Stadt steht ein kleines
Denkmal in Tempelform mit einer kleinen viereckigen Apsis
und einer setzt verschwundenen Säulenhalle, welches die
Araber Ksar Ben Annun nennen; man hält es gewöhnlich
für ein Mausoleum, doch ist es wahrscheinlich ein wirkliches
Tempelchen, denn vor der Thür liegt noch jetzt ein ge-
waltiges Fnßgestell, welches eine Weihung an den Silvanus
trägt und nicht dorthin verschleppt sein kann. Die Reisenden
waren in guter Gesellschaft da hinaufgestiegen: Si Ehader,
der Katd der Wartan, die südöstlich von Medetna sitzen,
hatte von ihrer Ankunft gehört und war, um M. Roy, der
sie warm empfohlen hatte, eine Freude zu bereiten, mit
einer Anzahl gut berittener Scheichs zu ihrer Begrüßung
herbeigekommen. Er hatte sein Zelt neben dem ihrigen
aufschlagen lassen und begleitete sie nun, damit sie nicht
ihre Arbeiten zu unterbrechen brauchten, durch die Ruinen,
so schwer es ihm auch siel, in seinen dünnen, rothledernen
Stiefeln durch die Felder und über Felsen und Trümmer
sich durchzuarbeiten. Ueber seine Untergebenen führte er
heftige Klage und bat die Reisenden, allen ihnen begegnenden
bürgerlichen und militärischen Beamten gegenüber ihn
rühmend zu erwähnen; dann zog er sich zurück, um die
Fremden ihre Tagesarbeit vollenden zu lassen, indein er
ihnen versprach, sie am nächsten Tage nach den Dörfern
Araber bringen den Reisenden Knskns. (Nach einer Skizze Saladin's.)
Ksur und Ebba zu begleiten. Bald darauf erschienen
gravitätisch einige Araber im Lager, und Chader, bcscheideil
die Angen niederschlagend, erklärte, daß es seine Diener
seien, welche die Abendmahlzeit brächten. In seinen langen
Burnus gehüllt, hielt jeder der Leute in der einen Hand
eine Schüssel, in welcher, reichlich mit verschiedenen Ge-
würzen und Oel übergössen, Stückchen Hühnerfleisch, Hammel-
rippchen und allerlei Gemüse schwammen; zuletzt erschien
der übliche Knskns. Wie diese Gestalten so in der Dämme-
rung voll Würde und edlen Anstandes dahinschritten, hätte
man sie für fremde Gesandte, die kostbare Geschenke über-
bringen, halten können.
Am nächsten Morgen wurden die Reisenden schon bei
Tagesanbruch durch Tamburin und Oboe geweckt, die vom
Zelte des Katd herübertönten, der zu Ehren der Reisenden
ein Fest veranstalten wollte. Rings herum standen die
Pferde des Katd und der Scheichs, mit bunten Schabracken
geschmückt, die Kopf, Rücken und Kruppe bedeckten und auf
beiden Seiten bis zur halben Höhe der Beine herabreichten.
Dieselben erinnern an den Pferdeschmuck des Mittelalters,
sind von Seide, halb grün, halb roth oder halb gelb, halb
blau und tragen an den Zipfeln kleine Schellen. Das
Zamnzcng ist mit Gold gestickt und nimmt sich trotz seiner
Abgenutztheit schön aus. Natürlich ist das Pferd des Katd
besser im Staude und reicher angeschirrt, als die übrigen.
Als die Reisenden erschienen, bestieg letzterer sein Thier
und schickte sich mit demselben zu einem durchaus charak-
teristischen Tanze an. Zwei Araber traten vor ihn hin
und spielten ans Oboe und Tamburin einen einförmigen
Rythmns, ans ein paar mehrfach wiederholten Tönen
bestehend, auf welche jedesmal als Abschluß zwei Tamburin-
schlüge folgten. In dem Augenblicke, als die Melodie,
wenn man das Geräusch so nennen darf, begann, hob der
Katd sein Pferd am Zügel auf, so daß es sich leicht auf
die Hinterbeine stellte, dann sich aus die Vorderfüße fallen
ließ, wieder bäumte und so fort, bis Musiker, Reiter und
Reitertanz in Medeïna.
(Nach einer Skizze Saladin's.)
.Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
86
Cagnnt's und Saladin's Reisen in Tunesien.
Pferd müde waren, was bei dem immer schneller werdenden
Tempo der Musik nicht lange auf sich warten ließ, so daß
das Thier kaum Zeit behielt, mit den Vorderfüßen den Erd-
boden zu berühren.
Als auch die Scheichs in gleicher Weise ihre Künste
gezeigt hatten, wurde von Medeïna nach dem 9 km in
östlicher Richtung entfernten Ksur aufgebrochen: voran auf
Eseln die Musikanten, dann die Reisenden, deren Thiere
durch den ungewohnten Lärm aufgeregt waren und nicht
mehr den für Archäologen geziemenden langsamen Schritt
inne halten wollten, dann der Kaïd mit seinem Gefolge,
das nicht müde wurde, seine Reiterkünste im Jagen,
Springen über Gebüsche und Gräben und in beliebtem
Fantasia-Reiten mit dem dazu gehörigen Flintengcknalle
zu zeigen.
Ksnr ist ein kleines Dorf am (Düdrande der weiten
Ebene Bled Znarin, mit schlechten Häusern, aber frucht-
baren Gärten, welche dem Ganzen doch ein frcnndliches
Aussehen verleihen. Allwöchentlich findet dort ein großer
Suk (Markt), einer der bedeutendsten in der ganzen Regent-
schaft, statt, zu welchem alle
Araber der Umgegend zusammen-
strömen; der Pächter der von
den Marktbesnchern zu erhebenden
Steuern zahlt dem Schatze dafür
fährt ich 25 000 Piaster oder un-
gefähr 12 400 Mark.
Beim Suchen nach Antiquitä-
ten stießen die Reisenden hier ans
Reste der vorrömischen Zeit: in
dem Boden ausgehöhlte Grotten,
welche fetzt mit Mist fast vollge-
stopft sind, ein konisches Pilaster-
kapital, welches noch Spuren
rother Bemalung aufweist und
einer ganz eigenen Kunstrichtung
angehört, und schließlich aus ly-
bischc Inschriften, welche in die
Häuser vermauert waren.
Saladin benutzte hier die Ge-
legenheit, von der Tracht einer-
arabischen Frau eine Aquarelle
zu entwerfen; auf Befehl des Kaïd
hatte sie ihren ohnehin durchsichti-
gen Schleier entfernt, so daß es den
Reisenden möglichwar, ihrenKopf-
putz und ihr Feiertagsgcwand genau im Einzelnen zu mustern.
Das braune, schwarz und weiß gestreifte Obergewand ließ
den oberen Theil des Untergewandes sehen, eines langen,
halb gelben, halb rothen Hemdes, dessen Halsausschnitt mit
Stickereien und Goldborten bedeckt war. Die in Zöpfe ge-
flochtenen Haare hängen zu beiden Seiten des Gesichtes
ziemlich weit herab, und eine kegelförmige Mütze von ge-
sticktem Sammet sitzt auf dem Haupte, festgehalten von einer
Art Turban, der aus einem Tuche von roth-grün-gelber
Seide besteht. Eine Reihe von Goldstücken dient als Stirn-
band, Ohrringe und Ketten, an denen handförmige Zierrathe,
sogenannte Fatma-Hände, hängen, rahmen das Gesicht ein,
und der Haupt und Schultern bedeckende Schleier ist von
Goldbrochen, die durch eben solche Ketten verbunden werden,
an deni Obcrgewandc befestigt. Diese Tracht ist in der
That kleidsam und zierlich und steht einem hübschen Gesichte
ganz vortrefflich.
Um 2 Uhr brachen die Reisenden nach dem nächsten
Dorfe Ebba auf, welches ebenso weit (9 km) in nordwest-
licher Richtung von Ksur entfernt ist, als dieses in östlicher
von Medeïna; die gerade Entfernung Ebbas von letzterem
dagegen kaum 6 km in nördlicher Richtung. Heute ist
Ebba sehr herabgekommen und menschenleer, aber das muß
früher anders gewesen sein, da arabische Schriftsteller, wie
el Bekri und Äbn Hankal, rühmend von ihm sprechen. Aber
der Safran und die Datteln, welche nach ihrer Angabe dort
in Fülle gedeihen sollen, sind verschwunden, ebenso die Lehm-
mauer, von welcher es einst umgeben war, und ob die
Lebensmittel dort noch immer besonders billig sind, konnten
die Reisenden nicht feststellen, da in dem Flecken kein einziger
Laden vorhanden war. Nur die Quelle, welche Jbn Hankal
erwähnt, sprudelt noch reichlich in ein ans antiken Ban-
trümmern errichtetes Becken, das aber nach der leidigen
Gewohnheit des Landes arg verunreinigt ist. Der Araber,
dem seine Religion Reinlichkeit zur Pflicht macht, findet
nichts Anstößiges darin, dicht neben einer Stelle, wo eben
Frauen Wüsche gereinigt oder Glaubensgenossen ihre Ab-
waschungen verrichtet haben, selbst zil trinken oder sein
Pferd saufen zu lassen. Alle Vorstellungen gegen solche
Unsitte haben bisher nichts gefruchtet; vielleicht daß der
wachsende französische Einfluß darin etwas Wandel schafft.
Von alten Bauwerken hat sich
in Ebba so gut wie nichts er-
halten, nur einzelne Architektur-
stücke, darunter ein Thürsturz, der
zwischen zwei Halbmonden eine
strahlende Sonnenscheibe, beides
phönikische Embleme, aber außer-
dem noch zwei Lotusblumen, d. h.
ein ägyptisches Motiv, zeigt; letzte-
res kehrte auch ans einem Gesims-
trümmer in den Ruinen der alten
Stadt wieder. Es ist das ein
Beweis mehr für den Einfluß,
welchen Aegypten auf die phöni-
kische Kunst ausgeübt hat.
Im Gespräche mit dem Katd
erfuhren, die Gelehrten hier, daß
man von Ebba aus über das fran-
zösische Lager bei Suk el-Dschema
leicht das etwa 50 km nordöstlich
gelegene Dorf Dshama, die
Stätte des antiken Zama, wo sich
Carthagos Geschick erfüllte, be-
suchen könnte, und so beschlossen
sie sofort, den größten Theil ihres
Gepäcks in Ebba unter der Ob-
hut des Kaid zurückzulassen, jene historisch so merkwürdige
und erst in jüngster Zeit aufgefundene und identificirte
Stätte zu besuchen und nach einigen Tagen zurückzukehren.
Ihr Weg führte sie zunächst wieder nach Ksnr zurück,
wo gerade Markttag war und lebhaftes Treiben herrschte,
und trat dann in die Berge, welche, je weiter man kam,
desto höher wurden. Der Pflanzenwuchs, den sie tragen,
ist nicht gerade üppig, aber trotzdem ist die Gegend nicht
so kahl und öde, wie so häufig tunesische Landschaften.
Fichten, Wachholder und andere harzige Pflanzen faßten
den Weg zu beiden Seiten ein und verbreiteten in der heißen
Sonne aromatischen Duft. Die Duars, bei welchen man
ab und zu vorbei kam, lagen wie ausgestorben da; denn die
Männer befanden sich sämmtlich auf dem Markte und die
Weiber hielten sich versteckt, bis die Reisenden vorbeigeritten
waren; dann aber vermochten sie nie ihrer Neugierde zu wider-
stehen und guckten ihnen schwatzend nach. Etwa halbwegs
stießen sie ans ein großes Mausoleum von 8 rn Seitenlänge,
das mit korinthischen Pilastern verziert war und eine recht-
eckige Apsis besaß; innen enthielt es drei Nischen zur Auf-
nahme von Statuen. Die Ortschaft, zu der es gehörte,
Araberin von Sîjitv.
(Nach einer Aquarelle Saladin's.)
Dr. C. Keller: Die Kolonisalionsversuche in Madagascar.
87
lag dicht dabei auf einem Paß. Nach zwei Stunden er-
reichten sie über ansteigende Terrassen den Fuß des Berges
Kalaa es-Suk (1275 na), wo das Lager Suk el-Dschema
sich befindet. Mit Kalaa, welches eigentlich „Festung"
bedeutet, werden hier gewisse Berge bezeichnet, welche, wie
die Saudsteimuassive der Sächsischen Schweiz, oben eine
tafelförmige Fläche und senkrecht abstürzende Seitenwände
haben und oft bedeutende Höhe erreichen. Den Zunamen
es-Suk aberführt der in Rede stehende Berg, weil au seinem
Fuße Freitags ein Markt abgehalten wird.
Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
Bon Dr. C. Keller.
II. (Schluß.)
Mit Beginn dieses Jahrhunderts kam jedoch ein Mo-
ment hinzu, das bis in die Gegenwart alle ernsten Unter-
nehmungen auf der großen Insel lahm gelegt hat, indem
England in den Gang der Dinge einzugreifen begann.
Ueber die Kolonialpolitik Englands kann Niemand im Un-
klaren sein, welcher die Geschichte eingehender betrachtet.
England hat zweifellos eine hohe Begabung in kolonisa-
torischer Hinsicht an den Tag gelegt. Die) es Faktum zu
leugnen, hieße eine Unwahrheit ausfprechen. Allein in der
Wahl der Mittel, seine Herrschaft in außereuropäischen Ge-
bieten zu sichern, war England niemals wählerisch und
schreckte unter Umständen vor der rohesten Gewalt nicht
zurück. - Auf verwandte Bestrebungen anderer Nationen
war es stets eifersüchtig und die Annahme ist nicht zu ge-
wagt, daß auch Deutschland, welches in die Reihe der Kolo-
nialmächte einzutreten begann, gelegentlich noch recht nnlieb-
famc Erfahrungen mit seinem englischen Nachbar machen
»vird. Dieselbe Rolle wurde früher und auch heute noch
Frankreich gegenüber gespielt.
Die wichtige Etappe nach Indien, welche auf den
Mascarenen erlangt wurde, war England ein Dorn im
Auge. Im Jahre 1810 nahm es bekanntlich mit Ge-
walt die schöne Kolonie Mauritius mit Beschlag und der
erste englische Gouverneur dieser Insel, Sir Robert
Farqnhar, erkannte mit großem Scharfblick die geeigneten
Wege, welche den französischen Einfluß im ostafrikanischen
Archipel am sichersten vernichten mußten. Seine Taktik
war entschieden eine großartig angelegte. Erst versuchte
er die Gewalt und ließ einige Punkte Madagascars ein-
fach militärisch besetzen, indem er sich auf den vielleicht
etwas unklaren Artikel 8 des Pariser Vertrages von 1815
stützte, wonach Frankreich Mauritius mit einigen zuge-
hörigen Gebieten an England abtreten mußte. Spätere
Auseinandersetzungen beider Kabinete ergaben, daß Mada-
gascar nicht unter den abzutretenden Gebieten verstanden
sein konnte, also mußte ein Umweg eingeschlagen werden,
um Einfluß in Madagascar zu erlangen, und damit be-
ginnt eine Kette trauriger, zum Theil blutiger Ereignisse,
welche als letzte Ursache immer die Rivalität zwischen
Frankreich und England im Hintergründe erkennen lassen.
Ungefähr zu gleicher Zeit, da England sich in Mauritius
festgesetzt hatte, erfolgten in Madagascar unter den einge-
borenen Stämmen starke politische Umwälzungen. Ein
Malayenstamm im Inneren von Madagascar begann
immer mehr an Macht zu gewinnen. Es waren dies die
Howa, von denen man früher kaum eine dürftige Kenntniß
hatte. Spät in Madagascar von Osten her eingewandert
und vielfach verfolgt, hatten sie sich auf die Hochplateaux
von Central-Madagascar geflüchtet; ihre Intelligenz und
Energie verschaffte ihnen nach und nach ein Uebergewicht
über die übrigen Madagassenvölker, welche seit langer Zeit von
Afrika herüber gekommen waren. Anfänglich zersplittert,
bildeten sie mit Beginn dieses Jahrhunderts ein geeinigtes
Volk mit dem begabten Fürsten Radama I. an der Spitze.
Sir Robert Farqnhar faßte den großartig angelegten
Plan, diesen Fürsten mit seinem Volke gegen die franzö-
sischen Bestrebungen auszuspielen und den englischen Ein-
fluß auf diesem Umwege zur Geltung zu bringen. Unter
der harmlosen Form einer wissenschaftlichen Expedition
wurde eine Abordnung an den Howafürsten geschickt, um
auf ihn einzuwirken. Mit Unterstützung der Engländer
sollte er König von ganz Madagascar werden; Geschenke
und Versprechungen waren dazu angethan, den eingeborenen
Fürsten zu blenden. Es wurden mit ihm wiederholt
Fr eundsch aftsv erträge abgeschlossen, ohne daß man in
Frankreich unterichtet war. Den Engländern wurden ge-
wisse Vortheile eingeräuint. Der gewandte Agent Hastie
war am Hofe Radama's die Seele einer Reihe von Reform-
bestrebungen und Neuschöpfungen. Hastie gewann Ein-
fluß auf die Leitung der inneren Angelegenheiten im
Howareiche, er schuf eine Armee nach europäischem Muster,
Waffen und Munition wurden von England importirt.
In Frankreich hatte man in unglaublicher Sorglosigkeit
keine Idee von diesen Vorgängen erlangt.
Der Howafürst begann nun mit seiner Armee Erobe-
rungen auszuführen, feine Herrschaft über das Howagebiet
hinaus auszudehnen. Die Howa erschienen an der Ost-
küste, ihre Armee wurde geleitet von Hastie, dem allmäch-
tigen Nathgeber Radama's. Die Franzosell wurden von
den Punkten, welche sie an der Küste besaßen, einfach ver-
sagt. Sogar ihre Besitzung auf der Insel St. Marie
wurde bedroht. Der Plan Farquhar's war also vollkommen
gelungen; was er nicht mit Hilfe englischer Kriegsschiffe
wagen durfte, hatte er, welcher natürlich im Einverständ-
niß mit dem Ministerium handelte, mit Zuhilfenahme der
mächtig gewordenen Howas gewonnen, der französische Ein-
fluß an der Küste Madagascars war so gut wie vernichtet.
Frankreich war also in einem kurzen Zeitraume faktisch
durch englischen Einfluß rechtlos und besitzlos auf der Insel
geworden. Hätte es früher feine Rechte dadurch geltend
gemacht, daß es einige größere Gebiete auf solider Basis
kolonisirt hätte, so wären ihm alle folgenden Verlegenheiten
wahrscheinlich erspart geblieben. So aber hatte cs sich
durch seine Unachtsamkeit in England einen Gegner groß
gezogen, der sich geschickt hinter die Howa zu verstecken
verstand. Direkt konnte es daher seinem Rivalen gar nicht bei-
kommen, sondern mußte auf den gleichen Umwegen die Ein-
geborenen zu gewinnen suchen oder mit Anwendung von
Waffengewalt den Einfluß der Howa zu brechen suchen.
Der erstere Weg ist nicht die starke Seite des Fran-
zosen, er besitzt hierfür selten die nothwendige Zähigkeit,
und es wurden bald militärische Actionen nothwendig, da
88
Dr. C. Keller: Die Kolonisntionsversuche in Madagascar.
die Besitzung St. Marie int höchsten Grade gefährdet
wurde. Die Howa verhinderten von der neu eroberten Küste
aus die Ausfuhr von Lebensmitteln und untersagten die
Auswanderung von eingeborenen Arbeitskräften. Um die
hartbedrängte Besitzung nicht räumen zu müssen, erschien
1829 der Admiral Gourbeyre in den Gewässern von Ma-
dagascar, besetzte an der Ostküste den kleinen Ort Tintingue,
beschoß die Hafenstadt Tamatave und ließ seine Truppen
in dem etwas weiter im Norden gelegenen Foulpoiute
landen. Die Howatruppen, welche sich in der Nähe ver-
schanzthatten, brachten den Franzosen sedoch eine empfindliche
Schlappe bei, welche auf die Eingeborenen naturgemäß
einen großen Eindruck machen mußte. Es wurden vom Mutter-
lande Verstärkungen verlangt, inzwischen brach aber die
Revolution von 1830 aus, Madagascar lag zu weit weg,
als daß man sich in ernstere Unternehmungen eingelassen
hätte. Es wurde zunächst völlig verlassen. Daß das
Selbstgefühl der Howa dadurch mächtig gehoben wurde,
daß eine europäische Macht von der Küste versagt war,
mußte die rege Phantasie dieses primitiven Volkes gewaltig
gefangen nehmen.
Inzwischen bereiteten sich im Howareiche gewaltige
Umwälzungen vor. Radnma war todt und schon seit 1828
hatte die energische und rücksichtslose Königin Ranavalo
den Thron bestiegen. Die Engländer hatten das Land
vorwärts gebracht, die von Hastie geschaffene Armee
hatte sich unerwartet gut bewährt, die Mission hatte sich
stark auszubreiten vermocht — aber die Howa begannen
bald genug einzusehen, daß die Thätigkeit der Engländer
keine ganz uneigennützige war, ihre Macht wurde beun-
ruhigend. Schon Radama zeigte ihnen gegenüber oft genug
sein Mißtrauen — als der beinahe allmächtige Hastie auf
die Herstellung einer fahrbaren Straße von der Küste nach
der Hauptstadt drang, versagte dies der eingeborene Fürst
rundweg und erklärte, er wolle den Engländern nicht den
Weg ins Innere bahnen. Es folgten unter Ranavalo
eine Reihe vou Maßregeln gegen die europäischen Elemente
und mit der Vertreibung der Franzosen verschärften sich
dieselben immer mehr. Die Howa hatten sich als Werk-
zeug gegen den französischen Einfluß gebrauchen lassen,
aber es geschah dies mit der reservatio mentalis, sich bei
passender Gelegenheit der Engländer auch gründlich zu
entledigen.
Im Jahre 1845 erließ die Howaregierung ein Gesetz,
wonach die Europäer im Lande den Eingeborenen völlig
gleich gestellt wurden, d. h. Frohndienste zu leisten hatten,
unter Umständen als Sklaven verkauft werden konnten, sich
in gerichtlichen Füllen der in Madagascar üblichen Gift-
probe zu unterziehen hatten und in commerciellen Dingen
vollkommen vom Willen der Regierung abhingen. Das
war natürlich nur eine Form, sämmtliche Europäer aus
dem Lande zu schicken, denn solchen drakonischen Bestimmun-
gen konnte sich Niemand unterziehen. Um den angethanen
Schimpf zu rächen, wurde Taiuatave, welches als Küsten-
stadt den Schlüssel zu Madagascar bildet, von englischen
und französischen Kriegsschiffen bombardirt und niederge-
brannt. Aber die versuchte Besetzung dieses Platzes verlief
unglücklich und nur mit Mühe vermochten sich die Soldaten
auf ihre Schiffe zurückzuziehen. Der Rückschlag folgte auf
dem Fuße nach.
Im Inneren entstanden die berüchtigten Niedermetzelungen
der zum Christenthume übergetretenen Eingeborenen und
nach außen war das Land so gut wie hermetisch abgeschlossen;
England, welches die Howa großzog, hatte mit einem Faktor
nicht gerechnet — mit der Energie und Klugheit der Howa,
welche in der Verfolgung ihrer Ziele vor barbarischer
Grausamkeit nicht zurückschreckten. Aber die europäischen
Interessen blieben für lange Zeit hinaus schwer geschädigt.
Die Kulturanläufe, welche die Insel unter englischem Ein-
flüsse genommen, erlitten einen verhängnißvollen Rückschlag
und machten der rohesten Barbarei Platz.
Inzwischen hatte Frankreich einen Weg eingeschlagen,
welcher unter obwaltenden Verhältnissen der einzig richtige
war. Es begann mit den Sakalaven der Westküste bessere
Fühlung zu gewinnen. Das Sakalavenvolk ist noch viel
zu wenig bekannt; man sagt ihm wenig Gutes nach. Allein
die über dasselbe bekannt gewordenen Urtheile sind nicht
immer zuverlässig. Wenigstens die Nordsakalaven haben
neben Schwächen, welche der ganzen Negerrasse eigen-
thümlich sind, wiederum eine Reihe guter Eigenschaften.
Einige Stämme sind als Krieger tapfer, sic sind tüchtige
Neisbauer und Viehzüchter. Ihre Abneigung gegen die
Howabevölkerung ist die denkbar größte — eine richtige
Politik mußte dazu kommen, die Sakalavenstämme, welche
ohnehin stark bedrängt wurden, gegen den herrschenden
Stamm der Howa auszuspielen. Die Bourbonesen drängten
zu einer Action und Admiral Hell schickte daher 1839 das
Kriegsschiff „Colibri" unter dem Befehl des Kapitäns
Passot nach den Gewässern von Westmadagascar, um die
Gesinnung der dortigen Stämme zu erforschen. Die Saka-
laven waren gerade damals in Noth, da die Howa bis nach
dem Norden der Insel vorgedrungen waren. Sie hatten sich
unter der Anführung der Königin Tschomeku in großer Zahl
nach der Insel Nossi-Be geflüchtet und den Sultan von
Zanzibar um Schutz angegangen. Derselbe sagte seine
Hilfe zu, ließ jedoch die Sakalaven im Stiche. Die Fran-
zosen erschienen als die Befreier und schon 1840 wurden die
Inseln Nossi-Be und Nossi-Cumba an Frankreich abgetreten.
Die Königin wurde mit einer Pension vou 1200 Franken
abgefunden, starb aber schon 1843. Nachher folgte die
Erwerbung der Komoreninsel Mayotte, deren Bevölkerung
zum großen Theil aus Sakalavenelementen besteht, auch
größere Gebiete der Westküste von Madagascar kamen unter
Frankreichs Schutzherrschaft, obschon diese eigentlich nur
eine nominelle war.
Mit Beginn der fünfziger Jahre begannen die Howa
dem europäischen Elemente gegenüber wieder eine freund-
lichere Haltung anzunehmen. Einige Franzosen, insbesondere
der unternehmende Laborde, erlangten am Hofe in Antana-
narivo einen großen Einfluß und gründeten eine Reihe von
industriellen Etablissements in der Centralprovinz. Diese
Thatsache ist in Anbetracht des mißtrauischen Charakters der
Königin und ihrer Umgebung bemerkenswerth und beweist,
mit welcher Gewandtheit diese Unternehmungen in die Hand
genommen wurden. Sie wird theilweise auch erklärt durch
die Habsucht der Herrscherin, welcher stets ein bestimmter
Gewinnantheil dieser Schöpfungen eingehändigt wurde. Zu
jener Zeit war Frankreich auf dem besten Wege, wieder
Einfluß auf der Insel zu gewinnen, wenn nicht ein gewisser
Lambert das Spiel gänzlich verdorben hätte.
Die Königin war bereits alt und der Prinz Rakoto
hatte baldige Anwartschaft auf die Regentschaft. Nach
allen Schilderungen, die wir von Augenzeugen besitzen, war
dieser Prinz eine höchst sympathische Erscheinung, voll
kühner Pläne und von dem besten Willen beseelt, sein Reich
der europäischen Civilisation entgegen zu führen. Aber die
sprichwörtliche Klugheit seines Stammes fehlte ihm. Für
die beiden Franzosen Laborde und Lambert besaß er eine
unbegrenzte Verehrung. Der Prinz wurde für einen von
Lambert ausgeheckten Plan gewonnen, welcher darin be-
stand, Madagascar förmlich unter französisches Protek-
torat zu stellen und einer großen europäischen Gesell-
schaft die agricole, industrielle und commercielle Ausbeu-
tung zu überlassen. Mit dieser Zusage reiste Lambert uad)
Dr. C. Keller: Die Kolonisationsversuche in Madagascar.
89
Paris, wo er sogar von Napoleon III. mit großer Aus-
zeichnung empfangen wurde. Da dieser jedoch ans poli-
tischen Gründen England in möglichst guter Laune erhalten
wollte und durch einseitiges Vorgehen die Empfindlichkeit
des Londoner Kabinets wachzurufen fürchtete, hielt Napo-
leon es für das Nathsamste, die zu gründende Madagascar-
Gesellschaft, gleichfam eine neue Auflage jener verkrachten
„Compagnie Rigault", zwar zu unterstützen, aber zur
Hälfte aus Engländern, zur Hälfte aus Franzosen zu-
sammen setzen zu lassen. Sollte man sich mit diesem Vorschlage
in London einverstanden erklären, so würde er das Pro-
tektorat übernehmen.
Ausgerüstet mit jener fabelhaften Naivität, welche
gleichfam zur Signatur des Abenteurerthums gehört, ver-
fügte sich Lambert nach London, um sein Projekt dem Mi-
nister des „Foreign Office" zu unterbreiten. In der
Meinung, daß von Widerstand gar keine Rede sein könne,
kramte er alle seine Geheimnisse, seine vertraulichen Ab-
machungen mit dem Prinzen Rakoto, die Idee des franzö-
sischen Protektorates und der großen Madagascar-Gesellschaft
vor Lord Clarendon aus. Hätte er nur einmal sich bemüht, die
Rolle Englands unter Radama I. sich erklären zu lassen, so
hätte er selbst sich die Antwort geben können, ohne nach London
zu reisen. Aber dieser Beniowsky Nr. II hatte eben nicht
die Geriebenheit seines Vorbildes. Den Engländern war auf-
fallender Weise die erneute Thätigkeit der Franzosen in Mada-
gascar entgangen; mehr Glück konnte das Ministerium un-
möglich haben, als daß die natürlichen Rivalen im Foreign
Office erschienen, um ihre Geheimnisse auszuplaudern.
Lord Clarendon wußte sofort, was er zu thun hatte. Er
beauftragte unmittelbar nach dem seltsamen Besuch den
einflußreichen Methodistengcistlichen William Ellis mit
einer Mission nach Madagascar. Ueber diese Episode und
deren Folgen besitzen wir bekanntlich von Ida Pfeiffer eine
sehr lebendige Darstellung.
Ellis enthüllte der Königin die Abmachungen und am
Hofe in Antananarivo entstand eine außerordentliche Ver-
wirrung. Den Schluß des ganzen Abenteuers konnte man
bei der bekannten Rücksichtslosigkeit der Herrscherin voraus-
sehen. Die Europäer wurden ausgewiesen, die zum Christen-
thum übergetretenen Eingeborenen massenhaft ermordet.
Zum Glück starb die Königin schon 1861 und der Prinz
Rakoto gelangte als Radama II. zur Herrschaft. Seine
Verehrung für die beiden Franzosen Laborde und Lambert
hatte die Krisen überdauert, er rief seine alten Freunde
sofort ins Land zurück. Nie war die Gelegenheit günstiger
als jetzt, um den französischen Einfluß zu befestigen; hätte
man einen ernsthaften und besonnenen Charakter wie La-
borde als alleinigen Leiter der Angelegenheiten gehabt, so
wären die Kulturfortschritte auf der Insel wohl gesichert
gewesen. Aber der geschäftige Lambert mußte die Sache
neuerdings verpfuschen. Er war einfacher Jntriguant ohne
tieferen Gehalt und seine Kopflosigkeit und Dummheit,
welche bereits Schaden genug gestiftet, stürzte bald genug
den wackeren und hoffnungsvollen Prinzen Rakoto ins jähe
Verderben. Man hatte dem unerfahrenen Herrscher mit
allen möglichen und unmöglichen Reformplänen den Kops
voll gemacht. Er gewährte die Concession für eine franzö-
sische Madagascar-Gesellschaft, er schaffte in seinem Reiche
die Frohndienste ab, die Douane wurde aufgehoben, die
Priester durften ungehindert ihr Bekehrungswerk ausüben,
Straßen und Kanäle sollten im Lande erstellt werden u. s.w.
Aber die Engländer ließen es diesmal an Wachsamkeit
nicht fehlen. Kaum hatte man von dem Wechsel der Dinge
Kunde erhalten, so erschien der geriebene Reverend William
Ellis wieder auf der Bildflächc, um auf die madagassische
Politik den allergrößten Einfluß zn gewinnen. Der con-
Glvbus Ul. Nr. 6.
servativc Howaadel war im höchsten Grade unzufrieden mit
den Neuerungen, da er namentlich auch in ökonomischer
Beziehung eine empfindliche Einbuße zu erleiden hatte. Ellis
verband sich mit allen unzufriedenen Elementen und wurde
ihr geistiges Oberhaupt. Im Mai 1863 brach die offene
Empörung aus, der junge Herrscher wurde in seinem Palaste
gefangen, man verlangte, daß er die Concessionen an die
Franzosen zurücknehme und seine Freunde vernichte.
Radama II. blieb Ehrenmann und wollte seine Freunde
nicht preisgeben. Damit war sein Schicksal besiegelt, er-
würbe in seinem Palaste erwürgt. Es ist notorisch, daß
in jenen Wirren stündlich die Parole bei einem Diener des
Evangeliums, bei einem Apostel des Friedens und Glaubens,
bei dem schon genannten Reverend Ellis eingeholt wurde.
Indirekt hat derselbe auch den Untergang des hoffnungs-
vollen, aber unklugen Prinzen Rakoto verschuldet.
England hatte damit sein nächstes Ziel erreicht. Der
Einfluß der alten Howapartei war wieder hergestellt und
die tonangebende Familie Reniharo, aus welcher bis auf
den heutigen Tag die allmächtigen Premierminister entnommen
worden sind, beherrschte wieder die madagassische Politik.
Die Thatsache, daß der Andienzsaal dieses Premierministers
mit kostbaren Geschenken englischer Geistlichen über und
über gefüllt ist, bildet wohl einen deutlichen Hinweis, welche
europäische Nation am meisten Einfluß am königlichen Hofe
hatte, zumal die ersten Minister stets die gerade herrschenden
Königinnen zur Frau nahmen. Die Abmachungen mit
Frankreich wurden einfach aufgehoben, die conccssionirte
Madagascar-Gesellschaft mit einer unbedeutenden Summe
abgefunden. Die englischen Missionare gewannen den
günstigsten Boden und, was die Hauptsache war, der nicht
unbeträchtliche Handel gelangte vorwiegend in englische
Hände. Frankreich that nichts, um seine Scharte auszu-
wetzen, der deutsch-französische Krieg stand vor der Thür,
die Howa interessirten sich im höchsten Grade für die in
Europa stattfindenden Ereignisse und die Katastrophe von
1870 gelangte bald genug zu ihrer Kenntniß — Deutschland
hatte indirekt das Prestige der Franzosen in Madagascar
so gut wie vernichtet.
Es blieb noch eilt letzter Schritt zu thun übrig, welcher
denn auch nicht zu lange auf sich warten ließ. Frankreich
hatte noch Beziehungen mit den Stämmen der Westküste
und gewisse Anrechte auf einige Gebiete der Sakalaven,
der natürlichen Feinde der Howa. Auch diese Beziehungen
durften nicht fortbestehen. In den siebenziger Jahren er-
schienen, natürlich in ganz harmlosem Gewände, englische
Emissäre im Gebiete der Sakalaven, um die Bevölkerung
zu sondiren. Einzelne angesehene Häuptlinge wurden in
die Howarcsidcnz eingeladen, um der Königin ihre Auf-
wartung zu machen. Man behandelte dieselben mit Aus-
zeichnung, und sie kehrten später in Begleitung von Howa-
officicren an die Küste zurück. Letztere pflanzten einfach
die Howaflaggc in den französischen Schutzgebieten auf, ja
sie wagten sich sogar auf die benachbarten Inseln Nossi
Foly und Nossi Mitsiu hinüber.
Dazu kam noch ein Fall, welcher recht deutlich illustrirte,
bis zu welchem Grade die französischen Ansprüche vernichtet
wurden, ein Fall, welcher vielleicht am meisten zur gewalt-
samen Lösung des beginnenden Konfliktes beigetragen. hat.
Der früher genannte Konsul Laborde hatte sich auf Mada-
gascar in große industrielle Unternehmungen eingelassen.
Er hatte auf rechtlichem Wege in der Nähe der Hauptstadt
ausgcdehnteLändereien erworben, welche bei mäßigerSchätzung
den Werth einer Million Franken überstiegen. Er starb im
Jahre 1878 und setzte testamentarisch seine beiden Neffen,
Eduard Laborde und Campan, zn Erben seiner Hinter-
lassenschaft ein. Als die Erben im Begriffe waren, auf
12
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
00
dieser Besitzung ein Haus zn erbauen, erklärte der Howa-
minister, daß der Bau zu unterbleiben habe. Proteste halfen
nichts und Campan mußte sich im Interesse seiner Sicher-
heit sogar nach Reunion flüchten. Die Erben brauchten
Geld und wollten die Besitzung veräußern. Sie gingen
sogar auf 300 000 Franken herab. Der Premierminister
verlangte Einsicht in die Rechtstitel. Man schickte" ihm
beglaubigte Kopien ein, allein die Howaregierung wollte
erst in eine Ablösung dieser Laborde'schen Besitzungen ein-
treten, wenn man ihr die Originaltitel einsende, stützte sich
übrigens auf einen Artikel des madagassischen Gesetzes,
wonach Fremde kein Landeigenthum besitzen können. Das
war deutlich genug.
Frankreich mußte die Rechte seiner Angehörigen schützen,
da wiederholte und offene Vertragsverletzungen begangen
worden waren und die Howaregierung erklärte, sie werde
nur mit Gewalt zur Anerkennung der erhobenen Reclama-
tionen gebracht werden. Admiral Pierre wurde nach den
madagassischen Gewässern entsendet und bombardirte die
beiden Küstenstädte Majunga und Tamatave im Jahre 1883.
Die Howaregierung antwortete durch Vertreibung sämmtlicher
Franzosen. Die Howaarmee wurde unter die Waffen ge-
rufen , und an ihre Spitze trat der englifche Oberst
Willoughby. Die Herren Howagenerüle mit ihren Drei-
mastern und Theatersräcken bildeten in der Umgebung des
englischen Generalissimus einen buntscheckigen und phanta-
stisch herausgeputzten Generalstab. Der englische Dampfer
„Normandy" hatte vollauf zu thun, um Kanonen, Gewehre
und Munition vom Kap her nach der madagassischen Küste
zu führen. Die Howaforts wurden armirt. Große Kriegs-
thaten hat dieser Feldzug nicht zu verzeichnen. Frankreich
war in Tonkin zn sehr engagirt, als daß es in Madagascar
eine kräftige Action hätte entfalten können. Es beschränkte
sich vorwiegend darauf, die Küste zu blockiren und die Howa
zu ermüden. Das einzige größere Treffen bei Farafate in
der Nähe von Tamatave war ungeschickt geleitet und endigte
mit einer Schlappe für die Franzosen.
Indessen begannen die Hotva nach und nach einzusehen,
daß die Engländer sie in eine unangenehme Situation ver-
wickelt hatten, und von dieser Nation keineswegs alles Heil
zu erwarten sei. Die bisherige Königin starb und die junge
Ranavalo III. übernahm die Regierung, gleichzeitig auch
den Premierminister als Gatten. Sie neigte zum Frieden
und schloß Ende 1885 einen neuen Vertrag mit Frankreich
ab, versammelte im Februar 1886 die Unterthanen zu einer
großen Volksversammlung, einem allgemeinen Kabar, in
welchem dem Volke eingeschärft wurde, die Fremden gut zu
behandeln und die Franzosen als Verwandte zn betrachten.
Der Howageneralissimus Willoughby reiste ab; in den
Herzen der Madagassen hat er sich nicht gerade einen
Ehrenplatz erobert, dagegen hat er ein recht gutes Geschäft
gemacht. Der Vertrag vom 17. December 1885 hat den
Franzosen im Grunde mehr eingebracht, als sie auf Grund
ihrer Wasfenerfolge in Madagascar erwarten konnten. Sie
dürfen, wie der damalige Ministerpräsident Freycinet vor-
der Kammer mit Recht hervorhob, vollauf zufrieden sein.
Ist in dem Vertrage das französische Protektorat über
Madagascar auch nicht formell festgestellt, so ist doch das
faktische Verhältniß von einem solchen sehr wenig entfernt.
Ein Generalresident in der Hauptstadt überwacht die Leitung
der auswärtigen Beziehungen; ohne seine Einwilligung darf
die Howaregierung keinerlei Verbindlichkeiten nach außen
eingehen, dagegen ist sie in ihren inneren Angelegenheiten
frei. Ländereien können von Fremden zwar nicht als Eigen-
thum erworben werden, aber für eine genügend lange Zeit-
dauer, wie sie für größere agrikole und industrielle Unter-
nehmungen wünschbar sein muß, gemiethet werden. Durch
vollständige Abtretung der sicheren Bai von Diego Suarez
hat Frankreich einen genügenden militärischen Stützpunkt
gewonnen.
Auf alle Fälle ist der europäische Einfluß nunmehr ge-
nügend consolidirt, um das Land endlich der Kultur zn
öffnen. Raum ist noch für Millionen vorhanden, ohne daß
der Eingeborene beeinträchtigt wird. Der herrschende Stamm
der Howa, geistig geweckt und arbeitsam, ist europäischer
Kultur in hohem Grade zugänglich und nimmt sie ohne
Schaden auf. Die natürlichen Hilfsquellen des Landes sind
bedeutend, der Verkehr ist nicht unbeträchtlich. Da nunmehr
regelmäßige Dampferverbindungen errichtet sind und in
Bälde auch im Inneren der Insel bessere Verkehrswege
errichtet werden dürften, hat der Handelsverkehr eine bessere
Zukunft. Nach den vielen fruchtlosen Versuchen, nach den
zahllosen Intriguen, welche die Europäer zu ihrem eigenen
Schaden im Lande angezettelt haben, dürfte endlich die Zeit
des Abenteurerthums vorbei sein und sich die Blicke ernst-
hafter Unternehmungen auf dieses ostafrikanische Gebiet werfen.
Polyandrie und Polygamie.
Von Dr. Emil Jung.
I.
Die Viel Männer ei, so spärlich sie heute auch ans
der Erde verbreitet erscheint, ist doch eine Sitte, welche bei
vielen Völkern früher sich vorfand. Cäsar H berichtet von
den alten Briten, daß zehn oder zwölf ein Weib in Ge-
meinschaft besaßen, besonders Brüder mit Brüdern und
Väter mit ihren Söhnen, und wenn aus solchen Vereini-
gungen Kinder hervorgingen, so sah man sie als die Nach-
konnnen derjenigen an, welche zuerst mit der Frau in eheliche
Gemeinschaft traten. Dio Cassius sagt von den Schotten
dasselbe; er läßt zugleich eine britische Frau in Vertheidigung
ihrer Landsmänninnen einer Römerin erwidern, daß sie
offen mit Ihresgleichen das thäten, was die Römerinnen
im Geheimen mit unter ihnen Stehenden. Die Richtigkeit
dieser Angaben ist von englischen Schriftstellern der Jetztzeit
bestritten worden, insbesondere von Vaughan H, der sich auf
das Zeugniß des Pomponius Mela beruft, wonach die bri-
tischen Frauen in hohem Ansehen standen, ferner an die
Thatsache erinnert, daß Frauen (Boadicea, Cartismandna)
in Ermangelung männlicher Erben den Thron besteigen
konnten, und darauf aufmerksam macht, daß sowohl Diodorus
als Strabo nichts über diese Sitte sagen. Indeß ist Vaughan
inl Irrthum, wenn er meint, daß durch das Zusammenleben
0 Cäsar de Bello Gallico, lib. V, cap. 14.
I Vaughan, Revolutions in English Hi story, p. 97 ff.
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
91
einer Frau mit mehreren Männern dieselbe nothwendig an
Achtung einbüßen mußte. Gerade im Gegentheil schätzten
die Weiber von Atropatia, dem jetzigen Aserbeidschan, ehe
der Islam dort Eingang fand, die.Höhe ihrer socialen
Stellung nach der Zahl von Männern, deren sie sich
rühmen durften x).
In dem indischen Heldengedicht Mahabharata wird er-
zählt, wie Ardschuna, der dritte von fünf Pandava-Prinzen,
bei einem Wettschießen mit Bogen am Hof von Drona als
Siegespreis des Königs Tochter Draupadi znm Weibe erhielt,
und daß diese damit zugleich die Frau aller anderen vier
Brüder wurde. Als der König Drupada, der Vater Drau-
padi's, seine Unzufriedenheit darüber aussprach, hielt ihm
Pudischthra, der älteste der Brüder, entgegen, daß Dschatila
ans der Familie Gautamas, eine vortreffliche Frau, mit
sieben Heiligen zusammengelebt habe, und daß Warkschi, die
Tochter eines Muni (d. i. eines heiligen Gelehrten) mit
zehn Männern verhcirathet gewesen sei, sämmtlich Pradscheta,
d. i. Männern, deren Seelen durch Büßungen geläutert
wurden. Hier war also die Polyandrie eine von der Sitte
durchaus gebilligte Institution, wie sie das in manchen
Theilen Indiens und seiner Nachbarländer, im hohen Norden
Asiens, in Amerika, Afrika und Australien anerkannter
Maßen auch heute noch ist.
Auf Nukahiiva, einer der Markesasinseln, wo es mehr
Männer als Frauen gab, war Polyandrie nicht selten und
namentlich vornehme Frauen hatten zwei Männer, deren
einem sie schon in früher Jugend vermählt wurden; beide
nahm dann ein reiferer Liebhaber ins Haus. Die Männer
lebten ohne Eifersucht in voller Eintracht neben einanderI 2).
Auch auf Neuseeland soll nach Mac Lenuan, der zum Beleg
eine von Sir George Grey erzählte Legende citirt, Polyandrie
bestanden haben. Danach sollen zwei Brüder, Namens
Jhuatamai und Jhuwarewarc, die durch die Meeresbrandung
an den Strand von Wairarawa gespülte Hinauri gefunden,
sie mit Freuden angeschaut und mitsammen zum Weibe ge-
nommen haben. Indessen scheint dieser vereinzelte Fall,
wie Sir John Lubbock hervorhebt, mehr ans eine Gc-
meinschaftsehe als auf eine Polyandrie zu passen, besonders
wenn man die Schlußworte der Sage näher erwägt. Auch
sprechen andere Sagen der Neuseeländer ganz entschieden
dagegen. Für den Australkontinent ist die Polyandrie für
die Eingeborenen am unteren Murray von Angas, für die
an der Moretonbai von Lang, für die bei Port Lincoln von
Wilhelmi nachgewiesen worden; ich selbst habe sie während
eines mehrjährigen Aufenthaltes in Jnneraustralien weder
anl Murray, Murrumbidschi oder Darling, noch am Cooper
und im Seendistrikte mit Sicherheit finden können. Eine Art
beginnender Vielmännerei bestand auf Hawai durch Zu-
fügung eines Cicisbeo, Punula genannt, zum Manne; die
Ehe führte hier den NamenHao, Versucht). In Melanesien
werden Anklänge an Polyandrie zu einer gar nicht seltenen
Erscheinung. So ist es auf den Neuen Hebriden bei
der Wittwenschast eine Art Uebereinkommen, daß zwei
Wittwer mit einer Wittwe leben; sie gehört beiden, ebenso
die Kinder b).
In Südafrika soll die Polyandrie nach G. Fritsch6) bei
den Herero aus Armuth bisweilen vorkommen, wogegen
nach Büttner eine gewisse Gemeinsamkeit der Frauen herrscht,
nicht zwischen allen Stammesgliedern, sondern nur zwischen
9 kortsr'8 Travels, 6Äp. 1, p. 143.
2) Waitz-Gerland, Anthropologie der Naturvölker, Bd. 6,
S. 128.
3) Lubbock, Entstehung der Civilisation, S. 117.
4) Ratzel, Völkerkunde, Bd. 2, S. 188.
5) Derselbe, Bd. 2, S. 276.
G) Fritsch, Die Eingeborenen Südafrikas, S. 227.
Angehörigen gewisser durch einen engen Bund geschlossenen
Gemeinschaften, der Oma-Pange. „Möglicher Weise", sagt
Büttner, „betrachten sich die auf gleicher gesellschaftlicher
Stufe Stehenden schon von Natur als Oma-Panga" H.
In Westafrika tritt die Bielmünnerei in anderer loserer
Form bei reichen und vornehmen Frauen ans. So leben
nach Monrad -) in Akra reiche Mädchen mit wem sie wollen,
ohne daß ihre Unbeständigkeit Anstoß giebt. Die Königin Zinga
von Congo, welche um 1640 lebte, soll sich viele Männer
gehalten und diesen gestattet haben, sich zugleich wieder zu
verheirathen, jedoch unter der Bedingung, daß die Kinder
aus diesen Ehen umgebracht würden. Eine zwar nicht
simultane, vielmehr successive Vielmännerei herrscht noch
heute in Congo und Loango, wo sich Weiber aus fürstlichem
Geblüt den Manu wählen, mit dem sie leben wollen, und
den sie nach Willkür wieder verstoßen und durch einen
anderen ersetzen.
In Amerika kommt Vielmännerei vereinzelt vor. Bei
den Eskimo, die sonst Polygamisten sind, haben zuweilen
aus Armuth zwei Männer ein Weib zusammen, und bei
den Konjagen, Koloschen und Alenten pflegte die Frau
früher einen Nebenmann zu haben, der zu mancherlei Diensten
verpflichtet war und in Abwesenheit des Mannes diesen
vertrat3). Sonst werden von Mac Lcnnan noch die Ein-
geborenen vom Orinoco als Polyandristen aufgeführt und
Lubbock fügt der von jenem gegebenen Liste noch einige
irokesische Stämme hinzu4 5).
Die weiteste Verbreitung hat die Polyandrie ohne Zweifel
in Asien gefunden, sie ist in manchen Gegenden eine voll-
kommen geregelte, obschon dies wohl nur ausnahmsweise der
Fall ist und wohl nur da, wo bei ursprünglich herrschender
Monogamie ein großer Mangel an Frauen herrscht.
Nach Tennant3) herrschte im ganzen Inneren von
Ceylon Polyandrie, vornehmlich bei den wohlhabenderen
Klassen, bis dieser Sitte 1860 durch den derzeitigen Gou-
verneur, Sir Henry Ward, ein Ende gesetzt wurde. Häufig
hatte eine Frau drei bis vier Ehemänner und bisweilen sogar
sieben. Nach Valentya hatte der König von Kotta, Wijaio
Bahu VII., in dessen Regierung die Erbauung des ersten
portugiesischen Forts zu Colombo siel, mit seinem Bruder
eine Frau gemeinsam, aber der Einfluß der Portugiesen
und Holländer genügte, um in dem Küstenstrich wenigstens
die Bewohner zum Aufgeben dieser Sitte zu bestimmen.
Ein alter Häuptling, welcher vor der Eroberung von
Kandy durch die Engländer unter drei Königen nach einander
gelebt hatte, theilte Sir I. Tennant mit, daß die Sitte der
Vielmännerei aus der Feudalzeit stamme, wo der Zwang
zu persönlichen Dienstleistungen bei dem Könige und
den Großen des Landes die verheiratheten Männer zu
häufiger langer Abwesenheit nöthigte und ohne diese Ein-
richtung die Felder unbebaut geblieben wären. In neuerer
Zeit hat man die Sitte damit entschuldigt, daß so die zu
große Zertheilung des Grundbesitzes verhindert werde. In
der Regel waren die gemeinschaftlichen Ehemänner Glieder
derselben Familie, gewöhnlich Brüder.
Gegenwärtig kommt Polyandrie in Ceylon nur noch bei
den singhalesischen Kandyan vor, einer kräftigen Rasse, welche
im gebirgigen Inneren der Insel wohnt und bis in die
jüngste Zeit sich nie mit der Bevölkerung der Ebenen ver-
mischte. Hier besitzen alle Brüder einer Familie eine Frau
gemeinschaftlich, aber nur der älteste derselben wird von den
Kindern Vater genannt. Doch kann der Mann auch einen
I Ratzel, Völkerkunde, Bd. 1, S. 343.
2) Monrad bei Waitz, Bd. 2, S. 108.
3) Waitz, Anthropologie, Bd. 3, S. 308, 313 und 314.
4) Lubbock, S. 116.
5) Sir I. D. Tennant, Ceylon.
92
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
anderen, nicht mit ihm verwandten, an seinen ehelichen
Rechten theilnehmen lassen; in der That kann der erste
Ehemann seiner Frau so viele zuführen, als diese als Ehe-
männer anzunehmen geneigt ist.
In Südindien herrscht Polyandrie im Tributärstaat
Travancore und in den beiden Provinzen Malabar und
Kanara der Präsidentschaft Madras, und zwar allein bei
den Stämmen, welche das Neffenerbrecht haben, das hier
Marumakayatam heißt, und wohl gerade als eine nothwen-
dige Folge der Polyandrie bezeichnet werden muß. Die
Hindukasten, bei welchen hier Vielmännerei herrschte, waren
die Nair, die Tiyer in Nordmalabar und ein Zweig der
Sklavenstämme, die Kallady. Die fünf Handwerkerklassen
Malabars, die Zimmerleute (Ascharie), Gerber (Tol Köllen),
Gelbgießer (Muschali), Goldschmiede (Tattan) und Grob-
schmiede (Perunkollan) sind polyandrisch; heirathet der älteste
Bruder, so wird seine Frau zugleich die seiner jüngeren
Brüder; will aber einer von diesen eine Frau für sich haben,
so ist ihm dies gestattet und er mag einen eigenen Haus-
stand bilden, doch können etwaige noch jüngere Brüder als
er selber in sein Haus ziehen und ihre Rechte an seiner
Frau beansprucheu. Von diesen Kasten, Kummalarkastcn
genannt, sollen die Jduver, Inder oder Tiyer, die Toddy-
bereiter, eine sehr niedrige Kaste, welche ursprünglich aus
Ceylon stammt, nach einem Aufsatz des Distriktsrichters
Kukcl Kelu, eines Nairs, im Journal der Madras Literary
Society1), diese Sitte angenommen haben. Auch bei ihnen
sind die gemeinsamen Gatten immer Brüder, nur in den
Taluks Nidunganad, Kuttanad, Tschaugad, theilweise in
Wettutsnad und an einigen benachbarten Orten von Süd-
malabar finden wir bei den Nair die Sitte, daß zwei oder
drei Männer, die nicht Brüder, auch überhaupt nicht ver-
wandt sind, eine Frau gemeinschaftlich besitzen. In-
dessen verschwindet die Sitte der Polyandrie hier doch mehr
und mehr.
In Kurg herrschte früher ganz allgemein eine Sitte,
die weniger Polyandrie als vielmehr Weiberkommunismus
genannt werden muß, indem die Frauen der Brüder einer
Familie Gemeingut innerhalb der Familie waren. Die
Kurgs begründen diese Sitte mit der oben angeführten Er-
zählung von der Prinzessin Draupadi und ihren fünf
Männern. Die Familienverhältnisse waren infolge dieser
Sitte in Kurg höchst traurig und Zwistigkeiten, nicht selten
mit tödtlichem Ausgange, waren in den großen, zuweilen
70 bis 80 Seelen ans drei Generationen enthaltenden Fami-
lien an der Tagesordnung. Gegenwärtig ist die Polyandrie
in Kurg nicht mehr wie früher eine nationale Institution,
kommt aber vereinzelt immer noch vor2).
Ueber die Toda haben wir von Metz3) eingehende Nach-
richten. Die Frau gehört deu Brüdern einer Familie ge-
meinschaftlich; die Kinder werden nach der Reihenfolge ihrer
Geburt den Brüdern vom ältesten abwärts zugeschrieben.
Daher herrscht wenig Sympathie zwischen Vater und Kind.
Von den Mädchen, die geboren werden, wird nur eins am
Leben gelassen. Die Frau wird gegen Erlegung einer be-
stimmten Summe Geldes gekauft. Die Hochzeitsfeierlichkeit
besteht darin, daß man die Braut in das Haus ihrer zu-
künftigen Ehemänner bringt, wo sie sich niederbeugt, damit
jene der Reihe nach ihr zuerst den rechten und dann den
linken Fuß auf den Kopf setzen. Dann macht sie sich auf,
Wasser zum Kochen zu holen und tritt damit in die Rechte
und Pflichten der Hausfrau ein. Seitdem die Engländer
den Kindesmord untersagt haben, bekennen sich die Toda
1) Madras Literary Society Journal cf. 1850, p. 52—54.
2) Hunter, Imperial Gazetteer 1885, vol. IV, p. 35.
3) Metz, die Stämme der Mlgiris, S. 46.
allmählich zur Monogamie. Mantegazza kannte aüch einige
unter ihnen, welche der Polygamie huldigten L).
Bei den dravidischen Stämmen, welche die Nilgiriberge
in Südindieu bewohnen, war die Polyandrie, sowie der
Mädchenmord ganz allgemein verbreitet; heute ist die letztere
Sitte durch die Anstrengungen der englischen Regierung so
ziemlich ganz unterdrückt worden und als polyandrisch werden
nur noch die Toda und die Kurumba bezeichnet. Es sind
hier wieder Brüder, welche eine gemeinsame Ehe schließen.
Der Frau ist übrigens die größte Freiheit in Bezug auf
ihren Verkehr mit anderen Männern gestattet, von Eifer-
sucht findet man hier keine Spur. Auch bei den weit über
die vordermdische Halbinsel verstreuten tiefstehenden
Tschamar, den Lederarbeitern, sowie bei einigen anderen
Pariahkasten ist Vielmännerei noch immer, wenn auch nicht
allgemein, im Schwange.
Weit allgemeiner ist die Vielmännerei im nördlichen
Indien. In Sirmore, einem Tributärstaat des Pandschab
im Himalaya, thun sich mehrere Brüder zusammen, um
eine Frau zu kaufen, die dann Gemeingut wird. Von
diesen Gatten sind in der Regel mehrere abwesend, um ver-
schiedenen Erwerbszweigen nachzugehen; der älteste bleibt
gewöhnlich daheim. Die Kinder sind hier nicht des Aeltesten
ausschließliches Eigenthum, vielmehr fallen sie den einzelnen
der Reihe nach zu. Das erstgeborene Kind gehört dem
Aeltesten, das zweite dem Nächstalten u. s. w.
Bei den Sikh, sagt Masson2), war es nichts Unge-
wöhnliches, daß sämmtliche Brüder einer Familie eine Frau
gemeinschaftlich hatten, und er erzählt, daß eingeborene Sol-
daten der britisch-indischen Armee um Urlaub einkamen,
weil ihre Brüder eine Reise gemacht hätten und ihre Frau
allein sei. Die englische Armeeverwaltung erkannte eine
solche Forderung immer als vollkommen berechtigt an.
Oberst Dalton schreibt3), daß die Padam oder Bor
Abor in Assam Polyandristen sind, und daß es nichts Unge-
wöhnliches für eine Abor-Frau ist, mit zwei Brüdern als
Ehemännern zusammen zu leben. Ebenso sagt er, daß beiden
den Abor verwandten Miri und Daphla zwei Brüder sich
vereinigen, um eine Frau zu kaufen. Dagegen sehe ich
im Report on the Census of Assam for 1881 in dem
Kapitel Castes and Tribes par. 158, daß diese Stämme
eine derartige Insinuation mit Abscheu zurückwiesen und
behaupteten, daß auf ein solches Verhältniß Todesstrafe ge-
setzt sei. Im Journal of the Asiatic-Society of Bengal IX,
p. 834 finden wir aber die Angabe, daß Vielmännerei
sowohl in Sylhet als in Katschar, zwei von vielen ver-
schiedenen Stämmen bewohnten Distrikten Assams, vor-
komme.
Daß diese Sitte in mehreren Thälern des Himalaya,
in Kaschmir und in Tibet, wie vor Jahrhunderten, so auch
noch heute im Schwange ist, wird von allen Reisenden be-
hauptet, die dorthin vorgedrungen sind. Lieutenant Samuel
Turner, der 1783 als Gesandter nach Tibet ging und nach
seiner Rückkehr in England einen Reisebericht veröffentlichte
unter dem Titel: Embassy to the Court of tbe Teshu
Lama in Tibet, containing a narrative of a jouruey
tbrougb Bhutan and part of Tibet (London 1800),
erzählt, daß die Frauen von Tibet mit ihren drei oder vier
Ehemännern ebenso eifersüchtig wären, wie ein mohammeda-
nischer Polygamist es auf seine Weiber ist. Er sah eine
Frau, welche fünf Gatten hatte, alle Brüder, von denen
aber der eigentliche Ehemann der älteste war. Bei den
U Mantegazza, Snbicn,. S. 120.
2) Masson, Journeys in Baluchistan, Afghanistan and
the Panjab, vol. Ill, p. 87 ff.
3) Dalton, Ethnology of Bengal, p. 33.
Kürzere Mittheilungen.
93
Bhutia von Sikkim ist die Polyandrie eine sociale Ein-
richtung, die aber leicht in freie Liebe ausartetl).
A. Cunningham, der, wie sein älterer Bruder sehr werth-
volle Beiträge zur Geographie und Ethnologie Nordindiens
und des Himalayagebietes geliefert hat, sagt, daß bei den
Bhoti von Ladakh Polyandrie auf Bruder beschränkt ist.
Jede Familie von Brüdern hat nur eine gemeinschaftliche
Frau. In der Regel sind es zwei, aber auch vier und
fünf Brüder, die so zusammenleben. Indessen gilt dies nur
von den ärmeren Klassen, die Reichen sind, wie im Orient
überhaupt, gewöhnlich Polygamisten und haben, je nach
ihren Verhältnissen, zwei oder mehr Frauen2). Er fügt
hinzu, daß diese allgemeine Polyandrie das Haupthinderniß
einer stärkeren Volksvermchrung ist, erklärt aber, daß diese
unser Sittlichkeitsgefühl beleidigende Maßregel durch die
beschränkten Produktionsverhältnisse des armen Landes ge-
boten sei. Daß dies richtig ist, beweist die sofortige Er-
richtung besonderer Hausstände selbst im lamaitischen Tibet,
sobald sich die Erwerbsverhültnisse durch den Aufschwung
von Handel und Verkehr irgendwie günstiger stellen. Auch
das Vordringen des Islam macht der Vielmännerwirthschast
mehr und mehr ein Endeft.
Schließlich sei einer hübschen Anekdote gedacht, die uns
der schon erwähnte Dalton in seinem werthvollen Werke
Descriptive Ethnology of Bengal, Seite 36, giebt. Ein
sehr niedliches Dolphamädchen kam einst zur Station
Lackimpur, warf sich Oberst Dalton zu Füßen und flehte ihn
in poetischen Ausdrücken um seinen Schutz an. Ihr Vater-
habe sie einem Manne zugesagt, erzählte sie, dem sie keine
Neigung zuwenden könne, und daher sei sie mit ihrem Ge-
liebten .entflohen. Dies klang interessant und romantisch.
Der Oberst Dalton ließ die Sache untersuchen und der
Hauch der Romantik entfloh. Sie war mit zwei jungen
Männern auf und davon gegangen!
In seinem Werke Hunting in thellimalaya bemerkt
Dunlop, daß wo immer Polyandrie auftritt, sich auch ein
außerordertlich starker Unterschied in dem Verhältniß der
Geschlechter geltend mache. So fand er in einem solchen
Dorfe auf mehr als 400 Knaben nur 120 Mädchen. Er
glaubt auch, daß der Verdacht des Mädchenmordes hier
B Mantegazza, Jndien, S. 193 nach Hooker, Himalayan
Journals.
2) Balfour’s Cyclopaedia, vol. Ill, p. 245.
3) Vergl. Moorcroft, Travels in the Himalayan Pro-
vinces II, p. 321.
nicht aufkommen könne, da eine Frau mit schwerem Gelde
von ihren Eltern erkauft werden müsse. Und er bringt
zugleich Garhwal zum Vergleich, wo Polygamie herrscht,
und ein starker Ueberschuß von Mädchen vorhanden ist. Der
hier wie auch von anderer Seite schon oft ausgesprochene
Satz, daß bei Polygamie die weiblichen, bei Polyandrie die
männlichen Geburten vorwalten sollen und die Natur sich
gleichsam den örtlich herrschenden ehelichen Satzungen anbe-
queme, ist aber bereits von Oskar Peschel überzeugend wider-
legt worden I.
Jrrthümlich hat man bisweilen die Polyandrie ver-
wechselt mit der Gemeinschaftsehe, dem Hetärismus, wobei
die Frauen einer Horde Gemeingut aller Männer sind und
ein eheliches Zusammenleben gar nicht eyistirt. Ein solcher
Zustand soll früher bei vielen Völkern geherrscht haben, in
China bis zu Buddha's, in Griechenland bis zu Kekrops'
Zeiten. Nach Herodot kannten weder die Massageten noch
die äthiopischen Ausen eine Einzelehe. Strabo bestätigt
Herodot's Angabe hinsichtlich der Massageten und stellt wie
Solinus die nämliche Behauptung von den Garamanten,
einem anderen äthiopischen Stamme, auf. In Kalifornien
vereinigten sich nach Baegert beide Geschlechter ohne jede
Förmlichkeiten, auch fehlte den Bewohnern in ihrem Voca-
bularium das Wort „Heirathen". Garcilasso de la Vega
versichert, daß bei einigen peruanischen Stämmen vor der
Zeit der Inca kein Mann eine ihm allein gehörende Frau
besessen habe. Bei denAndamanen traf jedes Weib, welches
irgend einem Stammesgenossen die ehelichen Rechte vorzu-
enthalten suchte, eine harte Strafe. Von den Eingeborenen
der Königin-Charlotte-Inseln wird behauptet, daß ihnen
ursprünglich die Satzungen der Ehe völlig fremd waren
und daß die Frauen fast sämmtliche Männer ihres Stammes
als Gatten betrachteten, dabei aber gegen alle Fremde sich
äußerst zurückhaltend benahmen. Lubbockft, der diese und
andere Angaben verschiedener Schriftsteller anführt, glaubt,
daß wir allen Grund zu der Annahme haben, daß die nie-
drigsten Rassen in einem ehelichen Zustande lebten; wogegen
Peschel die Annahme ehcloser Vorzeiten des Menschen-
geschlechts als häßlich und unglaubwürdig bezeichnet, indem
wir schon bei Thieren eine strenge Paarung finden, nämlich
bei Affen, bei Raubthieren, Hufthieren, Wiederkäuern, bei
Sing-, Hühner- und Raubvögeln.
ft O. Peschel, Völkerkunde, S. 231.
ft Die Entstehung der Civilisation, S. 17.
Kürzere Mi
Prof. Heimes Gutachten über die Katastrophe
in Zug.
Gegenüber den vielfachen phantastischen Vorstellungen
über die Ursachen der Katastrophe vom 5. Juli am Zuger
See veröffentlicht der wohlbekannte Kenner derartiger Er-
scheinungen, Prof. Alb. Heim, in der „N. Züricher Ztg."
ein einem weiteren Leserkreise bestimmtes Gutachten, dem
tvir Folgendes entnehmen. Hiernach erstreckte sich der Zuger
See in längst verflossenen Zeiten weiter gegen Norden, rvohl
bis in die Gegend von Baar und wurde allmählich zurück-
gedrängt durch die Schuttablagerungen zahlreicher Bäche,
sowie derjenigen der Lorze. Die Altstadt Zug liegt auf
dem gröberen Bachschutt, die Vorstadt, das Bahnhofsgebiet
mtb die ganze Fläche bis zu kr Moräne von Cham werden
durch das Lorze-Delta gebildet. Bei Legung des Röhren-
t t h e i l u u g e u.
netzes für die Wasserleitung und bei anderen Gelegenheiten
beobachtete man im Gebiet der äußeren Vorstadt stets unter
x/2 bis 1 Meter Humusboden feinen Sand, dann in 2 bis
6 Meter unter der Oberfläche Seeschlamm, Seekreide mit
Resten von Pfahlbaupfühlen und Pfahlbaufundschichten. Das
Gleiche läßt sich am jüngsten Abrißrand vom 5. Juli beob-
achten. Gegen den inneren und nördlichen Theil der Vor-
stadt wird der feine Sand gröber und geht in Kies über,
der weiche Seeschlamm liegt tiefer oder fehlt gänzlich. In
noch größerer Tiefe folgt festerer Seeschlamm, vielleicht oft-
mals unterbrochen von eingelagertem Sand oder Kies. Dieser
in seiner Zusammensetzung wechselnde Schüttboden mag wohl
bis 60 Meter Tiefe reichen. Wirklicher Fels mag erst
tiefer folgen oder an den Gehängen des Zuger Berges im
Hintergründe der Altstadt anzutreffen sein. Bezüglich der
Ursachen der Katastrophe vom 5. Juli ist nun noch Folgen-
94
Kürzere Mittheilungen.
des voranzuschicken. Sämmtliche Seen lagern bekanntlich
stets einen feinen Schlamm an ihrem Boden ab, theils durch
die Zuführungen seitens der Bäche, theils aber auch durch
den Kalkniederschlag des Seewassers selbst, wie durch die im
See lebenden und absterbenden Organismen. Diese „See-
kreide" wird nun überlagert durch den Schuttkegel eines 1 in
den See mündenden Baches oder Flusses, wodurch der See-
schlamm zusammengepreßt und theilweise befestigt wird;
theilweise aber weicht er der auf ihn drückenden Last aus und
wird ausgequetscht und zwar ruckweise, wobei der ausge-
preßte Seeschlamm über das Gehänge am Secgrunde ab-
fließt und an stachen Stellen desselben sich anhäuft. Manch-
mal bleiben weiche Seeschlammmassen lange Zeit gefangen,
tragen auch größere Lasten, dann aber' genügt eine geringe
Störung des Gleichgewichts, um eine Katastrophe herbeizu-
führen. Derartige Abrutschungen sind vielfach, selbst am Zuger
See, beobachtet worden, wo 1435 ein Theil der Altstadt und
1591 ein Theil der Vorstadt versank. Bereits im Frühsommer
1884 wurden bei Gelegenheit der neuen Qnaibauten Risse
in beu anliegenden Gebäuden bemerkt und Fachleute, unter
denen sich auch Professor Heim befand, mit einer Unter-
suchung des Untergrundes betraut. Dieselben bezeichneten
schon damals die Lage als äußerst gefährlich, da aber die
Bauten schon zu weit gediehen waren, so konnte man nur
ein äußerst vorsichtiges Weiterbauen, veränderte Fundation
der Quaimauern zwecks geringerer Belastung des Bodens
und Ableitung des landeinwärts angestauten Grundwassers
anrathen. Eine direkte Schuld ist aber den Quaibauten nicht
ohne Weiteres zuzumessen, denn gerade an den vollendeten
Stellen hat keine Abrutschung stattgefunden, sondern nur an
den begonnenen Stellen, an denen gepfählt und neu ange-
schüttet war. An Rissen in den Gebäuden hatte es auch
nie gefehlt und waren solche Risse nicht nur Jahrzehnte,
sondern Jahrhunderte lang unverändert geblieben, so daß
es schwierig war, zu unterscheiden, ob diese Risse nur eine
Folge des festen und normalen Zusammensitzens des Aus-
füllungsmaterials oder von tieferen gefährlichen Bewegungen
abhängig waren. Der Absturz ant 5. Jnli erfolgte vertical derart,
daß sich das betroffene Gebiet um 7 bis 8 Meter senkte,
während der unten ausgequetschte Seeschlamm schon in
250 Meter Entfernung vom Ufer eine Erhöhung des Bodens
gegen früher bewirkte. Daß wirklich eine Seewärtsbewegung
des Schlammes stattfand, zeigten die in demselben steckenden
Pfähle des Quai, welche mit dem Schlamm in den See
hinausrutschten und erst in 100 bis 300 Meter Entfernung
vom Ufer frei wurden und an die Oberfläche emporschössen.
Neben dieser durch Menschenhand nicht zu vermeidenden
Ursache, nämlich dem Auspressen des Seeschlammes durch die
belastenden Oberschichten, kommen natürlich noch weitere
veranlassende Momente in Betracht. Durch Arbeiten, wie
Kanalisation, Wasserleitung re. wurde der feste Zusammen-
hang der oberen Schichten vielfach gelockert und die Ab-
trennung einzelner Theile befördert. Dazu kam weiter,
daß, wie schon in den Vorjahren, der Seespiegel tiefer stand
als das vom Lande drängende Grundwasser, so daß ein
Ueberdrnck von der Landseite entstand, der gerade Ende Juni
und Anfang Jnli relativ hoch war. Nur durch die Er-
schütternug bei der Pfählung und durch allmähliche Mehr-
belastung des Bodens «lag die Quaianlage nicht ohne Wir-
kung geblieben fein! Jedoch ist hervorzuheben, daß be-
reits seit 1880 alles gethan wurde, das Niveau des See-
spiegels mit dem des Grnudwassers durch tief gelegte Drai-
nage in Uebereinstimmung zu bringen. Vour 6. Juli
Morgens hat sich noch keine Fuge wieder gerührt. Was
aber kommen wird, da der Seeschlamm sich noch weiter
landeinwärts erstreckt, ist nicht vorauszusehen, möglich ist
nur, daß vielleicht der jüngste Einsturz und die Quaianlage
den rückliegenden Seeschlammm gefangen hält und konsolidirt,
jedoch ist dies eben nur möglich, nicht sicher.
Expedition nach Nen-Guinea.
Die unter ihrem Vorstande, dem Baron Ferdinand von
Müller, sehr rührige „Royal Geographical Society“ in
Melbourne hat von Neuem die Aussendung einer Expedition
nach Neu-Guinea beschlossen. Es handelt sich dies Mal um
die Erforschung des hohen Tafellandes, welches sich zwischen
Hood Bay in IO" 7' sM. Br. und 147° 45' östl. v. Gr.
und Dyke Acland Bay in 8° 58' südl. Br. und 148° 31'
östl. v. Gr. ausbreitet und bis 14 000 engl. Fuß (4267
ansteigt. Es soll vor Allem untersucht und festgestellt werden,
ob das Klima dieses Hochlandes gesund genug ist, um eine
permanente Ansiedlung von Europäern zu gestatten. Die
Leitung der Expedition ist dem Mr. W. R. Cuthbertsou über-
tragen worden, während Mr. W. Sayer ans Queensland als
Botaniker, Zoologe und Sammler engagirt ist. Mr. Cuth-
bertson ist Feldmesser und mit Neu-Guinea nicht unbekannt.
Er legte um Mitte vorigen Jahres, im Aufträge des Ober-
kommissairs Mr. John Douglas, in der unmittelbaren Nähe
von Port Moresby zwei nur eine englische Meile von ein-
ander entfernte Plätze zu Städten, genannt Granville East
und Granville West, welche für europäische Ansiedlung be-
stimmt sind, an, sowie eine 16 km lange Landstraße von
Port Moresby nach dem Lnloki-Flusse und einen Kirchhof,
ans welchem, aus Gesundheitsrücksichten, die Eingeborenen in
Zukunft ihre Todten beerdigen sollen. Mr. Cuthbertsou
wird, außer von Mr. Sayer, nur noch von e in em Europäer,
welcher die Motu Motu-Sprache der Eingeborenen kennt und
als Dolmetscher dienert soll, begleitet sein. Dieser wird erst
in Port Moresby engagirt werden. Gelaugt die Expedition
in einen Distrikt, wo die Motu Motu-Sprache nicht mehr
geläufig ist, so muß ein neuer Interpreter gewonnen werden,
welcher sich mit den Häuptlingen über die Bedingungen wegen
Durchzugs durch ihr Gebiet verständigen kann. Es ist unter
den Eingeborenen von Nen-Guinea allgemeiner Gebrauch,
daß ein Fremder, welcher sich ihrem Gebiete in friedlicher
Absicht nähert, an der Stelle, wo er es betreten will, einen
Speer und einen Schild niederlegt. Geschieht dies nicht, so
bedeutet das Feindschaft und Fehde. Mr. Cuthbertsou hat
in der ersten Juni-Woche Melbourne verlassen und hoffte arn
28. Juni Thnrsday Island, die bekannte, nur 130 km von
der Küste Nen-Guineas entfernte Hanptinsel in der Torres-
straße, und am 2. Juli Port Moresby, an der gegenüber-
liegenden Südostküste von Neu-Guinea, zu erreichen. Nach-
dem hier ein Dolmetscher gefunden und 40 Eingeborene als
Packträger und für andere Dienste gedungen worden, wird
Mr. Cuthbertson seine Reise ohne Verzug antreten. DieGe-
sammtkosten der Expedition glaubt man mit den 1000 Pfd. St.,
welche die Regierung der Kolonie Victoria der Geographischen
Gesellschaft in Melbourne vor einiger Zeit für wissenschaftliche
Zwecke überwies, decken zu können. Man hat dies Mal von
Mr. Henry Ogg Forbes als Leiter Abstand genommen, weil
man mit dem langsamen Fortschreiten der im vorigen Jahre
von ihm geleiteten Expedition, tvelche zuletzt resultatlos verlief,
unzufrieden war. (Vgl. Globus, Bd. 50, S. 160.) Greffrath.
Einiges über die Galtschas.
lieber die unter dem Namen Galtschas bekannten Berg-
bewohner in Kohestan giebt Ujfalvy in den Bulletins der
Pariser „Société ¿’Anthropologie“ einen eingehenden Be-
richt, der sich wenigstens theilweise auf eigene Beobachtungen
und Messungen stützt; er ist gleichzeitig eine Probe aus seinem
im Drucke begriffenen Werke „les Aryens au nord et au
sud de l’Hindou Kouch“. Die Existenz der Galtschas
Aus allen Erdtheilen.
95
ist neuerdings überhaupt bestritten worden; noch mehr ihre
Brachycephalie. Ujfalvy führt zunächst ein reichliches litterari-
sches Beweismaterial für die Existenz der Galtschas über-
haupt ins Feld, der Name ist nach der gewöhnlichen Angabe
voir ihrer Fußbekleidung abgeleitet; er findet sich als Calcia
schon 1603 in dem Reiseberichte des portugiesischen Jesuiten
de Goss, aber unter dem Namen werden zwei ganz ver-
schiedene Völkerstämme zusammengeworfen. Die echten
Galtschas sprechen einen Pamir-Dialekt, aber man nennt auch
Bergstämme so, welche zweifellos persischen Stammes sind,
Tadschiks, welche in die Berge gedrängt worden sind. Ihre
Sprache ist ein von türkischen und arabischen Beimengungen
freies Persisch, sie sind also schon in ihre heutigen Sitze an
den Quellslüsscn des Scrafschau gedrängt worden vor den
Einbrüchen der Türken. Seitdem wohnen sie dort als Acker-
bauer und Hirten, in halb in die Erde versenkten Häusern
aus Stein und Cypressenholz, deren Dächer gegen die Stürme
des Hochgebirges mit Steinblöcken beschwert sind. Ihre
Felder bewässern sie mit Hilfe von Wasserleitungen, die in
schwindelnder Höhe an den Bergwänden hinziehen; sie bauen
Weizen, Gerste, Hirse, Flachs und Bohnen, und um ihre
Wohnungen pflanzen sie Aprikosen- und Maulbeerbäume,
welche eine wichtige Rolle für die Ernährung spielen. Auch
Kirschen- und Nußbäume sind häufig und tragen trotz der
langen strengen Winter reichlich. Die Grundlage der Er-
nährung bildet übrigens die Milch in den verschiedensten
Formen; das Lieblingsgetränk ist saure Milch (airan), das
Nationalgericht humoch, eine Art Suppe aus Dickmilch mit
Mehlklößen. Der Ackerbau drängt sich auf die Monate Juni
bis September zusammen. Von Wichtigkeit ist für sie auch
das Erträgniß der Jagd, deren Gegenstand hauptsächlich eine
Wildziege bildet.
Die Galtschas sind ziemlich hoch gewachsen, mit weißer,
aber von der Sonne gebräunter Haut, stark behaart, mit
schwarzem oder kastanienbraunem Haupthaar, nur die Fan
sind häufig blond und selbst auch roth, die Augen sind braun
oder blau, die Nase lang, leicht gebogen, meist schön geformt,
die Lippen fein, die Zähne klein, aber meist vom Essen der
getrockneten Früchte angegriffen, die Stirn hoch, etwas zurück-
liegend, die Augenbrauen stark vorgewölbt, der Raum zwischen
den Augen nur klein. Das Hinterhaupt zeigt eine ganz
eigenthümliche charakteristische Abflachung. Sie zerfallen in
fünf Stämme: Maghian, Kschtut, Falgar, Matscha und Fan;
die häufig auch hierher gerechneten Iignob reden eine ganz
andere Sprache. Jeder Stamm wohnt in einzelnen Dörfern,
deren jedes seinen Vorsteher hat, aber sich ganz demokratisch
regiert; in früheren Zeiten hatte auch jeder Stamm seinen
Fürsten, der sich allerdings der Oberhoheit von Buchara,
Chokand oder Karatcgin fügen mußte, da diese Staaten
ihm jeder Zeit die Lebensmittelzufuhr abschneiden konnten,
aber doch eine ziemliche Macht besaß. Die heutigen Galtschas
sind nur die verkommenen Reste eines einst mächtigen Volkes.
Aus allen
Europa.
— Grandhomme, Der Kreis Höchst a. M. in
gesundheitlicher und gesundheitspolizeilicher
Beziehung einschließlich einer geschichtlichen und geologischen
Beschreibung desselben (Frankfurt 1887. 8°. 193 S.),
ist ein dankenswcrther Beitrag zur Lokalforschung, welcher
sich zwar wesentlich mit den hygienischen Verhältnissen des
betreffenden Kreises beschäftigt, aber auch ein vollständiges
Bild der gegenwärtigen Zustünde bietet und auch die Boden-
beschaffenheit ziemlich eingehend berücksichtigt. Aehnliche
Monographien wären für alle deutschen Kreise zu wünschen;
sie würden für spätere Zeiten eine werthvolle Grundlage für
das vergleichende Studium der Entwickelung der einzelnen
Gaue Deutschlands bieten. Ko.
— Die Russische Regierung hat jüngst beschlossen, an den
Universitäten des Reiches Lehrstühle für Geographie ein-
zurichten. Die erste Professur wird im Herbst dieses Jahres
die Universität zu St. Petersburg erhalten.
A s i e n.
— Ueber das Erdbeben, welches am 9. Juni die Stadt
Wjernoje in der Provinz Semirjetschensk (Sibirien) heimsuchte,
liegen Nachrichten vor, aus denen Folgendes hervorgeht. Das
Erdbeben erstreckte sich auf einen Umkreis von etwa 1000 km
und trat am stärksten in Wjernoje auf, das sammt den dabei
liegenden zahlreichen Kosakendörfern gänzlich vernichtet wurde.
Gegen 800 Leichen hat man aus den Trümmern entfernt
und zahlreiche Risse und Spalten der Oberfläche deuten auf
die Erregtheit des Inneren. Die Katastrophe brach, indem
mehrere Stöße in kurzen Intervallen einander folgten, um
4 U. 35 M. (Ortszeit von Wjernoje) herein. Da in Tasch-
kent um 4 11 18 M. (Ortszeit von Taschkent) an demselben
Morgen eine flache Erdbebenwelle verspürt wurde, durch
welche aufgehängte Gegenstände in Bewegung geriethen, so
ergiebt sich unter Berücksichtigung der Entfernung beider Orte
Erdtheilen.
und der Zeitdifferenz, daß die Welle in der kurzen Zeit von
13y2 Minuten eine Strecke von 400 Meilen (milos) und
zwar in diagonaler Richtung die ganze Westhälfte des Thian-
Schau durchlief. Das Merkwürdigste und nahezu ein Räthsel
für die Wissenschaft ist das Auftreten des Erdbebens gerade
in diesem Gebiete, denn alle wissenschaftlichen Theorien stimmen,
lvenn auch abweichend im Einzelnen, im Allgemeinen doch
darin überein, daß die Nähe des Meeres eine hervorragende
Rolle bei den Erdbebenerscheinuugeu spielt. Alle Erdbeben
finden gewöhnlich in gebirgigen Gegenden in der Nähe des
Meeres statt. Gebirgig ist nun allerdings das Gebiet um
Wjernoje, aber das Meer fehlt, da man doch den kleinen
Jssyk-Kul im Süden oder den größeren, aber weiter ent-
fernten Balchasch-See im Norden nicht für dies Erdbeben
verantwortlich machen kann. Möglich kann jedoch sein, daß
von dem Meere, welches im Tertiärzeitalter das nördliche
Eismeer mit dem Kaspischen Meere verband und die sibirische
Tiefebene überfluthete, Wassermassen durch Infiltration in das
Erdinnere gelangt sind und hier unterirdische Wasserbassins
gebildet haben, so daß sich dieses Erdbeben etwa durch Ein-
stürze, die in diesen Hohlrttumen stattgefunden haben, erklären
ließe. Zur genauen Erforschung der Ursachen dieses Erd-
bebens, dessen Dauer noch nicht aufzuhören scheint, indem
am 20. Juni durch einen erneuten Stoß von 10 Sekunden
Dauer die wenigen Reste von Wjernoje noch größtentheils
zerstört wurden, hat die Russische Gesellschaft für Geographie
eine Specialexpcdition an Ort und Stelle entsandt, an deren
Spitze Muschketow steht.
— Wie der „Allgem. Ztg." aus Leipzig berichtet wird,
beabsichtigt der durch seine Reisen namentlich auf den Sandwich-
Inseln und in Australien bekannte, aus Livland stammende
Graf Anrep-Elmpt demnächst eine größere Reise nach
dem noch gänzlich unerforschten Hochplatearl von Annam zu
unternehmen. Seine Aufmerksanlkeit lvill der genannte
Reisende hauptsächlich auf die ethnographischen Verhältnisse
des Landes richten und hierauf einen Zeitraum von zwei
06
Aus allen Erdtheilen.
Jahren verwenden, um dann durch Siam und Tibet die >
Rückreise anzutreten. Ganz besonders wird es sich Graf
Anrep angelegen sein lassen, Sammlungen ethnographischer
Gegenstände anzulegen, welche unsere Kenntnisse der Völker-
schaften jener Gebiete wesentlich bereichern würden.
Afrika.
— Wie dem „Mouvem. Géographique“ aus sicherer
Quelle aus Kairo berichtet wird, sind daselbst Nachrichten
eingelaufen, laut welchen Lupton-Bey und Slatin-Bey,
die ehemaligen Gouverneure der Provinzen Bahr-el-Gazal
und Darfur, noch am Leben sind und sich in Gefangenschaft
in Chartnm oder Omdurman befinden. Ist schon dies eine
glückliche Nachricht, die beiden verdienten Forscher am Leben
zu wissen, so lebt hiermit auch die Hoffnung auf, Mittel aus-
findig zu machen, um sie ganz zu befreien, obwohl die Aus-
sichten hierzu nicht gerade glanzende sind. Denn wenn es
schon schwierig ist, vorn Congo aus nach Wadelai vorzudringen
und Emin-Pascha sowie Casati zu befreien, so ist es doch noch
etwas gewagter, den Nil hinauf zu fahren und mit den suda-
nesischen Rebellen zu verhandeln oder etwa gar um die Be-
freiung der beiden Gefangenen zu kämpfen. Hoffen wir nur,
daß sich Mittel finden lassen, diese beiden Männer der Freiheit
und der Civilisation wieder zu geben.
— Wie „Le Mouvement Géographique“ berichtet, ist
jüngst durch den Kapitän Van Gèle der Lopori, dessen
Mündung in den Lulongo Grenfell und von Francois
bei der Erforschung des letzteren (vergl. „Globus", Bd. 49,
S. 78) nur flüchtig studiren konnten, mit dem Dampfer
„Henry Recd" befahren worden. An der Mündung hatte
hiernach der Lopori eine Breite von 500 m und eine Tiefe
von 2 ’/2 m, auch war seine Befahrung an dieser Stelle
wegen vieler Sandbänke schwierig, und die Ufer wegen ihrer
Flachheit sowie ihrer Steilheit an den Stellen, wo auf der
linken Seite eine Hügelreihe an den Strom tritt, wenig be-
völkert. Fischereianlagen, versteckte Kähne, zahlreiche Wege
vom Flusse in das Innere sowie die Marktplätze, an denen
sich die Bewohner beider Ufer treffen, sind jedoch Zeugnisse
genug, daß das Innere dichter bewohnt ist. Die Kricgs-
trommel, welche die Ankunft eines Fremden oder Feindes
auf dem Flusse meldete, wurde während der ganzen Fahrt
gehört. Nach einer Fahrt von sechs Tagen begannen sich
häufiger Dörfer zu zeigen, deren Bewohner jedoch jede Landung
verhinderten, auch war in diesem Theile der Flußlauf sehr
gewunden und das Fahrwasser durch abgestorbene Baum-
stämme verengt. Ungefähr bis zum Meridian von Upoto
behält der Lopori seine Richtung aus NO bei, findet aber
hier, wo er sich dem linken Congo-Ufer bis ans einen Tage-
marsch genähert hat, ans seinem rechten Ufer eine Hügelreihe,
die ihn plötzlich seine Richtung zn ändern nöthigt. Van Gèle
befuhr ihn noch ein Stück bis zum Dorfe Jkengo, woselbst
der Fluß noch eine Breite von 60 in, eine Tiefe von 3^2 m
und eine mittlere Sekundengeschwindigkeit von 3/4 m besaß.
Die Dörfer ans dem linken Ufer gehörten dem Stamme der
Ngonzi an. Interessant ist auch hier wieder der Parallelis-
mus des Congo mit seinen Hauptzufliissen, der zur Genüge
die schon früher ausgesprochene Vermuthung von der Ab-
wesenheit links- und rechtsseitiger Nebenflüsse in diesem Theile
seines Lanfcs erklärt. Elephantenheerden zeigten sich vielfach
während der Fahrt, anet) schlugen die Häuptlinge der am
Lulongo wohnenden Stämme, mit denen Van Gèle bei
seiner Rückfahrt Tauschhandel zn treiben in der Lage war,
demselben vor, Handelsstationen bei ihnen einzurichten (!).
Australien.
— Der russische Reisende N. Mikloucho Maclay ist wieder
in Sydney eingetroffen, um seine dort gelassene Frau und
Kinder abzuholen, ist aber am 24. Mai mit demselben Dampfer,
dem Bremer Reichsdampfer „Neckar", mit Familie nach
Europa zurückgekehrt. Die rheumatischen Leiden, welche er
sich auf seinen Forschungsreisen in Neu-Guinea und in der
Südsee zugezogen, gestatten ihm den Aufenthalt im nördlichen
Europa nicht mehr. Er beabsichtigt ungefähr zwei Jahre
in Italien zu verleben, will in dieser Zeit ein größeres Werk
über seine Reisen in russischer und englischer Sprache heraus-
geben und dann mit seiner ganzen Familie nach Australien
(Sydney) für immer zurückkehren. Weitere Forschungsreisen
gedenkt er nicht wieder zu unternehmen.
Vermischtes.
— C. S. Devas, Studien über das Familien-
leben. Ein Beitrag zur Gesellschaftswissenschaft. (Autori-
sirte Uebersetzung ans dem Englischen von Paul Maria
Baumgarten, Jur. utr. Dr. Paderborn und Münster,
Schöningh, 1887, 8°, 256 S.)
Wir haben es hier mit einem interessanten Seitenstück
zu Schneider's in demselben Verlage erschienenen Naturvölkern
(vgl. „Globus" Bd. 50, S. 112) zn thun, dem Versuche, nach-
zuweisen, daß nur das Christenthum resp. die von ihm ein-
geführte Art der Ehe mit ihrer Einheit, Heiligkeit und Un-
auflöslichkeit, also richtiger nur die katholische Ehe, eine
Familie im wahren Sinne schaffen könne. Das Bnch zer-
fällt in drei Abtheilungen, welche die vorchristliche, die christ-
liche und die nachchristliche Familie schildern; letztere Abtheilung
uinfaßt nicht nur die mohammedanische Familie, sondern der
Autor erkennt an, daß die civilisirteren Völker mit ganz ge-
ringen Ausnahmen heute kein christliches Familienleben
mehr haben, am wenigsten natürlich in dem doch so gut
kirchlichen Amerika, wo allerdings die Schule der Kirche
völlig entzogen ist, aber auch in Frankreich und selbst in dem
frommen England; den englischen Arbeiter uns dem Lande
sowohl wie in den Städten und den kleineren Handwerker
rechnet Devas ganz entschieden zu den Nach-Christen und
stellt sie tief unter die Iren. Das Kapitel über die christ-
liche Praxis nimmt nur 10 Seiten ein; es scheint dem Ver-
fasser schwer gehalten zn haben, passende Beispiele aufzu-
finden. Auch die Verherrlichung des Cölibates, welches dem
Laien ein erhebendes Beispiel von Enthaltsamkeit giebt (!),
und ihm beweist, daß er sich mit einer Frau begnügen kaun,
wird wohl nur in ganz frommen Kreisen einen überzeugenden
Eindruck machen. Durch das ganze Buch zieht eben das
Bestreben, das uns auch in Schneider's Naturvölkern ent-
gegentritt, alle Lichtseiten der Civilisation dein Christenthum
zuzuschreiben, alle Schattenseiten dem Abfall von ihm. —
Sehen wir aber von dieser Tendenz ab, so müssen wir an-
erkennen, daß das Buch des Oxforder Professors einen
reichen Schatz von geschickt gruppirten Thatsachen beibringt,
die auch für den Gegner seiner Richtung beherzigenswerth
sind, und daß es in anziehender und anregender Weise ge-
schrieben ist. Auch die Uebersetzung ist recht gut und die
Ausstattung macht dem Verleger alle Ehre. Ko.
Berichtigungen:
S. 56, Sp. 1, Zeile 26 von unten lies Kulturgewächs
statt Naturgewächs.
S. 56, Sp. 2, Zeile 9 von oben lies Stamm statt Strom.
Inhalt: Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien. XIV. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. C. Keller: Die Kolonisations-
Versuche in Madagascar. 11. (Schluß.) — Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie. I. — Kürzere Mittheilungen: Pros.
Hcim's Gutachten über die Katastrophe in Zug. — Expedition nach Neu-Guinea. — Einiges über die Galtschas. — Aus allen
Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien. — Vermischtes. (Schluß der Redaction am 22. Juli 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschweig.
Wii brsondrrer HrrurlrsichklZung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben van
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1887.
Cagnaks und Saladiiks Reisen in Tunesien.
Das Lager von Suk el-Dschema ist eines der gesundesten
und bestgelegenen in der ganzen Regentschaft und, obwohl
auf einem Berge gelegen, doch gegen die heftigen Winde
geschützt. Die Temperatur ist stets, selbst im Sommer,
niedrig, im Winter sogar zu kalt, denn es fällt oft reichlich
Schnee. Krankheiten find deshalb selten und Epidemien
treten weniger heftig auf, als in anderen tunesischen Garni-
sonen. Außerdem besitzt es eine prächtige Quelle, welche
zur römischen Zeit durch einen noch ziemlich gut erhaltenen
Aquädukt von 5 bis 6 km Länge nach der nahen Stadt
Mactar, deren Trümmer den alten Namen in der Form
bis heute bewahrt haben, geleitet wurde. Diesen Ruinen
galt der nächste Ritt unserer Reisenden. Kurz che sie
dieselben durch einen der beiden vorhandenen Triumph-
bogen erreichten, stießen sie ans ein Oelbaumwäldchen, in
welchem einige kleine, mit Aesten bedeckte Lehmhäuser standen.
In diesem Theile des Landes ist die Bevölkerung nämlich
nur hälbnomadisch und flüchtet sich zur Winterszeit in solche
Hütten, welche immerhin wärmer sind, als die Zelte aus
Ziegen- und Kameelshaaren. Kommt der Frühling, so
muß das reichlich vorhandene Vieh gehütet werden; man
schlägt also sein Zelt auf einer Hochebene oder in irgend
einem Thale der Nachbarschaft auf und bleibt dort so lange,
bis das Vieh kein Futter mehr findet, um dann weiter zu
zieheil und erst im Herbst Zuflucht in den Lehmhütten zil
suchen. Sobald man diesen Oelbaumhain hinter sich hat,
bemerkt man den schon erwähnten einen Triumphbogen,
dessen Fundamente durch den vorbeislicßenden Bach und die
Regengüsse bloßgelegt sind. Es ist ein großer, mit vier
Pilastern geschmückter Bogen; die zu je zwei nild zwei an-
geordneten Pilaster tragen ein korinthisches Getäfel, und
Globus LU. Nr. 7.
zwischen ihnen befinden sich halbrunde flache Nischen. Die vor
ihnen frei stehenden Säulen sind setzt verschwunden. Weiter-
hin stößt man auf ein, aus antiken Steinen errichtetes
Heiligengrab, dem Sidi Amor geweiht; solcher Kubbas giebt
es in und bei den Ruinen drei, welche das Grab eines
Vaters und seiner beiden Söhne, Sidi Ali ben-Ahmar, Sidi
Amor und Sidi Amru, umschließen. Alle drei stehen bei
dem Stamme der Uled-Ajar in so hohem Ansehen, daß man
ihnen je ein Grabmal errichtete, anstatt, wie arme oder geizige
Stämme thun, alle drei in einem zu vereinigen. Neben Sidi
Amru liegt das Amphitheater, das durch seine Kleinheit gegen-
über denen viel unbedeutenderer Städte auffällt und außer-
dem schlecht erhalten ist.
Unweit davon erhebt sich zur Linken das weithin sichtbare
Mausoleum der Julier, welches über der Thür einen Opfer-
zug in Basrelief von guter Erhaltung, aber fast barbarischer
Arbeit trägt. Aus dem oberen Theile des Denkmals ist
eine lange Inschrift in Versen eingegraben, die zum Theil
sich noch an der ursprünglichen Stelle befindet; sie singt das
Lob des im Alter von 22 Jahren gestorbenen Gaius Julius
Proculns Fortuuatianus, seiner Mutter Pallia Saturnina
und einer dritten, weiblichen Person, deren Namen ver-
schwunden ist. Im Inneren befinden sich sechs Nischen,
welche einst die Aschenurnen jener drei Personen, dann des
Vaters Marcus Julius Maximus und zweier weiterer Indi-
viduen enthielten.
Am anderen Ende der Ruinen liegt ein ähnliches, aber
viel besser erhaltenes Mausoleum, dessen pyramiden-
förmiger First noch aufrecht steht. Sieben korinthische
Pilaster mit schönem Getäfel umgeben' die Kammer des
unteren Stockwerkes, über der verkröpften Thür ist cben-
13
98
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
falls eine Opferscene in Basrelief angebracht, und den
Oberstock bildet eine Cella, in welcher die Bildfäule des
Verstorbenen stand; dieselbe ist ebenso verschwunden, wie
die beiden davor stehenden korinthischen Säulen. Das
Ganze entbehrt der Zierlichkeit keineswegs. Auf-
fallend aber ist, daß das Denkmal nie eine andere Inschrift
getragen hat, als die drei Buchstaben DMS (Diis Mani-
bus sacrum).
Ein zweiter Triumph-
bogen oder, wenn man will,
ein Deukmalartiges Thor,
der Inschrift zufolge unter
Trajan erbaut, bildet den
Zugang zu dem Markt-
platze der Stadt; mächtig
erhebt sich feine fast un-
verletzte Fa^ade über die um-
liegenden Ruinen. Im Ge-
gensatz zu fast allen übrigen
Triumphbögen im römi-
schen Afrika besteht sie aus
einem massiveu rechtwinke-
ligen Mauerwerk, das auf
jeder Langseite mit zwei
korinthischen Säulen, einer
nahe jeder der vier Ecken,
und eben solchem Gesims ge-
schmückt war. Der Durch-
gangsbogen, 3,90 in hoch,
ragt nicht bis zur Mitte
der Höhe des ganzen Bau-
werks auf; auch er hat
zwei korinthische Säulen
mit Gesims und Giebel.
Einen ganz ähnlichen Bogen
aus späterer Zeit haben
Eagnat und Saladin ili
Bordsch Abd-el-Melek ge-
funden.
Unweit davon liegen
die Reste eines aus großen
Blöcken gewölbten Gebäu-
des, das zuerst offenbar zu
Bädern eingerichtet und
in byzantinischer Zeit zum
Mittelpunkt einer Befesti-
gung gemacht worden war;
Theile heidnischer Gebäude
fanden dabei ebenso Ver-
wendung, wie christliche
Grabsteine. Schließlich ist
noch ein der Diana und
dem Apollo geweihterTem-
pel zu nennen, der neben
der Wasserleitung liegt; die
Hiuterwand seiner Cella ist Pyramidenförmiges
eingestürzt, und die Säulen (Rach einer
ragen noch 2 bis 3 in über
dem Boden empor. Gut geleitete Ausgrabungen haben die
Basis der Säulen, welche den Tempel umgaben, bloßgelegt;
es wäre nicht schwer, ihn ganz auszugraben. In der Cella
finden sich rechts vom Eingänge die Tempelvorschriften in
den Stein gegraben.
Unter Führung einiger Officiere des Lagers von Suk
el-Dschema hatten die Reisenden die Ruinen bald durch-
wandert und die wichtigeren Inschriften abgeschrieben,
nahmen dann unter Oelbäumen ein Frühstück ein, dessen
größte Würze in der lebhaften Unterhaltung' mit ge-
bildeten Landsleuten bestand, und besichtigten, nachdem
die größte Hitze vorüber war, die in der Nähe befindlichen
Dolmen und die Nekropole von Maetar, deren Grab-
schriften zum überwiegenden Theile in lateinischen Lettern
abgefaßt sind; nur wenige haben libysche Aufschriften.
Eine der merkwürdigsten Inschriften, in welcher ein zu
Ehren und Wohlstand aufgestiegener einfacher Landmann
seinen glücklichen Lebens-
lauf erzählt, und zu wel-
cher die Cursivschrift jener
Zeit benutzt ist, befindet
sich jetzt im Museum des
Louvre.
Am nächsten Morgen
setzten die Reisenden ihren
Weg nach Zama fort und
zwar in nördlicher Nich-
tung über ziemlich schmie-
riges und mit Gestrüpp
bedecktes Terrain; man be-
greift hier leicht, wie diese
schwer zugängliche Gegend
zu jeder Zeit, und zuletzt
noch bei der französischen
Besetzung des Landes, der
Zufluchtsort von Rebellen
gewesen ist. Nach zweistüu-
digem Ritte erreichte man
den Wed el-Hammamund
an demselben die Ruine eines
Triumphbogens, H ens ch i r
Hammam-Zuakra ge-
nannt, der einzige Ueberrest
des antiken Thigibba, von
welchem unsere dritte Ab-
bildung eine restaurirte geo-
metrische Darstellung giebt.
Auf dem gegenüberliegenden
Flußufer haben sich sehr
merkwürdige megalithische
Denkmäler, sowie römische
Gräber erhalten. Die Rei-
fenden hielten sich aber nur
kurze Zeit hier auf und
setzten bald ihre Reise im
Thale des Wed el-Hammam
abwärts fort. Dieser Fluß
ist zwischenzwei hohen, senk-
recht abfallenden Felswän-
den eingeschlossen, welche
nur ab und zu von einer
Spalte, in der ein kleiner,
jetzt ausgetrockneter Gieß-
bach vom Gebirge herab-
Grabmal in Makler. stürzt, unterbrochen werden.
Photographie.) Zur Regenzeit muß dieser
Weg, schon jetzt unange-
nehm und wegen des lehmigen Bodens schwer zu bereisen,
völlig unpassirbar werden. Ehe man diesen Engpaß ver-
läßt, kommt man bei Nebenanpflanzungen vorbei, die hoch
oben am Abhange des Berges gut gedeihen; natürlich sind
sie von den Eingeborenen nur der Trauben wegen angelegt,
nicht des verbotenen Weines halber. Eine Stunde später
war El-Le Hs (die neue französische Karte von Tunesien
in 1 : 200 000 schreibt Ellez) erreicht, ein arabisches Dorf,
das auf der Stelle eines fast ganz verschwundenen antiken
100
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
Ortes (wie man früher glaubte, von Zama Regia) steht.
Die einzigen vorhandenen Denkmäler sind vorrömischen Ur-
sprungs: prachtvolle Dolmen, schöner als alle früher
gesehenen, etwa 15 an Zahl, aus großen, auf die Kante
gestellten Felsplatten errichtet und mehr bedeckte Gänge als
gewöhnliche Dolmen. Schon Catherwood hat einen.der-
selben, welcher auf der Spitze des Berges sich erhebt, dessen
Abhang die Häuser von El-Lehs trägt, 1882 in den
„Transactions of the American Ethnological Society“
(S. 489 bis 491) beschrieben; in der Mitte ein 4 Fuß
breiter, 6 Fuß 5 Zoll hoher und 30 Fuß langer Gang, in
welchen nur eine einzige, 2 Fuß 10 Zoll breite Thür hin-
einführt. Am Ende des Ganges liegt eine kleine Kammer
von fünfmal 4 Fuß, zu seinen beiden Seiten aber je fünf
(Catherwood schreibt irr-
thümlich drei) andere, welche
achtmal 7 Fuß und 5 Fuß
10 Zoll Höhe haben, jede
mit ihrer eigenen 2 Fuß 4
Zoll breiten Thür. Der
Umstand, daß der Ameri-
kaner in dem uralten Ban-
werke zwei arabische Fami-
lien wohnen fand, scheint
ihn zu der Meinung ver-
anlaßt zu haben, daß das-
selbe von Anfang an zu
einem Wohngebäude be-
stimmt war, während es
doch ein megalithischcs
Grab, und zwar eines der
merkwürdigsten ist. Cather-
wood's Beschreibung ist so-
weit richtig; nnr findet sich
außer dem Mittelgange noch
auf der linken Seite ein
schmaler Nebenkorridor; es
sind nämlich vier schöne
Steinplatten 60 cm von
der Außenwand des Dol-
mens und in einem Ab-
stande von iy2 m von ein-
ander aus die Kante ge-
stellt und tragen die Enden
der gewaltigen Deckplatten.
Ob sie nnr zur Verstär-
knng des Ganzen oder einem
anderen Zwecke dienten, ist
schwer auszumachen.
Von El-Lehs ritten die
Reisenden am Nachmittage
in nordöstlicher Richtung
nach dem Wed Massudsch zu
und lagerten in dessen Oberlaufe inmitten eines großen Dnars
unfern von zwei Grabmälern, einem offenbar einheimisch-
afrikanischen, Kober-el-Kulib mit Namen, das aus drei oben
abgestumpften Stufenpyramiden auf einer Basis besteht,
und einem römischen Mausoleum; der Ort führt den Namen
Tual-Zuamöl. Da das Haupt der Duars ein Einwohner
der Stadt Tunis, welcher alljährlich im Frühjahr erscheint,
um seine Ernte zu überwachen, und gleichzeitig ein Bekannter
Ali's war, so fanden Cagnat und Saladin freundliche Auf-
nahme. Gegend Abend entwickelte sich hier ein anziehendes
Treiben. In den Zelten verdoppelt sich die Geschäftigkeit,
denn die Heerden kehren von der Weide zurück, die Euter
von Milch geschwellt. Hier hält eine Frau eine Ziege bei
den Hörnern fest, während eine zweite sie melkt, und zwei
Kinder, eines in Blau, das andere in Weiß, vor dem Zelte
herumspringen. Weiterhin hocken andere Weiber; eine dreht
eine Getreidemühle, eine andere schüttelt einen Schlauch
voll Milch, der an Stricken von einer Zeltstange herab-
hängt — das gewöhnliche Verfahren bei der Erzeugung
von Butter. Hinter ihr steht ein Webstuhl mit einem zur
Hälfte vollendeten Stücke'Stoff, an welchem die Frau so
oft und so lange arbeitet, als andere Haushaltungssorgcn
sie nicht abrufen. Vor ihr liegt eine Hündin, säugt drei
Junge, die wie Kugeln von weißer Wolle aussehen, und
knurrt jeden an, der sich nähert. Die Männer stehen und
liegen in einiger Entfernung umher und plaudern, während
ferne Flintenschüsse anzeigen, daß ein Fest gefeiert wird.
Denn jetzt, wo die Ernte herannaht und man thätige Arme
braucht, ist die Zeit für Ehe-
schließungen, und die junge
Frau kann jetzt auf zwei
Monate voll Nachgiebigkeit
von Seiten des Mannes
rechnen. Wenn aber die
Ernte vorbei ist, und sie
geholfen hat, die Silos ihres
Mannes zu füllen, so kann
sich die Sachlage leicht
ändern; denn daun besitzt
der Mann Mittel, um sich
eine neue Gattin zu kaufen,
und die erste kann Bekaunt-
schaftmitdemStocke machen.
Nun kommt blökend eine
ganze Heerde Schafe ange-
zogen und legt sich friedlich
zwischen dem Zelte der Rei-
senden und dem Duar nie-
der. Im Hintergründe aber
erheben sich die grünen Ab-
hänge des Gebirges (wohl
des Dschebel Massudsch),
dessen Gipfel mit dunkeln
Flecken, Lentiscusbüschen
und Fichtengruppen, gezeich-
net ist; darunter liegen die
regelmäßigen Vierecke der
Gerstenfelder, hellgrüner
von Farbe und mit rothen
Punkten, den Blüthen des
Feldmohns, getigert.
Als sie am nächsten
Morgen ihren Weg nach
Dschama fortsetzen wollten,
kam ein Reiter daher, hielt
vor einem der nächsten Zelte
an und stieg ab. Drei
Frauen traten aus dem Zelte, wechselten mit ihm einige Worte
und fingen sogleich an, lautes Geschrei auszustoßeu, sich die
Brust zu schlagen und so zu thun, als rausten sie sich die Haare.
Andere kamen herzngelaufen, ein Kreis bildete sich und
das Wehklagen der Hinzugekommenen verband sich mit dem
der ersten; es ist ein taktmäßiges Heulen, ein abgemessenes
einförmiges Klagen, von Gesten der Verzweiflung begleitet.
Es ist eine Scene, wie sie die Bibel, die homerischen Ge-
sänge und andere antike Schriften so oft schildern, und
die sich im Orient noch heute täglich wiederholt. Die
Ceremonie hat indessen keine lange Dauer; wie mit einem
Zauberschlage hört das Klagen und Heulen plötzlich auf,
der Kreis der Frauen löst sich auf, jede kehrt in ihr Zelt
zurück, und im Duar herrscht wieder vollkommene Ruhe.
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
101
Der Reiter war von Kef gekommen und hatte die Nachricht ge-
bracht, daß die Schwester von einer der Frauen gestorben sei.
Am Abhange des Dschebel Massudsch entlang erreichten die
Reisenden das ziemlich hoch (800 m) inmitten römischer Ruinen
gelegene, ca. 15 Irrn entfernte Dorf Dschama (Jiama
der oben erwähnten Karte), von welchem es jetzt ausge-
Dolmen bei el-Lehs. (Nach einer Skizze von H. Saladin.)
macht ist, daß es dem Zama Regia, dem Königs sitze im
südlichen Numidien und berühmten Schlachtorte, entspricht.
Auf diese Frage näher einzugehen, ist hier nicht die Stelle, wir
verweisen deshalb auf Th. Mommsen's Aufsatz im „Hermes",
Bd. 20, S. 144 ff. und bemerken nur, daß es zwei Orte
mit deinen Zama gab, das bei Dschama und ein zweites,
Klagegeschrei. (Nach einer Skizze Saladin's.)
etwa 45 km östlicher in den Bergen bei Sidi-Amor- > gesucht, aber erst ganz vor Kurzem hat M. Lctaillc eine
Dschedidi gelegenes (Colonia Zamensis). Priest de Samte ! Inschrift daselbst aufgefunden, welche jene Annahme zur
Maria hatte das Schlachtfeld schon seit 1857 bei Dschama j Gewißheit erhob. Erinnern wir noch daran, daß Scipio
102
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
von Utica her im Thal des Bagrados (Neuschirda) aus-
wärts auf Theveste (Tebessa) zu vorrückte, während Hannibal
von Hadrumatmn (Susa) rechtwinkelig zur Marschrichtung
des Feindes landeinwärts zog und bei Zama lagerte.
Daraus bog Scipio von der großen Straße ab, schlug
sein Lager unweit Zama bei Narraggara, einem noch
nicht ideutificirten Orte, auf und hatte mit Hannibal
eine ergebnißlose Zusammenkunft. Dann erfolgte die
Schlacht, welche Carthagos Schicksal entschied. Da wir
nun wissen, daß die große Straße Carthago-Theveste,
auf welcher Scipio zog, nur etwa 20 km westlich von
dem heutigen Dschama vorbei läuft, so ist es höchst
wahrscheinlich, daß die Schlacht in der großen Ebene nord-
westlich von Zama, welche im Westen vom Wed Tesfa
begrenzt wird, stattfand; sie ist auf Blatt 4 der Carte de
la TWisie ä V200 000 als Bahirt Rhorfa und Baba Souda
bezeichnet.
Von dem antiken Zama hat sich nur ein Bauwerk
erhalten, dessen Neste von den Arabern Sraia m'ta Rumi
(Palast der Römer) genannt werden und das wahrscheinlich
einst als Bad diente. Die reichlich sprudelnde Quelle,
welche das jetzige, angeblich erst vor etwa 20 Jahren aus
den vorhandenen Trümmern erbaute Dorf versorgt, ergießt
sich durch einen gewölbten Gang in ein antikes Becken, das
im Mittelpunkt einer kleinen Kammer ausgegraben ist.
Der Raunr hat eine schöne Wölbung aus Bruchsteinen,
welche aber heute mehrfache Risse hat, welche die Einge-
borenen , so gut es ging, mit Zweigen und Lehm verstopft
Gesammtansicht von El-Kef. (Zeichnung von H. Salad in nach der Natur.)
haben; er liegt mehrere Meter unter dem heutigen Erd-
boden, so daß man auf einer Treppe in ihn hinabsteigen
muß. Ein zweiter gewölbter Kanal führt das überflüssige
Wasser in die Gärten des Dorfes, die in Folge des nie
fehlenden Wassers sehr fruchtbar sind und die schönsten
Oel- und Feigenbäume ausweisen. In alter Zeit genügte
aber diese Quelle den Bewohnern von Zama nicht; das
beweisen drei bis vier große Cisternen im oberen Theile
des Dorfes, welche durch eine zum Theil noch erhaltene
Leitung mit dem Wasser der etwa 8 km westlicher gelegenen
Quelle Dschebnr gefüllt wurden. Ebenso wurde Ain Ali,
eine andere nahe Quelle, zur Versorgung Zainas benutzt.
Dies, wie die marmornen Säulen und Kapitale, die in
den Häusern vermauert sind oder noch in einer antiken
Ruine am Fuße des das Dorf überragenden byzantinischen
Kastells herumliegen, beweisen, daß Zama einst ein wich-
tiger und reicher Ort war. Vielleicht führen Ausgrabungen
hier zu weiteren Entdeckungen; was über der Erde erhalten
ist, ist dürftig genug.
So rasch, als cs bei dem durch Regen aufgeweichten
Boden möglich war, ritten die Reisenden am nächsten
Morgen nach Zuarin zurück, wo ihr Gepäck sich befand,
besuchten von dort mit einem westlichen Umwege die gerade
südlich von Kcf im Gebiet der Uled-Jakab gelegenen Ruinen
Dschezza (im Alterthum Aubuzza), welche ihnen gute Aus-
beute an Inschriften und ein punisches Sänlenkapitäl
lieferten, und erreichten endlich K e f, die nächst Tunis und
Susa am besten organisirte Stadt der Regentschaft. Sic
besitzt einen Friedensrichter, einen Bürgermeister, einen
Gemeinderath, kurz alles, was zu einem geordneten Ge-
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
103
meinwesen gehört; leider ist die Sicherheit des Ortes
dadurch nicht gewachsen, sondern hat sich gegen früher durch
den Zuzug zahlreicher Handelsleute vermindert. Die Stadt,
welche ihren fetzigen Namen von dem hohen Felsen, ans
dem sie liegt, erhalten hat, erinnert in ihrer Lage an
Constantine; wie dieses, ist sie auf einer sehr schwer zu-
gänglichen Höhe erbaut. Wenigstens von Süden her gilt
das, denn von Norden wird die Stadt durch das ausge-
dehnte Plateau aus dem Gipfel des Berges, an dessen
Abhange sie liegt, beherrscht.
Polyandrie und P o l y g a in i e.
Von Dr. Emil Jung.
II. (Schluß.)
Viel weiter verbreitet als die Polyandrie ist die Poly-
gamie. Die letztere tritt fast durchgängig bei allen tiefer-
stehenden Rassen auf; sie ist in ganz Afrika zu Hause, sie
war ebenfalls fast allen asiatischen Völkern verstattet und
ist daselbst auch noch heute an verschiedenen Stellen anzu-
treffen; wir finden sie in Australien und Oceanien, in
Amerika dagegen auffallend selten. Lubbock^) ist der Ansicht,
daß die Einzelehe sich aus der Gemeinschaftsehe durch den
Weiberraub entwickelt habe, indem ursprünglich ein Raub
und nur dieser allein einem Manne das Recht gewähren
konnte, seinen Stammesgenossen ein Mädchen vorzuenthalten
und es allein und ausschließlich für sich in Anspruch zu
nehmen. Während da, wo das System der Gemcinschaftsehe
galt, kein Mann ein Mädchen für sich allein in Beschlag
nehmen konnte, ohne die Rechte des ganzen Stammes zu
schädigen, konnte eine solche Ausnahmestellung bei einer
Kriegsgefangenen gerechtfertigt erscheinen, da der Stamm
an sie keinen Anspruch hatte und demselben weder durch
ihre Tödtung noch durch ihre Verschonung ein Nachtheil
erwuchs. Als eine Beeinträchtigung der Gesammtrechte
konnte eine solche Einzelehe also nicht angesehen werden.
Ein wiederholter Raub führte dann zu einer Pluralität von
Frauen. Abgesehen von der nach meiner Meinung unhalt-
baren Voraussetzung einer ursprünglichen Gemcinschaftsehe
liegt in dieser Anschauung sicherlich etwas Wahres. Nur
möchte ich mir die Polygamie aus der Einzelehe und nicht
aus der Gemeinschaftsehe entstanden denken.
Eine Polygamie läßt sich, da das numerische Verhältniß
des Geschlechtes im heiratsfähigen Alter ein ziemlich gleiches
ist, nur denken durch Beeinträchtigung einer Anzahl von
Männern, die in Ehelosigkeit zu leben gezwungen wurden,
seitens einer Anzahl anderer, welche auf Grund ihrer Beacht
oder ihres Reichthums mehrere Frauen für sich in Anspruch
nahmen. Aber da selbstverständlich seder erwachsene Mann
in den Besitz eines Weibes zu gelangen suchte, so konnten
nur wenige über das von der Natur gesetzte Maß hinaus-
gehen. lind in der That ist sowohl bei den Mohammedanern,
deren Gesetze die Vielweiberei zulassen, als auch bei den
Chinesen, Cochinchinesen, Siamesen, bei denen ebenso wie
unter besonderen Verhältnissen bei den Hindu die Sitte
diesen Gebrauch heiligt, sowie bei anderen Asiaten, bei
Afrikanern und Australiern Monogamie weitaus die herr-
schende Ehesorm. Wiewohl die Vielweiberei außerordentlich
verbreitet und bis zur Aufnahme von Tausenden von
Weibern ausgedehnt ist, beginnt doch in der Regel die
Gründung der Familie mit der Aufnahme nur eines
Weibes in das Haus des Mannes. Dennoch darf man
behaupten, daß bei vier Fünfteln der Bewohner unserer
Erde die Polygamie eine gesetzliche Institution ist.
In Afrika ist die Vielweiberei vom Norden bis zum
Süden, bei Mohammedanern wie bei Heiden allgemein Sitte.
Theils betrachtet man die Frauen als so viele disponible
Arbeitskräfte, welche ihrem Besitzer ein bequemes Leben
sichern, theils werden sie aber auch, da in Afrika äußere
Noth weniger drückend erscheint, als ein Gegenstand des
sinnlichen Genusses, als eine Bequemlichkeit des Lebens,
als Luxusartikel betrachtet. Ein jeder hält sich so viel
Weiber, als er zu kaufen vermag, der Arme allein, der
nicht mehr als eine Frau kaufen kann, lebt in Monogamie.
Bei den Betschuanen besteht der Preis, welchen die
Eltern des Bräutigams denen der Frau entrichten und
der Bohari genannt wird, in Vieh; er erhebt sich bei
einigen nicht über fünf bis sechs Häupter, während die
rinderreichen Basnto in ihrer guten Zeit bis zu 25 bis 30
zahlten. Nach Casalis darf bei den Bapedi der Preis
nicht sieben übersteigen, weil diese Zahl eine heilige ist.
Die Verhandlungen bei diesem Weiberkauf werden so öffent-
lich wie möglich und vor Zeugen geführt. Die Vielweiberei
ist allgemein und tief eingewurzelt. Als Livingstone dem
jungen Häuptling Sekeletu von seinen Missionsplünen
sprach, lehnte es dieser entschieden ab, die Bibel lesen zu
lernen. „Es möchte das", meinte er, „mein Herz ver-
ändern, so daß ich gleich Setscheli mit einem einzigen Weibe
zufrieden wäre." Von den Frauen genießt eine den Vorzug
vor den anderen und ihre Kinder gelten als erstgeborene.
Ihre Hütte ist das „große Haus" und nicht an ihrer Seite,
sondern bei einer der Nebenfrauen zu sterben, wird als ein
großes Unglück angesehen. Uebrigens wird für die Viel-
weiberei nicht nur das größere Behagen, welches sie gewährt,
ins Feld geführt, man betont auch, daß man den Pflichten
der Gastfreundschaft nicht so gut nachkommen könne, wenn
man nur ein Weib habe. Doch bewundert und preist man
diejenigen, welche sich von der Vielweiberei fern halten, als
Charaktere von achtungswerther Reinheit und Stärke. Bei
dem Tode des Vaters gehen seine sämmtlichen Weiber auf
den Sohn als Erben über, dieselbe Succession findet unter
Brüdern statt.
Bei den Zulukaffern ist die Vielweiberei theoretisch un-
beschränkt, praktisch setzen ihr aber die Zahl der vorhandenen
Weiber und der Mangel an Mitteln zu ihrem Unterhalt
oft sehr enge Schranken. Während der früheren Kriege,
während welcher den jungen, unter den Waffen stehenden
Männern nicht gestattet wurde, sich eine Frau zu nehmen,
und zugleich große Mengen von erbeuteten Weibern ins
Land kamen, die von den Häuptlingen vertheilt wurden,
nahm die Vielweiberei gewaltige Ausdehnung an. Der Friede
aber ist der Vielweiberei Feind. Auch hier setzte die Sitte
der Erwerbung der Weiber durch Kauf der Zahl derselben
bestimmte Schranken, denn bei den Kaffernweibern erhöht
sich das Gefühl ihres Werthes mit der Zahl der Rinder,
i) „Tie Entstehung der Civilisation" ©. 83 ss.
104
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
um welche sie gekauft werden. Der gewöhnliche Preis
einer Frau schwankt zwischen fünf und sechs Rindern, aber
Häuptlingstöchter gehen für nicht weniger als 25 und
bringen deni Brautvater oft 100 ein. Andererseits würde
kein Mann geneigt sein, eine Frau umsonst zu erhalten;
er würde sich dadurch erniedrigt fühlen. Eine Wittwe fällt
bei den Zulus an den Bruder des Verstorbenen, der sie
heirathen muß, für die Kinder trägt die Familie SorgeJ,
bei anderen Stämmen nimmt sich der älteste Sohn ihrer
an und tritt damit ganz in seines Vaters Stelle. Thut
er das aber nicht, so wird die unglückliche Frau als allge-
meines Eigenthum betrachtet.
Bei den Buschmännern ist Vielweiberei gleichfalls ge-
stattet, nicht Reichthum (denn man kauft hier das Weib
nicht, giebt aber einige Geschenke) entscheidet darüber, ob
der Buschmann mehrere Weiber sein eigen nennen darf,
vielmehr Kraft und Gewandtheit, daher die Schwächsten
mit den älteren, wenig gesuchten Weibern vorlieb nehmen
müssen.
Bei den Hottentotten bildet für die Zahl der Weiber
die Möglichkeit ihrer Ernährung die alleinige Grenze;
weil aber die meisten arme Leute sind, so sind nur Die-
jenigen, die viel Vieh haben, Polygamisten. Ebenso ver-
hindert Armuth bei den Damara eine große Ausdehnung
der Vielweiberei. Wo mehrere Weiber einem Manne an-
gehören, baut jedes seine eigene Hütte. Von den Häupt-
lingsweibern gilt eins, vom Manne besonders dazu er-
wähltes, als das Hauptweib, dessen erster Sohn zum Nach-
folger in der Würde seines Vaters bestimmt ist.
Bei den Niam-Niam herrscht unbeschränkte Vielweiberei;
dennoch büßt bei ihnen die Ehe nach Felkin nichts von der
Strenge und Heiligkeit ihrer Verpflichtungen ein. Dasselbe
gilt von den Balunda, wo der verstorbene Muata Jamwo
ungefähr 60 Frauen besaß. Eine noch größere Weiberzahl
besaß der König Mtesa von Uganda, man giebt 7000 an,
und als Speke zuerst hierher kam, begründete der König sein
Unvermögen, ihm eine Hütte im Palast geben zu können,
danlit, daß alle voll Weiber seien. Selbst die unterste
Klasse der Freien, die Wakopi, halten sich ein paar Weiber,
sobald sie sich den nöthigen Kaufpreis zusammengescharrt
haben. Natürlich können viele der Aermeren keine Frauen
bekommen, daher große Sittenlosigkeit. Auch hier werden
die Frauen gekauft, der gewöhnliche Preis ist drei bis vier
Ochsen, sechs Nähnadeln oder eine kleine Schachtel voll
Zündhütchen. Die Frauen selbst scheinen keinen Einwand
gegen eheliche Konkurrentinnen zu haben. Wenigstens er-
zählt uns Speke, daß zwei Frauen des Königs von Uganda
diesem selber ihre jungfräulichen Schwestern anboten. Der
König gab seine Zustimmung dadurch zn erkennen, daß er
sich in den Schoß der Mädchen setzte, sie an sich drückte,
und sein Haupt zuerst aus die eine, dann auf die andere
Schulter seiner neuen Gemahlinnen niederbeugte. Die
Wakungn, die Häuptlinge ersten Ranges, versorgt der König
mit Weibern, um seinen Einfluß bei diesen zu sichern, auch
müssen gewisse Vergehen durch die Zahlung von Weibern
gesühnt werden. Felkin* 2) meint, daß sich die weibliche
Bevölkerung zur männlichen wie 3J/2 : 1 verhalte. Für
dieses anormale Verhältniß führt er drei Gründe an. Er
behauptet, daß in Uganda viel mehr Mädchen als Knaben
geboren werden, daß in den beständigen Kriegen außer-
ordentlich viel Männer (50 Procent) fallen, endlich daß bei
der Einnahme eines Ortes durch die Waganda stets sämmt-
liche Männer gctödtet und die Weiber und Kinder sort-
is Dr. Blcek's Forschungen in Natal in „Petermanns Mit-
theilungen". 1886, S. 370.
2) Wilson und Felkin, „Uganda und der ägyptische Sudan".
Bd. I, S. 68.
geschleppt werden. Beim Tode des Mannes erbt der Sohn
sämmtliche Weiber seines Vaters, die eigene Mutter aus-
genommen. Eine Satzung, welche ohne Polygamie nicht
bestehen könnte, ist die, daß nach der Geburt eines Kindes
die Mutter zwei Jahre lang von ihrem Manne getrennt
leben muß. Der König und die Großen haben eigene
Anstalten im Lande, in welche die Frauen während dieser
Zeit geschickt werden.
Bei den Mangbattu herrscht Vielweiberei ebenso wie bei
den Niam-Niam, aber während diese nach Schweinfurth
sich zurückhaltend und züchtig benehmen, sind die Mangbattu-
frauen äußerst zudringlich.
Die Galla leben mit Ausnahme der Reichen, welche
sich mehrere Frauen zu halten pflegen, in Monogamie;
doch ist es Sitte, daß die Frau, welche von ihrem Vater
eine Mitgift erhält, nach dem Tode ihres Mannes an dessen
Bruder übergeht^).
Die Neger leben alle in Polygamie, sobald ihre Mittel
es ihnen gestatten, mehr als eine Frau zu kaufen, denn die
Ehe trägt bei ihnen vorwiegend den Charakter des Kaufes,
und dieser Zug, sagt Ratzel2), tritt, geradezu alles zurück-
drängend, bei jenen Stämmen hervor, welche durch Heerden-
besitz Kapital ansammeln. Der Reichthum eines Mannes
bemißt sich nach der Zahl seiner Weiber, und diese selbst
billigen diese Einrichtung vollkommen, denn das Ansehen
der ganzen Familie und besonders das der ersten Frau wächst
mit den neuen Heirathen, die der Mann eingeht. Das
Streben nach einem gewissen Glanz und nach einer hervor-
ragenden Stellung sind ein Hauptmotiv.
Eine Aussteuer erhält bei den Akem der Mann von
der Familie der Braut nicht, vielmehr zahlt er dem Vater
eine Summe von 2^ bis 5 Kilogramm Goldstaub, Zugaben
an Zeug und Rum ungerechnet^). Bei den Krus sind drei
Kühe und ein Schaf der gewöhnliche Preis. Der regierende
Häuptling des Gebietes kann aber die Tochter jedes Mannes
ohne die übliche Zahlung verlangen, ebenso wie die Häupt-
lingstöchter sich jeden Mann wählen können, der dadurch
vom Bauern zum Häuptling wird. Uebrigens stehen sich
die Frauen desselben Mannes nicht gleich, vielmehr hat ge-
wöhnlich eine von ihnen ein bestimmtes, nicht willkürlich
zu veränderndes Uebergewicht über die anderen. In manchen
Ländern ist dies die vornehmste, in den meisten die, welche
zuerst in die Ehe trat. Um den Frieden unter seinen Ehe-
genossinnen zn erhalten, lebt der Mann in regelmäßiger
Abwechselung mit ihnen, behandelt sie gleich, beschenkt sie
nach Verhältniß und jede zieht ihre Kinder für sich auf.
Uebrigens soll trotz der Polygamie nach Barth's Zeugniß
sich bei den Negern ein ganz freundschaftliches Familienleben
entwickeln.
Bei den Westafrikanern, den Dualla, Fan, Mpongwe u. A.
ist das Kaufen der Weiber noch viel mehr Handelsgeschäft
als bei aciberen Afrikanern. Bei den Dualla ernt Kamerun
kostet eine Frau durchschnittlich 900 bis 1200 Mark, ist
ihr Vater aber ein angesehener Mann, so ist der Kaufpreis
auch wohl noch höher. Die Frau ist vollkommenes Eigen-
thum des Mannes, dem eine unbeschränkte Verfügung über
sie freisteht. Er kann sie verschenken, verleihen oder ver-
kaufen. Bei Zwistigkeiten zwischen benachbarten Stämmen
gilt eine Frau als passendes Objekt zur Zahlung der zu
entrichtenden Buße.
Das Streben des Negers geht dahin, sich durch seine
Thätigkeit so viel zn verdienen, um sich zuerst eine Frau,
dann noch eine und so weiter, so viel als möglich, zu kaufen,
0 Krapf bei Weit;, „Anthropologie der Naturvölker", Th. 2,
S. 516.
Völkerkunde, Bd. I, S. 152.
3) Ebendaselbst, Bd. I, S. 153.
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
105
die ihm dann seinen Unterhalt verdienen müssen, so daß er
gemächlich der Ruhe pflegen kann. Sie haben die Pflan-
zungen anzulegen und im Stande zu halten und die geernteten
Früchte ans den Markt zu bringen und zu verkaufen. Aber
die Frauen wissen auch ganz gut, was sie ihrem Besitzer
werth sind und sie setzen nicht selten ihren Willen durch,
nicht allein einzeln ihrem Ehegatten gegenüber, auch in
ihrer Gesammtheit beeinflussen sie die Geschicke eines ganzen
Dorfes. „Daß nicht jeder Ehemann", sagt Ratzel, „unge-
straft unter den Palmen eines so großen ehelichen Glückes
wandelt, zumal wenn dieselben einen dichten Hain bilden,
ist klarH. Er führt dabei „Bastian" an, den in Okolloma
sein Wirth trüben Sinnes durch die verschlungenen und
verkreuzten Gänge seiner Wohnung führte, in deren innerstem
Gemache er schlief. Er hatte Grund, sich sorgsam zu ver-
schanzen, denn zwanzig erbitterte Feindinnen bewohnten
seinen Hof, und mit Recht mochte er die Stunde ver-
wünschen, in der sein Reichthum ihn verführt hatte, sich
mit ihnen zu umgeben.
In Dahomey nimmt die Vielweiberei gewaltige Dimen-
sionen an. Nach NorisI 2 * 14) bestand ein Festzug des dortigen
Königs aus 150 Kriegern, 15 Töchtern des Königs, von
50 Sklavinnen begleitet, 730 Weibern des Königs, 90
Kricgcrinncn, 6 Kompagnien, jede zu 70 Kriegerinnen
anderer Gattung, an der Spitze einer jeden Kompagnie
ein Favoritweib, 150 königlichen Kindern von 7 bis 15
Jahren und 350 tanzenden Weibern. Von den Tausenden
von Weibern an einem solchen Hofe wird eine große Zahl
an die noch nnverheiratheten Männer verschenkt oder ver-
kauft. Dabei besitzen die Frauen hier, wie überhaupt an
der Westküste Afrikas, größere Rechte, als sonst im ganzen
Erdtheil.
In Amerika waren die Geringschätzung der Weiber,
ihre oft leichte Erhaltung und bloße Benutzung als Arbeits-
kraft, ihr frühes Altern infolge von angestrengter Arbeit,
ihre durch Kriege zeitweise herbeigeführte Ueberzahl bei den
Indianern Hauptmotive der Polygamie. Aber da in der
Regel doch die Zahl der Weiber gering und die Ernährung
eine schwierige war, so herrschte die Monogamie vor und
die Vielweiberei beschränkte sich ans die Häuptlinge und
berühmten Krieger, denn mehrere Frauen zu haben, ohne
sie ernähren zu können, galt für schimpflich. In Nord-
amerika fanden sich mehr als zwei Weiber selten in einer
Ehe. Auch erschweren die hohen Preise, welche für eine
Frau zu zahlen sind, vielfach die Schließung einer Ehe.
Wo mehrere Frauen vorhanden sind, da nimmt gewöhnlich
diejenige, welche in der Gunst des Mannes am höchsten
steht, nämlich die jüngste, den ersten Rang ein.
Bei manchen Völkern erhielt der Mann mit seiner
Frau zugleich deren Schwestern zur Ehe. Jede Frau hatte
ihre besondere Hütte oder, wo die Häuser für mehrere
Familien eingerichtet waren, wie bei den Osagen, doch ihr
besonderes Feuer. Damit suchte man häuslichen Zwistig-
keiten so viel als möglich vorzubeugen; wo sie aber ent-
standen, wurde ihnen von dem Manne sogleich in katego-
rischer Weise ein Ende gemacht. Starb ein verheiratheter
Odschibwä oder Omaha, so mußte sein Bruder die hinter-
lassene Wittwe hcirathcn.
Bei den Kariben der Inseln und des Nordens Süd-
amerikas heirathete der Manu oft mehrere Schwestern auf
einmal. Die Eingeborenen von Uraba hatten ein Herkommen,
nach welchem die Schwestertöchter des Vaters oder der
Mutter zu Frauen gewählt wurden. Bei den Nayena von
I Völkerkunde, Bd. I, S. 597.
2) Noris, „Reise nach dem Hoflager des Königs von Da-
homey". 1772.
Globus LH. Nr. 7.
Guayana fielen demjenigen, der eine Mutter zur Frau
nahm, auch die Töchter in derselben Eigenschaft zu; von
den Kariben der Antillen wird Aehnliches berichtet.
Die Mexikaner erkannten die Monogamie im Princip
an. Ihre Weisen lehrten, daß es Gottes Wille sei, daß
ein Weib einem Manne und ein Mann einem Weibe an-
gehöre. Dennoch hatten die Reichen und Vornehmen
mehrere Frauen, unter denen jedoch nur eine als legitim
galt. Ob die Peruaner die Polygamie als eine uneinge-
schränkte Institution besaßen, erscheint zweifelhaft, wahr-
scheinlich war sie nur dem hohen Adel gestattet.
Bei den Tupis Brasiliens pflegte ein Mann desto mehr
Weiber zu haben, je tapferer er war. Die Patagonier
waren meist Monogamsten, doch haben die Häuptlinge
mehrere, bis zu drei Frauen, unter denen die vornehmste
die Hauptfran und Herrin ist. Der Grönländer muß sich
in der Regel mit einem Weibe begnügen, da die Zahl der
Frauen eine geringe ist, auch die Schwierigkeit der Ernäh-
rung kommt dabei in Betracht. Im vorigen Jahrhundert
ist dem Anschein nach die Polygamie hier weit häufiger
gewesen als heute. Dem Eskimo ist zwar die Vielweiberei
gestattet, er hält sich aber selten zwei, noch seltener drei bis
vier Weiber. In dem letzteren Falle wird der Mann, da
man nicht Liebe zur Familie, sondern Wollust als Triebfeder
voraussetzt, von seinen Stammgenossen verachtet. Wie
schon oben bemerkt, trifft man in manchen Gegenden
das Gegenbild der Polygamie, die Polyandrie, gewöhnlich
Diandrie.
Die Malayen sind der Mehrzahl nach monogam. Aller-
dings ist Vielweiberei, wo sie nach der Zahl der Frauen
möglich, häufig genug zu finden und sie wird durch den
schnell über die malayische Rasse sich ausbreitenden Islam
noch mehr gefördert. Doch ist es bei ganzen Stämmen,
wie den Jgorroten, Jtalonen und Jlongoten auf Luzon, den
Milano auf Borneo, den Alfnren auf Ceram, Sitte, sich
mit einer Frau zu begnügen. Diejenigen, welche wie die
Händler sich zeitweilig außerhalb ihres Dorfes an anderen
Orten aufhalten, haben auch dort wohl Nebenfrauen. Aus-
geschlossen bleibt eine zweite Ehe, weitn die erste durch
„Semando" geschlossen ist, wobei der Mann ein bestimmtes
Geschenk giebt, die Frau aber die Kosten des Hochzeitsfestcs
zum größeren Theile trägt, wodurch beide auf dem Fuß der
Gleichheit stehen. In diesem Falle giebt die Heirath einer
zweiten Frau einen Scheidnngsgrund ab.
In Madagascar ist die Vielweiberei zwar ans höheren
Befehl abgeschafft worden, aber dies ist doch nur dem Namen
nach der Fall. Das Christenthum mußte, als es hier zuerst
verbreitet wurde, mit dieser im Volk tief eingewurzelten
Sitte paktiren, welche durch die Ranbzüge der Hova stets
nene Nahrung erhielt. Die Hova sowohl wie ein guter
Theil der ebenfalls dem Christenthum gewonnenen übrigen
Madagassen halten häufig noch an der Vielweiberei fest,
wobei die erste Frau die Herrin des Hauses ist, deren
Kinder bevorrechtet sind, die übrigen aber die Stellung von
Konkubinen einnehmen. Die Hütten der einzelnen Weiber,
Vadi-kely oder Nebenweiber, liegen meist um die größere
des Ehegatten gruppirt, welcher im Hauptgebäude mit der
sogenannten Vadi-be oder Hauptgattin zusammenwohnt.
Die letztere ist selten die schönste der Frauen, wohl aber
die reichste und dem Hausherrn ebenbürtigste. Wo aber
die Vielweiberei nicht anerkannt wird, nehmen viele Hova
znm Schein eine Frau und halten nebenbei zahlreiche
MaitressenH.
Ganz wie bei den Malayen ist cs auch bei den Mi-
kronesiern jedem, der die nöthigen Mittel hat, gestattet,
0 Ratzel, „Völkerkunde", Th. 2, ©.- 510.
14
106
Dr. Emil Jung: Polyandrie und Polygamie.
mehrere Frauen zu haben. Doch haben nur die Häuptlinge
als Reichere mehrere Frauen, welche dann in verschiedenen
Häusern wohnen. Auf den Marianen galt aber nur eine
Gemahlin als rechtmäßig, die übrigen mußten indeß aus
demselben Stande sein.
Die Melanesier sind fast durchweg Polygamisten; mehr
als zwei Frauen haben die einzelnen Männer aber selten,
obschon es Häuptlinge gab, die bis an 40 Weiber hatten.
Je größer die Zahl derselben, für desto vornehmer gelten
sie. Auf den Fidschi-Inseln hatten hervorragende Häuptlinge
sogar 50, sa bis 100 Frauen, die aber nicht alle bei
ihnen wohnten; die Hälfte befand sich noch im Kindesalter
oder war zu ihren Eltern wieder zurückgekehrt, sehr oft,
weil das Zusammenleben einer solchen Zahl von Weibern,
unter denen eine immer den ersten Rang einnimmt, zu den
greulichsten Streitigkeiten und entsetzlichsten Grausamkeiten
gegen einander führte.
In Polynesien war die Polygamie überall zu Hause.
Auf Sanwa nahmen die Vornehmen sich von den Gemeinen
Frauen nach Belieben, entließen sie aber ebenso leicht wieder;
aber eine so entlassene Frau durfte sich nicht wieder ver-
heirathen. Die Bruderstochter der Frau wurde nach TurnerH
stets die Konkubine des Mannes, konnte aber leben, wo
sie wollte. In Neuseeland war die Vielweiberei gleichfalls
nur bei den Vornehmen allgemein, von welchen manche bis
6 Weiber heiratheten, namentlich häufig mehrere Schwestern,
von denen dann die zuerst Gewählte oder die Mutter des
Erstgeborenen Hauptfrau war. Ebenso hatten auf Tonga
nur die Häuptlinge mehrere Frauen; bei den Rarotonganen
war die Polygamie ans die drei ersten Volksklassen beschränkt,
die Vornehmsten hatten manchmal viele lind selbst die eigenen
Schwestern zll Frauen. Auf Tahiti war die Polygamie
noch viel ausgedehnter; jeder, der sich mehrere Frauen kaufen
und sie erhalten konnte, hatte zwei bis drei und noch mehr
Weiber, so daß die Aerineren gezwungen waren, ehelos zu
leben. Standen beide Gatten in demselben Range, so
trennten sic sich nicht selten; der Mann nahm andere
Weiber, das Weib andere Männer. War aber die Frau
vornehmer, so hatte nur sie dieses Recht, wodurch die Ehe
keineswegs aufgehoben wurdet).
Auf dem Australkontinent ist Vielweiberei immer Sitte
gewesen; hervorragende, namentlich alte Männer ziehen im
Süden oft mit vier Frauen umher, im Nordweften sollen
die Männer sogar 5 bis 11 Weiber haben, während sie
sich im Südwesten mit zwei begnügen. Es ist natürlich,
daß viele Männer dabei leer ausgehen müssen, zumal infolge
der Abtödtung von neugeborenen Mädchen und der späteren
schlechten Behandlung des weiblichen Geschlechts überhaupt
die Zahl der Männer die der Weiber bedeutend übertrifft.
Asien ist fast ganz von polygamen Völkern bewohnt,
d. h. die Vielweiberei ist beinahe überall gesetzlich gestattet,
dennoch aber haben die meisten Asiaten nur ein Weib. Es
ist das eben auch hier eine Vermögensfrage, ja hier noch
mehr als in anderen Erdtheilen. Durchforschen wir Asien
von Norden nach Süden, so finden wir, daß sämmtliche
Völker Nordasiens, Kamtschadalen, Korjaken, Tschuktschen,
Aino u. A., in Polygamie leben; jeder verheirathete Mann
hat iit der Regel zwei bis drei Frauen, seltener vier bis
fünf. Auch die alten Aleuten lebten in Polygamie.
Den Samojeden, Ostjaken, Lappen und anderen Natur-
völkern des Nordens, welche zur großen mongolischen Nasse
gehören, ist die Vielweiberei zwar durch die Sitte gestattet,
sie kommt aber wegen des hohen Brautschatzes immer
seltener vor. Während die Tochter eines reichen Mannes
oft 100 Nenthiere kostet, verkauft der arme Mann sein
Kind um 2O Renthiere *). Unter Mongolen und Kal-
müken herrscht die Polygamie, doch pflegen nur Reiche von
der gesetzlichen Erlaubniß Gebrauch zu machen. In diesem
Falle nimmt eine Frau die Stelle der Hausfrau ein, die
anderen stehen zu ihr im Verhältnisse von Dienerinnen.
Während die Hanptfrau hinsichtlich der Familie ebenbürtig
ist, sind die Nebenfrauen entweder aus ärmeren Familien
genommen, oder sind gekaufte Sklavinnen, welche jederzeit
wieder verkauft werden können. Wie bei Nomadenvölkern
überhaupt ist hier die Stellung einer Frau eine freie.
Dem Chinesen ist gesetzlich nur eine rechtmäßige Frau ge-
stattet, die ihm feierlich angetrant wird und die seinen
Namen führt, dagegen darf er sich, namentlich wenn die
Frau sich als unfruchtbar erwiesen hat, mehrere Bei-
schläferinnen nehmen. Die Kinder, welche ihm von den
letzteren geboren werden, sind ebenso legitim wie die mit der
rechtmäßigen Frau gezeugten.
Im alten Japan war Polygamie eine weit verbreitete
Sitte. Jyeyasn spricht in seinen Gesetzen dem Mikado das
Recht zu, sich ein Dutzend Nebenfranen zu nehmen; den
Daimio und Hatamoto das Recht auf acht Konkubinen, den
gewöhnlichen Samurai auf zwei * 2J. Aber nur in seltenen
Fällen machten diese davon Gebrauch, und dann geschah
es wohl, daß die Frau, welche ihre Kinder selbst und lange
sängt und verhältnißmäßig früh alt wird, dem Manne selbst
eine Konkubine zuführte. Die Frau ist im Hause die Nio-
bo, die Frau des Hanfes, Okn-sama, Herrin des Inneren,
vor allem aber Okami-san, die ehrbare Herrin, wie sie ge-
wöhnlich angeredet wird. Als solche steht sie auch über
den Konkubinen, den Makake, und deren Kindern. Die
Armen leben auch hier, wie anderwärts, in Monogamie.
Auf der cisgangetischen Halbinsel ist bei den dravidischen
Kolh die Polygamie im Princip gestattet, sie wird aber,
mit wenigen Ausnahmen, nur bei Kinderlosigkeit geübt.
In diesem Falle kann ein Mann, in der Regel auf den
Rath seiner Gattin selber, sich eine zweite Frau nehmen,
deren Kinder ebenso legitim sind als jene der ersten Frau.
Bei den wilden Stämmen an der Nord- und Ostgrenze
Ostindiens, ebenso bei einigen Aboriginerstämmen ans der
Halbinsel selber wird Feldarbeit als für die Männer er-
niedrigend angesehen, sie fällt demnach den Frauen zu.
Die Zahl derselben, welche ein Mann besitzt, bestimmt daher
seine Vermögensstellnng. Und bei den Dschat und Gud-
schar, den Bhil, Mina und Mhair ist die Sitte, daß der
Bruder gehalten ist, seines verstorbenen Bruders Frau zu
ehelichen, ein Grund für die Vielweiberei.
Bei den Puharri, welche die Radschmahalberge in Ben-
galen bewohnen und vielleicht ein letzter Ucberrest zahl-
reicher Stämme der Ureinwohner sind, ist die Polygamie
gestattet. Die Wittwen gehen an die Brüder, Vettern oder
Neffen des Mannes über, sie können aber auch, wenn sic
wollen, in das väterliche Haus zurückkehren3).
Daß die Anhänger Mohammed's Polygamisten sind, ist
bekannt. Nach dem Gesetz kann ein Mohammedaner vier
Frauen heirathen und außerdem sich einen Harem mit einer-
beliebigen Anzahl von Insassen halten, soweit ihm das
seine Mittel erlauben. Indessen heirathet ein indischer
Mohammedaner nur eine Frau mit alle dem Ceremoniell
und dem Aufwande, welchen die Sitte vorschreibt. Bei den
meisten Mohammedanern ist aber Monogamie die Regel.
Freilich beschränken sich auch wieder andere nicht auf die
gesetzliche Zahl. So nehmen sich die Pir, die heiligen
0 Turner, „Nineteen years in Polynesien“, p. 189.
2) Ellis, „Polynesian Researches“ I, p. 273.
ft Fr. Muller, „Allgemeine Ethnographie“, S. 425.
2) Rein, „Japan“, Th. 1, S. 493.
3) Mantegazza, „Indien", S. 164
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
107
Männer von der Sekte Mehman, eine nnbegrenzte Zahl von
Frauen, indem sie ihrem Ahnherrn Raschid Schah nacheifern,
dessen Haus nicht weniger als 32 legitime Frauen barg.
Von den Hindu hört man selten, daß sie zwei Frauen
genommen haben, und in der That erlaubt das Gesetz
Polygamie nur unter gewissen Umstünden. Diese sind
Mangel an Keuschheit seitens der Frau, gewohnheits-
Ulttßiger Ungehorsam oder Mangel an Achtung für ihren
Gatten, üble Launen, schlechte Gesundheit, Unfruchtbarkeit,
oder wenn sie innerhalb zehn Jahren nur Tochter gebart.
Auch ohne diese Bedingungen kann ein Hindu eine zweite
Frau nehmen, sobald die erste sich einverstanden erklärt.
Die zweite Heirath ist aber doch gültig, falls die erste Frau
dagegen Widerspruch erhebt, und wird sie gezwungen, das
Haus ihres Mannes zu verlassen, so ist letzterer verpflichtet,
sie standesgemäß zu unterhalten.
Nach dem Gesetze kann also ein Hindu so viel Weiber
zur Ehe nehmen, als ihm gutdünkt, und die Sitte gestattet
ihm außerdem, eine unbeschränkte Anzahl von Konkubinen
zu halten. Siwadschi, der letzte Maharadscha von Tand-
schor, heirathete an einem Tage 18 Frauen, allerdings
hatte die Sache ihre eigene Bewaudtniß. Der Fürst hatte
aus seinem Geburtsorte eine Anzahl junger hübscher Mäd-
chen kommen lassen, von denen er eine selbst zu heirathen,
die übrigen aber seinen Großen zu geben gedachte. Aber
als die jungen Mädchen ankamen und von der Disposition
hörten, die über sie gemacht werden sollte, erklärten sie ein-
stimmig, nur den Fürsten und keinen anderen heirathen,
anderenfalls aber sämmtlich in den Tod gehen zu wollen.
Der Radscha hatte Mitleiden und rettete den Mädchen in
der einzig möglichen Weise das Leben.
Aber nach dem Gesetz und Herkommen ist eine der
Frauen die Hauptfrau, die Mutter der Familie, die anderen
sind nur Upastri oder Bhogya, Konkubinen. Nur die erste
giebt legitime Erben, und selbst die Könige, wenn ihre
Frauen unfruchtbar sind, können von den anderen Frauen
keine legitime Erben haben.
Die englischen Missionare, sagt Mantegazza *), sind in
großer Verlegenheit, wenn ein Hindu mit mehreren Frauen
zum Christenthum übertreten will. Kürzlich wollte Tha-
knr von Baunagar, einer der mächtigsten Radschas von
Kattiawar, der zwanzig Jahre alt war, sich zum Christen-
thum bekehren, aber mit siebzehn Jahren hatte er an einem
und demselben Tage vier Frauen geheirathet, von denen
die eine zweiundzwanzig, die zweite zwölf, die dritte fünf-
zehn und die vierte sechszehn Jahre alt war. Da er wußte,
daß er nur eine Frau behalten konnte, so wählte er die fünf-
zehnjährige und verstieß die anderen.
0 Mantegazza, „Indien", S. 277.
In Bengalen haben unter den Brahmanen die Kulina
den höchsten gesellschaftlichen Rang, ihnen geben die übrigen
Mitglieder ihrer Kaste gern ihre Töchter, so viele dieselben
nur wollen. Im Jahre 1860 verurtheilte der Pandit
Jswara Tschandra Widyasagar in einer Flugschrift die
Vielweiberei der Brahmanen aufs schärfste und gab die
Namen von 12 Kulina, die zwischen 40 und 80 Frauen
hattenx).
Mantegazza sagt 2), daß diese Brahmanen, weil sie von
allen Seiten begehrt werden, eine ungeheure Zahl von
Frauen heirathen, ans den hohen Kasten, um ihre Freunde
zufriedenzustellen, und aus den niederen, weil es ihnen Ver-
gnügen macht oder ihr Interesse es erheischt. Es giebt
einige unter ihnen, die 120 Frauen über die Ebene von
Bengalen zerstreut besitzen, und die sie auf ihren Wande-
rungen der Reihe nach besuchen. Bei jeder neuen Ehe be-
kommt der glückliche Pascha wieder Geschenke, die bei jedem
Besuch erneuert werden. Auch die übrigen Brahmanen
haben oft viele Frauen in verschiedenen Ländern, die sie
bei ihrem herumschweisendcn Leben von Zeit zu Zeit be-
suchen. Die Frauen sind aber auch nicht tugendhafter als
ihre Gatten.
Wie schon wiederholt gezeigt, konnte zur Polygamie
auch das Levirat führen, die Sitte, wonach beim Tode eines
Mannes dessen Frau oder Frauen auf seinen Bruder über-
gehen. Dieser außerordentlich weit verbreitete Brauch
wurzelt offenbar in Eigenthnmsrechten und der Rechts-
nachfolge. Bei den meisten Völkern war der Bruder ver-
pflichtet, die Erbschaft anzutreten oder, wenn er dieselbe
ansschlng, für die verschmähte Frau zu sorgen. Bei den
Hebräern, von denen wir den Namen haben (Levir —
Mannes Bruder), verlangte eine mosaische Satzung * 3), daß
der Bruder eines ohne Söhne Gestorbenen dessen hinter-
lassene Wittwe ehelichen mußte, um seinem Bruder Nach-
kommenschaft zu erwecken. Der erstgeborene Sohn sollte
dem verstorbenen Bruder zugerechnet werden unb diesen
beerben, die etwa nach dem ersten geborenen Kinder aber
dem eigentlichen Vater zugehören. Daß diese Sitte aber
bereits vor Moses' Zeit eine bei den Hebräern anerkannte,
ja geheiligte war, ersehen wir ans der Geschichte von Juda,
Onan und Thamar 4). Diese Auffassung von Geschwister-
pslicht finden wir im Norden Asiens bei den Ostjaken, in
Amerika bei den Koloschen und den Tupinamba, bei Mon-
golen, bei indischen und malayischen Völkern auch ohne die
von Moses verordneten Beschränkungen noch heute in voller
Gültigkeit.
0 „Journal of the Bengal Asiatic Society“, 1877.
A Mantegazza, „Indien“, S. 303.
3) 5. Mos. 25, 3.
1 I 1. Mos. 38, 8 ff. .
Einiges über Amok und Mataglap.
Von Emil Metzger.
I.
Die Malayen stehen im Allgemeinen in dem Rufe,
eine wilde, blutdürstige Menschenrasse zu sein; wenn Mancher
ihren Namen nur nennen hört, denkt er unwillkürlich an
verwegene Seeräuber, die in ihren schnellen Pranen die
Küsten des Archipels heimsuchen und dort mit Feuer und
Schwert Alles verwüsten, die friedlichen Bewohner nieder-
metzeln und in die Sklaverei wegführen. Oder aber es schweben
ihm tollkühne Kämpfer vor, Vorfechter, die, ihren Schaaren
voraus, tanzend dem Feinde entgegengehen, todesmnthig die
auf sie gerichteten Salven abwarten und so lange sie ^icht
außer Gefecht gesetzt sind, immer weiter vorwärts,.^'sisgest,
um den verhaßten Gegnern sicheren Tod zu MnMß|p
selbst zu sterben. Ob eine derartige Mpk-
lichkcit entspricht, kann hier fügM NM^MWleMN, 1>a
unsere Aufgabe jetzt nur dahin
Erscheinung tut Leben WN
’ 14*
108
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
größten Theile der genannten Nasse angehören, näher ein-
zugehen, die sehr viel dazu beigetragen hat, den Malayen im
Allgemeinen den Ruf der Grausamkeit und des Blutdurstes zu
verschaffen. Es sind dies die unter dem Namen „Amok" be-
kannten Massenmorde, von denen zuweilen berichtet wird.
Der Name rührt her von dem Rufe „Amok, Amok",
den der Mörder ausstößt; die Handlung selbst nennen die
Engländer Amokläufen (to ruu amuck), die Holländer
„Amok machen" oder auch, namentlich in älterem Stil,
„Amok spucken" (Amok maken, spuwen). Beide Ausdrucke
erklären sich leicht aus den bei dem Vorgänge gewöhnlichen
Erscheinungen, der Engländer denkt an den rasenden Lauf,
in dem der Mörder mit gezücktem Kris, von einem Haufen
Bewaffneter verfolgt, durch die Straßen stürmt und links
und rechts seine Opfer, ohne zu wählen, niederfällt; der
Holländer an den Wahnsinnigen, der mit schäumendem
Munde seinen erschütternden, nervenaufregenden Schrei ans-
stößt, und er bezeichnet dies drastisch durch das Wort „aus-
spucken". Einer vielfach verbreiteten Ansicht nach sind
äußere Zeichen der Wuth bei dem Mörder häufig enge mit
der Handlung des Mordes verbunden; dazu nimmt man
an, daß er sich meistens durch Opium zu seinem Unter-
nehmen aufgeregt (!) habe, und so erscheint ein Gesammt-
bild, welches häufig weit entfernt ist, den Thatsachen zu
entsprechen. Allerdings ist es auch unmöglich, ein allgemeines
Bild zu entwerfen, da die äußeren Vorgänge sehr von ein-
ander abweichen; außerdem aber ist es auch außerordentlich
schwierig, mit Sicherheit zu entscheiden, welche Mordthaten
dem wirklichen „Amokmachen" zuzuschreiben sind und welche
nicht. In vielen Fällen überlebt der Mörder seine Gewalt-
that nur wenige Augenblicke, denn sobald er seinen Schrei
„Amok, Amok" ausstößt, ist er in gewisser Beziehung
vogelfrei. Im ersten Schrecken weicht Alles scheu vor ihm
zurück oder läßt sich abschlachten, ohne auch nur den Versuch
zu machen, ihm Widerstand zu leisten; bald aber folgen
Bewaffnete seinen Schritten und hetzen ihn, wie einen tollen
Hund. Gewöhnlich dauert es nicht lange, bis er unter
den Lanzenstichen seiner Verfolger zusammenbricht und dann
haucht er, meistens mit Wunden überdeckt, nach wenigen
Augenblicken sein Leben aus. Natürlich ist in einem solchen
Falle Alles abgemacht; der Mörder, manchmal auch die-
jenigen, welche dem ersten Ausbruche seiner Wuth beigewohnt
haben, sind todt, andere Zeugen schwer verwundet. In den
seltenen Fällen, wo cs gelingt, einen Amokmacher lebendig
einzufangen, erklärt er gewöhnlich, er sei mata glap ge-
wesen (mata heißt Auge, glap dunkel), d. h. es sei ihm
schwarz vor den Augen geworden, er könne sich des Vor-
ganges nicht mehr erinnern, er habe nicht gewußt, was er
thue. Noch seltener ist es, daß solche Personen, welche
Amok gemacht haben und lebend eingefangen worden sind,
unter die Behandlung eines Arztes kommen, so daß eine
nähere Untersuchung ihres Körper- und Geisteszustandes
möglich wäre. Es ist daher sehr schwierig, allgemein über
die Vorbedingungen für einen solchen Wuthausbruch und
über die Ursachen, welche ihn zum Ausbruch bringen, zu
berichten oder anzugeben, wie denn der Zustand, in dem
der Mörder sich befindet, namentlich hinsichtlich seiner Zu-
rechnungsfähigkeit, eigentlich anzusehen ist und ob hier eine
besondere, der malayischen, resp. indischen Rasse eigenthüm-
liche Art von Geistesstörung zu Grunde liegt oder nicht.
Ehe wir dazu übergehen, einige Mittheilungen in dieser
Hinsicht zu machen, wollen wir zunächst aus eigener Er-
fahrung und aus der Erfahrung Anderer einige allgemeine
Bemerkungen über Amok mittheilen.
Im Malayischen Archipel scheinen Fälle von Amok —
die übrigens nicht gerade häufig vorkommen — am meisten
bei Angehörigen der buginesischen Rasse beobachtet zu werden,
gewöhnlich bei Personen der unteren Stände, sehr selten
nur bei Frauen. Es verdient vielleicht Erwähnung, daß
die Buginesen im Allgemeinen als tapfer und tollkühn, aber
auch als gefährlich bekannt sind. Die Absicht des Mörders
scheint gewöhnlich die zu sein, einer oder einigen bestimmten
Personen Schaden zu thun; sobald seine Wuth aber einmal
zum Ausbruche kommt, begnügt er sich nicht damit, gegen
diejenigen zu wüthen, welche ihm absichtlich oder zufällig
den Weg zu seinem Opfer versperren, sondern er rast, wenn
er sein eigentliches Ziel erreicht hat, gewöhnlich weiter;
seltener nur tritt mit der Befriedigung seiner Rache eine
gewisse Rückwirkung ein, die ihn von selbst unschädlich macht.
Die Umgebung vermag vielleicht insofern einen Einfluß
auszuüben, als der Wnthausbruch, im Falle sie dem Morde
nicht günstig scheint, in Folge dessen hinausgeschoben wird,
ja gar nicht stattfindet. Auch wenn der eigentliche Anstoß,
der, wie klein er auch immer sein mag, doch nothwendig
zur Sache gehört, zufällig nicht gegeben wird, bleiben die
Leidenschaften nnentsefselt. Hat der Ausbruch aber einmal
stattgefunden, so hält auch die größte Macht den Mörder
nicht mehr zurück, ohne die geringste Zögerung wirft er sich,
so lange der Zustand eben andauert, aus Alles, was ihm
in den Weg tritt. Eigenthümlich ist es, daß sich der
Amokmacher stets der blanken Waffe bedient; bei gewöhn-
lichem Meuchelmord spielen auch Schußwaffen (namentlich
aber Gift) eine große Rolle, doch erinnern wir uns nicht,
je von einem Falle gehört zu haben, daß ein Amokmacher
einen Schuß gelöst hätte.
Wenn man nach der Ursache forscht, heißt es auch hier
gewöhnlich: Cherchez la femme! Es ist vielleicht hier der
Ort, beiläufig daran zu erinnern, daß, wenn auch im Orient
im Allgemeinen und speciell im Malayischen Archipel die
Verhältnisse der Geschlechter zu einander ganz anders als
bei uns sind, die Frau trotzdem einen ganz ungeheuren Ein-
fluß auf den Mann hat, und daß dem schwächeren Geschlechte
zu Liebe von der stärkeren Hälfte der Schöpfung wenigstens
ebensoviel, wenn nicht mehr Thorheiten begangen werden,
als in europäischen Verhältnissen landesüblich ist; gerade
weil das Band, welches Mann und Frau verbindet, tm
Allgemeinen nur ein loses ist, wird es da, wo sich wirkliche
engere Beziehungen knüpfen, vielleicht infolge des Gegen-
satzes zu einem sehr festen, und es scheint manchmal unbe-
greiflich, wie ein bis dahin ganz vernünftiger Eingeborener
plötzlich mit Leib und Seele irgend einer öffentlichen Tänzerin
verfällt, so daß er Weib und Kind, Haus und Hof, Ehre
und Leben vergißt. Die malayische Demimonde, weit mehr
als ihre besseren Schwestern, hat wohl die meisten Fülle
von Amok auf dem Gewissen.
Ziemlich feiten folgt der Wnthausbruch der Beleidigung
oder Kränkung unmittelbar; gewöhnlich geht — wenn wir
den Ausdruck gebrauchen dürfen — ein Entwickelungsstadium
vorher, welches zuweilen Tage, ja Wochen lang dauert.
Manchmal ist der Verkehr mit dem verhaßten Gegenstände
scheinbar ganz ungetrübt; wenn auch in den meisten Fällen
äußere Zeichen die Nachwirkung einer Beleidigung verrathen,
wird es doch häufig schwer werden, die zugefügte Kränkung
selbst zu erkennen, bis ein zufälliger Umstand den Funken
entzündet, welcher den Ausbruch verursacht. Während
desselben ist der Mörder, wie es scheint, sich seiner Umgebung
meistens ganz unbewußt; daß er seine Wuth gegen Alles
kehrt, was ihm in den Weg tritt, haben wir bereits oben
gesagt. An und für sich ist ein heftiger Wnthausbruch,
so sehr er auch dem Charakter des Volkes, wie sich uns der-
selbe im täglichen Leben zeigt, fremd zu sein scheint, doch
nicht so ganz selten; es kommen Fälle vor, namentlich wenn
die Leidenschaft vieler Personen durch ein und dieselbe Ursache
angefacht wird und sich auf ihr gemeinschaftliches Opfer wirst,
Emil Metzger: Einiges über Amok und Matcrglap.
109
iu denen man die Betheiligten im wahren Sinne des Wortes
für losgelassene Bestien halten sollte.
Wir entnehmen unseren Aufzeichnungen ein einziges Bei-
spiel hierfür, welches in mehr als einer Beziehung lehrreich ist.
Vor beinahe 30 Jahren, als das Kultursystem noch
bleischwer ans die Preanger Regentschaften drückte, war die
Bevölkerung eines Distriktes zum Wegebau aufgerufen; der
Wedhono, dem die Aufsicht übertragen war, kam gerade zur
Mittagszeit an die Baustelle, während die Arbeiter eine
Ruhepause hatten, um ihr ärmliches Mahl zu genießen.
Die Arbeit schien ihm nicht schnell genug vorzurücken, die
Pause zu lange zu dauern; vergebens forderte er die Arbeiter
ans, sich zu beeilen; sie ließen sich bei dem Essen nicht stören,
wie denn dem Eingeborenen überhaupt keine Unterbrechung
so unangenehm ist, wie die bei seinem Mahle. Der Wed-
hono griff nun zu einem stärkeren Mittel: er nahm Hände
voll Sand vom Wege auf und streute ihn über das Essen
in der Hoffnung, daß die Arbeiter, wenn es ungenießbar
geworden, es stehen lassen und ihre Thätigkeit wieder auf-
nehmen würden. Dumpfes Murren ließ sich hören; keiner
kehrte zur Arbeit zurück. Plötzlich brach der Aufruhr los;
die ganze Schaar warf sich auf den Häuptling, der mit
Füßen zertreten und mit den Steinen, die zum Wegebau
dienen sollten, gesteinigt wurde; in kurzer Zeit war er eine
Leiche. Darauf kehrten die Leute ruhig zu ihrer Arbeit
zurück und unterwarfen sich geduldig der Strafe, welche sie
bald ereilte.
Der Amokmacher scheint eine wunderbare Kraft und
Ansdauer zu besitzen, bis er — auch ohne äußeren Einfluß —
manchmal ganz plötzlich zusammenbricht. Kommt er dann
zur Besinnung, so weiß er gewöhnlich nichts mehr von den
vorhergehenden Ereignissen; die mata glap soll dann Alles
erklären. Nun ist mata glap ein weitgehender Begriff im
Munde eines Eingeborenen; er sucht hiermit eigentlich Alles
zu entschuldigen, wofür er keine rechte Entschuldigung hat.
Wenn man einen Diener, der das volle Vertrauen seines
Herrn genossen hat, ganz unerwartet bei schlechten Streichen
abfaßt, und ihm sagt: „Aber wie ist es möglich, daß Sidin
(oder wie der Edle nun heißen mag) mir dies und das an-
thut?", so wird er scheinbar sehr niedergeschlagen antworten:
„Vergieb mir, o Herr, mein Auge war verdunkelt!" was
einfach heißen soll: „Ich wußte nicht, was ich that."
Von einem derartigen mata glap ist bei Amok-
machen nun wohl keine Rede, denn dann ist der Zustand,
wenn er auch seiner Art nach nicht immer derselbe ist, doch
wohl derartig, daß von voller Willensfreiheit kaum mehr
Rede sein kann. Wir werden diesen Punkt weiter unten
noch eingehender berühren und bemerken hier nur noch, daß
die uns bekannten Fälle von Amok zu jeder Tageszeit statt-
fanden. Unrichtig ist es wohl, diese Erscheinung auf den
Gebrauch oder vielmehr Mißbrauch von Opium zurückführen
zu wollen. Opium erschlafft, betäubt, reizt aber gewiß
nicht zum Morde; allerdings erscheint es nicht unwahrschein-
lich, daß derjenige, welcher dem Gebrauche desselben ergeben
ist, sich in dem Falle, daß er Amok machen will, erst den
Genuß einer Pfeife gönnt, wenn ihn nicht vielleicht gar die
Nothwendigkeit dazu zwingt, da viele Opiumraucher nicht
im Stande sind, das Geringste zu thun, ehe sie sich durch
den Genuß des Narkotikums dazu gestärkt haben. Im
Gegentheil: aus vielen Nachfragen scheint sich das Resultat
zu ergeben, daß beinahe ohne Ausnahme der Opiumgenuß
ein gewisses Behagen, Glück und Zufriedenheit erzeugt; so
lange die Wirkung dauert, ist der sonst zurückhaltende Ein-
geborene weniger verschlossen, fröhlicher als im gewöhnlichen
Zustande und kaum zu Wuthausbrüchen geneigt.
Wir gehen nun dazu über, dem Leser den Bericht über
einige charakteristische Fälle möglichst objektiv vorzulegen
und in erster Linie nur die einfachen Thatsachen mitzutheilen,
um dann am Schluß den Versuch zu machen, einige allge-
meine Folgerungen aus denselben zu ziehen.
Vor etwa 25 Jahren lebte in S. (Java) ein Patih
(Patih ist die rechte Hand, der Vezir, des Regenten, des
höchsten eingeborenen Beamten, dem er aber hinsichtlich des
Ranges und der Stellung sehr weit nachsteht), der sich
dieses Amt durch langjährige treue Dienste erworben hatte,
ein seif maäö-Mann. Er besaß einen reichen Kindersegen
und der weibliche Theil der Familie machte ihm keine geringe
Sorge, denn unter solchen Verhältnissen, wie die oben an-
gegebenen, ist es nicht leicht, eine passende Verbindung für
die Töchter zu finden. Höhere Beamte treten dann nicht
als Bewerber auf, da bei ihnen die Stellung des Schwieger-
vaters in spe sehr ins Gewicht fällt und sie durch die
Heirath nicht nur eine Frau, sondern auch Einfluß zu erlangen
wünschen; Bewerber niedrigeren Ranges scheuen sich, ihre
Wünsche laut werden zu lassen, da sie fürchten, einen Korb
zu bekommen, und die Verhältnisse erlauben es dem Vater-
wirklich nicht, seine Anforderungen an die Stellung des
künftigen Schwiegersohnes zu weit herabzustimmen. Unserem
Patih war es nun geglückt, ein passendes Verhältniß für
eine seiner Töchter zu finden. Dieselbe war einem Mantri,
einem Beamten in ziemlich untergeordneter Stelluug, verlobt.
Da plötzlich lächelte das Glück dem alten braven Patih;
ganz unerwartet wurde er zum Regenten ernannt und nun
nahm er selbstverständlich Anstoß an dem niedrigen Range
des Mannes, dem er die Hand seiner Tochter zugesagt hatte.
Das Verlöbniß — soweit von einem solchen gesprochen
werden kann — wurde aufgehoben, ein anderer Eidam, der
einer höheren Rangstufe angehörte, erwählt, und da beide
Parteien das Band bald zu knüpfen wünschten, sollte die
Hochzeit kurze Zeit nachher gefeiert werden. Der arme,
verlassene Mantri war immer noch um die Person des
Regenten, der ihn seit seiner Rangerhöhung zu einer Art
major äornus gemacht hatte; ruhig und schweigend hatte er
die Mittheilung, daß die ihm zugesagte Braut für einen
Anderen bestimmt sei, entgegengenommen. Auch hals er bei
den Vorbereitungen, die für die Festlichkeiten getroffen wurden,
bei denen er kurz vorher noch als Hauptperson aufzutreten
bestimmt war. Mit der größten Gewissenhaftigkeit erfüllte
er, wie überhaupt, so auch in dieser Hinsicht Alles, was
ihm aufgetragen wurde. Der Hochzeitstag brach an; die
Leitung des Hauswesens, die Sorge für die eingeborenen
Gäste lag beinahe ganz in seinen Händen, während der
Regent sich mehr mit den Europäern, die bei demselben
erschienen, beschäftigte. Alles verlief in schönster Ordnung;
überall, wo es nöthig war, griff der Mantri ein, hatte da
eine Ermahnung für einen Bedienten, dort ein freundliches
Wort für einen Gast; Niemand bemerkte an dein eifrig
thätigen, aber dabei liebenswürdigen Manne etwas Außer-
gewöhnliches, Alles schien Frieden und Glück zu athmen. —
Die Nacht war angebrochen; das Brautpaar hatte sich zurück-
gezogen, die Gäste verließen nach und nach die geräumige
Halle,, der Regent begab sich in sein Schlafgemach. Der
Mantri mit einigen Frauen überwachte noch die Diener-
schaft, welche das Tischgeräth aufräumte. Die Lichter er-
loschen nach und nach, die letzten Töne des Gamelan ver-
hallten in der lauen Tropennacht. Da plötzlich verändert
sich die Scene; die Hand des Mantri zuckt mit einem Male
nach dem Kris, die Waffe blitzt in seiner Hand, der Ruf
„Amok, Amok!" ertönt von seinen Lippen und gleichgültig
wen er trifft, stößt er rechts und links um sich; Alles flüchtet,
in wenigen Augenblicken sinken mehrere Frauen und Diener-
schwer verwundet zur Erde. Von dem Lärm und bcm Ge-
schrei aufmerksam gemacht, ruft der Regent den Namen des
Mantri; letzterer kommt näher, jener öffnet die Thür und
110
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
fragt ihn: „Wasgiebt es?", worauf der Mantri antwortet:
„Es wird Amok gemacht!" Nun fragt der Regent: „Wer
macht Amok?", worauf der Mantri mitdemRufe „Kawulo"
(ich, hochjavanisch) jenem seine Waffe in die Brust bohrt.
Unterdessen hatten sich die Wächter gesammelt und bald
hauchte der Mörder unter ihren Speeren fein Leben aus;
mit ihm bedeckten zahlreiche Opfer die blutgetränkte Erde.
Dieser Fall ist theils der betheiligten Personen, theils
der besonderen Umstände wegen feiner Zeit vielfach besprochen
worden und man hat die Frage aufgeworfen, ob hier wohl
ein Fall von Amok vorliegt, weil die Vorgänge von dem
gewöhnlich als typisch angenommenen Bilde in verschiedenen
Hauptpunkten abweichen. Es ist weniger der Umstand,
daß der Mörder, ehe er „Amok" rief, durch nichts verrieth,
was in ihm vorging, als die Vorgänge bei der Ermordung
des Regenten selbst: daß der Mörder dem Rufe seines Herrn
folgte, daß er ruhig seine Frage anhörte und pflichtmäßig
und der Wahrheit gemäß in hochjavanischer Sprache be-
antwortete, um dann seinen blutigen Plan zur Ausführung
zu bringen, das vermag wohl den Gedanken zu erwecken, daß
wir es hier nicht mit einem Falle von Amok, sondern mit
einem kaltblütig überlegten Morde zu thun haben, daß der
Mörder den Racheplan mit sich herumtrug und den Ruf
„Amok" nur ausstieß, das Blutbad nur anrichtete, um den
Regenten zu veranlassen, seine Thür zu öffnen. Später
werden wir näher auszuführen suchen, weshalb unserer
Ansicht nach (die übrigens zur Zeit des Vorganges die all-
gemeine war) ersteres der Fall zu sein scheint.
Einen zweiten Fall entnehmen wir den Papieren eines
uns befreundeten Militärarztes. Auf seinem Grundstücke
wohnte mit anderen Bedienten auch eine javanische Köchin,
welche ein kleines Licbesverhültniß mit einem eingeborenen
Soldaten — es war auch ein Buginese — angeknüpft
hatte. Den oben erwähnten Eigenschaften dieses Stammes
muß noch beigefügt werden, daß die Männer dem schönen
Geschlechte sehr viel Empfänglichkeit entgegenbringen, aber
dem Gegenstände ihrer Neigung Treue beweisen und, sobald
ein näheres Verhältniß angeknüpft ist, auch solche verlangen —
eine Forderung, welcher von dem weiblichen Theile nicht
immer entsprochen wird. Auch in diesem Falle hatte die
Köchin neben ihrem Buginesen noch verschiedene andere
Anbeter; doch wußte sie den ersteren lange Zeit in dem
Glauben zu erhalten, daß er der Bevorzugte sei, bis er
plötzlich gar unsanft enttäuscht wurde, als er bei einem
unerwarteten abendlichen Besuch seinen Platz schon ein-
genommen fand. Scheinbar ruhig entfernte er sich und
begab sich, wie wenn nichts vorgegangen wäre, nach der
Kaserne. Wie seine Kameraden nachher aussagten, hatte
er während der Jeacht lebhaft geträumt, im Schlafe (vielleicht
auch im Wachen) allerlei abgebrochene Drohungen aus-
gestoßen, mit den Zähnen geknirscht und ähnliche Zeichen
von innerer Erregung gegeben. Am folgenden Morgen
that er seinen Dienst wie gewöhnlich; nach Ablauf desselben
legte er sich auf seine Pritsche, wickelte sich in seine Decke
und starrte vor sich hin; nach etwa einer Stunde stand er
auf, kleidete sich an und begab sich nach den Nebengebäuden.
Man konnte dort einen Blick in das Grundstück werfen,
wo seine Geliebte wohnte. Hier stand er einige Augenblicke
still, als die Dame seines Herzens erschien und, ohne ihn
zu bemerken, mit einem anderen Soldaten über den schwachen
Zaun hin ein Gespräch anfing. Obwohl die Sache voll-
kommen unschuldiger Natur und der Krieger durchaus nicht
derselbe war, welcher am Abend vorher ihr zu so sehr un-
gelegener Stunde seine Aufwartung gemacht hatte, war doch
dieses Zusammentreffen genügend, die unterdrückte Wuth
des Buginesen zum Ausbruche zu bringen. Mit dem Rufe
„Amok, Amok!" zog er seinen Säbel und stürzte sich auf
das nichts ahnende Paar, schlug seinen Kameraden mit einem
kräftigen Hiebe zu Boden, durchbrach den schwachen Zaun
und verfolgte seine Geliebte, welche nach der Richtung des
Hanpthauses flüchtete, in dessen Hinterer Gallerie unser
Gewährsmann Zeuge des Vorganges war. Noch ehe die
Frau das Haus erreichte, hatte ihr Verfolger ihr den ersten
Schlag beigebracht, unter dem sie zusammensank; dann
folgten sich die Hiebe mit ungeheurer Schnelligkeit, bis ein
formloser, zerhackter, blutiger Fleischklumpen zu seinen Füßen
lag. Nun schien er ruhiger zu werden; er bemerkte die
Bewaffneten, welche ihm von der Kasernenwache aus nach-
geschickt worden waren und suchte ihnen zu entfliehen. Da
er das Fruchtlose seines Versuches bald einsehen mußte,
deckte er sich hinter einer Mauer. In dieser etwas ge-
schützten Stellung suchte er die ihn bedrohenden Bajonnette
abzuwehren, doch dauerte es nicht lange, bis er von denselben
durchbohrt todt zur Erde sank.
Derselbe Arzt erzählt von einem anderen Falle, in
welchem ein Eingeborener ganz ohne bekannte Ursache Amok
machte und lebendig gefangen wurde. Er hatte Gelegenheit,
denselben hinsichtlich seines Geisteszustandes zu beobachten
und periodischen Wahnsinn zu konstatiren; aus Grund dieses
Gutachtens sprach das Gericht den Mörder frei. Als er
aber nach einiger Zeit wieder Amok machte, wurde er bei
dieser Gelegenheit gelobtet.
Daß die Fälle einander nicht gleichen, sagten wir oben
schon; interessant ist auch des Kontrastes wegen eine Zu-
sammenstellung, die wir einem von Dr. W. Vogler ver-
öffentlichten Aufsatze über mata glap entnehmen, der sie auf
Grund der in „Tijdschrift voor bet regt in Nederl. Indie"
enthaltenen Mittheilungen zusammengestellt hat. Grund-
gedanke der dort enthaltenen Ausführungen, auf die wir
weiter unten noch zurückkommen, ist der, daß ein mata glap
genannter besonderer Zustand gar nicht bestehe und
auch dem Eingeborenen unbekannt sei. Er knüpft
an drei freisprechende Urtheile an, in welchen der Richter
das Vorhandensein von mata glap zur Grundlage seines
Ausspruches machte, und zeigte, daß die mitgetheilten Er-
scheinungen durchaus uicht auf dieselben Momente zurück-
geführt werden können. Dr. Vogler führt an:
1) einen Fall von hitzigem Fieber, in welchem ein Mann
seine Frau tobtet; Freispruch;
2) einen Fall, wo ein Mann seine Frau mit einer
Lanze verwundet und zu seiner Entschuldigung anführt, er
habe in einem Zustande von Wahnsinn gehandelt, der durch
j den Kummer darüber, daß seine Kuh das Bein gebrochen
habe, verursacht worden sei; Freispruch;
3) ein Eingeborener, als ruhiger, friedlicher und ver-
ständiger Mann bekannt, schläft mit einigen anderen Per-
sonen, mit denen er nie Streit gehabt hat, in demselben
Zimmer, springt in der Nacht auf, schlägt mit seinem Hiebcr
um sich und tödtet und verwundet verschiedene der neben
ihm liegenden Personen. Er erklärte, daß er, kaum in
Schlaf gefallen, sich einbildete, es stehe Jemand vor seinem
; Bette; darauf sei er aufgestanden und habe um sich ge-
schlagen und gestoßen; er sagte, er sei mata glap gewesen.
Daß diese drei Fälle ganz verschiedener Natur sind, liegt
auch für den Laien auf der Hand; aber ebenso gewiß ist es
auch, daß ähnliche Zustünde auch an anderen Orten be-
obachtet worden sind, und es ist um so überflüssiger, einen
besonderen Namen dafür einzuführen, als ja der Name
überhaupt bei der Beurtheilung der Zurcchnnngsfühigkeit an
sich keine Bedeutung besitzt, sondern der Schwerpunkt nur darin
liegt, ob der Thäter in einem konkreten Falle durch ab-
normen Geisteszustand seine Willensfreiheit eingebüßt habe.
Aus allen Erdtheilen.
IN
Kürzere Mi
Die Schweden-Inseln im Stillen Ocean.
Auf mehreren Karten wird eine unter 147° Lstl. L. und
70 30' nördl. Br. belcgene, zu den Karolinen gehörige Insel-
gruppe „Swede Islands" oder „Schweden-Inseln" benannt.
Da der Ursprung dieser Benennung gewiß wenig bekannt ist,
so möchte folgende kurze geschichtliche Reminiscenz nicht ohue
Interesse sein.
Nachdem durch James Cooks' in so vieler Hinsicht epoche-
machende Reisen die Aufmerksamkeit Europas auf die bis
dahin noch fast unbekannte Inselwelt in der Südsee gerichtet
worden war, entstand bei den Führern des gleichzeitig er-
wachenden Missionswescns der Gedanke, auch unter der Be-
völkerung dieser Inseln das Licht des Christenthums zu ver-
breiten. Als Feld der Missionsthätigkeit wählte man natürlich
in erster Linie die Insel Tahiti, deren liebenswürdige, freund-
liche Bewohner, entzückendes Klima k. von den ersten Ent-
deckern in so glühenden Farben geschildert worden waren.
Die erste Missionsexpedition nach der Südsee, aus nicht
weniger als 39 Personen bestehend, worunter auch Frauen
und Kinder, ging am 10. August 1796 mit dem Schiffe
„Duff", Kapitän James Wilson, von London ab. Erst am
4. März des folgenden Jahres erreichte mau Tahiti. In
den Kanoes, welche bald nach der Ankunft das Schiff um-
schwärmten, wurden auch zwei Europäer beobachtet, die wie
die Eingeborenen gekleidet und tatnirt waren; cs zeigte sich
bald, daß es Schweden waren. Der eine war ans Stockholm
gebürtig, hieß Anders Cornelius Lind und war 30 Jahre
alt; der andere hieß Peter Haggerstein, war 40 Jahre alt
und ans Helsiugfors gebürtig; beide waren Matrosen. Lind hatte
zu der Besatzung des Walfängerschiffes „Mathilde", Kapitän
Weatherhead, gehört, das im Februar 1792 auf einem unter
22° südl. Br. und 1380 30' westl. L. belegenen Felsenriff
gestrandet war. Dem Kapitän und der Mannschaft war es
geglückt, mit den Booten Tahiti zu erreichen, von wo der
größere Theil der Leute mit verschiedenen Schiffen absegelte,
während einige, unter ihnen Lind, ans der Insel zu bleiben
vorzogen. Der Finländer Peter dagegen war von dem eng-
t t h e i l u n g e n.
lischen Schiffe „Dadalus", Kapitän New, desertirt; das Schiff
sollte dem Entdeckuugsfahrcr Bancouver neue Borräthe bringen
und war auf der Reise Tahiti angelaufen. Da beide Schweden
ziemlich gut englisch und die tahitische Sprache fertig sprachen,
so waren sie Kapitän Wilson und den Missionaren als Dol-
metscher von großem Nutzen. Besonders scheint Peter sich
hierbei ausgezeichnet zu haben, während Lind in den Verdacht
kam, die Eingeborenen gegen die Missionare aufreizen zu
wollen; als er dann aber einen von Wilson's Matrosen zum
Desertiren verleitete, wurde er bei einem Besuche an Bord
festgehalten. Wahrscheinlich gegen seinen Willen wurde Lind
bei der Abreise des englischen Schiffes von Tahiti an Bord
behalten; man fürchtete nämlich, daß er die Insulaner gegen
die Missionare und gegen diejenigen ihrer Landsleute zur
Rache aufreizen könnte, welche bei der Festnahme des desertirten
Matrosen behülflich gewesen waren. Letzterer, dessen Name
Tucker war, desertirte auf der Rückreise doch noch, indem er
bei einer Gelegenheit über Bord sprang, wo viele Kanoes
das Schiff umschwärmten und anfgenommen wurde. Die
Insel, bei welcher sich dieser Vorfall ereignete, wurde deshalb
„Tucker Island" genannt; jetzt heißt sie Satnval. Wenige
Tage später kam Lind zu dem Kapitän und bat, ihn ans der
nächsten Insel, welche das Schiff anlaufen möchte, ans Land
zu setzen. Dies wurde ihm zugestanden und ihm auch mehrere
Sachen versprochen, die ihm von Nutzen sein konnten. Am
26. Oktober 1797 bekam man sechs kleine Inseln in Sicht,
von denen ans eine Menge Kanoes ans das Schiff steuerten.
Lind sprang in eins dieser Kanoes und wurde von den Wilden
mit Jubel empfangen, worauf alle sofort nach ihren Inseln
zurückkehrten. Lange sah man ihn vom Schiffe ans mit der
Hand zum Abschied winken, sichtlich erfreut darüber, sein
freies und sorgloses Leben unter den Insulanern weiterführen
zu können. Die Inseln, welche nun die Heimath des abenteuer-
lustigen Schweden wurden, nannte Kapitän Wilson „Swede
Islands", eine Benennung, die, wie erwähnt, heute noch ans
mehreren Karten vorkommt; in der Sprache der Eingeborenen
heißen sie Lamotrek. Ueber Lind's fernere Schicksale ist nichts
bekannt.
A u s allen
Europa.
— Ueber die alten Handelswege zwischen dem
Schwarzen Meere und der Ostsee giebt Pie (Zur
rumänisch-ungarischen Streitfrage, S. 287) eine interessante
Zusammenstellung. Sie sind im Wesentlichen immer dieselben
geblieben, da ihre Richtnug von der Natur selbst vorgczeichnet
war, wenn auch ihr Ausgangspunkt und wohl auch die Hanpt-
stationen mit den politischen Verhältnissen wechselten, Pauti-
kapaion an die Stelle von Olbia, Cherson an die von Panti-
kapaion trat; erst die Eisenbahnen haben den Verkehr in neue
Bahnen zu leiten verstanden und Odessa das Uebergewicht
gegeben. Der Hauptweg war die sogenannte griechische Straße,
der „Gretschin" der Russen, der Ansturvegr der nordischen
Chronisten, ans dem die Waräger und Normannen nach
Miklagard (Konstantinopcl) gelangten. Sie lief im Wesent-
x r d t h e i l e n.
lichen dem Dniepr entlang, über Kiew, wo sie den großen
Karawancnlveg vom Westen nach dem Osten kreuzte, nach
Nowgorod und der Dünamündung; eine nördliche Fortsetzung
lief längs Wolchow und Lowat zum Jlmcnsee, zum Ladoga
und dem pelzreichen Lande der Finnen. — Eine zweite Haupt-
straße der Wolga entlang nach dem chasarischen Jtil und dann
nach Bolgar, dem Handelscentrum für Mittel- und Ostrußland;
als die Bnlgarenmacht verging, trat an die Stelle von Jtil
das neugegründetc Astrachan, an die von Bolgar erst Kasan,
dann Nischni Nowgorod. Die dritte gleichfalls uralte Straße
lief den Bug hinauf nach der Weichsel und den Bernstein-
ländern der Ostsee. — Zwei Transversalstraßen kreuzten diese
Flußwege. Die eine ging von der Bugstraße, vielleicht schon
von Böhmen ans, nach Kiew, wo eine Insel bequemen Ueber-
gang gestattete, schon che der Fährmann Kij die Stadt be-
gründete, und spaltete sich hier; der südliche Zweig ging den
112
Aus allen Erdtheilen.
Don entlang bis zu seiner Umbiegung und von da zur Wolga
nach Jtil, der andere längs Dcsua und Oka nach Bolgar.
Die zweite Hauptstraße ging theils von der Dünamündung
diesen Fluß herauf und über Dniepr und Oka nach Bolgar,
die andere von Nowgorod längs Msta und Twerca eben-
dahin. — Auf allen diesen Straßen bestand lebhafter Verkehr
schon zur Zeit Herodots; aus den Berichten, welche er von
den Olbiopolitanern erhielt, können wir ersehen, wie weit
diese unternehmenden griechischen Kolonisten damals schon
gingen. Die Straßen blieben auch zur Byzantinerzeit be-
gangen; als Oleg und Igor Frieden mit Byzanz schlossen,
setzten sie genau die Begünstigungen fest, welche die russischen
Kaufleute in Byzanz genießen sollten, und zur Chalifenzeit
finden wir russische Händler mit kostbarem Pelzwerk als regel-
mäßige Gäste von Bagdad, und arabische Reisende besuchten
nicht nur das chasarische Jtil, sondern selbst das ferne Bolgar,
ja auch Kiew, und nur die Eifersucht der auf den gewinn-
bringenden Zwischenhandel angewiesenen Bewohner dieser
Städte verhinderten sie, bis zum Meere und bis zum Ural
vorzudringen. Ko.
A sie«.
— Endlich scheint auch in China das Vorurtheil, welches
ans religiösen Gründen gegen den Eisenbahnbau bestand, im
Wesentlichen geschwunden zu sein, indem Nachrichten vor-
liegen, nach denen der Ban einer Eisenbahn, welche Kaiping
mit Takoo, dem Hafen von Tientsin, verbinden soll, von der
Regierung genehmigt ist. Die Linie soll sowohl eine
strategische Bedeutung haben als auch im Allgemeinen eine
Hebung des Handels und des Verkehrs bezwecken. Die Bahn
wird voll der Kaiping-Eisenbahn-Gesellschaft erbaut werden,
deren Aktionäre sämmtlich Chinesen sein sollen. Die Kaiserin
wird einen besollderen Aufsichtsbeanlten für die Bahn er-
nennen und steht auch einer Verlängerung derselben bis
Tientsiir sowie der Anlegung weiterer Linien nicht ungünstig
gegenüber, namentlich einer Verbindung der Kohlenbergwerke
mit der Küste uitb mit Peking, um die Hauptstadt billig mit
Feuerungsmaterial versehen zu können. Hoffentlich wird sich,
wenn erst der erste Widerstand der Chinesen gegen dieses neue
Verkehrsmittel gebrochen sein wird, das Schienennetz bald
weiter ausdehnen, erfreut sich doch schon die 3 km lange
schmalspurige Personenbahn von Tientsin nach Tsching-
Uang bei der Bevölkerung einer großen Beliebtheit und Be-
nutzung.
— Lord Brassest hat sich beeilt, in den „Times" über
den Eindruck zu berichten, welchen seine Reise nach dem
Malayischen Archipel in ihm erweckt hat. In erster
Linie nimmt er die Aufmerksamkeit von Technikern und
Kapitalisten für die Halbinsel Malakka in Anspruch. Eine
Eisenbahn von Tarry nach Bangkok, die später nach den
westlichen Provinzen von China zu verlängern wäre, würde
dem Handel ein ausgedehntes und reiches Gebiet eröffnen.
Weiter im Süden wäre durch die Halbinsel ein Kanal zu
graben, wodurch die Reise aus dem Indischen Ocean nach
dem Chinesischen Meere um einige hundert Meilen verkürzt
werden würde. (Natürlich würde Siugapore dann viel von
seiner Bedeutung verlierend) Weiter spricht er über Nord-
Borneo und sagt, daß das Gebiet der Nord-Borneo-Gesellschaft,
welches von dem Sultan von Brunai unter dein bekannten
englischen Protektorat abhängig ist, sowie das von Serawak,
welches unter der Verwaltung eines Engländers steht, zu-
sammen eine Küstenlänge von 1200 Meilen haben und an
der großen Fahrstraße nach China gelegen sind. Augenblicklich
)vird die Autorität des Sultans von den Dayaks von Brunai
nicht anerkannt. Der Friede kann nur wieder hergestellt
werden, wenn britischer Einfluß im Interesse eines ver-
weichlichten und hilflosen Oberhauptes geltend gemacht wird.
Da die Kohlengruben Fiasco gemacht haben, ist cs ein Unsinn,
Labuan als selbständige Kolonie handhaben zu wollen.
Die North Borneo Company befindet sich im entgegengesetzten
Falle und diese Bemerkung gilt auch von: Radschah Brooke.
Seine Regierung ist im höchsten Maße mit Erfolg belohnt
worden, sein Land befindet sich in vollkommener Ruhe und
Ordnung und sein Volk ist ihm ergeben. Es würde jedoch
beiden Seiten Vortheile bieten, wenn Serawak enger als jetzt
mit dem britischen Reiche verbunden würde. Bei einem
solchen Zustande der Dinge sollte sich die Aufmerksamkeit
der Regierung auf Nord-Borneo richten. Die Art des
britischen Protektorats muß deutlich bestimmt und flink ge-
handhabt werden. Ein solcher Schritt wäre ein Segen für
das Volk von Borneo, um in Zukunft Verwickelungen mit
fremden Regierungen zu vermeiden. Ganz vor Kurzem liefen
zwei russische Kreuzer Brunai an, um den Hafen und die
Kohlenwerke aufzunehmen. Die Eingeborenen zogen: gleich
den Schluß, daß es sich darum handle, eine russische Kohlen-
station zu errichten und zwar, )vie Lord Brasset) beifügt, in
einem Lande, von dem es heißt, daß es unter englischem
Protektorat stehe. „Wir müssen", mit diesen Worten schließt er,
„unsere Stellung vollständig klar machen."
Afrika.
— Nachrichten ans Brüssel zufolge lauten die Berichte
über die Stanley'sche Expedition im Gegensatze zu dem bis-
herigen Verlaufe des Zuges viel ungünstiger. Stanley hat
mit einem Feinde zu kämpfen, der um so furchtbarer ist,
als er von Niemandem erwartet wurde, nämlich mit einer
unbeschreiblichen Hungersnoth, über die wir nichts Näheres
wissen, deren Wirkung aber nach den Andeutungen, die uns
Stanley giebt, verhängnißvoll sein muß. Diese Hungersnoth
herrscht nicht allein am mittleren Congo, sondern anch au:
oberen Congo, also gerade in jenem Gebiete, welches man
bisher als das fruchtbarste der ganzen afrikanischen Acqnatorial-
gcgend geschildert hat. Ein Brief Stanley's aus Bolobo
theilt mit, daß die Expedition au: 9. Mai in Bolobo ankam,
jedoch die Weiterreise einstellen nmßte, um in der aus-
gehungerten Umgegend irgend welchen Proviant aufzutreiben.
Stanley hat deshalb die Hoffnung aufgegeben, seinem Plane
gemäß am 1. Juni den Zusammenfluß des Aruwimi mit
dem Congo zu erreichen. Da die Umgegend von Bolobo zu
ausgehungert ist, um genügend Proviant aufzutreiben, so hat
Stanley den Araberhänptling Tippn-Tip nach den Stanley-
Füllen gesandt, um dort Proviant aufzukaufen und schleunigst
nach Lukolela zurückzukehren. Dadurch erleidet aber der
Zug eine Verzögerung von drei bis vier Wochen. Anch
sonst sind die Nachrichten ungünstig. In Folge der Hitze
ist Stanley selbst nicht unbedenklich erkrankt und wegen der
Entbehrungen in Folge der Hungersnoth rcvoltirten seine
schwarzen Begleiter, wobei er unerbittliche Strenge entfalten
mußte. Die Expedition scheint somit nach allen Richtungen
hin in ein bedenkliches Stadium getreten zu sein. Hoffen
wir nur, daß das Ende gut ist und vor allem das gesteckte
Ziel erreicht wird.
Inhalt: Cagnat's und Saladin's Reise in Tunesien. XV. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Emil Jung: Polyandrie und
Polygamie. II. (Schluß.) — Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap. I. — Kürzere Mittheilungen: Die Schweden-
Inseln im Stillen Ocean. — Aus allen Erdtheilen: Europa. —Asien. — Afrika. — Schluß der Redaktion am 30. Juli 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrauuschwcig.
Mit besonderer Herurbsrchtrgung der Antbropologie und Ei Enologìe.
Begründet vor: Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Baude à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Cagnat's und Saladiiüs Reisen in Tunesien.
XVI.
Durch ein schmales, in der BefestigungSmauer ange-
brachtes Thor gelangt man in das Innere von Kef und
so auf einen kleinen Platz, auf welchen die Hauptstraßen
der Stadt münden. Die eine, welche fast an der Mauer
entlang läuft, führt in den westlichen Theil der Stadt, die
zweite dagegen durchschneidet den Osten, während die
mittelste, einer steilen und schlüpfrigen Treppe ähnlich,
nach dem Mittelpunkte, dem Dar el-Bey und der Burg
oder Kasbah, leitet. Alle diese Straßen und den Platz
selbst darf man nicht bei Regenwetter sehen, denn alsdann
sind es ebenso viel Gicßbäche und Regenpsützcn; bei schönem
Wetter aber sind sie fast trocken, aber voll von Staub,
Die Reisenden stiegen die mittelste Straße hinauf zu dem
ans dem Platze Dar el-Bey gelegenen Hanse ihres Freundes
Roy, wo sie Aufnahme und einige Ruhetage nach ihrer
langen und anstrengenden Reise fanden, während ihre Leute
und Pferde im Dar el-Bey untergebracht wurden. Beim
Hinaufsteigen fiel es ihnen auf, daß sie fast ebenso vielen
Juden wie Arabern begegneten.
El-Kef hieß im Alterthum Sicca Veneria nach einem
dort sich erhebenden, weit berühmten Benustempel. Ihre
Geschichte ist bald erzählt. Die Stadt war punischen
Ursprungs, wie ja auch der dort hoch in Ehren stehende
Venusdienst wesentlich orientalischen, phönikischen Ursprungs
ist. Während ihres ersten Krieges gegen Rom schickten die
Carthager die rcbellirenden Söldner dorthin in Ver-
bannung. Die Stadt war dann eine der ersten, welche
sich den Römern unterwarf. Von Julius Cäsar oder
Augustus wurde sie zur Kolonie erhoben und gelangte in
der Kaiserzeit zu großer Blüthe, une die noch vorhan-
denen Reste ihres einstigen Glanzes beweisen. Die Römer
Globus LH. Nr. 8.
selbst verglichen sie mit Cirta (Konstantine), und so führt
sic denn auf den Inschriften unter anderen auch den Titel
Cirta Nova; schon dieser Umstand würde genügen, uns
ihre Bedeutung in römischer Zeit zu beweisen. In byzan-
tinischer Zeit besaß sie noch einen gewissen Wohlstand und
hielt das Christenthum in hohen Ehren; Zeugen dessen
sind nicht nur die darüber noch vorhandenen geschriebenen Be-
richte, sondern auch die Neste von Kirchen und Basiliken. Da
zur Zeit des Diocletianus der berühmte Redner Arnobius
dort lehrte und sein Werk gegen die Heiden verfaßte, so
muß die Stadt auch in litterarischer Hinsicht eines gewissen
Rufes sich erfreut haben.
Ihr antiker Name hat sich noch lange nach der arabi-
schen Eroberung erhalten und findet sich bei El-Bekri und
anderen Geschichtsschreibern unter der wenig entstellten
Form Schak-Benar. Heute aber ist derselbe vollständig
verschwunden. Offenbar wurde der Platz immer für sehr-
wichtig gehalten; beherrschte er doch einst den Verkehr
zwischen Numidia und der Provinz Afrika, wie noch heute
die Straße von Suk-Ahras nach Tunis; er war der
Schlüssel des Landes nach Westen hin. Als solchen haben
ihn die Tunesier stets angesehen und darum dort eine ver-
hältnißmäßig feste Kasbah erbaut, wo sie bei der Nach-
richt von dem Heranrücken der französischen Truppen
Proviant und Waffen in Masse aufhäuften. Beides haben
sie nicht verwendet, und mit Recht; denn die auf den
Bastionen befindlichen Kanonen wären vielleicht das erste
Mal losgegangen, beim zweiten Mal aber sicher zersprungen.
Uebrigens war Kef im Jahre 1880 bei weitem nicht so
wohlhabend und blühend, wie eine Anzahl anderer Städte
der Regentschaft. Denn die tunesische Regierung hatte sie
15
114
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
wegen eines 1865 stattgefundenen Aufstandes, welcher den
Bey arg erschreckt hatte, absichtlich verarmen lassen, und
Hungersnoth, Typhus und Cholera hatten später das Ihrige
gethan, so daß die Stadt zuletzt nicht mehr als 3000 Ein-
wohner zählte, drei Viertel der Häuser in Ruinen lagen
und der Rest in Schmutz und Mist versank.
Das europäische Element, welches seit der französischen
Besitznahme sich in der Stadt niedergelassen hat, hat diesen
Zustand bereits verändert und wird ihn ohne Zweifel in
Bälde noch mehr verändern. Richt nur sind neue Ein-
wohner, besonders Algerier, zugezogen, haben der Stadt
neues Leben, das man dort fast nicht mehr fand, verliehen,
sondern es werden auf früher wüsten Stellen Neubauten
errichtet, und schon mischen sich zwischen die weißen Terrassen
der arabischen Häuser einzelne rothe Dächer. Die Lage
von Kef ist aber auch in der That für den Handelsverkehr
eine ausnahmsweise günstige.
Für Archäologen ist in der Stadt eine reiche Ernte zu
machen; denn sie ist fast ganz aus antiken Steinen erbaut, und
einzelne Häuser sind thatsächlich nichts
Anderes, als ganz umgearbeitete
römische oder byzantinische Gebäude.
Die punische Stadt lag ganz auf dem
Gipfel des Berges, höher noch als die
heutige Kasbah; aber man hat nicht
viele Reste von ihr gefunden, nament-
lich einige Stelen ohne Inschriften,
welche wahrscheinlich die Stätte des
Venustempels bezeichnen. Dafür
spricht nicht nur die Gewohnheit der
panischen Städte, den Tempel ihrer
Schutzgottheitauf demhöchsten Punkte
anzulegen, sondern auch der Um-
stand, daß die Araber in der kleinen
Moschee, welche sich jetzt dort erhebt,
bei einem Gelübde Tauben darbrin-
gen. Dieser Vogel war aber bekannt-
lich der Venns heilig und gehört zu
den Attributen der Tanit, der puni-
fchen Liebesgöttin; man hat also in
jener arabischen Sitte eine Ueber-
lieferung aus alter Zeit. An der-
selben Stelle ist auch ein Votivbild
in Basrelief, in panischem Stile,
aber aus römischer Zeit gefunden
worden; es stellt in einer halbrunden
Nische eine stehende Person dar, ge-
kleidet in eine Stola, über derselben eine um die linke Schul-
ter gelegte lange, mit Ornamenten gestickte Binde, in der
Rechten eine Weintraube, in der Linken wiederum eine
Taube. Das Bild ist unzweifelhaft ein der Göttin darge-
brachtes Weihgeschenk.
Um so reichlichere Reste hat die römische Epoche hinter-
lassen, von den zahlreichen Inschriften ganz zu schweigen.
Da sind zuerst zwölf neben einander liegende Cisternen,
welche vielleicht noch in die punische Zeit zurückreichen.
Jede derselben ist 28 Meter lang und 6 Meter breit und
steht mit der nächsten durch eilte ziemlich niedrige Oeffnnng
in der Quermauer in Verbindung; oben haben sie runde
Lichtlöcher, durch welche das Wasser geschöpft wurde, und
an der Südseite viereckige, durch welche das Wasser zufloß.
Sie gehören zu den schönsten Beispielen bedeckter Cisternen,
welche die Reisenden in Tunesien gefuuden haben, und an
Größe stehen sie nur den berühmten Cisternen von Car-
thago nach, welche, von den Maßen abgesehen, ungefähr
nach demselben Modelle erbaut sind. Außerdem besaß die
Stadt noch für die Wasserversorgung eine prächtige Quelle,
welche, an ihrem Ursprünge gefaßt und kanalisirt, sich zu-
nächst in ein großes Becken ergießt, um von da sich über
die Stadt und in die Gärten zu verbreiten. Die auf ihre
schöne Quelle stolzen Einwohner erzählen Wunderdinge
von derselben; so soll einem Autor zufolge ein ganz be-
waffneter Reiter in dem Zuleitungskanale mit Leichtigkeit
sich bewegen können, ohne mit der Spitze seiner Lanze die
Decke zu berühren. Das ist gewaltig übertrieben, denn
ein Mann kann dort wohl passiren, aber nicht ohne sich
oft zu bücken. Aber an solchen Uebertreibungen hat die
orientalische Phantasie einmal Gefallen.
Als Cagnat und Saladin diese Quelle zum ersten Male
sahen, war sie in einem Zustande fast vollständiger Ver-
nachlässigung. Die Frauen wuschen darin, die Heerden
und Lastthiere wurden dort getränkt, und das mehr oder
weniger verunreinigte Wasser wurde dann in der Stadt
getrunken; Abends herrschte um das Becken oft ein wahres
Durcheinander von Menschen und Thieren, die sich stießen
und drängten, um zuerst an das ersehnte Wasser zu gelan-
gen. Nach der französischen Besetzung
wurde der Kanal gereinigt und unter-
halb des großen Beckens zwei kleinere
angelegt, welche durch Leitungen aus
jenem gefüllt werden, und von denen
das eine zum Trinken, das andere
zum Waschen dient. Auf diese Weise
enthält das Hauptbecken jetzt nur
noch trinkbares Wasser.
Das antike Amphitheater lag west-
lich von der Stadt, dem Thore Bab-
Scherfin gegenüber; es wurde damals
gerade von dem Schutte befreit, aber
es stellte sich heraus, daß es fast
völlig zerstört ist und nur das Po-
dium sich erhalten hat. Uebrigens
fällt es, wie dasjenige von Makler,
durch seine Kleinheit auf. Bedeuten-
der war dagegen das Theater, wel-
ches auf der entgegengesetzten Seite
der Stadt anßerhalb der heutigen
Mauern liegt. Bei einigen Nach-
grabungen, welche M. Roy veran-
staltet hat, aber nicht zu Eude führen
konnte, hat er einen Theil der vor-
deren Säulenhalle gefunden; Säulen
und Kapitäle gehörten der ionischen
Ordnung au. Schließlich liegt tut
Inneren der heutigen Stadt ein antikes Gebäude, das einst
als Warmbad gedient zu haben scheint; es ist zum Theil
von arabischen Häusern überbaut, so daß sich einer näheren
Untersuchung große Hindernisse in den Weg stellen. Im
Kellergeschosse dieses Bauwerkes befinden sich vier gewölbte
Säle und zahlreiche Gänge; das Wasser wurde durch einen
kleinen Aqnäduct, der bei dem Theater vorbeiging, zugeleitet.
Neben diesen Thermen hat M. Roy gleichfalls kürzlich Aus-
grabungen vorgenommen und dabei zwei männliche und
eine weibliche Statue von mehr als Lebensgröße gefunden.
Letztere bestand aus mehreren Stücken, und die nackten
Theile waren aus schönerem Marmor als die Gewänder
gearbeitet, eine Sitte, welche der Zeit der Antonine an-
gehört. Dies und außerdem ein neben dem Römerbrunnen ge-
legener Porticus und ein sechseckiges Bauwerk, Dar el-Dschir
genannt, sind die Reste, welche in Kef aus der eigentlichen Nö-
merzeit sich erhalten haben. Die alte Stadt bedeckte aber nicht
nur denselben Nannt wie die heutige, sondern noch einen Theil
der südlichen Abhänge des Berges, welcher jetzt schöne Gärten
trägt, in denen zuweilen antike Bruchstücke gesunden werden.
Antikes Votivbild in Kef.
(Zeichnung von H. Saladin nach dem Originale.)
116
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
Die christliche Zeit ist durch zwei Kirchen vertreten.
Die eine, sehr gut erhaltene, welche seit langer Zeit in
Wohnhäuser- verwandelt worden war, heißt heute Dar
el-Kus. Die 5 m breite, 14 m lange innere Vorhalle
(Narthex) bildet für jene Häuser eine Art Enträe. Das
12 m lange, 6 m breite Schiff dient heute als Hof, und
die Apsis als Viehstall; letztere war beim Einmärsche der
Franzosen mehr als zur Hälfte mit Mist gefüllt, welchen
der kommandirende General hinausschaffen ließ. Sie hat
Moschee und Zanja des Sidi bu-Maklnf
Stadt außerhalb der Mauern; sie wird jetzt Kasr el-Ghnl
(Schloß des Vampyr oder Nachtgespenstes) genannt. Sie ist
nach denl Plane der gewöhnlichen Basiliken gebaut und schließt
mit einer halbrunden Apsis ab. Vier Jahre zuvor hatte
ein Feldprediger sie reinigen lassen, um sie auszubessern
und dann Gottesdienst darin zu halten; in der That fand
er eine kleine Krypta und wandelte dieselbe zu einer Kapelle
um. Diese Kirche ist wahrscheinlich späteren Ursprungs
als die erste, denn sie ist aus Steinen erbaut, die von einem
die Eigenthümlichkeit, daß ihre fünf halbrunden -Nischen
oben nicht in einem Kugelgewölbe endigen, sondern sich zu
einer von Hohlrippen getragenen Kuppel verlängern. Die
zu beiden Seiten der Nischen angebrachten, wahrscheinlich
marmornen Säulen sind verschwunden, dagegen hat sich
über einer Seitenthür der Basilica ein Thürsturz erhalten,
auf welchem zwischen einem Oel- und einem Granaten-
zweige eine Krone zu sehen ist.
Eine zweite Kirche liegt in dem höheren Theile der
Kef. (Nach einer Skizze H. Saladin's.)
antiken Begrübnißplatze herrühren. Von hier holten die
Inden Kefs bis in die jüngste Zeit die Steine für ihre
Gräber, da ihr Begrübnißplatz in der Nähe des Kasr el-
Ghul liegt. Derselbe ist denn auch über und über mit
römischen Grabaltären und Basen bedeckt, deren alte In-
schriften von den Inden mit Kalk überstrichen sind und bei
einigem Kratzen sofort zum Vorschein kommen; die modernen
hebräischen Inschriften sind regelmäßig auf einer der Seiten-
flächen angebracht.
Cagnat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
117
Die modernen Gebäude der Stadt Kef sind fast ebenso
zerfallen, wie die antiken, bieten aber fehr viel weniger
Interesse mit Ausnahme der entzückenden Moschee des
Sidi bu-Maklnf, deren Abbildung wir geben. Vielleicht
bieten die Moscheen und Zaujas anziehende Einzelheiten,
und ein Orientalist könnte in ihnen vielleicht merkwürdige
Funde machen, denn Kef ist in religiöser Hinsicht eine
wichtige Stadt und wegen der dort vertretenen Sekten und
geheimen Gesellschaften ein Hauptsitz des Islam in Tunesien.
Unsere Reisenden jedoch konnten den religiösen Gebäuden
der Mohammedaner keinen Besuch abstatten.
Der Dar el-Bey, die Residenz des Gouverneurs und
Absteigehaus für Fremde, war bei der Einnahme der Stadt
durch die französischen Truppen in einem unbeschreiblichen
Zustande des Verfalls. Der drinnen und draußen auf-
gehäufte Unrath reichte an manchen Stellen bis zum ersten
Stockwerke, während große Steine, die aus den Mauern
oder vom Dache herabgefallen waren, den inneren Hos
erfüllten. Umsonst hatten die Araber große Fatmahände
auf die Mauern gemalt, um den bösen Blick abzuwenden,
das fast unbewohnte Haus fiel jeden Tag mehr in Trümmer.
Im Dar el-Bey haben M. Roy und einige Freunde
des Alterthums aus dem Officierstande ein Museum ein-
gerichtet, wie es in Tunesien sonst nicht weiter existirt, und
sie fanden bei den Soldaten und selbst bei den Einheimischen
so viel Unterstützung darin, daß in wenigen Wochen die
Treppe und einige Säle sich mit Statuen, Torsen, Stelen,
Inschriften, Architekturstücken, Lampen, Phiolen u. s. w.
füllten, welche punifche und römische Kunst und Lebensweise
in lokaler Begrenzung vor Augen führten. Da inzwischen
Kasbah von Kef. (Nach einer Photographie.)
die Garnison abgezogen ist und M. Roy vielleicht bald ver-
setzt wird, so hat man beschlossen, die werthvolle Sammlung
nach Tunis überzuführen, um sie vor dem Schicksale ähn-
licher Museen in Algerien, z. B. desjenigen von Philippe-
ville, zu schützen, welche nach dem Tode oder Wegzüge ihrer
Gründer und Erhalter fehr bald der Vernachlässigung und
der Zerstörung durch Bauunternehmer, die größten Feinde
der Antiken, verfallen sind.
Die Kasbah von Kef gleicht den übrigen militärischen
Bauten des Landes. Ihre hohen Mauern find aus antiken
Steinen erbaut und haben den Anschein großer Festigkeit,
sind aber in Wirklichkeit ungeschickt aufgeführt, und der dazu
verwendete Mörtel taugt nicht viel. Innen besteht sie aus
einem centralen, von einzelnen Räumen umgebenen Hofe,
eine Anordnung, wie sie derjenigen eines großen arabischen
Hauses entspricht. Ueber diesen Räumen befindet sich eine
durch eine breite Treppe zugängliche Plattform, auf welcher
die früher erwähnten Kanonen standen. Der Zugang zum
Inneren führt durch einen kleinen Vorhof und dann durch
einen gewölbten Gang, der einen Winkel macht. Behufs
Unterbringung der französischen Garnison find dann an der
Kasbah einige Veränderungen vorgenommen worden, und
das zwischen arabischen Bauten so störende Ziegeldach hat
auch hier seinen Einzug gehalten.
Viele von den erzählten Einzelheiten erfuhren die
Reisenden aus dem Munde ihres Wirthes, des Hrn. Roy,
dessen Haus ihnen lang entbehrte Genüsse bot. Abends
nach dem Essen hielten sie sich auf der Terrasse auf und
erfreuten sich an dem weiten Fernblick bis zu den algerischen
Bergen im Westen und den Höhen, die sie zwischen Medeina
118 Ccignat's und Saladin's Reisen in Tunesien.
Emil Metzger: Einiges über Amok und Maiaglap.
119
und Kef überschritten hatten, im Südosten; in der Ferne
die riesige Tischform der Kalaa es-Senän und zu ihren
Füßen die Stadt mit ihren schmutzig-weißen Häusern und
den mehr oder weniger verfallenen Terrassen. Auch in den
sehr engen Nachbarhof, in welchem mehrere Jüdinnen ihren
Arbeiten nachgingen, konnten sie hinabblicken. Jede der-
selben hatte ihre besondere Tracht und ebenso ihre besondere
Arbeit: die Mutter, in dunkleren Kleidern, kauert vor einem
kleinen irdenen Kohlenbecken, facht
die Gluth mit einem Fächer aus
Spartogras an und bereitet eine
übel duftende Speise; ihre Schwie-
gertochter, eine schöne Frau in den
zwanziger Jahren, ist in Helle Stoffe
gekleidet, überwacht die Zurüstungen
zur Mahlzeit und ertheilt einem hoch
aufgeschossenen Mädchen von etwa
15 Jahren, welches die groben Arbei-
ten zu verrichten hat, Befehle. Die
Männer aber unterhielten sich in
näselndem Tone von ihren Ge-
schäften.
Ob Kef, wie Konstantine in
Algerien, Hauptort einer Provinz
werden oder eine Stadt zweiten
Ranges bleiben wird, ist schwer
zu sagen. Sehr hinderlich ist ihr
der Umstand, daß sie nicht an der
Eisenbahn liegt, welche Algerien und
Tunesien verbindet, und der nächste
Bahnhof (Suk el-Arba) nur auf
einem schwierigen Bergwcge zu errei-
chen ist. Einstweilen wird zwischen
Kef und Tunis eine Hauptstraße
erbaut oder richtiger, die alte Rö-
merstraße wieder hergestellt, welche
den einst so reichen, an ihr liegenden Orten vielleicht
etwas von ihrer früheren Blüthe wieder verleiht.
Das nächste Ziel der Reisenden war Tunis; aber sie
wollten es nicht auf dem nächsten Wege erreichen, sondern
mit Umwegen, namentlich nach dem Lande der Khrumir,
für welche sie trotz der zunehmenden Hitze noch eine Zeit
von zwei bis drei Wochen aufzuwenden gedachten. Mit
Rathschlägen und Empfehlungsschreiben von Hrn. Roy auf
das Beste versehen, verließen sie Kef durch das Thor Scherfin,
überschritten 12 km nordwestlich der Stadt den stark an-
geschwollenen und darum nicht ungefährlichen Wed Mellcg,
erreichten 8 km weiterhin gegen Abend ein Mausoleum in
Gestalt eines viereckigen Thurmes, Henschir Tuiref geheißen,
und lagerten 2 km weiter in einem großen Duar des
Stammes Wargha, an dessen Scheich sie empfohlen waren.
Dieser zeigte ihnen am nächsten Morgen auf einem nahen,
auf drei Seiten von tiefen Schluchten
umgebenen Hügel eine ziemlich ausge-
dehnte Trümmerstätte, Henschir
Gergur, deren antiker Name nach
einer von ihnen gefundenen In-
schrift Nasonlula lautete. Nach der-
selben wohnten dort zu Beginn der
Kaiserzeit nur wenige Römer unter-
lauter Numidiern, wie denn auch die
zahlreich erhaltenen Grabsteine viele
punische und berberische Namen auf-
weisen und einige sogar in neupuni-
schen Charakteren geschrieben sind.
Der Ort ist nie von Bedeutung ge-
wesen, doch haben sich daselbst einige
Mausoleen mehr oder weniger gut
erhalten; das erste hat die oft vor-
kommende Form eines kleinen Tem-
pels, der auf einem viereckigen Unter-
bau sich erhebt, zeichnet sich aber durch
sehr sorgfältige Bauart und zierliche
korinthische Säulen aus. Ein zwei-
tes, das leider sehr zerstört ist, zeigt
sechs gleiche Fanden, in jeder der-
selben eine Nische und an jeder Ecke
eine Säule; nur eine Seite steht
heute noch aufrecht. Ein drittes, im
nördlichen Theile des Ruinenfeldes
gelegenes Grabmal besteht nur aus einem viereckigen Thurme,
welcher innen Nischen zur Aufnahme von Urnen hatte; die
Grabschriften an der Außenseite sind noch erhalten. Diese
Existenz von verhältnißmäßig bedeutenden Mausoleen in
einem so bescheidenen Trümmerfelde beweist wiederum, wie
diese kleinen afrikanischen Städte unter dem Kaiserreiche
blühten, und wie verbreitet der Wohlstand im Lande war.
(Fortsetzung folgt in einer späteren Nummer.)
Mausoleum im Henschir Gergur. (Nach einer
Photographie.)
Einiges über Amok und Mataglap.
Von Emil Metzger.
II. (Schluß.)
Ehe wir weiter gehen, dürfte es nicht unzweckmäßig sein, aus
den uns vorliegenden Mittheilungen über Amok, welche aus
älterer Zeit stammen, eine kleine Auslese mitzutheilen. Hören
wir zunächst Nicolo Conti (1430), der in seiner Beschreibung
den Ausdruck Amok allerdings nicht gebraucht, dagegen die
Sache selbst in folgenden Worten andeutet: Mord ist hier-
ein Spiel, und ihm folgt keine Strafe. Schuldner werden
ihren Gläubigern als Sklaven überantwortet und manche
derselben, welche den Tod der Sklaverei vorziehen, stürmen
dann mit gezückter Waffe einher und stoßen alle diejenigen,
denen sie begegnen und die ihnen nicht gewachsen sind, nieder,
bis ihnen selbst der Tod von der Hand eines Mannes zu
Theil wird, der die Kraft besitzt, sie niederzufällcn. Der
letztere wird dann von den Gläubigern wegen der verlorenen
Schuld vor Gericht gezogen.
Auch Barbosa macht eine recht bezeichnende Mittheilung.
Er sagt nämlich: Es giebt einige unter ihnen (den Javanen),
welche, wenn sie von einer schweren Krankheit ergriffen
werden, Gott geloben, daß, wenn sie von dieser Krankheit
genesen, sie aus eigener Bewegung zum Dienste Gottes
einen anderen, ehrenvolleren Tod aussuchen wollen, und sobald
sie sich wieder wohl fühlen, nehmen sie einen Dolch in die
Hand und gehen in die Straße hinaus und tobten so viel
Menschen, als sie antreffen, sowohl Männer als Frauen
120
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
und Kinder, und zwar in der Weise, daß sie wie tolle Hunde
einherlanfen und morden, bis sie selbst getödtet werden.
Solche Menschen werden Amuco genannt. Sobald man
sieht, daß solche Leute ihre Arbeit anfangen, schreit man
„Amuco, Amuco", damit die anderen sich in Acht
nehmen, und man tobtet sie mit Dolch- und Speerstößen
(1516). Dieser Satz scheint beiläufig gesagt anzudeuten,
daß das Wort Amok (Amuco) in den Malayen-Lüudern
gebraucht wurde, ehe die Portugiesen dorthin kamen. Doch
bestehen auch wieder Gründe, welche darauf hinzuweisen
scheinen, daß das Wort indischen Ursprungs ist, und sicher
ist die Sache selbst in Indien wenigstens ebenso lange be-
kannt als im Malayischcn Archipel. Tod fuhrt in seinen
J.val8 avck ^vtihrnties of Rajasthan einige interessante
Begebenheiten an, die wir hier auszugsweise wiedergeben.
Einmal erzählt er, daß der älteste Sohn des Nadscha von
MärwLr am Hose von Schah Dschahan Amok machte,
und daß es ihm allerdings nicht glückte, den Kaiser zu treffen,
aber daß er fünf hervorragende Hofleute tödtete, ehe er selbst
siel. Weiter führt er an, daß im vorigen Jahrhundert
Bidschai Singh, auch von Märwär, gegen den Tälpura,
Prinzen von Hyderabad, Bidschar Chan, bitteren Haß hegte,
weil er Boten zu dem Radschput geschickt hatte, um Tribut
und eine Braut zu verlangen. Ein Mann der Bhatti und
ein Mann der Tschondäwat boten ihre Dienste an, um diese
Schmach zu rächen, und begaben sich als Gesandte nach
Sind. Während Bidschar Chan ihre Beglaubignngsbricfe
las, murmelte er: „Kein Wort von der Braut!" Da begrub
der Chondawat seinen Dolch in seinem Herzen, indem er
ausrief: „Nimm dies für die Braut!" und der Bhatti, der
einen zweiten Stoß gegen ihn führte, fügte hinzu: „Und
dies für den Tribut." Dann ließen die beiden ihre Dolche
rechts und links spielen und 26 Personen fielen als Opfer,
ehe die Gesandten in Stücke gehackt waren.
Wie es scheint, hat man den Ursprung des malayischcn
Ausdrucks in Malabar zu suchen, wenigstens kommt im
Malayälam J das Wort: Amar-Kkan (Krieger) vor, welches
von Ainar (Gefecht, Krieg) abgeleitet ist. Dieses Wort findet
nun bei der Schilderung einer eigenthümlichen Gewohnheit in
Malabar eine bemerkenswerthe Verwendung. Wenn der
Zamorin (der Titel des Hindu-Herrschers von Calicut und
Umgebung) 12 Jahre lang geherrscht hatte, wurde inTiru-
näryäi eine große Versammlung gehalten, in welcher der
Fürst, von seinen Bewaffneten umgeben, seinen Sitz ein-
nahm. Jeder hatte dann das Recht, ihn anzugreifen, und
derjenige Angreifer, welchem es glückte, den Zamorin zu
todten, nahm den erledigten Thron in Besitz. Dies kam
öfter vor. Im Jahre 1600 wurden 30 solcher Angreifer
getödtet. Diese Angreifer hießen Amar-Kkar (Plural von
Amar-Kkan).
Man wird wohl nicht irren, wenn man annimmt, daß
diese Leute wirklich Amok machten, und weiter unten werden
wir noch Einiges anführen, was darauf hinzuweisen scheint,
daß der Ursprung sowohl des Namens als der Sache selbst
auf dem indischen Festlande zu suchen ist.
Dem scheint allerdings die Thatsache im Wege zu stehen,
daß Amuco und Amuchi der europäischen Berichterstatter
dem Amar-Kkan nicht sehr ähnlich sind, während sie mit dem
malayischen Amok so gut übereinstimmen.
Wir beabsichtigen nicht, auf die verschiedenen Ableitungs-
Versuche weiter einzugehen, möchten aber doch noch bemerken,
daß de Gubernatis die Möglichkeit angedeutet hat, daß
Amouchi von dem Sanskritwort Amokshya („was nicht
0 Eine der entwickelten dravidischen Sprachen, dem Tamil
sehr nahe stehend; der Ausdruck bedeutet eigentlich „Berg-
gegend".
verloren werden kann") abgeleitet sei. Es wäre dies ge-
wiß — wie sich zum Theil auch noch aus dem Folgenden
ergeben wird — eine sehr gute Erklärung, da sowohl in
Malabar als im Archipel dem Betragen der Personen, welche
Amok machen, der Gedanke untergelegt zu werden scheint, daß
sie durch ein Gelübde gebunden sind; die Schwierigkeit liegt
nur darin, daß Amokshya, wenigstens in diesem Sinne, dem
Malayälam fremd ist. Der Versuch, Amuck, Amok vom ara-
bischen Ahmak abzuleiten, dürfte wohl schon aus geschicht-
lichen Gründen keinen Beifall finden.
Auch das gemeinschaftliche Amokläufen Mehrerer wird
erwähnt; so erzählt Correa, daß in dem Kriege zwischen
Calicut und Cochin (1503) zwei dem letzteren Lande ent-
stammende Fürsten und mit ihnen eine große Zahl ihrer
Getreuen getödtet wurden. Aber Einzelne, so fährt der
Bericht fort, blieben übrig, welche nicht getödtet waren, und
diese fühlten Scham darüber, daß sie nicht, ihre Herren
rächend, den Tod gefunden hatten. Sie waren mehr als
200 an der Zahl, die nun alle ihrer Sitte gemäß sich das
Haupt schoren, ja sogar die Augenbrauen; dann umarmten
sie einander und ihre Freunde und Verwandten, wie Leute,
die in den Tod zu gehen entschlossen sind. In einem solchen
Falle sind sie wie wahnsinnig — bekannt als Amucos — und
rechnen sich schon unter die Todten. Diese Leute zerstreuten
sich, suchten die Leute von Calicut auf, wo sie dieselben nur
finden konnten, warfen sich furchtlos zwischen sie und ver-
breiteten Wunden und Tod um sich her, bis sie selbst ge-
tödtet wurden. Und etwa 20 von ihnen, welche größere
Ehre erreichen wollten, wünschten durch ihren Tod ein
höheres Ziel zu erkaufen; sie trennten sich von einander
und fanden einzeln ihren Weg nach Calicut, entschlossen,
den König zu tödten. Aber als es bekannt wurde, daß sie
Amucos waren, gerieth die Stadt in Unruhe und der König
schickte seine Diener ans, um sie niederzumachen, wie sie
andere niedermachten. Sie aber als verzweifelte Männer
kämpften wie Besessene, ehe sie niedergemacht wurden und
tödteten viele Menschen mit Frauen und Kindern. Fünf
von ihnen begaben sich in einen Wald in der Nähe der
Stadt, den sie nachher lange Zeit hindurch unsicher machten,
indem sie Räubereien begingen und allerlei Unheil anrichteten,
bis sie alle getödtet wurden.
Der Gewohnheit, sich zu dem Amok vorzubereiten, begegnet
man mehrfach. So erzählt de Barros in seinem Berichte
über die Einnahme der Insel Beth (bei Kathiäwar) Folgen-
des: Aber die Einwohner von Guzarat fürchteten Sultan
Badur so sehr, daß sie den Bedingungen nicht zustimmen
wollten. Und so, wie Menschen, die zum Tode entschlossen
sind, schoren sie in derselben Nacht ihren Kops (dies ist
eine abergläubische Gewohnheit, welche in Indien die
Menschen, welche das Leben verachten, üben, man nennt
solche Menschen Amucos), begaben sich in die Moschee und
weihten ihre Leiber dem Tode, und um zu zeigen, daß es Ernst
sei mit diesem Gelübde, ließ der Anführer ein großes Feuer
anzünden und schleuderte seine Frau und einen kleinen Sohn,
den er besaß, und sein Hausgeräth und seine Schätze in
dasselbe, damit nichts davon dem Feinde in die Hände fiele.
Andere thaten das Gleiche und dann warfen sie sich auf die
Portugiesen.
Man findet sogar verschiedene Angaben, wonach ganze
Truppenabtheilnngen aus solchen Amucos bestanden. So
heißt es z. B. bei Pinto: der König selbst griff, von 5000
Amucos begleitet, wüthend an.
Namentlich von Cochin finden wir solches bei verschiedenen
Geschichtsschreibern berichtet. So heißt es beispielsweise:
Der König von Cochin hat eine ganze Anzahl Edelleute,
die er Amocchi nennt, und manche werden Nairi genannt;
beide achten ihr Leben für nichts, so daß dasselbe zur Ehre
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
121
ihres Königs geopfert werden muß. lind bei einem späteren
Geschichtsschreiber (1588): Ihre Streitmacht (die von
Cochin) besteht aus einer Gattung Soldaten, welche man
Amocchi nennt. Sie haben die Verpflichtung zu sterben,
wenn es dem König gefällt, und alle Soldaten, welche in
einem Kriege den König oder den Anführer verlieren, haben
die Pflicht, ihr Leben für ihn zu opfern. Hiervon macht
der König in dringenden Fällen Gebrauch, indem er feine
Leute aussendet, um fechtend zu sterben.
So könnten wir noch viele Beispiele ans älterer Zeit
anführen, welche beinahe alle von Amok als von etwas Vor-
bedachtem sprechen und häufig die Vereinigung Vieler zu
solchem Zweck berichten. Soviel uns bekannt, war es der
neueren Zeit vorbehalten, die Wahrscheinlichkeit einer psychi-
schen Störung bei denjenigen, welche Amok machen, anzu-
nehmen. Dr. Oxley zu Singapore behauptete, daß in den
meisten Fällen von Amok Geistesstörung zu Grunde liege,
ohne sich ganz deutlich darüber auszusprechen, ob er mehr
eine vorübergehende psychische Störung oder den plötzlichen
akuten Zustand nach längerer oder kürzerer chronischer
Krankheit im Auge hat. Dr. Vogler hat diese Ansicht be-
stritten ; er begründet dies, zunächst durch die Mittheilung,
daß der Eingeborene den Ausbruch in den meisten Fällen
nicht für eine Folge von Wahnsinn zn halten scheine. Das
thut nun allerdings der Eingeborene jedenfalls nie, denn er
beweist dem Verrückten Ehrfurcht und scheut ihn, den Amok-
macher aber sucht er in jeder Weise unschädlich zn machen.
Hiermit ist jedoch von unserem Standpunkte ans wenig
gewonnen, da eben der Eingeborene eine andere Pathologische
Einthcilnng hat als der Europäer. Der allgemeine Begriff
„Geistesstörung" ist ihm fremd, er kennt nur gewisse Formen,
die er nach ihren äußeren Erscheinungen rnbricirt hat, die
darum aber noch nicht mit entsprechenden, von Europäern
angenommenen Rubriken sich decken. Wenn wir daher
diesen Beweis überhaupt nicht gelten lassen können, so finden
wir doch die weiteren Ausführungen des Dr. Vogler so
interessant, daß wir dieselben hier ziemlich vollständig wieder-
geben. Zunächst weist er den Gedanken, daß man es mit
einer bcsanderen, der malayischen Rasse e i g e n t h ü m l i ch e n
Geistesstörung zu thun habe, zurück; er legt dagegen den
Schwerpunkt auf Beantwortung der Frage, wie es kommt,
daß solche Fälle, von verschiedenen auch in anderen
Gegenden beobachteten Geistesstörungen im Malayi-
schen Archipel verhältnißmäßig oft vorkommen. Der Ge-
dankengang ist hierbei folgender-. Die geistigen Fähigkeiten
der verschiedenen Nassen sind ursprünglich dieselben, sie
zeigen nur einen Unterschied in ihrer Entwickelung. Dagegen
hat die Richtung, welche die geistigen Fähigkeiten durch Er-
ziehung und Einfluß der Umgebung erhalten, einen beinahe
immer bleibenden Einfluß auf des Menschen Thun und
Lassen. Man darf daher wohl annehmen, daß die krank-
haften Veränderungen des Geistes, insofern sie unter die
allgemeinen Ausdrücke von Melancholie, Manie und Amen-
tia fallen, bei allen Völkern die gleichen sind, daß aber ihre
Aeußerungen je nach Individuum und Volk, welchem das-
selbe angehört, nach den Ansichten beider, insofern sie einen
eigenthümlichen Charakter bedingen, nach Verhältniß, wie
sich die gesellschaftlichen Einrichtungen und die auf dieselben
begründeten Sitten gestaltet haben, nur mit denen anderer
Völker Unterschiede aufweisen, andere und zwar sehr von
einander abweichende sein werden.
Die Geschichte lehrt, und dies stimmt mit dein eben
Gesagten überein, daß die intellektuelle Richtung einer ge-
wissen Periode immer einen nicht unbedeutenden Einfluß
ans die vorkommenden Geistesstörungen hat. In Zeiten,
wo ganze Völker zum Schwerte griffen, um ihre religiösen
Streitfragen auszutragen, nahmen auch religiöse Schwärmerei
Globus LII. Nr. 8.
und religiöser Wahnsinn zn, in Zeiten der Noth und des
Elendes mehrten sich die Fälle von Hypochondrie und
Melancholie.
Auf Grund des Gesagten dürfte man vielleicht annehmen,
daß Menschen, die gewohnt sind, ihr Leben täglich gegen
wilde Thiere zu vertheidigen, bei denen Blutrache zum Theil
noch vor Kurzem bestand, zum Theil jetzt noch eine Pflicht
ist, die immer eine Waffe tragen, weniger ans Gewohnheit,
als weil die bittere Nothwendigkeit diese Gewohnheit ins
Leben rief, daß solche Menschen, sobald ihr Seelenzustand
von dem normalen abweicht oder bei ausgesprochener Geistes-
störung auch Hallucinationen haben, die mit ihrem täglichen
Denken und Treiben in Verbindung stehen, und daß sie sich
leichter einbilden, äußere Gefahr zu sehen, gegen welche sie
sich schützen zn müssen glauben. Der Zusammenhang solcher
Hallucinationen mit den in gesunden Tagen empfangenen
Eindrücken ist deutlich und demnach ist der Grad der Geistes-
störung ein geringerer als in denjenigen Füllen, wo die
Grundlage des Wahnes in Vorstellungen beruht, die dem
Kranken ganz fremd sind. In Europa sind solche Hallu-
cinationen ein Beweis einer vollkommenen Alienation des
Geistes, in Indien zeigen sie eher, daß der Geist noch einige
Eindrücke und Erinnerungen ans dem täglichen Leben be-
halten hat.
Wenn in Europa ein Geistlicher anhaltend in Gefahr
zu sein glaubt, von Geistern und Teufeln angegriffen zn
werden, so wird der Eingeborene von Jnsulinde viel eher
einen Tiger, einen Mörder, einen Dieb erblicken und er
thut, was er in gesunden Tagen gethan haben würde, er
vertheidigt sich; scheint ihm in Folge einer Illusion ein
Mensch ein Tiger zu sein, so wird er seine Waffe gegen
ihn wenden.
Für eine derartige Erklärung beansprucht Dr. Vogler
namentlich in den Füllen Geltung, wo Mordversuche als
Folge von Fieber, von Traumzuständen, von bereits be-
stehender ausgesprochener oder noch verborgener Geistes-
störung, wozu man auch anhaltende Hallucinationen oder
Illusionen rechnen kann, gemacht werden, oder aber eine
Folge von Krankheitszuständen sind, welche direkt auf die
geistigen Fähigkeiten wirken, selbst Wahnsinn hervorzurufen
vermögen. Auch in den Füllen, wo bei sonst gesunden
Personen plötzlich ohne Grund Mordlust auftritt (furor
transitorius), könnte man diese Erklärung anwenden,
jedoch mit weniger Grund, da dieser Zustand immerhin noch
manches Dunkle bietet; das Vorkommen eines solchen Zu-
standes überhaupt berechtigt aber durchaus noch nicht zu der
Annahme, daß die Mehrzahl der Fälle von Amok auf den-
selben zurückgeführt werden dürfen. Meistens kommt dieser
Zustand bei nervösen Personen vor oder er ist von einem
Körperleiden, gewöhnlich des Sepualsystems, begleitet und
er dauert gewöhnlich einige Tage mit allmählicher Steigerung
und Abnahme. Es giebt dagegen eine andere Reihe von
Seelenznständen, die vielleicht in den meisten Fällen das
„Amok" leichter erklären, es sind die Affekte. Einerseits
muß eingeräumt werden, daß Leute, welche einfach und gleich-
mäßig leben, weniger für Geistesstörungen disponirt sind;
dagegen ist es auch sicher, daß eine geringere geistige Ent-
wickelung den Menschen weniger befähigt, seine Leidenschaften
zn beherrschen und seinen Geist Eindrücken zn entziehen,
welche sich demselben unaufhörlich aufdrängen. Wie bei
körperlichen Uebungen der Beweis der größten Entwickelung
darin gefunden wird, daß alle, auch die schnellsten und
kräftigsten Bewegungen vom Willen vollkommen beherrscht
werden, wie wir den Ballettänzer am meisten bewundern,
der mitten in den schnellsten und lebhaftesten Bewegungen
plötzlich still steht und das Bild der größten Ruhe zu sein
scheint, so besteht auch die größte Kraft der Seele darin,
16
122
Emil Metzger: Einiges über Amok und Mataglap.
daß alle Bewegungen, sei es, daß sie in uns entstehen, sei
es, daß sie durch äußeren Einfluß angeregt werden, stets
unter der Herrschaft des Willens bleiben, d. h. daß sie will-
kürlich erzeugt und unterdrückt werden können.
Eine solche Selbstbeherrschung ist nur durch einen starseli
und gleichzeitig wohlgeübtcn Geist zu erreichen. Bei dem
geistig Schwachen wird ein Gedanke, der in seiner Seele
im Vordergründe steht, alle anderen zurückdrängen und,
selbst wenn er den Versuch macht, seine Aufmerksamkeit mit
Gewalt aus etwas Anderes zu richten, wird doch der über-
mächtige Gedanke stets zurückkehren und seine Färbung,
um uns dieses Ausdruckes zu bedienen, allen anderen damit
in Verbindung stehenden Gedanken unaufhörlich mittheilen.
Wenn nun irgend ein Gedanke das Gefühl der Lust oder
der Unlust hervorruft, oder mit anderen Worten angenehm
oder unangenehm ist, ruft es eine gewisse Wirkung hervor,
die, sobald sie ein gewisses Maß überschreitet, Affekt genannt
wird. Derselbe ist um so stärker, je stärker eaàris paribus
der Eindruck ist. Ebenso wie Körperschmerz lebhafter em-
pfunden wird, wenn man die Aufmerksamkeit auf denselben
richtet, ebenso wird auch durch andauerndes Grübeln über
einen unangenehmen Eindruck die Unlust und damit der
Affekt gesteigert werden. Ebenso wie die leiseste Berührung
einer schmerzhaften Körperstelle Schmerz verursacht, so genügt
auch schon bei bereits vorhandener unangenehmer Stimmung
eine Kleinigkeit, um das Unbehagen bis zum Höhepunkt zu
steigern und den Affekt hervorzurufen.
Werden diese Naturgesetze, für deren Richtigkeit das täg-
liche Leben uns Beispiele genug liefert, auf die geistigen
Eigenschaften eines Eingeborenen angewendet, so ergiebt sich
Folgendes. Derselbe ist von früher Jugend an gewohnt,
seiner Neigung zu folgen, und er übt sich also wenig in der
Kunst, seine Leidenschaft zu beherrschen. Berücksichtigt man
dabei, daß seine Rachsucht, die außerdem einem Charakter-
mehr oder weniger eigenthümlich ist, durch tausend Umstände
erweckt wird — die Ursache, weshalb ein Eingeborener
maln wird (sich schämt), ist für uns häufig ebenso unbegreif-
lich, wie für ihn manche europäische Ansichten über Ehre
und Galanterie — so wird man leicht einsehen, daß ein
Eingeborener der unteren Stünde unter gewissen Umständen
sich plötzlich seinen Leidenschaften überläßt und das ihm
überhaupt ziemlich unbekannte Strafgesetz vergißt. Auch
folgt die Handlung nicht gleich dem ersten Eindrücke, er
bewahrt die Erinnerung an die Beleidigung in einem
erbitterten Gemüth und das immerwährende Nachdenken
über die ihm angethane Unbill oder das ihm zugestoßene
Unglück steigert nach und nach seine Wuth, bis dieselbe durch
zufällige Umstände zum Ausbruche kommt und seine Rache
möglicher Weise eine Person trifft, die mit der Sache, welche
seinen Zorn erregt hat, außer allem Zusammenhange steht.
Der den höheren Ständen angehörige Eingeborene lernt
früh seine Gedanken zähmen, seine Zunge und Gebärden
beherrschen; seiner Rache wird ganz im Stillen ein Opfer
gebracht; die Geschichte aller Völker des Archipels liefert
hierfür mehr als genügende Beweise; daher findet man bei
ihm nur selten ein Beispiel von plötzlich entstehender Wuth.
Eine derartige Selbstbeherrschung erlangt der den unteren
Ständen angehörige Eingeborene nur in geringerem Maße,
weil er weniger in der Lage ist, dieselbe auszubilden, und
unter den indonesischen Völkerstämmen kommt kein einziger
den Buginesen an Rachsucht und Stolz gleich, kein anderer
Stamm ist so wie sie geneigt, die geringste Beleidigung mit
seinem Stahle zu rächen.
Ob aber solche Fälle, in denen Jemand sich seiner Leiden-
schaft überläßt, oder in denen er sich durch langes Grübeln
aufregt, wodurch die Leidenschaft noch genährt und vermehrt
wird, ob solche Fälle als eine Art Geistesstörung betrachtet
werden dürfen, wenn nicht deutlich nachgewiesen wird, daß
psychische oder physische Zustände bestanden, welche dazu
prädestinirten, ist sehr zu bezweifeln. Es würde gefährlich
für den Staat sein, wenn Fälle von Affekt ohne genügenden
Beweis für Sinnesstörnng erklärt würden nur auf das Wort
des Uebelthäters hin, daß er mata glap gewesen, oder aus
die Vermuthung hin, daß ein Zustand des Wahnsinnes ohne
prüdisponirende Ursachen plötzlich eingetreten sei. Wenn
das geschähe, würden die Zustünde bald unhaltbar werden.
Und wo sollte man die Grenze finden, wo die Zurechnungs-
fähigkeit anfängt? Selbstverständlich hat auch der Zustand
von mata glap verschiedene Grade und man könnte vielleicht
schließlich dazu kommen, für jedes Vergehen einen, wenn auch
leichteren Grad derselben zur Entschuldigung annehmen zu
wollen, für deren Bestehen es vielleicht nicht sehr schwer-
fein würde, den Beweis zu erbringen. Die Konsequenz
würde schließlich die sein, daß der Gerichtsarzt, der ein
solches System als Basis annimmt, sich genöthigt sehen
würde, jede Handlung, die in einem anderen Seelenzustande
als dem des größten Phlegmas begangen worden ist, als
unter der Wirkung einer mehr oder weniger starken geistigen
Störung stehend zu betrachten.
Wir haben die Ansicht Dr. Vogler's ohne jeglichen Ein-
wurf wiedergegeben; im Allgemeinen kann man sich wohl
mit seinen Ansichten und Folgerungen recht gut einverstanden
erklären, namentlich wenn man berücksichtigt, daß er seine
Worte vor bald 40 Jahren niedergeschrieben hat. Bemerkens-
werth ist es aber, daß er hauptsächlich die Frage bespricht,
ob der Affekt als eine Entschuldigung für die bei demselben
begangene Handlung angenommen werden kann, nicht aber
der Grad und die Art desselben. Unserer Ansicht nach liegt
die Sache übrigens doch noch etwas anders, als er annimmt.
Daß auch „Amok" zuweilen in einem Anfalle von Geistes-
störung gemacht wird, ist selbstverständlich; die große
Mehrheit derselben Fälle aber hat nach unserer Ansicht mit
einer solchen nichts zu thun und auch das Wort „Affekt",
so wie es Dr. Vogler gebraucht, scheint uns nicht an der
richtigen Stelle zu sein. Wir vermögen in der überwiegen-
den Mehrzahl der Fälle nichts weiter als eine vorbedachte
Handlung zu sehen. Der Beleidigte will sich oder Andere
rächen, um jeden Preis rächen, weiß aber sehr wohl, daß
er dies nur aus Kosten des eigenen Lebens thun kann.
Einmal von dieser Ueberzeugung durchdrungen, will er sich
ein großartiges Todtenopser bringen, er möchte die ganze
Menschheit opfern, die es erlaubt hat, daß ihm Unrecht
angethan ist, und als Held fallen. Gewiß ist durch die
Gewohnheit des fortwährenden Waffentragens, namentlich
aber durch den eigenthümlichen Charakter der Malayen der-
artigen Vorgängen Vorschub geleistet worden. Wie wir
glauben, läßt sich nur durch eine derartige Annahme die
Vereinigung Vieler zu gemeinschaftlichem Amok genügend
erklären. (Daß übrigens auch Andere Unterschiede hinsicht-
lich des Amok machen, ergiebt sich aus folgender, Barkley
[Five years in Bulgaria] entlehnten Stelle. „Zweimal
während wir unseren Weg die steilen Hügel in Galata hinauf
verfolgten, begegnete es uns, einen Türken Amok machen
zu sehen. — Neunmal unter zehn ist diese Wuth erheuchelt,
aber gewiß nicht immer, wie z. B. in dem Falle, wo ein
Priester an Bord eines österreichischen Lloyddampfers im
Schwarzen Meere Amok lief. Nachdem er einige Passagiere
getödtet, andere verwundet hatte, wurde ihm endlich durch
wiederholte Schüsse aus des Kapitäns Revolver Einhalt
gethan.") Daß ein solcher fest zum Tode entschlossener
Mensch, der, ehe er fällt, noch möglichst viele Schlachtopfer
zu tödten sich vorgenommen hat, sich in ganz normalem
Zustande befindet, wagen wir nicht zu behaupten; sollte dies
aber der Fall sein, so wird er durch das Blut, welches ihm
Chr. Nusser: Das Chilinchili - Fest der Aymara.
123
entgegenspritzt, durch das Gefühl, welches in seiner Hand
das Eindringen des kalten Eisens in lebendes Fleisch her-
vorbringt, sehr bald ans diesem normalen Zustande heraus-
gerissen und ein Opfer seiner Affekte werden und in einen
Zustand gerathen, wo Willensfreiheit und Zurechnungs-
fähigkeit ganz ausgeschlossen sind. Eine andere Frage, die
natürlich nur durch einen erfahrenen Arzt zu beantworten
wäre, dürfte die sein, ob nicht auch vorübergehenden Hallu-
cinationen, die nach unserer Erfahrung ziemlich häufig bei
Eingeborenen vorkommen, ein bedeutender Antheil hierbei
zufällt. Namentlich in der Einsamkeit stellen sie sich zu-
weilen ein, ohne daß von irgend einer dauernden Störung
die Rede wäre. Wie der Eingeborene dadurch unter Um-
ständen zum rücksichtslosen Gebrauch seiner Waffe getrieben
werden kann, erklärt sich leicht und ist oben schon an-
gedeutet.
Das Chilinchili-Fest der Aymara.
Von Chr. Nusser.
Wer den Aeußerungen des intellektuellen Lebens der
Aymararasse nachgehen will, benutzt hierzu am besten die
zu verschiedenen Jahreszeiten stattfindenden Festlichkeiten.
Die Aymaras geben sich da, wie sie sind, offen und jener
Schale der Passivität entkleidet, die ihnen in Berührung
mit der übrigen Welt zur zweiten Natur geworden ist.
Hat der Indianer die Aufgabe verrichtet, welche ihm jeder
Tag bringt, um die materiellen Bedürfnisse der Familie
zu befriedigen, und welche in der Bestellung der Felder, im
Transport der ihm unentbehrlichen Gegenstände, in der
Aufsicht über die Llamas- und Schafheerden u. s. w. besteht,
so sitzt er in einer Ecke seiner Hütte und kaut Coca. Von
Natur schon wenig gesprächig, wird er durch den Gebrauch
der Coca noch weniger mittheilsam. Er ist nicht faul; er-
arbeitet und verrichtet sein Tagewerk willig, allein wie der
Europäer an eine Beschäftigung zu gehen, die noch sehr
wohl aufgeschoben werden kann, mit einem Wort, seine Zeit
auszunutzen, um einen größeren Verdienst zu erzielen, dafür
hat er kein Verständniß, weil er eben nie den Wunsch hegt,
seine Lage zu verbessern. Natürlich keine Regel ohne Aus-
nahme; wir müssen deshalb beifügen, daß wir allerdings
auch Indianer kennen gelernt haben, die sich vor ihren
Stammesgenossen durch eine der Rasse beinahe gar nicht zu
Theil gewordene Begabung mit commcrciettem Genie hervor-
thaten und bei ihren Landsleuten, für Indios ricos (wohl-
habende Indianer) galten.
In seine Festlichkeiten mischt der Indianer gern
Reminiscenzen. Das rauhe Idiom — andere behaupten,
es sei ein weiches — biegt sich selbst in Verse, welche
indeß nicht selten spanische, aber durch die dem eigenen
Idiom entnommenen Endungen taqui und ampi dem
Aymara angepaßte Wörter enthalten. Dies geschieht da,
wo Begriffe oder Gegenstände auszudrücken sind, welche
von den Cyamirn entlehnt werden mußten.
Diese Poesie besteht übrigens aus nichts anderem, als
aus Gelegenheitsverscn, in deren Knüttelrythmus das euro-
päische Ohr sich gewöhnlich nicht zu finden vermag.
Von Dorf zu Dorf weichen die Festlichkeiten von ein-
ander ab; in ihren allgemeinen Zügen stimmen sie aber mit
einander überein.
Sehen wir uns das altberühmte, früher mit einem
wichtigen Jahrmarkt verknüpft gewesene Fest der indianischen
Ortschaft Caquiaviri H mit an, das drei Tage nach Aller-
Heiligen stattfindet und an reichhaltigem Programm auf der
andinischen Hochebene seines Gleichen sucht.
ff Caquiaviri liegt in Bolivien, unweit südöstlich des
Punktes, wo der Weg von La Paz nach der Küste den Desaguadero
überschreitet.
In der Aymarasprache heißt man es Chilinchili, was
etwa „Pantomime" besagen will, d. h. Bewegungen, Gesti-
kulationen oder dergleichen. Um sich in der Choreographie
auszubilden, braucht man bloß den Chilinchili mitzumachen,
dessen Ceremonien, Formeln, Tänze und Gebräuche in der
That seltsam genug sind.
Die Art und Weise, wie das zur Abhaltung des Chilin-
chili nöthige Geld zusammengebracht wird, vollzieht sich
unter so absonderlichen Formalitäten, daß eine kurze Vor-
bemerkung über das Verhältniß des Indianers zur Kirche
wohl am Platze ist.
Die Kirche der Parochie, in diesem Falle diejenige von
Caquiaviri, wird nach alter Regel von den Indianern der
Staatsländereien (inäi^enas oomnnarios) bedient, welchen
zu zweien die etwas umständliche Besorgung der Altäre
obliegt. Man nennt diese Indianer Mayordomos und da
die Kirche vier Altäre enthält, so sind es also acht Mayor-
domos, die das ganze Jahr hindurch das Gotteshaus in
Ordnung halten und zur Verfügung des Pfarrers stehen.
Die Mayordomos wechseln nicht wie die anderen Bediensteten
am 1. Januar, sondern am 6., am Tage der heiligen drei
Könige. Trotz der Landabschätzung und dem Gesetz, das
sie zu Eigenthümern der von ihnen bewohnten Staats-
ländereien machte, fahren die Indianer fort, freiwillig jene
Dienste zu leisten, denn ihrer Denkweise nach steht es den
Kindern und Kindeskindern an, das zu thun, was die
Eltern und Voreltern gethan haben. Hierauf beruht noch
die Gewohnheit der persönlichen Dienstleistungen und, wenn
wir wollen, die Feier des Chilinchili.
Einen Monat vor dem Allerheiligenfestc versammeln
sich die Kirchen-Mayordomos am Abend des Sonntags vom
Rosenkranz, verlassen ungefähr um 10 Uhr die Ortschaft
und gehen auf verschiedenen Wegen ins freie Feld hinaus.
Jeder trägt eine kleine Glocke mit sich, mit der er von Zeit
zu Zeit klingelt; in dunkeln Nächten versehen sie sich außer-
dem mit einer Papierlaterne. So wandern sie von Hütte
zu Hütte, vou Estancia zu Estancia; alle Indianer betrachten
es als eine strenge Pflicht, jedem derselben fünf Centavos
zu geben, wenn nicht in Geld, so doch in Wolle, Butter,
Talg, quinoa, chuno oder was sie sonst besitzen, um sich
dieser Abgabe, die für sie geheiligt ist, ja nicht zu entziehen.
, Diese in der Dunkelheit der Nacht umherirrenden
Schalten, die, nur vom Klingen des Glöckleins begleitet,
leichten, unhörbaren Schrittes die Wege kreuzen, haben
etwas Düsteres, Leichenhaftes;. die tiefe Stille wird von
nichts unterbrochen, denn sie lachen nie und sprechen bloß,
wenn es nöthig ist. Wenn sie mit einem unbekannten
Reisenden zusammentreffen, bleiben sie stehen, und gerade
diese Unbeweglichkeit ist im Stande, ein unwillkürliches
124
Chr. Nusser: Das Chilinchili-Fest der Aymara.
Furchtgefühl zu erwecken, das uns von oben bis unten
durchrieselt und durchkältet, und bei dem sich bäumenden
Pferde die gleichen Empfindungen hervorzurufen scheint.
Redet mau sie an, so antworten sie:-„Ich bin der lari“,
was „Seele" besagen will, d. h. daß das Allerheiligenfest
nahe ist.
Die Indianer, die den lari vorstellen, sind geheiligt,
unantastbar und flößen Scheu und Furcht ein, weil sie die
Gedanken auf das Uebersinnliche, auf die Ewigkeit lenken.
Wenn sie bei einer Behausung ankommen, werden sie mit
religiöser Ehrfurcht empfangen; durch die weitgeösfnete
Thur führt man sie in einen Raum, wo ihnen zu Ehren
vor einem Heiligenbilde — gewöhnlich ist es Santiago,
der Schutzpatron der Indianer — ein Licht angezündet
wird. Nachdem sie ein Gebet aufgesagt haben, nehmen sie
die Beisteuer entgegen und ziehen dann weiter, bis mit der
letzten Hütte des Sprengels der Nundgang beendigt ist.
Der lari hat das Recht, auf jeder Estancia und zu
jeder Stunde Einlaß zu begehren. Wird irgendwo eine
Hochzeit gefeiert, so verstummt alles bei seinem Erscheinen;
alle beschleicht ein Gefühl der Scheu; der lari ist wichtiger
als das Hochzeitsfest. Die Indianer, die ihm schon ihren
Tribut entrichtet haben, sind darauf nicht wenig stolz; wenn
sie sich am folgenden Morgen mit ihren Nachbarn treffen,
brüsten sie sich: „Gestern Nacht ist der lari zu mir ge-
kommen." — Daun sagt der Andere etwa: „Ich erwarte
ihn jetzt auch und werde deshalb das Haus sauber ausräumen
und meine Hunde anbinden, die zu viel bellen."
Wenn die Kinder ihn nennen hören, fürchten sie sich,
und wenn sich die Mutter Ruhe verschasfeu will, sagt sie:
„Der lari kommt", worauf jene wie erschreckte Rehe den
Athem anhalten und sich verstecken. Der Betrunkene, der
sich zum Schlafen ins Feld gelegt hat, an welchem der
Weg den lari vorbeiführt, wirft sich, wenn er aufwacht und
ihn kommen sieht, auf die Kuiee und murmelt ein Stoß-
gebet her; der von Schmerzen gequälte Kranke seufzt ihm
zu: „Sage den Seelen, daß ich unsäglich leide"; ein armer
Teufel ruft: „Bitte für mich, daß die Seelen mir vom
lieben Gott viele Schafe, ein paar Ochsen und einen Esel
verschaffen"; ein mit ihrem Manne unzufriedenes Weib
schreit: „lari, bitte für mich, daß mein Mann gut und
liebevoll werde"; und ein Mann von seinem Weibe: „Bring'
es dahin, lari, daß mein Weib stirbt!" Ein Blinder wird
ihn bitten, bei der Vorsehung ein Wort einzulegen, um
wieder zum Augenlichte zu gelangen.
Wenn am folgenden Morgen das Wetter schön ist, wenn
die Kuh ein kräftiges, schön gezeichnetes Kalb zur Welt
gebracht hat, das Huhn mehr Eier ausbrütet oder das
saufte Blöken des neugeborenen Lammes zu hören ist,
schreibt man dies alles dem Besuche des lari zu. Wenn
im Gegentheil Jemand erkrankt, ein Schaf vom Kondor
zerrissen wird, der Esel in ein verrätherisches Sumpfloch
einsinkt oder ein Meerschweinchen in der rußigen Küche
krepirt, so bildet man sich ein, den lari schlecht empfangen
zu haben. So viel ist sicher, daß der lari eine stets gern
gesehene Person ist.
Warum dieser Glaube, dieses Zugestüudniß einer zeit-
weise« Uebernatürlichkeit? Weil die den lari vorstellenden
Indianer während der Einsammlungstage nicht mit ihren
Weibern zusammenleben, Ausschreitungen vermeiden und
kaum die dürftigste Nahrung zu sich nehmen. An eine
solche Uebernatürlichkeit zu glauben, dazu sind nur die In-
dianer im Stande, weil ihre Zustände vielfach noch an jene
Epoche der Kindheit mahnen, in welcher man einen Manco
Capac für ein göttliches Wesen hielt. Wenn es ausge-
sprochene Einfalt giebt, ist es diejenige des Indianers. Nichts
ist leichter, als die Bande seiner Knechtschaft fester zu
schnüren. Nicht umsonst hat er sich gegen die Uebernahme
des Grundcigenthums gesträubt, weil er errieth, daß ihm
dadurch neue Lasten und Steuern erwachsen würden. Er-
fühlt sich gequält und ist zürn unversöhnlichen Feinde der
weißen Rasse geworden. Man heißt ihn Eigenthümer, aber
mit Eigenthum und alle dem hat er unter der Republik
keinen Schritt vorwärts gethan; es scheint, als ob es keine
Indianer gäbe, als ob sie für die Gesetzgebung nicht bestünden.
Wenden wir uns nach dieser Abschweifung wieder dem
Chilinchili zu. — Wenn alle Estancias besucht, alle Weiler
durchstreift und die Beiträge eingeheimst sind, kehren die
Mayordomos in die Ortschaft zurück, um für- das Aller-
heiligenfest die Vorbereitungen zu treffen. Die Einnahmen
dienen zur Deckung aller Kosten; von ihnen gehen an den
Pfarrer 12 Thaler für jede Messe, die er während der Dauer
des Chilinchili zu lesen hat; sie decken auch die Auslagen,
die für Speisen und Getränke zu machen sind.
Die Ceremonie nimmt am 3. November um 12 Uhr-
Mittags ihren Ansang. Das Volk strömt zur Wohnung
des Mayordomo, der den geräumigsten Hof hat; in der
Mitte sitzen die Weiber im Kreise herum, kauen Coca und
trinken Chicha (aus gegohrenem Mais) ans Thonkrügen,
welche in plumper Nachbildung die Form eines Ochsen
zeigen, an dessen Hörner kleine bunte Papierfähnchen be-
festigt sind; die Oeffnung befindet sich bei diesen Krügen
auf dem Rücken. In einer Ecke des Hofes ist eine mit
dem kümmerlichen Gesträuch der Hochlandsvegetation ge-
schmückte Laube errichtet, in welcher der Correjidor, die
Alcalden und Mestizenhonoratioren Platz nehmen, die alle
der Ceremonie wegen ein kleines Cocasäckchen um den
Hals gehängt haben und ein Stückchen lejia (zusammen-
geknetete Pflanzeuasche) in den Händen halten, das sie aber
bald mit dem Chichabecher vertauschen. In der entgegen-
gesetzten Ecke stehen die Musikanten, welche Rohrflöten,
Violinen, Trommel und Triangel handhaben und bei den
von ihnen gespielten, urwüchsigen, unseren Geschmack so
eigenthümlich berührenden Melodien von burlesken Knüttel-
vers-Improvisationen begleitet werden, über die man lachen
muß, ohne es zu wollen. Die Musikanten tragen auf
ihren Hüten mächtige Brotkränze, in welchen Schmuckes
halber von oben bis unten mit den Blüthen der Nessel be-
spickte Strohhalme stecken.
Der Chilinchili wird durch ein paar als alte Leutlein
verkleidete Indianer eröffnet, die mit ihren urkomischen
Sprüngen, Verdrehungen und Bewegungen des Kopfes, der
Hände und des ganzen Körpers, mit ihren Späßen, An-
reden und Einfällen die Heiterkeit der Zuschauer aufs Höchste
steigern. Man sollte es nicht glauben, daß der sonst so
apathische Indianer unter der Verkleidung bei gewissen
Tänzen eine so hohe Komik zu entwickeln versteht. Oft setzt
schon die Verkleidnng oder die Art des zu ihr verwendeten
Materials die Lachnerven in Erregung. Eine als Teufel
verkleidete Gruppe Indianer jedes Alters, die von den
Kupferbergwerken von Corocoro herkam, ergötzte uns einst
durch ihre choreographischen Leistungen dermaßen, daß wir
ihr durch viele Straßen nachzogen, um immer wieder bei
den mit sichtlichem Ernst und Eifer ausgeführten Zappel-
sprüngen und Tanzbewegnngen vor Lachen schier zu bersten.
Es war ihrerseits vielleicht unfreiwillige Komik, aber kein
Clown hätte es besser machen können. Allerdings: buena
hambre no conoce mal pan — kräftiger Hunger Weiß
nichts von schlechtem Brot; wo das tägliche Leben überhaupt
arm an Anregungen ist, bieten selbst Kleinigkeiten Stoss
zur Unterhaltung. Im Allgemeinen neigen sich indeß die
Jndianertänze mehr dem Feierlichen, dem Melancholischen zu.
Beim Chilinchili jedoch herrscht eine das ganze Fest
hindurch dauernde ausgelassene Heiterkeit, die in ihren
Chr. Nuss er: Das Chilinchili-Fest der Aymara.
125
letzten Phasen, wo der Satire freier Lauf gelassen wird,
nicht immer ganz harmlos ist, eine Heiterkeit bis zur Er-
müdung; ein Lachkrampf, der die kupferbraunen Gesichter
verzerrt und ihnen den sardonischen Ausdruck der Mumie
giebt, die zwischen lächelnden Lippen die blendend weißen
Zahnreihen zeigt.
Der Chilinchili ist eigentlich nichts als eine Musterkarte,
eine Aufeinanderfolge der verschiedenen Tänze der andini-
schcn Hochebene, bei welcher die Pausen durch allerlei derbe
Späße ausgefüllt werden. Er fängt mit den einfachen
Tänzen an, den choquela, laquiaa, ccahuiri und endigt
mit den feierlichen tragischen 6ullagua, moreno, calla-
guaya, inca tocco. Im letzteren stellt man den Jnca,
die Mama Occlo und die Sonnenjungfrauen dar. Eine
der Jungfrauen, welchen wie den Vestalinnen unverbrüchliche
Keuschheit zur Regel gemacht war, sündigt gegen ihr Ge-
löbnis); der Inea geräth in Wuth, greift zur Schleuder
und zerschmettert mit seinen Geschossen Häuser, Dörfer,
Berge, verwandelt Gold in Steine, um mehr Geschosse zu
haben, und das Firmament ist aus dem Punkte, in Nacht
zu versinken, als Mama Occlo und die anderen Jung-
frauen in elegischem Tone einen sanften, bittenden Ge-
sang anstimmen, der die Erbitterung des Inca einiger-
maßen dämpft. Die Sühne besteht in dem unumstößlichen
Befehl, die Schuldige lebendig zu begraben, was augen-
blicklich ausgeführt wird. Diese Darstellung beruht zweifels-
ohne auf einem historischen Ereignisse.
Ein anderer Tanz heißt die chirinuela, bei welchem
die Männer mit den Weibern die Kleidung wechseln, wobei
es nicht ohne einige Unanständigkeiten abgeht. Sie singen
dabei Aymaraverse, von welchen wir einige Proben anführen
wollen:
Choy! chijchipa
Cunacatata
Yerva buenampi
Ccomascatata.
Es gilt hierfür die spanische Aussprache, die das
Aymara ziemlich getreu wiedergiebt, z. B. chijchipa —
tschich-tschipa; bloß für 66 — K, einen kurz abgestoßenen
harten Gaumenlaut (eigentlich mehr Schlundlaut) läßt sich
kein Aequivalent beibringen.
Die freie Uebersetzung davon ist: „Hör! chijchipa 1),
wie wird es dir sein, wenn du dich mit der Pfeffermünze
umarmt haben wirst!"
Naira chachaja
Diosana churata
Quepa chacbasti
Supayan churata.
In freier Uebersetzung: „Der erste Ehemann kommt
von Gott, der zweite vom Teufel."
Die in zweiter Ehe Verheiratheten fühlen sich hier ge-
troffen, verlieren aber ihre festliche Stimmung nicht. Im
Gegentheil:
8intan pollera
Lurarapima
Sasin enganista
Tunti muro.
In freier Uebersetzung: „Mit deinen Versprechungen,
mir ein über alle Maßen prächtiges Kleid zu machen, hast
du mich hintergangen."
Wenn der Spaßmacher seine Umgebung aufzieht, so
antwortet sie, statt sich zu erzürnen, mit Gelächter und wenn
die Nadelstiche sich eine einzelne Person zur Zielscheibe
1) Die chijchipa ist ein grasartiges, stark riechendes
Pflänzchen, das zum Würzen der Suppen gebraucht wird,
dessen Aroma aber europäischen Gaumen in der Regel nicht
sehr zusagt.
auswählen, so macht dieselbe gute Miene zu bösein Spiel,
lacht mit und Hilst über sich selbst lachen.
Großen Jubel erregt die Darstellung der Jagd. Sic
besteht darin, daß die Zuschauer einen großen länglichen
Ring bilden, in dessen Mitte die zwei als ein Greiseupaar
verkleideten Spaßmacher eine Vicuna oder einen Cordillera-
hirsch verfolgen. Wo das Wild durchzubrechen versucht,
wird es von der sich fest bei den Händen haltenden Menge
unter höllischem Lärm zurückgescheucht, und ist es dann
endlich von den Alten eingefangcn, so bringen sie es zum
Correjidor, der die Jäger ob ihrer Behendigkeit belobt und
die Beute zu zerwirken und in den Kochtopf zu werfen
befiehlt. Für diese Jagd hat die Musik eine besondere
Melodie, die mehr oder weniger von folgenden Strophen
begleitet wird:
Aca sipitaru
6unaros mantanta
Ichapi ichacani
Taccman taruja
„Tarujay putunputun
Huiccufiay putumpulun“.
In freier Uebersetzung: „Oh! Vicuna der Cordilleren,
du bist in unsere Gewalt gefallen; warum bist du auch in
diese Falle gerathen!" Die beiden letzten Zeilen sind
Wiederholungen, die an irgend eine sechssilbige Strophe
angehängt werden. Das Aymara bietet in dieser Beziehung
weitesten Spielraum, so daß man sich einbilden könnte, tut
Chilinchili fünden sich famose Reimkünstler zusammen; es
sind aber Versbildungen ohne orthologische Regeln: für
eine Melodie, welche einen siebensilbigen Vers heischt, nehmen
sie einen achtsilbigen oder einen zehn- oder elfsilbigen, um
nicht zu sagen einen Alexandriner, was das Orchester in
nicht geringe Verwirrung bringt und die armen Musikanten,
die umsonst die Ohren spitzen, jeden Augenblick in Ver-
zweiflung setzt; ist man eben bei diesem Abschnitte angelangt,
so üben die Spirituosen schon ihre Wirkung aus, gegen die
kein Versmaß mehr Stich hält. Geheult mehr als gesungen
schwirren die Improvisationen durch einander:
6hia chuhut sintisisa hani toccoyori
„Tarujay putumputun“ u. s. w.,
was besagen will: „Um nicht ein Viertel Chuno (— 1 Metze
getrockneter Kartoffeln) zu opfern, veranstaltet er keinen
Tanz." — Das Tarujay u. s. w. ist die oben erwähnte
beliebte Endstrophe. — Zwei weitere Beispiele: Metrisch
richtig aber ohne Harmonie ist die Strophe:
AUchiuacaja
Arcasinani
Taicas auquisan
Incnoccatapa.
„Wir, die Enkelkinder, haben die von unseren Vorfahren
eingeführten Gebräuche aufrecht zu erhalten."
Die folgende ist harmonisch und orthologisch:
Tatit Mayordomo
Auccantarapita
Huchapat anicha
Tariparapita.
„Herr Mayordomo, bestrafe mir ihn, wenn er sich ver-
gangen hat, oder richte mir über ihn nicht (?)." —
Eine andere Pantomime führt die Fischerei vor, indem
der Fang der Bogas und anderer Seethiere nachgeahmt
wird. Bei der Darstellung des ländlichen Lebens ergreifen
die Spielenden Köcher und Bogen, schießen Pfeile in die
Luft, wie gegen fruchtfressende Vögel, und stimmen einen
Gesang an, der die gefiederten Räuber von den Feldern
verscheuchen soll.
Die Schlußscene könnte die Quintessenz des Chilinchili
genannt werden, eine Art von Haberfeldtreiben, das sich
126
Chr. Nusser: Das Chilinchili-Fest der Aymara.
gegen Jedermann richtet; da werden die Spottnamen erdacht
und in gedrängten Zügen die Biographie des Individuums,
das Leben, die Fehler und selbst die Verbrechen des aus-
gewählten Opfers ans Licht gezogen. Um in die Verhält-
nisse einer Person eingeweiht zu werden, braucht man nur
dem Chilinchili beizuwohnen. — Der Possenreißer ist ein
ausgezeichneter Historiograph, und um vor der öffentlichen
Meinung mit Ehren zu bestehen, ist es beinahe nöthig, sich
mit ihm auf guten Fuß zu stellen.
Dieser Theil des Festes bewegt sich auf tragischem und
kölnischem Gebiete. Tragisch, weil hier und da ungeahnte
Folgen daraus entstehen, komisch, weil es Scherze regnet.
Eine heftige Diatrite, die ein Lnstigmacher gegen einen
angesehenen Einwohner losließ, trug ihm vor dem Richter
eine schwere Geldbuße ein. So weit gehen aber die Betreffen-
den selten, weil es schwierig ist, zu seinem Rechte zu gelangen.
Immerhin giebt es keine bessere Gelegenheit, um die
Aufführung eines Mädchens, einer Frau, eines Mannes,
einer obrigkeitlichen Person kennen zu lernen, als die, welche
der letzte Akt des Chilinchili bietet. Wie viel Fehltritte,
Schändlichkeiten, Geheimnisse werden da nicht offenbar!
Es ist dies der Augenblick der öffentlichen Abrechnung, ein
Moment des Schreckens und der Scham, aber auch die
freie Enthaltung der bösartigen Instinkte des Menschen, für
die das Wort Pessimismus ganz unrichtig angewendet wäre;
überall sucht die Bosheit nur die schlechte Seite heraus, nie
die gute. Nie rühmt man Tugenden; nur von Trägheit,
Zorn, Tücke, Untreue, Unzucht wird gesprochen; dort be-
schmutzt man die Unschuld der Jungfrau und schneidet dem
gehaßtell Nachbar die Ehre ab; aber leider erfährt man
auch dort, ohne es zu wollen, Wahrheiten. Zwischen wie
viel Eheleuten hat sich dadurch eine Kluft geöffnet, wie viel
Heirathen sind rückgängig geworden, wie viel Reputationen
haben Schaden gelitten! Sicher ist, daß der Chilinchili
den Gerichtshof darstellt, vor dem die Ausführung eines
Jeden geprüft wird.
Nun gewinnt die Sache einen pikanteren Anstrich noch
dadurch, daß dem als Greis verkleideten, seine Unverschämt-
heiten in die Welt schreienden Indianer bei jeder Anspielung,
bei jeder Insulte, bei jeder Sentenz der Chor mit dem
Ausrufe „Chilinchili" antwortet. Wenn der Chor auf
diese Weife antwortet, beruht die Sache wohl auf Wahrheit,
weil Zustimmung und Ueberzeugung vorauszusetzen sind;
wenn aber nur der eine oder andere die losen Ausfülle des
Alten gut heißt, so herrscht Zweifel und das Urtheil bleibt
in der Schwebe, denn wie überall fallen beim Chilinchili
Parteilichkeiten, Freundschaften oder Zuneigungen ins Ge-
wicht. Greift der Alte eine wirklich geschätzte Persönlichkeit
an, so schweigt der Chor und daraus ist zu entnehmen, daß
jener lügt und sich frecher Verläumdung schuldig macht.
Antwortet aber der Chor einstimmig mit Chilinchili, so ist
die Wahrheit gesprochen worden und das Publikum heißt
die Sentenz gut; und nichts gefürchteteres als jenes „ja",
jene Bekräftigung, die ein gegen Schuldige und Unschuldige
ausgesprochenes Todesurtheil ist. Eines Abends rief man
in Gegenwart des Pfarrers, der sich einen Augenblick vorher
als Zuschauer eingestellt hatte: „Ausbeuter der Steuern
auf die Todten" (d. h. einer, der sich von den für Begräb-
nisse zu zahlenden Gefällen mästet); der ganze Chor ant-
wortete „Chilinchili". Einige Tage später hieß es, im
Pfarrhause sei unter den Schuldigen fürchterliche Musterung
gehalten worden. Als man einmal rief: „Frohnvogt mit
unseren Kräften und unserem Schweiß" (d. h. einer, der
die Indianer für die Bestellung seiner Felder zur Frohn-
arbeit heranzieht), stürzte der Correjidor unverzüglich aus
der Laube fort, warf das Cocasäckchen weg und fiel bei
seinem übereilten Rückzüge beinahe auf die Nase. Von
einer Betschwester sagte man, sie zünde eine Kerze dem
Teufel und eine dem heiligen Santiago an; hier schwieg der
Chor, und als sie es erfuhr, war sie überglücklich, dem
Chilinchili, ohne eine Schlappe erlitten zu haben, entgangen
zu sein. Und als der Alte rief: „Begünstiger von bestochenen
Zeugen" und der ganze Chor „Chilinchili" brüllte, wurde
der Richter aschgrau und machte sich, ohne sich umzusehen,
aus dem Staube ... ja, bald nachher war die Laube leer;
allen war übel mitgespielt worden.
Lassen wir das Bild nicht unvollendet, es würde der
Wahrheit nicht ganz entsprechen; gehen wir so weit als
der Chilinchili. Auch die Uufläthigkeit tritt in den letzten
Stadien zu Tage. Bei einer Gelegenheit richtete der Alte
an eine in anderen Umständen befindliche Frau so schmutzige,
ekelhafte Reden, daß sie aus Schrecken und Scham wenige
Tage darauf eine unglückliche Entbindung hatte. Kein Hahn
krähte danach, nicht einmal die Obrigkeit kümmerte sich
darum; es ist eben der Chilinchili.
Leidtragende Personen, las äsxositackos (Indianerinnen,
die sich vorübergehend im Pfarrhause aufhalten, um vor der
Hochzeit Beichte abzulegen), schwangere Frauen, fromme
und wohlanständige Personen halten sich vom Chilinchili fern.
Jene Spottredeu und Schmähungen haben theilweise
vielleicht auch den Zweck, die Leute zu verjagen. Nach so
vielen Anstrengungen haben die Lustigmacher Hunger, wollen
essen und um bequem zu ihrer Ration zu gelangen, fahren
sie gegen die Zuschauer das grobe Geschütz auf. Schon ist
es spät, die Sonne ist untergegangen, und wer es bis dahin
ausgehalten hat, hält sich die Ohren zu und entflieht, um
sich vor jenen Pasqninaden in Sicherheit zu bringen.
Niemand bleibt zurück als die Possenreißer und die Ver-
kleideten, die nun auch im Essen und Trinken Gewaltiges
leisten. Der Mayordomo stattet aber den Alten seinen
Dank für die gelungene Durchführung ihrer Rollen ab.
Der Chilinchili ist eine Taufe, aus der Viele mit Spott-
namen hervorgehen. Der Beiname, der im Chilinchili
erfunden wird, hängt den Betroffenen ihr Leben lang an;
man kennt sie nur noch unter dieser Bezeichnung. Diese
Wuth, Jemandem einen Beinamen, durch den wo möglich
eine Schwäche, ein lächerlicher oder auffallender Zug her-
vorgehoben wird, anzuhängen, grassirt nicht nur beim In-
dianer; auch die Mestizen und Weißen fröhnen dieser
Liebhaberei. Schreiber dieses kam in dieser Beziehung noch
glimpflich weg. Einen guten Deutschen kann man sich
leider nicht anders vorstellen, als mit der zu einem natio-
nalen Kennzeichen gewordenen unausstehlichen Brille. So
taufte man ihn denn „Busi nairampi": Vierauge.
Kürzere Mittheilungen.
127
Kürzere M i
Schwedische Seekarten.
Handelsschiffe, welche während des Mittelalters und auch
noch später von den deutschen Hansestädten und Dänemark
nach Stockholm und den nahegelegenen Küstenorten segelten,
gingen gewöhnlich durch den Kalmar-Sund; aber auch auf
der Reise nach Finland und Estland wurde dieser Sund
passirt und Kalmar, zu jener Zeit eine bedeutende Handels-
stadt, angelaufen. Dann wurde der Cours durch die Stock-
holmer Schären, über das Alands-Meer bis Finland
und der Finischen Bucht fortgesetzt. Der Haudelsweg nach
den südöstlichen Ostsecküsten ging meistens auch au Kalmar
vorbei und wurde daun gewöhnlich die Hansestadt Wisby auf
Gothland angelaufen. Eine wahrscheinlich um das Jahr
1270 in Lübeck verfaßte Seekarte oder „Seglingsbeskrifning",
in welcher dieser Weg angegeben wird, ist noch vorhanden
und findet sich auch in Langebecks „8criptores rerurnGani-
carurn“ erwähnt; die Beschreibung der Schiffahrtsroute hat
den Titel: „Navigatio ex Dania per mare Balticum ad
Estoniam“. In derselben sind alle Orte, Landzungen und
Inseln angegeben, welche die Schiffe von Utlüngan oder der
äußersten Insel in den südöstlichsten Schüren von Bleking,
durch den Kalmar-Sund nach Stockholm und weiter über
das Alands-Meer nach Estland passiren müssen. Die Ent-
fernungen zwischen den verschiedenen Oertlichkeiten sind in soge-
nannten „Veckosjöar" oder „Ugesjöar" angegeben. Der Ur-
sprung dieser Benennung läßt sich mit Sicherheit nicht angeben;
aber die damit angedeuteten Entfernungen scheinen, verglichen
mit den jetzt genau bekannten, ungefähr den in späteren Zeiten be-
nutzten Entfernnngsbcnennungcn „geographische" oder „See-
meile" entsprochen zn haben, welche Annahme dadurch bestärkt
wird, daß nach der Lootsengeldtaxe, welche im Jahre 1642 von
dem schwedischen Admiralitäts-Kollegium ausgefertigt wurde,
das Lootsengeld für jede gelootste „Veckosjö" (Ukesio) oder
Seemeile bezahlt tvcrden soll. Langebeck bemerkt auch in
einer Note: „Ukesio vel ugesöe, milliare marinum,
qvod mensuratur per dolinm mare immissum et visum.
a certo loco, et tune interstitium Inter speculatorem
et dolinm pro miliari habetur“ ; es wurde also der Ab-
stand zwischen einer im Meere ausgelegten Tonne und der
Stelle, von wo aus dieselbe noch zu sehen möglich war, für
eine „Ukesiö“ oder „Ugesjö“, Seemeile, angenommen.
In dieser wahrscheinlich ältesten „Seglingsbeskrifning"
heißt es: „De utlenqi usque Calmarne X ukesio,
Deinde usque Skaeggenes II ukesio. Hinc usque
Yaldö IV, et si placet ire per latus terrae, potest ire
de Valdö usque runö queque distat a Valdö ad-----
I ukesio. Inde usqve klineskaer vel djuraeholtsnubb I.
Inde usqve Geishammaer I“ etc. Die in dieser Beschrei-
bung vorkommenden Ortsnamen an den schwedischen Küsten
sind leicht wiederzuerkennen.
Im Jahre 1644 gab der „Altersteuermann" und Kapitän
in der Admiralität zu Stockholm, Johan Mansson sein
„Sjöboh" oder Nachrichten über das Fahrwasser in der
Ostsee heraus und im folgenden Jahre als Beilage dazu
eine Ostseekarte. Den Standpunkt der Hydrographie zu jener
Zeit kann man gut nach einem im schwedischen Reichsarchive
befindlichen, der Königin Christiana dedicirten, später voll-
ständig restaurirten Exemplar dieser Karte beurtheilen. Im
Jahre 1697 erschien eine neue Austage des Buches mit
einer poetischen Vorrede, in der angegeben wird, daß Johan
t t h e i l u n g e n.
Mansson im Jahre 1658 in einer Seeschlacht zwischen der
dänischen und der schwedischen Flotte im Sunde gefallen ist.
Später erschienen noch mehrere Auflagen von dem Seebuch,
sowie Uebersetzungen in dänischer und deutscher Sprache. Die
letzte Bearbeitung dieses Buches ist von dem „Altersteuer-
mann" und Kapitänlieutenant Jonas Hahn im Jahre 1748
zu Stockholm herausgegeben und läßt die bedeutenden Fort-
schritte erkennen, welche seit dem ersten Erscheinen des Buches
auf dem Gebiete der Hydrographie gemacht wurden.
Inzwischen hatte auch der schwedische Kapitän Güdda
im Jahre 1694 eine Seekarte über die Ostsee, die Belte
und das Skagerak herausgegeben, und im Jahre 1737 be-
gann der schwedische Lootsendirektor Strömkrona die Heraus-
gabe eines Seekartenwerkes, wofür ihm durch königl. Brief
vom 9. Januar 1739 eine Belohnung von 600 Daler
Silbermünze zuerkannt wurde.
Durch einen königl. Brief vom 26. Juli 1756 wurde
dann das schwedische Admiralitäts-Kollegium beauftragt, zum
Zweck der Anfertigung neuer Seekarten Vermessungen und
Observationen vornehmen zu lassen; nachdem diese Ver-
messungen während eines Zeitraumes von 15 Jahren statt-
gefunden hatten, erhielt der Contrcadmiral Nordsuancker im
Jahre 1772 den Auftrag, die Bearbeitung der Karten zu
beaufsichtigen und für deren schnellste Herausgabe zu sorgen.
Diese begann aber erst im Jahre 1785, indem sowohl
General- wie Küstenkarten herausgegeben wurden. Die
Fortsetzung dieses Kartenwerkes wurde durch königl. Brief
vom 26. März 1798 dem damaligen Marinekapitän und
späteren Viceadmiral G. af Klint und die Beaufsichtigung
der Arbeiten einigen Delegirten des Marineministeriums
übertragen. Nach dem Tode des Viceadmirals af Klint im
Jahre 1840 erhielt dessen Sohn, der Premierlieutenant
E. G. af Klint, den Auftrag, das Seekartenwerk gegen ein
gewisses jährliches Honorar fortzusetzen, aber nach acht
Jahren wurde das ganze Klint'sche Seekartenwerk mit allen
zugehörigen Kupferplattcn, der Vorrath an Seekarten u. s. w.
vom schwedischen Staate für 36 000 Riksdaler Banko er-
worben und dem Seekartenkontor der Marine zur weiteren
Bearbeitung übergeben. Während die Seekarten von Privat-
leuten herausgegeben wurden, war jedoch für die vollstän-
digere Untersuchung der Küsten und die Tiefenmessungen
durch besondere Anordnungen gesorgt tvorden.
Die schwedischen Seekarten werden jetzt von einer eigenen
Behörde, dem „Sjökarteverket", herausgegeben und zwar Paß-
karten im Maßstabe zwischen 1: 300 000 und 1: 550 000,
welche die sämmtlichen Küsten der Schweden umgebenden
Meere umfassen, Küstenkarten im Maßstabe von 1: 200 000
bis 1:250 000 und Specialkarten im Maßstabe von 1: 50 000
bis 1:100 000. Im Ganzen sind bisher ca. 50 verschiedene
Karten erschienen. W. F.
Die Landesaufnahme der Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika.
In der letzten Nummer der „Science" vom 29.Juli d.J.
findet sich ein interessanter Artikel über die Arbeiten hinsicht-
lich der topographischen Aufnahme der Vereinigten Staaten
(vcrgl. „Globus", Bd. 34, S. 192) aus der Feder von
Henry Sannett, dem wir Folgendes entnehmen. Den Haupt-
anlaß zn dieser Landesaufnahme der Vereinigten Staaten
gab der Mangel jedweden brauchbaren Kartenmaterials für
128
Aus allen Erdtheilen.
die Arbeiten des vor etwa 8 Jahren gegründeten 17. 8.
Geological Survey. Daher beschloß der Direktor desselben,
in systematischer Weise und nach einem umfassenden Plane
vorerst Spccialkarten ans Grund eingehender Landesaus-
nahmen herzustellen und hiermit die geologische Aufnahme
Hand in Hand gehen zu lassen. Der Maßstab der herauszu-
gebenden Karten wird ein wechselnder sein und zwar derart,
daß für die am dichtesten besiedelten Gebiete derselbe auf
1:62 600 festgesetzt ist; die südlichen und central gelegenen
Staaten sollen im Maßstabe 1:125 000 bearbeitet werden
und die spärlich bevölkerten Theile der Rocky Mountains rc.
in 1: 250 000 erscheinen, wenn nicht besondere Umstände
für einzelne Theile dieses Gebietes einen größeren Maßstab
für nothwendig erachten lassen sollten. Die Karten werden
außer dem Flußnetz und Bodenrelief auch Angaben über
industrielle wie andere menschliche Thätigkeit von allge-
meinen: Interesse enthalten. Das Flußnetz wird blau, die
übrige Situation und Schrift schwarz und das Terrain
braun in Kupferstich ausgeführt werden. Als besonders
beachtenswerth ist zu bemerken, daß das Bodenrelief in
Höhenkurven dargestellt wird, deren Abstände unter sich je
nach dem Maßstabe 10 bis 200 Fuß betragen. Die Arbeiten
wurden bei den Aufnahmen von einem ungefähr hundert Mann
ausmachenden technischen Personal, zu welchem noch bei der
Außenarbeit zahlreiche Hilfskräfte treten, mit der größten
Sorgfalt und mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft und
Technik ausgeführt und verhttltnißmäßig schnell gefördert, so
daß bis Ende 1886 ein Landraum von 250 000 Qnadrat-
meilen lMiles), d. h. also ungefähr Vu des ganzen Auf-
nahmegebietes (Alaska eingeschlossen) fertig aufgenommen
war. Was die Größe der einzelnen Blätter betrifft, so
werden die im Maßstabe 1 : 250 000 ausgeführten ein
ganzes Gradtrapez einnehmen, d. h. also ein Gebiet von einem
Grad Breite und einem Grad Länge, während die im größeren
Maßstabe ausgeführten x/4 resp. X/1G dieses Umfanges dar-
stellen werden. Bis Ende 1886 waren im Ganzen bereits
120 Kupferplatten fertig gestochen, so daß schon ein schöner
Theil dieses für den Geographen wie vor allem für den
Kartographen wichtigen Gebietes fertig vorliegt oder bald
vorliegen wird.
Expedition in Westaustralien.
Unter de»: Namen der Transcontinental Railway
Company of "Western Australia hat sich ein Syndikat
englischer und australischer Geldmänner gebildet. Es will
auf seine Kosten den Bau einer Eisenbahn von I)ork nach
Port Eucla, eine Entfernung von ungefähr 700 Miles oder
1126 km, ausführen und erhält von Seiten der Kolonial-
regierung für jede fertige Mile oder 1609 m Eisenbahn ein
Areal von 12 000 Acres oder 4856 ha Land, am Bahn-
körper entlang ausgelegt, als freies Eigenthum überwiesen.
Bork ist ein in einem fruchtbaren Agrikulturdistrikte in
310 52' südl. Br. und 116°46' östlich von Gr. gelegenes
Städtchen mit 800 Bewohnern und Station an der von
den: Hafenorte Fremantle an der Westküste anslaufenden
Ostbahn. Port Eucla in 310 43' südl. Br. und 1280 50'
östlich von Gr. bildet die südliche Meeresgrenze zwischen den
Kolonien Südaustralien und Westanstralicn. Da nun aber
zur Zeit erst die ersten 170 Miles oder 11831cm in dieser
Längsrichtung näher bekannt sind, so hat das obige Syndikat
Anfang Mai dieses Jahres von Aork ans eine vorzüglich
ausgerüstete Expedition zur Bereisung und Erforschung dieses
Distriktes ansgesandt. Dieselbe steht unter der Leitung des
Mr. Henry R. Davies, eines früheren Squatters in der
Kolonie Queensland, lvelchcr große Erfahrungen in: australi-
schen Bnschleben besitzt, und des Mr. I. H. Browne, der
als Oberingenienr in: Dienste der Company steht. Die
übrigen Mitglieder sind die beiden Feldmesser Willben und
Häabeu (?), ein Deutscher, ferner Mr. Fitzgerald, Mr. Stautou
und zwei eingeborene Knaben. Die Reisegesellschaft verfügt
über 16 Pferde und ist auf vier Monate reichlich mit Proviant
versehen. Außerdem nimmt sie, da sie auf ein an Wasser armes,
vielleicht wafserloses Terrain zu rechnen hat, drei Wagen mit
sich, welche zu ans Eisenblech angefertigten Wasserbehältern
eingerichtet sind, deren jeder 170 Gallonen oder 772 Liter
zu fassen vermag. (Nach allen bisherigen Erfahrungen ist
der Versuch einer längere Zeit erfordernden Reise durch die
australischen Wüsten mit Pferden eine sehr gewagte. Dazu
muß man Kanwele nehmen, welche freilich in Westaustralien
nicht zu haben sind.)
Dasselbe Syndikat verhandelt gegenwärtig mit der Regie-
rung der Kolonie Südanstralien wegen Fortsetzung dieser pro-
jektirten Bahn, unter ähnlichen Bedingungen, von Port Eucla
nach Port Augusta, eine Entfernung in gerader Linie von
525 Miles oder 845 Irrn. Port Augusta, au der Spitze
des Spencer-Golfes in 32° 31' südl. Br. und l-M" 47'
östl. v. Gr. und mit 757 Seelen, ist n:it der City of Adelaide
und dadurch wieder mit den Hauptstädten Melbourne, Sydney
und Brisbane durch Eisenbahn verbunden. Kommt der Ver-
trag zu Stande, so wird das Syndikat sofort von Port
Augusta aus eine Expedition ausschicken, um dieses ebenfalls
sehr wenig bekannte Gebiet zu durchreisen und zu erforschen.
Greffrath.
Aus allen
A u st r a l i e n.
— Die Neu-Guinea-Compagnie hat jetzt mit einer Ver-
suchsstation für Plantagenbetrieb auf ihrem Gebiete den
Anfang gemacht. Dr. Hindorf, bisher Verwalter des lnnd-
wirthschaftlichen Jnstitirts der Universität Halle, hat die Leitung
derselben übernommen und ist nach Nen-Guinea abgegangen.
— Mit dem letzten englischen Postdampfer „Lusitania"
gingen von Sydney ans 2000 Kisten mit Südfrüchten nach
England ab. Verbindungen sind jetzt auch mit Hamburg,
Erdtheilen.
wo ein guter Absatz in diesem Artikel in Aussicht steht, an-
geknüpft worden.
Südamerika.
— Dr. L. Brackebusch, Professor für Geologie und
Mineralogie in Cordoba, ist kürzlich von einer fünfmonat-
lichen Reise in die Cordillereu zurückgekehrt und hat eine reiche
Sannnlullg von Mineralien, sowie eine Menge geologischer,
geographischer und vor allem hypsometrischer Daten mitgebracht.
Inhalt: Cagnat's und Saladin's Reise in Tunesien. XVI. — (Mit sechs Abbildungen.) Emil Metzger: Einiges über
Amok und Mataglap. II. (Schluß.) — Chr. Ausser: Das Chilinchili-Fest der Aymara. — Kürzere Mittheilungen: Schwedische
Seekarten. — Die Landes - Ausnahme der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. — Expedition in West-Australien. — Aus
allen Erdthcilen: Australien. — Südamerika. — Schluß der Redaktion am 11. August 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin,' S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Wit besonderer Derüclrsichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet o u Karl Andree.
In Verbindung init Fachmännern herausgegeben van
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhaiidluugeu und Postanstulten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Van Pros. L. von Loczy.
Graf Btzla Szächenhi's Expedition brach von Tshing-
tn fu auf der großen Straße, die nach Lhassa führt, gen
Tibet auf. Damals waren wir trotz der Entschuldigungen
des Generalgouverneurs T i n g -ku m - p a o von der Hoffnung
erfüllt, Lhassa erreichen zu können.
Nach einer Reise von drei Tagen
verließen wir die fruchtbare Ebene
von Tshing-tmfu und nach weiteren
drei Tagen überschritten wir bei
Pa-tshou-fu einen wasserrei-
chen, reißenden Gebirgsfluß. Diese
Stadt ist in politischer Beziehung
das Thor Tibets und der Nach-
bargegenden; von hier werden die
tut NE wohnenden Hsi-fan- und
Man -tßu- Stämme und die süd-
westlichen unterworfenen Lolo re-
giert. Dort wohnt der Militär-
kommandant, der über die tibeti-
schen Festungen den Befehl hat,
und der Schatzmeister, der die
chinesische Besatzung und die Be-
amten Tibets mit Geld versieht.
Von hier führt über Ning-
juen-fu auch nach Pün-uan eine
Hauptstraße, an der chinesische
Städte liegen. Der Weg umgeht im Westen das mit
ewigem Schnee bedeckte Gebirge, an dessen Abhängen
die Lolo wohnen; ihre Zahl wird nach chinesischen Daten
auf 350000 geschätzt. Die Niederlassung der Chinesen
westlich von Pa-tshou rührt aus der jüngsten Zeit Her-
Globus LII. Nr. 9.
Achteckige Sternthürme in der Landschaft
Ta- tsiön-lu.
und darf über die Negierung des Kaisers Kien-lnng
(1736 bis 1796) nicht hinaus verlegt werden. Die Chine-
sen wohnen zumeist nur au der Straße und leben in fort-
währender Angst, da sie von den in der Nähe wohnen-
den Einwohnern häufig überfallen
werden, die ihr Vieh wegtreiben
und sie ihrer Lebensmittel berau-
ben. In der Gegend von L)a-
tshou sah ich die Bauern mit
Schießwaffen ans die Felder ge-
hen. Der gebildetere chinesische
Kolonist befindet sich in einer
Lage, wie der Europäer in frcm-
den Erdtheileu. Der englische
Theepflanzer befindet sich in Assam
den Eingeborenen der Garo- und
Kassia-Berge gegenüber, der nord-
amerikanische Farmer den wil-
den Sioux-Indianern gegenüber
in ebenso gefährlicher Lage, wie
die chinesischen Landleute im Lande
der Lolo- und Hsi-fan-Stämme.
Obwohl die Eingeborenen stärker
und bessere Krieger sind als die
verweichlichten Chinesen, ist es
doch gewiß, daß aus diesem Kampfe
die kulturell höher stehenden Chinesen siegreich hervor-
gehen werden. Jene Ringe, welche längs der Thäler
und Straßen die chinesische Bevölkerung rund um die
unabhängigen Stämme gebildet hat, werden immer enger
und zögert die europäische Forschung noch lange, so wird
17
130
Prof. L. von Loczy: Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der Provinz Sz'-tshwan.
in den Gebirgen des westlichen Sz'Ashwan gar mancher
Volksstamm verschwinden, noch ehe die Ethnographie deren
Sprache, Schrift und Sitten erforscht haben wird.
Pa-tshou-fu ist der Mittelpunkt des Theehandels nach
Tibet; hier wird der dem tibetischen Geschmack entsprechende
Thee kultivirt. Derselbe wird von 2 bis 2,5 rn hohen
vernachlässigten Sträuchern gewonnen; es scheint, als ob man
die Waare, die nach Tibet exportirt wird, gar nicht aus-
wählte, sondern die Blätter ohne Sorgfalt abschneidet, denn
die Waare ist voll großer Blätter und Zweige. In Pa-
tshou-fn wird der Thee in Brignets gepreßt und mit gelbem
Papier und Schilfflechtwerk in Bündeln verpackt, durch Kulis
nach Ta-tsiön-lu expedirt. Die Stücke, die 1,20 m Länge,
30 cm Breite und 10 cm Dicke haben, sind ca. 12 kg
schwer; diese werden zu 10 bis 12 ans Gestelle geladen
und auf dem Rücken nach Ta-tsiän-ln getragen. Ans diese
Weise mit einer Last von 120 bis 144 kg bepackt, erreichen
die Träger auf dem denkbar schlechtesten Wege über drei
Pässe von der Höhe des St. Gotthard in ca. 20 Tagen
den Endpunkt ihrer Reise. Für diese schwere Arbeit erhalten
sie nach Gill nur 3,6 Taäl (für sechs Bündel 1,8 Taöl),
d. i. nach unserem Gelde ungefähr 12 Gnlden ö. W. Der
Thee von Pa-tshou-fu wird nun in Ta-tsicn-lu aufs Reue
umgepackt, und zwar in eckige Packen von ca. y2 cbm
Größe, die in rohe Pakhäute eingenäht werden. Die Weiter-
transportirung geschieht durch die Pak- und Maulthier-
karawanen der Tibetaner. Der Thee. bildet so zu sagen
ein Monopol der chinesischen Regierung in Tibet. Die
chinesischen Mandarine, die nach Tibet gesendet werden,
verkaufen den Thee selbst und sind darauf bedacht, daß auf
Tibetanisches Haus in der Umgebung von Ta-tsien-ln.
den Straßen, die nach den indischen Besitznngcn führen, ja
kein englisches Produkt importirt werde. Auch in Sikkim
und Nepal, ja sogar auf englischem Boden, z. B. in Kasch-
mir, ist der Thee von Pa-tshou-su verbreitet und mehr
beliebt als der indische, der angeblich sehr aufregt.
In der Nähe von Pa-tshon-fu sind Eisen- und Kohlen-
bergwerke und bei Hoa-ni-pu sah ich die erste chinesische
Eiscnschmelze und Gießerei; hier sah ich den Guß jener
großen Pfannen, welche ein unvermeidliches Erforderniß
der chinesischen Küche sind und auch zum Verdampfen des
Salzwasscrs verwendet werden. Die Stadt Liu-tsin-hsien
ist der Mittelpunkt der Eisenindustrie; in den benachbarten
Ortschaften wohnen nur Schmiede und Eisengießer, welche
die landwirthschaftlichcu Geräthe und die Steigeisen der
Kuli in großer Menge herstellen.
Ning-jucn-fu, der Hanptort der Lolo-Gcgend, liegt im
Thal von Ngan-ning oder Tshien-tshang am Ufer eines
Sees, der zur Zeit der Ming-Dynastie ganz plötzlich jene
Depression ausfüllte, in der die alte Stadt lag. 1850 ver-
wüstete ein starkes Erdbeben die Stadt; nur ein einziges
Haus blieb unversehrt, und 12 000 bis 20 000 Menschen
fanden unter den Trümmern ihren Tod.
Die ganze Gegend, die sich zwischen Pa-tshou und Ping-
jan-hsien am Pang-tße-kiang gegen Westen bis zur Hochebene
von Tibet erstreckt, ragt mit ihren Bergspitzen in die Region
des ewigen Schnees. Zwischen den Anhöhen ermöglichen
tief eingeschnittene Thäler den Verkehr mit den Tieflanden
von Sz'-tshwan. Das chinesische Volk drängt sich überall
zwischen die verschiedenen Volksstämme, gleichwie die Vege-
tation der südlichen Tieslandc längs der Thäler in die
Prof. L. von Loczy: Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der Provinz Sz'-tshwan,
131
Alpenflora eingreift. Mit ihren verschiedenen Volksstämmen,
ihrer Vegetation und den tief cingeschnittenen Thälern bietet
das westliche Sz'-tshwan und Nord-Pün-nan dem Ethno-
graphen, Naturforscher und Geologen großes Interesse.
Die jetzigen Umwandlungen können an wenigen Punkten
der Erde so intensiv sein, wie am tiefgefurchten Ostrande
des tibetischen Hochlandes.
Bergstürze, Ueberschwemmungen erweitern und vertiefen die
Thäler; große Erdbeben zerstören nicht nur die menschlichen
Wohnungen, sondern auch ganz steile Bergwände. Bei Bataug
sah ich fußbreite Erdspalten, Spuren des Erdbebens von 1871,
noch im Jahre 1879. Am ganzen Wege von Ta-tswn-lu bis
Batang und von dort gegen Pün-nan sah ich viele Thermen
und bei Ta-tsien-lu fand ich in einerHöhe von 2500 bis 2600 m
eine Quelle, deren Temperatur 67 bis 68° C. betrug.
An vielen Stellen finden sich Schwefeldämpse exhalirende
Höhlen und die Erzbergwerke, die im Thal von Tsiön-tshang
und an der Grenze von Pün-nan häufig sind, werden einst,
wenn der moderne Berg- und Hüttenbau bis hierher vor-
gedrungen sein wird, große Bedeutung erlangen. Baber
erwähnt aus dem westlichen Sz'-tshwan Kupfer-, Blei-,
Silber-, Zink- und Nickclerze; Szächenyi's Expedition sah
in der Gegend von Li-tang mehrere Goldwäschereien. Die
Ausnutzung der Goldwäschereien bildet ein Vorrecht der
Lama, und wenn wir auch die Erzählungen vom Goldreichthum
auf die Hälfte reduciren, ist das Mißtrauen der tibetischen
Lama, mit dem sic europäischen Reisenden entgegenkommen,
vollkommen erklärlich. Ihre Heimath wird nur so lange
von Fremden verschont bleiben, bis die goldgierige Mensch-
heit von diesen Schätzen Kenntniß erlangt und dieselben
Das Tsche-to-sän-Gebirge bei Ta-tsiön-lu mit Opferflaggeu im Vordergründe.
aufsucht. Die Umgebung von Li-tang wird einst vielleicht
ein zweites Kalifornien oder Victoria werden.
Bei Ta-tsien-lu betraten wir tibetischen Boden; der
tibetische Name der Stadt ist Tar-tse-do und der chinesische
Name nur eine Entstellung des tibetischen. Noch vor gar-
nicht langer Zeit war hier die Grenze des Chinesischen
Reiches gegen Tibet. Als die Mandschu- Dynastie ihre
Herrschaft auf Lhassa ausdehnte, bildete der Ta-tu-ho oder
Ln-Ho (wie der Tuug-kiang bei Ta-tsiön-lu genannt wird)
die natürliche Ostgrenze Tibets. Bei Lu-ting-kiao, zwei
Tagereisen vor Ta-tsiön-lu, führt eine 140 Schritte lange
Kettenbrücke über den Fluß, welche General Po-long-ye
zur Zeit des Kaisers Kang-Hsi bauen ließ, als er zur
Unterdrückung der tibetischen Aufständischen 800 Mann
gen Lhassa führte. Die Brücke wird durch 13 Ketten
gebildet, deren neun die Stegbohlen tragen, während vier als
Geländer dienen. Jede der damaligen 13 Provinzen Chinas
lieferte eine Kette zur Brücke; unter dem Dache des Brücken-
kopfes ist aus einer Steintafel die Geschichte der Brücke
und der Ursprung des Flusses beschrieben.
Lu-ting-kiao liegt 12 Tagereisen von Tshing-tu-fn.
Bis hierher begleitete uns chinesisches Gefolge, obwohl der
letzte Theil des Weges von einer Beschaffenheit war, wie er
im Inneren Chinas nicht bekannt ist. Der Weg stieg in
dichten Waldungen über schlechte Steintreppen die Berge
hinan, da die Thalsohlen ungangbare Schluchten bildeten.
Unsere Pferde waren auf den glatten und vor Nässe
schlüpfrigen Steintreppen fortwährend in Gefahr, ihre
Glieder zu brechen oder in die Tiefe zu stürzen. Die Kuli,
die die Waaren schleppen, sind genöthigt, au die Sohlen
132
Prof. L. don Loczy: Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der Provinz Sz'-tshwan.
ihrer Strohsandalen Steigeisen zn binden und sich ans
große eisenbeschlagene Stöcke zu stützen, um ihre schwere
Last über die tausend und abermals tausend Stufen der
Gebirgswege auf und ab zu transportiren. Wenn wir
die Kettenbrücke bei Lu-ting-kiao überschreiten, nehmen wir
gar bald Abschied von: wirklichen China. Massive Stein-
häuser mit stachen Dächern treten an die Stelle der schlanken
Holzbauten und geschweiften Ziegeldächer. Zuerst erscheinen
schmutzige tibetanische Frauen, dann treten wilde Gestalten mit
zottigem Haar und nackten Schultern und Beinen, die Männer,
ans und wenn wir Ta-tsiön-lu erreichen, erinnert kaum
etwas mehr an China.
Ta-tsiön-lu ist die letzte mit einer Mauer umgebene
Stadt; es wohnen noch viele Chinesen in derselben, allein
die Frauen sind ausnahmslos Tibetanerinnen oder gemischten
Blutes. Denn obwohl diese Gegend zu Sz'-tshman gehört,
hat sich die chinesische Bevölkerung am westlichen Ufer des
Tung-klang noch nicht verbreitet. Nur in den Städten
haben sich chinesische Krämer niedergelassen, doch keiner
gründet hier einen ständigen häuslichen Herd. Die Soldaten,
die in den Poststationen der großen tibetischen Straße ver-
wendet oder den Besatzungen der größeren Städte zugetheilt
werden, erhalten doppelte Löhnung, sobald sie westlich von
Ta-tsiön-lu in Verwendung kommen.
Auch die Regierungsform ist hier nicht mehr rein
chinesisch; die eingeborenen Tu-ß'-Könige regieren über das
Volk. Ta-tsiön-lu, Li-lang und Ba-tang sind Sitze der
tibetischen Könige, die längs der großen Straße nach Lhassa
Das Gambn- Gebirge zwischen Litang und Bataug.
über das nach Sz'-tshwan zugetheilte tibetische Volk die erb-
liche Macht besitzen; neben ihnen stehen jedoch immer
chinesische Beamte, die die eingeborenen Häuptlinge strenge
überwachen.
Von Ta-tsiön-ln führte uns der Weg auf das Hoch-
plateau von Tibet. Das tiefe Thal des Pa-long- kiang
ausgenommen (2732 m) stiegen wir bis Ba-tang nicht unter
3520 m hinab; am häufigsten übernachteten wir in einer
Höhe von mehr als 4000 m Seehöhe. Die chinesische
Bevölkerung besteht hier nur aus Kaufleuten und Militär.
Der Chinese entschließt sich nur im Augenblicke der Ver-
zweiflung, nach Tibet zu gehen, wo er all die Bequemlichkeit
meiden muß, die er zu Hause hat.
Die tibetischen Häuser sind ebenerdige, manchmal auch
mit einem Oberstocke versehene Steinbauten, mit flachem
Dache, ans das manchmal stnfenartig nochs einige Stockwerke
aufgesetzt sind, in die man vermittelst stufenförmig ein-
gekerbter Balken gelangen kann. Hölzerne Läden schützen
die schmalen Fenster, und in der Decke dient eine viereckige
Oeffnnng zur Ableitung des Rauches; bei kalter Zeit oder
Schneewehen wird diese Oeffnnng durch eine flache Stein-
platte verschlossen. Tische und Sessel sind nicht im Ge-
brauch; der Tibetaner bedarf ihrer nicht, diesen Lupus
ersetzen höchstens niedere Schemel und Tischchen mit kurzen
Füßen. Ans dem Dache aber fehlt nie eine als Altar
dienende Säule, in die mit Fähnchen versehene Stäbe und
in der Mitte eine Holzstange, an welcher Sonne und Halb-
mond roh ausgeschnitten sind, gesteckt werden. In einer
Nische findet sich die sitzende Gestalt Bnddha's, der Gegen-
stand der Opfer. In Tibet sind die Gebäude wie auch
Prof. L. von Loczy: Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der Provinz Sz'-tshwan,
133
die Tracht nicht so gleichmäßig wie in China. Sowohl
im Volksleben als auch in der Bauart nahmen wir vielerlei
Unterschiede wahr; am auffallendsten waren zwischen
Ta-tswn-lu und dem Flusse Pa-long-kiang die achteckigen
Sternthürme, die wir in den Ortschaften sahen. Die dichten
Nadclwaldnngen, in welchen sie liegen, erinnerten lebhaft
an das Rheinthal in Graubündten. Kapitän Gill sah
ähnliche Thürme auch nördlich von Tshing-tu-fu. Es
scheinen dies Bauten jener tibetischen Stämme zu sein,
welche von den Chinesen Man-cksz' genannt werden. Alle
die 15 bis 20 m hohen Thürme, die ich sah, waren zer-
fallen oder wenigstens verlassen. Sie verjüngen sich nach
oben und ganz oben ruht eine 1 bis 5 m hohe Brustwehr
ans einem achteckigen Fries über den einspringenden Winkeln.
Jenseits des Pa-long-Flusses, in der Gegend von Li-
tang, sind die Ortschaften kleiner, die Gebäude elender.
Hier ist der Wohnort der tibetischen Nomaden, die in
schwarzen Zelten hausen und nur so lange an einem Orte
bleiben, bis ihr Vieh das Gras abgeweidet hat. Batang
hat wieder stabile und theilweise ackerbauende Bevölkerung.
Am tief eingcschnittencn Kimsha-kiang (tibetisch Gihü tshu)
bis hinein nach Pün-nan ist die Bevölkerung dichter, so sehr,
daß die tibetischen Häuptlinge Batangs ihr Gepäck hier und
da durch Menschen transportiren lassen. Die herrlichen
Hochsgebirgslandschasten, die uns zwischen Ta-tsisn-lu, Ba-
tang und Tsnng-tiön bei fortwährend klarem Himmel ent-
zückten, wollen wir hier nicht eingehender schildern. In
der Umgebung von Ta-tsiön-lu erhebt sich die Pyramide
Gletscher zweiten Ranges, alte Endmoräne und Findlinge in; Gambn-Gebirge.
des Tshe to-shan undBo-kunka, zwischen Litang und Batang
das Gambn-Gebirge mehr als 3000 m über die mittlere >
Höhe der Gegend; 4000 bis 5000 m über die Grenze der
Banmregion hinausragend, bedeckt ihre Granit- und Gneiß-
spitzen in einer vertikalen Ausdehnung von 1800 bis 2000 m
abwärts ewiger Schnee und Eis und mächtige Gletscher
greifen in die hohen Thäler hinab. Auch an so steilen und
glatten Granitspitzen fehlt es nicht, daß an deren Wänden
der Schnee keinen Halt findet. Die Pyramide des Gam-
bu-ni bei Lamaja übertrifft an Steilheit selbst das Matter-
horn. Die Tibetaner betrachten ihn als einen heiligen
Berg, der zwei zum Gebet gefaltete Hände darstellt. Das
Gleichniß ist wirklich treffend, da die Spitze, durch eine
Scharte getheilt, an ineinandergefaltete Finger mit spitzen
Nägeln erinnert.
Ungefähr drei Tagereisen jenseit Batang, am rechten
Ufer des Kin-sha-kiang, hoch oben am Kamme des Gebirges
zieht sich die Grenze des eigentlichen Tibet dahin. Eine
Steinsäule bezeichnet sie aus der Straße nach Lhassa; die
Lama unterhalten hier einen strengen Wachtposten, damit
Fremde, ja auch Chinesen christlicher Religion, nicht ihren
Fuß auf tibetischen Boden setzen können.
Ueberall, wohin uns unser Weg führte, war die tibe-
tische Bevölkerung arm und elend. Litang und Batang
erschienen uns als unbedeutende Plätze; an beiden Orten
concentrirte sich alles Interesse auf die abseits gelegenen und
mit einer Mauer umgebenen Lama-Klöster; allein ihre
Thore schlossen sich vor uns, so oft wir uns ihnen näherten.
In Litang gelangten wir wohl unbemerkt zwischen die
Mauern des Klosters, allein die goldbedcckle Kirche tonnten
134
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
wir nicht sehen; man schlug uns die Thür vor der Nase
zu. Unter heftigen Drohungen und Steinwürfen der Lama
durchstreiften wir die Gassen ihres Stadttheils, und so
lange wir in Litang weilten, blieben die Thore des Klosters
geschlossen. Ziehen wir in Betracht, daß in Litang 3000,
in Batang 2000 Lama wohnen, die allen Handel innerhalb
ihrer Mauern monopolisiren, so müssen wir diese Städte
für bedeutend halten. Daß das tibetische Volk au der
Straße so arm ist, müssen wir dem Frohndienst zuschreiben,
der auf ihm lastet. Sie sind verpflichtet, alle Habe der
durchreisenden Mandarinen und höheren Lama umsonst
weiter zu Iransportiren. Die chinesischen Mandarine, nach-
dem sie ihre drei Jahre in Lhassa zugebracht, kehren be-
reichert mit schwerem Gepäck nach Hause zurück. Die Be-
wohner Batangs sprechen seufzend und neidisch von dem
Reichthum und Wohlstand, der in den von der Straße ent-
fernt liegenden Gegenden herrscht. Im Norden ist Degi,
ein mächtiges Fürstenthum, von der Macht des Dalai-Lama
ganz unabhängig. Im SW reicht der Ruf des Herzog-
thums Po mi weit, das schon im eigentlichen Tibet ge-
legen ist.
14 Tage lang reisten wir von Batang bis zur Grenze
Mn-nans; fortwährend wechselnde Landschaftsbilder, ver-
schiedene Volkstrachten und Bauarten brachten immer Ab-
wechslung in unsere beschwerliche Reise auf einem Wege,
den vor uns noch kein Europäer betreten hatte; zweimal
lagerten wir unter Zelten. Gefährlich wurde aber unser
Weg, als wir längs eines Seitenthals des Kin-sha-kiang
tief hinabsteigen und dann aufs Neue hoch emporklettern
mußten, um die senkrechten Felswände umgehen zu können.
Nicht selten mußten wir reißende Gebirgsflüsse ans Brücken
überschreiten, die ans drei bis vier runden Baumstämmen,
ohne Geländer zusammengebunden, in einer Höhe von 100
bis 200 Fuß von einem Ufer zum anderen gelegt waren, und
es ist wahrlich erstaunlich, daß sich die Pferde über solche
Stege führen ließen. Au anderen Orten umging der Weg
auf krachenden Stegen Hunderte von Fußen über endlosen
Abgründen überhängende Felsen. An vielen Orten ver-
engte sich der Pfad unter den Felsen so sehr, daß wir von
den Satteln steigen mußten. Von den Tibetanern lernten
wir dabei, daß man von der rechten Seite ebenso leicht in
den Sattel steigen könne, als von der gewohnten linken.
Zur Kenntniß Venezuela s.
Von Dr. W. Sievers.
I.
In dir. 1 bis 3 des „Globus", Bd. 51 habe ich kurz
den landschaftlichen Charakter der Anden Venezuelas, d. h.
der Cordillere von Aterida, geschildert. Heute will ich den
Unterschied zwischen dieser und dem übrigen Venezuela, be-
sonders den Centralstaaten, hervorkehren.
Die Anden Venezuelas oder die Cordillere von Mcrida
bilden in mehrfacher Beziehung eine Welt für sich inner-
halb der Republik. Sie haben für diese dieselbe Bedeutung
wie eine Citadelle für eine befestigte Stadt, und demgemäß
kann man die großen Gebirge des Ostens und Guayanas
als die Wälle der Befestigung bezeichnen, den Llanos aber
die Rolle eines Glacis zuertheilen. Geschützt werden durch
alle diese Elemente die inneren fruchtbaren Thäler des
Landes im Osten und Westen, vor Allem die Centralstaaten
des Landes. Demgemäß finden wir, daß Bildung, Cultur,
Fortschritt, speciell europäische Neuerungen, von Osten gegen
Westen von der Hauptstadt Caracas über die Central-
staaten gegen die Cordillere vorrücken; und zwar giebt es
hier zwei Wege, der eine über Land, quer durch Barquisi-
meto, der andere zur See über Maracaibo. Endlich besteht
noch ein drittes Einzugsthor des Fortschrittes in die Cor-
dillere, nämlich die Grenzlandschast des Tnchira gegen
Colombia zu. Dagegen ist der vierte Weg, welcher in die
Cordillere führt, von den Trägern des kulturellen und
wirthschaftlichen Fortschrittes seit langer Zeit nicht mehr-
begangen worden; es ist das der Weg durch die Llanos.
Atan kann nun die Cordillere eigentlich besser als einen
Anhängsel des colombianischen Staates Santander auffassen,
denn als einen integrirenden Theil Venezuelas. In der
That war auch unter der spanischen Herrschaft die Cor-
dillere kirchlich von Pamplona im heutigen Colombia ab-
hängig, rnid noch zur Zeit der ersten Jahre der republika-
nischen Herrschaft gravitirte sie mehr nach Westen als nach
Osten. Simon Bolívar erfocht seine Siege von Westen
gegen Osten, indem er zuerst die Cordillere von Cücuta
alls bis Trujillo durchzog, dann sich auf diesen Besitz stützte
und von dieser Citadelle ans unaufhaltsam gegen Osten
bis in die Gefilde von Carabobo bei Valencia vordrang,
wo er den Spaniern die Entscheidungsschlacht lieferte.
Langsam hat das Gebiet der Cordillere sich seitdem dem
übrigen Venezuela genähert und noch ist es nicht völlig
assimilirt. Die Abgeschlossenheit, welche die Hochgebirgs-
natur mit sich bringt, hat die allmähliche Umwandlung der
socialen, kulturellen und auch politischen Zustände der
Centralstaaten noch nicht völlig in die Cordillere eindringen
lassen. Dazu kommt, daß die eigentliche Eingangspforte zu
derselben, die Stadt Maracaibo, ebenfalls von jeher eine Aus-
nahmestellung gegenüber dem allmählich mehr und mehr domi-
nirenden Caracas eingenommen hat, so daß Maracaibo und
die Cordillere zusammen ganz wohl noch heute als ein be-
sonderer Staat denkbar wären, und daß Maracaibo sich zu
den Seehäfen des Ostens ebenso gesondert verhält, wie die
Cordillere zu den Ceutralstaateu. Nun aber thut die Re-
gierung mehr für diese letzteren als für den Westen, und
zwar mit Recht; denn die nicht sehr glänzende Finanzlage
erlaubt nicht, gleichzeitig an vielen Punkten des ungeheuren
Landes große Reformen in Gestalt der Erbauung von
Eisenbahnen und Fahrstraßen durchzuführen. Naturgemäß
werden daher zuerst die der Hauptstadt nahe liegenden
Gegenden mit denselben bedacht, und der Westen muß
warten; in der That haben die Centralstaaten ein Recht,
die Reformen zuerst für sich zu verlangen, da in ihnen der
Schwerpunkt des gesammten Landes ruht. Es ist aber
andererseits auch wieder naturgemäß, daß der Westen sich
zurückgesetzt fühlt, und da namentlich für Maracaibo wenig
gethan wird, so schürft dies den Gegensatz zwischen Osten
und Westen noch mehr.
Dieser Gegensatz äußert sich nun in jeder beliebigen
Beziehung. Fangen wir mit dem Lande selbst an, so finden
wir gegenüber der Cordillere, deren landschaftlicher Cha-
rakter durchaus mit demjenigen des östlichen Colombia
übereinstimmt, die großen Ebenen; an diese schließt sich das
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
135
Hügelland von Barquisimeto mit dem nördlich davon
liegenden recht isolirten Coro, und jenseits derselben folgen
dann die eigentlichen Träger des Staatslebens und Staats-
gcdankens, die Staaten Carabobo und Guzman Blanco mit
den bevölkertsten, fruchtbarsten und reichsten Distrikten
Venezuelas. Endlich finden wir im äußersten Osten den
Staat Bermudez, den „Oriente", wie er im Lande heißt,
welcher kleinere Städte und geringere Bedeutung hat.
Das südlich des Orinoco liegende Guayana ist in dieser
Beziehung wenig zu beachten, da cs noch fast völlig unkul-
tivirt ist.
Wir haben also hier die großen Gegensätze des Anden-
landes, der Llanos, des centralen Hügellandes und des
östlichen Gebirges, welches wir das Karibische Gebirge nennen
wollen. Alle diese Abtheilungen sind geographisch, orographisch,
geologisch, hydrographisch eigenartig. In der Cordillere domi-
nirt die Gebirgsnatur ausschließlich, in den Llanos die Ebene
und die großen Ströme, im Hügcllande von Barquisimeto und
Coro haben wir mäßige Höhenzüge und Wassermangel,
im Karibischen Gebirge wiegt die Anordnung in parallele
Ketten mit dazwischen liegenden Becken, Brüchen, Senkungen
und Abstufungen vor; hier haben wir sogar ein kontinen-
tales abflußloses Gebiet, das des Valencia-Sees. Und
innerhalb dieses Karibischen Gebirges lassen sich auch wieder
deutlich zwei Theile unterscheiden, der westliche höhere, ge-
schlossenere, und der östliche zerrissene, kleinere, niedrigere.
Dem entsprechend sind nun die politischen Einheiten in
vieler Beziehung berechtigt und die jetzige Eintheilung in
Staaten folgt — vielleicht zu sehr — den plastischen
Eigenarten.
Der Cordillere entspricht der Staat Los Andes, den
westlichen Llanos der Staat Zamora; der westliche Theil
des Karibischen Gebirges umfaßt die Staaten Carabobo und
Guzman Blanco; der östliche im Osten des Cap Codera
den Staat Bermudez. Dazwischen im Hügellande von
Barquisimeto findet sich der Staat Lara; dasjenige von
Coro ist der Scccion Falcün des Staates Falcon-Znlia
zugewiesen. Die östlichen Llanos allein werden ausge-
theilt zwischen Carabobo, Guzman Blanco und Bermudez. j
Wohl aber kann man im Allgemeinen sagen, daß den
natürlichen Abschnitten des Landes gemäß auch die politische
Eintheilung gewühlt ist.
So stehen denn die Staaten Carabobo, Guzman Blanco
und Bermudez als erste Kategorie den Staaten des Westens
gegenüber. Diese zerfallen in drei Kategorien zu je einem
Staat, Zamora (Llanos), Los Andes (Cordillere), Zulia
(Maracaibo-Seegebiet). Den Uebergang bilden Lara und
die Scccion Falcän (Hügelland von Barquisimeto und
Coro). Wenn es nun schon schwer war, die Llanos
einigermaßen den Hanptstaatcn des Ostens zu assimiliren,
und dies wesentlich nur infolge der Zerrüttung des Wohl-
standes derselben möglich gewesen ist, welche die politische
Einheit derselben verhindert, so steht die Cordillere als
ein noch viel schwieriger zu assimilirendes Gebiet den öst-
lichen Staaten gegenüber, und der Staat Los Andes wird
noch stets Eigenthümlichkeiten bewahren, wenn die übrigen
die ihrigen schon lange verloren haben werden, immer ab-
gesehen von Guayana.
Landschaftlich ist das Karibische Gebirge entschieden ein
Gegensatz zu den Anden. Was ganz besonders auffällt, ist
die geringere Höhe; denn selbst die höchsten Höhen er-
reichen nur 2782 m im Pico de Naiguatü und 2665 m
in der Silla de Caracas, so daß die Cordillere
noch um fast 2000 m darüber hinausragt. Und die
Ausdehnung dieser hohen Kette ist nur gering; denn sie
erstreckt sich nur vom Cap Codera bis gegen Puerto Cabello
und Valencia hin in der Höhe von 2000 m. Weiter
westlich sinkt die Höhe beträchtlich herab; und auch im
Osten östlich des Busens von Barcelona finden wir nur
bis 2000 m Höhe. Die Bergketten zeigen ein durch-
furchtes, zerrissenes, mit zahlreichen Schluchten durch-
zogenes, man möchte sagen greisenhaftes Ansehen. Zahl-
reiche Ruinen jüngerer Gesteine liegen auf den alten
Gneißen, Glimmerschiefern und Quarziten zerstückelt, zer-
brochen, in ungeheuren Klötzen aufragend und ohne ein-
heitlichen Charakter. Man hat auf jeder Reise in dem
Karibischen Gebirge, vielleicht mit Ausnahme der hohen
Kette von Caracas, den Eindruck, als ob das Gebirge in
völliger Auflösung begriffen fei. Dem gegenüber haben
wir in den Anden noch Frische, Geschlossenheit, Einheitlich-
keit, gleichmäßige Höhe, gleichmäßige Formen, harmonische
Linien. Während die Thäler des Karibischen Gebirges sehr
tief liegen und das gesammte Längsthal zwischen den beiden
Hauptketten von Nirgua bis zur Tuy-Mündung 650 m
nicht überschreitet, zeigen die Anden hohe enge Thäler,
keine Längs-, sondern meist Querthäler, Durchbrüche und
Qnerausgänge der Flußthäler. Und die von Nirgua bis
gegen Caracas zwischen den Parallelketten liegenden und
sich auch in der Struktur der östlichen zerbrochenen Fort-
setzungen des Karibischen Gebirges zeigenden Becken und
Hohlformen sind so überaus charakteristisch für dasselbe,
daß dies allein schon einen wesentlichen Unterschied
in der Struktur der beiden in Rede stehenden Ge-
birge machen würde. Das Becken des Valencia- oder
Tacarigua-Sees, dessen wahrscheinlich beträchtliche Ein-
schrumpfung wir konstatiren konnten, ist eine in der An-
ordnung des Karibischen Gebirges begründete Erscheinung.
Auch fehlen die vielen und schönen Wälder, welche die
Anden zieren, tut Karibischen Gebirge oftmals; namentlich
der Südabhang ist sehr kahl und öde, steril und steinig. Die
gesammte Kette von San Sebastian, Villa de Cura, Sa»
Juan de los Morros entbehrt des Schmuckes der Wälder;
allerdings finden sich dieselben an der Nordseite der Küsten-
kette, allein doch nicht in jenem großartigen Maßstabe,
wie in der Cordillere.
Vor allem aber ist cs das Klima, welches die Cor-
dillere gegenüber dem Karibischen Gebirge bevorzugt; denn
während in letzterem nur ganz wenige Ortschaften, südlich
Caracas sowie die Thäler von Los Teques, ein gemäßigtes
Klima besitzen, dagegen die größeren Städte, auch Caracas
selbst, noch in recht warmem Lanikd liegen, so erheben sich
die Thäler der Cordillere hoch genug über den Meeres-
spiegel, um die volle Frische der kühleren Höhenlage ober-
halb 1500 m empfinden zu lassen.
Das Hügelland von Barquisimeto bildet wohl den häß-
lichsten Theil Venezuelas; doch nruß man auch Coro noch
dazu rechnen; diese beiden Landschaften entbehren der
frischen Vegetation und des Wassers; nnr ein großer Fluß,
der Tocuyo, durchströmt diese Gegenden; das gesammte
Land zwischen Tocuyo und Barquisimeto wird durch eine
öde, sterile Kaktnsvegetation eingenommen, welche an Dürre
und Hitze ihres Gleichen im Lande sucht; diese Kaktus-
distrikte setzen sich auch nordwärts über Coro fort und be-
decken auch Theile des Landes westlich vom Tocuyo. Ob-
wohl diese hügelige Ebene 600 bis 700 m hoch liegt,
ist das Klima doch unverhältnismäßig heiß; die Sonne
brennt auf die kahlen, verwitterten, weißen bis braunen und
röthlichen Hügel unablässig herab; der Wind ist hier
meist schwach; Regen fällt nicht häufig, es giebt sogar einen
Distrikt mit einer größeren Stadt, Qnibor, welcher als fast
abflußlos bezeichnet werden kann, und auch als fast wasser-
los gelten darf, insofern nur ein ganz kleiner Bach an der
Stadt Quibor vorüberstießt und auch nnr in der Regenzeit
bei besonders starken Regengüssen Wasser führt. Ebenso
136
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
entbehren die Städte Carora und Arenales mehr und mehr
des Wassers, insofern die Flüsse leicht austrocknen. Große
Sandebenen, leicht bewachsene Sabanen sind an der Tages-
ordnung. Ans den sterilen Felsen klettern Ziegen, von
denen namentlich in Coro die Bevölkerung zu einem Theile
geradezu abhängig ist, indem das Fleisch der Ziegen ge-
gessen wird, die Häute aber zu Millionen nach den Vereinig-
tc'it Staaten ausgeführt zu werden Pflegen.
In dem östlichen Theile Venezuelas, östlich von Bar-
guisimeto, hat nun die Regierung beträchtliche Anstrengungen
zur Hebung des Verkehrs gemacht, indem sie Straßen und
Fahrwege baut. Der große Fahrweg zwischen den beiden
Hauptstädten des Landes, Caracas und Valencia, ist nach
mehreren vergeblichen Anläufen endlich vor einigen Jahren
zu Stande gekommen; er führt von Caracas im Thäte des
Rio Guaire aufwärts, durchzieht zunächst die frischen Auen
des Mittellaufes dieses Flusses und versenkt sich dann von
Los Adjuntas ans an der Mündung des Rio Macarao
in den Rio Guaire in die tief eingeschnittene Thalschlucht
dieses letzteren Flusses; in Serpentinen steigt der Weg
aufwärts, stets am linken Ufer desselben, und erreicht endlich
nach IH2 bis 2 Stunden starker Steigung die hoch im
Gebirge in 1170 m Höhe liegende Ortschaft Los Tegnes,
ein in letzter Zeit stark angewachsenes Städtchen mit etwa
2500 Einwohnern und einem merkwürdig guten Gasthause.
Los Tegnes liegt in einem Kessel zwischen Bergen, die
über 2000 m Höhe besitzen; der Picacho de Palmar, welcher
nördlich der Ortschaft aufsteigt, dürfte 2270 m Höhe haben
(nach gefälliger Mittheilung des Herrn A. Iahn jun. in
Caracas). Von Los Tegnes aus steigt die Fahrstraße
nochmals ein wenig ans und erreicht bei dem Gehöfte Los
Canales an der El Alto de la Cortada genannten Strecke
den höchsten Punkt (1270 m); von hier ans hat man eine
umfassende Aussicht über das Bergland südlich von Los
Tegnes gegen den Rio Tuy zu und über die Serrania bei
Jnterior, die innere Kette des Karibischen Gebirges, gegen
die Llanos zu. Unregelmäßige Formen zeigen sich hier;
eine Unzahl von Gipfeln mit vielen Schluchten und Furchen
steigen neben und über einander auf; doch sind keine be-
sonders hervorragenden Punkte zu bemerken; nunmehr senkt
sich die in die Felsen gesprengte Straße steil abwärts und
erreicht bei dem Wirthshanse Los Guayos in 480 m die
Thalsohle und zugleich einen kleinen Bach, der in den Rio
Tuy fällt. Es bildet also das Bergland von Los Tegnes,
welches Humboldt Hignerote oder de las Cocuizas nennt,
die Wasserscheide zwischen dem Rio Guaire und dem Tuy.
Nunmehr folgt die Straße dem Rio Tuy einige Stunden
aufwärts bis zu dem Dorfe El Consejo, wo der Fluß ans
dem Gebirge bricht. Er ist hier wenig wasserreich und gut
durchwatbar; doch wird sein Wasser zur Tränkung zahl-
reicher Zuckerrohrfelder benutzt, und wir finden hier auch
die Dampfkraft im Dienste der Landwirthschaft und Industrie,
indem dieselbe z. B. zum Destilliren des Zuckerrohrsaftes
benutzt wird, der gegohren als guarapo fermentado ein
Hauptgetränk der Bevölkerung bildet. Namentlich aber
stellt man hier den Zuckerrohr-Branntwein, aguardiente
de cana, her, welcher recht gut zum Trinken benutzbar ist,
und namentlich, wenn er init Anis versetzt ist, ein erfrischen-
des Getränk bildet. Allerdings werden auch sehr gewöhn-
liche Sorten hergestellt, und es trinkt daher die niedere
Bevölkerung einen zum Theil entsetzlichen Fusel, welcher
häufig Excesse hervorruft. Das Tuy-Thal ist landschaftlich
überaus reizend; zwischen niedrigen Bergen zieht es einher,
andauernd mit hellgrünen Zuckerpflanznngen, hier und da
auch mit dunkleren Kasfeepflanzungen bedeckt. Fast un-
merklich ist der Uebergang von dem Tuy-Thal in dasjenige
des Rio Aragna, welcher die gepriesenste Gegend ganz
Venezuelas durchströmt. Der Rio Aragna entsteht aus
mehreren Qnellbächen bei La Victoria und mündet in den
See von Valencia. An seinen Ufern finden sich die Stadt
La Victoria und die Dörfer Cagua und Santa Cruz.
Ans der ganzen Strecke zwischen den beiden ersteren Ort-
schaften ist der Rio Aragna umgeben von gewaltigen Kaffee-
pflanzungen, deren Schattenbäume einen großartigen Wald
bilden, durch welchen man Stunden lang reiten kann, ohne
aus den Kasfeepflanzungen herauszukommen. Nahe bei
La Victoria zweigt eine zweite Fahrstraße ab, welche nach
der Hauptstadt des Staates Guzman Blanco, Villa de
Cura, führt, und noch über diese hinaus bis nach San
Juan de los Morros und San Sebastian am Rio Guarico
verlängert worden ist. Die eigentliche Hauptstraße aber geht
von dem durch Schlachten berühmten Dorfe San Mateo
über das durch einen gewaltigen Saman-Baum gezierte
Dörfchen Guere und die Stadt Turmero nach Maracai,
einem aufblühenden Städtchen, schon nahe dem Valencia-
See.
Von hier führt die Fahrstraße stets am nördlichen Ufer
des Valencia-Sees entlang durch die öden und sterilen
Kaktusdickichte, welche den von, See verlassenen Boden
einnehmen. Dieser Weg ist nur an einer einzigen Stelle
malerisch, nämlich dort, wo er an der Halbinsel Cabrera
entlang zieht, welche weit in den See hineinragt; man
übersieht von hier sowie auch von dem Hügel der Wasser-
leitung oberhalb von Maracai den ganzen östlichen Theil
des Sees mit einer großen Menge von Inseln.
Valencia selbst liegt in 495 in Höhe am Fuße der
nördlichen Kette, dort, wo eine Oesfnnng, eine Erniedrigung
sich in derselben zeigt, nämlich südlich des Passes von Las
Trincheras. Seine Lage ist eine ganz außerordentlich
günstige, und in der That dürfte diese Stadt voll der Natur
sehr viel mehr zur Hauptstadt des gesammten Landes
vorherbestimmt worden sein als Caracas. Denn Valencia
besitzt zunächst einmal den besten Hafen Venezuelas, Puerto
Cabello; zwar liegt die ganze Breite der Küstenkette zwischen
beiden Städten, allein die ausgleichende Wirkung der Eisen-
bahn, welche augenblicklich im Ban ist, dürfte darüber leicht
hinweghelfen. Valencia liegt ferner dort, wo die Küsten-
kette auf der gesammten Strecke von Cap Codera bis zum
Rio Haracui sich am meisten erniedrigt; der Paß von Las
Trincheras hat nur 080 in Höhe, liegt daher kaum 200 m
über Valencia. Sodann besitzt Valencia ein gutes und
bequemes Thor in die Llanos; die Serrania bet Jnterior
sinkt nämlich ebenfalls hier auf so geringe Höhe herab, daß
die Ucberschreitung dieser niedrigen Hügelketten sehr leicht
ist. In der That führt denn auch schon seit längerer Zeit
eine Fahrstraße von Valencia nach San Carlos und eine
andere nach Pao. Die Llanos aber dürften mit der Zeit,
besonders sobald die Zustände der Politik des Landes voll-
ständig geordnet sein und die Llanos Zeit gehabt haben
werden, sich auf den alten Reichthum an Vieh und Pferden
wieder emporzuschwingen, einen der allerwichtigsten Theile
des Landes ausmachen, wie sie es denn ja auch eigentlich
gewesen sind, welche zur Zeit der Befreiungskriege gegen
die Spanier den Widerstand am zähesten aufrecht erhalten
und mehrmals den fast erloschenen wieder angefacht haben.
Vergleicht man nun die Zugänge zu den Llanos, so
findet sich, daß von Caracas der weite Umweg über Villa
de Cura gemacht werden muß, um an einer mäßig niedrigen
Stelle die Serrania bet Jnterior zu übersteigen, da auf der
ganzen Strecke von Villa de Cura bis Orituco dieses Ge-
birge in starrer Geschlossenheit einen Wall gegen die Llanos
bildet. Andererseits finden wir aber auch, daß der Hasen
von Caracas, La Guaira, ganz besonders schlecht ist. Es
ist eben überhaupt kein Hafen, sondern eine sehr schlechte, dem
Albert S. Gatschet: Der Tsknn- Vogel.
137
Anstürme des Nordost-Passats und überhaupt allen Winden
preisgegebene Rhede, auf welcher häufig die Arbeiten zum
Laden und Löschen der Schisse wegen der heftigen Brandung
und des Wellenschlages eingestellt werden müssen, so daß
sich die Negierung setzt veranlaßt gesehen hat, einen Molo,
einen Wellenbrecher, tajamär, zu bauen, welcher jedoch gleich
im Beginn des Baues mehrmals durch die Wogen hinweg-
gerissen worden ist. In diesen Beziehungen steht also
Caracas Valencia sehr nach; dazu kommt aber noch, daß
Valencia eine viel günstigere Lage für den Handel der
wichtigen Thäler von Aragua hat. Diese sandten bisher
ihre Produkte über die steile Fahrstraße von Los Teques
nach Caracas, so daß man auf derselben andauernd gewaltigen
Waarenzügen begegnet, welche hin und her ziehen. Sobald
aber die Eisenbahn von Puerto Cabello nach Valencia fertig
sein wird, dürfte der Handel der Thäler von Aragua nach
Valencia gehen. In der That ist die Straße am Nordufer des
Sees sehr bequem und leicht zu befahren, insofern andauernd
ebenes Land zu durchziehen ist, während man zwischen La
Victoria und Caracas 800 in auf- und 300 m absteigen
muß. Endlich bietet das Becken des Sees von Valencia
ein ungeheures Feld für Ackerbau dar, welches noch durch-
aus nicht in der Weise ausgenutzt ist, wie es wohl der Fall
sein sollte, und überhaupt kann der Valencia-See als das
Centrum des ganzen Landes betrachtet werden, so daß Va-
lencia eine entschieden weit centralere Lage hat als Caracas,
das schon zu den östlicheren Theilen des Landes gehört. Ueber-
haupt ist die freie Lage Valencias in einer weiten Ebene
außerordentlich viel geeigneter zur Hauptstadt, als das in
engem Thale zwischen hohen Bergen eingekeilte und von
allen Seiten durch Höhenzüge abgesperrte Caracas. Man
wendet allerdings Vieles daran, um Caracas den Rang als
Hauptstadt zu bewahren; die Stadt ist durch den General
Guzman Blanco in einer Weise verschönert worden, wie
es wenige andere Städte in so kurzer Zeit erlebt haben;
und es wird stark daran gearbeitet, auch die Handelsstelluug
von Caracas ausrecht zu erhalten. Da es nun außerordentlich
kostspielig wäre, das Bergland von Los Teques mit einer
Eisenbahn zu durchschneiden, so hat man die Absicht, eine
centrale Bahn Guaire abwärts und Tuy aufwärts zu bauen
und ans diese Weise La Victoria zu erreichen. Es ist dies
zwar ein sehr großer Bogen, allein die Ausführung dürfte
wesentlich leichter und billiger sein als die Eisenbahn über
Los Teques. In der That hat man schon den Anfang ge-
macht, und die Strecke Caracas—Pctare—Santa Lucia in An-
griff genommen. Von Valencia aus wird beabsichtigt,
ebenfalls im Anschluß hieran eine Bahn nach Victoria zu
bauen, so daß einst Caracas und Valencia durch Schienen-
weg verbunden wären. Abertrotz aller dieser Anstrengungen,
die Stellung von Caracas zu erhalten, glaube ich doch, daß
die Natur selbst schließlich dem von ihr begünstigten Valencia
den Sieg in diesem Wettstreite geben wird.
Der Tskan-Vogel.
Eine mythische Erzählung der Okinagen - Indianer, mitgetheilt von Albert S. Gatschet in Washington.
Die Bewohner eines Dorfes hatten sich zur Berathung
versammelt. Die einen sprachen: „Laßt uns aufbrechen
und gegen den Himmel zu Felde ziehen, um Feuer herunter
zu holen! Doch was thun wir, um dorthin zu gelangen?
Wir ziehen aus und schießen Pfeile nach dem Himmels-
gewölbe, bis einer darin stecken bleibt; dann schießen wir
einen anderen nach der Kerbe des ersten, einen dritten nach
der Kerbe des zweiten und bereiten uns so einen Pfad, an
dem wir hinaufklettern und Feuer herunterholen!" Die
anderen erwiderten: „Wohlan! ziehen wir aus und rufen
wir alle Thiere zusammen, daß sie uns Hilfe leisten; vereint
brechen wir dann aus!"
Man versammelte sich und schoß Pfeile nach dem
Himmelszelte. Bei den ersten Versuchen mit unvollkounnenem
Schießzeuge gelangten die Pfeile lange nicht so weit hinaus.
Die Thiere berichteten dies dem Tskan-Vogel, der mit seiner
Großmutter in der Nähe saß. Er war ein kluger Vogel
und wußte Rath. „Ihr habt euch versammelt, um nach
dem Himmel zu schießen? Gut, ich bin dabei!" Seiner
Großmutter sagte er, er müsse zu diesem Zwecke neue Pfeile
von den Stämmen des Heidclbeerstrauches anfertigen, und
nachdem er sich diese im Walde geholt: „Ich muß eine
starke Nippe haben, um daraus einen Bogen von hinrei-
chender Stärke zu schnitzen!" „Eine solche Rippe kann
nur ein Elcnn liefern", gab sie zur Antwort.
Der Tskan-Vogel streifte herum und erblickte bald ein
Elcnn. „Trage mich geschwind über den Fluß!" rief er
ihm zu. „Warum denn nicht? Steige auf und reite aus
der Wurzel meines Schweifes hinüber!" Der Vogel flog
hinauf, wie geheißen, und das Elcnn schritt durch den Fluß.
Der Vogel kroch ihm nun durch den Darm bis hinaus ans
Herz, zerbiß dasselbe, und wie das Elcnn das Ufer erreichte,
Globus UI. Nr. 9.
fiel es todt nieder. Tskan war eben daran, dem Eleun
die Haut abzuziehen und den Körper zu zerstücken, als sich
die Wölfin zu ihm gesellte.
Sie sprach: „Du hast ein Elcnn erlegt; ich will dir
beim Zerlegen behilflich sein. Hole deine Verwandten, und
wir alle wollen die Haut abziehen helfen." Der Vogel
entfernte sich, brachte seine Verwandten in einem Korbe,
den er auf dem Rücken trug, über die Berge hinüber nach
einer Stelle jenseits des Ortes, wo er die Wölfin bei dem
todten Elenn gelassen hatte. Er vermuthete nämlich, diese
könnte unterdessen das Elenn hinterlistig fortschaffen. Dann
flog der Vogel nach der Wölfin zurück, riß unterwegs aus
seinem Fluge die Berge mittelst eines starken Baumastes
los und sagte zur Wölfin: „Ich habe meine Verwandten
nicht angetroffen; gehe du und hole sic her! Ich bleibe
unterdessen hier sitzen, bis du zurück bist." Hierauf ent-
fernte sich die Wölfin.
Unterdessen suchte der Tskan-Vogel seine Großmutter-
aus und berichtete ihr, er habe ein Elenn getödtet; die
Wölfin sei jedoch dazu gekommen und habe versucht, ihm
das erlegte Wild wegzutragen. Beide eilten nun hin, um
sich das Wild zu sichern, luden es auf ihre Achseln und
brachten es nach Hanse. Der Vogel fürchtete einen mörde-
rischen Anfall seitens der Wölfin und sagte zur Großmutter:
„Laßt uns durch Reiben eines Holzstabes ein Feuer an-
zünden und dann machen wir Steine darin glühend!"
Während die Steine sich allmählich erhitzten, traf die
Wölfin ein und sagte zu den Zweien, die sich auf eine An-
höhe gesetzt hatten: „Gebt mir zu essen, ich hungere!"
„Du sollst etwas haben!" erwiderte der Vogel. Er wickelte
eine Schicht vom Bauchfell des Elenns um einen der er-
glühten Steine und rief: „Maul aufgesperrt!" Die Wölfin
18
138
Albert S. Gatschet: Der Tskä-n - Vogel.
saß zur Erde, sperrte den Rachen auf, und der Stein flog
hinein. Gleich darauf verendete sie unter Zuckungen und
der Vogel sagte: „Sie ist todt; ich will sagen: drei
Wölfe sind todt!" Sie war nämlich mit'zwei Jungen
trächtig gewesen.,
Nach Verrichtung dieser That kam dem Tskán-Vogel in
den Sinn, er müsse Federn für seine Pfeile zu erlangen
suchen. Der Goldadler, ein gefährlicher Raubvogel, sollte
diese Federn liefern, und Tskán machte sich mit der Haut
des Elcnn auf den Weg. An einem steilen Felshange an-
gekommen, erblickte er ein Adlernest mit junger Brut ans
dem Gipfel des Felsens. Er wickelte sich in die mit-
gebrachte Haut ein und streckte sich auf dem Boden aus.
Der Goldadler erspähte die Haut, flog nieder, holte sie ins
Nest hinauf und entfernte sich dann wieder. Als dieAdler-
mutter sich erhob, ergriff der Tskán-Vogel, der sich unter-
dessen aus der Haut losgemacht hatte, zwei der jungen Adler
bei den Füßen, warf sie aus dem Neste, und als sie unten
angekommen, raufte er ihnen die Schwanzfedern ans. Mit
diesen versehen, war er nun im Stande, zu Hause seine
Pfeile mit Federn auszurüsten. Doch fehlten ihm zur Voll-
endung derselben noch die Pfeilspitzen aus Stein.
Um diese durch List zu erlangen, mischte er sich unter
seine Nachbaren, sagte zu den einen, ihre Freunde seien
böse auf sie und verleumdeten sie hinter ihrem Rücken.
Dasselbe sagte er den anderen Nachbaren, die er eben ver-
leumdet hatte. Dies reichte hin, um die bisherigen Freunde
zu Feinden zu machen; sie griffen sich gegenseitig mit Pfeil-
schüssen an; dabei las der Tskán-Vogel, so schnell er konnte,
die abgeschossenen Pfeile zusammen und suchte das Weite.
Zu Hause bei seiner Großmutter angelangt, versah er seine
Pfeile mit den Steinspitzen der erlangten Geschosse und
erklärte ihr, er müsse sie verlassen, denn er gehe jetzt an den
Ort, wo man nach dem Himmel Pfeile abschieße.
Auf dem Wege dahin trifft er mit dem Coyote oder
Präriewolf zusammen. Dieser redete ihn an: „Wohin
des Weges, Kalispelm - Indianer? *).“ Der Vogel ant-
wortete: „Ich gehe dahin, wo man nach dem Himmel
schießt!" „Wem gehören diese Pfeile?" fragte der Prärie-
wolf. „Mir gehören sie!" „Wohl kaum", erwiderte der
Präriewolf; „es sind deines Vaters Pfeile; zeige sie her!"
Und Tskán übergab sie dem Präriewolf. Dieser war nicht
im Stande, den gewaltigen Bogen zu spannen; er lachte:
„Ha! ha!" und sagte zu Tskán: „Wenn ich mich etwas
entfernt von dir aufstellte, würdest du nach mir zielen und
mich verwunden?" „So geh' einmal, geh', Präriewolf,
und stelle dich dort auf dem Hügel auf!" In kurzer Ent-
fernung pflanzt sich nun der Präriewolf auf eine Anhöhe
und ruft: „Schieß los!", ging aber trotz der Abrede weiter
und immer weiter. Endlich hörte er das Schwirren des
Pfeiles hinter sich: achu-a-u! „Ach! was ist denn das!
welch' entzückender Ton!" Indem er so dachte, durchdrang
der Pfeil den Präriewolf und er lag entseelt da. Vogel
Tskán kam heran, zog den Pfeil aus dem Leichnam und
roch daran; er roch übel, und so ließ Tskán Pfeil und
Präriewolf liegen und ging weiter.
Da trat der Fuchs zum todten Präriewolfe und redete
ihn an: „Da bist du wieder und spielst den tückischen
Gesellen; warum hat man nach dir geschossen?" Er zog
den Leichnam hin und her und hüpfte über ihn hin — siehe
da! der Präriewolf lebte neu auf. Als ob er lange ge-
schlafen, gähnte er laut: „llo-o-eibai!" und sprach: „Hier
auf dieser Stelle legte ich mich hin und schlief ein!" „Ja-
wohl", erwiderte der Fuchs, „du bist eingeschlafen! Du
x) Kalispelm ist der Name eines Jndianerstammes am
Mittelläufe des Kolumbiaflusses; derselbe heißt auch Pend
d'Oreilles.
hast den Tskán-Vogel geneckt, er schoß nach dir und machte
dich todt!" „Gut", erwiderte der Präriewolf, „wenn dem
also ist, so renne ich dem Tskán-Vogel eilends nach um ihn
zu züchtigen!" und rannte davon. Nachdem er ihn einge-
holt, sprach er zu ihm: „Ich glaube, dies ist dein Pfeil,
den du verloren hast; ich habe ihn gefunden und stelle dir
denselben wieder zu." „Nein", sagte Tskán, „verloren
habe ich ihn nicht, bloß weggeworfen, weil er nach der
Tödtung eines Präriewolfes so sehr gestunken hatte." Der
Präriewolf schlug nun vor, sie wollten Pfeilwerfens spielen.
Und als er und Tskán im Pfeilwerfen begriffen waren und
ihre Kleider als Spielgewinn eingesetzt hatten, blies der
Präriewolf den Pfeil des Vogels durch Zauberei vom Ziele
weg. Damit gewann er alle Kleider des Vogels, zog sie
an und spazierte davon, die Worte singend:
„All' dein Gewand hab' ich gewonnen, o Kalispelm",
und der Vogel schritt hinter ihm her, als er abzog.
Da nun der im Spiele siegreiche Präriewolf seines
Weges zog, traf er junge Rebhühner, die Kinnikinnik-
Beeren sammelten und fragte eines derselben: „Wie heißt
dein Vater?" „Sein Name ist ,Flieg' vor den Augen'!
„Wie heißt deine Mutter?" „Flieg' durch die Beine!"
„So bringe deine Beeren her, daß ich sie (zum Dörren) für
dich unter heiße Asche lege!" Als es die Beeren gebracht,
ergriff er die Rebhühner, tödtetc sie, briet sie auf heißen
Kohlen, ließ sie liegen und ging weiter.
Alles dies hatte der Tskán-Vogel mit angesehen. Er
machte sich sofort auf nach der Wohnung der alten Reb-
hühner, welche über das lange Ausbleiben der Jungen
untröstlich geworden waren. Sie sagten zn Tskán: „Bist
du es etwa, der unsere Kinder umgebracht hat?" „Nicht
ich, gewiß nicht! Vermuthlich war es der Präriewolf, der
mir all mein Gewand im Spiele abgewann." „Erbarm
dich unser, hilf uns!" sagten die Eltern; „bringst du uns
unsere Kinder zurück, so stellen wir dir deine Kleider vom
Präriewolfe wieder zu." Tskán versprach, die Kleinen wieder
ins Leben zurückzurufen. Er legte die Leichen zusammen
und hüpfte über sie hinüber; da wurden sie von neuem
Leben beseelt. Die zwei Alten setzten nun dem räuberischen
Präriewolfe nach, der am Rande eines Abgrundes dahinlief.
Als sie ihn erreicht, flog der Vater der zwei Rebhühner
dem Präriewolfe voran, während die Mutter demselben
zwischen die Beine flog. Diese List hatte den Sturz des
Wolfes über den Abgrund zur Folge; er verletzte sich schwer
und starb. Die zwei Alten rissen ihm nun die Gewänder,
vom Leibe und brachten sie dem Tskán-Vogel zurück, der sie
unterdessen zu Hause erwartet hatte.
Tskán zog nun seine Kleider wieder an und ging eilen-
den Laufes nach dem Orte der Versammlung. Dort schoß
er mit den Anderen nach dem Himmel, bis ihm alle Pfeile
ausgegangen waren. Dieselben blieben oben stecken; es
wurden nun alle noch auftreibbaren Pfeile gesammelt und
abgeschossen. Da jeder derselben in der Endkerbe des voran-
gehenden Pfeiles stecken blieb, so bildeten sie eine einzige
Linie und die Thiere hatten nun einen Weg nach dem
Himmel. Sie kletterten nun an den Pfeilen empor;
der letzte in der Reihe war der Grizzlybär, und dieser
schleppte alle seine Speisevorräthe auf dem Rücken mit.
Durch sein Gewicht brach die Kette der Pfeile entzwei; der
Weg war unterbrochen.
Nichtsdestoweniger sollte der Kriegszug ausgeführt
werden. Man sandte die Schlange und den Frosch auf
den Kriegspfad; der Frosch legte sich indeß nieder und die
Schlange verschluckte ihn. Als die Schlange allein zurück-
kehrte, hieß es: „Wo ist dein Gefährte?" „Ich fraß ihn
auf!" Darauf sandte man andere auf den Kriegspfad,
j „Du Biber, du Schildkröte und du schwarzer Adler, ihr
Albert S. Gatschet: Der TskLn-Vogel.
139
müßt nun in den Krieg! “ rief man. Nachdem sie ausge-
zogen waren, ließ sich die Schildkröte auf die Erde herab-
fallen und fiel, Gott fei's geklagt! in eine Wohnung hinein,
wo sie durch ihren Fall Jemandem den Schädel ein-
schlug. Aus Rache drohte man ihr mit dem Feuertode.
Sie aber sagte: „Gut! dann bleibe ich am Leben, denn
das Feuer ist mein Element!" Als man vorschlug, sie ins
Wasser zu werfen, sprach sic: „Thut das ja nicht, sonst
komme ich unls Leben!" Sie wurde ins Nasse geworfen,
aber siehe da! sie schwamm fort, gelangte ans Ufer, schrie
laut und ging nach Hause. Man fragte sie: „Wo sind
deine Kriegsgefährten?" „Vermuthlich sind sie mausetodt",
erwiderte sie. Dann suchte man nach denl Biber, fand
und ergriff ihn und zog ihm das Fell über die Ohren.
Den schwarzen Adler sah man ans einem Baume sitzen und
schoß nach ihm. Da verließ aber der, der eben dem Biber
das Fell abzog, sein Opfer, um dem Adler nachzustellen; der
Biber, als er sich frei fühlt, springt mit einem Satze auf,
ergreift Feuer, steckt es unter einen seiner Nägel und ent-
flieht. Nachdem aber der Adler davongeflogen, kehren seine
Verfolger nach der Hütte zurück, wo der Biber geschunden
worden war; dieser war jedoch nebst seinem Gefährten ver-
schwunden.
Es wurde nun der Vorschlag zur Heimkehr gemacht, da
der Weg nach dem Himmel unterbrochen sei. Doch wie
sollte man die Heimkehr ins Werk setzen? Der Adler und
der Häher sagten, sie würden fliegen; die Fledermaus sagte:
„Ich werde mich auf den Mantel meiner Haut fetzen" und
wickelte sich in ihre Flügel ein. Das Flugeichhörnchen und
sämmtliche Vögel flogen davon, der Präriewolf verwandelte
sich in ein Blatt, die Fische purzelten und sielen ins Wasser,
die Forellen fielen auf Felsen und in die Fichtennadeln und
verwickelten sich in die Tannengebüsche; darum haben sie
so viele Gräten im Leibe.
Das ist das Ende der Geschichte.
* -t-
*
Vorstehende mythische Erzählung wurde mir von einem
Okinagen-Indianer, der schon etwas betagt war und in
dessen Adern auch etwas weißes Blut rollte, in der Ursprache
mitgetheilt. Ich erhielt von ihm eine Interlinear-Ueber-
setzung des Textes, und nach dieser habe ich die Erzählung
redigirt. Der OkinLgcn - Fluß, an welchen! diese Indianer
wohnen, kommt aus dem britischen Territorium, wo er
einige Seen durchfließt, in nordsüdlicher Richtung nach dem
Washington Territorium (Vereinigte Staaten) herab und
vereinigt sich etwa unter dem 48. Breitengrade mit dem
Kolumbiaflnsse. Diese Indianer gehören zum Selischstamme
und sprechen eine dem eigentlichen Selisch im westlichen
Montana nahe verwandte Sprache. Wegen der starken
Konsonantenhäufnngen, die meist durch Vocal-Elision her-
vorgebracht werden, ist diese Sprache schwer zu Papier zu
bringen.
Der Gang obiger Erzählung ist im Ganzen leicht zu
fassen. Fast in allen Gegenden, wo der Coyote oder
Präriewolf häufig vorkommt, also im westlichen Nord-
amerika, wird er von den Indianern als Demiurg oder
Wcltenschöpfer betrachtet. So bei vielen Kaliforniern, so
auch bei den meisten Selischindianern. Was der eigentliche
Grund davon ist, darüber giebt cs verschiedene Vermuthun-
gen; jedenfalls hat aber sein nächtliches, klägliches Geheul
besonders während der Mondnächte etwas mit diesem Glau-
ben zu thun, und die angebliche Schlauheit dieses ameri-
kanischen Schakals kommt nur in zweiter Linie in Betracht.
Er wird auch als Wohlthäter der Menschen angesehen;
dennoch werden Bösewichter nach ihrem Tode gerade in
dieses Thier verwandelt. Das Stürmen des Himmels ist
ebenfalls eine in Mythen häufig vorkommende Vorstellung
und wir brauchen bloß an die Titanen und Giganten zu
erinnern. Auch der weise Vogel erscheint in den Mythen
europäischer Völker.
Schwierig ist aber dennoch die Deutung der einzelnen
Figuren für den wissenschaftlichen Mythologen. Die Idee,
daß das Himmelsgewölbe erstiegen werden soll, um Feuer
herabzuholen, ist prometheisch und deutet auf einen kos-
mischen Mythus. Das Feuer ist hinter dem Krystall-
gewölbe des Firmamentes verborgen, sonst könnten keine
Blitze daraus hervorzucken. Dies muß durchbohrt werden,
wenn das Feuer hervorgeholt werden soll, und zwar durch
Pfeile mit Steinspitzen. Nur ein starker Bogen kann
Pfeile so weit hinaufschnellen, und der größte Bogen ist die
Mondsichel. Der Tskan oder Tseskan-Vogel und der Prtt-
riewolf, die s i ch st c t s v e r f o l g e n und umzubringen suchen,
sind also Mond und Sonne. Der sterbende Mond ist der
Neumond, die todte Sonne ist die Sonne zur Zeit der Winter-
sonnenwende. Als Sonne ist der Präriewolf auch Schöpfer
des Alls und Wohlthäter des Menschengeschlechtes. Das
Fallen des Coyote in den Abgrund ist das Untergehen der
Sonne hinter Bergeshöhcn und Felsklippen. Die Thiere,
die den Himmel stürmen wollen, sind wohl die Wolken
oder eher die Konstellationen, weil diese häufig die Namen
von Jagdthieren tragen; die Idee der Himmelsleiter oder
Pfeilstraße wurde vermuthlich durch die Milchstraße oder
durch den Regenbogen angeregt. Das Wiederaufleben des
Coyote ist das Wärmerwerden der Sonne im Frühjahre;
das Spielen und Pfeilwerfen bezieht sich auf die Strahlen
des Mondes, die mit denen der Sonne nicht rivalisiren
können und daher nutzlos dahinfallen.
Die Idee des Erstürmens des Himmels mit Pfeilen
und Geschossen ist in Amerika nicht ganz isolirt; wir finden,
daß Moteuhzoma I., der fünfte Herrscher der Azteken in
Tcnochtillan, den Beinamen Illiuica mina trug, wörtlich:
„Der den Himmel (illlnicatl) Beschießende (mina).“
Der Vogel Tskan oder Tseskan ist eine Art Sperling
mit schwarzem Kopfe und weißen Flecken zu beiden Seiten
des Kopfes; im Frühjahre schreit er kitsena, kitsena. Er ist
in dortiger Gegend sehr gewöhnlich und die Zoologen iden-
tificiren ihn mit Zonotrichia intermedia. Weshalb er
als Träger dieses Mythus erscheint, ist mir nicht klar.
Der Umstand, daß bis jetzt noch so wenige Mythen
vom oberen Kolumbiaflnsse, von den Sahaptin- und Scho-
schonen-Jndianern bekannt geworden sind, erschwert die Deu-
tung dieses Mythus, denn man weiß kaum, was Haupt-
punkte und was bloß burleske Ausumluug ist. Sind
einmal Parallelen aus jener Gegend beigebracht, so wird
die Deutung leichter werden. Eine vortreffliche Parallele
besitzen wir indeß aus derselben Gegend und von demselben
Volke in der Thierfabel vom Präriewolfe (Little Wolf),
welche unter manchen anderen Dingen auch einen blutigen
Krieg beschreibt, welchen jener gegen den Grizzlybär führte.
Beide wurden von Alliirten aus verschiedenen Thicrgeschlech-
tern kräftig unterstützt, und das Ganze ist so burlesk wie
die Batrachomyomachie der Griechen. Der Präriewolf ist
auch dort Weltenschöpfer; er schafft den Spokane-Jndianern
zum Danke dafür, daß sie ihm ein Eheweib verschafft, die
Stromschnellen des Spokaneflusses. Stromschnellcn und
Fälle sind nämlich treffliche Stellen für den Fischfang,
von dem viele Jndiauerstämme des Westens fast ausschließ-
lich leben, und der Name der Spokane-Jndianer charakterisirt
dieselben als Sonnendiener, denn Spakane, Spokane heißt
in dortigen Dialekten Sonne. Diese Thierfabel erlangte
Kapitän Wilson von Herrn und Frau McDonald in Col-
ville und veröffentlichte sie in den Berichten der Londoner
„Ethnological Society" 1866, p. 306 — 322.
18*
140
K. Penka: Der physische Typus der heutigen Italiener.
Der physische Typus der heutigen Italiener.
Von K. Penka.
Bekanntlich hat es Prof. Calori in Bologna in einer
im Jahre 1878 erschienenen Abhandlung: „IM Tipo
brachicefalo negli Italiani odierni“ (Memoria pubbl.
negli Atti della Accademia delle scienze di Bologna,
Serie IIa, T. VIII) zu zeigen unternommen, in welchem
Verhältnisse zu einander der brachycephale und der dolicho-
cephale Schädeltypns in den verschiedenen Provinzen
Italiens sich verbreitet fünden. Aus Grund einer sorg-
fältigen Untersuchung von 200 Bologneser Schädeln und
von Messungen, die er an den Köpfen von mehr als
2 442 lebenden Personen vorgenommen, gelangte derselbe
zu dem Schlüsse, daß die beiden Typen nicht in gleichen
Verhältnissen in den verschiedenen Theilen des Landes ver-
treten seien, sondern daß ihre Vertheilung eine verschiedene
sei, daß in der einen Gegend der eine, in der anderen der
andere Typus das numerische Uebergewicht habe. So
herrsche die Brachycephalie in den nördlichen und mittleren
Theilen Italiens vor, trete jedoch vor der Dolichocephalie
zurück in der gegenwärtigen Provinz Rom, in dem früheren
Königreiche Neapel, sowie auf der Insel Sardinien.
Ueber diese Ergebnisse der Untersuchungen Calori's
bemerkt nun P. Nicolucci, der Altmeister der italieni-
schen Anthropologie und Professor dieser Wissenschaft an
der Universität in Neapel, in dem dritten, den physischen
Typus der heutigen Italiener behandelnden Abschnitte seiner
vor Kürzern veröffentlichten „Antropologia dell’ Italia
dell’evo antico et nel moderno“ (Memoria estratta
dagli Atti della R. Accademia delle scienze fisiche e
matematiche, Serie II, T. II, Napoli 1887), daß er die-
selben auf Grund seiner zahlreichen in den verschiedenen
Gegenden Italiens vorgenommenen Schädelmessnngen voll-
ständig bestätigen könne; nur Toscana mache eine Aus-
nahme, als daselbst die Brachycephalie in einer bemcrkens-
werthen Minderheit erscheine. Für die übrigen Theile der
Halbinsel blieben die von Calori erzielten Resultate un-
verändert, geringfügige Unterschiede ausgenommen, die
einerseits das Verhältniß des Cephal-Jndex, andererseits
die relativen Beziehungen der beiden Typen unter einander
betreffen. Für die neapolitanischen Provinzen und für
Sicilien, die Calori in eine einzige Kategorie zusammen-
gefaßt hatte, gelang es Nicolucci, hinreichende Mate-
rialien zu gewinnen, um auch für sie die Verhältnißzahlen
in Betreff des Vorkommens eines jeden Typus angeben
zu können. Ferner hat derselbe den dolichocephalen Typus
Calori's in zwei getheilt, den dolichocephalen und den meso-
cephalen, indem er in dem ersten Typus diejenigen
Schädel zusammenfaßte, bei denen der Cephal-Index die
Ziffer 75 nicht übersteigt, und in dem zweiten diejenigen
Schädel, deren Index die Ziffern von 75 ab bis 80 um-
faßt. Alle übrigen Schädel, deren Index höher ist als 80,
letztere Ziffer eingeschlossen, gehören ohne Unterschied in
die Klasse der Brachycephalen.
Aus eben diesen Messungen ergab sich, daß im Trentino,
in Piemont, in Venezien, in der Lombardei, in der Emilia, in
den Marken und in Umbrien der brachycephale Typus der vor-
herrschende ist, während umgekehrt in Toscana, in Latium, in
Campanien, im Beneventanischen, in den Fürstenthümern
(Avellino und Salerno), in den Abruzzen und in Molise, in
Apulien der mesocephale und endlich in der Basilicata, in Cala-
bricn, in Sicilien und in Sardinien der dolichoccphale Typus
am häufigsten vorkommt. Doch auch in den einzelnen Theilen
dieser drei Verbreitungsgebiete, in denen je ein Typus
vorherrschend ist, zeigen sich nicht unerhebliche Unterschiede.
Im Trentino ist der brachycephale Typus mit 84 Proc.
vertreten, in Piemont mit 77,47, in der Lombardei mit
70,09, in der Emilia, in den Marken und in Umbrien
mit 68 und 68,33 Proc. Eine ähnliche Erscheinung zeigt
das Verbreitungsgebiet des mesocephalen Typus. Während
in Toscana 51,96 Proc. der Gesammtbevölkerung ihm an-
gehören, fällt diese Ziffer in Latium auf 45,57, in
Campanien auf 44,92 Proc., um in Molise wiederum auf
48,44, in den beiden Fürstenthümern aus 46,79 und
47,67 Proc. zu steigen. Der dolichoccphale Typus umfaßt
in der Basilicata 81,23, in Calabrien 64,71, in Sicilien
72,75 und in Sardinien 75 Proc. der Bevölkerung.
Vergleicht man die Gesammtziffer der Italiener, welche
nach der Volkszählung vom Jahre 1881 mit Ausschluß des
Trentino sich auf 28 882 943 belief, mit der Gesammtzahl
der Menschen, die einem oder dem anderen der drei genannten
kraniologischen Typen angehören, so findet man, daß die
Brachycephalen 13 762 478, die Mesocephalen 8 577 629
und die Dolichocephalen 6 543 436 ausmachen, so daß also
die ersten 47,653, die zweiten 29,692 und die dritten
22,655 Proc. der Gesammtbevölkerung repräsentiren. Dar-
aus ersieht man deutlich, daß in Italien der brachycephale
Typus der vorherrschende ist, dem im weiten Abstande der
mesocephale und in noch weiterem der dolichoccphale folgen.
Haben wir in den dolichocephalen Mittel- und Süd-
italienern, Sicilianern und Sardiniern die Nachkommen
der Urbewohner Italiens zu erblicken, die mit den Iberern
des westlichen Europas und der hamitisch-berberischen Be-
völkerung Nord-Afrikas eine anthropologische Gruppe
bilden, die ihrerseits sich wieder auf das Engste der semitischen
Nasse anschließt, so ist die Brachycephalie der übrigen
Mittel- und der Norditaliener auf Rechnung turanischer
Einwanderer zu setzen, wie denn auch Nicolucci, der bereits
vor mehr als 20 Jahren in seiner Monographie über die
Ligurer den Typus dieser letzteren mit dem turanischen
idendificirt hat, auch jetzt wieder erklärt, an dieser Ansicht
festhalten zu müssen, in welcher er trotz der gegentheiligen
Ansicht Lombroso's und Sergi's durch neue und wieder-
holte Beobachtungen bestärkt worden sei.
Aus den von dem italienischen Kriegsministerium ver-
öffentlichten Berichten über die in dem Zeitraume von
1874 bis 1884 gemessenen Militärpflichtigen ergiebt sich,
daß die Körpergröße der italienischen Jünglinge im Alter
von 20 Jahren 1,626 m beträgt; allein da die Zunahme
der Körpergröße bis zum Ende des 30. Lebensjahres fort-
dauert und diese Zunahme auf ungefähr 18 mm geschätzt
werden darf, so kann die Statur der heutigen Italiener nach
ihrer vollständigen Entwickelung im Mittel aus 1,636 m
veranschlagt werden. Dieselbe ist jedoch nicht gleich in
allen Gegenden der Halbinsel, sondern in einigen höher, in
anderen wiederum niedriger. In Venezien, in der Lombardei,
in Toscana erreicht sie 1,660 m, in Sicilien und in Sardinien
kommt sie nicht über 1,620 und 1,600 m hinaus. Im
Allgemeinen zeigt sich, wenn man das übrige Italien in
zwei große Bezirke theilt, in einen nördlich und in einen
südlich vom Tiber, die Statur höher im ersten als im zweiten
Bezirke. Die Größe des vollständig entwickelten Mannes
Kürzere Mittheilungen.
141
beträgt im ersten im Mittel 1,650 m, im zweiten geht sie
von 1,640 m bis auf 1,630 m herab. Die Gegenden, in
denen die mittlere Statur der Männer 1,640 m erreicht,
sind Latium, Campanien, das Herzogthum Benevent, die
Abruzzen; die Gegenden mit einer mittleren Statur von
1,630 m sind die übrigen continentaleu Provinzen des ehe-
maligen Königreichs Neapel.
In ganz Italien herrscht die bräunliche Hautfarbe
vor, doch fehlt keineswegs die weiße; dieselbe kommt häufiger
in Ober- als in Mittelitalien vor. Dann erscheint sie
wieder einigermaßen häufiger in Latium, in Campanien, im
Herzogthum Benevent, in den Fürstenthümern, in den Abruzzen
und in Apulien, um wieder weniger allgemein zu werden in der
Basilicata, in Calabrien, Sicilien und Sardinien. Im All-
gemeinen ist die weiße Hautfarbe durch ungefähr 30 Proc.
der Gesammtbevölkerung vertreten; allein von 44 Proc. in
Piemont, Ligurien und in der Lombardei fällt dieselbe auf
29 Proc. in der Emilia, auf 27 Proc. in den Marken und
in Umbrien und auf 16 Proc. in Toscana, um wieder auf
20 Proc. in Latium, auf 23 Proc. in Campanien, den
Fürstenthümern, im Herzogthume Benevent, in Molise und
auf 29 Proc. in den Abruzzen und in Apulien zu steigen
und hierauf neuerdings auf 25 Proc. in Sicilien, auf
20 Proc. in der Basilicata und in Calabrien, und auf
einen noch geringeren Procentsatz in Sardinien herab zu
steigen.
Die vorherrschende Farbe der Haare ist die braune,
die sich bald der blonden, bald der schwarzen nähert, hierauf
die schwarze und zuletzt die blonde, welche im Durchschnitt
für ganz Italien auf 7,5 Proc. geschätzt werden kann. In
Bcnezien giebt es die größte Zahl von Blonden, nach Ve-
nezien kommt die Lombardei und das Beueventauifche. In
Farbe der Haare:
Blonde Proc. Braune Proc. S ch w a r z e Proc.
Venezien 26 59 15
Piemont 16 47 37
Lombardei 12 58 30
Emilia 3 55 42
Umbrien nnd Marken 2 52 46
Toscana 6 53 41
Latinm 5 55 40
Campanien 7 55 38
Herzogth. Benevent 8 55 37
Fürstenth. Avellino 5 60 35
Fürstenth. Salerno 7 55 38
Molise 6 57 37
Abruzzen 6 56 38
Apulien 6 51 43
Basilicata 6 44 50
Calabrien 4 44 52
Sicilien 5 36 59
Sardinien 1 18 81
Es beträgt also die Zahl der Braunhaarigen 50,8 Proc., die der Schwarz-
haarigen 41,7 Proc. und die der Blondhaarigen 7,5 Proc.
Mittel-Italien giebt es keinen Ort, in dem sich das blonde
Haar in bedeutender Menge zeigt, allein nichts desto weniger
giebt es Gemeinden, in denen dasselbe relativ ziemlich häufig
auftritt. Schwarze Haare finden sich am häufigsten in
Umbrien, in der Basilicata, in Calabrien, in Sicilien, am
seltensten jedoch sieht man dieselben in Venezien.
Farbe der Augen. Die blauen Augen sind überall,
wenn auch in einem verschiedenen Verhältnisse, vertreten.
Die größte Zahl derselben findet sich in der Lombardei und
in Piemont und vor allem in Venezien, wo ihre Zahl
auf 28 Proc. veranschlagt werden kann, während in
der Lombardei und in Piemont dieselbe 16 Proc. nicht über-
schreitet.
Farbe der Augen:
Schwarze Proc. Braune Proc. Gräne Proc. Blaue Proc.
Venezien 5 45 22 28
Piemont 20 23 41 16
Lombardei 25 39 20 16
Emilia........ 31 00 4 5
Umbrien und Marken . . 32 65 3
Toscana 34 62 4
Latinm 31 66
Campanien 29 60
Herzogth. Benevent . . . 29 65 6
Füritenth. Avellino . . . 28 67
Fürstenth. Salerno . . . 26 71 3
Molise 23 72 5
Abruzzen 22 73 5
Apulien 20 69 5
Basilicata 37 60 3
Calabrien 32 65 3
Sicilien 29 65 6
Sardinien 40 59 — 1
Es beträgt also die Zahl der Schwarzäugigen 27,72 Proc., die der
Braunäugigen 60,50 Proc., die der Grauäugigen 4,83 Proc. und die der
Blauäugigen 6,95 Proc.
Wie aus allen diesen Ziffern hervorgeht, haben sich von
dem eigentlich arischen Elemente, wie es einst durch die
umbrisch-sabellisch-lateinischen Stämme, durch die Gallier
und später durch einige germanische Völker vertreten war, nur
noch schwache Spuren in dem physischen Typus der heutigen
j Italiener erhalten, wie denn auch Nicolucci nur in dem
gelegentlichen Vorkomnien eines kräftig entwickelten Körper-
baues in Forli, Ravenna und in dem benachbarten Lugo,
in der Form der Nase und bestimmten Zügen der Gesichts-
bildung, wie man sie bei einigen Individuen in der Lombar-
dei, in dem Herzogthum Benevent und in anderen Theilen
Italiens findet, in der hohen Statur und in der mehr oder-
weniger blonden Complexion eines Theils des sicilianischen
Adels die einzigen Spuren der einstigen Anwesenheit der
Ostgothen, Langobarden und Normannen in Italien erkennen
zu können glaubt. Italien liefert wohl, wie kein zweites
Land der Erde, den deutlichen Beweis, daß die arische Rasse
früher oder später, aber jedenfalls sicher, dem Einflüsse des
warmen Klimas unterliegt.
Kürzere Mi
Mittheilungen über den Tobn-See auf Sumatra.
E. M. Seit längerer Zeit schon besitzen lvir über diesen
Sec, der in mancher Hinsicht so lange ein Räthsel geblieben,
Mittheilungen von solchen Personen, die das Glück gehabt,
den ausgedehnten Wasserspiegel aus nächster Nähe zu erschauen,
und Einzelne von ihnen haben auf Grund ihrer eigenen
Beobachtung Kartenskizzen veröffentlicht, bei deren Be-
urtheilung allerdings der Hauptnachdruck ans den zweiten
Theil der eben gebrauchten Zusammensetzung gelegt werden muß.
theil ungen.
Auch der Bericht über die zweite, im December 1883
nach Central-Sumatra unternommene Reise des Dr. B. Hagen
enthält Mittheilungen über den See und ist von Karten und
Zeichunngen, welche denselben zum Gegenstand haben, be-
gleitet; der Werth der Mittheilungen wird noch durch zwei
Nachträge erhöht, deren einer, von dem bekannten Bergingenieur
Dr. R. D. M. Verbeek verfaßt, Bemerkungen über die
wahrscheinliche Geschichte des Sees enthält, während der
zweite, der Feder des Oberstlieutenant F. C. E. Meyer ent-
stammend, einige Worte über die Karte des Toba-Sces
142
Aus allen Erdtheilen.
beifügt. Wir erlauben uns zunächst beide Mittheilungen
hier in: Auszug folgen zu lassen, um danach etwas näher
hervorzuheben, in welcher Hinsicht auf kartographischen: Gebiete
hierdurch ein Fortschritt zu verzeichnen ist. .
Aus dem Panorama des Sees scheint sich zu ergeben,
daß die Toba-Jnsel ans einem oder mehreren neben einander
liegenden Vulkanen besteht, deren westlicher Abhang mit sanfter
Neigung bis zum Fuße des Pusuk Bukit fortläuft, während
der östliche thcilweise durch Einsturz verschwunden ist —
wodurch die Straße von Si Gaol gebildet wurde — theilweise
aber an der Ostseite des Sees seine Fortsetzung findet. Der
Pusuk Bukit muß jüngerer Entstehung sein als die Bildung
des Sees, da der steile Bruchrand hinter diesem Berge fort-
läuft. Aber dieser Bruchraud läuft um den ganzen See
herum, und so ist es wahrscheinlich, daß der ganze Einsturz
von: Nordrande bis zum Südrande des gegenwärtigen Sees
auf einmal stattfand, welche Vertiefung sich allmählich mit
Wasser füllte und so den See bildete.
Dieser Einsturz liegt, wie aus der neueren Karte des
Sees hervorgeht, in der Längenachse Sumatras, ebenso wie
derjenige des Sinkarah-Sees im Padangschen Hochlande. Der
Toba-See war in seiner ursprünglichen Gestalt diesen: See
auch überaus ähnlich, nur waren die Dimensionen viermal
größer. Die Frage, ob der Einsturz des Toba-Sees ganz
in jung vulkanischem oder theilweise vielleicht in älterem
Terrain liegt, kann ohne geologische Untersuchung der
Umgebung des Sees nicht beantwortet werden.
An der Stelle der gegenwärtigen Toba-Jnsel fanden später
in: See selbst neue Eruptionen statt, wodurch die kleinere
Hälfte des Sees mit vulkanischen Produkten ausgefüllt wurde.
Der südliche Theil des Sees war mit dem nördlichen nur
durch eine schmale Straße verbunden, da wo jetzt der Vulkan
Pusuk Bukit liegt. In noch jüngerer Zeit stürzten die
Vulkane der Toba-Jnsel an der Ostseite theilweise ein; nahe
an der Westspitze im See bildete sich ein neuer Vulkan, der
Pupnk Bukit, welcher seine Produkte westlich bis zum See-
ufer, östlich bis zum Fuße der Toba-Jnsel auswarf. Hier-
durch erhielt der See die Gestalt, welche er jetzt noch besitzt.
Aus den: Bericht des Oberstlieutenant Meyer ergiebt sich,
daß die Karten Dr. Hagen's sich enge an die im Jahre 1883
im Maßstab von 1 : 200 000 durch das topographische
Bureau veröffentlichte Karte der Ostküste von Sumatra an-
schließen. Seither hat nun die militärische Aufnahme in den
ersten Monaten des Jahres 1885 militärischer Zwecke halber
den Weg von Siboga bis Laguboti mit Meßkette und Theodolit-
bussole vermessen und bei dieser Gelegenheit auch den Umriß
der südlichen Hälfte des Toba-Sees so genau wie möglich
bestimmt. Die Resultate dieser Arbeit, sowie einiger älterer
stüchtiger Aufnahmen sind bereits früher (im December 1885)
im Maßstabe von 1:100 000 zu Batavia veröffentlicht worden.
Aus diesen verschiedenen Angaben ist nun eine der Arbeit
des Dr. B. Hagen beigegebene Karte im Maßstab von
1 : 500 000 zusammengestellt worden. Hierbei waren nur
Siboga und Tandjung Sibunga-Bunga, deren geographische
Lage bekannt ist, als feste Punkte gegeben; die erwähnte Skizze
kann daher selbstverständlich keinen Anspruch auf Genauigkeit
machen. So lange die Battaländer nicht triangulirt sind,
ist die genaue Lage des Toba-Sees, ebensowenig wie seine
wahre Größe, zu ermitteln. Indessen haben die jüngsten
Aufnahmen in den nördlichen und südlichen Battaläudern
jedenfalls gezeigt, daß der Toba-See in der Längenachse
Sumatras liegt und daß er viel größer ist, als bisher an-
genommen wurde.
Wir fügen dieser Mittheilung eine vergleichende Uebersicht
der früher und jetzt veröffentlichten, den See betreffenden
Angaben bei.
Es beträgt nach
Sillen: (Aardr. genoots. HD Hagen (Petcrm. Mittheilg. 1883) Atlas von niederl. Indien (1886) H a g e n (in Tijdschr. Batav. Ge- noots. 1886)
Der Brcitcnnnterschied de« nördlichen und südlichen Spitze ca 10' 9' 13' 35'
Der Längenunterschied der östlichen nnd westlichen Spitze ca 15' 13' 22' 39'
Azimuts der großen Achse (von 9t durch O) ca. . 300° 315» 320»
Das Verhältniß der kleinen zur großen Achse ea. 1 : 1,7 bis 1 : 2,0 1 : 2,0 1 : 3,0
Obwohl diese Angaben nur approximativ sind, werden
sie doch genügen, um zu zeigen, welche Veränderungen die
Gestalt und Abinessungen des Sees auf den verschiedenen
Karten erlitten haben.
Aus allen
Europa.
— Die Zahl der Reisenkarten für den Harz, deren sichere
Grurrdlage seit etwa 20 Jahren durch die Vollendung der
preußischen Aufnahme in größestem Maßstabe gegeben ist,
wird abermals vermehrt durch eine soeben vorn Verlage vor:
C. Mayer in Hannover ausgegebene „Neueste Karte vom Harz,
von C. Diercke und E. Gaebler, Maßstab 1 : 200 000",
lichte Breite 62 cm (in W das Leinethal der Länge nach noch
eben durchschneidend, statt es ganz aufzunehmen, in O bis
Bernburg reichend), Höhe 36 cm vom Hay-Wald über Halber-
stadt in N bis Sondershausen in S. — Wir können in den:
sonst zierlich ausgeführten Blatte keinen Vorzug vor ähnlichen
Karten entdecken; der Zeichner hat sich die Arbeit zu leicht
gemacht, theils zu viel gegeben in dem dichten Netze aller in
der Originalaufnahme eingetragenen Fahrwege, aus deren
Gewirr der Reisende sich oft schwer herausfinden möchte und
E r d t h e i l e n.
von denen eine Anzahl nach dem gegenwärtigen Zustande
vielmehr als Chausseen zu bezeichnen gewesen wären —
andererseits zu wenig, namentlich in den: vielfach sehr un-
vollständigen Flußnetze; so fehlt z. B. ein öfters recht wasser-
reiches Flüßchen, wie die von Stolberg gegen Kelbra herab-
fließende Thyra mit ihren Nebenbächen gänzlich. Ueberhaupt
ist das ganze Hügelland zwischen Wipper und Helme, das die
SO-Ecke der Karte füllt, ohne alle Bezeichnung des fließenden
Wassers gelassen, nicht minder die Gegend von Gernrode
und Ballenstedt! Selbst Namen so viel besuchter Punkte,
wie die Lauenburg und Georgshöhe bei Stecklenberg, Weiße
Hirsch bei Treseburg, Mägdetrappe, Gehege bei Nordhausen u. a.
werden vermißt, ebenso die Signaturen zu den ein-
getragenen Namen Schnarcher, Stubenberg, Burgberg bei
Harzburg, von denen der Unkundige schwer errathen sollte,
wohin sie gehören; ebenso wie das Wernigeroder Schloß hätten
die von Ballenstedt und Stolberg durch besondere Signaturen
Aus allen Erdtheilen.
143
ihrer Lage nach kenntlich gemacht werden müssen. Das in
geschummerter Crayon-Manier lithographirte Terrain giebt
eben nur den Totaleffekt wieder und auch nicht ohne Mängel
(wie denn z. B. die niederen nordwestlichen Vorberge über
Seesen und Langelsheim stärker erscheinen, als die wirklich
höchsten Rücken des Oberharzes), reicht aber für die Orientirung
des Fußreisenden nicht aus, und statt der elegant aussehenden,
aber materiell überflüssigen rothen Ausfüllung der Ortszeichen
würde vielmehr im Interesse des Reisenden eine Bezeichnung
der Waldregion durch einen Farbenton unerläßlich ge-
funden werden. Die meisten dieser Mängel werden sich in
einer zweiten Austage fürs nächste Jahr beseitigen lassen,
nicht weniger die zur Benutzung möglichst unpraktische äußere
Ausstattung (doppelt gebrochen von oben nach unten mit
überflüssig breitem weißem Papierrande) und der für das Ge-
leistete unverhültnißmäßig hohe Preis von 3 Mark!
Asien.
— Kaum von seiner zweiten Reise in Südarabien (siehe
„Globus", Bd. 48, S. 31) zurückgekehrt, schickt sich, wie der
„Allgem. Ztg." aus Prag gemeldet wird, der bekannte öster-
reichische Forschungsreisende Herr Eduard Glaser von neuem
an, Europa zu verlassen und sein so glänzend^begonnenes Werk,
die Erforschung Südarabiens, allmählich zu Ende zu führen.
Das Ziel, welches sich der Reisende zu diesem neuen Unter-
nehmen, bei welchem er wieder ans seine eigenen Mittel an-
gewiesen ist, gesteckt hat, ist die Erforschung des östlichen und
nördlichen Theiles des sabäischen Reiches, dann das Gebiet
des wichtigen Wadi ed-Davnsir und des nördlichen Sernt-
Gebirges bis Syrien. Man sieht, daß die Aufgabe, welche
sich der Reisende gestellt hat, keine geringe ist, da sich seine
neue Forschungsreise nahezu über ganz Arabien erstrecken
und Länder berühren soll, die vorher nie besucht wurden
und nur vom Hörensagen bekannt sind. In Anbetracht der
bekannten Energie und Ausdauer des Reisenden ist aber zu
hoffen, daß seine Pläne sich verwirklichen werden, namentlich
wenn derselbe, wie wir ihm von Herzen wünschen möchten,
einen Gönner fände, der ihn auch materiell unterstützte.
— Zu Anfang dieses Jahres erhielten wir die ersten Nach-
richten über eine höchst wichtige Forschungsreise, die ein
indischer Vcrwaltungsbeamter, Herr A.D. Carey aus Bombay,
auf eigene Kosten nach Ost türkest an und Tibet unter-
nommen hat. Rach näheren jetzt vorliegenden Mittheilungen
verließ Carey Indien im Mai 1885, durchzog zunächst die
Landschaft Ladak in Kaschmir und wandte sich von hier
ostwärts nach dem Mangtsa-See. Hierauf zog er nord-
wärts und betrat bei Kiria die tnrkestanische Ebene, hierbei
500 km weite Gebiete durchwandernd, die vordem nie
ein Europäer betreten hatte. In Chotan traf Carey
Prshewalski's Leute, den Reisenden selbst jedoch nicht, da
dieser nach Aksu aufgebrochen war. Von Chotan aus durch-
zog Carey, theilweise unter Benutzung der Route Prshe-
walski's, am Chotan- und Tarim-Flusse entlang die Wüste
und erreichte Kutscha. Von hier wurde wieder dem Laufe
des Tarim gefolgt, um dann nach Kurla und Karaschar ab-
zubiegen und die Karawane zu ergänzen. Von hier erreichte
man wieder den Tarim und folgte ihm bis zum Lob-Noor.
Nach der Ueberwinterung in Tschaklik, einem Dorfe südlich
vom See, überschritt Carey den Altyn- und Tschamen-tag und
gelangte an den Kuen-lun, nach dessen Ueberschreiten er den
Ma-tschu, den Quellfluß des Jangtse-kiang erreichte. Diesem
ein Stück folgend, wurde Carey durch Futtermangel gezwungen,
umzukehren. Er überschritt den Kuen-lun und machte in:
Zaidam-Gebietc von dem Orte Gollo aus eine interessante
Rundreise. Im Herbst 1886 überstieg er wieder den Kuen-
lun, erreichte Urum-tsi, die Hauptstadt von Chinesisch-Turkestan,
und begab sich von hier nach Jarkand, nur endlich Ende
April d. I. wieder in Leh, der Hauptstadt von Ladak, anzu-
kommen. Mit Spannung können wir daher den ausführ-
lichen Reiseberichten Carey's entgegensehen, da sie Manches
enthalten werden, was die epochemachenden Forschungen Prshe-
walski's und des Pnnditen A-k erweitern oder ergänzen kann.
— Das von anderen Fürsten Borneos gegebene Beispiel,
die Niederlassung von Europäern in ihrem Gebiete zu be-
günstigen, scheint auch den Sultan von Sambas an der
Westküste dazu gebracht zu haben, mit Genehmigung der
Regierung dem Puhliknm die Pacht von Ländereien anzu-
bieten. Per Bau, 500 rheinl. Quadratruthen, beträgt die
Pachtsumme 1 Gulden, im ersten Jahre wird nur y5 bezahlt
und in den folgenden Jahren die Summe um je x/5 erhöht,
bis vom fünften Jahre an der volle Zins bezahlt wird. Längs
der Flußufer muß ein wenigstens 25 Faden breiter Streifen
Landes unbenutzt bleiben, das dort wachsende Holz darf nicht
gefällt werden und nur die Anlage von Verbindungswegen
nach dem Flusfe ist erlaubt. Die Einfuhr von freien Ar-
beitern aus anderen Ländern ist erlaubt.
Afrika.
— Arg hat das Klima in der letzten Zeit unter der
Expedition der deutsch-o st afrikanischen Ge-
sellschaft gehaust: dieselbe verlor nicht weniger als vier
Mitglieder, den Premierlieutenant a. D. Rechenb erg,
welcher Vorsteher der Station Dnnda war, den Zollamts-
assisienten Schöneb nrg, den Baumeister Simm er er
und den mit Vorstudien für Eisenbahnen betrauten Eisen-
bahnbaumeister Wolsf. Von allen soll nur S immer er
einem älteren Leiden erlegen sein. Wer wagt dem gegen-
über noch Dr. Fisch er's Warnungen vor dem ostafrikani-
schen Klima entgegenzutreten?
— Eine Privatexpedition nach dem Kilimandscharo
hat der durch seine Weltreise und besonders seine Studien
auf den Philippinen bekannte Dr. Hans Meyer, der
Sohn des Besitzers des bibliographischen Instituts in Leipzig,
unternommen; derselbe ist bereits in Zanzibar eingetroffen.
— Nachrichten aus Brüssel berichten von neuen Kämpfen
am Congo. Hiernach wurde Ende Mai die Faktorei des
Antwerpener Hauses de Roubaix, welche auf der Congo-Jnscl
Mataba, unweit Boma, sich befindet, angegriffen und nur
durch die Hilfe des Gouverneurs von Boma, der mit 200
Mann herbeieilte, die feindlichen Negerstämme zurückgetrieben.
Diese Nachrichten sind sehr überraschend, indem sie zeigen,
daß auch die im Mündungsgebiete des Congo wohnenden
Negerstämme von feindlichen Absichten gegen die Weißen
beseelt sind und ebenso der Angriff auf eine große Faktorei an-
gesichts der Station Boma, der größten nach Banana, auf eine
sehr bedenkliche Kühnheit jener Negerstämme schließen läßt.
Die Nachrichten sind privater Natur, sind aber von dem
Hanse de Roubaix nicht dementirt worden.
— Lieut. Wißmann, welcher am 16. November 1886
von Lulnaburg nach Norden aufbrach (vergl. „Globus",
Bd. 51, S. 272), ist im April in der Missionsstation
Kawala auf einer Insel des Tanganika-Sees ein-
getroffen; der Brief, in welchein er dies meldet, ist aber so
kurz, daß er nichts über seinen Weg oder seine Entdeckungen
enthält. Seitdem hat er Mozambique passirt und
wurde am 20. August auf seiner Rückreise nach Europa in
Zanzibar erwartet.
— Rev. T. I. Co mb er, der Vorsteher der englischen
Baptistenmission im Congogebiete, ist in Leopoldville dem
Klima erlegen. Um die Erforschung Afrikas hat sich derselbe
nicht unbedeutende Verdienste erworben: so nmwanderte und
bestieg er 1877 das Kamerungebirge, erforschte 1880 die
Umgegend von San Salvador und erreichte als Erster das
144
Aus allen Erdtheilen.
Zombo-Platean, gründete dann mehrere Stationen am unteren
Congo ititb befuhr 1884 in Gemeinschaft mit Grenfell im
Dampfer „Peace" den unteren Cuango und den Congo bis
zum Baugala-Lande.
— Die von Zanzibar aus verbreitete Nachricht von Stan-
ley's Tode, welche vielfach Glauben gefunden hat, wird
jetzt von den verschiedensten Seiten dementirt; König Leopold
selbst erklärte sie in Ostende für eine plumpe Erfindung, und
ein Gleiches that die Regierung und das Brüsseler Syndikat,
welches die Expedition ausgesaudt hat. Noch am 18. August
sind Briefe von Stanley in London eingetroffen, wonach er
sich am 19. Juni wohlbehalten in J ambuja an den Wasser-
fällen des Arnwimi (25v 8' 45" östl. L., 1° nördl. Br.)
befand; wäre er selbst unmittelbar darauf ermordet worden,
so könnte die Nachricht davon nicht vor November nach Zan-
zibar gelangen — der beste Beweis, daß dieselbe erfunden
ist. — Stanley's Flotille ist, wie wir nachtragen, nach ziemlich
schneller Fahrt am 28. Mai au der Mündung des Arnwimi
oder Bijerre in den Congo angelangt. Schon am 2. Juni
brach Stanley dann mit fünf Europäern und 380 Mann
nach Wadelai auf, während der Rest seiner Mannschaft unter
Befehl eines Officiers an der Aruwimi-Mündung in einem
Lager zurückblieb. Dorthin sollte daun auch der sofort
unlkehrende Dampfer „Stanley" alsbald die am Stanley-
Pool zurückgelassenen Borräthe und die in Bolobo gebliebenen
Mannschaften nachführen. Mitte Juni etwa hatte Stanley
die Wasserfälle oder Stromschnellcn des Arnwimi erreicht,
welche er mittels der beiden Dampfer „Peace" und „Henry
Reed" zu passiren gedenkt; überhaupt will er so weit als
möglich, zuletzt in Booten, ans dein Flusse vordringen und
erst bei zwingender Nothwendigkeit den Landmarsch antreten.
Erweisen sich die Stromschnellen als unpassirbar, so sollen
die beiden Dampfer nach dem Lager an der Äruwimi-Mündung
zurückkehren und den Nachschub von Leuten und Proviant
besorgen. Stanley hofft, zu Anfang August mit Emin-
Pascha zusammenzutreffen. Letzterer wollte nach den neuesten,
von Ende Februar datirenden Nachrichten Ende Mürz eine
Reise nach Süden antreten und den von ihm entdeckten Fluß
Kakibbi südlich vom Albert -Njanza erforschen, mithin, ohne
es zu wissen, seiner Entsatz-Expedition entgegen gehen.
— Lient. Kund hat sich Mitte August von Hamburg
nach Kamerun begeben, um dort in Bafo die geplante
wissenschaftliche Station (vergl. „Globus", Bd. 51, S. 336)
311 errichten; ihm werden sein früherer Reisebegleiter Lient.
Tappenbeck, der Botaniker Braun, der Zoologe Dr.
Weißenborn und der Marinearzt Dr. Grotriau folgen.
Die Station soll zugleich als Stützpunkt für Exkursionen und
für die Erforschung des Hinterlandes der Kolonie dienen.
Südamerika.
— Mr. W. I. Steains ist im Juni aus Brasilien
zurückgekehrt, wo er lange unter den Botoenden gelebt
und Daten iiber dieses noch wenig bekannte Volk gesammelt
hat; er bringt auch au 200 Schädel von demselben mit.
— Mariano Felipe Paz Soldan, der peruanische
Geograph und Staatsmann, geboren am 22. August 1821
in Arequipa, ist am 31. December 1886 in Lima gestorben.
Er studirte in Lima das Recht, wurde 1844 Richter in
Caxamarca und beschäftigte sich viel mit der Gefängnißfrage,
bereiste zu diesem Zwecke die Vereinigten Staaten und leitete
1856 bis 1862 den Ban des vortrefflichen Gefängnisses in
Lima. Später machte er sich als Minister der öffentlichen
Arbeiten und des Unterrichtes vielfach um sein Land verdient.
Seine Muße widmete er der Geographie; er veröffentlichte
1861 seine „Geografia del Peru“, 1865 in Paris den
„Atlas Geographico del Peru“, die Grundlage für alle
kartographischen Darstellungen des Landes, und 1877 sein
geographisch-statistisches Lexikon von Peru. Auch war er
Vorsitzender der Kommission zur Festsetzung der Grenzen
Perus und rief 1879 die „Revista Peruana“ ins Leben,
die aber bald in Folge des Krieges mit Chile einging. Am
17. Januar 1881 rückten die Chilenen in Lima ein und
hausten ganz entsetzlich in den Sammlungen der alten San
Marcos-Universität und der Bibliothek. Paz Soldan fiüchtete
nach Buenos Aires, wo er sofort eine Professur erhielt, an
einem geographischen Lexikon der Argentinischen Republik
arbeitete und die Geschichte des Krieges mit Chile schrieb.
In sein Vaterland zurückgekehrt, fand er dasselbe so herunter-
gekommen und so viel von seiner Lebensarbeit vernichtet,
daß er in Wahrheit am gebrochenen Herzen starb.
Vermischtes.
— In seiner Eröffnungsrede bei der Jahresversammlung
des „Anthropological Institute of Great Britain and
Ireland“ am 25. Januar d. I. macht Francis Galton
einen sehr beachtenswerthen Vorschlag zur Bekämpfung der
schädlichen Einflüsse des Tropenklimas. Ebenso gut wie
wir durch zweckmäßige Heizvorrichtungen die Kälte unschädlich
machen und dem Südländer selbst in den unwirthlichsten
Gegenden einen dauernden Aufenthalt ohne Schaden für seine
Gesundheit ermöglichen, muß es auch möglich sein, im Süden
die Luft innerhalb der Häuser und besonders innerhalb der
Schlafräume soweit abzukühlen, daß ein erquickender Schlaf
möglich ist, und sie gleichzeitig von einem Theil der über-
mäßigen Feuchtigkeit zu befreien. Die Technik ist in der
Anfertigung der Eismaschinen soweit vorgeschritten, daß man
im heißesten Tropenklima Eis zu billigem Preise herstellen
kann. Die Fleischtransportschiffe, welche das frische Fleisch
aus Australien durch die Tropen in gefrorenem Zustande
nach England bringen, haben den Beweis geliefert, daß man
kalte Räume in den Tropen ganz nach Belieben herstellen
kann; die Einrichtung von Gebläsen, durch welche abgekühlte
und zugleich trockene Luft in die Zimmer geführt wird, unter-
liegt technisch nicht den geringsten Schwierigkeiten, es handelt
sich also ausschließlich nur um den Kostenpunkt. Nach Galton's
genauen Berechnungen würde eine Tonne Eis ausreichen,
um ein geräumiges Schlafzimmer 14 Nächte hindurch ans
15 bis 160R. abzukühlen, bei centralisirtem Betriebe würde
der Verbrauch noch viel geringer sein; eine Tonne Eis ließe
sich aber in Indien für höchstens 30 Schilling herstellen.
Das sind also Kosten, welche gegenüber den sonstigen Aus-
gaben bei der Ausstattung eines comfortablen indischen Hauses
nicht ins Gewicht fallen und welche durch die erhöhte Ar-
beitsfähigkeit und verlängerte Diensttauglichkeit der Beamten
und den Wegfall kostspieliger Erholungsreisen mehr als aus-
gewogen werden. Bei der Stellung, welche Galion in der
englischen Wissenschaft einnimmt, wird seine Anregung schwerlich
ungehört verhallen und es steht zu hoffen, daß wir bald über
die ersten Versuche mit der „negativen Heizung" werden
berichten können.
Inhalt: Prof. L. v. Loczy: Das chinesisch-tibetanische Grenzgebiet der Provinz Sz'-shwan. (Mit fünf Abbildungen.) —
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas. I. — Albert S. Gats che t: Der Tskan-Vogel. — K. Penkn: Der
physische Typus der heutigen Italiener. — Kürzere Mittheilungen: Mittheilungen über den Toba-See auf Sumatra. —
Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika. — Vermischtes. (Schluß der Redaction am 13. August 1887.)
Hierzu eine Beilage der Herd er Äschen Verlagshandlnng in Freibnrg.
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Die Araber an den Stanley-Fällen des Conga.
Von Oscar Baumann, Mitglied der Oesterreichischen Congo-Expedition.
sDie Abbildungen nach Skizzen des Reisenden.^
Zu jenen merkwürdigen Punkten, welche durch ihre Völker eine Rolle zu spielen, gehört gewiß auch das Land
geographische Lage schon bestimmt erscheinen, im Leben der am siebenten Katarakt der Stanley-Fälle. Die lange,
Station des Congo-Staatcs. Wagenia-Dörfer. Nsaki's Dorf. Arabische Niederlassung. Wagenia-Dorf.
Der siebente Katarakt der Stanley-Fälle.
schiffbare Strecke des oberen Congo endet plötzlich: zwischen ! mächtige Strom in schäumendem Falle von einer höheren
steilen Ufern rothen Sandsteines stürzt sich der immer noch j Stufe des centralafrikanischen Plateaus. Das Herz Afrikas
Globus 011. Nr. 10. 19
146
Oscar Baumann: Die Araber an den Stanley-Fallen des Congo.
ist erreicht, die sansibaritischcn Araber haben hier ihre
östlichste größere Niederlassung, und bis vor Kurzem hatte
auch die weiße Rasse in der Station des Congostaates am
siebenten Katarakte ihren äußersten Vorposten. Die Zer-
Nsaki's Dorf an den Stanley-Fällen.
Arabische Niederlassung an den Stanley-Fällen des Congo.
störnng dieser Station im Augnst 1886, sowie Stanley's
neuere Verhandlungen haben unlängst wieder die Auf-
merksamkeit Europas auf diese Araber, besonders aber ans
ihren großen Anführer Hamed bin Mohamed, Tippo Tip,
Oscar Baumann: Die Araber an den Stanley-Fällen des Congo.
147
gelenkt. Denn mögen auch in Niba-Riba und Njangwe,
sowie weiter im Osten andere arabische Händler es zu
unabhängiger Machtstellung gebracht haben, am siebenten
Katarakte ist Tippo Tip der einzige, unumschränkte Gebieter.
Für diese ostafrikanischen Sklaven- und Elfenbein-Händler
ist die Bezeichnung „Araber" eigentlich zu allgemein. Nur
wenige unter ihnen rühmen sich reiner Abstammung ans
Maskat und sprechen geläufig arabisch; viele, darunter
Tippo Tip selbst, haben hauptsächlich Negerblnt in ihren
Adern und bedienen sich aus-
schließlich der Kiswahili-
Sprache. Alle Anführer je-
doch sind ihrem Glauben und
ihren Sitten nach streng-
gläubige Mohammedaner.
Unter ihnen stehen Hunderte
von Soldaten und Sklaven,
welche den mannigfaltigsten
Stämmen Ostafrikas ent-
stammen : von den sansibari-
tischen Halbmohammedanern
bis zu den Vertretern wilder
Stämme des Inneren, welche,
kaum selbst unterjocht, das
Percussionsgewehr ergreifen
und als Söldlinge ihrer ara-
bischen Zwingherren gegen
Stammesgenosscn zu Felde
ziehen. Dieses wilde Raub-
gesindel , welches nur die
eiserne Hand ihrer Gebieter
im Zaume zu halten ver-
mag, nennen die Eingebore-
nen Matamatamba, und
schon beim bloßen Ausspre-
chen dieses Namens blicken
sie sich scheu nach allen Sei-
ten um.
Schon als Stanley zum
ersten Male Njangwe be-
suchte, hatten die Araber ihre
Raubzüge nach Sklaven und
Elfenbein bis in das Lomami-
Gebiet im südlichen Congo-
becken ausgedehnt. Ohne es
zu ahnen, bahnte der kühne
Forscher selbst ihnen den Weg
nach den Stanley - Fällen.
Als er 1883 den Congo
wieder aufwärts fuhr, fand
er schon oberhalb des Aru-
wimi Spuren der arabischen
Thätigkeit, und bei Kidsingi-
tini, wie die Sansibaris den
Katarakt nennen, waren Nie-
derlassungen Tippo Tip's zu
sehen. Dieselben haben sich
seither vermehrt und ver-
größert; sie haben die Ufer des Festlandes besetzt und ließen
der Station des Congostaates nur eine große Insel in:
Strome als Domäne. In diesen Niederlassungen machen
nicht nur die Araber und Sansibariten in ihren blendend
weißen Burnussen und die reinlichen Sklaven und Sklavinnen
einen guten Eindruck, sondern auch die flüchtig aber zweck-
mäßig gebauten Lehmhäuser, die schönen Reisfelder und
Kulturen, sowie das Vieh stechen grell von den elenden Dör-
fern der eingeborenen Wagenia ab.
Eingeborener vom Stamme der Wageuia.
(Rarbenverziernng im Gesicht; Elfenbeinklvtz in der Oberlippe; Knoten in der
Ohrmuschel; reicher Haarwuchs mit abrasirte» Rändern; Armband ans Bast-
geflecht; Dblchmesser mit Holzscheide an einem Lederband; Schurz aus Rinden-
stoff ; Speerspitze in einer Korbschcide.)
Es ist dies ein Stamm, welcher von Njangwe ab die
Ufer des Congo bewohnt und fast keinen Ackerbau, sondern
nur Fischfang betreibt. Selbst in den wüthendsten Fällen
und Stromschnellen sind ihre Fischreusen angebracht und
am Wasser, im Kanoe ist ihr wahres Element. Ihre großen
Kanoes sind auch das Beste ihrer Habe. Von den beiden
Plattformen ans steuern sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit
das Boot durch den reißenden Strom, während die Ehe-
gattin unter dem schirmenden Blütterdache das Mittagsmahl
kocht oder die Fische räu-
chert. Die Wageuia sind
den Arabern als Fährleute
unentbehrlich und werden des-
halb gut von denselben be-
handelt, selbst ihre Waffen,
das kurze an der Schulter
hängende Dolchmesser und
der klafterlange Speer dürfen
ungehindert von ihnen getra-
gen werden. Die Wageuia
sind kräftige, untersetzte Bur-
schen mit kurzen Beinen, mit
Elfenbeinklötzen in der Ober-
lippe und Narbenverzierun-
gen. Gleich den Dualla in
Kamerun verstehen sie es,
mittels Trommelsignale sich
auf große Distanzen zu ver-
ständigen.
Außer den Arabern und
Wagenia weilten bis vor
Kurzem auch einige Europäer
als Vertreter des Congo-
staatcs am siebenten Kata-
rakte, welche, mit ihren
schwarzen Arbeitern oft sechs
bis sieben Monate von jedem
Verkehr abgeschnitten, ein be-
schauliches Dasein führten.
Ihre Stellung den Herren
des Landes, den Arabern,
gegenüber, war stets, eine
schwierige, doch haben bis-
her alle Stationsleiter es
verstanden, mit denselben
auszukommen, um so eher,
als von Seite Tippo Tip's
ihnen großes Entgegenkom-
men gezeigt wurde. Erst zu-
letzt fand sich ein englischer
Haudegen, welcher in zweifel-
haftem Humanitütseifer und
trotz seiner gänzlichen Ohn-
macht der arabischen Haupt-
institution , der Sklaverei,
Opposition machen wollte.
Die nothwendige Folge trat
ein: die Station wurde von
den Arabern erobert. Da ich mehrere Monate das Vorgehen
des Chefs der Station mit angesehen habe, so kann ich mit
Sicherheit behaupten, daß nur dessen Benehmen die Feindschaft
und den Angriff der Araber herausforderte. Man hat de»
letzteren mehrere fernliegende Gründe, z. B. ein Einver-
ständuiß mit den Sudan-Arabern, zugeschrieben; diese Behaup-
tung ist aber völlig haltlos: den Leuten Tippo Tip's fehlt
jeder Zusammenhang mit den Arabern am oberen Nil.
Zwar ist ihnen ans iudirectem Wege, meist über Sansibar
19*
148
Oscar Baumann: Die Araber an den Stanley-Fällen des Congo.
oder Uganda, Nachricht von den Arabern Masrs (Aegyptens)
und ihren Kriegen mit den Engländern zugekommen, doch
kann man als sicher annehmen, daß weder ein Sansibarit
jemals den Nil, noch ein Sudan-Araber jemals den Congo
ans directem Wege erreicht habe. Letzterem scheint ein Ans-
spruch Stanley's zu widersprechen, welchem die Basoko mit-
theilten, daß sie einst von einer ans dem Norden Aruwimis
abwärts kommenden arabischen Raubschaar überfallen wor-
den wären. Dies erklärt sich jedoch dadurch, daß Tippo
Tip, nachdem er die Stanley-Fälle überwunden, eine Ab-
theilung direct nach dem Norden entsandte, welche den
oberen Aruwimi erreichte, stromabwärts befuhr und die
Dörfer der Basoko plünderte.
Eines freilich ist den Arabern der Ostküste und des
Sudan gemeinsam, Raubzüge nach Elfenbein und Sklaven
bilden ihre fast ausschließliche Beschäftigung. Dennoch
Boot der Wagenia mit Blätterdach.
glaube ich, daß die ersteren besser geartet sind. Fanatismus
fehlt ihnen fast gänzlich; zwar sind sie selbst Mohammedaner,
doch bemühen sie sich kaum, Proselyten zu machen. Nicht
nur die Eingeborenen, sondern auch ihre Leute, die Mata-
matambas, können ihre heidnischen Gebräuche nach Herzens-
lust ausüben und täglich kann man in den arabischen La-
gern den religiösen Hocuspocus der Manyema-Sklaven
mit ansehen.
Die Behandlung der Sklaven ist für Centralafrika
keineswegs grausam; bei jedem Raubzuge fällt auch ihnen
ein Gewinnstantheil zu, und unter der Leitung der erfahrenen
sansibaritischen Landwirthe leben die meisten in größerem
Wohlstände, als ihre nominell freien Stammesgenossen.
Auch gegen WeißeAhaben die Araber sich stets freundlich
bewiesen, so langeZdieselben ihnen nicht offene Opposition
machten. Und diese ist ihrer ungeheuren Macht gegenüber-
vollständig zwecklos ; einzig durch kluges, diplomatisches Vor-
gehen kann vielleicht nach und nach erreicht werden, daß die
Araber wenigstens den schiffbaren Congo mit ihren Raub-
zügen verschonen. Diese Erwägung war es wohl auch,
Ruder der Wagenia, von mehr als Manneslänge.
welche Stanley zu dem kühnen Entschlüsse veranlaßte, den
Rüuberhauptmann zum Polizeidirector, Tippo Tip zum
Chef der Division Stanley-Falls zu machen.
Es ist dies ein Experiment; ob dessen Resultat ein
günstiges sein wird, ist von der Zukunft zu erwarten.
Jedenfalls wird die Station am siebenten Katarakte mit
directer Beihilfe Tippo Tip's in verschönerter und ver-
größerter Gestalt wieder erstehen. Reisvorräthe werden
den Congo abwärts wandern, vielleicht auch ein Theil des
Elfenbeines der Westküste zu Gute kommen. Daß jedoch
der Sklavenhandel und die Raubzüge deshalb enden werden,
ist natürlich nicht anzunehmen. Dennoch ist dieser Compro-
miß zwischen Arabern und Weißen nicht zu verachten; es giebt
uns die Hoffnung, daß mit der Zeit doch die beiderseitigen
Interessen in Einklang zu bringen und der Zwiespalt
zwischen Morgen- und Abendländern, zwischen Islam und
Christenthum an den Stanley-Fällen zu friedlicherer Lösung
gelangen werde als in Chartum.
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
149
Zur Kenntniß Venezuelas.
Von Dr. W. Sievcrs.
II.
Da einmal von Eisenbahnen die Rede ist, so mag hier
gleich bemerkt werden, daß bis 1883 nur eine Eisenbahn
in Venezuela existirte, nämlich von den Kupfergrnben von
Aroa nach dem Hafen Tucacas, eine schmalspurige, wesent-
lich zunl Erztransport eingerichtete Bahn, welche aber doch
dazu beigetragen hat, den Staat Lara (Barquisimeto) aus-
zuschließen; denn die Waaren von Barquisimeto nach Puerto
Eabcllo, Caracas, Valencia re. gehen jetzt alle über Aroa
Tucacas, namentlich seitdem die Fahrstraße Aroa —
Dnaca—Barquisimeto fertig ist. Auf dieser beginnt man
jetzt mit der Fortsetzung der Bahn von Aroa (La Luz) nach
Barquisimeto.
1883 wurde die großartige Gebirgsbahn Carllcas-
La Guaira eingeweiht, welche in ungeheuren Schlangen-
linien zum Passe von Tacagua-Catia oberhalb Caracas sich
hinaufwindet, und infolge der kolossalen Zersetzung und
Verwitterung der Gneiß- und Glimmerschiefer-Schichten
andauernd, namentlich in der Regenzeit, mit Erdrutschen zu
kämpfen hat; eine Reihe von Tunnels durchbrechen den
Berg, und obwohl die Steigung an vielen Stellen enorm
ist, so wird doch mit größter Geschwindigkeit gefahren, ohne
daß jedoch bis jetzt ein ernster Unfall vorgekommen wäre.
Bald darauf wurde die kleine Eisenbahn von Caracas
nach El Balle, einem Dorfe südlich der Stadt in der dort
liegenden Berglandschaft, welches hier und da zur Sommer-
frische benutzt wird, angelegt; indeß wirft dieselbe so geringe
Erträge ab, daß von der Einstellung des Betriebes die
Rede war. Gebaut wurde ferner an der Bahn von Cara-
cas nach Antlmano, einem Flecken im SW der Hauptstadt,
woselbst der Präsident große Besitzungen hat. Dieser Ban
wurde aber langeZeit, 1884 bis 1886, eingestellt, und erst
neuerdings wieder begonnen. Im Ban begriffen sind ferner
die Eisenbahnen von Rio Chico nach dem Hafen Carenero,
von Puerto Cabello nach Valencia, auf welcher Strecke die
Lokomotive Mitte August schon bis nach Las Triucheras ge-
langen sollte und auch von Gnacipati am Orinoco nach den
Goldminen El Callao am Puruari. Endlich wird auch die
Cordillere ihre erste Eisenbahn von La Ceiba, einem Hafen
am Maracaibo-See, nach Sabana de Mendoza haben,
während Colombia schon seit langer Zeit an der Eisenbahn
Cucnta-Pncrto Viüamizar baut, dieselbe aber erst Anfang
dieses Jahres zu Stande brachte, da die Revolution von 1885
dazwischen trat. Im Projekt existiren ferner noch die er-
wähnte Bahn Valencia—Victoria—Santa Lucia, ferner die
Strecke Puerto Cabello — Rio Paracni — Buria—Agua
Blanca zur Ausbeutung der Phosphat-, Salpeter- und
Guano-Lager von Agua Blanca bei Acarigua, mehrere in
der Cordillere, sowie neuerdings eine Bahn Caracas, Teques,
Victoria, Südnfer des Sees von Valencia, nach den Llanos
von San Carlos. Im Allgemeinen kann man sagen, daß
Venezuela ans dem besten Wege ist, die Anfänge eines
Eisenbahnnetzes, welche bisher gemacht sind, zu vervollstän-
digen.
Der Südrand des Valencia-Sees besitzt keine Fahr-
straße und überhaupt keinen Verkehr, da die Berge schroff
an den See herantreten und die Anlegung eines Weges
erschweren. Dagegen setzt sich westlich von Valencia die
Fahrstraße fort, allerdings erst seit wenigen Jahren. Und
zwar geht dieselbe bis Nirgna und benutzt die eigenthümlichen
Becken, welche sich zwischen der nördlichen Hanptkette und
ihrer südlich angelagerten Nebenkette befinden. In diesen
Becken liegen die aufblühenden Städte Miranda und Bc-
jnma sowie etwas nördlich davon Montalban. Namentlich
Miranda macht einen vorzüglichen Eindruck, ist gut und ge-
räumig gebaut, zeigt überall die Frische der Neuheit und
ziemlich viel Leben. Zahlreiche Flüsse, meist jedoch von
geringer Tiefe, durchziehen diese Bergketten, welche nicht be-
sonders hoch sind. Bei Nirgna ist dann so zu sagen die
Welt mit Brettern vernagelt; nur trostlose Saumpfade
führen über das Gebirge Santa Maria nach dem lachenden
Paracui. Diese Landschaft ist eingekeilt zwischen dem Ab-
bruch des Karibischen Gebirges und dem Berglande von
San Felipe, trägt eine Anzahl kleiner Städte und gehört
landschaftlich wegen der Frische der Felder, dem Dunkel der
Wälder und dem blühenden Ackerbau zu den schönsten des
Landes.
Hier finden wir Fahrstraßen erst wieder bei Paritagua,
so daß zwischen Nirgna und s2)aritagita eine große Lücke
klafft. Wäre hier ein Fahrweg angelegt, so hätten wir
eine ununterbrochene Fahrstraße von Caracas bis Tocuyo.
Der Grund, weshalb zwischen Nirgna und Mritagua keine
Verbindung besteht, obwohl es leicht wäre, einen guten Weg
anzulegen, da es sich nur darum handeln würde, den Rio
Nirgna abwärts eine Straße zubauen, worauf dann in den
Sabancn ein Weg hergestellt werden könnte, liegt darin,
daß eben die Eisenbahn Tucacas—Aroa existirt, so daß Rei-
sende und Waaren, die von Caracas nach Barquisimeto
gehen, den Seeweg und die Eisenbahn vorziehen. Zwar könnte
man auch zu Lande von San Felipe nach Puerto Cabello
reisen, allein wegen der häufigen und verderblichen Fieber
an dieser Küste wählt man fast ausschließlich den Seeweg.
Von Paritagua nach Barquisimeto führt ein Fahrweg und
ein solcher ist auch nach dem Süden hin zu benutzen,
wenigstens können Karren, nicht aber Kutschen, von Bar-
quisimeto nach Acarigua und Araure gelangen, und zwar
durch die Boca del Llano bei Sarare.
In Acarigua trifft diese Fahrstraße dann ans diejenige,
welche von Pao und San Carlos über San Rafael westlich
zieht und sich am Nordrande der Llanos über Ospino nach
Gnanare fortgesetzt, wo sie endet.
Von Barquisimeto zieht auch eine Fahrstraße nach
Tocuyo und erreicht hier den äußersten westlichsten Punkt.
Westlich von Tocuyo beginnen bereits die Vorberge der
Cordillere, und die gewaltigen Paramos von Agua de Obispo
und Carache setzen hier allen derartigen Bestrebungen einen
vorläufig unüberwindlichen Damm entgegen.
Dadurch dokumentirt sich ebenfalls die isolirte Stellung
der Cordillere, daß es in derselben durchaus gar keine Fahr-
straßen giebt. Zwischen Tocuyo und Cücuta in Colombia
befindet sich nicht eine einzige. Allerdings ist es richtig,
daß die gebirgige Natur der Cordillere die Herstellung
guter Straßen erschwert, allein es giebt doch Strecken
genug, welche mit solchen versehen werden könnten. Die
Route Trujillo—Valera z. B., eine der Hauptstraßen der
Cordillere, könnte ohne große Mühe in eine Fahrstraße
verwandelt werden; denn sie benutzt das hinreichend weite
150
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
Thal des Rio Caftán und dann die flache Mesa von San
Rafael de Carbajal. Unter Zuhilfenahme einer Brücke bei
diesem letzteren Orte über den Matatán und Herstellung
eines leidlichen Aufstieges auf die Mesa wäre es nicht
schwierig, einen Karrenweg zu schaffen und von Valera
aus würde es ebenfalls wenig Mühe machen, zum Anschluß
an die Eisenbahn bei Sabana de Mendoza zu gelangen.
Auch könnte der Rio Motatán benutzt werden, welcher bei
San Gonzalo schiffbar wird.
Sogar in der inneren Cordillere giebt es Strecken,
welche ohne große Schwierigkeit zu Fahrstraßen umgewandelt
werden könnten; so ist z. B. das Chamathal von Merida
bis Mucnchies und darüber hinaus breit genug und völlig
frei von Durchbrüchen; auch steigt es nicht sehr schroff an.
Vor allem aber könnte Merida mit Ejido durch eine Fahr-
straße verbunden werden, und es ist in der That schon
ohne jegliche Vorarbeit möglich, mit Karren auf der Mesa
de Merida zu fahren. Als jedoch ein gewisser Briceño,
welcher Kaffeepflanznngcn bei La Punta westlich von Merida
besitzt, eines Tages einen Karren kommen ließ, um seinen
Kaffee nach der Stadt zu fahren, verbot die Polizei dies,
da der Karren allzu viel Lärm in den Straßen Meridas
mache und die betenden Frauen störe.
Ebenfalls ist es unbegreiflich, weshalb nicht zwischen
den beiden volkreichen Orten San Cristóbal und Táriba
im Táchira eine derartige Verbindung hergestellt wird; allein
bisher ist nicht einmal eine Brücke über den Rio Torbcs
geschlagen worden, obwohl der Fluß in der Regenzeit oftmals
Tage laug das Reisen verhindert. Mit Brücken sieht es
überhaupt in der Cordillere recht spärlich aus. Colombia
ist in dieser Beziehung weiter fortgeschritten, insofern im
Staate Santander über fast alle kleinen Flüsse zwischen
Cuenta, Pamplona, Arboledas, Salazar gute Brücken ge-
spannt sind. In der Venezolanischen Cordillere aber finden
wir weit weniger derselben; gleich der Grenzfluß, der Rio
Táchira, hat an der wichtigen Uebergangsstelle bei San
Antonio nur eine für Fußgänger zu passirende Brücke; an
der Quebrada Gonzalez zwischen Ejido und Lagunillas
bleiben Reisende in der Regenzeit oft Stunden lang liegen,
da der Gebirgsbach zu reißend ist, um das Ueberschreiten
zu gestatten. Die Brücke über den Chama bei Lagunillas
war lange Zeit in baufälligem Zustande und stürzte endlich
Anfang Juni 1885 zusammen, so daß ich die elende Brücke
bei Chiguará benutzen mußte, auf welcher man nicht sicher
ist, ob nicht jeden Augenblick das ganze haltlose Machwerk
zusammenstürzt. Bei Merida selbst giebt es Brücken und
ebenfalls solche bei Ejido, wo sie gar nicht sehr nothwendig
sind. Die Brücke über den Motatán bei Valera ist eine
der gefährlicheren ihrer Gattung. Im Karibischen Gebirge
befindet sich dagegen eine größere Anzahl von Brücken, aber
in den Llanos ist wieder gar nicht davon die Rede, so daß
die Ueberschreitung auch der kleineren Flüsse der Llanos in
der Regenzeit eine höchst unerfreuliche Sache ist. Die
größeren passirt man im Canoe, die Maulthiere dahinter
schwimmend.
Es ist nun natürlich, daß durch diese Abgeschlossenheit
der Cordillere auch Unterschiede in der Bevölkerung
gegenüber den Centralstaaten hervortreten. Zunächst war
schon die Mischung der Einwanderer mit den Indianer-
stämmen insofern eine andere, als die Stämme der Cordillere
stark von denjenigen des Ostens differirten. Letztere waren
Kariben und vielleicht Arowaken, erstere dürften zu dem
großen Volke der Chibchas gehört haben. Die Kariben,
Chaymas, Cumanagotes und andere Stämme des Ostens
vertheidigten ihre Unabhängigkeit zum Theil bis auf das
Aeußerste; die Bewohner der Cordillere aber ließen sich
friedlich unterwerfen; daher kommt es, daß die Indianer
in dem Staate Los Andes noch in weit größerer Zahl sich
erhalten haben als in irgend einem anderen Theile Vene-
zuelas nördlich des Orinoco.
Sodann fehlen in der Cordillere die Neger fast völlig;
nur in den heißen Thälern trifft man sie; in Folge dessen
war denn auch die Vermischung der Spanier und Indianer
mit Negern äußerst gering, und es scheint, daß sich die
Indianer noch schwerer mit Negern vermischen als die
Europäer und Weißen überhaupt.
Daraus entwickelt sich denn ein ganz bestimmter Typus,
welcher von demjenigen der Bevölkerung des Ostens abweicht.
Als ich zum ersten Male plötzlich mitten in die Cordillere
hinein versetzt wurde, glaubte ich fast in einem anderen
Lande zu sein. Namentlich die Trachten sind cs auch,
welche ganz fremdartig berühren. Die Frauen tragen
große schwarze Tücher um den Kopf, welche nach hinten
weit hinabreichen; in Pregonero fand ich auch helle Farben
dazu verwendet. Die Männer tragen die ruana, einen
kleinen Mantel, mit einem Loche, durch das man den Kopf
steckt, davon ist im Osten nirgends die Rede.
Aber auch in der Cordillere selbst finden sich Unterschiede,
und zwar ist hier der Gebirgsknoten von Mucnchies der
Scheidepnnkt in den Sitten der Bevölkerung, ebenso wie er
geologisch und orographisch sowie hydrographisch eine
Trennungslinie bildet. Dieses ist ein für das Verständniß
der Sitten der venezolanischen Cordillere so wichtiger, bisher
aber von Niemandem berührter Punkt, daß ich eine Zeit
lang dabei verweilen muß.
Das Gebirgsland von Mucnchies mit den gewaltigen
Gipfeln des Pan de Azúcar und der Schneekette von Santo
Domingo übt hier in weit höherem Grade die Funktion
der Trennung zweier Landestheile ans, als der Paß diejenige
der Verbindung derselben; erst seit relativ kurzer Zeit bahnt
der Paß eine Annäherung der West- und Osthälfte der
Cordillere an.
Politisch war derselbe von jeher, wenn auch nicht Haar-
schars, so doch ziemlich genau, die Grenze zwischen der
östlichen spanischen Provinz Trujillo und der westlichen
spanischen Provinz Merida; nur fünf zu Merida gehörige
Ortschaften liegen östlich des Passes. Die republikanische
Verfassung hat diese Eintheilung bestehen lassen und unter-
schied später den Staat Trujillo und den Staat Merida,
sowie den 1856 davon abgezweigten Staat Táchira, den
äußersten Westen des Landes.
Seit 1882 führt das gesummte Cordilleren-Gebiet den
Namen des Staates Los Andes, gliedert sich aber in drei
Sektionen, Trujillo, Guzmán und Táchira, welche genau
den früheren Staaten Trujillo, Merida und T-lchira ent-
sprechen.
Von diesen drei Theilen haben gewöhnlich Merida und
Táchira in einem gewissen Gegensatze zu Trujillo gestanden;
mehrfach haben Kämpfe zwischen diesen Staaten stattgefunden,
und seit der Gründung des großen Staates Los Andes ist
diese Erscheinung in noch höherem Maße hervorgetreten,
indem Trujillo mit Merida-Táchira um die Oberherrschaft
des Staates und die Besetzung der Aemter in endlosem
Streite liegt.
Sieht man näher zu, so findet sich, daß dieser Gegensatz
ganz wohl begründet ist in dem Contrast der Sitten. Der
Westen des Staates Los Andes, also Merida und Táchira,
ist nämlich entschieden mehr colombianisch als venezolanisch
in Sitten und Gebräuchen, während Trujillo, der Osten,
entschieden nach den Centralstaaten Venezuelas gravitirt.
Der Westen ist besser zugänglich von Colombia ans
als von Venezuela. Um von Pamplona und Cücnta, den
Grenzstädten Colombias, nach Merida zu kommen, hat man
nur zwei relativ niedrige Páramos zu übersteigen, von
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
151
denen der Zumbador nur 2600 in, der Portachuelo an
3200 in Höhe hat; beide sind auch nicht lang, ersterer etwa x/z,
letzterer */4 Stunde; auch liegen sie zwischen größeren Ort-
schaften und besitzen relativ gute Wege, so daß selbst für
Jemanden, der des Reifens im Gebirge wenig kundig ist,
diese Pässe keine sonderliche Schwierigkeit bilden können.
So drangen die Sitten der östlichen Staaten Colombias,
namentlich von Santander, leicht in die Cordillere von
Merida hinein; auch kirchlich stand früher ein Theil des
Tächira unter dem colombianischcn Bischof von Pamplona.
Andererseits drang die Kultur von Caracas und Va-
lencia über Maracaibo zur See, über Bargnisimeto und
Tocuyo zu Lande gegen Trujillo vor und erfüllte diesen
Staat mit allen den Einrichtungen und Gegenständen,
welche in den centralen Staaten Venezuelas gang und
gäbe sind.
Beide Einflüsse aber machten Halt vor dem gewaltigen
Onerriegel des Hochgebirges um Mucuchies. Weder
drangen die colombianischcn Sitten nach Trujillo vor, noch
auch vermochten die venezolanischen Sitten nach Merida
und Tächira zu gelangen. Die Unwirthlichkeit des
10 Stunden langen Hochgebirgswcgcs zwischen Timotes
und Mucuchies setzte allen Bestrebungen, über diese Scheide
zu dringen, einen Damm entgegen; denn feiten unternahm
man früher Reisen von einem Landestheil in den anderen,
und nur die Heereszüge der Spanier und der Unabhüngigkeits-
streiter, sowie die kleinen Heerhaufcn der später sich befehden-
den Parteien überschritten den Paß. Reisende kamen
wenige durch und noch jetzt kennen selbst die feinen Familien
Trujillos fast nichts von dem Westen, und ebenso findet
man im Tächira und Merida nicht gerade viele Leute,
die in Trujillo gewesen wären.
Seitdem nun die Regierung vor einigen Jahren einen
wirklich guten Weg über den Paß hat herstellen lassen,
gehen mehr Waarenzüge über denselben, wodurch sich auch
die Stadt Valera in Trujillo neuerdings beträchtlich ge-
hoben hat, da sic den Durchgangsverkehr zwischen Mara-
caibo und den Häfen des Maracaibosees nach Trujillo und
jetzt auch nach Merida vermittelt, welches letztere früher
nicht der Fall war.
Der ganze Charakter des Volkes ist im Westen ein ganz
anderer als im Osten; man kann dies kurz dahin zusammen-
fassen, daß die Bevölkerung im Westen sich noch in primi-
tiveren Sitten erhalten hat, als in Trujillo. Hier ist
moderne Caracäsbildung schon mehr in die besseren Kreise
eingedrungen. Die Sprache unterscheidet sich stark durch
gewisse Provinzialismen; Lebensrnittel werden anders be-
nannt. So z. B. trinkt man im Tächira häufig agua de
miel, d. h. Honigwasser; cs ist dies der süße, aufgekochte,
syrnpartige Zuckerrohrsaft, welcher häufig an Stelle des
Kaffees nach dem Essen gereicht wird. Dieser Name ist
in Trujillo völlig unbekannt.
Ich erwähne ferner, daß es eine bestimmte Form von
Sätteln giebt, welche colombiauische Sättel genannt werden,
sehr groß sind, zum Anlehnen des Rückens beim Bergauf-
stieg hinten eine Art Lehne und zum Festhalten beim Ab-
stieg eine Art Horn auf dem Sattelknopf haben, welches
häufig versilbert, zuweilen sogar von gediegenem Silber-
ist. Diese Sättel kennt man in Trujillo nicht; dort hat
man schon die leichtere kleinere Form der Sättel, wie sic
in den Centralstaateu Venezuelas und auch von den größten
Dandys in Caracas benutzt wird.
Auch die übrige Reiseausrüstung im Westen ist ab-
weichend von der in Trujillo; ich erwähne nur der ge-
waltigen Reithosen aus Löwenfell, welche Zamarros heißen
und im Tächira und Merida von allen feinen Leuten ge-
tragen werden. Riesige Sporen mit Rädern, die bis 2 orn
im Durchschnitt haben, werden daran befestigt, fchuhförmige
Steigbügel aus Messing sind allgemein Sitte. Dazu trägt
man den hohen, feinen, bis zu 120 Mark kostenden colom-
bianischen Strohhut und über die Schultern wirft man die
ruana, eine kurze mantelförmige Decke mit einem Loche zum
Hineinstecken des Kopfes.
Käme man in solchem Reitkostüm, welches im Westen
gerade von den wohlhabenden Klassen getragen wird, mit
den Zamarros, Sporen, Sattclausrüstung, Strohhut und
ruana ncid) Trujillo, so würde alle Welt lachen und sagen:
„ose hombre parece granadino,“ „das scheint einer aus
Neu-Granada zu fein“, was ungefähr so viel sagen will,
als wenn man hier hört: „Sie sind wohl aus Hinter-
pommern!?"
Als weiteren kleinen, aber sehr augenfälligen Unter-
schied will ich anführen, daß die Maulthicre in Trujillo
Glocken führen, wodurch ein Maulthicrzug schon von
Weitem angekündigt wird, während sie im Westen nichts
derartiges haben; allerdings weichen die trujillanischen
Arrieros dann auf engen Wegen auch nicht aus, während
dieselben in Merida und Tächira, soweit es irgend geht,
dem Reisenden Platz machen. Ueberhaupt muß ich offen
gestehen, daß, obwohl Trujillo in manchen kulturellen Dingen
schon etwas weiter vorgeschritten ist, doch die Bewohner des
Westens mir angenehmere Eindrücke hinterlassen haben,
vielleicht eben weil sie ihre Sitten noch etwas ursprüng-
licher erhalten haben. Niemals ist es mir im Westen vor-
gekommen, daß ich von einem Hause abgewiesen worden
wäre, wenn ich um Nachtquartier bat; in Trujillo und
allerdings auch im eigentlichen Colombia geschah mir das
mehr als einmal. Die Aufnahme auf dem Lande in
Trujillo ist weniger herzlich als im Westen; es ist richtig,
daß in Trujillo schon mehr auf äußere Formen gesehen,
namentlich mehr auf Kleidung gegeben wird als in Merida,
daß es dort Leute giebt, welche stets, auch Mittags, den
Nock anbehalten und stets einen Hemdkragen tragen; worin
man in Merida weniger genau ist; allein ganz besonders
das niedrige Volk, mit dem man doch so viel zu thun hat,
die Knechte, Landarbeiter, Burschen, sind in Trujillo viel
roher, unzuverlässiger und namentlich unfreundlicher als
im Westen; es liegt das ausschließlich in der Naturanlage,
ebenso wie es keine genügende Erklärung dafür giebt, daß
die trujillanischen Kaffeesorten schlechter sind als die me-
ridenser. Man nimmt ja gern mit Wenigem vorlieb, wenn
es einem nur mit freundlichem Gesicht gereicht wird,
und dieses fehlt niemals im Westen, zuweilen aber schon
auf dem Laude in Trujillo, mehr noch in Bargnisimeto; im
Allgemeinen muß ich allerdings sagen, daß die Leute sich
bestrebten, mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich
zu machen, und ich kann das nur dankbar anerkennen.
Das Klima der höheren Theile der Cordillere ist für
die Negerrasse schon zu kühl; wir finden dieselbe aber
in größerer Anzahl in den heißen Niederungen, z. B. in
Cucuta, auch in San Cristobal, Valera und auf den Ab-
hängen der Cordillere nach dem Maracaibosee und den
Llanos.
Dagegen hat sich in den kühleren Regionen des Ge-
birges die indianische Nasse noch ziemlich rein erhalten.
Namentlich um die Stadt Mucuchies herum, dann aber
auch südlich der Sierra Nevada-Kette, nach den Llanos zu,
finden sich noch zahlreiche reine Typen, und im Dorfe
El Morro zählt man noch mit den indianischen Zahl-
worten. Neste der Sprachen der, wie stets, in eine Unzahl
von Stämmen und Stämmchen aufgelösten früheren
indianischen Bevölkerung haben sich erhalten; doch ist noch
nicht sicher, ob sie zu den colombianischcn Chibchas ge-
rechnet werden muß oder nicht. Ein sehr großer Theil
152
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
der Ortsnamen ist noch indianisch und hat die an die
Stelle derselben gesetzten spanischen Namen wieder ver-
drängt. So sagt man niemals Santiago -de Leon, sondern
Caracas, um gleich die Hauptstadt als Beispiel anzuführen.
Táriba, Lobatera, Capacho, Timotes, Escuque, Tononö,
Boconü. u. s. w. sind indianische Ortsnamen; eigenthüm-
lich sind die vielen mit Mucu oder Moco beginnenden
Namen, von denen der der Stadt Mucuchies am bekannte-
sten ist; andere sind Mucuchachi, Mucupati, Mucusóz,
Mucutarai, Mucnties, Mucusurü u. s. w. Der Haupt-
stamm, welcher zur Zeit der Eroberung des Landes in
der Cordillere von Aterida saß, scheinen die Timotes ge-
wesen zu sein, nach den Forschungen des Herrn Lares in
Merida; andere Stämme sind die Mucuchachi, Escuquey,
Tiguiñoes, Mucurübaes, Quinaroes, Mucuchies, Guara-
gnes u. a.
Alterthümer sind nur wenige vorhanden; fast nur bei
Boconó, in der Cordillere von Trujillo und der die Llanos
begrenzenden Kette finden sich in Kalksteinhöhlen und zwischen
dem Gerölle des Quarzsandsteins, augenscheinlich versteckt,
Idole, Götzen in geringer Zahl, ferner eigenthümliche ans
Glimmerschiefer, Thonschiefer und serpentinisirenden Ge-
steinen hergestellte 72 m lange und bis 14 cm breite,
wenige Millimeter dünne Platten von eigenthümlicher Form,
welche oben mit je zwei kleinen Löchern versehen sind und
wahrscheinlich um den Hals gehangen wurden. Diese
Sachen, welche ich dem Berliner Museum für Völkerkunde
überwiesen habe, sind bisher völlig unbekannt, erinnern
aber weniger an Chibcha-, als an mexikanische Formen.
Begräbnißplütze sind selten; nur einmal gelang es mir,
an der Grenze Colombias gegen Venezuela, bei Las Pla-
nadas mit Tächirafluß eine Grabstätte auf einem Hügel zu
untersuchen, aus welcher ich sechs Schädel und eine Anzahl
Knochen entnehmen konnte.
Fremde leben in der Cordillere nicht sehr viele, abge-
sehen von den Italienern, welche sehr zahlreich sind. Die-
selben haben sich besonders in Trujillo niedergelassen und
daselbst den Handel an sich gerissen. Namentlich verdankt
die Stadt Balera den Italienern ihr Aufblühen; man be-
hauptet, daß fast die Hälfte der Einwohner Valeras Ita-
liener sind oder doch Nachkommen von Italienern und
Venezolanerinnen. Auch in Trujillo selbst, in Mendoza,
Plazuela, Betijoque, Escuque leben viele. In Carache und
Boconó sind einige der größeren Kaufleute Italiener und
auch auf dem Lande sitzen viele und pflanzen Kaffee,
Cacao u. s. w. Die Stimmung der einheimischen Be-
völkerung ist den Italienern nicht sehr günstig, so daß ich
sogar einmal den harten Ausdruck hörte, sie seien wie ein
Heuschreckenschwarm. Denn sie leben während ihrer An-
wesenheit im Lande zwar selbst äußerst schlecht und be-
gnügen sich mit den elendesten Mahlzeiten, saugen aber die
Bevölkerung geradezu ans, und nachdem sie ein paar tausend
Thaler zusammengebracht haben, gehen sie in die Heimath
zurück, wo sie denn in ihren Dörfern gut leben. Es bleibt
infolge dessen das Geld nicht im Lande, und da die Italiener,
wie bemerkt, während ihrer Anwesenheit in Venezuela ganz
besonders schlecht leben, so hat die Bevölkerung durchaus
keinen Vortheil, sondern nur Nachtheil davon. Ich selbst
muß sagen, daß ich meistens von den Italienern freundlich,
zum Theil sogar, wenn es feine Leute waren, was selten
ist, ganz vorzüglich aufgenommen worden bin, da ich als
Landsmann betrachtet wurde, d. h. als Europäer. Am
allerwenigsten beliebt sind die Corseti, da sie auch hier für
händelsüchtig, jähzornig und zu Verschwörungen geneigt gelten.
Deutsche wohnen in der Cordillere nur wenige, einer
in Tovar, zwei in Balera, mehrere in San Cristobal und
zuweilen einer in San Antonio del Tàchira. In letzteren
beiden Städten führen sie ein ganz wohl erträgliches Leben,
da ihrer eine größere Zahl zuweilen zusammen kommt und
die große Stadt Cücuta leicht zu erreichen ist; dagegen
sind diejenigen in Tovar und Balera sehr isolirt und
namentlich in letzterem Orte möchte der Aufenthalt wohl
etwas trostlos sein, während in der kleinen Gcbirgsstadt
Tovar die schöne Umgebung, die Abwechslung in derselben
und die Liebenswürdigkeit der Bewohner in gewisser Weise
entschädigt.
Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
I.
Nachdem Jakobsen von seinem Besuche bei den Burjaten
(vergl. Nr. I. des laufenden Bandes dieser Zeitschrift) nach
Irkutsk zurückgekehrt war, setzte er seine Reise nach Osten
fort. Nach Ueberschreitnng des Baikalsees gelangte er in
fünftägiger Fahrt zu dem russischen Posten Strjetensk an
der Schilka, wo er den Postdampfer Jermak bestieg, um
den Amur abwärts zu fahren. Nach einer achttägigen Fahrt,
während deren von bekannteren Orten Albasin und Bla-
gowjoschtschensk passirt wurden, verließ er in Michailow-
Semenowsk an der Mündung des Snngari das Schiff,
um seine Fahrt den Strom abwärts in einem Boote fort-
zusetzen H. Zwar verhehlte er sich nicht, daß diese Art zu
reisen vielfache Unbequemlichkeiten und sogar Gefahren im i)
i) Dieses Boot erhielt Jacobsen von einem Officicr des
Postens Michailow-Semenowsk, einem Grafen Nitschewsky zum
Geschenk. Dasselbe vermochte neben dem nothwendigen Gepäck
fünf Menschen aufzunehmen, war aber mit einem so niedrigen
Bord versehen, daß bei stärkerem Winde die Wellen des Stromes
Gefolge haben würde, aber trotzdem wählte er sie, weil sie
ihm am besten Gelegenheit gab, an allen Plätzen, wo er sich
für seine Sammelarbeit Erfolg versprach, anzulegen und an
Land zu gehen, während sich natürlich der Führer des Post-
dampfers auf eine so häufige Unterbrechung der Fahrt, wie sie
dem Reisenden wünschenswerth sein mußte, durchaus nicht
einlassen konnte. Und in der That lehrte der Erfolg, daß
Jokobsen's Verfahren das richtige gewesen war, denn wenn
er auch unterwegs durch ungünstigen Wind und den hefti-
gen Wellenschlag des Amur mancherlei zu leiden hatte und
zeitweise nur sehr langsam und mit äußerster Anstrengung
vorwärts kam, es auch in dem Gewirr der Flußarme und.
Inseln an Irrfahrten nicht fehlte, so erreichte er doch seinen
häufig hineinschlugen. Diesem Uebelstande wußte der Reisende
durch Aussetzen einiger Planken auf den Bord so wirksam ab-
zuhelfen , daß er mit demselben Boote später sogar die Fahrt
an der Westküste von Sachalin entlang wagen konnte.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
153
Zweck durchaus, indem er wahrend eines ganzen Monats —
September 1884 — mit den am User wohnenden Golden
und ihren nördlichen Nachbarn ungestört verkehren, eine
reiche Sammlung völkerkundlicher Gegenstände zusammen-
bringen und über Leben und Gebräuche dieser Stämme
mancherlei Erkundigungen einziehen konnte. Erst kurz vor
Nikolajewsk bestieg er wieder einen Dampfer, setzte dann
später von dieser Stadt nachSachalin über, wo er bis Ende
Januar 1885 verblieb, um dann wiederum an die Mündung
des Amur zurückzukehren und eine Schlittenreise den
Strom aufwärts anzutreten. Diese Reise, welche ihn
wiederum durch das Land der Golden führte und ihm Ge-
legenheit gab, hier und da auch kurze Abstecher in solche
Gebiete zu unternehmen, welche vom Strome etwas weiter
entfernt waren, führte ihn über Mariinsk, Sofiesk, Troitz-
koje und Chabarowka in das Thal des Usfuri, dessen
Lauf er bis an den Chaukasee verfolgte, um dann nach
Wladiwostok hinüberzugehen. So hatte er zum zweiten
Male Gelegenheit, während der Dauer von fast einem
Monat (12. Februar bis 7. März 1885) die Golden zu
studireu, was um so wichtiger war, als er sie jetzt in ihren
Winterwohnungen besuchen konnte, während sie im Sep-
tember noch in ihren provisorischen Sommerdörfern am
Flusse geweilt hatten. Was Jakobsen während seines fast
zwei Monate währenden Verkehrs mit den Golden über
dieses merkwürdige Volk erfahren konnte, will ich hier
wiederzugeben versuchen.
Unter den tun gus isch e n Stämmen des Amurgebietes
nehmen nächst den Mandschu die Golden den bei weitem
größten Raum ein. Die südliche Grenze ihres Gebietes
liegt einerseits in der Gegend, wo der Sungari sich in
den Amur ergießt (ca. 48° N. 133°D.®r.), anderer-
seits am Chankasee, während die eigentlichen Golden
im Norden bis au die Mündung des Gorin, eines
linken Nebenflusses des Amur, also etwa bis 51° N.
hinaufreichen1). Zwischen diesen Grenzpunkten streckt sich
ihr Gebiet in einem schmalen Streifen etwa 600 km an
beiden Ufern des Amur und ebenso weit an denen des
Ussuri hin, doch ist zu bemerken, daß ihre Wohnsitze auf
der chine sis ch en Seite beider Flüsse bei weitem zahl-
reicher zu finden sind als auf der russischen. Diese
Erscheinung hat ihren Grund zum Theil darin, daß das
nördliche Ufer des Amur zwischen Sungari und Ussuri
viel unwirthlicher ist als das gegenüberliegende, zum Theil
aber auch in der Anhänglichkeit der Golden au ihre früheren
Herren, die Chinesen, welche auch auf russischem Gebiete
in Menge unter ihnen wohnen.
Im Süden und Südosten werden die Golden von den
Mandschu und Orotschen, welche letzteren als Urbewohner
die russische Küstenproviuz von der de Castries-Bai im Nor-
den bis nach Wladiwostok im Süden einnehmen, begrenzt,
im Nordwesten hingegen von den Viraren und den Sa-
mag ern, während nach der Mündung des Amur zu sich an
die Golden ein Uebergaugsvolk anschließt, welches zwi-
schen ihnen und den Giljaken steht. Dasselbe wurde
von älteren Reisenden mit den Namen der Olts cha oder
Mang unen bezeichnet, nach den Erkundigungen aber,
welche Kapitän Jakobsen auf seiner zweimaligen Reise durch
dieses Gebiet eingezogen hat, ist keiner der beiden an-
geführten Namen den dort wohnenden Eingebore-
nen oder den angesiedelten Russen bekannt; beide
werden daher wohl auf einem Mißverständniß be-
ruhen und aus der völkerkundlichen Nomenklatur
i) Ebenso begrenzt auch Leopold v. Schrenck (Reisen und
Forschungen im Amurlande, Band III, Karte) das Gebiet der
Golden, die übrigens auch an: rechten User des unteren Sungari
noch ein Stück Land besetzt haben.
Globus LII. Nr. 10.
gestrichen werden müssen I. Natürlich haben auch,
wie das bei der nomadisirenden * 2) Lebensweise der Golden
gar nicht anders fein kann, in diesem Uebergangsgebicte noch
eine Menge von Angehörigen dieses Volkes ihren Aufent-
halt genommen, immerhin aber ist das U eb erh and neh-
men des giljakischen Elementes vom Gorin an
durch das Vorherrschen der Sprache dieses Volkes
außer Zweifel gestellt.
Die Zahl der Golden läßt sich mit auch nur annähern-
der Bestimmtheit nicht angeben, da von einer officiellen
Zählung derselben bisher noch keine Rede gewesen ist und
eine Schätzung durch die Lebensweise des Volkes außer-
ordentlich erschwert wird. Immerhin aber glaube ich, daß
die Zahl, welche Rittich 3) auf Grund russischer Berichte
giebt, nämlich noch nicht voll 3000 Köpfe, zu niedrig an-
gesetzt ist; nach den Mittheilungen Jakobsen's möchte ich die
doppelte Kopfzahl für zutreffender halten. Denn die Zahl
der goldischen Niederlassungen an den Usern des
Amur ist außerordentlich groß, ja an manchen Punkten
fanden sich ihre Hütten in unzählbarer Menge, und selbst
wo nur verhältnißmäßig wenige Dörfer vorhanden waren,
traf der Reifende doch immer fünf bis sechs derselben auf
einer Tagesfahrt an. Meistens sind diese Dörfer klein und
zählen drei bis vier Hütten, doch kommen auch nicht selten
solche vor, welche die fünf- und sechsfache Anzahl von Woh-
nungen aufweisen.
Die Golden verändern ihre Wohnungen je nach dem
Wechsel der Jahreszeiten. Nach dem Eintritte des Früh-
lings stellen sie ihre Hütten aus Birkenrinde an den
Ufern des Amur und seiner Nebenflüsse aus und
verweilen dort, bis der Herbst mit seinem rauhen Wetter
ihnen den Aufenthalt in diesen leichten Wohnungen nicht
mehr gestattet. Sie verlassen dann die Flußufer und ziehen
sich in die nahe gelegenen Gebirge zurück, wo sie ihre
feststehendenWinterwohnungenhaben. Da die Som-
merdörfer nur den provisorischen Aufenthaltsort
bilden, so vermeidet man möglichst, in dieselben Geräthe und
Gegenstände mitzunehmen, die nicht zum täglichen Leben
durchaus nothwendig sind. In Folge dessen machen diese
Niederlassungen einen höchst armseligen Eindruck, doch darf
man sich dadurch nicht verführen lassen, über die socialen
Verhältnisse des Volkes ein ungünstiges Urtheil zu füllen.
Die Winterhäuser bestehen aus Holz und sind von
beträchtlicher Größe. Sie messen gewöhnlich 13 bis 15m
im Geviert und dienen mehreren Familien, die aber meistens
zu einem Geschlechte gehören, zum Aufenthaltsort. Oft
findet man in ihnen 30 bis 40 Bewohner aller Altersstufen
vereinigt; besonders war dies der Fall am Gorin, wo nach
dem Berichte des Reisenden die Winterhäuser der Goldeu
überhaupt viel größer und besser eingerichtet sind als am
Amur, wo wiederum in der Umgegend von Troitzkoje der
geringste Komfort entwickelt wird. Der Fußboden der
Winterhäuser ist ähnlich unseren Scheunendielen aus gestampf-
tem Lehm hergestellt, die Wände werden durch mächtige
Balken gebildet, deren Fugen man mit Lehm und Moos
x) Leopold v. Schrenck (a. a. O.) gebraucht den ersteren,
Maack bei Richard Andree (Das Amurgebiet. Spanier, Leipzig)
den letzteren Namen. Ilebrigens ist der Uebergang von den
Golden zu den Giljaken ein jo allmählicher, daß er nur schwer
zu erkennen ist. Bemerkt sei hier noch, daß Jakobsen bei diesem
Uebergangsvolke auch keine Spur von Tatuirung, wie sie ihm
von Maack zugeschrieben wird, fand.
2) Der Ausdruck trifft nicht ganz zu, wenn man den ge-
wöhnlichen Gebrauch desselben, der sich auf Viehzucht treibende
Völker bezieht, ins Auge faßt; am passendsten würde man die
Golden wohl als „Halbangesessene" bezeichnen können.
3) Die Ethnographie Rußlands, Ergänzungsheft 54 zu
Petermann's Mittheilungen S. 23.
20
154
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
sehr geschickt zu verschließen weiß, das Dach endlich besteht
aus Birkenrinde und wird, wie in den europäischen Hoch-
gebirgen, mit Steinen beschwert, um nicht durch die häufigen
Winterstürme fortgerissen zu werden. Die Thür verschließt
man mit einem Vorhänge von dicken Fellen, die nicht sehr
großen Fensteröffnungen hingegen werden entweder mit
chinesischem Papier oder mit Fischhaut ausgefüllt, denn
Glas existirt bei den Golden ebenso wenig wie bei den
Koreanern. An einem Ende des Hauses befindet sich ein
mächtiger Ofen, der stets geheizt ist und den warmen Rauch
durch Holzröhren, welche an der Wand entlang laufen und
mit Holzbänken bedeckt sind, nach der Außenseite des Hauses
entströmen läßt, so daß auf diese Weise eine Art Luftheizung
hergestellt wird. In den Ofen ist stets ein mächtiger
Kessel eingelassen, in welchem die regelmäßigen Mahlzeiten
für die ganze Bewohnerschaft des Hauses gekocht werden,
während für besondere Ausnahmefälle noch ein kleineres
eisernes Kochgefäß zur Verwendung kommt, welches über
der Feuerung an einem hölzernen, oft mit Schnitzerei reich
verzierten Haken von der Decke herabhängt. Ungefähr in
der Mitte des Hauses steht ein starker Pfahl, welcher dazu
dient, die sich hier kreuzenden Dachbalken zu tragen, und
der sich bisweilen durch eingeschnittene Figuren von religiöser
Bedeutung auszeichnet. Um diesen Pfahl herum ist eine
Art von Tribüne aufgestellt, welche als Schlafstätte für die
Gäste des Hauses dient oder, wenn solche nicht vorhanden
sind, auch als Niederlage für alle möglichen Geräthe oder
als Futterplatz der Hunde benutzt wird. Die Mitglieder
der Familie des Hausbesitzers finden ihre Ruhestätte auf
den Bänken, welche sich, wie oben erwähnt, an den Wänden
entlang ziehen. Als Unterlagen für den Kopf dienen ent-
weder Kopfbretter von derselben Art, wie sie in Japan
üblich sind, oder Ledersäcke, die mit Stroh gestopft werden
und den von den Burjaten benutzten H sehr ähnlich sind.
Der Körper ruht auf Filzdccken und wird mit demselben
Pelze zugedeckt, der ihm am Tage als Kleidung dient. Wie
die meisten sibirischen Völker und auch die des europäischen
Rußlands befestigen die Golden die ans Birkenrinde her-
gestellten Kinderwiegen mit Stricken an der Decke und zwar
so, daß das Fußende derselben etwas tiefer herabhängt als
das entgegengesetzte, damit der Urin des Kindes leichter ab-
laufen kann. In der sehr schmalen und kurzen Wiege* 2)
wird das in Zeug gewickelte Kind, ohne daß es mit Betten
bedeckt würde, festgebunden, damit es durch die schaukelnde
Bewegung derselben, mit welcher man sein Schreien zu
beschwichtigen sucht, nicht herausgeschleudert wird 3).
Da die Golden ein Bedürfniß nach Zuführung frischer
Luft in ihre Wohnungen niemals empfinden, so ist denselben
infolge der Ausdünstungen der zahlreichen Bewohner und
der fortwährend im Hause herumlungernden Hunde, der
an der Decke zum Trocknen aufgehängten Fische und Thier-
bälge, endlich aber der Gerüche, welche die Herstellung der
Speisen sowie die Fischthranlampen erzeugen, der Auf-
enthalt für einen Europäer kaum erträglich.
Siehe des Verfassers Artikel über die Burjaten in Nr. 1
des laufenden Bandes dieser Zeitschrift, S. 12.
2) Auch bei anderen von Jakobfen besuchten asiatischen
Völkerschaften sind die Wiegen eng und kurz, und wer die bei
den Altaikalniücken gekaufte und im Berliner Museum aufbe-
wahrte Wiege sieht, wird sich des Mitleids mit den armen
Kindern nicht erwehren können, die in diesen Marterkasten ein-
gezwängt werden.
3) Es wirst kein günstiges Licht auf die pädagogischen
Fähigkeiten und Grundsätze der Golden, daß sie außer durch
das Schaukeln der Wiege ihre schreienden Kinder auch dadurch
zur Ruhe zu bringen suchen, daß sie ihnen Masken von ab-
schreckender Häßlichkeit entgegen halten, um sie vor Furcht
stumm zu machen.
Dazu kommt dann noch, daß die Goldenhäuser von Un-
geziefer aller Art, wie Ratten, Mäusen, Flöhen, Läusen
und Wanzen förmlich wimmeln, und wenn auch die Ein-
geborenen gegen die Angriffe dieser ihrer Hausgenossen fast
unempfindlich geworden sind, so leiden doch europäische Gäste
unter dieser Plage so entsetzlich, daß Uebernachtcn in einem
goldischen Haufe und ruhiger Nachtschlaf zwei Dinge sind,
die einander schlechterdings ausschließen ft.
Die Winterdörfer der Golden bestehen ebenso wie
die im Sommer an den Ufern der Flüsse errichteten gewöhn-
lich nur aus einigen wenigen Häusern. Neben jeder Wohnung
befindet sich ein V o r r a t h s h a u s — A m bara genannt —,
welches zum Schutze gegen Ratten, Mäuse und sonstiges
Raubzeug auf Pfählen errichtet ist. In diesen Vorraths-
häusern wird während des Sommers, wo die Golden ihre
feststehenden Wohnsitze verlassen, alles bewegliche Eigenthum,
das einen höheren Werth besitzt, aufbewahrt. Trotzdem
werden dieselben nie verschlossen, denn kein fremder Golde
würde sich selbst in der höchsten Noth an ihrem Inhalte
vergreifen, da unbedingte Achtung des Eigen-
thums ein durchgehender Charakterzug dieses
Volkes ist. Ein Goldendorf, dessen Bewohner zu Hause
sind, zu betreten, ist für einen Fremden nicht ohne Gefahr,
denn die zahlreichen Hunde, welche in jedem Hause
gehalten werden, halten scharf Wache und sind so bissig,
daß man sich ihrer nur mit Mühe erwehren kann. Zum
Theil mag das auch darin seinen Grund haben, daß die
Hunde schlecht genährt werden und deshalb fortwährend
vom Hunger gequält sind. Sie werden dadurch nicht selten
geradezu zu Raubthieren; so fand z. B. Jakobsen unterhalb der
Mündung des Chungar — eines rechten Nebenflusses des
Amur, der sich etwa unter 500N. in diesen ergießt — ein
vor Kurzem erst verlassenes Goldendorf, dessen Bewohner
deshalb ausgewandert waren, weil ihre Hunde das weidende
Vieh ihrer russischen Nachbarn zerrissen hatten, und weil
die Golden nun die Rache der Beschädigten fürchteten.
Den Charakter der Golden kennen zulernen,hatte
der Reisende reichlich Gelegenheit. Ein hervorstechender
Charakterzug dieses Volkes ist das Mißtrauen und die
Verschlossenheit, mit welchen sie Fremden begegnen.
Fast nirgends erlaubten die Golden dem Reisenden ohne
Weiteres das Betreten ihrer Dörfer, noch viel weniger natür-
lich das der Häuser. Erst durch längere Verhandlungen
waren sie dahin zu bringen, freundlichere Saiten aufzuziehen
und auf die Wünsche Jakobsen's einzugehen, öfter als einmal
aber führten auch derartige Verhandlungen nicht zu dem ge-
wünschten Ziele. Selbst mit den Waffen in der Hand traten
sie dem Reisenden und seinen Begleitern entgegen, doch ge-
schah das nur, weil sie die Fremdlinge für entsprungene Sträf-
linge, sogenannte Brodjagen, hielten. Nur an wenigen
Punkten fand Jakobsen freundliche Aufnahme und die Be-
reitwilligkeit, ihm zu verkaufen, was er haben wollte. Eigen-
thümlich ist es, daß die Golden oberhalb Chabarowka
weit zugänglicher waren als die unterhalb dieses
Ortes wohnenden; vielleicht hatte das seinen Grund
theilweise in dem Umstande, daß jene fast sämmtlich russisch
verstanden und deshalb bessere Einsicht in die Absichten
Jakobsen's hatten, als ihre weiter stromabwärts wohnenden
ft Uebrigens ist auch während des Sommers das Schlafen
im Freien am Amur kaum möglich, weil unzählige Schaaren
von Mücken die Ruhe stören. Einmal widerfuhr es Jakobsen,
daß ihm infolge der Stiche dieser Plagegeister das Gesicht der-
artig anschwoll, daß er nicht aus den Augen sehen konnte.
Die Golden verstehen sich durch Netze, welche sie selbst ver-
fertigen, gegen die Thiere zu schützen. Ehe es Jakobsen gelang,
ein solches zu kaufen, übernachtete er gern in den Ambaras
(f. unten), da in denfelben die Luft erträglich und das Un-
geziefer nicht allzu häufig war.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
155
Volksgenossen H. Den: Trünke sind die Golden wie die
meisten sibirischen Völker ebenso leidenschaftlich ergeben wie
dem Tabaksgenusse, dem schon die kleinen Kinder beider-
lei Geschlechts fröhnen. Namentlich im Sommer feiern die
Golden, wenn sie einen guten Fang gethan haben, große
Trinkgelage, bei denen sic gewaltige Mengen chinesischen ,
Reisbranntweins (Chanschin), der zu ihnen nicht in Fässern,
sondern in Kisten gebracht wird, genießen-). Durch den
übermäßigen Genuß dieses Getränkes werden sie meist sehr
streitsüchtig, und unter diesem Fehler hatte Jakobsen
mehr als einmal zu leiden, indem er von ihnen bei der An-
näherung an ihre Dörfer mit Spottreden, höhnischen Ge-
berden und ähnlichen Liebenswürdigkeiten empfangen wurde,
die oft einen so bedrohlichen Charakter annahmen, daß er
es als der Klügere vorzog, das-Feld zu räumen. Auch
unter einander gerathen sie in der Betrunkenheit nicht selten z
in Streit, der schnell zu Thätlichkeiten ausartet. So wurde
Jakobsen, als er in einem Goldendorfe eine Tagereise ober- ■
halb Chabarowka übernachtete, durch eine solche Prügelei
aus dem Schlafe geweckt, die erst, nachdem mehrere blutig
geschlagen waren, durch die Dazwischcnknnft der Frauen,
welche ihre Männer aus den Reihen der Kämpfenden
herauszogen, beendigt wurde. In nüchternem Zustande
hingegen sind die Golden durchaus nicht zu gewalt-
thätigem Verfahren geneigt; im Gegentheil konnte man
behaupten, daß sie eher furchtsam sind als tapfer.
Das zu constatiren hatte Jakobsen mehrfach Gelegenheit,
wenn er die widerwilligen Bewohner eines Dorfes durch
Drohungen zur Erfüllung seiner Forderungen zwang oder
wenn ein bis an die Zähne bewaffneter Golde, der zur
Bewachung des Dorfes von den zum Fischfang ausgezogenen
Männern zurückgelassen war, vor ihm schleunigst die Flucht
ergriff und durch nichts zu bewegen war, Stand zu halten
und zu hören, mit wem er es denn überhaupt zu thun habe.
Eine üble Eigenschaft der Golden ist ihre Unzuverlässig-
keit in Beziehung auf die Jnnehaltung ihrer Ver-
sprechungen. Sie gelten unter den Russen, welche unter
ihnen wohnen, als Menschen, auf deren Wort gar nichts zu
geben ist, und Jakobsen hatte wenigstens einmal Gelegenheit,
eine Erfahrung zu machen, welche das abfällige Urtheil der j
russischen Ansiedler zu bestätigen geeignet war. Als er im
Februar 1885 den Gorin aufwärts fahren wollte, um die
Samagern zu besuchen, konnte er von den Russen, welche
in dem gleichnamigen Dorfe an der Mündung dieses Flusses
wohnten, keine Schlitten und Pferde erhalten und ließ daher
in einem nahen Goldendorfe einige Männer mit ihren
Schlitten und Hunden für die Reise anwerben. Diese ver-
sprachen auch auf das Bestimmteste, ihn am nächsten Mor-
gen aus Gorin abzuholen, aber, wie ihm die Russen voraus-
gesagt hatten, es erschien auch nicht ein einziger von ihnen,
vielmehr fuhren sie gerade nach der entgegengesetzten Rich-
tung ans, um an einer Festfcier in einem anderen Dorfe
Theil zu nehmen. * 2
1) Ich will hier gleich bemerken, daß der Reisende auch in
dem äußeren Habitus der Golden oberhalb und unterhalb Cha-
barowka eine beträchtliche Verschiedenheit bemerkte. Jene waren
von den Chinesen fast gar nicht zu unterscheiden; nur die etwas
dunklere Hautfärbung machte sie bei genauerer Beobachtung
kenntlich. Dagegen waren die unterhalb Chabarowka wohnen-
den Golden weit kleiner, hatten weit plattere Nasen und eine
fast dunkelbraune Hautfarbe, die sic den Giljaken ähnlicher er-
scheinen ließ.
2) Welche Massen von Branntwein die Golden unter Um-
ständen zu vertilgen im Stande sind, hatte Jakobsen Gelegen-
heit, in Troitzkoje zu beobachten, wo er aus einem später zu
berichtenden Anlaß den Besuch von fünf goldischen Männern
und zwei Frauen erhielt. Diese tranken im Verlauf von zwei Stun-
den fünf große Flaschen Branntwein aus, ohne daß eine nennens-
werthe Veränderung ihres Zustandes sichtbar geworden wäre.
Schon oben ist erwähnt, daß die Golden eine un-
bedingte Achtung vor fremdem Eigenthum haben;
Diebstahl ist unter ihnen ein fast unerhörtes Verbrechen.
Und diese Ehrlichkeit üben sie nicht bloß unter
einander, sondern auch gegen Fremde; Jakobsen hat
trotz seines zweimonatlichen Aufenthaltes unter ihnen nicht
ein Stück feiner Waaren oder seiner Ausrüstung eingebüßt,
obgleich einige derselben, wie namentlich sein Revolver und
seine Uhr, Gegenstand allgemeiner Bewunderung und mancher
sehnsüchtigen Blicke waren. Wie sehr sie den Diebstahl
verurtheilen, beweist die Strafe, mit welcher sie den Dieb
belegen. Sie hauen ihm die Hände ab, ernähren ihn aber
dann, da er unfähig ist, feinen Unterhalt sich selbst zu ver-
schaffen, auf gemeinsame Kosten. In Beziehung ans die
ehelichen Verhältnisse haben die Golden strenge
Grundsätze. Der Ehebruch wird mit dem Tode bestraft
und zwar in manchen Theilen des Gebietes mit einem sehr
grausamen, denn die Schuldigen werden lebendig begraben.
Ob diese Strenge sich auch auf die geschlechtlichen
Verhältnisse der Unverheiratheten erstreckt, vermag
ich nicht zu sagen; nach allgemeinen Andeutungen Jakobsen's
und anderer Reisenden scheinen nach dieser Richtung hin
die Golden nicht tadelfrei zu fein, vielleicht aber macht sich
in diesem Falle der Einfluß der vielen unter ihnen wohnenden
Chinesen geltend *). Die Achtung vor dem fremden Eigen-
thum sowohl wie vor der Heiligkeit der Ehe ist es auch
neben dem Selbsterhaltungstriebe, welche sie zu ihrem
grausamen und b l u t d ü rst i g e n Verfahren gegen
die oben genannten Brodjagen treibt, denn in diesen sehen
sie mit vollem Rechte die schlimmsten Verächter jener Güter.
Diese Brodjagen sind der Abschaum der Menschheit, und
wehe dem Dorfe, das dieselben in so großer Zahl überfallen,
daß sie der Bewohner Herr werden können. Sie ermorden
die Männer, schänden die Frauen und Mädchen, um sie
dann noch nachträglich zu tobten, schleppen alles, was sie
glauben gebrauchen zu können, fort und zünden die aus-
geplünderten Häuser an. In Folge der Greuelthaten,
welche die Brodjagcn fortwährend gegen die Eingeborenen
begehen, führen die letzteren einen grausamen Vertilgungs-
krieg gegen sie und tobten sie unter den entsetzlichsten
Martern, wo sie ihrer habhaft werden können -).
Ebenso wie die Wohnungen der Golden wechseln auch
ihre Beschäftigungen mit den Jahreszeiten.
Während der guten Jahreszeit widmen sie sich dem
Fischfänge, während des Winters der Jagd. Nicht
als ob die eine oder die andere Beschäftigung die Jahrcs-
Z Erwähnen will ich hier ein Spiel der Golden, welches
auf den Verkehr der männlichen und weiblichen Jugend dieses
Volkes ein sehr verdächiigcs Licht wirft. An schönen Sommer-
tagen versammeln sich die jungen Burschen und Mädchen eines
Dorfes am Rande des Waldes auf einem freien Platze.. Dort
thun sie sich nach eigener Wahl paarweise zusammen und tanzen
so eine Zeit lang singend im Kreise herum, indem sie einander
bald an den Händen fassen, bald wieder loslassen. Nach Be-
endigung des Tanzes führt jeder Jüngling seine Auserwählte
tiefer in den Wald und bleibt dort nüt ihr, so lange er will,
ohne daß dieses geheime Beisammensein dem Ruse des Mädchens
irgend welchen Abbruch thäte.
ch Auch Jakobsen und seine Begleiter wurden von den
Golden häufig für Brodjagen gehalten und deshalb feindselig
empfangen. Die Golden glaubten zu diesem Verdachte um so
mehr Grund zu haben, als Jakobsen in einem kleinen Boote
und ohne die sonst übliche Bedeckung durch einen russischen
Soldaten reiste, während cs doch, wenn er ein gutes Gewissen
gehabt hätte, für ihn viel bequemer und ungefährlicher gewesen
wäre, einen der russischen Postdampfer zu benutzen. Uebrigens
pflegte die Erklärung Jakobsen's, daß er ein „Amerikaner" sei,
die aufgeregten Gemüther der Golden zu beruhigen; mit diesem
Namen bezeichnen nämlich die Amurvölker alle Weißen, die
nicht Russen sind und denen sie eben deshalb mit größerem
Vertrauen begegnen.
20*
156
Die Bergstämme von Manipur.
zeiten ausschließlich für sich in Anspruch nähme; aber der
Fischfang ist ihre Hauptbeschäftigung im Sommer, die Jagd
im Winter i). Diese Theilung ihrer Thätigkeit ist in den
natürlichen Verhältnissen ihres Gebietes begründet. Im
Sommer ist der Fischreichthum des Amur und seiner
Nebenflüsse außerordentlich groß, und besonders in den
Hochsommermonaten kommen Rothlachse und Störe, welche
bei den Golden Kaluga heißen, in so gewaltigen Bänken
den Strom hinauf, daß der Fischfang im Allgemeinen
ausgezeichnet lohnt2). Dann bedecken Hunderte von kleinen
Fischerbooten den breiten Spiegel des Stromes und bieten
mit ihren flinken Bewegungen dem Beschauer ein reizvolles
Bild von großer Lebhaftigkeit. Meistens sind die Boote
mit zwei Insassen bemannt, welche mit Netzen und Fisch-
speeren, die zuweilen die Form eines Dreizacks haben, ihre
Arbeit vollbringen. Ist die Fangarbeit beendet, so werden
die Fische schleunigst geschlachtet, von den Eingeweiden befreit
und an Gestellen zum Trocknen aufgehängt, um dann im
Winter als Speise für Menschen und Hunde zu dienen * 2 3).
Dann kehren die Männer in die Hütten zurück "und be-
ginnen ihre Trinkgelage, an denen die Frauen und Kinder
bis zum Einbrüche der Dunkelheit Theil nehmen, während
die Männer nicht eher aufhören, als bis der letzte Tropfen
vertilgt ist und alle sinnlos betrunken sind. Im Winter-
ist der Fischfang bei weitem schwieriger. Dann müssen
die Golden mit scharfen Knocheninstrumenten das Eis auf-
hacken und aus den entstandenen Oesfnungen die an der
Oberfläche erscheinenden Fische mit großen löffelartigen
Instrumenten, deren Boden aus gekreuzten Bindfäden besteht,
um das Wasser durchzulassen, herausholen; eine Arbeit, die
trotz aller Geschicklichkeit und Ausdauer, welche dabei be-
wiesen wird, doch häufig mißlingt.
Während der Herbst- und Wintermonate widmen
sich die Golden der Jagd in den Gebirgen, die
namentlich den Pelzthieren, speciell dem Zobel gilt.
Sie sind wie alle Tungusen außerordentlich geschickte
Jäger und betreiben noch heute aus denselben Gründen ft,
wie viele andere Jägervölker, ihr Gewerbe lieber mit Pfeil
und Bogen als mit der Feuerwaffe, in deren Gebrauche
sie übrigens auch große Sicherheit erlangt haben. Mit
*) Es ist wohl der Erwähnung werth, daß die Golden sechs
Sommer- und sieben Wintermonate zählen.
2) Nur wenn zur Unzeit Hochwasser in den Amur eintritt,
wird der Fischfang fast unmöglich, und dann ist eine Hungers-
noth meist die unausbleibliche Folge. Glücklicher Weise sind
derartige Unregelmäßigkeiten selten.
s) Dieselbe Ernährung der Hunde finden wir auch bei den
Giljaken und Ainos auf Sachalin.
ft Der Knall des Gewehres verscheucht das Wild, während
der Pfeil, der sein Ziel verfehlt, von jenem gar nicht bemerkt
wird. Außerdem ist das Laden der Feuerwaffe viel unbcquemer
als die Instandsetzung des Bogens zum Schusse und endlich
verletzt der Flintenschuß den Pelz des erlegten Thieres mehr
als der Pfeil. Vergl. übrigens Peschel-Kirchhofs, Völkerkunde,
5. Aust., S. 183 und 184.
außerordentlich scharfen Sinnen ausgestattet, spüren sie mit
Hilfe ihrer Hunde den Pelzthieren nach und ertragen, um
ihren Zweck zu erreichen, mit bewundernswerther Geduld
Hunger, Kälte und alle sonstigen Unbilden der Witterung.
Um den kostbaren Pelz der Thiere nicht zu verletzen, be-
dienen sie sich auf dieser Jagd einer eigenthümlichen Art
von Pfeilen. Dieselben laufen anstatt in eine scharfe Metall-
spitze in ein würfelförmiges Klötzchen von sehr hartem
Holze aus, thun aber, so harmlos sie scheinen mögen, die
beabsichtigte Wirkung im vollsten Maße, da die goldischen
Jäger mit unfehlbarer Sicherheit stets den Kopf der Thiere
treffen und die Hirnschale derselben zerschmettern. Auch
für die Jagd auf Vögel, besonders wilde Enten, die sich im
Sommer in den weiten Ufersümpfen des Amur in Massen
aufhalten, benutzen sie besondere Pfeile mit breiter Schneide
anstatt der Spitze, vermittels deren sie den Hals der
Thiere durchschneiden. Zur Jagd auf größere Thiere ver-
wenden sie gewöhnliche Pfeile, die nur selten noch die
früher gebräuchliche Knochenspitze besitzen; vielmehr ist
dieselbe fast durchweg durch die Eisenspitze mit Wider-
haken verdrängt. Ihre Bogen haben etwa die Länge
eines mäßig großen Mannes, sind völlig flach und oft recht
hübsch bemalt. Wenn es sich um die Erlegung der in ihrem
Gebiete wie überhaupt im ganzen Amurlande häufigen
Bären handelt, so benutzen sie sehr stark gearbeitete, lange
; Lanzen mit langer, messerartiger Spitze, die sie vielleicht
aus religiösen Gründen sehr ungern an Fremde verkaufen.
Während sie den Bären zu zweien oder dreien ohne Furcht
in seinem Lager aufsuchen, ihn durch die Hunde aufstören
und dann mit der blanken Waffe angreifen, wagen sie sich
selbst in größerer Anzahl nicht an den Tiger heran, der
ihr gefährlichster Feind ist und viele der Ihrigen zerreißt ft.
Daher trifft man auch in den Goldenwohnungen selbst in
solchen Gegenden, wo der Tiger häufig vorkommt, fast nie
ein Tigerfell, während Bärenfelle in großer Zahl vorhanden
sind. Auch der Gebrauch der Selbstschüfse ist den Golden
wohlbekannt. Sie werden besonders zur Erlegung des
Zobels verwendet und sind folgendermaßen konstruirt. In
einem aufrecht stehenden Pfahle befindet sich am oberen
Ende eine Gabel, in welche eine Schießvorrichtung gesteckt
wird, welche einer Armbrust sehr ähnlich ist. Der Lauf
derselben ist so stark nach unten gerichtet, daß der aufgelegte
Pfeil, wenn er abgeschossen wird, den Zobel gerade in den
Kopf trifft. Von dem Hahne dieser Armbrust geht ein
Band aus, an welchem ein Köder befestigt ist. Die Länge
dieses Bandes ist eine derartige, daß der Köder gerade dort
liegen muß, wohin der Pfeil gerichtet ist. Sobald nun das
Thier an den Köder rührt, so entladet sich der Selbstschutz
und erlegt das Wild.
Auch der Vater von Jakobsen's goldischem Dolmetscher
Iwan war diesem Mörder zum Opfer gefallen. Auf das Vor-
kommen des Tigers im Lande der Golden, sowie aus seine Be-
deutung für den Kultus werde ich später noch zu sprechen kommen.
Die Bergstämme von Manipur.
Ko. Zu den ethnographisch interessantesten Partien In-
diens gehört das'Bergland, welches, vom Bengalischen Meer-
busen ausgehend, Assam und Barma scheidet. Auf einem Ge-
biete von kaum 8000 englischen Quadratmiles wohnen hier
mindestens 20 verschiedene Stämme, Reste und Trümmer
aller Völker, welche seit Jahrtausenden hier geherrscht haben
oder durchgezogen sind. Das Gebiet hat die Anthropologen
schon mehrfach beschäftigt, ist aber immer noch weit davon
entfernt, gründlich bekannt geworden zu sein, und ein Auszug
aus einem interessanten Vortrage, welchen Dr. George
Watt in der Januarsitzung des Anthropological-Institutes
gehalten (He Aboriginal Tribes of Manipur, in Journ.
Anthr. Instil. Yol. XVI, Nr. 4, p. 346), dürfte darum
für die Leser des „Globus" nicht ohne Interesse sein.
Die Bergstämme von Manipur.
157
Die Gebirgsmauer, welche bei Chittagong^) am
Bengalischen Meerbusen beginnt und die Ebenen von Ben-
galen, Cachar und Assam von Barma scheidet und Uber
Manipur nach den Naga Hills lauft, welche wieder mit
den Patkoi-Bergen und durch diese mit dem Himalaya
von Bhutan zusammenhängt, besteht nicht aus einem
einzigen Bergrücken, sondern aus einer ganzen Reihe
paralleler Ketten, die hier und da durch Querjoche ver-
bunden sind und deren Flußsystem ein ganz merkwürdig
verwickeltes ist. Die Wasserscheide läuft von dem höchsten
Punkte der Barailkette, dem über 10 000 Fuß hohen
Japvo aus; sie trennt nicht nur die Gewässer, sondern
bildet auch die Grenze zwischen den echten Nagas im Nor-
den und den Nagas von Manipur im Süden. Die Thäler
bestehen aus kesselförmigen Ebenen von größerer oder ge-
ringerer Ausdehnung mit tief eingerissenen engen Schluchten
dazwischen. Die größte Thalebene und gleichzeitig der
Mittelpunkt des ganzen Gebirgssystcms ist die Ebene von
Manipur; nach ihrem Besitze strebten darum immer alle
Nachbarn, und das hat das Schicksal des Landes und seine
Zerrissenheit in ethnographischer Hinsicht bedingt. Der
stärkste Stamm nahm die Ebene für sich und drängte seine
Borgänger in die Berge, bis ein anderer stark genug ge-
worden war, um ihm dasselbe Schicksal zu bereiten. Zwischen
Cachar und Manipur liegen nicht weniger als neun Berg-
ketten mit tiefen Thälern dazwischen; der Weg kann die
Schluchten nur überschreiten mit Hilfe von Rotangbrückcn,
welche hier in einer ganz eigenthümlich praktischen und
sinnreichen Weise construirt sind. Ein Rotang, oft 300 bis
400 Fuß lang und sorgsam ausgewählt, wird über den
Fluß hinübergezogen, jedcrseits über einen Felsblock
oder einen Pfeiler aus Mauerwerk oder Holz gespannt und
an eingerammten Baumstämmen befestigt; ein zweiter, oft
auch noch ein dritter werden ebenso gespannt und bilden die
Grundlage der Brücke, die mit Rindenstücken belegt wird.
Dann erhöht man die Pfeiler, doch so, daß ein Eingang in
der Mitte bleibt, und spannt etwa sechs Fuß höher und
drei Fuß von einander zwei weitere Rotauge, welche als
Geländer dienen. So weit gleichen diese Brücken so ziemlich
den auch in anderen Tropengegenden üblichen halsbrechenden
Seilbrücken. Nun verstärkt man sie aber noch durch kürzere
Rotauge, welche von dem einem Haltseile her unter dem
Stege durch nach dem anderen laufen und überall sehr sinn-
reich befestigt sind. So entsteht eine Art nach oben offener
Rinne, unten 1 Fuß, oben 3 Fuß weit und oft 300 bis
400 Fuß lang, die zwar beim Darübergehen ganz entsetzlich
schwankt, aus der aber doch Niemand herausfallen kann.
Biele dieser Schluchten sind so tief, daß in ihnen schon
Dunkel herrscht, während oben noch die Sonne scheint. Sie
zwingen die Flüsse zu merkwürdigen Richtungsveränderungcn.
Der Barak, der bedeutendste Fluß des Gebietes, fließt
z. B. anfangs nach Südwest, daun nach Nordost, dann
wendet er sich nach Westnordwest und schließlich wieder nach
Südwest; in dem so gebildeten Bogen liegen parallel die
Thäler zweier seiner wichtigsten Nebenflüsse, des Makru
und des Jrang; er wendet sich daun südöstlich, nimmt
diese beiden Flüsse auf, weiterhin nach mehr südlichem
Laufe den T e p a i; dann biegt er scharf nach Norden um
und fließt nördlich, bis er auf den ihm entgegenkommenden
Jiri trifft, und durchbricht mit ihm vereinigt die Grenz-
kette, um durch die Ebene von Cachar westwärts dem Meere
zuzufließen. Ganz ähnlich verhalten sich die anderen Flüsse.
Es entstehen so eine Menge schwer zugänglicher Thäler und
Kessel, wie geschaffen zu Zufluchtsorten für die Reste be- i)
i) Die englische Orthographie der Namen ist beibehalten
worden.
siegter und zersprengter Völker oder zu Raubburgen. Auf
den vorspringenden Bergspornen hängen die Dörfer in fast
unzugänglicher Lage, nach der einzigen zugänglicheren Seite
hin durch starke Palissaden geschützt. Den ewigen Fehden
zwischen den einzelnen Dörfern hat der englische Einfluß
nun so ziemlich ein Ende gemacht und mit dem Frieden
kommt die Zunahme der Bevölkerung und der sorgfältigere
Anbau des Bodens.
Durchreist man das Bergland, so gehen die einzelnen
Stämme in ihren ethnographischen Charakteren so ganz
allmählich in einander über, daß es schwer fällt, eine Grenze
zu ziehen; vergleicht man dagegen weiter getrennte Ab-
theilungen, fo treten sehr erhebliche Unterschiede hervor. Im
Großen und Ganzen haben vier Völkerschaften die Bestand-
theile zu der Blutmischnng geliefert, die N ag as im Norden,
die Kukies im Süden, die Sh an und Burmesen im
Osten und einige wohl den Kascharis zuzurechnende
Bergstämme im Westen. Der letzte Erobererstamm, welcher
in die Berge von Manipur eingedrungen ist, bestand aus
den Kukies oder Lufhais, die früher in den Bergen
von Chittagong wohnten und seit einigen Jahrhunderten
unaufhaltsam nach Norden drängen. In mindestens fünf
verschiedenen Wogen sind sie schließlich bis an die englischen
Grenzen vorgedrungen, und ihre Räubereien haben schließ-
lich die Kriege provocirt, welche zur Unterwerfung des
ganzen Landes unter die englische Oberherrschaft führten.
Ihre sämmtlichen Stämme sprechen noch verwandte Dialekte
und sind sich in ihrem Aeußeren überhaupt sehr ähnlich.
Sie haben die früheren Bewohner des Berglandes westlich
von Manipur, die unter dem Namen Kaupuis bekannten
Stämme, aus den Ebenen in die Berge gedrängt, aber sie
dort nicht unterjochen können.
Diese Kaupuis, mit denen der Bericht Dr. Watt's
sich hauptsächlich beschäftigt, zählen heute ungefähr
5000 Seelen und zerfallen in drei Stämme, die Sungbu,
den Hauptstamm, die Koiveng und die Kaupuis im
engeren Sinne. Sie sind mittelgroß oder unter Mittel,
gut gebaut, doch durchschnittlich nicht sehr muskulös, manche
gleichen ganz den mongoloiden Stämmen, andere sehen fast
wie Arier aus, aber die Augen liegen immer schräg, was
übrigens auch bei den meisten Bewohnern von Manipur
der Fall ist. Die Männer tragen das Haar meist knrz-
geschoren, doch mitunter auch länger, in der Mitte gescheitelt
und durch einen Bambustreif zurückgehalten. Die Klei-
dung besteht bei Armen nur aus einem kleinen Scham-
lappen, Wohlhabendere tragen ein um den Leib geschlagenes
und vorn herabhängendes Stück Zeug, das am Ende oft
sehr hübsch verziert ist. Die Frauen kleiden sich in ein
Stück dickeren blauen Zeugs, welches von der Achselhöhle
bis zu den Knieen herabhängt, in der kalten Jahreszeit
tragen sie auch ein Jäckchen und über die Schulter eine
verzierte Schärpe. Als Schmuck tragen die Männer ein
paar Messingringe im linken Ohr, die Frauen ähnliche,
aber größere, um den Hals eine Schnur von Perlen,
Muscheln oder noch lieber rothen Steinchen; um den Ober-
arm ist ein starker Messingdraht 10- bis 12mal ge-
wunden, die Enden sind zu flachen runden Platten aus-
geschmiedet; um die Waden tragen sie die schwarzen Fasern
von Caryota urens.
Die Dörfer der Kaupuis liegen, wie schon oben erwähnt,
durch Palissaden geschützt auf steil abfallenden Bergspornen.
Die Häuser siud solide gebaut und ausgezeichnet bedacht;
der Bordergiebel ist hoch, oben oft mit vorspringenden reich
geschnitzten Hörnern, an welchen schmarotzende Orchideen
befestigt sind. Neben jedem Hanse befindet sich ein solider
Kornspeicher, der aber unverschlossen bleibt, denn Diebstahl
ist unter diesen einfachen Menschen völlig unbekannt. Im
158
Die Bergstämme von Manipur.
Inneren ist das Hans dnrch eine Wand in zwei Ab-
theilungen geschieden; die vordere dient als Wohnzimmer,
die hintere als Schlafzimmer und Küche. - Die Knaben
schlafen, sobald sie mannbar geworden, mit den anderen
jungen Leuten zusammen in einem gemeinsamen Gebäude.
Jedes Dorf hat zwar seine erblichen Chefs, aber dieselben
haben nur persönlichen Einfluß, die Gemeindeangclegen-
heiten werden von der Versammlung aller Männer ent-
schieden, und diese tritt nur zusammen, wenn ganz besondere
Fälle vorkommen. Die höchste Strafe, welche überhaupt
verhängt werden kann, ist Verbannung; bei Mord und
Körperverletzungen bleibt die Blutrache den Angehörigen
überlassen, doch kommen solche Fälle innerhalb eines Dorfes
nur äußerst selten vor. Vendetta zwischen zwei Dörfern ist
dagegen häufig genug und dauert oft noch fort, wenn ihre
Ursache längst ans dem Gedächtnisse entschwunden ist.
Der Verkehr zwischen den jungen Leuten beiderlei Ge-
schlechts ist unbeschränkt, aber die Frau wählt gewöhnlich
der Vater; nicht ganz selten brennt aber ein junges Paar
dnrch, wenn die Eltern nicht einverstanden sind, und ver-
birgt sich bei Bekannten, bis die Eltern sich zum Nach-
geben entschließen. Im Falle von Ehebruch wird die Frau
einfach ihrem Vater zurückgeschickt, der Mann kann, wenn
in flagranti ertappt, getödtet werden. Stirbt eine Frau,
so muß der Mann ihrem Vater eine bestimmte Entschädi-
gung (munda) bezahlen, ebenso wenn ein Kind stirbt; die
Munda besteht gewöhnlich in einem Büffel. Eine Wittwe
fällt dem nächsten Verwandten ihres Mannes zu. Erfolgt
ein Todesfall durch einen unglücklichen Zufall, oder durch
Cholera oder Blattern, so wird keine Munda gezahlt.
Polygamie ist erlaubt, kommt aber selten vor; Scheidung
ist bei beiderseitiger Einwilligung gestattet, aber das Braut-
geld muß dann zurückgezahlt werden. Die Leichen werden
in Särgen bestattet; man giebt ihnen Waffen und Geräthe
mit und stellt den Sarg in einen tiefen Graben, dessen
Oeffnung mit einem großen flachen Steine geschlossen wird.
Die Angaben über die religiösen Ideen der Kaupuis
sind etwas verworren. Sie scheinen an ein gütiges höchstes
Wesen und zahlreiche, darunter auch böse, Geister zu
glauben; sicher nehmen sie ein künftiges Leben an, in
welchem z. B. der Mörder Sklave des Ermordeten wird.
Ein anderer interessanter Stamm, mit welchem Watt
in Beziehungen kam, sind die nördlich von Manipur
wohnenden Kolyas, Stammverwandte der angrenzenden
Naga s. Sie sind erheblich zahlreicher als die Kaupuis;
jeder ihrer acht Clans wird auf 5000 Seelen geschätzt.
Nach ihrer eigenen Tradition wie nach der der Angamis
stammen sie von diesen ab, sind aber sehr verkommen und
arm und in hohem Grade diebisch. Ein ertappter Dieb
hat nur das gestohlene Gut wieder herauszugeben, aber
ungerechtfertigter Vorwurf des Diebstahls gilt für eine
schwere Beleidigung. Schmucksachen sind selten, viele
Männer tragen nur einen kleinen Lendenlappen, Wohl-
habendere den Dhoti, ein fast dem Kilt der Hochländer
entsprechendes Stück schwarzen Zeuges, ganz wie die
Angamis. In Bezug auf die Ehe sind sie strenger als
die Kaupuis; der Ehebrecher wird getödtet, der Frau wird
das Haar abgeschnitten, die Nase aufgeschlitzt und sämmt-
licher Schmuck abgenommen, so daß sie ganz bloß zu ihren
Eltern zurückkehrt. Uebrigens ist die Scheidung leicht.
Wie bei allen Nagas sind Heirathen zwischen Verwandten
streng untersagt.
Die politischen Verhältnisse sind bei den verschiedenen
Clans verschieden. Die Maos haben einen erblichen
Häuptling, welchem jede Familie jährlich einen Sack Reis
steuern muß. Die Murrams, welche in einem großen
Dorfe von etwa 1000 Häusern zusammen wohnen, haben
zwei Häuptlinge, den großen und den kleinen; der große
erhält von jedem erlegten Stück Wild einen Hinterschenkel,
der kleine bezieht diese Abgabe nur von seinen Nachbarn,
hat aber das Vorrecht, mit dem Rcispflanzen nicht warten
zu müssen, bis der große Häuptling fertig ist. — Die
MYang Khongs haben in jedem ihrer neun Dörfer
einen Chef wie die Kaupuis und kümmern sich um die-
selben ziemlich ebenso wenig wie diese. Dasselbe gilt von
den M e i t h i P h u m und den T a n g a l s. — Alle Stämme
errichten zu Ehren großer Feste und besonderer Ereignisse
an weit sichtbaren Punkten Monolithe, mitunter acht bis
neun Fuß hoch, oft auch mehrere zusammen, doch ohne
bestimmte Anordnung; es ist das ein Gebrauch, der sie
scharf von den Kaupuis scheidet.
Scharf ausgeprägt ist aber auch die Scheidelinie nach
einer anderen Richtung hin. Sobald man von dem Dorfe
Mao aus die Grenze von Manipur überschreitet, findet
man sich unter einem ganz anderen Volke, einem kühnen,
kriegerischen Bergstamme, der auf sein Acnßeres ebenso stolz
ist, wie ans seine wilden Berge und die den steilen Hügel-
abhängen abgewonnenen Terrassenselder. Es sind die An-
gamis. Ihre Sitten und Gebräuche sind durch Colonel
Woodthorpe bereits 1880 eingehend geschildert worden,
nur die eigenthümliche Einrichtung der Khels hat derselbe
nicht ganz richtig aufgefaßt. Diese Khels sind Unter-
abtheilungen, in welche der ganze Stamm zerfällt, die aber
nicht räumlich geschiedene Landestheile bewohnen, sondern in
den Dörfern gemischt sind. Hier sondern sie sich freilich
oft dnrch Mauern von einander ab und haben dann keiner-
lei Verkehr mit einander. Jeder Khcl hat seinen Häupt-
ling in jedem Dorfe, doch hat derselbe nur wenig Gewalt.
Die jungen Leute beiderlei Geschlechtes wohnen in jedem
Khel in besonderen Klubhäusern zusammen. — Auch die
Angamis richten, wie die anderen Nagas, Steine auf und
es ist von großem Interesse, daß sich in diesen Steinen
häufig schüsselförmige Vertiefungen finden, wie in den
europäischen megalithischen Monumenten. Von einem
Stein in der Scheidemauer zwischen den Khels von Keg-
ln im a behaupteten die Anwohner, die Vertiefungen seien
von ihren Vätern gemacht worden, die als Kinder hier das
Reisstampfen der Erwachsenen nachgeahmt hätten; doch
konnte Niemand angeben, warum und wann dieses Spiel
abgekommen sei. — Außer den Steinen errichten die Anga-
mis auch an den Waldpfaden Haufen von Laub, um die
bösen Geister, die dort wohnen, zu beschwichtigen, und
pflanzen daneben einen Pfahl, der oben zu einer Kugel zu-
geschnitten und von einem Loch durchbohrt ist. Aehnliche
Gebräuche finden sich auch in Sikkim; überall läßt sie der
vorbeipassirende Wanderer zur Rechten. — Seine Orakel
holt der Angami sich bei einer Pflanze, Adhatoda vesicosa;
er schneidet ihren Stengel in feine Scheibchen und achtet
darauf, wie oft das herzförmige schwarze Mark die Spitze
gegen ihn oder von ihm ab richtet.
Die Angamis sind fleißige Ackerbauer und leisten für
ihre unvollkommenen Werkzeuge wirklich Erstaunliches; auf
große Entfernungen führen sie an den Hängen das Wasser-
hin auf ihre Terrassenfelder, um den Reis bewässern zu
können. Neben dem Reis bauen sie auch Mais und ver-
schiedene Sorten Bohnen und Erbsen. Von großer Wich-
tigkeit für sie ist auch eine Labiale, Perilla occmoides,
Kenia genannt; mit ihrem Samen, dem Saft von Rnbia
sikkimensis und Erlenrinde verstehen sie Menschen- und
Ziegenhaare prachtvoll scharlachroth zu färben, während be-
kanntlich in Europa das Färben der Haare nicht oder kaum
gelingt; auch die Rotangfaser nimmt diese Färbung an. —
Zum Blaufärben der Gewebe dient überall bei diesen Berg-
stämmen nicht der indische Indigo, sondern der chinesische
Kürzere Mittheilungen.
159
Strobilanthes flaccidifolius, als ob ihnen diese Kunst von
China her überkommen sei.
Südlich von den Angamis bis zu den Hirok-Bergen
wohnt eine andere Abtheilung der Ragas, die man gewöhn-
lich als die Tankhul-Nagas bezeichnet, obschon dieser
Name eigentlich nur der schwächeren und verkommeneren
Abtheilung zukommt, während die unabhängigen Stämme,
welche mittels ihrer langen Speere sowohl die Angamis,
als auch die Barmesen in ehrfurchtsvoller Entfernung ge-
halten haben, ihrer korbartigen Helme wegen L ah upas
genannt werden. Beide Stänune zusammen zählen etwa
20 000 Seelen. In ihren politischen Einrichtungen und
religiösen Gebräuchen gleichen sie einigermaßen dcnKapuis;
sie errichten keine Monolithe, wohl aber sehr eigenthümliche
Grabdenkmäler zur Erinnerung an bedeutende Männer.
Diese bestehen aus erhöhten Plattformen, etwa 3 Fuß hoch,
an dem dem Dorfe zugewendeten Ende ebenso breit, am
anderen ums Doppelte verbreitert, und sorgsam mit kleinen
Steinen gepflastert; am breiten Ende stehen fünf geschnitzte
Pfosten, drei in einer Linie, die beiden anderen dahinter;
sie tragen die Hörner und Schädel der Opferthiere. Im
Ackerbau stehen sie entschieden den Angamis nach; außer-
dem Reis bauen sie Coix lachryma, sonst unter dem
Rainen Jobs tears ein gefürchtetes Unkraut in ganz Indien.
Die Tankhuls haben eine eigenthümliche Methode, Feste
oder wichtigere Ereignisse bekannt zu machen; es wird näm-
lich ein dreieckiges Bambugeflecht auf zwei Pfählen ausge-
pflanzt, aus dessen Verzierungen jeder Naya sofort erkennt,
wann, wo und warum die Ceremonie stattfindet. Watt
hatte Gelegenheit, einer Opferceremonie beizuwohnen, durch
welche der große Gott Kanchin-Kurah um Regen an-
gegangen wurde. Es waren unter bestimmten Gebräuchen
Kuchen ans Reismehl angefertigt worden; jedes Ehepaar
erhielt davon elf Stück, sechs für den Mann, fünf für die
Fran; jedes Paar setzte sich nun an einer erhöhten Stelle
nieder, aß Hundefleisch und dazu die Kuchen; aber von
jedem Kuchen wurde ein Stück dem großen Gott dargebracht.
Hundesleisch ist das Lieblingsgericht der Nayas und es zeigt
sich auch hier wieder der oft beobachtete innige Zusammen-
hang zwischen Hundeflcischessen und Kannibalismus. Die
Nayas gestehen nämlich selbst zu, daß sie früher Menschen-
fleisch gegessen hätten, und sie zeigten Watt einen fernen
Berg, hinter dem heute noch Anthropophagen wohnten.
Heute genießen sie mit Ausnahme von Pferdefleisch und
Milch alles, was sich essen läßt, und zeigen eine sehr bedenk-
liche Vorliebe für faules Fleisch; auch die Eier erscheinen
ihnen erst dann gut, wenn sie völlig faul sind. Höchst
eigenthümlich ist die Art und Weife, wie sie die neugeborenen
Kinder abzuhärten suchen: sie brühen sie förmlich in heißem
Wasser. Auch die Mutter wird in heiße Decken eingewickelt,
bis sie ohnmächtig wird; trotzdem geht sie schon am dritten
Tage wieder ihren gewohnten Geschäften nach.
Kürzere Mi
Die Lady Franklin-Bai-Expedition.
Für ein größeres Publikum bestimmt, jedoch auch dem Fach-
manne nicht unwillkommen, ist soeben eine deutsche Ausgabe
der englisch publicirten populären Schilderung der unglück-
lichen „Lady Franklin-Bai-Expedition", welche unter
der Führung des Obertientenant A. W. Grcely stand, er-
schienen. Zum Zwecke wissenschaftlicher Beobachtungen im Ver-
bände der internationalen Polarforschung der Jahre 1882/83
ausgerüstet, verließ die Expedition am 7. Juli 1881 auf dem
„Proteus" den Hafen von St. Johns, um ihre Station in der
Lady Franklin-Bai, nördlich vom 81. Grade, einzunehmen.
Die Ankunft erfolgte daselbst am 11. August und am 16.
konnte bereits die Anlage des Fort Conger genannten Sta-
tionsgebäudes begonnen werden, während am 26. der „Pro-
teus" die Rückreise antrat. Im Herbst 1881 führten
Grecly und seine Leute nur noch kürzere Schlittenreisen
aus, die besonders den Zweck hatten, die von früheren Expe-
ditionen in Cairns niedergelegten Vorräthe in Bezug auf
ihre Brauchbarkeit zu untersuchen und neue Depots zu er-
richten, welche als Stützpunkte für spätere Schlittenreisen
dienen sollten. Die wissenschaftlichen Beobachtungen began-
nen am 1. Juli 1881 noch auf See und wurden ununter-
brochen fortgesetzt bis zum 21. Juli 1884, kurz vor dem
Antritte des Rückzuges. Sie erstreckten sich nächst der Er-
forschung der magnetischen und meteorologischen Verhältnisse
auch auf Fluthmessungen, sowie andere physisch-geographische
und naturwissenschaftliche Disciplinen.
Nach einem glücklich verbrachten Winter wurden im Früh-
jahr 1882 die Schlittenreisen aufgenommen und hierbei
äußerst wichtige Resultate erlangt. Während Grecly selbst
i) Drei Jahre im hohen Norden. Die Lady Franklin-
Bai-Expedition in den Jahren 1881 —1884 von Adolph W.
Grecly. Aus dem Englischen von Reinhold Teuscher, Dr.
med. Mit zahlreichen Illustrationen, nebst Karten und Plänen.
Jena, Hermann Eostenoble, 1887.
t t h e i l u n g e n.
eine Reise nach dem Inneren von Grinnell-Land unternahm
und hier interessante Entdeckungen über die physikalischen
Verhältnisse dieses Gebietes machte, unter anderen den Hagen-
See, den Ruggles-River rc. auffand, führte Lieut. Lock-
wood seine Schlittenreise nach Nordgrönland aus. Es ge-
lang ihm, Kap Britannia zu überschreiten und in 83° 24'
uördl. Breite, auf der nach ihm benannten Lockwood-Jnsel,
das nördlichste bisher von irgend Jemand erreichte Land zu
betreten. Im Sonlmer desselben Jahres unternahm dann
Greely eine zweite Reise nach Grinnell-Land, auf weicherer
seine zuvor erworbene Kenntniß der Verhältnisse des Inneren,
sowie von Nord-Grinuell-Land überhaupt wesentlich erweiterte.
Ein Gleiches geschah durch die im Frühjahr 1883 ausge-
führte Reise Lockwood's quer durch Grinnell-Land, die
durch die Entdeckung des Greely-Fjords und der 150 Fuß
Fronthöhe besitzenden Eismauer des rnor da glace Agassiz
besonders wichtig geworden ist. Ein eigenes Kapitel (S. 295 ff.)
widmet Greely seinen Wahrnehmungen über die Natur des
Polareises.
Mit dem Ausbleiben des Proviantschiffes im Sommcr
1882 war zwar die Expedition in einige Unruhe gerathen,
nicht aber ihr Muth verringert worden. Als aber nach
trübe verbrachtem Winter auch der zweite Sommer fast zu
Ende zu gehen drohte, ohne daß ein Entsatzschiff erschien,
mußte man Vorbereitungen zuni Riickzng in Booten tref-
fen. Am 9. August 1883 wurde derselbe auch mit allen
Vorsichtsmaßregeln angetreten. Anfangs ging die Fahrt
glücklich, bald aber zeigten sich Schwierigkeiten und am
10. September mußte die Dampfbarkasse verlassen werden
und der weitere Rückzug auf Schlitten, resp. auf einer paläo-
krystischen Scholle treibend, vor sich gehen. Den 9. Oktober
erlangte man Kenntniß von dem am 24. Juli 1883 erfolg-
ten Untergänge des „Proteus", welcher Entsatz bringen sollte,
indem ein von der Mannschaft desselben zurückgelassener Be-
richt aufgefunden wurde. Da hiernach bei Kap Sabine rc.
Vorräthe sich befinden sollten, so beschloß Greely, dahinauf-
160
Aus allen Erdtheilen.
zubrechen. Unterdessen wurde die Lage der Expedition immer
bedenklicher, so daß Grcely, nm die Kräfte der Leute zu
schonen, die bis dahin mitgeführten Instrumente und Ab-
schriften der Beobachtungen ans Stalknecht-Jsland an der
Südseite des Payerhafens in einem Cairn zurücklassen mußte.
Im Oktober 1883 wurde dann das Winterlager in Camp
Clay bei Kap Sabine bezogen, freilich in ganz ungenügender
Weise und mit der sicheren Aussicht, Hungers zu sterben,
wenn im nächsten Jahre kein Entsatz kommen würde. Im
Februar wurde ein erfolgloser Versuch gemacht, den Smith-
Sund zu überschreiten, um ans der grönländischen Küste süd-
wärts zu dringen; ebenso erfolglos waren die Versuche, die
Vorräthe von Kap Jsabella und Littleton Island nach den:
Lager zu bringen. In Folge der hierdurch bewirkten schlech-
ten Ernährung forderte der Tod bald ein Opfer nach dem
anderen, nachdem die Expedition schon am 18. Januar 1884
ihren ersten Todten gehabt hatte. Wie weit die Entkräftung
der Betheiligten ging, ist am besten aus der Notiz Greely's
zu entnehmen, die er unter dem 18. März in sein Tagebuch
aufgenommen hat, und in der es heißt: „Wären wir jetzt die
starken, thätigen Männer vorn vorigen Herbst, so könnten wir
wohl den Smith-Sund überschreiten; aber wir sind viernud-
zwanzig ausgehungerte Männer, von denen zwei nicht gehen,
und ein halbes Dutzend nicht ein Pfund ziehen können."
Als endlich am 23. Juni das Hilfsgeschwader unter Füh-
rung der „Thetis" die ersehnte Rettung brachte, waren in
Folge der vielen Entbehrungen von jenen muthvollen Män-
nern nur noch sieben übrig, von denen noch einer später in
Godhavn starb. Von den Entdeckern des höchsten Nordens
lebte nur noch der Sergeant Brainard, und zu beklagen ist,
daß, wie Greely am Schluß erwähnt, seine überlebenden
Begleiter in keiner Weise eine Beförderung oder sonst welche
dauernde Anerkennung ihrer Verdienste, welche sie alle um
die Kenntniß jener hohen Breiten sich erworben haben, er-
halten haben. Den Schluß des Buches bilden dann anhangs-
weise Angaben über meteorologische Mittelwerthe der Station
in Fort Conger im Vergleich mit denen anderer Expeditionen,
über EisverhAtnisse, einige Mittheilungen über die Bewohner
Grinnell-Lands, sowie naturgeschichtliche Mittheilungen.
Hervorzuheben ist noch die reiche Fülle von Illustrationen
und Karten, die das Werk begleiten und den Text verständ-
licher und interessanter machen.
Aus allen
Aste n.
— Im zweiten Bande (Lieferung 45 bis 64) des Pracht-
werkes „ Palästina in Wort und Bild" (Stuttgart
und Leipzig, Deutsche Verlags-Anstalt) führt uns Professor
Gut he zunächst in die großartigen Gebirgslandschaften des
Libanon, welche in einer Reihe prachtvoller Bilder dar-
gestellt sind, und schildert die phönikische Küste mit ihren alt-
berühmten Städten Tyrus, Sidon und Berytos, deren Ge-
schichte, die Bedeutung, welche die Phönikier für die Kultur
Europas gehabt haben (S. 40 ff.), und die heutige Blüthe Bei-
ruts, zu dessen Bedeutung die 1823 gegründete amerikanische
Mission, wenigstens auf geistigem Gebiete, so mächtig bei-
getragen hat. Mit richtigem Verständniß rückt Guthe das-
jenige in den Vordergrund, was jeder Gebildete von Palästina
zunächst und vor allem zu wissen wünscht, nämlich das
Geschichtliche; nur so gewinnen diese Bilder und Schilderun-
gen ihre wahre Bedeutung, wenn man sie als die Scene der
gewaltigsten geschichtlichen Ereignisse betrachtet, der sich kein
zweites Land auf Erden an die Seite stellen kann. Die
physischen Erscheinungen sind in Palästina nicht anders als
in anderen Gegenden — der Mensch allein hat diesem
Lande eine andere, höhere Weihe verliehen, nur die historische
Auffassung vermag ihm völlig gerecht zu werden. — Gnthe
führt uns von Tyrus, dessen Name so eng mit demjenigen
Alexander's verknüpft ist, nach Akko, dem besten natürlichen
Hafen Palästinas, der Bonaparte's Mißgeschick ins Gedächt-
niß ruft, nach Haifa mit seiner interessanten Niederlassung
der Templer, und dem geschichtsreichen Karmel-Gebirge.
Dann folgt die gerade, langgestreckte, hafenlose, jetzt verödete
Küste Palästinas und des Philisterlandes. „Von außen
keine Anfrage nach dem Ertrage des Landes, aus dem In-
neren kein Angebot der Arbeit seiner Bewohner. Was der
Bucht von Akko noch erhalten geblieben ist, Leben und Bewe-
gung, der friedliche Wettstreit des Schaffens und der Arbeit,
das hat dieser verödete Landstreifen schon seit Jahrhunderten
Erdtheilen.
nicht mehr gesehen. Freilich entbehrt die Küste durchaus
des Vorzugs einer natürlichen Gliederung, sie gleicht fast
ganz einer geraden Linie ohne Vorsprünge und Buchten, und
keine Handelsstraße lockt die Karawanen des Binnenlandes an
das Gestade hinab. Aber es ist auch hier , einst anders ge-
wesen. Von dieser Küste ans haben die Römer eine Zeit
lang Palästina beherrscht und verwaltet, und noch die Kreuz-
fahrer besaßen hier eine wichtige Station ihres Verkehrs mit
dem Abendlande (Detroit und Cäsaren). Aber die stolzen
Städte und Burgen sind nicht mehr bewohnt und fast ver-
gessen, schon seit geraumer Zeit sind ihre Ruinen die maleri-
schen Denkmäler auf dem Grabe der Kultur geworden, die
besonders unter dem befruchtenden Einflüsse des Abendlandes
an diesem Strande geblüht hat." Die Beschreibung der
Philisterstädte und Hebrons mit seinem merkwürdigen ur-
alten Heiligthume macht den Beschluß der ersten Hälfte des
zweiten Bandes.
— Der soeben zwischen Frankreich und China ab-
geschlossene Handelsvertrag bestimmt, daß die gebirgige
Halbinsel Paklung, auf welche die Chinesen aus historischen
Gründen großen Werth legen, bei China und nicht beiTong-
king verbleibt. Dafür erhalten die Franzosen das Recht,
von Tongking aus Opium nach China einzuführen und so mit
dem indischen Produkte zu concurriren, und außerdem hat
sich China bereit erklärt, vier Grenzorte dem französischen
Handel zu eröffnen und die Einfuhrzölle daselbst bedeutend zu
ermäßigen. Dagegen hat China die Einfuhr von Salz aus
Tongking nicht gestattet und hat sich das Recht vorbehalten,
in Tongking Konsuln zu bestellen — was ihnen, in den eng-
lischen Besitzungen verwehrt ist, weil von solchen Konsulaten
ans erfahrungsgemäß leicht Intriguen gegen die europäische
Herrschaft angesponnen werden. Immerhin hat Frankreich
durch den neuen Vertrag in commercieller Hinsicht einen großen
Vorsprung vor den übrigen handeltreibenden Nationen ge-
wonnen, den diese einzuholen wohl alsbald bestrebt sein
werden.
Inhalt: Oscar Bau mann: Die Araber an den Stanley-Fällen des Congo. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr.
W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas. II. — Otto Gene st: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden. I. —
Die Bergstämme von Manipur. — Kürzere Mittheilungen: Die Lady Franklin-Bai-Expedition. — Aus allen Erdtheilen:
Asien. — (Schluß der Redaktion am 23. August 1887.)
Ncdaktcur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und So hn in Braunschweig.
fjtif besonderer Herüedslchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Die Umgebung von Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su.
Von Prof. L. von Loczy.
Die Expedition des Grafen Szochcnhi brachte den
Sommer des Jahres 1879 zwischen den Alpen des Nan-
shan und in der Gegend des Kuku-nor zu. Hsi-ning-fu war
der Ausgangspunkt unserer Excursionen, welche zu den
genußreichsten Wanderungen und den angenehmsten Er-
lebnissen unserer ganzen Chinareise gehörten. Hsi-ning-su
liegt am südlichen Ufer des gleichnamigen Flusses (30°
40' n. Br., 1020 6' L. L. Gr.) in einer Seehöhe von
2300 w; der Ta-ling-ho ergießt sich hier von Norden, ein
kleinerer Fluß von Süden in den Hauptfluß. Die Stadt
nimmt die Mitte eines von jüngeren Süßwasser-Ablage-
rungen ausgefüllten Beckens ein; ringsherum bilden die
erste Stufe der Gehänge die Wände der reichlich Gyps
enthaltenden braunen und rothen Thonschichtcn; ihre An-
höhen zieren Pagoden und gegenüber der Stadt erblicken
wir in der Felswand die Ueberreste eines riesigen Buddha-
Bildnisses. In einem Kreise voit circa 30 Um Halbdurch-
messer umgeben die Stadt etwa 400 m hohe, von Löß
bedeckte Hügel; das Becken von Hsi-ning-fu ist hier von
einem schönen Alpenlande umsäumt, indem sich die Spitzen
des Hochgebirges bis zu 3000 bis 4000 m Höhe erheben.
Die grünenden Alpenfelder und zerrissenen Kaltfelsen, die
gelbe Lößgcgcnd und die üppigen Gärten und Saaten der
bewässerten Thäler Hsi-ning-fus vereinigen sich zu einem
so abwechslungsvollen Gesammtbilde, wie wir cs nicht so
bald wieder irgendwo finden. Hsi-ning-fn ist eine gut
erhaltene Stadt, eine der reinsten Städte, die wir in China
sahen; obschon sie in die Hände der aufständischen Moham-
medaner gerieth, wurde sie nicht zerstört. Ihre Bevölkerung
beträgt 60 000 bis 70 000 Seelen; hier wohnt auch der
Amban des Kuku-nor-Landes oder Tsing-Hai. Ehemals
war die Stadt der Ausgangspunkt der Straße nach Lhafsa;
die Karawanen versahen sich hier mit allem Nöthigen,
besonders jene, die ihren Weg nach den Quellseen des Hoang-Ho
nahmen.
Am nördlichen Ufer des Hsi-ning-ho liegen die Städte
To-pa und Ton-kerr (Tan-ko-örr), jene 25, diese 50Um
westlich von Hsi-ning-fu, beide bedeutende Emporien des
chinesisch-tibetanischen Handels. Zur Zeit unseres Besuches
waren die beiden Städte ganz herabgekommcn; in den
Kaufläden Ton-kerrs (bei Huc Tong-keu-öhl) konnten
Karawanen selbst die nothwendigsten Waaren nicht erhalten;
Pferde, Maulthiere, ja selbst Sättel waren in der ganzen
Stadt nicht zu bekommen. Einen Haupthandelsartikel bildet
hier der gepreßte Thee. Die Mautthiere, die denselben
von Hsi-ning-fu nach Ton-kerr transportirten, kehrten leer
zurück. Die Tanguten und Mongolen suchen Ton-kerr
zweifelsohne oft auf. Hsi-ning-fu ist unter dem Namen
Siling in fernen Landen bekannt; in Osttibct hörten wir
oft, daß von Ta-tsiäN'lu und Tschiamdo hierher ein gerader
Weg führe, auf dem ein guter Reiter die Stadt in 12 Tagen
erreichen könne. Auch die Rupien, die ich in Hsi-ning-fn
und Ton-kerr sah, deuten darauf hin, daß die tibetischen
Karawanen auch jetzt noch zwischen Lhassa und Hsi-ning-fu
verkehren. Die Mandarinen freilich leugneten dies und
behaupteten, daß ans Furcht vor den Hsi-fan-Räubern seit
acht Jahren keine Karawane nach Lhassa gezogen wäre, ja
selbst die Lamas den Umweg über Tshing-tu-su vorzögen,
wenn sie nach Lhassa reisten.
In der Umgebung von Hsi-ning-fu bieten die Lama-
Klöster am Fuße der Alpen großes Interesse; von diesen
verdienen im Süden Kn mb um (Ta-örr-ß'), im Norden
Globus 141. Nr. 11.
162
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su.
Tsobsen (Tsho-san-ß') und Altüu (Koa-mönn-ß') ein-
gehender geschildert zu werden; das erste hatte bisher nur
Huc und Gäbet, die letzteren Prshewalski besucht. Die
ersten europäischen Reisenden, die Hsi-ning-fu aufsuchten,
waren die Jesuiten Gr üb er und D'Orville, die im
Jahre 1661 von Peking über Hsi-ning-fu nach Lhassa und
von dort nach Indien reisten. Sie thun einer großen
Mauer Erwähnung, an der man von Hsi-ning-fu in acht
Tagen nach Su-tshou gelangen könne; sie sei so breit, daß
darauf sechs Reiter neben einander einherjagen könnten.
Diese Reisenden meinten damit wahrscheinlich jene Mauer,
welche auch wir 30 km westlich von Hsi-ning-su, hinter
Topa, sahen; die Beschreibung derselben ist jedoch sehr-
übertrieben und kann ans diese alte Lehmmauer nicht bezogen
werden.
Die große Mauer, die wir schon bei Lan-tshou-fu er-
reicht hatten, zieht im Thäte des Ping-fan-ho oder Tsha-
gringol aufwärts, überschreitet neben der Straße den Kamm
des Nan-shan-Gebirges und vereinigt sich bei Ku-lang-hsien
am Rande der Sandwüste Tingri mit jenem Theile der
großen Mauer, der von Osten, vom Hoang-Ho kommend —
wie es scheint —
fortwährend dem
Fuße des Gebir-
ges folgt. Von
hier zieht die
Mauer zwischen
den berieselten
Feldern der Oase
und der Wüste
weiter; ausge-
nommen zwei Bö-
gen, die sie bei
Liang-tshon und
Kan-tshou nach
Norden be-
schreibt, konnten
wir die Mauer
von Kn - lang-
hsien bisKia-yü-
kwan in einer
Ausdehnung von
580 bis 600 km
fortwährend se-
hen. Man kann
es nicht leugnen, daß dieser Theil der Mauer planmäßig
gebaut ist; dies ist besonders bei ihrem nördlichen Ende
auffallend. Am Rande der Gobi scheidet sie im Allgemeinen
die knltivirbaren Flächen von der Wüste; jene nehmen ein
Längenthal ein, das sich zwischen den Schneebergen des
Nan-shan und den sich nördlich erhebenden parallelen Felsen-
kämmen erstreckt.
Die große Mauer folgt dem rechten Ufer des Shan-ta-
ho; die Militärstraße zieht sich am linken User weiter und
bleibt immer innerhalb der Mauer. 40 km westlich von
Su-tshon erhebt sich eine hohe Bcrgspitzc vor den Schnee-
bergen des Nan-shan, die durch eine hochgelegene Kieswüste
mit dem Hochgebirge verbunden ist; von hier wendet sich
die große Mauer nach Süden bis zum Fuße des Nan-
shan ; der Weg führt durch eine Festung zum befestigten
Thor Kia-yü'kwan, dessen Name „gutes Bergthor" bedeutet.
Dieser Theil der großen Mauer ist sichtlich zum Schutze
der Niederlassungen der Landleute und der großen Straße
gegen die von Norden drohenden feindlichen Einfälle erbaut.
Hierauf deutet die Brustwehr am Nordrande der Mauer,
hierauf auch die in einer Entfernung von je 5 Li (2,8 km)
stehenden Thürme, bei welchen an der Südseite der Mauer
Die große Maner mit ihrem Laufgraben in Kan-su.
die mit einer gestampften Mauer umgebenen Häuser der
Besatzung stehen. Die große Mauer hat in den Gebirgen
Kan-sns eine Abzweigung ; an dem Orte, wo die Landstraße
vom Tshagrin-gol-Thale auf den Sattel Wu-sho-ling an-
steigt, zweigt sich von der Hauptmauer nach Süden eine
andere Mauer aufwärts ab, die in ihrem weiteren Verlaufe
im Nan-shan-Gebirge das Thalbecken von Hsi-ning-fu von
Westen umfaßt und dann im Ka-yi-shan-Gebirge, südlich
von Hsi-ning-fu, endigt.
Die Wege, die von Hsi-ning-fu nach W und S aus-
gehen, führen durch befestigte und mit Militärbesatzung
belegte Thore unter der Mauer durch.
Jener Theil der großen Mauer, der dem Tshagrin-gol-
Thale folgt, ist gegen Süden und Westen gewendet, daher
gegen die Tanguten gebaut. Ihre gute Erhaltung läßt auf
verhältnißmüßig geringes Alter schließen; sie stammt wahr-
scheinlich aus der Zeit der Ming-Dynastie (1368 bis 1644),
als die Städte und öffentlichen Bauten des Reiches mehr
Sorgfalt genossen als gegenwärtig.
Wer die große Mauer im Nan-kou-Gebirge, nördlich
von Peking, kennt, der wird die märchenhafte Grenzmaner
Chinas in ihrer
hiesigen Gestalt
elend finden.
Denn hier in
Kan - su ist sie
nicht ans Steinen
oder Ziegeln, son-
dern aus ge-
stampfler Erde
erbaut. So wie
die Häuser der
ungarischen Tief-
ebene, so ist auch
diese Mauer ans
Lehm aufgeführt.
Die gelbe Erde,
mit Wasser ge-
knetet, wurde in
0,20 m dicken
Schichten zwi-
schen Bretter-
planken so lange
ausgethürmt, bis
eine wallühnliche
Mauer entstand, die unten 5, oben 2 m breit war und
4 bis 5 m Höhe hatte. Ihre Neigung ist an der Außen-
seite 850; üin- ihr zieht sich ein 1,50 m tiefer Graben
entlang. Gleichfalls an der Außenseite zieht sich in einer
Entfernung von 80 bis 100 m ein zweiter Laufgraben hin,
der sammt einer niederen Schanze der großen Maner parallel
läuft.
Die Wachtthürine stehen nicht nur an der großen Maner
in gleichen Distanzen, sondern an allen Landstraßen des Reiches
befindet sich auch in Kan-su auf eine Entfernung von 2
bis 3 km je ein Wachtthurin von 8 bis 10 m Höhe. Sie
sind zugleich Wegweiser, denn an jedem derselben ist die
Länge des Weges angegeben. Vor jedem stehen fünf kleinere,
1,8 bis 2 rn hohe, dem großen Thurm ähnliche obeliskenartige
Thürmchen. Um den Thurm herum wohnt die Besatzung;
auf seiner Spitze befindet sich hier und da ein gedecktes
Wachtzimmer, in das der Wächter mit Hilfe eines an der
Mauer des Thurmes herabhängenden Strickes gelangt.
Ehemals dienten diese Thürme auch zur optischen Telegraphie,
die des Nachts mittels Feuers, am Tage durch Rauch ge-
schah ; es ist die Ansicht verbreitet, der Dünger des Wolfes
sei hierzu am passendsten, da dessen Rauch auch im größten
Q
von Loczy: Die Umgebung voll Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su.
163
Sturme senkrecht in die Höhe steige. Die jetzigen Wacht-
Häuser sind kleine Lehmhütten, auf deren Wände Tiger,
Fahnen und Luntengewehre in rohen Umrissen gezeichnet
sind. Außer den Wachthänsern an der Straße giebt es
llvch größere Erdverschanzungen, in denen eine größere
Besatzung concentrirt ist, da in diesem Theile Kan-sus
auch jetzt noch nicht vollständige Ruhe herrscht. Die
Mohammedaner sind wohl besiegt, allein ihre Ueberbleibsel
streiften lange Zeit als Nänberhorden umher; außerdem
brechen die Hsi-fan oder Fan-tß', d. i. die Tangnten, diese
geschworenen Feinde der chinesischen Kolonisten, häufig ans
den unwegsamen Thälern des Nan-shan hervor, rauben das
Vieh und die Lebensmittel der Chinesen und flüchten sich
dann wieder ungestraft in ihre Schlupfwinkel zurück, wohin
ihnen das chinesische Militär nicht zu folgen wagt. Die
gebirgigen Theile luib die Wüste Kan-sns litten am meisten
zur Zeit des mohammedanischen Krieges. Außer Liaug-
tshou und Kan-tshou fielen alle Städte in ihre Macht und
alle Städte und Dörfer längs der Straße wurden zerstört;
bis jetzt haben sich in den Dörfern nur so viele Bewohner
niedergelassen, als ans der Verpflegung und Verköstigung
der Reisenden
ihren Unterhalt
finden können.
Die Laudlente ha-
ben sich in Erd-
verschanzungen
zurückgezogen, wie
wir solche in der
Umgebung von
Hsi-ning-fu ge-
sehen haben. In
Lan-tshou-fu
spotten die Chine-
sen selbst über die
neue Bauart, die
ans der moham-
medanischen Re-
volution her-
stammt, und die
Städter bedauern
cs, daß sie anstatt
der geschweiften
Dächer, gezier-
ten Giebeln und Wachtthürme an der
Dachfirsten über-
all nur rohe, unförmliche Lehmmauern sehen.
Knmbum-gomba (oder ans chinesisch Ta-örr-ß') gilt
als Geburtsort des Reformators des Buddhismus, obschon
es nicht endgültig entschieden ist, ob er hier oder in Hsi-
ning-su geboren wurde. Dieser Mann, Tschong-kaba
(tibetisch Gierembutschi, chinesisch Poa-pi-fn-je genannt),
gründete die Sekte der gelben Lama, die später erstarkte
und die Hierarchie der Lama in Lhassa an sich riß. Knmbnm
ist das Seminar der jungen Lama und zugleich ein be-
rühmter Wallfahrtsort. Von fernen Landen pilgern
Gläubige zum Bilde Tschong-kaba's; auch zur Zeit unserer
Anwesenheit waren Mongolen, Tibetaner und Tanguten
im Kloster versammelt und ihre verschiedenen Trachten
boten ein buntes Bild.
Knmbnm liegt etwa 35 km südlich von Hsi-ning-fu;
der Weg führt anfangs etwa 20 km weit in einem breiten
Thäte auswärts, wendet sich dann gegen Westen und erreicht
15 km weiter aufwärts bei To-pa ein in den Hsi-ning-fu
mündendes Thal, in dessen oberem Theile wir die zwischen
Lößhügeln gelegenen vergoldeten Dächer der Heiligthümer
erblickten. Die Stadt der Lama und deren ganzer Besitz
ist mit einer Mauer umgeben. Unterhalb liegt eine chinesische
Ortschaft, die Herberge eines großen Theils der Pilger, da
die strengen Gesetze des Klosters das Uebernachten von
Frauen im Kloster verbieten. Auch Kumbum wurde in
der mohammedanischen Revolution zerstört, ersteht aber
wieder rasch ans seinen Ruinen. Ehemals wohnten 4000
Mönche darin; jetzt leben kaum 2000 in seinen Mauern.
Die Kirche mit dem goldenen Dache, in der Tschong-kaba's
Bildniß steht, die Bethalle und alle heiligen Orte wurden
von den Mohammedanern verschont, und nur die Wohnungen
der Lama fielen ihrer Zerstörnngswuth zum Opfer. Die
Kirchen reihen sich am westlichen Rande des Grabens, den
Mönchswohnungen gegenüber, eine an die andere; dazwischen
befindet sich die Küche, in der für die Mönche gekocht wird.
ans dessen Rinde man tibetische Schriftzeichen, und ans den
Blättern Buddha's Bildniß erblickt; im Norden, nahe am
Eingänge der Lama-Stadt, befindet sich die Kirche der
Ungeheuer mit zwei ausgestopften und gesattelten Tigern,
! Büren und einer Antilope; in einer anderen Kirche sind
' Fresken der Hölle und des Himmelreiches zu sehen. Im Hose
dieser Kirche wer-
den mehrere hei-
lige Bäume ge-
pflegt. Dieselben
gehören nach der
Bestimmung des
Prof. Dr. G.
Kanitz inKlau-
senburg zu einer
Fliederart (Li-
gustrina Amu-
rensis). Ihre
Blätter und auch
ihre gelblich wei-
ßen duftlosen
Blüthen sind de-
nen unserer Flic-
derbänme ähnlich.
Die jüngeren
Zweige des Bau-
mes — oder viel-
mehr Strauches
— haben eine
Heerstraße in Kan- su. glatte, abschäl-
bare Rinde, wie
der Kirsch- oder Weichselbanm. Ihre Rinde ist mit tibe-
tischen Schriftzeichen oder ähnlichen Figuren übersäet;
selbst unter der Rinde finden sich Spuren dieser Zeichen.
Dieselben sind gelblichbrann und lichter als die Grundfarbe
der Rinde. Es ist wahrscheinlich, daß ein frommer Betrug
diese Zeichen durch irgend eine Säure erzielt; bisher ist
jedoch ein Argwohn unter den Chinesen nicht erwacht. Ans
den Blättern suchten wir vergeblich das Bildniß Buddha's;
nach der Behauptung der Lama kommt es sehr selten vor
und ist nur auserwählten Menschen sichtbar. Es ist nicht
erlaubt, vom Baume Zweige zu brechen; eines Morgens
aber gelang es dem Grafen Szachenyi doch, für sein Herbarium
einige solche init Blüthen abzureißen. Obwohl cs Niemand sah,
merkten die Lama doch das Fehlen der Zweige und ließen den
Baum mit Balken umzäunen, damit wir uns demselben nicht
mehr nähern könnten. Die abfallenden Blätter verkaufen sie
den Pilgern als Heilmittel. Der Baum Tschong-kaba's wird
nie gereinigt; irgend eine Raupenart hatte ihn nach der
Blüthe ganz abgefressen, so daß er Anfang August, als ich
das Kloster mit dem Grafen Szechenhi das zweite Mal besuchte,
fast ganz landlos war. Möglich, daß die Lama auch dies
21*
164
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su,
unserem Raube zuschrieben, denn sie waren, als wir sie das
zweite Mal besuchten, sehr unfreundlich und wollten uns in
den Fremdenzimmern des Klosters gar kein Quartier geben.
Ein anderer heiliger Ort, der eher eine Ansiedelung von
Eremiten, als ein Kloster zu sein scheint, ist Tshogortan,
etwa 10 km südlich von Kumbnm, am felsigen Fuße des
Ka-ji-shan. Das Kloster hat einen Maierhos; die Kirche,
deren Huc Erwähnung thut, wurde von den Mohammedanern
niedergebrannt; die Pakheerden der Priester werden auf die
hiesigen Alpenweiden getrieben. Es fiel uns die große Menge
ungehöruter Pak-Kühe auf; cs scheint dies eine durch Kreuzung
mit dem gewöhnlichen Ochsen entstandene Mischsorm zu
sein, die ihres Milchreichthnms wegen von den Lama mit
Vorliebe gezüchtet wird.
Kumbnm erfreut sich der besonderen Gunst des kaiser-
lichen Hofes und erhält jährlich reiche Geschenke ans Peking.
Vor der vergoldeten Broncestatne Tschong-Kaba's stehen
herrliche Bronce- und Goldgefäße, Prachtwerke aus Nephrit
und Serpentin, alle Arten von Edelsteinen, Saphir, Ame-
thyst rc. in Blumenstraußform gefaßt; werthvolle Teppiche
und Seidenstoffe bedecken die Wände. Die Statue trägt
einen spitzigen Hut, ähnlich einer Nachtmütze; in ihrem
runden, vollen Gesichte prägt sich Frömmigkeit und Durch-
gcistigung aus. Ein ewiges Licht brennt vor der Säule,
am Altar sind in zahlreichen Messingschalen Wasser und
Weizen aufgehäuft, die jeden Morgen erneuert werden.
Im Heiligthume herrscht geheimnißvolles Dunkel. Drei
hohe Thore führen in dasselbe, deren fein gearbeitete Gitter-
Haupttempel des Lamaklosters Tschobsen-gomba in Kan-sn.
thüren gewöhnlich geschlossen sind. Zu allen Tagesstunden
fanden wir kuieende Mönche und Pilger vor dem Stand-
bilde des Heiligen. Die Betenden kriechen, den Rosenkranz
iu der Hand, auf Händen und Füßen dahin, werfen sich zu
Boden, stehen wieder ans und wiederholen mit zum Gebete
gefalteten Händen das ewige Gebet: „Om mani padme
hum.“ Von der Reibung durch die Hände.der Betenden
haben sich im harten Fußboden vor dem Heiligthume 10 bis
15 cm tiefe Furchen gebildet.
Lieben der Kirche Tschongkaba's befindet sich eine
Säulenhalle, die sich in nichts vom Inneren anderer Lama-
Kirchen, die wir gesehen hatten, unterscheidet; im geräumigen
Hofe eines anderen Gebäudes machten die täglichen Gc-
sangübnngen und religiösen Disputationen der Zöglinge
einen lebhaften und eigenthümlichen Eindruck auf uns. Auf
einem Throne in der Mitte eines Korridors saß ein vor-
nehmer Lama; rechts und links im Korridor saßen in drei
Reihen die älteren Klosterbrüder; vor dem Throne kauerten
auf dem Pflaster des Hofes in vier Halbkreisen etwa 200
junge Lama in vollem Ornate, mit gekreuzten Beinen.
Ähre Kleidung bestand ans großen Stiefeln, weitem, falten-
reichem Radmantel aus rothbrannem Tuche und gelbem
fransigem Hute, der au den Helm der bayerischen Reiter
erinnerte. Der Lama sah stuulm und unbeweglich vonr
Throne auf die Reihe der jungen Lama herab; es war
wahrscheinlich ein Kntuktu, d. h. ein lebender Buddha, an
den Gebet und Gesang gerichtet waren. Der in der Mitte
der ersten Reihe sitzende ältere Lama intonirte die ersten
Worte einer Litanei, worauf die übrigen mit vierstimmigem
Refrain einfielen, ans dem besonders der starke Baß her-
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su.
165
vortönte. Wir konnten diesem Kultus den Charakter des
Erhabenen, des Ergreifenden nicht absprechen. Er erinnerte
auffallend an die Ceremonien der römisch-katholischen Kirche.
Ein anderes Mal theilten sich die Lama in kleinere Gruppen
und recitirten lange Gebete mit tiefer, gedämpfter Stimme;
ein Theil der jüngeren saß in langen Reihen auf der Erde,
ein anderer lärmte stehend, unter Applaus und heftigen Be-
wegungen. Dies waren die Disputirenden: die Stehenden
warfen die Fragen auf und suchten ihre hockenden Kollegen
durch heftige Gestikulationen zu stören und ihren Gegen-
bemerkungen Nachdruck zu verleihen. Immer schritten ältere
Lama, durch ein blaues Band am Mantel gekennzeichnet,
zwischen den einzelnen Gruppen ans und ab, um die Ordnung
aufrecht zu erhalten.
In der Küche des Klosters befinden sich drei Bronce-
kessel von 2 na Durchmesser am oberen Rande, der aus der
Mauer hervorragt, mit schönem Gußwerke und allegorischen
Figuren geschmückt; in diesen Kesseln wird der Thee und die
Milch gekocht, die täglich zweimal den Lama zur Nahrung
dienen. Wir waren im Gasthause des Klosters einquartiert;
im Hofe desselben war der Empfangssalon. Nie werde ich
die Stunde vergessen, die wir hier mit den Häuptern des
Klosters verbrachten. Graf Szochenyi hoffte, er werde im
Kloster von Kumbum einen Dolmetsch und Führer nach
Lhassa bekommen. Allein bevor wir noch dort anlangten,
waren die Lama schon instruirt, was sie uns antworten
sollten. Ihre Antwort stimmte Wort für Wort mit den
Einwendungen des Amban von Hsi-ning-fn; Räuber, Un-
geheuer, wilde Thiere wären die Hindernisse der Reise, —
Niemand gehe setzt vom Kuku-nor nach Lhassa u. s. w.
In einem niederen, mit Teppichen belegten Zimmer saßen
die zwei Häupter des Klosters; der eine, mit den Gesichts-
zügen eines Hindu, dolichocephalem Schädel, dunkler Haut-
farbe, der andere ein alter Herr, das Prototyp eines
ungarischen Stnhlrichters von ehemals; neben ihnen saß
der Geschäftsführer des Klosters; mit langem, rothbraunem
Talar angethan empfingen sie uns. Nachdem wir uns,
die flachen Hände nach aufwärts gewendet und vorwärts
gestreckt, gegenseitig begrüßt, setzten wir uns nach türkischer
Art ihnen gegenüber. Der Geschäftsführer zählte hierauf
in fließender Sprache, im donnernden lauten Tibetisch in
eingehender Weise alle Hindernisse auf, die uns die Fortsetzung
unserer Reise nicht erlaubten. Schade, daß wir den Sinn
der langen Verhandlung nur mit Hilfe zweier Dolmetscher
verstanden; ans der Betonung des Geschäftsführers erkannten
wir, daß er eine eingelernte Rede hersagte, zu welcher die
Häupter des Klosters von Zeit zu Zeit gutheißend nickten.
Auf den stachen Dächern der Lama-Stadt bewegten sich
Abends die dunklen Gestalten betender Lama; die mit tiefer
Stimme gestammelten Gebete flössen in eine angenehme
Harmonie zusammen, in der wir viel Ergreifendes und zur
Andacht Stimmendes fanden. In der Nacht durchstreifen
Wächter die Gassen, damit in den heiligen Mauern nichts
Gesetzwidriges vor sich gehe.
Die Lama-Klöster Ältün und Tshobsen, nördlich
von Hsi-ning-fn, sind bedeutend kleiner als Kumbum, und
es fehlt in ihren Mauern jene strenge Disciplin; dagegen
fanden wir dort eine freundliche, herzliche Aufnahme. Die
mit einem Oberstock versehene neue Kirche von Tshobsen
ist die schönste aller Lama-Kirchen, die ich gesehen; sie steht in
der Mitte eines viereckigen Hofes von 100 Schritt Länge;
den Hof umgiebt ein gedeckter Korridor, ein wahrhaftiger
Kreuzgang, zwischen dessen offenen Säulen 108 Gebetrolten
ans Bronce angebracht sind, scde mit den sanskritischen
Schristzeichen des „0m mani padms km“; so oft ein
Lama den Korridor betritt, dreht er alle Gebetrollen, welche
für ihn nicht nur alle heiligen Formeln, sondern auch alle
Gebete hersagen, die ans die Papierstreifen im Inneren ge-
schrieben sind.
In der Umgebung von Altün sah ich Tanguten;
Männer und Frauen tragen einen, dem Tyroler ähnlichen
Hut; die Frauen flechten ihr Haar in Zöpfe. Ihre Be-
kleidung bildet eine Art Kaftan, dessen Kragen und vorderen
Saum ein farbiger Seidenstreif schmückt; ihr Gesicht
schminken sie, wie alle tibetischen Frauen, mit rother Farbe.
Auch Mongolen sahen wir in den Kirchen; besonders auf-
fallend waren die aus der Gegend des Kuku-nor auf ihren
Kameelen zugereisten Mongolen, deren Sprache unser Dol-
metsch nicht verstand; ein untersetzter, breitschulteriger blonder
Bursche glich seinem Aeußeren nach aufs Haar einem Maier
der ungarischen Tiefebene (Alföld). Er hätte gern mit
uns gesprochen, allein wir verstanden von seinem Gerede
nur zwei Worte: „ökur“ und „demé“; jenes bedeutet Ochs
(ungarisch ökör), dieses Kameel (ungarisch tsve).
Südlich von Kumbum führt der Weg über den 3932 m
hohen Sattel von Ka-yi-shan in die Gegend des Hoang-Ho.
Am rechten Ufer desselben liegt die Stadt Kwe-tö-ting,
100 km (amtlich 185 Li) von Hsi-ning-fn; ihre Umgebung
gleicht der Hsi-ning-fus; das gelblich rothe Wasser des
Hoang-ho wälzt sich oberhalb der Stadt in einer canon-
artigen Thalenge zwischen Felsen abwärts. Ihre Umgebung
besteht aus unfruchtbaren rothen Thon- und Sandschichten
und nur die bewässerbare Thalsohle ist der Bodenkultur
günstig. Der Hoang-ho hat hier eine Seehöhe von 2283 m;
darüber erhebt sich ein 3000 m hohes Plateau, in dessen
horizontale Süßwasserschichten die Thäler des Hoang-ho
und seiner Nebengewässer zwischen steilen Wänden tief ein-
geschnitten sind.
Kwe-tö ist ein von Mauern umgebenes Städtchen mit
chinesischer Bevölkerung; in seinen Vorstädten sieht man
jedoch täglich Tanguten von verschiedenen Stämmen, die sich
ihren Bedarf an Lebensmitteln u. dergl. hier beschaffen.
Von Hsi-ning-fu führt ein schlechter und seiner Erdrutschungen
wegen gefährlicher Weg nach Kwe-tö, der nur im Sommer
und bei trockener Zeit gangbar ist. Um so mehr über-
raschte es uns, daß westlich von der Stadt ein breiter und
mit Wachthürmen versehener Weg ans die Hochebene führt.
Man zeigte uns auch eine Erdburg, welche die Chinesen
gegen die Tangnten gebaut, und deren Garnison die Räuber
bis ans den letzten Mann niedergemetzelt hatten. Der breit-
getretene Weg führt auf das um 1000 m höhere Plateau,
auf dem er als weißes Band weit gegen Westen sichtbar
bleibt. Noch einen Erdthurm, einen chinesischen Ort und
daneben die Ueberreste des Ackerbaues sah ich 22 km von
Kwe-tö. Der Anblick der ihre Heerden weidenden Tangnten
erfüllte meine Begleiter mit Schrecken; die chinesischen
Soldaten warfen sich vor mir auf die Knie und baten mich
händeringend, nicht noch weiter zu gehen, denn dies wäre der
sichere Tod; ich aber kümmerte mich nicht um ihr Flehen,
sondern ging allein ans die Anhöhe, von der ich das Plateau
zu übersehen wünschte. Die Tangnten zeigten, als ich bei
ihnen vorbeischritt — obwohl sie zuui Schuß bereit waren —
keine feindliche Absicht; als dies meine Begleiter sahen,
kamen ihrer vier mir nach und waren voll der Freude und
des Jubels, daß uns die Tangnten nichts angethan hatten.
Das Plateau von Kwe-tö ist mit den Hochebenen des
Kuku-nor und gewiß auch des Sing-suh-hai in Zusammen-
hang. Ueber den grünen Steppen erheben sich Flugsand-
hügel, und im Südwesten ist keine menschliche Wohnung
mehr sichtbar. Unter dem von Ost nach West streichenden
zackigen Kamm, der sich ans der Hochebene erhebt, waren
die Zelte der Tanguten nur mit Hilfe des Fernrohres er-
kennbar ; das Canon-Thal des Hoang-ho hingegen war weit-
hin zu verfolgen, und ich erkannte mit Gewißheit jene Stelle,
160
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fu in der chinesischen Provinz Kan-su.
wo der Fluß — in einer Entfernung von 100 bis 110 km —
aus einer Oeffnung des Gebirges ans die Hochebene heraus-
tritt. Prshewalski, der diese Gegend nach'uns besuchte, be-
reiste den Hoang-ho von Kwe-tö (nach ihm: Huide) aufwärts
noch bis zu einer Entfernung von 250 Werst, und er nennt
die Stadt Gomi als äußersten chinesischen Wohnort.
Von Hsi-ning-fn erreicht man in drei bis vier Tagen
das östliche Ufer des Kuku-nor. Die erste Tagereise fuhrt
uns in die Stadt To-p a, die ehemals ihres Handels wegen
wichtig war; jetzt finden wir innerhalb ihrer unbewohnten
Mauern nur Ruinen und nur eine Gasse seiner südwest-
lichen Vorstadt dient als Schauplatz seiner Wochen- oder
vielmehr fünftägigen Märkte. In To-pa wohnen Moham-
medaner in großer Anzahl; feit der Unterdückung ihres Auf-
standes ist ihnen das Ansiedeln in Hsi-ning-fn und Ton-kerr
versagt, und es wurde ihnen To-pa als Wohnort ange-
wiesen. Sie besitzen hier auch eine sehr schöne Moschee,
deren fünf Stock hoher, sechseckiger Pagoden-Thurm
mit seinen, mit grünen und blauen Ziegeln gedeckten Ge-
simsdächern schon von Weiten, auffüllt. In einem mit
hohen Mauern umgebenen Hofe steht die Kirche, bei deren
Eingang uns ein greiser Imam empfing; die chinesischen
Mohammedaner schlossen sich uns überall ostentativ an.
In der llmgebung von Hsi-ning-fn waren unsere Maul-
thiertreiber Mohammedaner und sie öffneten uns mit Ver-
gnügen ihre Kirche, in die sie das neugierige Volk der Stadt
nach uns nicht einließen. Die ebenerdige sechseckige Halle des
Thurmes war ganz leer; nur eine mit Holz verkleidete
Nische in der westlichen Mauer, dem Eingänge gegenüber,
niit ihrer Spitzbogenwölbung und ihren Holzschnitzereien
erinnerte an das Heiligthum der Religion Mohammed's;
an beiden Seilen der Nische hingen auf Papier geschriebene
Inschriften in schnörkeligen, aber geschmackvollen arabischen
Schriftzcichen; ähnliche waren auch aus der Mauer sichtbar,
als Beweis dafür, daß Missionare aus Mekka vor nicht gar-
langer Zeit hier geweilt haben, da man nicht voraussetzen
kaun, daß ein chinesischer Muselman die Original-Schrift-
zeichen des Koran gekannt habe.
Eine zweite Tagereise brachte uns von To-pa nach
Ton-kerr (Ton-ko-örr). Zwischen diesen zwei Städten
windet sich der Fluß durch einen engen Paß von 25 km
Länge; Ton-kerr liegt wieder in einer Thalerweiterung, die
von allen Seiten von grasreichen Bergen umgeben ist, nur
iin Westen verschwinden die Berge; schon von den Alpen
von Hsi-ning-fu nahmen wir die Depression wahr und
wähnten dort — und mit Recht — das Becken des Kuku-
nor. Der Hsi-ning-ho kommt von einer grasreichen Steppe,
die nur durch sehr niedere, von gelber Erde und Flugsand
bedeckte Hügel vom See getrennt wird. Der Weg hingegen
folgt nicht dem breiten Thale, sondern wendet sich zuerst
nach Süden, dann nach Südwesten und führt, sich mehrfach
verzweigend, zwischen hohen Bergspitzen an die Ufer des
Sees. Eine halbtägige Reise brachte uns ins Lama-Kloster
Tunko-ß' zwischen die Berge am östlichen Ufer des Sees.
Im Thale eines von Süden kommenden Baches wanderten
wir zwischen Alleen von Erlen und Pappeln aufwärts.
Die Umgebung Ton-kerrs erinnerte uns sehr an die Thäler
Siebenbürgens; dieselben Produkte, wasserreiche Flüsse und
Kanäle umgaben uns. Alles war in voller Blüthe, und
über uns erhoben sich mit Alpenblumcn geschmückte, hoch
gelegene Gefilde, zackige Bergkämme, in deren Schluchten
noch Schnee glitzerte; iu der Mitte des Juli genossen wir
hier unseren Mai. Das Lama-Kloster liegt nahe an der
oberen Grenze des Waldes zwischen 5000 m hohen Gneiß-
granit-Spitzen 3200 m über dem Meere; vor dem Kloster
eilt ein wasserreicher Gebirgsbach herab, metergroße Fels-
blöcke herabwälzend, deren Aufeinanderstürzen von einem,
fernem Kanonendonner ähnlichen, dumpfen Getöse begleitet
wird. Die Mühlen des Klosters und die Hütten der durch
Wasserkraft betriebenen Gebetmaschinen beleben das Ufer
des Baches. Im Hintergründe erheben sich aus einen,
weiten Thalkessel mit Spuren alter Gletscher die Alpen-
weiden des Klosters, auf denen sich die Heerden des zottigen
Pak weithin zerstreuen; nur mit Hilfe großer tibetischer
Hunde treiben sie die Hirten, die sich ihrer gabelförmigen
Waffen nie entledigen, wieder zusammen. Das Kloster-
selbst ist ein schmutziges, von 100 Lama bewohntes Gebäude;
man kümmerte sich um uns gar nicht, wir erhielten wohl
Quartier-, doch Butter und Brot brachten sie uns nur nach
langem Zureden und sie verriethen uns gegenüber einen ent-
schiedenen Widerwillen; auf keine Frage des Grafen Szüchcnyi
ertheilten sie Antwort. Ein zahmer Hirsch (Cervus Elaphus
oder eine verwandte Art) ging im Klosterhof frei herum.
Unterhalb Tunko-ß' vereinigen sich mehrere Bergthäler zu
einer geräumigen Thalstäche, auf der in mehreren Ort-
schaften chinesische Kolonisten mit tangntischen Frauen
wohnen. In diesem breiten Thale liegt eine chinesische
Besatzung und noch jenseits der Station Tunko-ß' sah ich
an der Straße das Kennzeichen der Wachtposten, einen
hohen Erdthurm und davor fünf kleine obeliskenartige
Thürmchen. Wir erfuhren auch, daß sich die Besatzung
von A-shih-han und Syalakuto, der zwei nächsten Stationen,
unserem Gefolge angeschlossen hatte. Es scheint daher, daß
zur Zeit unseres Besuches der Weg nach Tibet entgegen
den Behauptungen der Mandarine mit Wachtposten ver-
sehen war. Das chinesische Gefolge bestand aus 50 Mann;
der Führer desselben, ein höhergestellter Militär und Chef
des naheliegenden Wachtpostens, setzte alles in Bewegung,
um den Grafen Szüchenyi vom Besuche des Kuku-nor ab-
zureden; man schreckte uns mit den wilden Fan-tß' und mit
Thierungeheuern. Als der Graf Maulthiere verlangte,
citirtcn sie die Bewohner der Nachbardörfer vor uns; doch
diese baten uns auf den Knien, sie nicht zur Weiterreise
nach dein See zu zwingen, denn dies wäre der gewisse
Tod.
Doch all dies half nichts; wir bepackten unsere Reserve-
pferde mit den nöthigsten Lebensmitteln und setzten unseren
Marsch ans einem gangbaren Wege gegen Südwesten in
der Ueberzeugung fort, daß wir nach zwei Tagen den See
sehen würden. Unsere Ueberraschung war daher unbeschreib-
lich, als wir nach einem Ritt von nur vier Stunden vom
nächsten Sattel den glitzernden Spiegel des Sees erblickten;
noch 30 km war er entfernt und sein Spiegel lag 250 m
unter uns, aber er bot mit seiner Umgebung ein entzücken-
des Bild. Ein Alpenthal brachte uns zur Anhöhe des
Weges; wir wanderten zwischen dichten Rhododendron- und
Ribes-Sträuchen und rings um uns erhoben sich steile
hohe Spitzen. Auf der Anhöhe veränderte sich das Bild
wie mit einem Zauberschlage; der Rückblick nach hinten war
verdeckt, und vor uns lag, den halben Horizont einnehmend,
eine Steppe, wie wir sie am Rande der Gobi kennen gelernt
hatten. Von der Anhöhe des Weges senkte sich ein 10 bis
12 km breites, mit schütterem trockenem Grase bedecktes
Thal gegen den See, der sich weithin ausdehnte und den
westlichen Horizont einem Silberstreifen gleich begrenzte.
Aul südlichen Ufer erhebt sich ein hohes, abgerundetes
Gebirge, welches das Becken des Sees vom höheren Plateau
des Hoang-ho trennt, das ich von Kwe-tö gesehen hatte.
Saufte Gehänge ziehen vom Fuße des Gebirges, des Kuku-
nor-Gebirges, zum Spiegel des Sees hinab; im See selbst
erblicken wir zwei dunkle Punkte; der eine, in der Mitte
der Wasserfläche, noch innerhalb des Horizontes, ist gewiß
jene Insel, von der eine schöne Sage spricht. Etwas
weiter im Süden zeigt sich vielleicht ein Vorgebirge des
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fn in der chinesischen Provinz Kcm-su,
107
westlichen Ufers. Die Conturen der Insel sind gezackt,
gleichsam gekräuselt, als ob das Laub von Bäumen diese
Unebenheiten verursachte. Die Abhänge des Kuku-nor-
Gebirges sind von Bäumen und Sträuchen bedeckt, unten
im Thal schlängelt sich ein träger Fluß, der Tau-tan-ho,
durch dunkelgrüne Wiesen und mit Iris bedeckte Felder,
und ergießt sich inmitten kleiner Tümpel mit breiter Mün-
dung in den südöstlichen Winkel des Sees; das östliche Ufer
ist von parallel sich erstreckenden Teichen umsäumt, die aus
der Ferne wie Lagunen aussehen. Als ich den See erblickte,
brach ich in ein lautes Freudengcschrei aus und warf meinen
Hut hoch in die Luft, denn ich hatte ja die schönste Aussicht
die ich je gesehen, und vor meinen Augen öffnete sich eine
der in geographischer Hinsicht wichtigsten Gegenden Inner-
Asiens. Denken wir uns in einer Höhe von 3300 m, also
bedeutend höher als die Lomnitzer Spitze in der Tatra und
fast so hoch wie der Großglockner, einen See von der Größe
des Boden- oder des Platten-Sees, rufen wir uns jene
Alpengegend ins Gedächtniß, die wir durchzogen, und denken
wir uns dazu, daß von dem Punkte, an dem wir stehen,
wohl kaum je ein Europäer all dieses bewundert hat, und
unser Entzücken über das Panorama wird gewiß gerecht-
fertigt sein. Auch Graf Szüchenyi gab seiner Freude
hörbar Ausdruck; nur unsere Begleiter schüttelten verwundert
ihre Köpfe und konnten nicht begreifen, warum wir unsere
Reise zum Ufer des Sees noch fortsetzten, da wir^ihnija
ohnedies schon von hier gut sehen konnten.
In der Nähe des Sees erhebt sich aus der',Thalebene
Blick auf den Kuku-nor von Osten.
ein Hügel, der aus seiner Spitze einen Erdthurm trägt.
Dies ist nicht das Einzige, was an Arbeiten menschlicher
Hände erinnerte; im Thal sahen wir auch drei mit Lehm-
mauern umgebene Ortschaften. In unserer Nähe, dort
wo wir den See zum ersten Mal erblickten, liegt die Stadt
Tsha-ha-tshönn mit einer chinesischen Kirche Namens Khe-
shih-miau. All dies liegt jedoch in Trümmern und ist
unbewohnt; die umschlossenen Orte waren nach Angabe
unserer Begleiter Militärstationen und wurden durch die
Tanguten zerstört, die mit den Chinesen in fortwährender
Fehde leben. An den Usern der Wasserläufe sind noch die
Spuren des Ackerbaues, die Terrassen ans der dünnen
Lößdecke und die Wohnungen der Ackerleute zu erkennen.
Der Amban von Hsi-ning, der das Gebiet des Kuku-
nor verwaltet, tröstete uns, daß in fünf Jahren in der
Umgebung des Sees Alles geregelt und die Reise nach Tibet
von Räuberbanden nicht mehr gefährdet sein werde. Wie
es scheint, wurden seine Bestrebungen von Erfolg gekrönt,
denn das Pekinger Amtsblatt brachte am 21. Oktober 1882
den Bericht Li-shen's, des kaiserlichen Generalkontroleurs
des Kuku-nor, dem zufolge er ane 28. August in Begleitung
des Inspektors von Hsi-ning-fn mit großem Gefolge den
See besuchte und gegen Tsha-ha-to-lo-hai aufbrach, das
zweifelsohne identisch ist mit dem Orte, von wo wir den
See zuerst erblickten; am 1. September brachte er dem
Geiste des Tsing-Hai (chinesischer Name des Kuku-nor) ein
Opfer dar und am nächsten Tage hielt er mit den ver-
fammelten mongolischen Fürsten, Häuptlingen und Edlen
eine Sitzung ab; er übergab ihnen die Geschenke des Kaisers,
Seiden- und Atlasstoffe, Federn, Knöpfe, Messer, Thee und
168
L. von Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-fn in der chinesischen Provinz Kcm-su.
Salz und legte ihnen ans Herz, ans Frieden und Ordnung
zu achten und ihr friedliches Hirtenleben vor Augen haltend
sich nicht zu Unruhen hinreißen zu lassen, ° welche Strafen
nach sich ziehen müßten. Die versammelten Häuptlinge
bedankten sich gerührt für die Gnade des Kaisers und ver-
sprachen begeistert, die guten Rathschläge des Amban zu
befolgen.
Die Umgebung des Sees ist eine wahre Steppe; die
trockenen Schotter- und Thonhänge mit den Gruppen von
harten Gräsern (Lasiogrostis) verleihen ihr eine große
Aehnlichkeit mit den 1500 bis 2000 m tiefer liegenden
Steppen von Kan-sn. Atif den nassen Wiesen ist Iris die
Hauptpslanze; aber die hochgelegenen Alpenfelder zeichnen
sich durch üppige Vegetation aus. Gentiana, Anemone
und verschiedene Zwiebeln prangten hier Ende Juli in voller
Blüthe. Unzählige rattengroße Thierchen liefen auf den
ebenen Feldern umher und unterwühlten den Rasen derart,
daß die Füße unserer Pferde fortwährend tief in die Erde
einsanken. Dieser Nager (Lagomys sp.) ist das gewöhn-
lichste Thier der Kukn-nor-Steppe; im Gebirge ist ein ähn-
liches Thier, das Murmelthier, von der Größe eines Hasen
verbreitet. Jenes ist sehr neugierig, dabei aber furchtsam.
Jeden Augenblick begaffen uns 8 bis 10 vor dem Eingänge
ihrer Wohnung; wenn wir uns aber bis ans 3 bis 4 Schritte
nähern, verschwinden sie plötzlich in ihren Höhlen; entfernen
wir uns, so kriechen sic furchtsam wieder hervor. In der
Oesfnung der Höhlen dient eine Nische diesen reinlichen
Thierchen als „lieu d’aisance“, aus der sie, wenn sich darin
der erbsengroße Unrath zu sehr anhäuft, denselben hinaus-
tragen. Dieses kleine Säugethier theilt seine Wohnung
mit einer flinken Eidechse von der Gattung des Phryno-
cephalus; wenigstens sah ich dieselben immer in dieselben
Höhlen schlüpfen, die den Lagomys als Wohnung dienten.
Mehrere Finkenarten, die Steppenlerche und eine graue
Schwalbe flatterten in großen Mengen um uns herum. In
den Lüften kreisten schwarze Adler und Mäusebussarde
(Uutktt); unten in den Sümpfen des Flusses hausten graue
und weiße Reiher, Wildenten, gelbrothe Enten (Cazarca
rutila) und verschiedene Schnepfen. Am östlichen User des
Knku-nor sah Graf Szschenyi einen wilden Esel und ich
drei Antilopen.
Von den Ruinen Tsha-ha-tshönn's ritten wir noch fünf
Stunden bis zur Ebene des Sees; wir sahen aber unter-
wegs weder Menschen noch Heerden. Die Nomaden ziehen
sich um diese Zeit auf höher gelegene Weiden zurück, wahr-
scheinlich wegen der Unmasse von Fliegen, die im Sommer
die nassen Weiden überfallen. Unsere Pferde litten viel
von diesen Thieren und ich selbst trug die Spuren des
Stiches einer kleinen Fliege mit gestreiftem Bauch über
drei Wochen an meiner Hand. Um so interessanter mag
Feucrstelle der Nomaden in den Steppen von Knku-nor.
das Hirtenleben in der günstigeren Jahreszeit sein. In der
Nähe des Knku-nor sind die Spuren von Niederlassungen
häufig zu sehen und an Argal oder Düngerfencrnng ist
kein Mangel. Den Ort, wo die Zelte aufgeschlagen wer-
den, bezeichnen eigenthümliche Feuerstätten. Es ist dies ein
badewannenähnliches, Im hohes, 2 bis 21/2m langes, aus
Lehm gebautes Mauerwerk, dessen schmäleres Ende an bei-
den Seiten durch einen tiefen Einschnitt getheilt ist; der
breitere Theil wird mit Argal angefüllt und die Stelle des
Einschnittes dient zum Anzünden; das Feuer muß wahr-
scheinlich wegen der starken Winde auf diese Weise an so
tiefen Orten angezündet werden. In der Nähe des Feuer-
herdes sind auf einem viereckigen Altar ans Thon ver-
fertigte Standbilder Buddha's aufgehäuft.
Etwa eine Stunde vom Sec, an einer Salzlache,
schlugen wir unser Nachtquartier auf, in welchen! wir die
ganze Nacht hindurch froren. Die Lache war mit einer
Salzkruste bedeckt; das bittere salzige Wasser tranken nicht
einmal die Pferde, und die damit gekochten Speisen waren
kaum genießbar; unsere Soldaten fachten mit Hilfe eines
Blasebalges Feuer an; als solcher diente eine Ziegenhaut,
trichterförmig zusammengenäht und am Ende mit einem
Eisenrohre versehen. Das Argal entzündet sich schwer,
verbreitet jedoch große Wärme und erlischt selbst im Regen
nicht. Am 11. Juli brachen wir früh Morgens zum See
ans und erreichten seine Ufer in IH2 Stunden; sein nord-
östliches User bilden Sandhügel, von denen, etwa 2 km
vom Rande des Wassers, 1 m hoch mit Löß bedeckt, ein
6 bis 7 m hohes Sandnfer zum Flusse zieht. Die Sand-
hügel, die das Wasser umsäumen, werden durch die West-
winde zusammengehäuft, hinter ihnen erstrecken sich neben
dem Ufer, parallel dazu, seichte Sümpfe. Das reine
Wasser kräuselte bis 0,60 m hohe Wellen und die ans
Ufer rollenden Wellenberge warfen verschiedene Fischknochen
und Süßwasserschnecken ans Land. Das Wasser ist, obwohl
salzig, trinkbar; die mitgebrachte, obwohl geringe Quantität
Wasser (6,8 g) analysirte Herr Prof. Dr. Wartha. Nach
seiner Analyse sind in 1000 g des im August 1879
geschöpften Wassers 13,8 g feste Bestandtheile, worunter
1,484 g kohlensaures Natrium; der alkalische Härtegrad
des Wassers ist daher 28°, Kochsalz 2,9 g. Prshewalski
brachte zweimal Wasser ans dem See mit, das Herr
Dr. C. Schmidt in Dorpat analysirte. In 1000 g des
im Jahre 1872 geschöpften Wassers waren 11,1464, im
Wasser von 1880 (Winter) 13,5937 g feste Bestandtheile;
nach Schmidt sind außer dem Kochsalz bedeutende Quanti-
täten von Glaubersalz (Natriumsulphat) und Magnesium-
bicarbonat im Wasser des Knku-nor ausgelöst.
Die fortwährenden Regen und der Mangel an Lebens-
mitteln zwang uns zur Rückkehr. Noch einmal warfen wir
einen Blick auf den Spiegel des Sees von einer 4700 m
hohen Bergspitze, die wir Tags darauf, von Tunko-ß' ans-
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
169
gehend, bestiegen; die scheidende Sonne vergoldete den Spie-
gel des Sees, allein trotz des blendenden Reflexes konnten
wir die ganze große Wasserfläche übersehen. Das Kloster
Tunko-sz' liegt schon an der Grenze von Kan-su.
Es berührte uns angenehm, uns Tritt für Tritt davon
überzeugen zu können, daß Hnc's Beschreibung der Gegend
von Hsi-ning-fu und des Klosters Kumbum mit unseren
eigenen Erfahrungen völlig übereinstimmen; obwohl eines
der Häupter Kumbums im Jahre 1844, als Hue und
Gäbet drei Monate unter den Lama zubrachten, schon Mit-
glied des Klosters war, konnte er sich an dieselben doch nicht
erinnern, denn, wie er sagte, kämen so viele fremde Pilger
von allen Landen nach Kumbum, daß es ihm unmöglich sei,
sich jeden einzelnen zu merken.
Zur Kenntniß Venezuelas.
Von Dr. W. Sicvcrs.
III. (Schluß.)
Es ist meines Wissens noch imnier nichts Genaueres
über die Neueinthcilung Venezuelas durch General Guz-
mán Blanco im Jahre 1882 (6. März) in Deutschland
bekannt geworden, und ich will daher hier kurz das Nöthige
hinzufügen. In dem „ Almanaque anuario de Rojas Her-
manos, Caracas 1884“, welcher seit 14 Jahren in der
Hauptstadt erscheint, ist eine Karte der Neueinthcilung ge-
geben; auf den Rang eines ossiciellen Dokumentes kann
dieselbe keinesfalls Anspruch machen; da aber die Grenzen
der Staaten durch die Neueinthcilung nicht verändert
worden sind, so ist anzunehmen, daß die darin enthaltenen
Angaben richtig sind. Die in dem statistischen Jahres-
bericht über die Vereinigten Staaten von Venezuela von Ge-
neral Guzmán Blanco herausgegebene Karte: Mapa físico y
politico de los Estados Unidos de Venezuela, ist technisch
so außerordentlich wenig brauchbar und wimmelt derartig
von Fehlern, daß sie vollständig außer Betracht gelassen
werden muß.
Es besteht nun Venezuela seit 1882 ans:
1 Distrikt, 8 Staaten, 8 Territorien und 2 Kolonien.
a) Den Distrikt bildet die Stadt Caracas mit den
umliegenden Dörfern (Distrito federal).
b) Die 8 Staaten find folgende:
1. Estado Guzmán Blanco; enthält die Sektionen
Bolívar, Guzmán Blanco, Guárico, Nueva Esparta, welche
den früheren Staaten gleichen Namens entsprechen. Haupt-
stadt Villa de Cura (Ciudad de Cura).
2. Estado Cara bobo, unverändert. Hauptstadt Va-
lencia.
3. Estado Bermudez, besteht aus den Secciones
Cumaná, Barcelona, Maturin, welche den gleichnamigen
früheren Staaten entsprechen. Hauptstadt Barcelona.
4. Estado Z am ora, besteht aus den Secciones (früher
Staaten) Cojedes, Portuguesa, Zamora. Hauptstadt
Guanare.
5. Estado Lara, besteht ans den Secciones (früher
Staaten) Aaraeni und Barquisimeto. Hauptstadt Bargnisimeto. :
6. Estado Los Andes, besteht ans den Secciones
(früher Staaten) Trujillo, Guzmán, Táchira. Hauptstadt
M crida.
7. Estado Falcon, besteht ans den Secciones (früher
Staaten) Falcon und Zulia; Hauptstadt ist Capatárida,
ein kleines Dorf zwischen Coro und Maracaibo, welches
ausgewählt wurde, weil weder Coro noch Maracaibo von
dem Anspruch als Hauptstadt zu gelten ablassen wollten.
8. Estado Bolívar. Dieser Staat ist neu gebildet
worden und besteht aus dem früheren Staate (jetzt Sección)
Apure und der Sección Guayana, welche jedoch in drei
Theile zerrissen ist. Der westlichste Theil umfaßt das Ge-
biet zweier Zuflüsse des Orinoco, des Rio Snapure und
Globus LII. Nr. 11.
Eh irapuri mit dem Orte Caicara am Orinoco ; der mittlere
umfaßt das Stromgebiet der linken Nebenflüsse des Rio
Caroni mit der Stadt Ciudad Bolivar (Angostura) als
Hauptort. Der dritte östlichste Theil umfaßt das Orinoco-
Delta, das Gebiet des Rio Barima und des Rio Jmataca
und wird südlich durch die Sierra de Jmataca begrenzt.
c) Territorien. Zwischen die drei Theile der Sección
Guayana des Staates Bolívar schieben sich zwei neu
geschaffene Territorien ein, nämlich:
1. Territorio Uuruari, welches das Stromgebiet des
Cuynni und Mazaruni umfaßt, sowie das des oberen Caroni
bis zur Sierra Pacaraima, der Südgrenze der Republik.
Die Ostgrenze dieses Territorio und somit auch Venezuelas
ist hier bis zum Rio Essegnibo, der von der Republik be-
anspruchten Grenze, hinausgeschoben und zugleich findet sich
auf dem vom Rio Moroco, Cuynni und Essegnibo um-
flossenen Gebiet die Bezeichnung: Territorio usurpado pol-
los Yngleses. Die diffcrirenden Ansprüche Englands und
Venezuelas sind ans der nach der Tejcra'schen Karte be-
arbeiteten Karte von Venezuela in Behm und Wagner,
Die Bevölkerung der Erde, 1878 („Ergänznngsheft
Nr. 55 zu Petermann's Mittheilungen“, Tafel 2), zur
Darstellung gebracht.
2. Territorio Caura umfaßt das Stromgebiet des Rio
Caura.
3. 4. Aus dem früheren Territorio Amazonas sind
zwei Territorien gebildet worden, nämlich Territorio Alto
Orinoco und Territorio Alto Amazonas. Die Grenze
beider verläuft dem Rio Gnaviare und dem Rio Atabapo
entlang in gerader Linie zum Austritt des Cassiqniare aus
dem Orinoco, sodann diesen letzteren und den Rio Maraca
entlang, von hier endlich auf der Wasserscheide zwischen
Orinoco und Siapa bis zur Serra Parima.
5. Territorio G o ajira umfaßt die östliche venezola-
nische Hälfte der Halbinsel Goajira.
6. Territorio Colon besteht ans den Inseln Orchilla,
Los drogues, Aves, Blanguilla, Los Hermanos. Die Text-
angabe des „Almanaque“ läßt das Territorio Caura ganz
aus, während dasselbe sich ans der Karte findet; man muß
daher bisher 6, nicht 5 Territorios zählen.
7. Am 18. August 1883 ist laut Decret des Präsidenten
der Republik noch ein weiteres Territorio gebildet worden,
welches den Namen Territorio federal armisticio führt und
folgende Begrenzung hat: Von den Quellen des strio
Táchira am Páramo de Tamá der colombianischcn Grenze
entlang, dann den Rio Arauca abwärts bis gegenüber der
Ortschaft Trinidad, von hier in gerader Linie bis zur
Mündung des strio Caparro in den Apure, sodann den
Caparro aufwärts, den strio Doradas entlang und den Torbcs
aufwärts bis zur Mündung des Quinimari, dann über
22
170
Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas.
einen El Salto genannten Punkt zu den Quellen der
Quebrada Nobillera, endlich diese abwärts zum Rio Tuchira.
Die Karten reichen nicht ans, um diese Grenzlinien genauer
zn verfolgen.
8. Endlich ist noch das Territorio Delta, welches das
Orinoco-Delta umfaßt, gebildet worden.
ä) Kolonien: 1. Die Kolonie Gnzman Blanco
liegt zwischen Caucagna und Orituco auf der Sierra dcl
Jnterior in der Nähe des Gipfels Alta Gracia in 1800 rn
Höhe.
2. DieKolonicBollvar befindet sich 8krn nordwestlich
von Gnatire, etwa 50km östlich von Caracas. Beide Kolonien
sind herzlich unbedeutend und durften kein langes Leben
haben.
Als weitere Veränderungen wollen wir erwähnen, daß
die altberUhmte Stadt Cumana jetzt den Namen Puerto
Sucre zn Ehren des berühmten Generals Sucre, welcher
die Schlacht von Ayacucho gegen die Spanier gewann,
führen soll. Auch die Stadt Barcelona soll jetzt Puerto
Gnzman Blanco heißen, so daß wir den Namen dieses
Generals viermal auf der Karte finden, nämlich Estado
Gnzman Blanco, Seccion Gnzman Blanco, Colonia Gnzman
Blanco, Puerto Gnzman Blanco.
Census. Die Bevölkerung Venezuelas betrug zu An-
fang November 1873: 1 784 194 Seelen; Ende April
1881: 2 075 245 Seelen, mithin ein Zuwachs von
291 051 Seelen oder 16,31 Proc., pro anno 2,18 Proc.
Abgenommen haben die Staaten Cojedes um 1886 und
Zamora um 2684 Seelen, das heißt also die Llanos;
zugenommen hat am meisten Barquisimeto (um 32 261),
dann Trujillo (22 734) und Barcelona (22 432). Der
Distrito federal hat sich von 60 010 ans 69 394 Einwohner
gehoben; davon fallen auf die Stadt Caracas 55638 Seelen
(24 138 männlich, 31 500 weiblich!!) gegen 48 897 Ein-
wohner im Jahre 1873. 1580 hatte Caracas 2000,
1696: 6000, 1771: 18 669, 1796 ca. 35 000, 1810:
50 000 Einwohner. Das Erdbeben von 1812 und die
endlosen Bürgerkriege reducirten die Bevölkerung seitdem
beträchtlich, so daß sie erst seit dem letzten Jahrzehnt die
Höhe von 1810 überschritten hat.
Die Zahlen für den Staat Lara in der folgenden
Tabelle sind nicht mit einander zn vereinbaren, zumal da
Bevölkerung Venezuelas Ende April 1881.
Ein- wohner Männ- lich Weiblich Häuser
1 Distrito federal. . 69 394 30 756 38 638 10 474
2 Estado Guzman Blanco .... 494 002 238 009 255 993 83 740
3 Estado Carabobo . 159 851 77 646 82 205 27 286
4 „ Bermudez . 257 867 127 867 130 000 45 187
5 „ Zamora. . 236 371 117 118 119 253 39 120
6 „ Lara . . . (234252) 233 752 110 590 (123 662) 123 162 39 983
7 „ Los Andes 293 108 142 722 150 386 56 348
8 halcón 187 051 89179 97 872 29 933
9 Bolívar 54 422 28 079 26 343 7 814
10 Territorio G o ajira 33 864 15 449 18 415 161
11 „ Alto Orinoco .... 18 230 8 401 9 829
12 Territorio Alto Amazonas . . . 18 060 8 655 9 405
13 Territorio Colon . 137 137 — 7
14 „ )yuruari 17 640 10 110 7 530 2 789
15 Colonia Guzman Blanco 1 496 800 696 352
Summe. . . 2075245 1005518 1 069 727 (1070 227) 343194
die Summirung der beiden Sektionsziffern für die Secciones
Aaracui und Barquisimeto eine Bevölkerung von 257 612
Einwohnern erzielt. Die Gesammtsumme der hier ge-
brachten Tabelle stimmt mit der wirklichen Sunime überein;
dagegen sind in dieser Tabelle 1 070 227 statt 1 069 727
Einwohner weiblichen Geschlechts gezählt. Da auch die
Zahl der Einwohner männlichen Geschlechts mit der richtigen
Summe übereinstimmt, so kann man nur annehmen, daß
es in der Tabelle für den Staat Lara heißen muß: weib-
liche Bevölkerung 123 162 anstatt 123 662. Auch die
Anzahl der Häuser ergiebt sich aus der Tabelle zu 343194
anstatt der im „Almanaque" gegebenen Summe 343 164,
was ebenfalls wohl ans einen Druckfehler zurückzuführen ist.
Die Territorien Caura, Delta und Armisticio, sowie
die Colonia Bolívar sind unter diejenigen Staaten, deren
Gebiet sie am nächsten liegen, mit eingerechnet. Ueber die
Zahl der Indianer in Guayana fehlen die Angaben. Ueber-
hanpt darf man nicht allzu großes Gewicht ans diese Zahlen
legen, da ein Census in Venezuela ein gar schwierig durch-
zuführendes Ding ist und außerdem die Regierung ein
Interesse daran hat, möglichst viele Bewohner hcraus-
zurechnen. Jedenfalls geht aber ans den gegebenen Zahlen
doch einiges Interessante hervor; wir machen darauf auf-
merksam, daß die drei Staaten Carabobo, Gnzman Blanco
und Bermudez, sowie der Distrito federal, also die östlich
des Aaracui-Cojedes liegenden Staaten Venezuelas allein
zusammen 981 114 Einwohner besitzen, d. h. beinahe die
Hälfte des ganzen Landes; dieselben haben aber zusammen
ein Areal von nur 175 643 qkm, also nur 2/13 des ge-
summten Areals der Republik. Es ergiebt sich daraus,
daß die größte Dichtigkeit der Bevölkerung in den östlichen
Küstenstaaten vorhanden ist.
Guayana und das Amazonas-Gebiet nehmen zusammen
über die Hälfte des Areals der Republik ein, besitzen aber
nur etwa 110 000 Einwohner, also nur etwas mehr als
1/20 der Gesammtzahl der Republik.
Eine weitere Thatsache, die sich ans der Tabelle ergiebt,
ist das Neberwiegcn der weiblichen Bevölkerung, und zwar
sowohl in der Gesammtzahl, wie auch in den einzelnen
Staaten. Nur in Guayana, im Staate Bolívar und dem
Territorio Puruari ist die Zahl der weiblichen Einwohner-
geringer als die der männlichen; je civilisirtcr aber ein
Staat ist, desto mehr weibliche Einwohner besitzt er; dies
zeigt sich vor allem im Distrito federal der Hauptstadt
Caracas, wo 38 638 Weiber gegen 30 756 Männer stehen,
und auch in den Staaten Gnzman Blanco, Carabobo, Los
Andes, Falcón Zulia, besonders aber in Lara, weniger in
Zamora und Bermndez.
Am stärksten bevölkert ist, wenn wir von der Insel
Margarita und der Colonia Gnzman Blanco absehen, sowie
auch den Distrito federal ausnehiuen, der Staat Carabobo,
welcher überhaupt als der eigentliche Kern Venezuelas
gelten muß. Sodann die Seccion Gnzman Blanco des
Staates Gnzman Blanco, hierauf Trujillo, der Uaracni,
Sección Bolívar des Staates Gnzman Blanco, Barquisimeto,
Cojedes, jetzt zu Zamora gehörig, Cnmanü, jetzt zu Bermudez
geschlagen, der Tüchira; am geringsten bevölkert sind die
Seccionen Apure, Zulia, Zamora, Maturili, Barcelona,
Guárico, Falcàn und Portuguesa sowie Merida. Wir-
schen, daß wesentlich die Llanos-Staaten, das Tiefland,
sowie auch die sumpfigen Distrikte der Umgebung des
Maracaibo-Sees, daun das sterile Coro und das von Hoch-
gebirgen durchzogene Merida (Gnzman) am schwächsten,
die Staaten aber, welche die wichtigsten Gebirgsthäler be-
sitzen, nämlich die inneren Landschaften des Karibischen
Gebirges, die Ost- und Westseite der Cordillere und das
Hügelland von Barquisimeto, am stärksten bevölkert sind.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
171
Nach der Zählung von 1873 hat Dr. A. Villevicencio in einem
kleinen Buche „La República de Venezuela" eine Tabelle der
Bevölkerungsdichtigkeit gegeben, welche wir hier in ver-
änderter Reihenfolge, nach Procenten geordnet, wiedergeben:
Sektionen Areal in qkm Ein- wohner . 3 ¿ X CO .1
Staat Carabvbo 5 496 122 148 22,22
Secc. Guzman Blanco (Guzm. Blanco) 7 173 98 548 13,74
Trujillo (Andes) 11 241 113 784 10,12
Paracui <Lara) Secc. Bolívar (Guzman Blanco) . . 7 453 74 018 9,93
15 014 136 124 9,07
Barquisimeto (Lara) 19 160 151 651 7,91
Cvjedcs (Zamora) 13 260 89 012 6,71
Curnaná (Bermudez) 11397 66 598 5,84
Tüchira (Andes) Guzman, Aterida (Andes) 12 546 71897 5,73
15 620 70J93 4,51
S ektionen Areal in qkm Ein- wohner ¿1« g öS
Portuguesa (Zamora) 20 899 82 456 3,95
Fallón (Fallón) 29 222 112 910 3,86
Guáricv (Guzman Blanco) .... 65 401 200 197 3,06
Barcelona (Bermudez) 35 868 103 440 2,88
Maturin (Bermudez) 34 036 51 030 1,60
Zamora (Zamora) 44159 62 022 1,40
Zulla (Falcón) 75 404 60 012 0,80
Apure (Bolívar) 57 761 18 957 0,33
Guayana (Bolívar) 359 397 35 344 0,10
Dazu die Territorios, Colonias, Insel Margarita und
Distrito federal. Im Allgemeinen ergab sich für 1873
eine mittlere Dichtigkeit der Bevölkerung Venezuelas von
1,68 pro Quadratkilometer.
Kapitän Jakobserlls Reisen im Lande der Golden.
Voit Gymnasiallehrer Otto Genest.
II.
Schon oben wurde bemerkt, daß die Anhänglichkeit
der Golden an ihre früheren Herren noch immer
sehr groß ist, und das ist ja bei der, wenn auch entfernten,
Verwandtschaft beider Völker nicht wunderbar. Die
Chinesen benutzen dieses Gefühl der Golden natürlich
wie überall, wohin sie kommen, zu ihrem Vortheil. Fast
in jedem Goldendorfe, welches Jakobsen besuchte,
fand er einen oder mehrere chinesische Kaufleute,
deren reinliche und geräumige Wohnungen Zeugniß ab-
legten von dem Reichthnme, welchen sie im Goldenlande
erworben hatten. Sie bringen den Golden chinesische
Stoffe, Thee, Tabak, Getreide und vor allem den
Reisbranntwein, dessen Verkauf allein schon diese
Händler zu wohlhabenden Leuten machen könnte. Dafür
nehmen sie den Golden ihre Fische und kostbaren Pelz-
waaren zu Spottpreisen ab und entziehen die letzteren auf
diese Weise den russischen Ka»ifleuten, welche sie sonst den:
großen Welthandel zuführen würden und so durch die
Chinesen bedeutenden Nachtheil erleiden. Daher ist die
Stimmung der russischeu Ansiedler gegen die
chinesischen Kaufleute eine ziemlich gereizte; ob es
aber wahr ist, daß einzelne derselben Agenten der chinesischen
Regierung sind, welche im Geheimen immerwährend die
Golden gegen ihre russischen Herren aufwiegeln, Dorf-
älteste ernennen und sogar im Namen ihres Kaisers
Steuern erheben, wie Jakobsen in der Gegend von Troitz-
koje versichert wurde, wage ich nicht ¿it entscheiden. Viel-
leicht gilt hier das Sprüchwort: Man sucht Niemanden
hinter der Thür, wenn man nicht selbst dahinter gesteckt
hat, denn das heimliche Aufwiegeln gegen die rechtmäßigen
Herren ist doch notorisch eines der beliebtesten Mittel der
russischen Eroberungspolitik in Asien von jeher gewesen
und ist cs noch. Gegen den Reisenden waren die
Chinesen im hohen Grade freundlich, aber man wird
ihnen schwerlich Unrecht zufügen, wenn man diese Freundlich-
keit auf das Conto ihrer Gewinnsucht setzt; sie wußten sehr
wohl, daß das Geld, welches Jakobsen freigebig für die
Geräthe der Eingeborenen hingab, doch über kurz oder lang
in ihre Taschen fließen würde, unb darum konnten sie gar
nichts Klügeres thun, als überall zwischen dem kauflustigen
Fremdling und den zurückhaltenden Golden die Ver-
mittler zu spielen. Es war erstaunlich, welchen Ein-
fluß diese Männer auf die störrischen Golden hatten; wo
keine Bitten des Reisenden und keine Befehle der russischen
Beamten etwas ausrichteten, da genügte oft ein Wort der
Chinesen, um die Golden zum Verkaufe ihrer Habseligkeiten
bereitwillig zu machen. Auch darin äußert sich die Hin-
neigung der Golden zu den Chinesen, daß jene mit großer
Regelmäßigkeit sich an der Feier des in den Februar fallen-
den chinesischen Neujahrsfestes betheiligen und Strecken von
50 km und mehr im harten Winter fahren, um diese Feier
nicht zu versäumen, die natürlich von den Kaufleuten stets
dazu benutzt wird, mit klug berechneter Freigebigkeit ihren
Kundenkreis auch für das nächste Jahr non Neuem an sich
zu fesseln.
Andererseits erfreuen si ch die R u s s e n bei
den Golden keiner Beliebtheit. Daß die letzteren
gegen die Brodjagcn schonungslos verfahren, wo sie die-
selben erreichen können, ist erklärlich und auch nothwendig,
da die russische Regierung gegen diese Galgenvögel eine
unbegreifliche Schwäche und Nachsicht zeigt. Auch darauf
ist schon hingewiesen *), daß die Golden jedem Weißen, der
sich ihnen als „Amerikaner" vorstellt, mit größerem Ver-
trauen begegnen als den Russen, und dieses Mißtrauen
hegen sie auch gegenüber den Beamten, denen sie
häufig einen stumpfen passiven Widerstand entgegensetzen
oder, wo es möglich ist, wohl auch offen den Gehorsam
verweigern, obgleich nach Jakobsen's Erfahrungen sie wenig
Grund haben, mit ihnen unzufrieden zu sein. Am ver-
haßtesten aber sind ihnen die russischen Geist-
lichen, weil diese sich bemühen, sie ihrer von den Vätern
ererbten Religion untreu zu machen und dabei vielleicht
nicht immer klug und schonend genug verfahren M Wie
1) Siehe S. 155, Spalte 2, Anm. 2.
2) Auch während seines Aufenthaltes im Gebiete der zwar
dem Namen nach zum Christenthum bekehrten, tu Wirklichkeit
aber noch dem Schamanismus ergebenen Tschuwaschen und
Tscheremisscn in der Nähe von Kasan sowie bei den Wotjakcn
hatte Jakobsen Gelegenheit, ähnliche Beobachtungen zu machen
in Beziehung aus das schroffe Verfahren der russischen Geist-
lichen. Es scheint dasselbe zur russischen Missionspraxis zu
gehören, wie ja auch der unseren Landsleuten in den Ostsee-
provinzen gegenüber angewandte Bekehrungseiser beweist.
22*
172
Otto Genest: Kapitän Jakob sen's Reisen im Lande der Golden.
gereizt die Stimmung der Golden nach dieser Richtung bin
ist, lehrt folgender Vorgang, der dem Reisenden in Troitz-
kose mitgetheilt wurde. Der Geistliche dieses Ortes hatte
im Sommer 1883 einige Kinder von solchen Goldenfraucn,
die zum Christenthnme übergetreten waren, nach Troitzkoje
bringen lassen, um sie dort zu unterrichten und ebenfalls in
die russische Kirche aufzunehmen. Da ein Protest der
Väter und ihrer Verwandten, welche von einem Uebertritte
der Kinder zum Christenthnme nichts wissen wollten,
erfolglos blieb, so entstand unter den die Gegend von
Troitzkoje bewohnenden Golden eine hochgradige Erregung
gegen die Russen, welche endlich nach mehreren Wochen
zum Ansbruch kam, indem die in ihren religiösen Gefühlen
gekränkten Stammesgenossen sich zusammenrotteten, be-
waffnet in das Dorf einfielen und die ihnen entrissenen
Kinder wieder aus dem russischen Schnlzwange befreiten.
Während sie trinmphirend abzogen, erklärten sie, daß sie
Troitzkoje in Brand stecken würden, sobald man von russi-
scher Seite den Versuch machen würde, ihnen die Kinder
wieder zu entreißen. Rur dadurch, daß man von Chaba-
rowka Militär herbeirief, die Hauptschuldigen festsetzen ließ
und den Dorfbewohnern starke Kontributionen auslegte,
konnten die Golden gezwungen werden, ihre drohende Hal-
tung aufzugeben, während ihr Haß gegen die russischen
Zwingherren im Stillen unverändert weiter glühte.
Eine eigene p o l i t i s ch e O r g a n i s a t i o n, wie sie etwa
bei den Burjaten vorhanden ist1), scheinen die Golden
niemals besessen zu haben; jetzt wenigstens ist davon nach
den Erfahrungen des Reisenden keine Spur mehr vorhanden.
Nur Dorfälteste fand er vor, die aber von den Russen
eingesetzt waren und nur sehr wenig Ansehen besaßen; wenig-
stens vermochten sie nie, wenn er ihre Hilfe anrief, ihre
Landsleute zum Verkauf ihrer Waaren zu bewegen. In
seiner Familie herrscht der Vater unbedingt, doch liegt bei
der Lebensweise des Volkes naturgemäß nur die Hausarbeit
auf den Schultern der Frauen, welche insofern eine ver-
hältnißmttßig leichte Stellung haben, wenn man sie mit
derjenigen vergleicht, die ihre Geschlechtsgenossinnen bei
vielen Ackerbau oder Viehzucht treibenden Naturvölkern ein-
nehmen, wo sie nichts weiter sind als die Lastthiere der
Männer. Die Eheschließung erfolgt auch bei diesem
Volke durch Br au tk ans. Wenn ein junger Golde gewillt
ist, in den Ehestand zu treten, so begiebt er sich in Beglei-
tung seiner Eltern oder in Ermangelung derselben seiner
nächsten Verwandten zu den Eltern seiner Auserwählten
und hält Anfrage, ob der Vater geneigt sei, ihm seine
Tochter zum Weibe zu geben. Wird diese Frage bejaht, so
theilen seine Eltern Geschenke und namentlich große Men-
gen von chinesischem Branntwein unter die Dorfbewohner
und besonders unter die Verwandten der Braut ans, und
mit dieser Ceremonie wird das junge Paar als verlobt
betrachtet. Nach Verlauf eines Jahres wiederholt sich der-
selbe Vorgang und dann wird auch ofsiciell der Kalym oder
das Kansgeld für die Braut bestimmt, das sich in seiner
Höhe vor allem nach der Jugend und Schönheit des
Mädchens richtet. Erst im dritten Jahre findet die Ver-
mählung statt. Der Bräutigam zieht mit seinen Eltern
in das Haus der Braut, wo unter Aufsicht der nächsten
Verwandten das Beilager gehalten wird, und dann siedelt
das junge Paar in das Haus des Ehemannes über, wo ein
großer Schmaus mit obligater allgemeiner Betrunkenheit
die Feier beschließt. Leider findet sich auch bei den Golden
wie bei den Koreanern der Gebrauch, daß Greise mit
zwölf- oder dreizehnjährigen Mädchen oder Kna-
1) Siehe des Verfassers Aufsatz in Nr. 1. des laufenden
Bandes dieser Zeitschrift S. 13.
ben in zartem Alter mit dreißigjährigen Frauen
verheirathet werden, eine Sitte, die natürlich nicht zur
Stärkung der Volkskraft beiträgt I. Wenn der Familien-
vater stirbt, so geht das Gesammterbe an den Erstgeborenen
über. Unter diesem Erbe befindet sich aber auch die leib-
liche Mutter des Erben; sie wird seine Gemahlin. Ebenso
heirathet der Vater, wenn sein verheirateter Sohn stirbt, dessen
hinterlassene Wittwe, und dasselbe geschieht von Seiten des
jüngeren Bruders, wenn etwa der Vater schon gestorben ist2).
Früher pflegten die Golden ihre Todten in eigens zu
diesem Zwecke erbauten Grab Häusern beizusetzen, jetzt
aber werden sie von der russischen Regierung gezwungen, sie
zu beerdigen. Diese Grabhäuser sind kleine Gebäude
aus Holz mit reichem Schnitzwerk und vieler bunten Malerei
verziert, unter deren Vorwürfen der chinesische Drache
besonders häufig erscheint. Am Gorin fand der Reisende
noch eine ganze Anzahl derselben vor, so daß die Vermuthung
nahe liegt, daß die Golden in dieser entlegenen Gegend sich
den Bestimmungen des russischen Gesetzes noch zu entziehen
wissen, denn am Amur, wo die Kontrole schärfer geübt wird,
fanden sich diese Gebäude fast gar nicht. Ihre Geräumig-
keit ist verschieden, je nachdem sie für eine einzelne Person
oder für die Aufnahme der Leichen einer ganzen Familie
bestimmt sind; die Schamanen sollen besondere Grabhüuser
haben, die besonders schön geschmückt sind. Leider gelang
es Jakobsen nirgends, eins dieser Grabhänser zu betreten;
nicht einmal einen Blick in das Innere derselben wollte
man ihm gestatten. Uebrigens erfuhr der Reisende am
Gorin, daß die Bewohner des oberen Flnßthales ihre Todten
auch in geschmackvoll bemalten Holzkisten beisetzen; besonders
soll dies mit den Leichen junger Mädchen geschehen. Die
Beerdigung erfolgt ebenso wie ehemals die Beisetzung der
Todten, nachdem man denselben die Grabkleider angelegt
hat, welche meistens aus kostbaren chinesischen Stoffen
bestehen. Alle Golden beider Geschlechter kaufen oder stellen
selbst diese Grabkleider für sich her und sind nur mit großen
Schwierigkeiten zu bewegen, sie an Fremde zu verkaufen.
Jakobsen gelang es nur dadurch, einen solchen Grabanzug
für hohen Preis zu erlangen, daß er der Eigenthümerin,
einer schon ältlichen Frau, klar machte, sie sei noch zu jung
zum Sterben und werde bis dahin noch genügend Zeit
haben, sich neue Grabkleider zu verschaffen. Man sieht,
daß selbst die Damen am Amur es nicht übel nehmen, wenn
man so höflich ist, sie für jünger zu halten, als sie sind.
1) So traf Jakobsen in dem Dorfe Bolon im Februar
1885 einen etwa zehn Jahre alten Goldenknaben an, der für
seine gestorbene Ehehälfte dort eine Leichenfeier hielt, bei welcher
er nur geringe Traurigkeit zeigte, denn die Entschlafene war
über 20 Jahre älter gewesen als er. Ilcberhaupt ging es bei
dieser Trauerfeierlichkeit recht lustig zu. Es waren nur Frauen
zugegen, da die Männer aus der Zobekjagd abwesend waren,
diese Damen aber ließen sich kräftige Portionen Branntwein,
welche ihnen der junge Wittwer reichte, herrlich munden und
fanden des Erzählens und Lachens kein Ende.
2) Diese Mittheilung Jakobsen's will mir nicht recht glaub-
haft erscheinen. Er berichtet nänilich, daß die Golden die Blut-
schänder mit dem Tode bestrafen, ebenso wie die Ehebrecher;
beide Bemerkungen aber sind doch mit einander nicht gut in
Einklang zu bringen, wenigstens soweit die Heirath des Sohnes
mit seiner leiblichen Mutter in Betracht kommt. Ich glaube,
daß die Angabe Jakobsen's in dieser Beziehung auf einem
Mißverständnis; beruht, das sich vielleicht dahin aufklären läßt,
daß der Sohn mit dem übrigen Eigenthuni des verstorbenen
Vaters auch die Mutter als solches überkommt, daß sie ihm
dienstbar wird wie der ganze übrige Hausstand ihres Mannes,
ohne daß doch zwischen Mutter und Sohn ein geschlechtlicher
Verkehr bestände. Uebrigens ist mir sehr wohl bekannt, daß hier
und da bei polygamen Völkern die Frauen des verstorbenen
Vaters auf den Erben übergehen, aber mit Ausnahme der
leiblichen Mutter. Vergleiche Peschel-Kirchhosf, Völkerkunde
S. 226.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
173
Ihre Nahrung gewinnen die Golden theils aus dem
Fischfang, theils aus der Jagd. Ackerbau treiben sie
nicht; was sie von Ackerfrüchten brauchen, wird ihnen fast
durchweg von den Chinesen zugeführt. Hier steht obenan
die Hirse, welche ja auch das Hauptnahrungsmittel der
staminverwandten Mandschu ist und in deren Lande viel
gebaut wird *). Von Hausthieren halten sie besonders
Hunde, welche ihre Häuser bewachen, sie bei der Jagd
unterstützen und ihnen ihre weiten Schlittenreisen int Winter
ermöglichen. Man trifft in den einzelnen Winterwohnun-
gen oft mehr als zwanzig dieser Thiere. Auch Pferde
finden sich fast in jedem Hause, ohne daß dieselben doch viel
zum Reiten gebraucht würden, denn die Vehikel für die
Ortsveränderung sind bei diesem Volke im Sommer das
Boot — Amerotscha genannt und meist aus Birkenrinde
bestehend — im Winter aber der Schlitten. Unter den
Pferden der Golden pflegen die Tiger ebenso schwere Ver-
wüstungen anzurichten wie unter den Renthieren anderer
Tungusenstämme. Die letztgenannten Thiere existiren bei
den Golden, wie es scheint, gar nicht, obgleich ihre nächsten
Nachbarn dieselben in Massen besitzen; jedenfalls erwähnt
wenigstens Jakobsen nicht, daß er sie an irgend einem
Punkte des Goldengcbietes vorgefunden habe. Nächst dem
Hunde ist das am häufigsten erscheinende Hausthier das
Schwein, dessen Fleisch die Golden namentlich zum Reis
als Fcsttagsspeise sehr gern genießen.
Ihre Kleidung stellen die Golden theils selbst her,
theils erhalten sie dieselbe durch chinesische Kaufleute.
Diese führen ihnen baumwollene Stoffe zu, aus denen
Hemden für Männer und Frauen hergestellt werden. Die-
selben reichen bis über die Knie hinab, haben lange Aermel
und schließen um den Hals herum fest an. Die vor-
herrschende Farbe für diese Hemden ist Blau, doch weiß
man ihnen durch Besatz von andersfarbigem Zeuge eine
geschmackvolle Mannigfaltigkeit zu verleihen. Ebenso werden
die von Männern und Frauen getragenen Beinkleider bis-
weilen aus chinesischem Baumwollenstoff hergestellt. Im
Allgemeinen aber besteht die Kleidung der Golden aus
Materialien, welche ihnen das eigene Land liefert, nämlich
aus Fischhaut oder aus Fellen^). Die Fischhäute
werden mit Knochenmessern abgezogen, an einander genäht
und mit Verzierungen in Malerei oder Stickerei versehen,
die bisweilen ganz geschmackvolle Muster zeigen. Die
Frauen tragen das schon namhaft gemachte lange Hemd,
darunter Hosen, welche höchst eigenthümlich gestaltet sind.
Sie lassen das Gesäß und die Geschlechtstheile frei und
reichen bis etwa zur Mitte der Waden, wo sie mit Riemen
festgebunden werden, während ich nicht anzugeben weiß,
wie man sie oben befestigt. Sic bedecken also nur die Ober-
schenkel, während Waden und Füße in Strümpfen und
Stiefeln stecken, die ebenfalls aus Fischhaut hergestellt sind
und wie Hemd und Hosen bunte Malerei ausweisen. Die
Sohlen der Strümpfe bestehen ans Renthierfell, welches
von den tungusifchen Nachbarn zu den Golden gebracht
wird, und zwar wird das Haar nach innen getragen.
Ueber den Rücken fällt ein etwa 25 am breiter Streifen
aus Zeug oder Fischhaut bis an den Saum der Hemden
herab, der mit einem Riemen um den Hals befestigt wird.
Der obere Theil dieses Gehänges ist mit Perlen, Muscheln
und Kupferzierrathen besetzt, während am unteren Ende
einige Kupferplattcn frei schwebend angebracht sind, welche 2
Auch Gemüse verstehen die Goldinnen aus den Wurzeln
einiger Pflanzen zuzubereiten, dessen Geschmack der Reisende
durch eigene Prüfung ganz erträglich gefunden hat.
2) Am Ussuri sand Jakobsen fast durchweg Fellkleidung,
während am Amur auch im Winter die aus Fischhaut herge-
stellte überwog.
bei jedem Schritt der goldischcn Schönen klingend zusammen-
schlagen. Aeltere Frauen tragen unter dem Hemde noch
lange Schürzen aus Fischhaut oder Fell, welche mit Riemen
um das Genick herum befestigt werden. Uni die Hüften
wird das Hemd von einem Gürtel zusammengehalten, welcher
zugleich dazu dient, der Gestalt eine gewisse Anmuth zu
verleihen. Der Kopf wird meines Wissens im Sommer
nicht bedeckt, im Winter hingegen tragen die goldischcn
Frauen hohe, mit mancherlei Besatz verzierte und dick ge-
fütterte Mützen aus schwarzem Sammt, den sie ebenso wie
die Baumwolle aus China beziehen. Dem oben beschriebenen
Rückengehänge entspricht als Festtagskleidung ein meist recht-
eckiger Brustschmuck, welcher ans Baumwollenzeug besteht
und mit eingestickten Mustern geschmückt ist, zu deren Her-
stellung Renthierhaare benutzt werden. Wie dem Reisenden
mitgetheilt wurde, sind diese Stickereien aber nicht goldische
Arbeit, sondern stammen von ihren Renthiere haltenden
Nachbarn. Dasselbe ist der Fall beiden ebenfalls geschmack-
voll verzierten Handschuhen, welche bei festlichen Gelegen-
heiten getragen werden und unseren Fingerhandschuhen an
Zierlichkeit nicht viel nachgeben. Daneben giebt es für den
täglichen Gebrauch auch Fausthandschuhe, welche von den
Golden selbst hergestellt werden. Leider verunzieren sich die
ohnehin schon nicht schönen Goldinnen durch silberne Nasen-
und Ohrringe. Von letzteren tragen sie bisweilen drei bis
vier in jedem Ohre, und die Folge davon ist, daß man
häufig Frauen am Amur sieht, deren Ohren derartig zer-
rissen sind, daß sie wie ausgefranst erscheinen, denn die Ringe
sind von beträchtlichem Umfang und Gewicht.
Die Kleidung der Männer gleicht im Allgemeinen
derjenigen der Frauen, nur weist sie weniger Verzierungen
auf. So fehlen Rückengehänge und Brustschmuck; auch
werden von den Männern fast nur derbe Fausthandschuhe
getragen. Die eigenthümliche Form der Beinkleider, welche
wir oben schon kennen lernten, ist auch hier üblich; da aber
die goldischcn Männer im Winter oft weite Schlittenreifen
unternehmen und der Luftzug an dem nackten Gesäß und
den Geschlechtstheilen nachtheilige Wirkungen auf ihre Ge-
sundheit ausüben könnte, so ziehen sic über die Hosen einen
Unterrock von Seehundsfell, der außerordentlich warm hält *).
Bei Regenwetter pflegen die Männer anstatt der langen
Hemden kurze Jacken aus Fischhaut zu tragen, deren Aermel
an den Handgelenken fest zusammengebunden werden, damit
ihnen bei ihrer Beschäftigung das Wasser nicht hineinläuft.
Während die Männer im Sommer Hüte aus Birkenrinde
tragen, welche in der Form den chinesischen gleich süilO),
bedienen sie sich im Winter dicker Kopfringe aus Pelz, an
welchen hübsch gestickte Ohrenklappen befestigt sind, welche
letztere die Golden, wie es scheint, von den Chinesen an-
genommen haben. Erwähnenswerth ist noch der Gürtel,
ohne den kein Golde epistiren zu können scheint, denn man
findet ihn am Ussuri ebenso allgemein im Gebrauch wie in
dem Ucbergangsgebicte zu den Giljaken. Derselbe besteht
aus einem Lederriemen, welcher gewöhnlich mit einem
Knocheuschlosse zusammengehalten wird, und fungirt als
Träger für mancherlei Geräthe, welche dem täglichen Ge-
brauche dienen. So hängt an ihm das oben schon erwähnte
Knochenmesser zum Abziehen der Fischhäute und zum Zer-
legen der Thiere, weiterhin ein anderes längeres Messer
aus Metall, ein Tabaksbeutel, ein Pfeifenräumer, ein
Feuerstahl und -Stein, ein Täschchen mit Zunder, eine
knöcherne Nadelbüchse und ein Instrument, welches pfriem-
artig gestaltet ist und zum Auslösen von Knoten, besonders
Dasselbe Kleidungsstück ist auch bei den Giljaken und
den Ainos auf Sachalin im Gebrauch.
Daneben kommen übrigens auch Filzhüte und Mützen
aus Baumwollcnzeug vor.
174
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
in den Strängen der Schlittenhunde, dient. Neben diesem
einfachen Ledergürtel erscheint übrigens an "Festtagen auch
ein mit Stickerei reich verzierter. Die Kleider aus Fischhaut
haben eine gelblichweiße Farbe und besitzen den- Vorzug,
absolut wasserdicht zu sein. Dagegen schützen sie nur wenig
gegen die Kälte und werden daher, wie schon oben bemerkt,
nicht selten durch Pelzkleider ersetzt. In rauhen Herbsttagen
zieht man häufig mehrere Fischhautkleider über einander,
ein Experiment, dessen Ausführung bei der Dehnbarkeit des
Stoffes keine große Schwierigkeiten macht, das aber nicht
gerade dazu dient, die Gestalten der Träger zu verschönern *).
Von den Gerathen der Golden will ich nur einige
anführen, um nicht zu weitläufig zu werden. Ueber die
Werkzeuge, welche sie zu Fischfang und Jagd benutzen, habe
ich schon oben gesprochen; hier sei nur noch erwähnt, daß
sie ihre Netze mit kleinen, an der Sonne getrockneten Ziegel-
steinen oder mit wurstförmigen Sandsäcken ans Fischhaut
beschweren. Auch einige Hausgeräthe, wie Kopfkissen,
Schlafdecken und Kinderwiege habe ich oben schon erwähnt;
hinzufügen will ich aber noch, daß einem geehrten Gaste
beim Betreten des Hauses ein Teppich hingelegt wird, wie
bei den Kirgisen am Jrtysch, damit er mit den Füßen nicht
den bloßen Fußboden berühre. In ärmeren Häusern
werden diese Teppiche auch durch Strohmatten ersetzt. Bei
ihren Mahlzeiten bedienen sich die Golden kleiner, recht-
eckiger Tischchen mit geschnitzten Füßen und gemalter Platte,
die auch häufig mit Schubladen versehen sind -). Auf diese
Tische werden die Holzschüsseln gestellt, ans welchen man
mit geschnitzten Holzlöffeln3) oder auch nach chinesischer
Gewohnheit niit Eßstäbchen ißt. Der Gebrauch von
Servietten ist den Golden wohl bekannt. Freilich sehen
dieselben etwas anders aus als die unseren, denn sie bestehen
aus Bunden von Bast oder Hobelspänen. Auch als Hand-
tücher sind dieselben im Gebrauch und ferner dienen sie
zum Reinigen der Eßgefäße nach der Mahlzeit. Löffel
und Eßstäbchen werden, nachdem sie gereinigt worden sind,
in Behälter aus Birkenrinde gelegt, welche theils cylinder-
förmig, theils prismatisch gestaltet sind. Zur Herstellung
von Körben, Schachteln und-Schüsseln werden
Birkenrinde und Bastflechterei benutzt, und man kann
den Golden die Anerkennung nicht versagen, daß sie in
derartigen Arbeiten sehr geschickt sind. Die angeführten
Geräthe erscheinen in den mannigfaltigsten Gestalten und
dienen verschiedenen Zwecken, z. B. als Behälter zum Auf-
bewahren der aus China eingeführten Tabaksblätter, zur
Unterbringung des Nähzeuges, als Salzfässer u. s. w.
Säcke und Beutel oder größere Taschen werden
aus Fischhaut gefertigt und mit Stickerei verziert. In
solchen Säcken verwahren die Golden unter anderen die
Vorräthe von Reis, Hirse und anderen Getreidearten, welche
sie von den Chinesen als Winternahrung einkaufen. Anderer-
seits werden die angesammelten Fischhäute in Säcken aus
starkem Seehundsleder ausgehoben. Die Fischhäute
u Erwähnen will ich noch, daß bei den Golden auch Finger-
ringe im Gebrauch sind, die merkwürdiger Weife gern am
Daumen getragen werden.
2) Diese Tischchen haben Aehnlichkeit mit den bei den
Koreanern gebräuchlichen (siehe Nr. 5 des laufenden Bandes
dieser Zeitschr. S. 74), sind aber nicht so zierlich gearbeitet
wie jene.
s) Auch solche Löffel kommen vor, die aus einzelnen Stäben
zusammengeflochten sind, llebrigens sei hierbei erwähnt, daß
man auch den Hunden ihr Futter in großen Holzlöffeln reicht.
bereiten sie mit falzbeinartigen Instrumenten ans Knochen
zur Benutzung als Kleider vor, während die Thierfelle
durch Klopfen mit einer hölzernen Keule geschmeidig ge-
macht werden. Die Erleuchtung der Häuser erfolgt
durch Fifchthranlampcn, welche auf einem Lampenhalter
ihren Platz finden. Dieser besteht aus einem viereckigen
Brette, auf welches die Lampe gestellt wird. An jeder
Ecke desselben erhebt sich ein senkrechter Stab von etwa 40 ein
Höhe, welcher mit dem schräg gegenüberliegenden durch ein
Querholz verbunden ist. Wo diese Hölzer sich mitten über
dem unteren Brette kreuzen, ist in sie ein langer Stab
eingelassen, der oben in einen Haken ausläuft und dazu
dient, den ganzen Apparat an der Decke aufzuhängen. Man
erreicht damit ein Doppeltes. Einmal erhellt die Lampe
durch ihre erhöhte Stellung einen beträchtlicheren Raum
der Wohnung, als wenn sie auf dem Fußboden stände, und
zweitens wird sie der Gefahr entzogen, durch die fortwährend
im Hause befindlichen Hunde umgestoßen zu werden. Von
Steingeräthen sind bei den Golden nur noch steinerne
Mörser im Gebrauche, deren Stößer ans demselben Materiale
bestehen. Kleine Wetzsteine, welche in der Mitte durchbohrt
sind und am Gürtel befestigt werden, führt jeder Golde
bei seinen winterlichen Jagdausflügcn bei sich, und ebenso
ist er stets mit einigen Schneebrillen versehen, welche,
so primitiv sie zu sein scheinen, doch völlig ihre Dienste
thun. Das Gestell dieser Brillen besteht aus Holz, die
Sehlöcher sind mit einem ganz feinen Gewebe von Pfcrde-
haaren ausgefüllt, und die Befestigung erfolgt durch Bänder,
welche am Hinterkopfe zusammengebunden werden; sie
erinnern lebhaft an die Brillen, deren unsere Studenten sich
bei der Mensur bedienen. Als Spielzeug für Kinder
finden sich bei den Golden kleine Thiere ans Holz, z. B. Ratten,
Puppen ans Fischhaut, Vögel aus Fischknochen und zierliche
Menschengestalten aus Holz, welche deutlich als russische
Soldaten zu erkennen sind und derartig absichtsvoll carricirt
sind, daß auch aus diesem Umstande die Abneigung der
Golden gegen ihre jetzigen Herren ersichtlich wird. Daß
als Knabenspielzeug Bogen und ungefährliche Pfeile nicht
fehlen, versteht sich von selbst. Von musikalischen
Instrumenten hat Jakobsen bei den Golden nur ein
einziges gefunden, das mit einer Geige entfernte Aehnlichkeit
hat und ebenso wie diese mit einem Bogen gespielt wird.
Da sich an einem anderen Orte kaum eine geeignete Ge-
legenheit zur Erwähnung finden möchte, will ich hier noch
einschalten, daß die Golden und ihre stammverwandten
Nachbaren ein e i g e n t h ü m l i ch e s S p i e l sehr lieben, das
folgenden Verlauf hat. An schönen Sommertagen begeben
sich die Männer und Jünglinge eines Dorfes unter Gesang
an das flache Ufer des Flusses I, wo sie sich in einer
Stellung, die wir etwa „große Kniebeuge" nennen würden,
im Saude niederhocken. Indem sie dann ab und zu ans
dieser Stellung emporschnellen und wieder in sie zurückfallen,
stoßen sie wunderlich hohe Töne aus, welche klingen, als
ob sie aus dem Unterleibe heraufgeholt würden, trotzdem
aber nach der Versicherung von Jakobsen's Dolmetscher
Iwan von den Golden für sehr schön gehalten werden.
U Jakobsen hat die Beobachtung gemacht, daß dort, wo
die Flußufer steil waren, die Niederlassungen der
Golden fehlten, sich aber sogleich wieder einstellten,
sobald der Strand flach wurde. Der Zweck der
goldischen Dörfer am Flusse macht diesen Umstand
erklärlich.
Kürzere Mittheilungen. — Aus allen Erdtheilen.
175
Kürzere Mittheilungen.
Bevan's Forschungsreise in Cnglisch-Neu-Guinea.
lieber die unter Führung von Theodor Bevan gemachte
Forschungsreise in das Innere von Englisch-Neu-Guinea
enthält die Zeitschrift „Nature" (11. August d. I.) einige
Mittheilungen, denen wir Folgendes entnehmen. Die Expe-
dition verließ mit dem Dampfer „Bictory", welcher Bevan für
sechs Wochen durch den Besitzer Robert Philp zur Verfügung
gestellt worden war, mu 15. März d. I. die Donnerstag-
Insel mit der Absicht, sich zu vergewissern, ob es möglich
wäre, die Gebirge im Inneren voll Neu-Guinea mittels des
Aird oder eines anderen großen Stromes zu erreichen und
wenn möglich freundschaftliche Beziehungen zu den Ein-
geborenen in der Nachbarschaft des Papua-Golfes für spätere
Forschungen herzustellen. Das Resultat der Reise ist zunächst
der Nachweis der Existenz von ausgedehnten Wasserstraßen
in das Innere, indem zwei bedeutende Ströme, der Douglas-
River und Jubilce-River entdeckt wurden; letzterer wurde
so genannt zum Andenken an das diesjährige Regierungs-
jnbiläum der Königin Victoria. Weiter wurde gefunden,
daß diese beiden Strölne mächtige Deltas besitzen, daß der
Aird kein selbständiger Strom, sondern nur ein Mündungs-
arm des Douglas ist und daß Cape Blackwood durch einen
vier bis acht Faden tiefen Kanal, dessen Stelle auf der
Admiralitätskarte als „dry land“ bezeichnet ist, von dem Fest-
lande getrennt, also eine Insel ist. Der Douglas, welcher
ans 130 Meilen seiner Länge befahren wurde, hatte ferner
zwei mächtige Zuflüsse, welche Burns- und Philp-River
genannt wurden, während eine in dieser Gegend neu entdeckte
Bergkette nach dem Onkel des Entdeckers, Thomas Bevan,
ihren Namen erhielt. Der Papua-Golf ist in der Umgebung
von Orokolo erforscht worden. Es scheinen hier fünf
scheinbar getrennte Flüsse zu münden, die aber nichts anderes
als die Deltaarme des Jubilee-River sind. Ja, Bevan ent-
deckte sogar einen sechsten Kanal, welcher jene fünf anderen
unter rechten Winkeln schneidet. Da die Zeit der Expedition
zu beschränkt war, um jeden einzelnen dieser Flußarme unter-
suchen zu können, so tvurde in westlicher Richtung weiter-
gedampft und bei späteren Flußtheilungen stets der aus dem
Inneren kommende Arm weiter befahren. Eine Woche wurde
ans diese Erforschung verwandt und, obwohl hohes Land im
Nordwesten gesehen wurde, konnte man es doch nicht erreichen.
Der letzte Flußarm, an dem dann stromaufwärts keine Theilung
beobachtet wurde, hatte eine Breite von einer Meile, und hier
bot sich den Reisenden ein prächtiger Anblick der dahinter
liegenden Landschaft. Eine Kette über der anderen, erstreckten
sich die Hügelreihen in der Ferne, überragt von einzelnen
blauen Gipfeln, wobei zu der schönen Aussicht die große Durch-
sichtigkeit der Luft viel beitrug. Die Bergketten waren alle
mit Wald bedeckt, und leicht konnten an den Gehängen die
einzelnen Wasserlänfe, beleuchtet von den glitzernden Strahlen
der Sonne, beobachtet werden. Der Fluß wurde 110 Meilen
feiner Länge befahren und, wie schon erwähnt, Jubilee-
River, jene Bergkette, von welcher er kommt, aber Albert
Victor genannt.
Was die Bewohner anlangt, so kam es nur einmal
vor, daß ein Stamm sich den Reisenden feindlich zeigte, allein
auch hier bestand die Feindseligkeit nur in dem Wechsel einiger
Pfeilsalven und blinder Schüsse. Der Name dieses Stammes
konnte nicht ermittelt werden, dagegen die Namen der übrigen,
außer den hinter den Aird-Bergen tvohnenden. Es wurden
noch besucht die Tumn, die Moko, die Kiwa Pori, die
Birumn und die Evorra, alle mehr oder weniger im Inneren
wohnend und von freundlichen Gesinnungen; einige ließen
sich sogar photographiren. Für den Naturforscher bietet sich
hier ein äußerst ergiebiges Feld. Die Expedition hat gegen
80 Vogelarten mitgebracht und viel ethnologisches Material
ans dem Tauschhandel mit den Eingeborenen. Das Klima
ist ilicht so schlimm. Die Temperatur stieg von 22° C.
Morgens auf 30" C. Mittags im Schatten, und cs kehrten
die Theilnehmer der Expedition im besten Wohlsein zu der
festgesetzten Zeit zurück. In Kurzem gedenkt Bevan seine
Forschungen wesentlich zu erweitern.
Aus allen
Europa.
— Am 14. August 1887 ertrank in der Kieler Bucht
bei einer Segelfahrt der Professor Dr. A. Pansch, geboren
2. März 1841, seit 1865 Prosector in Kiel, in weiteren
Kreisen bekannt durch seine Theilnahme an der zweiten
Deutschen Nordpolfahrt 1869/70 auf der „Germania". Für-
Ethnologie und Anthropologie hatte Pansch reges Interesse
und betheiligte sich eifrig an Ausgrabungen.
— Jos. Lad. Pie. Zur rumänisch-ungarischen
Streitfrage. Skizzen zur ältesten Geschichte der Rumänen,
Ungarn und Slaven (Leipzig, Dnncker und Humblot, 1886.
8". 436 Seiten. Mit Karte). Der Verfasser tritt ent-
schieden für die Abstammung der Rumänen von den römischen
Ansiedlern, die sich allerdings mit den Daken gemischt hatten,
ein; die Dakornmänen sind die in ihren ursprünglichen Sitzen
verbliebenen Theile des Volkes, das vor den Stürmen der
Völkerwanderung in die Gebirge auswich und darum heute
noch seine Volksfeste in den Bergen feiert. Die Maccdo-
E r d t h e i l e n.
rnmünen sind die Nachkommen derjenigen Kolonisten, welche
beim Aufgeben Dakiens mit den römischen Besatzungen über
die Donau zurückwichen und mit den romanisirten Thrakern
verschmolzen. Die Jstrornmäneu (Morlachen) sind erst im
7. Jahrhundert in die Küstenländer der Adria eingewandert.
Sie gleichen jetzt schon ganz den umwohnenden Slaven und
verschmelzen mit ihnen. Unter den anderen Rumänen lassen
sich dagegen zwei Typen unterscheiden, beide brachycephal, der
römische und der moldauische; den letzteren hält der Verfasser-
für den eigentlich dakischen. Der Haupttheil des Bnches ist
einer Schilderung Osteuropas im 9. Jahrhundert, zum Theil
nach arabischen Quellen, gewidmet; die Karte stellt die Ver-
breitung der Völker in dieser Zeit dar. Den Norden haben
noch ausschließlich die Finnen inne, an der mittleren Wolga
und in den Ostseeprovinzen sind sie schon mit Slaven durch-
setzt; tat Südosten vom Don ab wohnen türkische Stämme,
nur der Südwesten ist slavisch. Eingehend werden die
Handelsverhältnisse der damaligen Zeit und besonders der
slavische Antheil an denselben geschildert; dann auch die Ver-
176
Aus allen Erdtheilen.
theilung der aus Erde ohne Steine und Balkenlagen errichteten
Burgwalle, welche der Verfasser den Slaven zuschreibt. In
den Kurganen unterscheidet er drei verschiedene Rassen,
Dolichocephalen, wahrscheinlich Ugrer aus vorhistorischer Zeit,
Brachycephalen, wahrscheinlich den Westfinnen, Vessen, Mera
und Muroma zuzurechnen und damit vergesellschaftet die
Aschenurnen slavischer Haudelskolonien. Die interessanten
Zusammenstellungen über die damaligen Handelsstraßen haben
wir an anderer Stelle (s. oben S. 111) eingehender gegeben. —
Die Heimath der Ungarn sucht Piß im Wolgabecken; ihre
Wanderung nach Südwesten begann um 840 n. Chr., 889
gingen sie über den Dniepr, 894 brachen sic, wahrscheinlich
iiber die nördlichen Karpathen, zum ersten Male in Pannonien
ein, die bleibende Ansiedelung datirt von 900. Ihre Wan-
derung wurde wahrscheinlich durch einen Einbruch der Pe-
tschenegen hervorgerufen, hinter denen wieder die Kumanen
drängten; sie wandten sich erst nach den Karpathen, als sie
in dem mit den Byzantinern gemeinsam unternommenen An-
griff ans die Bulgaren von Symeon eine schwere Niederlage
erlitten hatten. Ko.
— Der bekannte Reisende, Kapitän der italienischen
Marine, Giacomo Bovc, hat sich am 9. August 1887 bei
Verona in einem Fieberanfalle erschossen.- Er war geboren
1852 in Maranzana in der Provinz Acqui, begleitete schon
als Jüngling den Ingenieur Giordoue nach Borneo und
Japan und wurde bekannt durch seine Theilnahme an Rorden-
skjöld's Umsegelung von Asien auf der „Bega" (1878 bis
1879), während welcher er die hydrographischen Arbeiten
ausführte. Rach der Rückkehr versuchte er vergeblich, eine
Südpolarfahrt von Italien aus ins Werk zu setzen uitb begab
sich Ende 1881 nach der Argentina, wo er Gelegenheit
fand, die Misiones, das südliche Patagonien und Feuer-
land zu besuchen. Sein Reisewerk „Patagonia, Terra
del Fuoco etc.“ erschien 1883. Zuletzt betraute ihn die
italienische Regierung mit einer Mission nach dem Congo-
Staate, über dessen Zukunft er, wie bekannt, sich in seinem
officiellen Berichte sehr ungünstig geäußert hat. Bei seiner
Rückkehr nahm er den Abschied aus der Marine und wurde tech-
nischer Director der Schiffahrtsgesellschaft „Veloce,, in Genua.
— Im Juni dieses Jahres starb, 81 Jahre alt, auf dem
Dorfe Kuzenevd (?) bei Moskau der russische Staatsrath und
frühere Erste Sekretär der russischen Gesandtschaft in Teheran,
Baron de Bode, Verfasser des noch heute geschätzten
Reisewerkes „Travels in Tnristan and. Arabistan“.
— Seitens der englischen und französischen Regierung wird
der demnächst zu eröffnenden Eisenbahnlinie Pest-
Belgrad-Salonich i bereits eine erhöhte Aufmerksamkeit
zugewendet. In den betreffenden Vereinbarungen mit de»
den indo-chinesischenDienst versehenden Schiffahrts-Compagnien
ist, wie der „Pester Lloyd" schreibt, für einen neu einzulegen-
den Kurs von und nach Salonichi bereits vorgesorgt. Im
neuen Schiffahrts- und Postvertrage der französischen Regierung
mit den Messageries Maritimes ist unter anderem eine
vierzehntägige Linie Port Said-Salonichi und zurück (mit
Schnelldampfern) mit Anschluß in Port Said an die indo-
chinesische Linie stipulirt, was darauf hindeutet, daß an die
Eröffnung der in Rede stehenden Eisenbahnlinie hinsichtlich
der Vermittelung des mitteleuropäisch-überseeischen Verkehrs
gute Hoffnungen geknüpft werden. Dem Beispiele Englands
und Frankreichs will auch Deutschland folgen, dessen snb-
ventionirte Fahrten vermittels des „Norddeutschen Lloyd"
nach Ostasien und Australien bekanntlich zum Theil über das
Mittelländische Meer gehen, so daß neben dem Auslaufhafen
Genna eventuell auch eine Zweiglinie von Salonichi etablirt
werden soll. Diesen Bestrebungen schließt sich auch der
österreichisch-ungarische Lloyd an, der selbstverständlich ein
Interesse hat, au dem zwischen Salonichi und Aegypten,
bczw. dem Suezkanal stattfindenden Verkehr zu participiren.
Aste n.
— Ueber die Verhältnisse des Grundbesitzes in
Syrien macht Gnthe in seinem Prachtwerke „Palästina in
Bild und Wort" (II, S. 170) folgende Mittheilungen. Das
beste Land, besonders der größte Theil der Ebene Saron
und der großen Ebene zwischen dem Tabor und dein Karmel,
ist Staatsgut und heißt Ard Miri, d. h. dem Emir (Fürsten
oder Sultan) gehöriges Land. Solche Grundstücke werden
von der Regierung an ganze Dörfer oder an einzelne Personen
verpachtet, und der Pächter hat für das Recht des Bebauens
den Zehnten des Ertrages an die Staatsbehörde zu entrichten,
darf das Land aber selbstverständlich weder vererben noch
verkaufen. Daneben giebt es Ard-Wakf, d. h. Stiftungs-
oder Vermächtnißland. Der Landesherr oder ein wohlhaben-
der Privatmann hat dasselbe testamentarisch einer Moschee
oder einem anderen Heiligthume, auch Schulen und Wohl-
thätigkeitsanstalten vermacht mit der Bestimmung, daß der
Ertrag zum Besten der frommen Stiftung verwandt werden
soll. Solche Ländereien werden unter denselben Bedingungen
wie die eigentlichen Staatsgüter verpachtet, nur daß der
Zehnte nicht an die Regierung, sondern an den Verwalter
der frommen Stiftung abgeliefert werden muß, der seinerseits
einen Antheil von dem entrichteten Zehnten für sich behalten
darf. Diese Verwaltung der Wakfgüter ist für manche arme
Effendifamilie eine willkommene Einnahme, bringt aber leider
viele Personen in die schlimme Versuchung, die Einkünfte der
ihrer Aufsicht anvertrauten Ländereien selber zu „essen", wie man
sich in Syrien auszudrücken pflegt, anstatt sie der milden
Stiftung zufließen zu lassen. Die dritte Klasse des Bodens nennt
man Ard Mnlk, d. i. Eigenthum; sie umfaßt meist nur kleinere
Grundstücke, die gewöhnlich mit trockenen Mauern aus Feld-
steinen oder mit Kaktushecken eingefriedigt sind. Diese kann
der Eigenthümer ganz nach seinem Belieben vertauschen oder
verkaufen; doch sucht die türkische Regierung neuerdings auch
diese Angelegenheit unter ihre Aufsicht zu bringen. Da die
Bevölkerung in Palästina an Zahl gering und außerdem im
Durchschnitt faul und träge ist, so liegen namentlich in den
unfruchtbareren Gebirgsgegenden große Strecken des Bodens
völlig brach. Wer solch „todtes", d. i. schon seit langer Zeit
unbebautes Land „belebt" oder urbar macht, erwirbt cs sich
dadurch zum Eigenthum oder Mnlk. Wird ein Grundstück
herrenlos, sei es, tueil die Eigenthümer ausgestorben oder
weil die bisherigen Besitzer mit der Bezahlung der Steuern
zu sehr in Rückstand gekommen sind und deshalb ihr Dorf
verlassen haben, so fallen die Ländereien, gleichviel, welcher Klasse
sie früher angehörten, ohne Ausnahme an den Staat zurück.
— Mc Carthy, der Regierungsvermesser von Siam, ist
kürzlich mit einer Anzahl trefflicher Karten dieses Landes,
welche die Ergebnisse siebenjähriger Aufnahmearbeiten dar-
stellen, nach England zurückgekehrt und arbeitet dieselben nun
in den Räumen der R. Greographical Society ans.
Inhalt: Prof. L. v. Loczy: Die Umgebung von Hsi-ning-su in der chinesischen Provinz Kan-sn. (Mit fünf Abbildun-
gen.) — Dr. W. Sievers: Zur Kenntniß Venezuelas. III. (Schluß.) — O. Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande
der Golden. II. — Kürzere Mittheilungen: Bevan's Forschungsreise in Englisch-Neu-Gumea. — Aus allen Erdtheilen: Europa.
— Asien. (Schluß der Redaktion am 28. August 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschwcig.
Mit besonderer Herürksichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
B e g r ü n d e t von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zun: Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Zur physischen Geographie der Canarischen Inseln.
Von Dr. W. Biermann.
Der Bau der Canarischen Inseln ist wiederholt eingehend
geschildert worden, und namentlich die Hauptinsel hat in
dem Specialwerke von Fritsch und Reiß (Geologische Be-
schreibung der Insel Tenerife, Winterthur 1868) eine so
meisterhafte Beschreibung gefunden, daß nur eine geringe
Nachlese übrig bleibt. Cs kann sich nur noch darum
handeln, das Bild in seinen Einzelheiten weiter auszuführen.
Vor allem hat man hier reichlich Gelegenheit, die Kräfte
zu beobachten, welche noch fortdauernd an der Umbildung
der Erdrinde arbeiten, imb zwar unter vielfach anderen Be-
dingungen als in unseren Breiten. Nachstehend einige
Bilder dieser Thätigkeit.
Unter diesen Kräften nimmt vor allen das Meer die
Aufmerksamkeit des Beobachters gefangen durch den groß-
artigen Eindruck seiner Thätigkeit. Die heftigen Luft-
bewegungen des Nordatlantischcn Meeres senden einen
mächtigen Seegang an die Gestade der Glücklichen Inseln,
die von den Stürmen selbst nur selten heimgesucht werden.
Während wir an unseren nordischen Meeren die Schönheit
der brandenden See meist nur bewundern können, indem
wir zugleich den Sturm und Regen in den Kauf nehmen,
der uns kaum zum Genusse kommen läßt, können wir hier
oft bei windstiller Luft im hellsten Sonnenschein die langen
Wogen des Oceans in tiefblauer Farbenpracht sich auf-
bäumen und überstürzen sehen. Besonders großartig war
die Erscheinung der Brandung in den letzten Tagen des
Januar 1885 (der Januar war gerade im Norden sehr
stürmisch gewesen); in Linien von über 2000m Länge
zogen die Schaumkämme heran, spitzten sich zu und über-
schlugen. Das niedrige Vorland, auf welchem der Puerto
de Orotava steht, ist gegen den direkten Anprall der großen
Globus Ul. Nr. 12.
Wellen geschützt durch einen über 200 m breiten Gürtel
von Klippen, die aber zum Theil auch bei der Ebbe vom
Wasser bedeckt sind. Nur die in Schaum aufgelösten
Wassermassen der zusammengebrochenen Wellen erreichen
das feste Ufer; trotzdem waren Blöcke von mehreren Centnern
Gewicht über die 3 na hohe Mauer des westlichen Stadt-
theiles geworfen worden. An den Molen stiegen die
kochenden Wassermasscn geiserartig 25 in hoch auf; am
großartigsten war aber das Schauspiel im Osten des
Städtchens, wo die Wellen gegen den 180 in hohen Absturz
der Ladern de Sta. Ursula Sturm liefen. Ein einzeln
stehender Fels von 75 in Höhe war zeitweise vollkommen
bedeckt und in den Kaminen der Felswand stiegen die Gischt-
massen bis fast 100 m auf. — So großartig hatte sich die
Brandung sonst weder in diesem noch im vorhergehenden
Jahre gezeigt, nur im Winter 1868/1869 erinnereich mich,
einige Male nahezu denselben Anblick genossen zu haben.
Man sollte glauben, daß nach einem derartigen mehr-
tägigen Anstürme auch am festen Fels der Küste Ver-
änderungen sichtbar werden würden. Es ist mir aber nicht
gelungen, solche festzustellen, soweit mir die Einzelheiten
der Küste bekannt waren. Vielleicht wäre es möglich ge-
wesen, wenn man vorher gewußt hätte, daß eine ungewöhn-
lich starke Dünung in Aussicht stand; man hätte dann
besonders gefährdete Stellen durch Zeichnung fixiren können
(noch bester wäre eine Reihe von photographischen Auf-
nahmen). Nur an Stellen, wo Geröll das Ufer bildete,
war das Meer siegreich vorgedrungen, aber kaum meterweit;
an den beiden Stellen freilich, wo es Mcnschenwerk in
Gestalt von Wegedämmen erreichen konnte (östlich und
westlich vom Puerto), hatte es tiefe Lücken gerissen.- Waren
23
.---ME8WW
178 Dr. W. Biermann: Zur physischen Geographie der Canarischen Inseln.
die sichtbaren Erfolge des Meeres am festen Felsen so gut
wie Null, so hatte ich dafür die Art, wie die'Brandung
arbeitet, um so besser beobachten können. Ueberall, wo sich
die Wellen an den Felsen aufbäumten, war der Gischt
gespickt mit Steinen bis zu Kopfgröße, welche 10 und 20 m
hoch geschleudert wurden. Die See bombardirt also die
Felsen und schlägt so kleine Stückchen los; die Arbeit ist
zu vergleichen mit der des Sandstrahlgebläses, durch welches
wir jetzt Glasscheiben matt schleifen.
Fig. 1 zeigt solche von der Brandung bearbeitete Felsen;
sie stehen unmittelbar an dem Ostabhange des Vorlandes,
auf welchem der Puerto liegt. Der Winkel heißt wegen
der dort stattfindenden wilden Brandung el infierno.
Fig. 2 zeigt einen ins Meer hinausragenden Lavastrom, in
welchen das Wasser bereits eine tiefe Bucht gebrochen hat.
Aus demselben liegt das Lazareth, etwa 2 km westlich vom
Puerto.
Es sei mir bei dieser Gelegenheit gestattet, aus die
Brandungsarbeit im Allgemeinen einzugehen. Wenn auch
wiederholt aus die Untersuchungen der Gebrüder Weber *)
hingewiesen wurde und namentlich darauf, daß die Wellen-
bewegung bis in eine Tiefe reicht, gegen welche die Höhe
der sichtbaren Welle fast verschwindet, so wird die Tiefen-
wirkung der Wellen noch immer unterschätzt, so auch von
Felsen ain Infierno.
G. Hartung in seiner Geologischen Beschreibung der Inseln
Madeira und Porto Santo (Leipzig 1864). Er glaubt
nämlich (Seite 17 und 18) die Abnahme der Meerestiefe
bis auf 40 Faden nur durch allmähliches Sinken des Landes
erklären zu können und stützt sich dabei auf Darwin's An-
sicht, daß die Wirkung der Brandung nur bis in sechs
Faden Tiefe reiche. Darwin hat aber diese Ansicht gar
nicht ausgesprochen, sondern weist nur an der betreffenden
Stelle^ auf den Widerspruch hin, der darin liegt, daß der
Atlantische Ocean an einzelnen Küsten bis auf 150 Fuß
i) Darwin, Geologische Beobachtungen über Südamerika
(deutsch). Stuttgart 1878.
Tiefe erodiren soll, während er bei St. Helena schon in
sechs Faden Tiefe feinen Sandgrund zeigt. (Fritsch und
Reiß bekämpfen ebenfalls Seite 304 die vermeintliche An-
sicht Darwin's.)
Fassen wir nun von den Ergebnissen der Weber'schcn
Versuche kurz das Nöthige zusammen. Die einzelnen
Wassertheilchen beschreiben bei der Wellenbewegung elliptische
Bahnen mit wagerechter großer Ape. An der Oberfläche
nähert sich die Ellipse der Kreisform, nach unten wird sie
immer schmäler bis zur Linie. Auch die große Axe nimmt
x) E. H. und W. Weber, Wellenlehre. Leipzig 1825,.
Seite 27 und 28.
Dr. W. Viermann: Zur physischen Geographie der Canarischen Inseln.
179
ab, beträgt aber in einer Tiefe, welche gleich der 200fachen
Wellenhöhe ist, noch immer den dritten Theil der Axenlänge
an der Oberfläche; selbst in der 350fachen Tiefe ist die
wagerechte Bewegung noch immer erheblich.
Beachten wir dabei, daß mit letzterer Tiefe der Boden
der angewandten Wellenrinne erreicht war, so liegt die
Vermuthung nahe, daß bei reichlich vorhandener Tiefe die
Grenze der Wellenbewegung hier noch nicht erreicht sein würde.
Nehmen wir nun an, daß eine Dünung von nur 2 ui
Höhe von der tiefen See her gegen die Küste steht. Als-
dann findet sie bei einer Tiefe von 700 in nicht mehr mit
der Leichtigkeit wie vorher das nöthige Wasser, um die bis-
herige Form des Wellenberges auszufüllen. Da die oberen
Wasfertheilchen bestrebt sind, dieselbe Bewegung auszu-
führen, wie weiter draußen, so entsteht ein Ansaugen des
Wassers in der Tiefe, zugleich aber wird der Querschnitt
der Wellenberge schlanker und diese beiden Erscheinungen
nehmen zu, je flacher der Grund wird. Dieses Ansaugen
bedingt das Hinabreißen aller irgend beweglichen Gegen-
stände (im Spanischen resaca genannt), welches eine all-
gemein bekannte Brandungserscheinung ist. Wird endlich
das Wasser so flach, daß die Welle nicht mehr die nöthigen
Wassermengen anholen kann, dann wird sie an der Vorder-
seite hohl und der Kamm, der schon sekundenlang scharfe
Spitzen zeigte, überschlägt. Dieses Ueberschlagen konnte
ich an den oben genannten Tagen über mehr als 30 m
Wassertiefe wahrnehmen 9- Von da ab findet die Be-
wegung der Wasfertheilchen nicht mehr in geregelten Bahnen
statt, sondern die ganze Wassermasse schießt vorwärts, bis
ihr Felsen oder der ansteigende Strand Halt gebieten.
Ein Theil des Lavastromes am Lazarett) westlich vom Puerto de Orotava.
Trifft die Welle gerade im Ueberschlagen auf eine Fels-
wand, dann kann man den Stoß wie einen Kanonenschuß
durch das wilde Tosen hindurch vernehmen und die ein-
geengte Luft wirft das Wasser wie eine Naketengarbe nach
allen Seiten ans einander.
Im Augenblicke des Ueberschlagens ist die ansaugende
Wirkung am Boden am stärksten und es erklären sich da-
durch die Auskolkungen, welche P. Lehmanns im Sand-
boden der Ostsee fand. Da bei verschiedener Höhe des
ursprünglichen Seeganges auch die Tiefe eine verschiedene
sein muß, über welcher ein Ueberschlagen stattsindet, so
werden diese Auskolkungen häufig ihren Ort wechseln, wie
es auch dort sich zeigte.
9 P. Lehmann, Das Küstengebiet Hinterpommerns; Zeitschr.
b. Ges. f. Erdkunde zu Berlin,' XIX, 1884.
Wo der Boden aus Felstrümmern besteht, werden diese
ebenfalls hin und her geschoben, aber auf dem ansteigenden
Boden einer Küste muß dem Wasser das Hinabschieben
leichter werden als das Hinausschieben, und so wandert
alles bewegliche Bodengestcin der Tiefe zu, allmählich an
Größe abnehmend, und die abnehmende Kraft ordnet die
Trümmer von selbst nach ihrer Größe, so daß da, wo die
Wellenbewegung aufhört zu wirken, auch die feinsten
Körnchen liegen bleiben. So erklärt sich wohl auch, daß
vor der gefürchteten Küste von Jädercn (Südnorwegen,
südlich von Stavanger) der Meeresboden nur grobes
Geröll zeigt, welches zum Ankern absolut unbrauchbar ist.
Bei der geringen Tiefe werden alle Zerreibungsprodukte
9 Bei Stadtland in Norwegen soll die See zuweilen schon
über 40 Faden Tiefe branden.
23*
180
Dr. W. Biermann: Zur physischen Geographie der Kanarischen Inseln,
in die Tiefe befördert. Es ist nicht nöthig, wie Richthofen
(China II, S. 773) meint, seitliche Strömungen als Ur-
sache herbeizuziehen, wenn der feine Sand fortgeführt wor-
den ist.
Die vollkommenste Bestätigung des oben Gesagten liefert
aber Darwin selbst (a. a. O. Seite 24) durch die Be-
obachtungen Uber die Rollsteine am Meeresboden der pata-
gonischen Küste. (Siehe nebenstehende Tabelle.)
In allen Fällen mit einigen kleineren untermischt.
So lange aber das Meer solche Steine auf dem Boden
hin und her schiebt, kann man ihm das Vermögen einer
schleifenden Wirkung nicht absprechen.
Vergessen wir hierbei nicht, daß die im Anfange unserer
Betrachtung gegebenen Tiesenzahlen von einer Dünung von
Entfernung vom Ufer Seemeilen Tiefe in Faden Größe der Steine
bis 2 ? bedeutend
3 „ 4 11 bis 12 Wallnuß
6 „ 7 17 „ 19 Haselnuß
10 „ 11 23 „ 25 6,3 bis 0,4 Zoll Durch- messer
12 30 „ 40 0,2 Zoll
12 „ 150 45 „ 65 0,1 Zoll bis zum feinsten Sand
nur 2 ni Höhe ausgehen, während schon bei einer frischen
Brise der Seegang des Atlantischen Oceans 5 ni Höhe
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Larraneo de Nartianez.
erreicht. Daß die Wellenwirkung sehr tief hinabgeht, j
beweist schon die von W. und H. Weber erwähnte Er-
fahrung de Courdraye's, daß die Wellen auf der Bank
von Terre neuve oft schon bei 500 Fuß Tiefe nicht mehr
Grund genug finden.
Wenden wir uns nunmehr zur Thätigkeit des
süßen Wassers ans den Canaren, so ist dieselbe mit
einzelnen Ausnahmen wesentlich geringer als in unseren
Gebieten in Folge der eigenthümlichen klimatischen Ver-
hältnisse. In dem größeren Theile Tenerifes fehlt es ganz
an beständig fließenden Bächen, nur die nordöstlichen Gebirge
von Anaga besitzen solche, ebenso die Insel Gomera und das
Centrum von Gran Canaria. Gesehen habe ich nur zwei
Bäche auf Gomera und einen ans Tenerife, die ihr Wasser
fortdauernd bis ins Meer hinaus brachten. Nach un-
gewöhnlich starken Regengüssen in den Bergen kam es dann
freilich vor, daß auf der Nordseite von Tenerife die sonst
trockenen Betten braunrothe schäumende Wassermassen
herabführten, welche selbst in größerer Entfernung im Meere
sichtbar waren; doch dauerte dieses Schauspiel selten mehr
als einige Stunden. Im November des Jahres 1879
waren die Wassermasscn des westlich vom Puerto vorbci-
führcnden Barranco de las Arenas so gewaltig an-
geschwollen, daß sie die letzten Häuser des Ortes sammt
den zugehörigen Feldern tief mit Schutt bedeckt hatten.
Fig. 3 zeigt den barranco de Martianez, unmittelbar
östlich vom Puerto de Orotava, ein bemerkenswerthes Bei-
spiel, wie sich zuweilen dicht bei einander die Gegensätze
finden können, welche gewisse Formen bedingen und die wir
gewöhnt sind, durch größere Zwischenräume getrennt zu
Dr. W. Biermann: Zur physischen Geographie der Canarischen Inseln.
181
sehen. Die in Nordamerika bekannte Form der Canons
entwickelt sich da, wo die Gewässer regenreicher Gebiete
ihren Weg durch regenarme suchen müssen; der geringe
Zufluß an Ort und Stelle ermöglicht es, daß die Thal-
wände sich lange Zeit in der Steilheit erhalten, wie sie
dnrch dieHanptwasserader ansgcnagt wurden. (Die Anglo-
amerikaner haben freilich die Bezeichnung „Canyon" auch
auf anders geformte Thäler angewandt.) Unser Barranco
zeigt diese Form nur aus einer Länge von V^km, weiter
oben verzweigt er sich und entwässert mit seinen Armen ein
breites Stück des Waldgürtels, in welchem leider der Wald
seit lange nicht mehr der Schilderung Humboldt's entspricht.
Von den hervorragenden Banmgcstalten, welche er auf dem
Wege zum Pik sah, sucht man jetzt vergeblich eine Spur.
Aber ein dichtes Unterholz von Erica arborea, gemischt
mit Laurusarten, zeugt von der reichlichen Menge der Nieder-
schläge in dieser Höhe. Dieselben erreichen, wie gesagt, nur
selten das Meer; was die zahlreichen Wasserleitungen nicht
fortnehmen, verschwindet im Geröll der Bachbetten.
Ueber der Waldregion von etwa 1400 m ab ist die
Erosion nur eine sehr geringe, da bei der regelmäßigen
Herrschaft des Passats dort oben über dem Wolkenmeere sich
ein tiefblauer Himmel ausspannt. Nur bei den von Zeit
zu Zeit, namentlich im Winter, auftretenden Westwinden
empfängt die Höhe Niederschläge von Regen und Schnee,
doch kommt davon wohl nur wenig ins Thal hinab; der
Schnee wird meist schon nach einigen Tagen durch Ver-
dunstung aufgesogen. So kommt es, daß in dem feinen
vulkanischen Sande' des Tcyde und seiner Umgebung keine
Spuren von der Wirkung fließenden Wassers zu sehen sind.
Los Roques
de Taganana.
Anders liegt die Sache im nordöstlichen Theile von
Tenerife und namentlich auf der Insel Gomera. Hier
reichen die Berge gerade bis in die Wolkenregion; die ihren
Niederschlägen ausgesetzte Fläche ist dadurch eine weit aus-
gedehntere und bedingt den Wasserreichthnm der Gebiete.
Von dem Erfolge, mit dem das Wasser in diesem, freilich
auch weit älteren Gebirge thätig gewesen ist, giebt Fig. 4
ein Bild. Es sind dies die Roques de Taganana auf
Tenerife, welche auf Gomera im Roque de Gando, Rogue
del Balle und anderen zahlreiche Seitenstücke finden. Die
Insel Gran Canaria steigt allmählich an, überragt die
Wolkenregion nur wenig und besitzt deshalb im Inneren
ein ausgedehntes Regengcbiet. Dem entsprechend ist hier die
Erosion bis zur vollständigen Durchbrechung des Gebirgs-
kernes vorgeschritten, während die bei der Hauptstadt Las
Palmas ausmündenden Barrancos in ihrem unteren Laufe
Formen zeigen, die an Fig. 3 erinnern H.
Bemcrkenswcrth ist die lange Zeit, welche die Lava
braucht, ehe sie zur Aufnahme von Pflanzen befähigt wird.
Der Lavastrom, welcher 1705 in die Mulde von Guimar
hinabfloß, und der von 1706, welcher den Hafen von
Garachico großcnthcils ausfüllte, beide liegen noch kahl
und todt da; nur wo der Wind etwas Saud zusammenwchte,
sind kümmerliche Spuren von Pflanzenwnchs vorhanden.
Der Lavastrom von 1705 ist in Fig. 5 dargestellt von der
noch zu erwähnenden Montana grande aus; links sind die
lieber die klimatischen Verhältnisse vergl. meine „Bei-
träge zur Kenntniß des Klimas der Canarischen Inseln" in der
Deutschen Meteorologischen Zeitschrift, 1887.
182
Dr. W. Viermann: Zur physischen Geographie der Carrarischen Inseln.
Häuser von Guimar angedeutet, rechts die des Dorfes Arafo;
der Ursprung des Lavastromes liegt in der von Fritsch und
Reiß so eingehend geschilderten Garganta de Guimar. In
den Formen der erstarrten Lava erkennt man deutlich ihr
ehemaliges zähes Fließen. In der Nähe gesehen, zeigt
dieser Strom ebenso abenteuerlich zerklüftete Formen, wie
der Fig. 3 dargestellte. Dieselben scheinen also nicht Folgen
der Brandung zu sein, sondern sich schon beim Erkalten der
Lava gebildet zu haben.
Die Mulde von Guimar bietet Gelegenheit, noch eine
andere Kraft an der Umformung der Erdrinde arbeiten
zu sehen, nämlich die des Wind es. Der durch die saugende
Kraft des erwärmten Landes zum Ostnordost abgelenkte
Passat weht fast Jahr aus Jahr ein am Tage in derselben
Richtung (des Nachts erreicht er wegen des Schutzes der
Berge die Küste gar nicht und cs weht ein ganz leichter
Landwind). Oestlich von Guimar liegt an der Küste ein
etwa 1 lein breiter Sandstrand, die Playa del Socorro;
der graue Sand derselben ist aus Flügeln des Windes nach
Südwest gewandert und hat innerhalb der letzten dreißig
Jahre ein Gebiet von etwa 3 km Länge erobert (nach
Mittheilung der Einwohner). Als Zeichen dafür,
daß dieses Fortschreiten erst in jüngster Zeit stattgefunden
habe, zeigten sie mir verschiedene jetzt verdorrte Feigen-
bäume, die sie noch mit Früchten bedeckt gesehen hatten,
als sie noch in Gärten standen. Gerade im Zuge des
Sandes liegen zwei Vulkankegel, deren größerer, die schon
oben erwähnte Montana grande, eine relative Höhe von
etwa 200 m besitzt. Auf der Windseite ist der Saud bis
! zum Kraterrande hinaufgewandert, ist ckiber denselben ein-
Volcan de Guimar.
gedrungen in den Krater und auf der anderen Seite bis
an den hier am höchsten aufragenden Rand gelangt. Die
Leeseiten sind dagegen sandfrei und zeigen die hier übliche
spärliche Vegetation, und an x/^ km nach Westen erstreckt
sich ein sandfreier Windschatten. Nach der Beschreibung
(S. 85 a. a. O.) müssen Fritsch und Reiß diesen Vulkan
besucht haben und es ist nicht denkbar, daß ihnen diese Er-
scheinung sollte entgangen sein. Ist dies ein weiterer
Beweis, daß dieser Eroberungszug des Sandes erst der
jüngsten Zeit angehört? Hat die Brandung erst jetzt die
Felsgetrümmer der Küste au dieser Stelle so weit zerkleinert,
daß sie ein geeignetes Spielzeug des Windes wurden?
Haben wir nun Wind und Wasser in ihrer Thätigkeit
verfolgt, so liegt auf dem Gebiete, welches in dem alt-
berühmten Pico de Teyde gipfelt, wohl die Frage nahe, ob
denn die vulkanischen Kräfte gar nicht mehr mit-
arbeiten. Vor einigen Jahren lief die Nachricht von
erneuter Thätigkeit durch die Blätter, ein sanguinischer Euro-
päer hatte sie ohne Prüfung übermittelt, da die Post gerade
abging; aber sie erwies sich als Ente; schließlich hatte
Niemand etwas gesehen. Erloschen freilich war der Teyde
in diesem Jahrhundert nie, wie es mehrfach in geographi-
schen Handbüchern zu lesen war. Alle Besteiger stimmen
in ihren Berichten mit Humboldt überein; bei meiner Be-
steigung 1884 fand ich nur die am Fuße des Aschcnkegels
liegenden Narices ganz unthätig. Dagegen waren die
Dämpfe im Krater selbst so stark, daß ich nicht an den Boden
desselben gelangen konnte, Niemals aber wurden in diesem
Jahrhundert die vom Teyde-Krater aufsteigenden Dämpfe
so bedeutend, daß sie vom Thal aus gesehen werden konnten.
Dr. H. Simroth: Ponta Delgada auf Dan Miguel (Azoren).
183
Erst im December 1886 wurden Rauchausbrüche von
vielen Personen gleichzeitig gesehen vom Puerto aus, welcher
vom Teydegipfel 16 1cm entfernt ist. Da die Erscheinung
auch über sechs Wochen anhielt, so konnte ich die Richtigkeit
der Thatsache nicht bezweifeln und erbat möglichst genauen
Bericht, worauf ein Engländer, Mr. Hooper, so freundlich
war, mir einen Auszug seines Tagebuches zu senden. Der
erste Ranch wurde bemerkt am 26. December; in den
folgenden Tagen mehrte sich die Erscheinung, mehrfach
findet sich die Bemerkung srnolre in ,jets. Die größte
Stärke scheinen die Rauchauswürfe am 10. bis 15. Januar
d. I. erreicht zu haben. Dann war das Wetter mehrere
Tage ungünstig, erst am 8. und 9. Februar war schwacher
Rauch bemerkbar, vom 10. ab wurde nichts mehr gesehen.
Leider ist in dieser Zeit der Teyde nicht bestiegen worden.
Die anwesenden Fremden sind fast immer aus Gesundheits-
rücksichten dort, und eine Besteigung im Januar kann selbst
kräftigen Naturen gefährlich werden.
Es scheint, als hätten die Spannungen, welche die schreck-
lichen Erschütterungen am Golf von Genua hervorriefen, hier
wenigstens einen Versuch gemacht, auf unschädlichere Weise
Luft zu gewinnen. Erschütterungen wurden in jener Zeit von
den Canaren nicht gemeldet. Erst im April und wieder im
Juli wurden schwache Bewegungen wahrgenommen.
Ponta Delgada auf San Miguel (Azoren).
Von Dr. H. Simroth.
I.
Den 3. August des vorigen Jahres war ich mit einem
der guten Dampfer von der hamburg-südamerikanischen
Linie nach Lissabon gekommen. Das Schiff segelte weiter,
meine künftige Straße vorauf; aber ich blieb in der blenden-
den Hauptstadt, um auf portugiesischem Boden möglichst
schnell in das Fahrwasser portugiesischer Sprache und Sitte
einzulenken. Nach drei Tagen ging ich an Bord des „A^or",
des einen der beiden bequemen Dampfer, welche dieHrnpre^a
insulana zu Anfang und Mitte jeden Monates nach den
Azoren entsendet. Der andere, der „Funchal", macht den
Umweg über Madeira, der „Atzvr" geht direkt. Der Nord-
wind erregte leidliche Wellen auf dem weiten Becken des
Tejo, so daß die bunten Gondeln Mühe hatten, die viele
feine Welt auf die Brücke des weitab nach Cazilhas zu
liegenden Schiffes zu bringen. Der Abschied war ent-
schieden elegant. Kaum aber hatten wir die Barre passirt,
als das Deck sich lichtete, weil fast sämmtliche Passagiere
seekrank waren oder zu sein glaubten. Während der drei- !
tägigen Fahrt blieb die Tafel nur schwach besetzt, was die :
Theilnehmer anlangt; wörtlich war sie stets zum Brechen
voll, denn es herrschte beim Frühstück um 9 Uhr und zu
Mittag um 3 Uhr die eigenthümliche Mode, die sämmtlichen
Fleischspeisen nebst Zubehör vorher aufzutragen, so daß der
Fremdling wenigstens im Stande war, sich gemächlich einen
etwasoveichlichen, aber lauen Speisezettel zusammenzustellen.
Zum Nachtisch wurden dafür die Tische mit herrlichen
Früchten vollgepackt. Die Unterhaltung war ziemlich steif
und schwierig; meine grammatikalischen Kenntnisse halfen
nur sehr allmählich, von den Tönen der schwierigen Sprache,
die wohllautend und zart klangen, etwas zu erhaschen; man
beobachtete den Allemäo ein wenig, zum Theil mißtrauisch,
zum mindesten zugeknöpft. Nur einige Herren, die weit
herumgekommen waren, suchten hier und da anzuknüpfen.
Fast alle waren Azoreaner von Ponta Delgada, wo ich sie
wiedertraf, den neuen Gouverneur, der in Folge wechselnder
Partcigruppirung den vorigen ablöste, mehrere Kaufleute,
Großgrundbesitzer u. dergl. Ein französischer Wein-
verständiger von Bordeaux, der engagirt war, um die Be-
handlung der Trauben und des Mostes zu verbessern, war
wohl mit mir der einzige Ausländer. Die Luft war mild,
die Nächte köstlich, das Meer wundervoll blau, kamen wir
doch über eine Tiefe von über 5000 m. Zum Leuchten
kam cs leider nicht, wie überhaupt nicht während der nächsten
Monate, von den Quallen am Schiff abgesehen. An dem !
einen Tage machte sich stärkerer Wind auf, der alte Qkeauos
wurde schwarz und grollend, und die Nereiden hüpften und
tanzten. Die Wolken zertheilten sich, die See war wieder
rein kobaltblau, doch noch ziemlich bewegt. Die Welle
dringt schaumgekrönt auf das Schiff zu; noch ehe sie es
erreicht, sinkt sie in sich zusammen, aber ihr Schaumgipfcl
folgt ihr nicht sogleich, sondern am stärksten gestoßen, löst
er sich los und schwebt einen Augenblick in der Luft, durch
die schrägstehende Sonne jedesmal mit einem Regenbogen
geschmückt. Aphrodite, die Schaumgeborene, mit dem Iris-
gürtel! Wie kommt's, daß die einzige Erscheinung, von den
wechselnden reichen Meeresbildern des allerschönsten eins, nie,
soviel ich weiß, in ihrer Unmittelbarkeit vom Maler dar-
gestellt wurde?
Am dritten Tage gegen Mittag kam S. Miguel in
Sicht. Wie ein elektrischer Schlag veränderte der vielleicht
nur noch geträumte Anblick des Landes die Scene an Bord.
„Sinapismo da terra“ nennt es die einheimische Sprache.
Binnen kürzester Frist wimmelte die erste Kajüte (die
Jnseldampfer haben außer dem Zwischendeck noch zweite
Kajüte) von eleganter Welt, Damen, Herren und Kindern,
die jubelten und sich umarmten. Wo waren sie inzwischen?
Sie hatten in der That die schöne Fahrzeit in den Kojen
zugebracht und sich füttern lassen, für die Schiffskellner eine
harte Arbeit. Merkwürdig ist's gewiß, daß die einst hervor-
ragende Seetüchtigkeit des Volkes so verloren gehen konnte.
Noch gilt der gemeine Azoreaner für einen ebenso aus-
dauernden wie bescheidenen Matrosen, aber ich glaube, man
trifft selten mehr Neigung zur Seekrankheit, als unter den
besseren Stünden der Inseln. Der Grund scheint im
erschlaffenden Klima und noch mehr in der irrationellen
Ernährung zu liegen. Jetzt waren die Leute so vergnügt,
als vorher kleinlaut. „Les Portugais sont toujours
gais“ ist beliebte Devise. Mit dem Anblicke des Landes
schmolz das gesellschaftliche Eis, und mit größter Liebens-
würdigkeit beeilte man sich, jeden neu auftauchenden Punkt
der geliebten Heimath zu erklären. Santa Maria war
kaum am Horizonte sichtbar. Die Ostseite von S. Miguel
stieg steil aus dem Meere auf, und da die langgestreckte Insel
hierüber 1000m hoch wird, ganz stattlich. Gleichwohl
hatte ich mir den ersten Anblick großartiger gedacht; auch
die längere Fahrt an der Südküste bringt nicht entfernt den
malerischen Wechsel von jäh buntem Fels, zerstreutem Grün
und tief eingeschnittenen Schluchten, wie er bei Madeira
184
Dr. H. Simroth: Ponta Delgcida auf San Miguel (Azoren).
unaufhörlich zum Skizziren reizt. Der Abhang des Erz-
gebirges von Böhmen her erscheint mindestens ebenso
imposant. Die Laven sind meist duukelgrau, hier und da
basaltisch-säulig zerklüftet, oder von einer Grotte unter-
wühlt, oder durch ein schmales, grell rothes oder gelbes
Band unterbrochen, ein paarmal springen einzelne Klippen
ins Meer vor, das Jlheo von Billa Franca und schließlich
der vorgelagerte sphinpartige Koloß von Rosto do Ccio.
Der Eindruck des Erhabenen, wie ihn das felsige Kap
Fiuisterre vom Schiffe aus entschieden mehr gewährt, wird
beeinträchtigt durch das überall bis zu den obersten Gipfeln
reichende Grün, je höher, desto lebhafter, und wie es vom
Meere aus scheint, desto waldiger. Dazu überall die dem
Boden abgerungene Kultur, die man mit der Schweizer-
Energie verglichen hat; wo eine Lehne weniger steil den
Abhang überdacht, ein Maisfeld, ein Weinberg angekleckst,
im Osten am wenigsten und mit ganz vereinzelten Häuschen;
je weiter nach Westen, desto mehr diese gehäuft, so daß sie
sich allmählich in der Uferzone ununterbrochen an einander
reihen und Dorf und Städtchen in einander verfließen.
Von schroffem Hang grüßten weiße Gestalten (es war
Sonntag Nachmittag) mit den Schnupftüchern herüber,
und die Dampfpseise antwortete; die Ankunft des Post-
schiffes ist ein Ereigniß. Je mehr wir uns Ponta Delgada
näherten, desto mehr trat die Kultur im Quadrat auf.
Die Orangengärten, von Mauern regelrecht umschlossen,
sind noch mit Bäumen von Pittosporum undulatum,
die zu hohen Hecken geschnitten sind und sich somit weithin
sichtbar machen, zu höchst nöthigem Schutze gegen die
Stürme eingezäunt. Nachmittag liefen wir in den Hafen
ein, was Segelschiffen bei ungünstigem Winde verwehrt ist.
Die Hauptstadt, mit dem Ehrennamen Cidade, den übrigen
Villas gegenüber, lag äußerst freundlich im hellen Sonnen-
scheine ein wenig ansteigend vor uns. Kaum waren
Ponta Delgada, die Hauptstadt von San Miguel. (Nach einer Photograph:».)
wir vor Anker, als eine Anzahl Boote uns umringten und
osficielle und private Personen an Bord brachten. Mein
Hotelier, Sr. Silvano, von unserem deutschen Schiffe aus
mich aufmerksam gemacht, belegte mich sogleich mit Beschlag.
Eigentlich hieß er Silvano de Gaga e Camara; aber eine
patriarchalische Gewohnheit, vielleicht auch die Vorliebe,
den bescheidenen Namen durch Zufügung des Geburtsortes
oder des Vatersnamens eines Oheims, der Pathe stand,
ungebührlich zu verlängern, beschränkte auch hier die all-
gemeine Bezeichnung auf den Vornamen, eine Sitte, der
auch die wenigen ansässigen Demschcn mit der Zeit zum
Opfer fallen. Unser erster Gang, sobald wir das Gepäck
frei hatten, war zur Alfandega, dem Zollamte, dessen Be-
zeichnung die Portugiesen von den Mauren entlehnt haben;
denn obgleich die Koffer bereits in Lisboa untersucht
waren, konnten wir der erneuten Revision in der Provinz
nicht entgehen, weiln sie auch gnädigst ablief. Eine schmale
Treppe, stets und in allen Azorenstädten voil bettelnden
Frauen belagert, führt in die Gasträume hinauf; ich trat
zunächst in die Sala, den allgemeinen Empfangsraum, der
einigen Comfort aufwies. Ein einfacheres Zimmer erhielt
ich zum Wohnen, Schlafen und Arbeiten. Silvano's
kamen mir in gnteur französischen Geplauder freundlich ent-
gegen. Die Insulaner vom Mittelstände, der sehr beschränkt
ist, beschämen uns wohl durchweg in modernen Sprach-
kenntnissen; freilich wird ihnen die Muttersprache sehr leicht,
da sie nur eine phonetische Orthographie haben mit aller
Freiheit.
Mein erster Ausgang war am Fort S. Braz, das
Jäger und Artilleristen, letztere mit preußischer Pickelhaube,
doch übermäßig schmächtiger Helmspitze, birgt, vorbei nach
denl Hafendamme. Seit 25 Jahren arbeitet man an
diesem gewaltigen Werke, das nicht weniger als 12 Millionen
Mark verschlingen soll. Die harte, klippige Küste steigt
Dr. H. Simroth: Ponta Delgada auf San Miguel (Azoren).
185
bekanntlich aus einer unergründlichen See, die bald zu
2000 in und mehr abfällt, empor, ohne den Schiffen sichere
Buchten zu bieten. Unausgesetzt bäumt die Brandung hoch
auf, die Stürme umtosen die Felsen, zumal im Winter, mit
nicht gemeiner Heftigkeit, so daß während mehrerer Monate
der Verkehr von Insel zu Insel völlig stockt; ja erst vor
drei Jahren konnte der Dampfer das Militärcommando,
das die Besatzung der westlichsten Insel Corvo ablösen
sollte, nicht ans Land bringen, und die Truppe war ge-
zwungen, unverrichteter Sache umzukehren und die Kamera-
den über die vorschriftsmäßige Zeit auf ihrem Posten zu
lassen. Im Winter aber kamen früher die meisten eng-
lischen Segelschiffe, um die berühmten Apfelsinen, die keinen
anderen an Güte nachstehen, zu verfrachten. Da wurde
ein Hafen zur Nothwendigkeit. In den dreißiger Jahren
bestimmte man die Vermögensüberschüffe der aufgehobenen
geistlichen Orden, so weit sie zum Unterhalte der alten und
schwachen Mitglieder nicht gebraucht wurden, für die Hafen-
verbesserungen. Später wurde ein
Theil der Zollcinnahmen (10 Proe.)
dem gleichen Zwecke zur Verfügung
gestellt. Der Versuch, einen regel-
rechten Damm zu bauen, mißglückte;
denn was die gute Jahreszeit voll-
endet hatte, das riß die Wuth des
Winters wieder ein. So verfiel
man auf einen natürlichen Stein-
wall. Man bricht in der Nähe bei
S. Clara, einem westlichen Vororte,
große basaltische rohe Blöcke und
fährt sie mit einer kleinen Eisenbahn,
der einzigen auf den Inseln, herbei,
ein breiter Lastdampfer bringt sie an
Ort und Stelle und senkt sie ins
Meer. So viel auch verloren gehen
mag, mit der Zeit bildet sich eine feste
Böschung, hinter der eine hohe, breite,
regelmäßige Mauer aufgeführt wird;
am Ende mit einem Lenchtthurme,
eine beliebte Promenade, um eine er-
frischende Brise zu genießen und auf
den einsamen Ocean hinauszustarren.
In der That, das Gefühl der Ab-
geschlossenheit kann lebhaft werden;
wohl wenige Punkte der civilisirten
Welt haben eine ähnlich erschwerte
Communication, denn keines der
Kabel, die Europa und Amerika
auf Seknndennähc verbinden, be-
rührt die Azoren. Und doch lag die Stadt so anheimelnd
drüben. Blanke Häuser, nach südlicher Sitte weiß oder
buntfarbig, nicht selten, wie in Portugal, über und über
mit glasirtcn, meist blauen und gelben Kacheln bekleidet,
nicht wenige Kirchen im sogenannten Jesuitenstile, besonders
malerisch das kleine Dock, eine ummauerte Bucht für die
Boote, ein Süulengang für die Fischer, ein Triumphbogen
nach der Stadt zu, hinter ihm die Hauptkirche, die sich
durch manches eigenartige Ornament auszeichnet; über der
Stadt eine Unzahl kleiner Kegel wie Maulwurfshügel,
frühere Krater, durchweg mit Feldern und kleinen Gehölzen,
meist von der Strandkiefer (Pinus maritima), im Osten
ferne Bergketten, ebenso im Westen das Gebirge von
S. Cidadcs; denn das langgcstreckie Eiland scheint aus
zwei Endgebirgen zu bestehen, die durch eine niedrige Land-
brücke verbunden sind. Der Eindruck war ungleich reicher
als bei der Lüngsfahrt vom Schiffe ans. Die Stadt
schmücken zahlreiche, zum Theil zierliche Brunnen, die durch
Globus Hl. Nr. 12.
Bauern von San Miguel. (Nach einer
Photographie.)
Wasserleitungen von den höchsten Kämmen her gespeist
werden. Jnl Hotel machte ich noch die Bekanntschaft eines
deutschen Geologen, des Herrn Zervas, der die reichen
Puzzolane der Insel, die man längst nach Portugal aus-
führte, chemisch studirt und rationell ausbeutet, um in
Amerika dem Portlandcement Concurrenz zu machen. Mir
wurde er zum freundlichsten Rathgeber, dem ich vielen Dank
schulde; den Inseln dürfte die neue Hilfsquelle zum großen
Segen gereichen, da die Schiffe auf der Fahrt von Eng-
land nach Amerika hier mit Vortheil anlegen können, um
die Puzzolane als Ballast einzunehmen.
Der erste Schlaf auf den mit Farnkrantschnppen von
der prächtigen Woodwardia gefüllten Kissen wurde einiger-
maßen gestört, die brüllende Brandung sang ein Schlummer-
lied, aber die Ratten tanzten um den Kopf, und von Zeit
zu Zeit summte ein Mosquito herein, um sich mit schrillem
Tone auf den Schläfer zu stürzen. Walker (The Azores;
London 1886) bestreitet ihre Existenz, aber die nachhaltigen
Beulen und die Versicherungen von
Bekannten, die Centralamerika be-
sucht hatten, ließen an der Echtheit
keinen Zweifel aufkommen. Wir such-
ten uns allabendlich durch Karbol-
waschungen zu feien, was aber nur
zur Folge hatte, daß sich die Plage-
geister auf die Augenlider vereinigten;
schließlich blieb nichts übrig, als die
Balkonthür (sämmtliche Fenster nach
der Straße zu waren derartige Thüren)
zu schließen und die Schwüle zu er-
tragen. Die Ratten, und zwar die
gemeine Wanderratte, sind beinahe
die herrschenden Sängethiere der Insel
geworden, und wir werden später
sehen, daß sie architektonischen Einfluß
üben. In den Hotels, die sich seit Har-
tung's Reise in den fünfziger Jah-
ren auch gemehrt und die Jnansprnch-
nahmeinsniarerGastfreundschaft über-
flüssig gemacht haben (Ponta Del-
gada hat zwei und ein englisches mehr-
privates Logierhaus dazu), treiben
die Unholde innerhalb der leicht auf-
gebauten Wände ihr geräuschvolles
Wesen. Schließlich beherbergte ich
eine im Zimmer, die ich erlegte.
Am anderen Morgen machte ich
nüchtern einen Spaziergang und trat
in einen Garten ein, wo einige Dattel-
palmen neben Batatenbeetcn gediehen; es galt in der ersten
Frühe der niederen Jagd obzuliegen, da auch hier, wie in Süd-
europa, die meisten niederen Thiere, vor allem die Schnecken,
nächtliche Gewohnheiten angenommen haben. Tags über
sitzen sie in der lockeren, wenig gebundenen, krümeligen Erde
und den Ritzen der Gartenmauern, oder die kleinen haben sich
in die Blasenrüume herumliegender Lavastücke verkrochen.
Die Schwüle wirkte erschlaffend und das Frühstück zwischen
9 und 10 Uhr war sehr willkommen. Vorher war cs
schwierig, etwas Anderes als gewärmten Kaffee zu erhalten.
Jetzt gab es regelmäßig Beefsteak, Eier, vorher eine gebratene
Sardine oder ausnahmsweise ein Vögelchen, den ersten Tag
waren es Kanarienvögel. Dazu Wein und hinterher Thee
oder Kaffee. Zwischen 3 und 4 Uhr ein ziemlich opulentes
Diner, vielfach mit Tintenfischen (0etoxu8 vulz-aris) oder-
anderen Weichthieren; namentlich sind die Patellen beliebt,
die in Unmasse in der Fluthzone an den Felsen klebten und
uns auch roh recht gut und austerähnlich mundeten. Schade
24
- :rß •
186
Pros. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
um die köstlichen Fische, deren Zubereitung unserem Ge-
schnmck selten behagte. Eine gute Unterlage war stets der
erste, allein gekochte Gang, Huhn mit Reis und Rindfleisch
mit Speck und Kohl; Huhn bildet die Grundlage des pri-
vaten Tisches, an dem der Hausherr den Vorsitz führt und
auch die Suppe austheilt. Zum Nachtisch vor allem die
herrlichsten Fruchte, Melonen, Arbusen, Trauben, Erdbeeren,
Bananen, Ananas, Maracuja, Jambeiro, Apfelsinen, Aepfel,
Birnen, Feigen u. a. (Es fehlen Pflaumen und Kirschen.)
Eigenthümlich ist es, daß man die Früchte, auch die Apfelsinen
auf die Gabel steckt und in der verschiedensten Weife zierlich
schält, ohne sie mit der Hand zu berühren. Dafür werden sie
vorher auf der Schüssel um so eifriger durchgefühlt, ob sie
auch weich genug sind. Der Wein ist entweder vom
Festlande, Vinho de Lisboa oder Vinlio cheiro von der
amerikanischen, groß- und filzigblätterigen Rebe, herb, und
am eigenthümlichen Geruch erkennbar, daher der Name.
Nach längerer Gewohnheit soll man ihn vorziehen. Die
Flasche kam noch nicht 30 Pfennige. Ich sagte bereits, daß
man sich einen Sachverständigen aus Bordeaux verschrieben
hatte, um die Zubereitung zu verbessern. Abends zwischen
9 und IO Uhr noch ein einfacher Thee, das portugiesische
Nationalgetränk, nebenbei mit enormem Verbrauch deut-
schen Zuckers. Wie die Vertheilung der Mahlzeiten
zeigt, liegt die Hauptarbeitszeit zwischen IO und 3 Uhr. Aber
das späte und doch reichliche erste Frühstück scheint dem Klima
nicht angemessen, daher denn Dyspepsie unter den besseren
Ständen die verbreitetste Krankheit ist, die sich durch die
Gesichtsblässe verräth. Rheumatismus wetteifert mit ihr;
auch er fällt natürlich der Feuchtigkeit zur Last. Die Tem-
peratur ist im Mittel um io niedriger als in Funchal auf
Madeira; Winter und Sommer sind um höchstens 7° ver-
schieden (14° und 2io), aber die Feuchtigkeit ist viel größer
als dort. Zwar erscheint die jährliche Niederschlagsmenge
(105O min) wenn auch hoch, doch nicht übermäßig und
beträgt nur zwei Drittel von der in O'Porto, aber die Luft
ist außerordentlich mit Wasserdampf gesättigt; Freund Chaves,
portugiesischer Jägerofficier und um die Kenntniß der insu-
laren Natur sehr verdient, bestimmte ihn häufig auf mehr
als 90 Proc. Seine Instrumente schützt er im Schranke
durch oft erneuerten gebrannten Kalk vor dem sonst
sicheren Rost. Oceanische Liebet wiegen vor, und die Be-
wölkung ist so stark, daß die mittlere Heiterkeit auf nur 3/10
angegeben wird, bedeutend weniger als in Funchal oder
irgend einem Orte Portugals. Jeder Wind ist natürlich
ein Regenwind, und selbst geringer Richtnngswechsel brachte
meist eine momentane Uebersättignng zu Wege, die sich in
einem kurzen, höchst energischen Regenguß entlud. Dabei
hatten die gewitterlichen Platzregen keine frische Kühle im
Gefolge. In dieser feuchten Luft lag es begründet, daß
man eine solche Erniedrigung um 4 bis 5o als außerordent-
liche Abkühlung empfand und leicht Reißen verspürte. Ent-
sprechend hüllt sich der Insulaner auch im Sommer gern
in einen dicken Mantel, der wiederum die Abhärtung ver-
hindert. Rheumatismus ist also kein Wunder.
Wunderlich ist die Tracht des niederen Volkes, zumal
der Weiber. Die Männer haben in der Stadt nichts Be-
sonderes, nur daß man sie vielfach ärmlich zerlumpt sieht;
die bunte Zipfelmütze wechselt mit Stroh- und Filzhut, eine
dicke Pelzmütze scheint besonders kostbar. Der Bauer da-
gegen trägt eine Mütze mit geradem, vorn eckig verbreitertem
Schirm; hinten wird ein dicker Tuchschleier angeknöpft, ein
guter Wetterschutz für den Nacken. Die Weiber vermummen
sich unheimlich in dicke, dunkle Mäntel, an denen am meisten
die Kapuze auffällt. Sie ist steif, seitlich zusammengedrückt
und von ungeheurem Umfange, so daß der Kopf kaum sicht-
bar ist. Dabei schleichen die Gestalten gespensterhaft durch
die Straßen. Die es zu keiner Kapuze brachte, ninnnt
wenigstens den gewöhnlichen Mantel statt um die Schultern,
über den Kopf. Woher rühren diese sonderbaren Ver-
mummungen? Sind es nicht Reste maurischer Gewohn-
heiten, die sich hierher zurückgezogen haben? Die ersten
Kolonisten, die im fünfzehnten Jahrhundert von Portugal
kamen, waren zuvor noch in enger Berührung mit
maurischem Blute; und in diesem stabilen Winkel hat
sich wohl Manches gehalten, was bei dem regeren Völker-
verkehr auf dem Festlande sich verwischte. Dahin
gehört wohl auch die Abgeschlossenheit der Frau, die
hier nicht längst erst gebrochen sein soll. Noch sind die
Fenster in den nach andalusischer Sitte mit schmalen Balkons
gleichmäßig verzierten Häusern nicht selten mit dichtem
Holzgitter versehen, nicht gegen Diebe (die Bevölkerung ist
ehrlich), sondern um die Gattin fremden Blicken zu ent-
ziehen. Unter denselben Gesichtspunkt gehört wohl die unter-
würfige Begrüßung der Dienenden, mit der sie ein Trinkgeld
empfangen oder einen Brief überreichen. Die linke Hand
geht zum Herzen, die rechte an die Lippen, dann erst streckt
sie sich dem Geber entgegen; gelegentlich gesellt sich Fußfall
und Umklammern der Knie dazu. Die besseren Stände
umarmen sich zärtlich beim Abschiede oder Wiedersehen nach
kurzer Trennung, selbst bei einer Visite. Befreundete
Damen werden nicht durch Hntabziehen, sondern durch eine
besondere, dem Handkuß ähnliche Geste begrüßt. Die Kinder
werden gehätschelt und nicht eigentlich abgeküßt, man küßt
vielmehr drei- oder viermal äußerst schnell hinter einander
neben ihrer Wange in die Luft..
Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553—1555
aus Handschriften im Auszuge mitgetheilt von Prof. H. Kiepert.
I.
Die ersten ausführlichen Berichte über die unter türkische
Herrschaft gerathenen Länder des Orients verdanken wir
Gesandtschaftsreisen, namentlich solchen, die von Deutsch-
land oder Ungern ausgingen und als nächsten Weg die
Straße über Land einschlugen, während den venezianischen
und französischen Abgesandten der Seeweg näher und be-
quemer lag, so daß sich ihre Schilderungen meist nur auf
den Besuch der Hauptstadt beschränken. Jene kaiserlichen
Botschaften aber waren veranlaßt durch das dem Herzen
Europas von Jahr zu Jahr nähere Gefahr drohende Vor-
rücken der türkischen Verheerungs- und Eroberungszüge,
denen Kaiser Karl's V. für Deutschland verderbliche,
nur die kirchlichen und italienisch-spanischen Interessen ver-
folgende Politik freien Spielraum gestattete, indem sie selbst
dem mit der Verwaltung der österreichischen Erbländer be-
trauten Bruder des Kaisers, Erzherzog Ferdinand, genügende
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
187
Unterstützung mit Mannschaft und Geldern entzog und ihn
dem ungleichen Kampfe mit den an Zahl unendlich über-
legenen, durch Rohheit und Raubsucht doppelt furchtbaren
türkischen Horden aussetzte. Die furchtbare Niederlage bei
Mohatsch, in welcher 1526 das ungarische Reich zusammen-
brach und der letzte König der einheimischen Dynastie,
Ludwig, seinen Tod fand, öffnete den wilden Eroberern das
weite Flachland, über welches sie sich schon 1529 bis zur
ersten vergeblichen Bestürmung Wiens, zugleich aber mor-
dend und brennend bereits über die deutschen Grcnzländer
Niederösterreich und Untersteiermark (1532 bis vor Gratz)
ergossen; in ihren äußersten dauernden Vorposten Gran,
Neograd, Wisscgrad an der Donau setzten sie sich seit 1543
fest, während an den Mauern des von deutschen Truppen
vertheidigten Erlan 1552 ihr Ansturm eine nördliche
Grenze fand.
So war der Anspruch auf den Besitz der gesammtcn unga-
rischen Kronländer, welchen der von einer Partei der Magnaten
1527 zum König erwählte Erzherzog Ferdinand gegenüber
seinem durch Anerkennung seitens der Pforte unterstützten
Mitbewerber, dein Woiwoden von Siebenbürgen Johann
Zapolya und nach dessen 1540 erfolgten Todeseiner Wittwe
Jsabclla mH ihrem Söhnchen, geltend zu machen versuchte,
thatsächlich ans das oberungarische, von Slowaken bewohnte
Bergland und einen schmalen westlichen Streifen Landes
längs der deutschen Grenze beschränkt, und seine wieder-
holte, aber durch Mangel an Energie, Einsicht und vor
allem an Geld schwächliche Kriegsführung konnte ebenso
wenig, wie dazwischen die diplomatischen Versuche seiner
Abgesandten an die hohe Pforte') ein Verhältniß zu seinem
Gunsten ändern, welches thatsächlich auf eine durch jähr-
liche Tributzahlung anerkannte Abhängigkeit von der sulta-
nischcn Oberherrlichkcit hinauskam.
Weitaus als der geistig bedeutendste unter den Diplo-
maten des ungrischen Königs und späteren deutschen
Kaisers erwies sich der Flamäuder Ogier Gis len van
B u s b c e k (latiuisirt: Augerius Busbequius * 2 * 2 * 4 5), wiewohl
es auch seiner Klugheit erst nach jahrelangen und durch
nichtswürdige Behandlung seitens der übermüthigen Bar-
baren unterbrochenen Verhandlungen gelungen ist, im Jahre
1562 einen für seinen Fürsten nicht unvorthcilhaften Frieden
abzuschließen. Die erste Gesandtschaftsreise, zu welcher er
als Stellvertreter des bereits zu derselben Rolle bestimmten,
aber durch lange und harte türkische Gefangenschaft völlig
gebrochenen und tödtlich erkrankten Malvezzi 1554 berufen
worden war, verlief allerdings für das politische Geschäft
so gut wie erfolglos, während sic in anderer Weise dem
Abendlande unerwarteten Gewinn einbrachte. Durch den
zwischen der Pforte und Persien ausgebrochencn Krieg war
Sultan Suleiman veranlaßt worden, seine Residenz zeit-
weise nach Amasia im östlichen Kleinasien zu verlegen und
dort mußte ihn die Gesandtschaft aufsuchen; so brachte denn
Busbeek mit zurück die ersten Beobachtungen eines Euro-
päers über dieses asiatische Gebiet, die erste, wenn auch
noch unvollständige und vielfach fehlerhafte Abschrift einer
der wichtigsten geschichtlichen Urkunden: der lateinischen
Version des Testamentes des Kaisers Angnstus (des sogen.
Monumentum Aiicyranum), endlich als erfahrener Bota-
niker die ersten Exemplare mehrerer damals in Europa noch un-
bekannten, seitdem zunächst in seiner niederländischen Heimath
* - !) Bor die hier besprochene Reise fallen die Missionen von
Jurischitsch und Lemberg 1530, Schepper 1534, L-prinzenstein
1537, Laszki 1530, Adurno und Malvezzi 1544, Bcltwick 1545,
Vranczy und Zay 1553.
2) Bousbecque wird der Name des Stammgutes jetzt ge-
schrieben, das an der Leye (Lys) zwischen Warwick und Meenen
(Menin) unmittelbar an der Grenze gelegen, nunmehr Frank-
reich angehört.
stark angebauten Zicrgewächse: Tulpen, Hyacinthen, per-
sischen Flieder. Die Schilderung der Reise selbst von
Busbcek's eigener Hand I gehört nach Form und Inhalt
zu den vorzugsweise als klassisch zu bezeichuendcn Litteratur-
werken dieser Zeit; aber die geographischen Thatsachen einer
zum ersten Male von Europäern durchzogenen, geradezu neu-
entdeckten Landschaft werden darin nur in äußerster Kürze
berührt, nur die einzelnen Wegstationeu, selbst ohne Ent-
fernungsangaben und mit oft stark entstellten Namen und
ohne jede Andeutung der natürlichen Bodcngestaltung auf-
geführt, so daß für specielle Landeskunde oder gar Karten-
zcichnung der Gewinn aus dieser Quelle überaus dürftig
bleiben mußte2).
Nicht völlig ausgefüllt, aber doch thcilwcise ergänzt
wird diese Lücke des Reiseberichtes durch die Aufzeichnungen
eines der zahlreichen Mitglieder jener Reisegesellschaft,
eines praktischen und erfahrenen, wiewohl in seinen An-
schauungen mehr beschränkten und mit der Feder weniger
geübten Mannes, dessen überaus weitschweifige Arbeit denn
auch nie an die Öffentlichkeit getreten, daher auch sein
nicht einmal in übereinstimmender Schreibweise überlieferter
Name in der Litteratur nie bekannt geworden ist. Der
einzige Gebrauch, den bis jetzt Gelehrte davon gemacht
haben, betrifft die Aufnahme einer Anzahl von dem Autor
copirter und seinem Reiseberichte beigefügter griechischer und
lateinischer Inschriften in die unter Autorität der Berliner
Akademie der Wissenschaften herausgegebenen großen Samm-
lungen dieser wichtigen Reste des klassischen Alterthums»);
in beiden ist als Autorname Dornschwam gegeben, weil ihn
die Titelbezeichnungen der Bibliotheken, denen die drei Hand-
schriften des Werkes angehören, irrig so geschrieben haben I,
wie denn nachher sich ergeben hat, daß nach der selbst in
der Schreibung von Personennamen überaus sorglosen
Weise jener Zeit selbst in öffentlichen Dokumenten mannig-
faltige Varianten jenes Namens vorkommen. Daß die
richtige Schreibung Dcrnschwam ist, bezeugt seine eigene
Hand in mehreren der von ihm auf der Reise erworbenen
und dann der kaiserlichen Bibliothek in Wien überlassenen
griechischen Handschriften:
Hans '
in einer dieser Marginalnoten giebt er auch das sonst
nirgend überlieferte Datum seiner Geburt an I; er stand
danach schon im einundsechzigsten Lebensjahre, als er seine
beschwerliche große Reise antrat, zu der ihn übrigens gründ-
*) Legationis turcicae epistolae quatuor, in mehr als
20 verschiedenen Ausgaben.
2) Wie die ans'Busbeek entlehnten Abschnitte in Ritter's
Erdkunde, Bd. XVIII, S. 545, 661 und die Constructions-
vcrsuche Renuell's und Leake's in ihren Karten Kleinasiens
zeigen.
») Corpus inscr. Graecarum, Vol. III, ed. Joh. 4 ranz,
1853, p. 105. — Corp. inscr. Latinorum, Vol. III, ed.
Th. Mommsen, 1873, p. 53.
4) Peregrinatio Durensuami in beiden Wolfenbütteler,
Tereschwan relatio itinerationis Constantinopolitanae et
Turcicae in der Prager Handschrift.
5) Anno 1494 die 23 Martij natus ego Jo. Dcrnschwam
in Brux (doch wohl nicht Brüx in Böhmen?). Unrichtig mit
zwei m am Ende in Mosel's Geschichte der Hofbibliothek, Wien
1835, S. 26, und in dem von fremder Hand hinzugefügten
Titel des sonst ganz von seiner Hand geschriebenen, 304 Folio-
blätter starken, in der Hofbibliothek unter Nr. 12 652 aufbe-
wahrten Gatalogus librorum Joannis Dernschwammii ita
ut mense Julio 1575 a Magist. I). Hefrico Gült et Hu-
gone Blotio recensione Bibliothecae Caesariae facta fuit
inventus. — (Ich verdanke diese Mittheilungen über den sonst
so wenig bekannten und für die Geschichte der geographischen
Entdeckungen immerhin interessanten Mann der Gefälligkeit
meines Freundes Prof. L. Reinisch in Wien.) — Einen anderen
24*
188
Pros. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
liche, in Ungarn erworbene Kenntniß der slavischen Sprachen
und selbst, wie aus mehrfachen Textstellen hervorgeht, von
etwas Türkisch vorzüglich befähigte.
Ueber den Zweck, den er damit verfolgte, spricht sich das
Tagebuch nicht bestimmt aus; wenn er gelegentlich anführt,
er sei „auf sein eigen Unkosten und zehrung" mitgezogen,
so läßt das noch nicht auf bloße Wißbegier oder gelehrte
Interessen schließen, obwohl er solche, ebenso wie Busbeek
selbst, durch sein Achten auf architektonische und inschriftliche
Denkmale des Alterthums, besonders aber durch Erwerbung
vieler werthvoller griechischer Handschriften bethätigt hat.
Daß er daneben und vielleicht in erster Reihe auch Handelsbe-
ziehungen verfolgte, macht seine Stellung im Dienste des
im Orient vielfach interessirten berühmten Augsburger
Handelshanses Fugger höchst wahrscheinlich. Dasselbe
hatte schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts im nörd-
lichen Ungern x), namentlich in der Umgebung von Tyrnau,
große Güter erworben und seit 1526 durch einen mit
König Ludwig kurz vor seinem Ende abgeschlossenen und
mit König Ferdinand erneuerten Vertrag pachtweise die
Ausbeutung der Kupferbergwerke von Sohl übernommen;
in diesen hat Dernschwam lange Zeit als Faktor fnngirt,
so daß er Neusohl als seine zweite Heimath betrachten konnte
und im Verlauf seiner Erzählung die dortige Landschaft öfters
zu Vergleichen heranzieht H.
Wenn auch diese Montanindustrie mit der Auflösung
des Pachtvertrages im Jahre 1547 ihr Ende fand, so
scheint doch Dernschwam seinen ungrischen Wohnsitz bei-
behalten zu haben, da er von der Reise mitgebrachte Kerne
einer besonderen ägyptischen Kürbisart „Massir-Galack,
das ist alkhairische khyrbis — im Sol genug gesäet hat".
Wahrscheinlich hat er auch die Reise als damals sonst un-
beschäftigter Fuggerischer Beamter im Auftrage des Handels-
hauses mitgemacht3).
Wenngleich hinter Busbeek's geistvoller und in ge-
drängtester Kürze ein anschauliches Bild der socialen Zu-
Geburtsort oder vielleicht nur früheren Wohnort giebt Lambeck
an (8161. Caes. Y, 1766, p. 73, 85): Hans Dernschwamm
de Hradiczin. Sollte damit der Prager Hradschin gemeint
fein? Manche dialektische Eigenthümlichkeiten weisen doch eher auf
einen schwäbischen Ursprung hin. Dornschwam in der Wolsen-
bütteler, Dernschwam und Druschwan in der Prager Handschrift
des Textes der Reise müssen einfach Abschreiberfehler sein.
1) Absichtlich behalte ich diese einzig richtige und erst in
unserm Jahrhundert durch die latinisirte Form Hungaria ver-
drängte Schreibart bei, deren sich auch unser Autor ausschließ-
lich bedient. (Mit Ausnahme des Englischen wissen auch die
übrigen europäischen Sprachen nichts von dem unorganischen a
im Landes- nnd Volksnamen und als Personen- oder Familien-
name ist er bei uns ebenso in der richtigen Form Unger ver-
breitet genug, daneben Ungar erst kürzlich aufgekommen.)
2) Es soll auch von unserm Autor eine ausführliche Beschrei-
bung von Neusohl geben, die in Windisch's ungarischem Magazin
(einem in Berlin nirgend vorhandenen: Buche) abgedruckt sei.
3) Vergl. Friedr. Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel
in Ungarn, in Zeitschr. d. histor. Vereins f. Schwaben und
Neuburg, VI. Bd., 1879, S. 33 bis 50. Höflerüber das Fuggerische
Archiv zu Augsburg (in welchem vielleicht noch Lebensnach-
richten über Dernschwam aufzuspüren sein möchten), in den
Sitzungsberichten d. Akad. d. Miss, zu Wien, hist.-phil. Kl. 1853,
X, 403, wo den Fuggerischen Faktoren in Ungern, eifrigen
Protestanten, ein Antheil an der Agitation unter den Berg-
knappen und an dem Bauernkriege von 1525 zugeschrieben
wird; und besonders G. Wenzel, a Fuggerek jelentösege
Magyarorszag törteneteben („Bedeutung der Fugger für die
Geschichte Ungerns"), Budapest 1882, wo in dem mehr Raum
als der magyarische Text einnehmenden Anhang zahlreiche
deutsche und lateinische Aktenstücke mitgetheilt werden, aus
denen sich neben vielen der naiven Sorglosigkeit damaligen
Aktenstils zuzurechnenden Varianten des Familiennamens
(kommen doch selbst von einem so allbekannten wie dem
fuggerischen auch Fogger, Focker und Fucker darin vor) mehr-
fache Bestätigungen der Thätigkeit unseres Autors ergeben. So
stände gewährender Darstellung unendlich zurückstehend,
enthält doch die treuherzige, mitunter mehr als naive und
in ihren Ausdrücken wenig wählerische Erzählung des außer-
halb der diplomatischen Kreise stehenden und durch keinerlei
ängstliche Rücksicht gebundenen Dernschwam so viel beachtens-
werthe Thatsachen kulturhistorischen, ethnographischen,
geographischen Inhalts 1), daß eine auszügliche Mittheilung
des Wesentlichsten wohl auf einiges Interesse rechnen darf.
Dieselbe nicht allzu kurz zu fassen rieth die Erwägung, daß
ein vollständiger Abdruck des Buches, das in den beiden
Handschriften der Wolfenbüttler Bibliothek2) 365 resp. 308,
in derjenigen des Prager Museums 3) 520 Folioseiten
umfaßt, wohl kaum zu erwarten sein wird; es müßte denn
der Stuttgarter litterarische Verein sich des fast vergessenen
Autors einmal annehmen wollen.
Wir geben den Auszug nun mit dem wörtlichen Aus-
druck des Originals, nur mit den durch die übermäßige
Weitschweifigkeit desselben gebotenen Kürzungen und — da
es sich nicht um eine philologisch genaue, vielmehr um eine
dem heutigen Leser leichter lesbare Wiedergabe handelt —
mit Zurückführnng der schwerfälligen nnd nicht einmal in
jeder einzelnen der drei Handschriften consequent durch-
geführten Orthographie auf eine solche, welche ohne das
Wortgefüge zu verändern, nur die vom Schreiber gemeinten
Laute nach heutiger Weise wiedergiebt H; nur in den Eigen-
namen, welche selbst in ein und derselben Handschrift bei
zufälligen Wiederholungen öfters Varianten zeigen, ist die
Schreibweise buchstäblich beibehalten worden. Zurückführung
derselben auf die aus neueren, mitunter auch aus orientali-
schen Quellen bekannte richtige Form sind der Kürze wegen
in seckige Klammern^ geschlossen dem Texte gleich eingefügt;
ausführlichere Erklärungen in die Noten verwiesen. Endlich 1 2 *
S. 158 „ich Hanns Dernschwanr der zeit meiner Herren der
Fugger zu Augspurg diener, Wien, 27. März 1528." S. 210:
„Hanns Dernschwang, Wien, 28. Mai 1528." S. 192: „Hern
Hanns Franck, Hanns Durrenschwamb der Herren Fugger von
Augspurg die Zeit hie in Neusoll bey khuniglichem Handel
oberste Factoren, 1644" und S. 51 in einem Briefe König
Ferdinand's an Anton Fugger, <1. d. Wien, 9. Nov. 1545:
„daraus sein nun jetzo bei uns ankumben deine Diener
Sewastian Sauerzapf und Hanns Derrenschwamb." Dürnschwamb,
Diener der Fugger heißt er wieder in Engel's Geschichte des
Ungrischen Reiches, Wien 1813, Bd. III, 2, S. 181, der die
Prager Handschrift gekannt haben muß, da er ihr über den
Woiwoden Zapolya eine Nachricht entlehnt. ThurDschwamb
int magyarischen Text der angeführten Schrift S. 50 ist wohl
eine eigenmächtige weitere Correctur.
1) In dieser Beziehung hat sie für mich in Betreff eines
der unbekanntesten Striche Kleinasiens die bis vor kurzem
einzige Quelle abgegeben, und keinen geringe,: Vorzug vor fast
allen ähnlichen Reiseschilderungen jener Zeit mit ihrem für Topo-
graphie so gut wie nichts sagenden Inhalt bieten die meines
Wissens bei Dernschwam zum ersten Male vorkommenden Ver-
suche von Dimensionsbestimmungen, z. B. von Berghöhen,
Breite der Flußbetten und dergleichen durch Vergleichung mit
ähnlichen Objekten in den als bekannt vorauszusetzenden,
wenigstens dem Autor bekannten Gegenden Süddeutschlands und
Ungerns.
2) Nr. 77, 1 Aug. und Nr. 70, 1 Aug., letztere nur eine
Abschrift der ersten, wie mir Herr Oberbibliothekar Dr. v.
Heinemann gütigst mittheilt.
3) 3 F. 7 Listu XV, a. 342; dieselbe steht der anderen
bei weiten: nach; viele Namen und sogar längere Stellen sind
darin, offenbar wegen Unlesbarkeit des Originals, offen gelassen,
die Orthographie der Namen auch meist erheblicher entstellt.
*) Also i, ie, j für das y des Autors (yeder, yrgend, sy)
ei für sein ai (aiche, klaid, stritte), einfaches u für sein ue (guet,
zue, tuech, genueg), au, eu für sein aw, ew; weggelassen ist über-
flüssige Verdoppelung von Konsonanten (unnd, annder, dorss, seldt)
und müßiges h wie (khaifer, khunig, werckh, volckh), hinzugefügt
dagegen der Deutlichkeit wegen das h, wo es der Schreiber
zwischen zwei Silben (wie in ehe, stehen, gehen) und als Deh-
nungszeichen (wie in ere, im, ir, mer, one, ur) ausläßt. Die
meist befolgte Schreibweise mark (Markt) und die durchgängige
thurn (Thurm) habe ich beibehalten.
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
189
sind zur Vermeidung weitläufiger Wiederholung und zur
leichteren Uebersicht der sämmtlichen bei Hin- und Rückfahrt
auf ein und demselben Wege vom Autor gemachten geogra-
phischen Beobachtungen die im Ganzen wenig erheblichen
Abweichungen des Berichtes über die Rückreise sogleich der
Erzählung der Hinreise einverleibt, aber durch die Signatur
R: und Einklammerung in (—) kenntlich gemacht.
Dernschwam hat auch darin größere Sorgfalt für
geographische Orientirung bewiesen, als die meisten Reisenden
jenes Jahrhunderts, welche sich meist (wie selbst Busbeek)
mit der Aufzählung ganzer Tagereisen begnügen, daß er
das Maß derselben, mitunter auch kleinere Theilmaße nach
Stunden aufzeichnet und dieselben außerdem in das ihm
geläufige Meilenmaß umrechnet *). Er bezeichnet mehrmals
sein Maß ausdrücklich als „uugrische mcile", welche be-
kanntlich bei einem Verhältniß von 13 Hz auf den Aequa-
torialgrad um etwa Vs größer als die sogenannte geogra-
phische oder deutsche Meile ist, allein die Vergleichung mit
den uns jetzt besser bekannten wirklichen Distanzen erweist
seine Schätzung nach dem Zeitmaße fast durchgehends zu
hoch * 2) und selbst das deutsche Meilenmaß noch um etwas
überschreitend; das Verhältniß der erforderlichen Redaction
bleibt sich aber gleich, wie wir nach Maßgabe der uns heute
bekannten festen Punkte des Jtinerars schließen können:
ein rühmliches Zeugniß für die bei seinen Aufzeichnungen
angewendete Sorgfalt.
Ueber den ersten Abschnitt der am 23. Juni 1553 an-
getretenen Reise auf österreichisch-ungrischem Gebiete bis
zur damaligen Grenze des türkischen Gebietes bei Gran,
sowie über die Donaufahrt bis Belgrad (mit Roß und
Wagen auf fünf Schiffen, vom 25. bis 31. Juli) wird kurz
hinweggegangen. Belgrad, welches ebenso wenig wie zwei
Jahre später bei der Rückreise zu längerem Aufenthalt
veranlaßte, wird ungünstig genug beurtheilt: „wie be-
ruembt Wcißenburg ist, also schlecht ist es, erstlich liegt
das schloß in der statt auf einem berg an der Sau, hat
seine eigne maurn, thurn und streichwehrn, under anderen
ein großen viereckten thurn Reboisse genannt, das ist sovil
„nicht forcht dich"; ist bei uns ein schlecht Ding — in die
oberstatt lasst man ml seden und in das schloß niemandes,
darnmb das es nit so vcst ist als es den namen hat und
die Türken sich selbs besorgen müssen, wieder von ihnen
genommen wird werden, in forchten tag und nacht sein,
von allen vier seiten ist es zu beschießen, man muß aber
zuvor auf demselbigen laud sein über die Thunau und Sau
gefaren sein, ist an einem ort ubcrhocht und an einem ort
zu ebenem fuß zu beschießen. Das stettlin scheint wol groß,
ist aber von lauterem kot und holz und Hutten wie in
dorfern. Wie man noch sieht ist Weißenburg von dem
Türken gar nit zu dem sturm beschossen und mehr den Un-
gern abgeschreckt als mit gewalt erobert worden. ■■— Alda
haben wir die schiff gelassen und feind erstlich auf die
wagen gesessen.
1. August. Von Weißenburg ein weil wegs auf der
rechten seiten das schloß Scharua3 * 5) gesehen, liegt auf
1) In der vorliegenden Mittheilung sind dafür die leicht
verständlichen Abkürzungen St. und M. angewendet.
2) So werden gleich die ersten Stationen: Wien — Oeden-
burg — Bruck — Altenburg — Raab — Komorn zu je fünf
Meilen, von Komorn über Gran nach Ofen 12 Meilen, von da
auf der Donau bis Belgrad 60 Meilen gerechnet. „Wie ich
mich nach meinem uhrlein richten hab mugen, anderthalb bis
in 3/a stunden auf ein in eil" heißt es bei Gelegenheit der Addition
der Einzeldistanzen von Wien bis Constantinopcl.
3) So P. Sarno W. nach magyar. Schreibart, Zarno beide
R. Fehlt auf den heutigen Specialkarten, ist also wohl in den
späteren Kriegen zerstört worden; es scheint die Ruine auf
dem 400 Meter über Belgrad ansteigenden Berge Awala zusein.
einem hohen Berg, scheint ein klein eng Haus mit plei
bedeckt, hat der Turk gepaut, daraus er Weißenburger
gegend hat verheert und kriegt, daß man kein dorf mehr
sieht noch spürt. Alda under Zarno ist der Janusch Weida
(Woiwod Janos Zapolya, der Kronprätendent von Ungern)
im 1516 jar geschlagen worden, als kunig Ladislaus zu
Presburg gewesen und zu dem kaiser Maximilian per Wien
zogen.
Darnach über das geburg in 8 st. 4 meil von Weißen-
burg in ein oed ratzisch (serbisch) Dorf Grodtkho (Grotzka),
alda ein Karbasalia (Karwansaraj) darinnen 200 roß mugen
stehen, hat bis in die 24 kamern.
2. Ang. Von Grodtkho hat es einen hohen Berg
einer Meilen lang I —darnach in zwo m. zwischen gepurgen
gcfarn in 6 st. bis in 3 oder 4 m. gen Senderov, die
Ratzen (Serben) heißen es Schmederom (Smederewo) —
liegt in einem thal an einem arm der Thunau, — muß ein
ungesunde statt sein, dann neben den gelegten ebnen prucken
auf beiden seiten in der großen gaffen hat es stinkende
pfutzen. Das schloß ist weitleuffig wie ein kleins stettle
mit viel thurnen, wie Tyrna2), hat gegen der Thunau 5
runde thurn und ein thor, gegen der statt hat es 10 stnmpfete
thurn, ist aber inwendig nichts erpaut, denn allein hulzene
kothuttleu, vor den mauern ein zwinger und graben, nit
breit, darein wann die Thunau geschwollen man Wasser
leiten mag, darin etliche sieben große eichene salzschiff
stehen und verfaulen, so noch der boswicht und landverrether
kunig Hans (Zapolya, R : Janusch Weida) den Herren
Fuggern im 1529 jar genommen und dem Türken von
Deesch (Dees in Siebenbürgen) dahin gesandt; hab ich die
schiff kennt. Bei der statt sind groß weingeburg, nit lustiger
zu wünschen.
3. Aug. 8 St. 4—5 M. in ein ratzisch Dorf
Ly m ad a (R: durch Lywada, aber von wegen daß das
Wasser alles erschlagen, haben wir ein meil weiter per
Winitza ziehn müssen und von Winitza 7—8 St. 4 M.
gen Sanderov 3).
4. Aug. 9 St. 6 M. in ein ratzisch Dorf (R : türki-
schen Markt, vor gar ratzisch gewesen) Jagoda genanntH
die laudschaft von kleinen bergen wie in Siebenbürgen,
jetzunder aber alles oed und verwüst, auf beiden seiten von
fernen ziemlich große gepurge, neben dem Wasser Murawa
(Morawa) gefahren. Viel Ungern aus Funskirchen gegend
haben sich mit weib und kind gen Jagoda gezogen auf des
Derwischbek zusage, haben einen ungerischen Pfaffen, liest
meß, tauft und predigt den Ungern in seinem Haus, hat ein
weib. Alda haben wir einen großen roten marmelstein ge-
funden, darauf zwei Menschenbilder ausgehauen, man und
weib — — darauf gestanden: Magnifions dominus
Joannes de Aischan et uxoris nomen Clara, Ao 14 30.
5. Aug. 12 St. 8 M. in ein oed ratzisch oder serbisch
Dorflein R a tz n o k l i s s u r a und türkisch D e r w e n -I;
ff 130 Meter über Gr. nach V2 Meile Anstieg längs der
Donau nach österreichischen Messungen.
2) Tirnau bei Preßburg in der Nähe der dem Autor wohl-
bekannten Fuggerschen Güter.
3) Beide Namen jetzt verschwunden; die Lage des ersten
Ortes an einem reißenden Wasscrlauf führt auf das heutige
Städtchen Palanka, dessen Name auf eine später angelegte
türkische Befestigung zurückzuführen sein wird; als solche erscheint
es mit dem Namen des Erbauers: Hassan Pascha Palanka zuerst
1578 in Gerlach's Reisebeschreibung.
4) Richtiger Jagodina („Erdbeerort"), wie auch Busbeek
Jagodna schreibt, jetzt ein Städtchen.
5) Beide Namen, das aus dem Griechischen ins Serbische
und Bulgarische übergegangene Klisura und das türkische (ur-
sprünglich persische) Derb end, bezeichnen einen Engpaß, offenbar
den einzigen, welchen die in dieser Gegend in zwei Hauptarme
aus S. und W. sich vereinigende Morawa in der untersten
190
Aus allen Erdtheilen.
ungeferlich ein weil Wegs ehe wir zu dem dorf fönten, sind
wir auf ein kleinen schiff über das Wasser Murau gefaren,
ist nit als groß als die Gran zu Gran sd. i. bei ihrer
Mündung in die Donauj sind darnach ein nacht gefaren
an einem lustigen ort gelegen, — jetzunder alles türkisch,
an der straßen kein dorf gesehn, feind irgends weit von der
straßen gelegen
6. Aug. von Klissura in 9 St. 6 M. gen Nissa, die
landschaft ist gestalt wie Sibenburgen, ein meil eben land,
darnach Hubel und borgte, jetzunder alles oed und verwachsen.
Diese landschaft alle bis gen Nissa ist Servia — alda
fecht sich Bulgarin an bis gen Trinapol — die inwoner
Thatstrecke ihres Südarmes unterhalb des Städtchens Ra^an
durchfließt; ein danach benanntes Dorf ist jetzt nicht mehr vor-
handen und die Lage der Oertlichkeit, fast genau halbwegs
zwischen Jagodina und Risch, scheint den Distanzangaben des
Textes wenig zu entsprechen, die sich jedoch nicht sowohl aus
das Dorf als auf das Nachtlager im Freien beziehen müssen.
Andererseits stimmt dazu völlig das Passiven des Flusses unter-
halb der Enge, denn da nur von einer einmaligen Ucberfahrt
die Rede ist, kann nur der vereinigte Fluß gemeint sein. —
Ebenso unbekannt bleibt das auf der Rückreise (21. Juli 1555)
statt des Derwend genannte ratzische Dorf Brchbali 6 Meilen
vor Jagoda „underwegs auf einer pletten über das Wasser
Murawa gefaren".
nennen sich selbs Serby, das ist so viel als Winden und
die bulgarische sprach ist auch eine servische oder windische
sprach. Ihr glauben ist der kriechische mit allen ceremonien,
aber man sieht nindert ihre kirchen mehr. All ihr geben
ist so hoch wie zaunwerk und koth bekleibt, daß kaum ein
mensch hinein kriechen mag. Noten wein findt man etwan
nit vil besser im sommer als essig, hüner zu 2 und 3 aspern
auch junge zu 1 asper [= iy2 Kreuzers, ander fleisch, als
rind, schafen, lemmer findt man nit, man fausse dann ein
lebendigs auf der straßen, — item gersten fur roßfntter
einen zimlichen sack p. 6 asper, denn das gelt bei den leuten
thenr ist, wie zu Windisch land gegen Steiermark. Die
manßpersonen tragen sich nach beurischer art in sautuch
kleid und mit boczschkar schuchen mit zipfeten grauen zapfen
oder hueten; der weiber tracht wie sonst die Ratzen pflegen
von vil färben ausgenehete hemterkragen um brüst und ermel
mit wullenen faden, habn gar schlechte stauffen oder schleir
auf dem Haupt, wie die krabatischcn weiber. Die jungfrauen
gehen alle parhaubt, habn seltzamer zopfen im haar ge-
flochten eine über die ander, also daß einer meint es sei von
roßhaar, auf mancherlei art daran man in einen monat genug
zu schaffen hat — und in den ohren geheng von kupfer und
irgends auch von silber gespanglet ding, wie sie die Zigeiner
pflegen zu machen und allerlei glaswerk von vil färben.
Aus allen E r d t h e i l e n.
Europa.
— In dem kürzlich erschienenen 8. Jahrgange des
„Statistischen Jahrbuches für das Deutsche Reich"
(Berlin 1887) wird unter Festhaltung der bisherigen Ein-
richtung und des wesentlichen Inhaltes eine Fülle neuer
Daten geboten, unter denen hervorzuheben sind: verschiedene
Aufstellungen über die Resultate der Volkszählung von 1885,
namentlich ein alphabetisches Verzeichniß aller Orte von
mehr als 10 000 Einwohnern (diese Rubrik verdiente im
speciell geographischen Interesse vielleicht noch größere Er-
weiterung!), Tafeln über die Bewegung der Bevölkerung auf
dem Gebiete des jetzigen Deutschen Reiches seit 1841, eine
Sterbetafel und die vier Karten, welche die Vertheilung der
kleinsten, kleinen, mittleren uub großen landwirthschaftlichen
Betriebe zur Darstellung bringen. Auch auf die Statistik
der Wahlen zum deutschen Reichstage (S. 144 bis 147) sei
hingewiesen.
— Die letzten Lieferungen der „Europäischen Wander-
bilder" behandeln Friedrichshafen am Bodensee
(Nr. 125) und Zürich und seine Umgebung (Nr. 126
bis 129), letzteres eine sehr eingehende Schilderung dieser
Stadt nach jeder Seite ihres geistigen und materiellen Lebens,
verfaßt von zahlreichen Fachmännern, herausgegeben vom
Officiellen Verkehrsbureau Zürich und darum Jedem, der
dort zu verweilen beabsichtigt, zu empfehlen. — Aus Nr. 125
heben lutr die interessante Schilderung der Anfänge der
Bodenscedampfschiffahrt hervor (S. 13), sowie folgende inter-
essante Berechnung: Der Flächeninhalt des Bodensees be-
trägt ungefähr 467 qkm oder 2682 Millionen Quadratfuß.
Es hätten somit sämmtliche Bewohner des Erdballes, 1430
Millionen, auf dein Bodensee Platz, indem für jeden 3,974
oder rund vier Quadratfuß Raum bliebe. Der See müßte
natürlich überfroren sein und zwar fest genug! Würde die
Eisdecke einbrechen und die ganze Menschheit im Wasser
verschwinden, so würde der Wasserspiegel kaum um einen
halben Fuß sich heben.
— Paris wird demnächst um ein bedeutendes wissen-
schaftliches Institut reicher werden; das Mustze Gnimet
wird in das neue Gebäude an der Place de Jena übergeführt
und dort dem Publikum eröffnet werden. Das Museum, be-
gründet 1879 von Emile Gnimet mit den Resultaten einer
Sammelreise in den Orient und anfangs in Lyon befindlich,
ist bekanntlich ausschließlich der Religion gewidmet, aber der
Religion im weitesten wissenschaftlichen Sinne und enthält
darum Alles, was irgendwo in Beziehung zu religiösen Ge-
bräuchen steht, vom rohesten Fetisch bis zu den gottesdienst-
lichen Gerüchen der Gegenwart; die Kunst ist nur berück-
sichtigt, so weit sie im Zusammenhange mit der Religion steht.
Gnimet sah sich schon 1882 durch die überraschend schnelle
Zunahme seiner Sammlungen gezwungen, sie dem Staate
zu überlassen unter der einzigen Bedingung, daß sie in einem
besonderen Museum in Paris aufgestellt würden. Das neue
Museum naht nun seiner Vollendung. Im Erdgeschoß finden
Produkte des chinesischen und japanischen Kunstgewerbes
ihre Aufstellung, die theilweise nur in einem sehr lockeren
Zusammenhange mit dem Ganzen stehen; von den beiden oberen
Stockwerken ist das eine besonders den indischen Kulten ge-
widmet, einschließlich China und Japan, das andere Aegypten,
Griechenland, Rom und Gallien. Die damit verbundene
Bibliothek zählt bereits 13 000 Bände und 6000 bis 7000
chinesische und japanische Manuskripte.
— In den siciliauischen Gewässern werden jetzt
vier neue unterseeische Telegraphenkabel gelegt,
welche Mazzara an der Südwestküste Sicilieus mit der Insel
Pantelleria und die Insel Lipari mit Stromboli, bezw. mit
Panaria und Vulcano verbinden.
— Einige in diesem Sommer auf und um den Are-
skutan in Schweden angestellte Vermessungen haben
folgende Höhenverhältnisse über dem Meer ergeben: der Kall-
see 375 m, der Aresee 380 m, die Spitze des Areskutan
1418 m (Höhe über dem Kallsee 1038 m und über dem Are-
see 1043 m). Die Grenze des Kiefernwaldes liegt an der
nördlichen Seite des Gebirges 670 m und an der südlichen
Aus allen Erdtheilen.
191
Seite 770 m über der Meeresfläche. Die Birke wächst an
der nordwestlichen Seite bis 765 m, an der Ostseite bis
820 in und an der Südseite bis 825 in; die Weide an der
Nordseite bis 1085 in und an der Südseite bis 1120 m
über dem Meer. Die ersten Schneefelder trifft man auf dem
Hange des Mörvikshummeln in 430 m und die Spitze des
letzteren in 550 in Höhe über dem Aresee.
A s i e n.
— Im Juli sollte, wie die „Allg. Ztg." meldet, die erste
von Aokohama ausgehende Strecke der großen Tokaido-
Bahn, welche die östliche und die westliche Hauptstadt Japans,
Tokio und Kioto, mit einander verbinden wird, eröffnet
werden. Früher beabsichtigte man, die Bahn der nördlichen
Verbindungsstraße, dem Nakasendo, entlang zn legen, hatte
auch schon eine Strecke davon vollendet, als man wegen der
großen Schwierigkeiten bei Ueberschreitung der Gebirge die
Arbeiten einstellte. Auch diese Linie wird jetzt durch Privat-
unternehmnng vollendet, so daß künftig zwei Verbindungs-
bahnen zwischen dem Westen und dem Osten Japans bestehen
werden. Im Ganzen giebt es in Japan jetzt zwölf Eisen-
bahnen, fünfzehn sind im Bau begriffen, und jeder Tag bringt
neue Projekte.
— Dem neuesten Ausweise über die in Japan an-
sässigen Fremden zufolge befinden sich dort 1423 Eng-
länder, 592 Amerikaner, 343 Deutsche und 198 Franzosen.
In Diensten der japanischen Regierung stehen 68 Engländer,
27 Deutsche, 17 Amerikaner, 8 Franzosen, 8 Italiener und
6 Holländer.
Afrika.
— Die Dampfer der „Compagnie Générale Trans-
atlantique“ legen jetzt die Strecke zwischen Alger und
Marseille regelmäßig in 27 Stunden zurück, so daß Ge-
müse, Früchte u. s. w., welche Montag Mittag in Alger
expedirt werden, Dienstag Nachmittag in Marseille eintreffen,
von wo sie noch mit den Abendzügen nach Lyon, St. Etienne,
Genf u. s. w. weitergehen. Mittwoch früh, 36 bis 40 St.
nach der Abfahrt von Afrika, werden sie in diesen Städten
znm Verkauf gestellt, Mittwoch Abend schon in Paris.
Dieser rasche Transport trägt natürlich viel dazu bei, die
Waaren frisch zu erhalten und ihnen einen guten Absatz zu
verschaffen. Kein Wunder, daß die Dampfer jener Ge-
sellschaft wöchentlich viermal 2000 bis 3000 Körbe mit
Gemüsen und Früchten nach Marseille schaffen, und die
Dampfschiffgesellschaft, wie die Gärtner von Alger in gleicher
Weise ihre Rechnung dabei finden.
— Am 14. Juni d. I. ist I. T. Last von seiner Reise
nach dem N amuli-G eb ir g e in Ostafrika (vergl. „Globus",
Bd. 51, S. 110 und 223) nach England zurückgekehrt und
hat bereits am 27. Juni der Royal Geographical Society,
welche ihn ausgesendet hatte, einen vorläufigen Bericht er-
stattet. Seine Hauptziele hat er sämmtlich erreicht; er hat
den Zusammenfluß des Lugeuda und Rovuma astronomisch
bestimmt, die Bedeutung der beiden Flüsse für den Handel
untersucht, das Namuli-Gebirge erforscht und ans der Karte
festgelegt und ist schließlich dem Lukngn-Fluß von der Quelle
bis zur Mündung gefolgt, wobei sich freilich herausstellte,
daß derselbe wegen unausgesetzter Stromschnellen für Schiff-
fahrt und Handel so gut wie nutzlos ist und bleiben wird.
— Das Finanzdepartement des Congostaates läßt
jetzt in Brüssel Silber- und Kupfermünzen schlagen,
erstere zu 5, 2, 1 und 1/.2 Franken mit dem Bilde des
Königs und dem Wappen des Staates, letztere zu 10, 5, 2
und 1 Centime. Letztere sind in der Mitte mit einem runden
Loche versehen, damit die Eingeborenen sich Hals- und
Armbänder daraus machen können, wie sie solche jetzt aus
ihrem Messingdraht und ihren Perlen machen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Julius von Haast, der neuseeländische Geologe, ge-
boren 1. Mai 1822 zu Bonn, gestorben 15. August 1887
in Wellington ans Neuseeland. Anfangs Kanfmann, stndirte
er später in Bonn, ging 1858 in Answanderungsangelegen-
heiten nach Neuseeland, schloß sich dort an Hochstetter an und
wurde, als letzterer 1859 die Inseln verließ, von der Negie-
rung mit der Fortführung der geologischen Aufnahmen be-
traut, welche durch ihn, namentlich in der Provinz Canter-
bury, ganz wesentliche Förderung erfuhren. Er war außerdem
Direktor des Canterbury Museums und Professor der Geologie
am Canterbury College. Wegen seiner Verdienste um die
Londoner Kolonialausstellung, auf welcher er Neuseeland ver-
trat, wurde er 1886 zum Ritter gemacht.
— Prof. Dana verbringt diesen Sommer ans Hawaii,
das er vor nahezu 50 Jahren als einer der ersten Geologen
gelegentlich der Expedition des Commodore Wilkes durchforscht
hat. Er beabsichtigt besonders die geologischen Veränderungen
zu studiren, welche die vulkanische Inselgruppe in dein seit
seinem ersten Besuche verflossenen halben Jahrhundert erlitten hat.
Nordamerika.
— Von dem Missionar David Zeisberger, welcher
von 1740 bis gegen Ende des Jahrhunderts unter den
D ela waren wirkte, war eine Grammatik der Delawaren-
sprache schon 1829 in Philadelphia veröffentlicht worden;
sein Hauptwerk, ein Lexikon, das gleichzeitig die Ouondaga-
Sprache enthielt, galt als verloren. Neuerdings hat es aber
Professor Horsford unter den Manuskripten des Harvard
College aufgefunden und ganz unverändert znm Abdruck ge-
bracht; es enthält in vier Columnen neben einander die Worte
in Delawara, Onondaga, Englisch und Deutsch. Die Dela-
warensprache wird damit zu einer der am genauesten bekannten
Jndianersprachen, und cs ist das um so wichtiger, als zahl-
reiche geographische Namen in Neu-England durch sie ihre
Erklärung finden.
— Einer der interessantesten Effigy Monuds in den Ver-
einigten Staaten, der unter dem Namen „the great ser-
pent“ bekannte schlangenförmige Tumulus auf der Farm
Lowett in Adams County, Ohio, dessen Windungen 325 in
laug sind, ist vor Vernichtung geschützt worden. Einige
Bostoncr Damen haben auf Veranlassung der Miß Alice
C. Fletcher, der Verfasserin des bekannten Werkes über die
Onmhas, die Stelle angekauft und dem Peabody Museum über-
wiesen, unter der Bedingung, daß dasselbe den Hügel unterhält
und in einen, dem Publikum zugänglichen Park umwandelt.
— Das Wagner Free Institute of Science in Phila-
delphia, begründet von dem 1885 verstorbenen William Wagner,
eröffnet die Reihe seiner Transactions mit einer Arbeit über
Florida von Angelo Heilprin H, welche für dieKenntniß
dieser seltsamen Halbinsel von der größten Wichtigkeit ist.
Wir werden auf manche Einzelheiten, besonders über den
seither noch fast mythischen Okeechobee-See, später noch einmal
zurückkommen und geben hier nur einen kurzen Ueberblick
der geologischen Resultate, wie sie der Autor selbst zusammen-
stellt. Demnach ist die Ansicht, daß Florida seiner Haupt-
masse nach ans gehobenen Korallenbauten bestehe, eine total
i) Explorations on the West Coast oi Florida and
in the Okeechobee Wildernesses. With special reference
to the Geology and Zoology of the Floridian Peninsula.
A Narrative of Researches undertaken under the auspices
of the Wagner Free Institute of Science of Philadelphia.
Philadelphia 1887. gr. 8°. 134 pag. with 21 plates.
192
Aus allen Erdtheilen.
irrige. Ganz Florida gehört der Tertiärformation an; hier
und da finden sich wohl auch Korallen in den Tertiärschichten
zerstreut, aber wirkliche Korallenbauten finden sich nur auf
einer ganz schmalen Zone im äußersten Süden und Südosten.
Die tertiären Formationen folgen sich in regelmäßiger und
ununterbrochener Reihenfolge von Nord nach Süd, mit dem
Oligocän beginnend, alle Schichten horizontal oder nur ganz
leicht einfallend, nicht voir Osten nach Westen streichend, sondern
eher der Streichungsrichtung der Atlantischen Küste der Ver-
einigten Staaten folgend; eine beträchtlichere Störung ist
nirgends nachweisbar, in der südlichen Hälfte des Staates
liegen sogar die Fossilien in tadelloser Erhaltung noch genau
iil der Stellung, die sie im Leben eingenommen haben. Die
Schichten der Nordhälfte scheinen in tieferem Wasser gebildet zu
sein, die der Südhälfte in seichterem, zum größeren Theile
sogar vielleicht in ganz flachem Wasser, auf ausgedehnten
Bänken, ganz wie sie sich heute noch längs der Westküste der
Halbinsel finden. Doch muß selbst in der Pliocänperiode hier
schon etwas trockenes Land gewesen sein, denn wir finden in
den Schichten von Caloosahatchie Süßwasserablagerungen
mit den marinen gemengt. Auf diesem flachen Grunde
hausten unzählige Seethiere, deren Ablagerungen nach und
nach das Land über den Meeresspiegel erhöhten. Die
heutige Mollnskenfanna steht der pliocänen derselben Gegend
so nahe, daß zahlreiche Arten nur wenig oder gar nicht von
ihr abweichen und auch die ausgestorbenen sich im Charakter
der recenten Fauna unmittelbar anschließen. Menschen-
spnren reichen in Florida sehr weit zurück; die ganz in
Limonit umgewandelten Reste an der Sarasota Bah hält
Heilprin für die ältesten, die überhaupt mit Sicherheit be-
kannt sind. Ko.
— Desiró Charnay theilte in der Februarsitzung der
Pariser „Société d’Anthropologie“ mit, daß ein Bewohner
von Jzamal in Uucatan beim Abbruch einer der dortigen
Pyramiden zwei spanische Feuerrohre (Espingoles) gefunden
hat, die offenbar dort als Opfergabe eingemauert worden
waren. Dieselben können nur von der Expedition des
Francisco de Montejo stammen, welcher sich 1527 der Stadt
Chichen-Jtza bemächtigte und sie zwei Jahre lang behauptete,
aber schließlich von den Mayas nach Verlust des größten
Theiles seiner Mannschaft vertrieben wurde. Es ist das ein
unzweifelhafter Beweis dafür, daß Jzamal zur Zeit der
Conquista nocí) blühte und die Mayas damals noch einen
Tempel bauten. Charnay hielt bekanntlich nicht die Mayas,
sondern die Toltekcu für die Erbauer der centralamerikanischen
Städte, aber der Marquis de Nadaillac macht in der nach-
folgenden Discussion mit Recht darauf aufmerksam, daß
Toltcken, Mayas und Azteken nur nahe verwandte Zweige
eines Stammes sind, wahrscheinlich die nächsten Verwandten
der Mound-builders von Nordamerika.
Vermischtes.
— Dr. med. H. Ploß, Das Weib in der Natnr-
und Völkerkunde. Anthropologische Studien. Zweite stark
vermehrte Austage, nach dem Tode des Verfassers bearbeitet
und herausgegeben von Dr. med. Max Bartels. Mit
sechs lithogr. Tafeln und ca. 100 Holzschnitten. Th. Grieben,
Leipzig. 8A Ein alter Bekannter in neuem Gewände, den
wir mit Freuden begrüßen. In dem kurzen Zeitraume von
zwei Jahren ist von dem Ploß'schen Werke eine zweite Auf-
lage nöthig geworden, deren Erscheinen der unermüdliche
Verfasser leider nicht mehr erleben sollte. Eine berufene
Hand hat die Arbeit aufgenommen und weitergeführt, und
wie die schon vorliegenden fünf Lieferungen beweisen, nicht
zum Schaden des Werkes. Unter Benutzung selbst noch der
neuesten Litteratur giebt uns der Bearbeiter eine vollständige
Naturgeschichte des Weibes bei allen Stämmen der Erde, in
übersichtlicher Anordnung und gewandter Bearbeitung; über
keine der hier in Betracht kommenden Fragen wird man ver-
geblich Belehrung suchen. Wir zweifeln nicht daran, daß auch
die zweite Auflage sehr rasch vergriffen sein wird und hoffen
in nicht allzu langer Zeit in die Lage zu kommen, die dritte
anzeigen zu können. Ko.
— Die Erwartung, daß mit der Eröffnung des Suez-
kanals sehr rasch eine Vermischung der erythräi-
schen mit der mediterranen Fauna erfolgen werde,
hat sich durchaus nicht erfüllt; die Einwanderung der See-
thiere in den Kanal erfolgt mit einer geradezu verblüffenden
Langsamkeit. Nach einer Mittheilung, welche Prof. v. Martens
in der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin machte,
haben die in diesem Jahre angestellten Forschungen von Prof.
Krukenberg gegen dieKeller's im Jahre 1882 nur einen
Zuwachs von sieben Arten ergeben, darunter nur zwei Mol-
lusken. Von letzteren sind bis jetzt überhaupt nur 25 bis
26 Arten in den Kanal eingedrungen, 7 bis 8 vom
Mittelmeere her, 18 aus dem Rothen Meere. Diese Ver-
schiedenheit findet ihre Erklärung wohl am einfachsten darin,
daß der Golf von Snez für die Entwickelung von Mollusken
sehr günstig ist und eine sehr reiche Fauna besitzt, während
die mittelmeerische Ansmüudung des Kanals, bei Port Said
im Gebiete der vom Nil kommenden Schlammbänke liegt, die
nur wenig Mollusken zusagen. Eine Vermischung der
beiderseitigen Faunen findet nur in geringem Grade und nur
ans der Strecke zwischen Timsah- und Ballah-See statt, im
Allgemeinen bildet die Schwelle von el-Gisr heute noch die
Grenze zwischen der erythräischen und der mediterranen
Fauna. Ganz durch den Kanal hindurch gewandert sind
immer erst drei Arten, vom Mittelmeere aus Cardium
edule und Cerithium conicum, welche sich beide selbst den
ungünstigsten Bedingungen anzuschmiegen verstehen, und
voin Rothen Meere aus Mytilus yariabilis, den wahr-
scheinlich die Dienstschiffe der Kanalverwaltung verschleppt haben.
Die anderen Arten zeigen gegenüber dem Befunde Keller's
seit 1882 keine wesentliche Weiterverbreitung. In dein großen
Bittersee finden sich neben 15 erythräischen Arten immer nur
noch die beiden oben genannten Mittelmeerarten. — Aber
auch das wanderlustige leichtbewegliche Volk der Fische zeigt
nicht mehr Neigung zur Ausbreitung, als die Mollusken.
Ob ihnen in dem anderen Meere die gewohnte Nahrung
fehlt, oder ob sie mehr Anhänglichkeit an ihre angestammten
Weide- und Jagdgründe haben, als man gewöhnlich annimmt,
es sind bis jetzt erst 16 Arten in den Kanal eingewandert,
sechs vom Mittelmeere her, zehn aus dem Rothen Meere;
die letzteren machen noch Mi el-Gisr Halt, die ersteren haben
unternehmender die Mittellinie sämmtlich überschritten und
drei davon sind bereits im Rothen Meere angelangt. —
Diese Thatsachen haben für die Geologie eine nicht zu unter-
schätzende Bedeutung, denn sie beweisen, daß die bloße Er-
öffnung einer Verbindung zwischen zwei Meeren ohne erheb-
liche Veränderung der physikalischen Verhältnisse in den alten
Becken nur ganz unendlich langsam ein Ueberwandern der
Fauna aus einem Becken in das andere bedingt.
Inhalt: Dr. W. Biermann: Zur physischen Geographie der Carrarischen Inseln. (Mit fünf Abbildungen nach Zeich-
nungen des Verfassers.) — Dr. H. Simroth: Ponta Delgada aus San Miguel. I. (Mit zwei Abbildungen.) — Pros.
H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555. I. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika.
— Inseln des Stillen Oceans. — Nordamerika. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion am 2. September 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Uerücbsichtignng der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Dssirö Charnay's jüngste Expedition nach Aucatan.
i.
sSämmtliche Abbildungen nach Photographien.)
In seiner Geschichte der amerikanischen Civilisationen
hatte der unseren Lesern wohlbekannte Amerikanist
D. Charnay (der „Globus" brachte zuletzt in den Bän-
den 41 und 45 bis 47 illustrirte Berichte über seine Reisen
und Ausgrabungen in Mittelamerika) darauf hingewiesen,
daß in Aucatan Spuren einer unbekannten oder auch ver-
kannten Epoche, trotzdem sie die jüngste und letzte ist, näm-
lich der Zeit des Verfalls, von welchem die Schriftsteller
berichten, zu fehlen scheinen. Um danach zu suchen, begab
er sich 1886 wiederum nach Aucatan, zumal er auch
vom Bischöfe Lauda erfahren hatte, daß bei einer gewissen i
Pyramide in Jzamal (im Norden des Landes, östlich von j
Merida) die Mauern der Vorplätze mit Basreliefs bedeckt
seien, und er dieselben abformen wollte. Zunächst aber
führte ihn seine Reise mehr nach dem Süden.
Die bei Progreso an der Nordküste beginnende Eisen-
bahn, welche er vier Jahre früher bis Acanceh, 13 km
über Merida hinaus, hatte benutzen können, war jetzt um
ganze 5 km weiter, bis Lepan, im Betriebe; wird in diesem
Verhältnisse weitergebaut, so wird cs allerdings noch zwei
Jahrhunderte dauern, bis die Schienen ihr Ziel, den Ort
Bacalar unweit der Bai von Chetumal (Ostküste) erreichen
werden. Lepan ist eine kleine, anspruchslose, aber vor-
trefflich gehaltene Hacienda, wo Charnay eine vorzügliche
Aufnahme fand. Es wird dort, wie auf allen Hacienden
des Centrums und der Umgebung von Merida, vornehmlich
die Gespinnstpslanze Heneguen gebaut; außerdem besitzt
aber Lepan prachtvolle, reichlich bewässerte und kühle Gärten,
denen man die Leitung eines intelligenten Mayordomo
Globus LII. Nr. 13.
ansieht. Neben den Feldern europäischer Gemüse, Kohl,
Radischen, Salat u. s. w., stehen Zuckerrohr und Bananen
und ein wahrer Wald von Fruchtbäumen: Zapotes, Guana-
vanas, süße Limonen, Pampelmusen, Orangenbäume, über-
ragt von stolzen Kokospalmen, welche im Durchschnitte
400 Nüsse im Jahre tragen sollen. Aber nicht nur auf
das Land erstreckt der Verwalter seine Fürsorge: er hat in
dem ablegenen Orte, wo die Regierung nicht daran denken
würde, eine Schule zu errichten, selbst eine solche in das
Leben gerufen, indem er ein Zimmer seiner Wohnung dazu
hergerichtet hat und darin mit Hilfe seiner Tochter die
Kinder der Indianer und Mestizen seiner Hacienda täglich
zweimal in Lesen, Schreiben, Rechnen, Moral und ein
wenig Geschichte unterrichtet. Leider ein seltener Fall in
jenem Lande!
Mucuiche (24 km südlich von Merida), wo Charnay
am folgenden Tage übernachtete, gehört zu den schönen
Hacienden des Staates; die verschiedenen Wohngebäude
nehmen einen großen Raum ein und sind sämmtlich mit
großen Galerien maurischer Bogen umgeben und versehen,
was einen geradezu glänzenden Eindruck macht. Einen
Theil davon, welchen Charnay photographisch aufnahm,
stellt die erste Abbildung dar; im Vordergründe sitzen
Kaplan und Pfarrer des benachbarten Dorfes Abala. Der
große, mit alten Bäumen bepflanzte Platz, welcher vor der
Hacienda liegt, die unermeßlichen Gänge, die breiten Trep-
pen, die Vorhöfe, die Kapelle und die Gärten verleihen der
Hacienda ein fürstliches Ansehen; zwei Cenotes (Teiche),
der eine oben offen und mit senkrechten Mauern, der andere
25
194
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Jucatan.
in Gestalt einer Grotte, liefern den Bewohnern Wasser in
reichlicher FUlle.
Früher, ehe noch der Anbau des Henequen seine große
Verbreitung gewann, baute diese Hacienda, wie viele andere,
nur Mais für die Indianer und züchtete Vieh; daher
stammen ihre geräumigen oorrales, ummauerte und mit
Bäumen bepflanzte Höfe, in denen lange Tröge aufgestellt
sind, die durch Norias stets mit Wasser gefüllt erhalten
werden und durstigen Thieren zu jeder Zeit einen
frischen Trunk bieten. Unser zweites, nach einer Augenblicks-
photographie gefertigtes Bild giebt eine gute Vorstellung
von solchem Corral mit seinen friedlich wiederkäuenden
Rindern, den schattenspendendcn Bäumen und den um-
gebenden Jndianerhütten. Schlimmer ist es mit dem
Futter bestellt; da das Land keine Weiden besitzt, müssen
Maulthiere, Pferde und Rinder sich selbst dasselbe im
Walde suchen, und der Ueberfluß, welcher in der Regen-
zeit herrscht, verwandelt sich in der Trockenzeit und nament-
lich, wenn, wie in den letzten Jahren, die Heuschrecken
erscheinen, oft in Mangel, so daß zahlreiche Thiere zu
Grunde gehen. Die Beaufsichtigung der Rinder ist leicht;
ein Manu genügt, um etwa neugeborene Kälber im Walde
aufzusuchen oder die jungen Thiere gegen die Nachstellungen
des Jaguars zu schützen. Die ausgewachsenen kehren stets
von selbst wieder zu ihrer Hacienda zurück, mögen sie sich
auch noch so weit von derselben entfernt haben. Früher
hielt man in den Wasserbehältern Ochsenfrösche, weil man
glaubte, daß deren weithin hörbares Geschrei verirrte Rin-
der zurückriefe, während dieselben doch nur ihrem Durste
folgten. Diese Sitte ist jetzt abgekommen; denn auch
Aucatan schreitet vorwärts: an Stelle der brüllenden
Ochsenfrösche hört man schon das Pfeifen der Lokomotive,
in das träge Dahinleben der Indianer hat die Henequen-
Fabrik Rührigkeit gebracht, und statt der langsamen Ochsen-
. TI
MN j K'^nii 6
I8HÜ
Die Hacienda Mucuiche.
karren, welche die Pflanzen von den Feldern hereinführten,
verwendet man jetzt leichte, von Maulthieren gezogene
Wagen, die auf Schienen rasch dahinrollen.
Der nächste Tag brachte den Reisenden nach Tic ul,
wo er seine alten Freunde Fajardo und Dr. Palma wieder
begrüßte; letzterer hatte für ihn einige kostbare Vasen ge-
sammelt, darunter eine sehr seltene, welche mit Reliefs und
Inschriften bedeckt war, und jener schenkte ihm die Bild-
säule eines unbekannten Gottes, die aus den Ruinen von
Nohpat stammte. Es ist ein scheußliches und dabei
wunderliches Idol, wie alle amerikanischen Götzenbilder,
hat aber den Vorzug, daß es ganz erhalten und mit einem
Zapfen versehen ist, woraus man die Art und Weise ersieht,
wie die indianischen Baumeister die Fahnden ihrer Gebäude
mit Figuren bedeckten. Es erinnert übrigens etwas an
den Gott Besä der alten Aegypter, der gleichfalls in zwerg-
hafter, verkrüppelter und grotesker Gestalt abgebildet wurde.
Außerdem fand Charnay bei einem Liebhaber eine prächtige
Sammlung yncatekischer Steinbeile, die zum größten Theile
von der Insel Co zumel (östlich von der Halbinsel
Nucatan) stammten. Es waren im Ganzen 80 Stück, für
welche der Besitzer einen hohen Preis forderte, den Charnay
in Anbetracht sowohl des archäologischen als auch des
mineralogischen Werthes der Beile zu zahlen keinen An-
stand nahm. Die Insel Cozumel war zur Zeit der
Conquista sehr bewohnt, sehr civilisirt und mit Denkmälern
bedeckt; denn sie war einer der berühmtesten Wallfahrtsorte,
und die Leute kamen von weit her, um in den dortigen
Heiligthümern Geschenke und Opfer darzubringen. Ob die
Beile Weihgeschenke der gläubigen Pilger sind, wofür die
Verschiedenheit ihrer Formen und des verwendeten Materials
spräche, oder ob sie den Bewohnern der Insel als Werk-
zeuge und Waffen gedient haben, ist schwer zu entscheiden.
Jedenfalls aber kamen sie von weit her, da die ganz aus
reinem Kalkstein bestehende Insel ihren Bewohnern kein zu
Werkzeugen passendes Gestein geliefert haben kann; sie
Em Rinder - Corral in Mucuiche,
196
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Jucatan.
mußten solches von auswärts holen oder
Völkern einhandeln. So wissen wir z.
Kupfer von Mexiko, die Obsidian-
beile und -messer theils von Mexiko
und theils von Guatemala bezogen.
Auch konnten sie Leute ausschicken,
um in den Gießbächen von Chia-
pas und Peten Steine direkt zu
suchen, und das wird dadurch wahr-
scheinlich gemacht, daß mehrere
jener Beile aus Rollkieseln herge-
stellt zu sein scheinen. Charnay
halt einige für ganz verschieden von
den allgemein bekannten Typen aus
den Epochen des geschlagenen oder
des polirten Steins, z. B. die bei-
den ersten Stücke der oberen Reihe
in unserer Abbildung; es sind das
richtige Rollsteine, deren passendstes
Ende ausgewählt wurde, um es zu
einer Schneide herzurichten und zu
poliren. Der zweite scheint sogar
kaum bearbeitet worden zu sein, und
bei beiden sieht man keine Spur
eines abgesprengten Splitters, son-
dern nur die gewöhnliche Abschlei-
fung, wie sie durch das Aneinander-
reiben der Steine in den Bächen
erzeugt wird, und wie sie
namentlich auch das dritte
Exemplar der ersten Reihe
aufweist. Das mittelste
Beil der unteren Reihe
ist insofern bcmerkenswerth,
als es aus dem dicken Theile
einer großen Muschel, eines
Busycon perversum oder
Strombus gigas, welche
sich an den Küsten der Halb-
insel finden, hergestellt ist;
es ist das einzige seiner Art,
welches Charnay jemals in
Uucatan oder im übrigen
Mexiko gesehen hat, und
er hält es für weit älter
als die Steinbeile. Auch
den Vereinigten Staa
in
ten sind diese Muscheläxte
so selten, daß das Washing-
toner Museum nur zwei,
freilich sehr schöne Exem-
plare davon besitzt, welche
aus Mounds in Kentucky
und Florida stammen.
Sehr befriedigt von
seiner Ausbeute in Ticul
begab sich der Reisende
nach Jzamal, über wel-
ches er schon früher Man-
cherlei berichtet hat (vergl.
„Globus" Bd.45, S. 337
ff. und die Abbildungen auf
S. 340 bis 342); früher
hatte er sich jedoch aus Man-
gel an Zeit und, weil die
dortigen Pyramiden alle
es von Nachbar-
B., daß sie ihr
Götzenbild aus den Ruinen von Nohpat.
Aucatekische Steinäxte.
in Ruinen liegen und die auf
ihnen errichteten Gebäude gänzlich verschwunden sind, nicht
auf Ausgrabungen eingelassen, gedachte dies aber jetzt
gründlich nachzuholen und den größten Theil der Trocken-
zeit in Jzamal zu verwenden. Der
Empfehlungsbrief, welchen ihm der
junge und gebildete Bischof von
Merida an alle Geistlichen seiner
Diöcese mitgegeben hatte, verschaffte
ihm bei dem Pfarrer von Jzamal,
welcher in dem riesigen, sonst unbe-
nutzten und halb verfallenen Kloster
wohnte, rasch Unterkunft. Einst
muß das ein prächtiges Gebäude ge-
wesen sein, denn noch seine Trüm-
mer erscheinen massiv und stolz; cs
liegt auf einer großen Terrasse, zu
welcher von drei Seiten Treppen
hinaufführen und besteht aus einer
großen schönen Kirche, zwei Kapel-
len, davon eine die berühmte wun-
derthätige Jungfrau von Jzamal
birgt, einer großen Sakristei, einem
zweistöckigen Kreuzgange, Zellen,
Gärten und einem mit Orangen-
bäumen bepflanzten und von Säu-
lenhallen eingefaßten Hof von mehr
als 100 m Seitenlänge, der an
arabische Moscheenhöfe erinnerte.
Aber Todesstille herrschte in diesen
Räumen, nur unterbrochen
durch die wenigen Besucher
des Morgengottesdienstes
und die zum Religionsun-
terrichte kommenden Kinder.
Das gewaltige Bauwerk
überwältigt den Beschauer,
als wäre es die Arbeit eines
Riesen; aber das Erstau-
nen verschwindet, wenn man
hört, daß die Spanier nur
die große indianische Pyra-
mide Ppapp-hol-chac (Haus
der Köpfe und der Blitze), in
welcher die Priester (abkin)
wohnten, dazu benutzten und
sie zur Basis ihres Klosters
machten, und daß derselben
eine zweite ebenso große
Pyramide, Kinich Kakmö,
gegenüber lag.
Voller Hoffnung begann
Charnay feine Arbeiten,
welche ihm freilich nicht
alle jene Basreliefs, von
denen Landa erzählt, liefer-
ten, dafür aber sehr werth-
volle Wandmalereien, welche
jener Autor nicht erwähnt,
die aber unser Reisender
als sehr genügenden Ersatz
dafür ansehen durfte. Er
begann damit, die Anzahl
der Pyramiden festzustellen,
welche Landa auf zwölf an-
giebt, während Lizana nur
von fünf spricht; Charnay
fand dagegen wohl an 20 kleine und große, und darunter
einige sehr beträchtliche, aber alle in Trümmern.
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Jucatan.
197
Zuerst nahm er diejenige in Angriff, welche westlich |
von dem großen Marktplatze Jzamals (stehe Abbildung im 1
„Globus", Bd. 45, S. 341) liegt und in alter Zeit den
Namen Kab-ul, d. h. „die wunderbare Hand" trug, weil
der König oder Gott, welchem der Tempel geweiht war,
durch Auflegen der Hand Kranke heilte oder Todte zum j
Leben erweckte. Charnay glaubt, diesen Gott mit „Hueman j
mit den langen Händen", dem großen Häuptling und Ge-
setzgeber von Tula, identificiren zu können, von welchem ver- !
schiedcne Schriftsteller sagen, daß er derselbe sei wie Quctzal-
coatl, den man in Yucatan unter dem Namen Cuculcan
oder Kukulcan wiederfindet.
Das Aussehen dieser Pyramide hatte sich seit Charnay's
letzter Anwesenheit bedeutend verändert; die große Figur,
welche die Basis der Ostseitc schmückte, ist zerstört, die süd-
liche Mauer eingestürzt, wobei die schöne, von Stephens
abgezeichnete Maske verschüttet wurde, und die westliche
Fa^ade, an welcher sich oben Basreliefs befanden, ist schänd-
lich geplündert worden. Jeder zerstört eben, um zu zer-
stören, ohne sich um die Vergangenheit zu kümmern, und
besonders zeichnen sich dabei die Einwohner der Stadt aus,
welche auf die Ueberreste den größten Werth legen sollten.
An dieser Pyramide, wie an anderen, ist oft gegraben
worden, aber nicht ans wissenschaftlichem Interesse, sondern
um sich Bausteine zu verschaffen oder um etwa einen Hof
zu vergrößern. Dabei fand kürzlich ein Einwohner, dessen
Grundstück an die Ostseite der Pyramide stößt, zwei spanische
Musketons aus dem 16. Jahrhundert, das Rohr nach unten,
den Kolben nach oben. Es ist höchst wahrscheinlich, daß
dieselben den Soldaten des Francisco de Montejo bei dessen
Die Pyramide Kab-ul bei Jzamal.
erstem Zuge von 1527 von den Indianern abgenommen
wurden. Montejo hatte sich der Stadt Chichen-itza be-
mächtigt und hielt dieselbe zwei Jahre lang besetzt, bis er
nach Verlust von zwei Dritteln seiner Mannschaft gezwungen
wurde, sie zu räumen. Dabei fielen wahrscheinlich jene
Musketons den Indianern in die Hände und wurden von
ihnen als Weihgeschenk an die Götter zum Dauke für den
verliehenen Sieg in der Basis des Tempels vergraben —
ein weiterer Beweis für das Vorhandensein der Stadt
Jzamal zur Zeit der Conguista. Ein anderes Mal fand
Don Pedro Bantista in der Pyramide Hunpictok eine
Steinkiste von 1 m Länge und V2 m Breite und in derselben
fünf 30 cm lange und 20 cm breite Platten mit einem 5 cm
hohen Rande aus sehr feinem, rothem Thon, welche auf
vier Rädern von demselben Materiale ruhten und an unsere
Schüsselwärmer erinnerten. Außerdem enthielt die Kiste,
unzweifelhaft eine Todtenkiste, Halsbänder ans Edelsteinen
und Obsidianmesser. Der Fund gemahnt an die Schüssel-
wärmer, welche auf Montezuma's Tafel in Gebrauch waren;
er zeigt, daß Charnay's Fund von kleinen Wagen in Tenene-
panco nicht isolirt dasteht, und daß die Indianer Räder
und von Menschen gezogene Karren kannten. Zwei von
jenen „Schüsselwärmern" gelangten in den Besitz des früheren
Bischofs von Merida, sind aber mit den anderen jetzt spur-
los verschwunden.
Die Pyramide Kab-ul besteht aus zwei sehr niedrigen
Esplanaden und zwei zurückspringenden Plattformen mit
senkrechten, ans Fries und Gesims bestehenden Mauern
(die untere 41 in lang, 21 m breit, die obere 36 m lang,
16 m breit); der Fries der oberen Plattform zeigte einige
198
Dr. H. Simroth: Ponta Delgada auf San Miguel (Azoren).
Reste von Basreliefs, denselben, von denen Landa spricht.
Mit Hilfe von Indianern, welche der Präfekt von Jzamal
zur Verfügung stellte, gingen die Ausgrabungen ziemlich
rasch von statten. Am westlichen Ende der Pyramide fand
man das in der letzten Abbildung dargestellte Relief; als
man aber in dieser Richtung weiter arbeitete und an die
ganz verfallene Nordseite gelangte, wo niemals Ausgrabun-
gen gemacht worden waren und man die schönsten Funde zu
machen hoffte, sah man, daß dort keine Reliefs mehr vor-
handen waren, sondern daß dieselben wohl schon in der ersten
Zeit der Conquista vernichtet worden sind, weshalb auch
jede Erinnerung an sie verschwunden ist. Charnay hatte
auf mindestens 50 qm solcher Basreliefs gehofft und mußte
sich nun mit kaum dem ftinften Theile begnügen; freilich
waren auch diese 10 qm als die einzigen erhaltenen von
großem Werthe; das Abformen derselben nahm volle drei
Tage in Anspruch.
Das Basrelief stellt einen auf dem Bauche liegenden
Menschen dar; Ellbogen und Arme scheinen auf einem
Kissen, der Bauch auf einer Erhöhung zu ruhen, während
Basrelief von der Pyramide Kab-ul.
die Knie den Boden berühren. Auf dem etwas verstümmelten
Kopfe sitzt eine Art Tiara und den Hals bedeckt ein Orna-
ment gleich einem Cravattenknoten. Derselbe Knoten findet
sich auch an Terracottafignren aus Mexiko und Zapote-
capan, und merkwürdiger Weise hat Charnay dicht bei dem
in Rede stehenden Basrelief einen kupfernen Gegenstand
ansgegraben, der genau jenem Knoten entspricht. Vielleicht
trug der Mann auf dem Rücken ein zweites Geschöpf,
dessen Leib und Kopf verschwunden find, und von dem nur
der fächerartige Schwanz noch übrig geblieben ist. Derselbe
erinnert durchaus an die Art und Weise, wie die Haidah-
Jndianer des Königin-Charlotte-Archipels den Schwanz
des Raben oder Adlers darstellen, wie es überhaupt noch
andere Aehnlichkeiten zwischen jenen und den Civilisatorcn
Mexikos giebt, von denen später die Rede sein wird. — Merk-
würdige Figuren von starkem Relief, manche in Form von
Voluten, umgeben die liegende Gestalt; ihre Bedeutung ist
unbekannt. Dieses Relief wie auch die ganze Pyramide
waren bemalt: das Gesicht roth, der Kopfputz blau und gelb,
der Körper braun, die Ornamente ringsum blau, gelb und roth.
Ponta Delgada auf 1
Von Dr. l
II. i
Antik, wie die Sitten, ist das töpferne Hausgeräth.
Natürlich stammt es aus Portugal, und in Oporto ist man
daran, eine große keramische Sammlung anzuhäufen. In
Ponta Delgada trifft man die verschiedensten Thonwaaren
in altklassischen Mustern; das gewöhnliche Geschirr, etwa
Einmachebüchsen, ist mit geschmackvollen Glasuren verziert,
in der Küche stehen meterhohe Wasserflaschen von riesigem
Umfange. Eine Fabrik beschäftigt sich mit der Herstellung
aller möglichen zierlichen Modelle der üblichen Gefäße in
van Miguel (Azoren).
». Simroth.
Terra cotta, weniger zum Export, denn als Kindcr-
spielzeng.
Der konservative Hang äußert sich ähnlich in den Münz-
vcrhältnissen. Der von den brasilianischen verschiedene
Werth der portugiesischen Reis ist bekannt. Auf den
Azoren existirt ein anderes schwaches Geld (dinheiro fraco).
Hat man sich in Lissabon glücklich in die starke Rechnung
(dinheiro forte) hineingefunden, so giebt es hier neue
Schwierigkeiten. Milreis (portug.) sind gleich 1250 insu-
Dr. H. Simroth: Ponta Delgada auf San Miguel (Azoren).
199
laren und die Eintheilung ist eine besondere. Man benutzt
die alten spanischen Münzen, eine Erinnerung an die
Fremdherrschaft vom Anfange des 17. Jahrhunderts. Eine
Pataca ist die Silbermünze von jenem Werthe (1250 R.).
Sehr beliebt ist die Hälfte, der Crusado („Kreuzer");
Pataco heißt ein riesiges Kupferstück, selten noch mit deut-
lichem Gepräge, gleich 50 R., es wiegt so viel als zwei
Thaler zusammen; dazu der Vintem, der vom portugiesischen
natürlich verschieden ist, die Serilha — 1/-a Pataca, und
der Tostao, eine halbe Serilha. Dabei sind die Handels-
leute meist schwerfällige Rechner und wundern sich, wenn
man richtig bezahlt hat, längst ehe sie wissen, ob sie zurück-
zugeben haben oder nicht. Ein Eseljunge brachte mir eine
schöne Pataca den anderen Morgen zurück, theil sie zu leicht
sei. Kurz, sehr glatt wickelt sich das Geschäft nicht ab,
man hat Zeit.
Von Natur sind die Insulaner äußerst gutmüthig, „ein
Bleistift genügt als Waffe". Dem entsprechend die gelinde
Justiz. Man kennt die fidelen portugiesischen Gefängnisse.
Die Verbrecher hocken zu ebener Erde hinter doppeltem, in
der Beletage hinter einfachem Eifengitter zusammen,
rauchen Cigaretten und unterhalten sich mit ihren Freun-
den auf der Straße, die aus dieser Freundschaft kein Hehl
machen. Ein Korb wird am Strick herabgelassen, um von
den Vorübergehenden Gaben zu erbetteln, und die Wache
schaut neidisch auf die Schätze. Auch Ponta Delgada
fehlt es nicht an einem solchen Zuchthause. Wie würde
man bei uns sich ereifern, daß eine zu milde Justiz die
Vagabunden in die Gefängnisse locke! Hier scheint des
Gesetzes Strenge uunöthig, da die Verbrechen gering sind.
Einen Fall erlebte ich, wo es bei einer galanten Rauferei
mit fremdem Schifssvolk zu tödtlicher Verwundung kam;
und den anderen Tag brachten die Zeitungen energische
Artikel, daß es doch für die Gerechtigkeitspflege schmachvoll
sein würde, wenn auch diesmal weder Untersuchung noch
Strafe einträte. Ja diese Zeitungen! Je geringer der
Zufluß an Nachrichten aus der großen Welt, um so größer,
wie es scheint, das Bedürfniß nach Blättern, die freilich
noch immer in müßigem Umfange und meist nicht täglich
erscheinen. Alle vierzehn Tage berichten sie über die all-
gemeine politische Konstellation; mit Erregung wurde die
Nachricht von einem revolutionären Putsch in Spanien auf-
genommen, während die explosiblere bulgarische Bewegung,
die Abdankung des Battenberger's:c. bis hierher nur schwache
Wellen warf. Dafür berichtet man über den Stand der
Kulturen ans den Eilanden, die Ankunft der Schiffe, die
Erkrankung eines Patriciers und wünscht dem verehrten
Freunde Besserung. Mit außerordentlicher Wohlredenheit
versteht man moderne Fragen, wie die Heilung der Toll-
wuth, Glorisicirung wissenschaftlicher Größen, schwungvoll
zu behaudeln, und es blüht das Sonett wie in Italien die
Renaissance.
Allerdings fehlt es an Kneipen zur politischen Kanne-
gießerei, wie sie bei uns Mode ist; dafür trifft man sich
morgens zu einem Plauderstündchen in der Apotheke. Am
meisten concentrirt sich das öffentliche Leben aus dem
Eampo de San Francisco, einem hübschen, modernen,
baumumgrenzten Platze, wo die Militärmusik, jedes Stück
mit kräftigem Paukensignal einleitend, mehrere Abende in
der Woche spielt. Es hatte sich für diese Stunden sogar
eine kleine Wirthschaft mit Bier, künstlichem Eis u. s. w.
aufgcthan, ging jedoch noch bei meiner Anwesenheit wieder
ein, wie man sagte, weil das Volk nicht gewohnt war, im
Restaurant zu zahlen. Man promenirt unter den Bäumen,
bis sich etwa an Heiligeutagen die benachbarte Kirche auf-
thut und das Allerheiligste herausgetragen wird, wobei
sofort das Concert auf kurze Zeit verstummt und die
Menge andächtig niederkniet. Noch herrscht unter der
niederen Bevölkerung starker Glaube an die Wunderkraft
einiger Heiligenbilder, aber von besonderer Bigotterie kann
nicht die Rede fein; man ist allgemein froh, daß die Jesuiten
fort sind, wie man denn überhaupt auf portugiesischem
Boden die heftigsten Pamphlete gegen den Orden zu lesen
bekommt. Andererseits müssen die Geistlichen entschieden
gegen die Walker'fche Auffassung in Schutz genommen
werden, wenn er behauptet, noch vor Jahrzehnten sei der
Hauskaplan bei kühlem Wetter benutzt worden, um den
Eheleuten das Bett zu wärmen, eine Anekdote, für deren
Plumpheit der Azoreaner nur ein Lächeln hat. Ich sah
den Gottesdienst in der Egreja da mae de deos, die, auf dem
höchsten Punkte der Stadt gelegen, von den weiß und
rosenroth gezeichneten herrlichen Blumenkelchen der Ama-
ryllis belladonna und hohen Agaveblüthen uuisäumt, eine
reizende Aussicht gewährt. Das Hochamt wurde häufig
von frischer, weltlich schmetternder Musik unterbrochen,
worauf eine äußerst sonore Predigt folgte. Die Weiber
saßen andächtig, die Männer standen dicht und unterhielten
sich oder gingen ab und zu. Unser Glockengeläute wird
durch geschmackloses Gebimmel ersetzt. Sonntag Vor-
niittag findet der Hauptmarkt statt, der sich auf verschiedene
eingefriedigte Plätze vertheilt. Die Bauern kommen auf
ihren kleinen Pferden herein, die häufig von den Eseln an
Größe übertroffen werden. Es hat sich eben eine insulare
Rasse herausgebildet, oder sie scheint in der Ausbildung,
denn viele Gäule sind groß und ziemlich starkknochig,
unserem gemeinen Landschlag ähnlich. Auch an den kleinen
bemerkt man in der Statur nichts Ponyartiges. Ausfälliger
macht sich die Sitte bemerkbar, Hunden, Katzen und
Schweinen in der Jugend den Schwanz abzuschneiden.
Auf dem Markte werden hauptsächlich Gemüse, Früchte,
Geflügel feil gehalten. Der Fischmark ist getrennt unter
einer besonderen Halle. Das Meer ist sehr reich, nament-
lich an Heerdeufischen; die Fischer arbeiten meistens des
Nachts und kehren am Morgen in ganzen Flottillen mit
ihrer Beute heim, wobei man dann manches frische Stück
billig erhandeln kann; große Langusten kommen mit vor,
der Hummer aber fehlt (früheren Angaben entgegen).
Seltene Sachen erhält man schwer, denn selbst Ver-
sprechungen reizen die Fischer schwer dazu, Ungewohntes
zu beachten. Um solche Schütze kennen zu lernen, muß
man sich an das Museum wenden, denn in der That, durch
die Ermunterung der Gelehrten des „Talisman", der bei
seinen Tiefseeuutcrsuchungen ein paar Tage hier weilte,
veranlaßt, hat Dr. Carlos Machado, Gymnasialprofessor,
Großgrundbesitzer, eifriger Landwirth und Viehzüchter, mit
großer Aufopferung und Energie die Gründung eines
Naturalienkabinets betrieben; in einem aufgehobenen
Augustinerkloster sind Räume zur Verfügung gestellt,
Sr. Vasconsellos präparirt mit großem Geschick Vögel,
Fische und Krebse, die Jnselsammlung ist leidlich voll-
ständig. Auf wie lange? Die Feuchtigkeit zerstört gewalt-
sam. Bemerkt soll werden, daß das gewöhnliche Volk beim
Besuche sein Hauptinteresse den Spinnen zuwendet, wie ich
solcher Vorliebe wiederholt begegnete; doch konnte ich von
etwaigem Aberglauben nichts erfahren. Von den Vögeln
wurde oben erwähnt, daß gelegentlich die kleinen Sänger
verspeist werden. Im Allgemeinen darf das als Seltenheit
gelten und umgekehrt zur Ehre der Insulaner, ja der
Portugiesen überhaupt gesagt werden, daß sie die Ver-
nichtungswuth der Südeuropäer gegen die gefiederte Welt
nicht theilen. Häufiger sieht man den Canarienvogel,
sowohl den grauen wilden, als den gelben Harzer (auch
wohl aus balkarischer Zucht) im Käfig, der nach Madeira-
Sitte aus Rohr geflochten ist. Die Amsel freilich gilt als
200
Dr. H. Simroth: Punta Delgada auf San Miguel (Azoren).
gutes Wild, und das Rolhkehlchen ist unter "Anderen als
Schädling der Trauben auf den Index gesetzt; ob mit Recht,
konnte ich nicht untersuchen; unmöglich wenigstens ist es
nicht, daß es hier zur Herbstzeit der gewohnten Jnsekten-
nahrung die Weinbeeren vorzieht.
Dauerhafter als das Museum sind jedenfalls die lebenden
Pflanzensammlungen, ich meine die prachtvollen Parks, in
denen die reichen Besitzer es gegenwärtig einander zuvorthun;
ein wunderbarer Schmuck der Stadt und, wie von Reisenden
und den nach Rio de Janeiro fahrenden Kapitänen ver-
sichert wird, die schönsten der Erde. Hier gedeiht wahr-
haftig fast Alles, und man hat sich bestrebt, Bäume und
Sträucher aus der ganzen gemäßigten und warmen Zone
zusammenzubringen. Es mögen nur zwei Gärten hervor-
gehoben werden, der von Sr. Antonio Borges wegen der
prächtigen Palmen und der malerischen Gruppirung mit
Hageln und Grotten, und der von Sr. Jose de Canto mit
dem größten Pflanzenreichthum. Alleen von Camellien,
Fächer- und Fiederpalmen wechseln ab, brasilianische und
australische Araucarien und Cryptomerien erheben sich zu
majestätischem Wüchse, Magnolien, Myrten, Dracaenen,
Oleander und vieles Unbekannte nicht weniger; überall
Gebüsche kleiner Bambus, aber an einer Stelle ein hohes
undurchdringliches Dickicht der echten ostiudischen, daneben
Gruppen von Baumfarnen, einzelne Stämme wohl 8 in
hoch, dicke Lianen von Krone zu Krone auf- und absteigend,
das Philodendron pertusurn wild über Stämme und
Mauern kletternd, Thee, mehr als mannshohe Begonien
und Fuchsien im Unterholze, blaue Lotosblumen in den
Teichen; auch sah ich den Kasseestrauch in Blüthe. Da-
zwischen der grelle Flor südlicher Sträucher und eine wahr-
haft erdrückende Fülle fremder Bäume, des üppigen Durch-
einander von Pucca, Aloe und bodenkriechenden Gewächsen
nicht zu gedenken. Etwas banal nimmt sich's dagegen aus,
wenn ans kleinen Beeten am Hanse sich unsere gewöhnlichsten
Gartenblumen gruppiren, Georginen und Astern, Phlox
Ochsenkarren. (Nach einer Photographie.)
und Celosia, und wenn uns der Criado zum Abschiede ein
steifes Sträußchen überreicht, als ob es so schwer wäre, die
wahren Vortheile über den hergebrachten zu würdigen (freilich
wurde mir auch im botanischen Garten von Coimbra der
rothe Herbstschmuck unseres wilden Weines als Rarität
vorgewiesen, neben der Coeospalme im Freien). Vor der
Friedhofskapelle stehen ein paar Sänlencactus, größer als
ich sie in Algarve sah.
Eine Besonderheit der Azoreuhölzer mag ich nicht un-
erwähnt lassen. Herr Zervas besaß eine treffliche Sammlung
abgeschliffener Musterstücke von gutem Nutzholz, jedenfalls
alt und lufttrocken. Wir bestimmten in einer freien Stunde
die specifischen Gewichte und fanden sie auffallend hoch,
durchweg, so weit uns Parallelangaben zu Gebote standen,
der oberen Grenze schwankender Durchschnittswerthe von
anderen Oertlichkeiten genähert oder sie überschreitend.
Einige Beispiele, zugleich mit den einheimischen Namen,
mögen hier stehen:
Ulmus campestris (Olmo)....................0,63
Juglans regia (Nogueira branca)............0,57
Populus nivea (Alamo branco) ..............0,52
„ angulata (Alamo angular.) .... 0,50
Quercus robur (Carvalho)...................0,79
Pinus maritima (Pinlio maritimo)...........0,60
Acer campestre (Bordo).....................0,70
Pittosporum undulatum (Incenso)............0,78
Myrica faya (Faia).........................0,79
Persea azorica (Louro).....................0,68
„ indica (Yinhatico).....................0,58
Laurus canariensis (Campbora)..............0,65
Magnolia grandiflora (Magnolia)............0,66
Auffallend ist die jedenfalls nicht niedrige Schwere trotz dem
schnellen Wachsthume der Pflanzen. Erklärt sie sich bei
den Laubhölzern, die der gemäßigten Zone entstammen, aus
der Kürze der Unbelaubtheit im Winter?
Im letzterwähnten Garten steht eine graue Säule, wie
ein versteinerter Stamm. Sie hat eine eigenthümliche Ent-
stehung. In einen noch zähflüssigen Lavastrom wurde durch
Dr. H. Simroth: Ponta Delgada auf San Miguel (Azoren).
201
starken Gasdruck ein wagerechtes Rohr getrieben, das sich
erhielt während der Erstarrung. Nachher drang ein anderer
Lavastrom nach und füllte auch das Rohr aus. Die Füllung
erkaltete zur Säule. Ueberhaupt geht bei Ponta Delgada
die Lava vielfach so frisch ins Meer, als wäre sie vorm
Jahre ausgcqnollen. Man sieht die schräg aufgefurchten
Ströme, schwärzlich, scharf, schlackig und rissig, genau wie
sie geflossen sind. Namentlich am Ostende der Stadt wurde
ein solches Feld von uns reichlich abgesucht, da die Fluth
allerlei Gcthier in kleine Becken warf. Wohl luden solche
zum Baden ein, aber es ging sich barfuß so schwierig auf
dem Gestein, wie es Semper von den Koralleninseln so
anschaulich schildert; und das Volk soll in der That vielfach
an den Fußsohlen leiden. Prachtvoll schäumte die Brandung
über die schwarzen Klippen, um in tausend Wasserfällen
wieder zurückzustürzen bis zur nächsten Hanptwelle. Nur
ein Paar gelöste Steine waren zu finden. Das ewige
Spiel der Brandung hatte sie benutzt, um mit ihnen, die
zwischen Zacken festgehalten wurden, einige metergroße, sehr
regelmäßige Niesentöpfe auszuschleifen, in denen noch der
gerundete Stein lag, wohl eine ungewöhnliche Erzeugung.
Beim vollen Zurücktreten der Fluth nehmen die Felsen eine
hellgelbgraue Farbe an, es ist die Zone, die über und über
von Balanen bedeckt wird; dazwischen und darunter haben sich
Echinen dicht gedrängt ihre halbkugeligen Löcher in den harten
Fels gebohrt, und halten meist eine Patellenschale über sich
zum Schutze gegen die starke Welle; eine reiche Strandfauna
treibt dazwischen ihr Wesen. Die grünen Ulven sind ziemlich
klein und spärlich, Corallinen dagegen massenhaft und artenreich,
schon in mäßiger Tiefe (40 bis 100 m) trifft man fast nur
Nothalgen. Ganz ähnlich zieht sich der Strand fort an der
Stadt hin nach Westen, wo die Punta Delgada („púnela
delicata“) vorragt, als eine ähnliche Lava, die hier in rie-
sige, aber rohe und unverwitterte Blöcke zertrümmert und
ausgethürmt ist. Leider bereiteten diese Straudverhältnisse
meinen zoologischen Arbeiten fast unüberwindliche Hinder-
nisse. Es war völlig unmöglich, an diesen gerade am reich-
sten belebten Stellen zu dredgen. Das Netz wäre unrett-
bar hängen geblieben, wie es uns nicht gelang, ein Holzstück,
das wir als Boie an besonderer Leine zur Sicherheit stets
noch am Blindzipfel des Netzes befestigt hatten (um dieses
im Nothfälle in umgekehrter Richtung herauszuziehen),
wieder loszubekommen, nachdem es durch einen Strudel zu-
fällig zwischen die Felsen hinabgezogen war. Wir hatten
meist drei bis fünf Fischer, die aber ausdauernd und willig
ruderten. Es blieb mir aber nichts übrig, als eine der
wenigen sandigen Stellen aufzusuchen, wie sie hier geradezu
zu den Seltenheiten gehören. Meist führte uns der Weg
nach der Bai von Rosto do Cao, und mit stillem Entzücken
denke ich mancher Morgenfahrt, wenn wir vor Sonnen-
aufgang das ruhige Meer durchfurchten und das Jnselbild
in voller Klarheit vor uns hatten. Erst mit der Sonne
pflegten sich um die Berge Nebel und Wolken zu bilden, ihrem
Erscheinen eine wcchselvolle Beleuchtungsfolie. Bekanntlich
scheuen die durchsichtigen pelagischen Thiere das volle Tages-
licht, und es ist nöthig, in früher Dämmerung aufzubrechen,
so lange sie an der Oberfläche weilen. Das hatte regelrecht
Schwierigkeiten. Die Leute sind in ihren Bedürfnissen so
anspruchslos, daß selbst die Aussicht auf besondere Belohnung
sie nicht dazu vermochte, vor der gewohnten Stunde zu er-
scheinen. Wie oft stieg ich früh im ersten Morgengrauen
zum kleinen Dock unter die Schläfer, die dicht gedrängt auf
grobem Pflaster am Strande lagen, höchstens unter dem
Schutze der Säulenhalle. Hohe Stiefel waren eine gute
Vorsichtsmaßregel; ein traurig schmutziges Biwak. All-
mählich erwachte gähnend der erste, drehte sich seine Cigarette
und war dann gegen das kleinste Trinkgeld bereit, meine
Leute herbeizuholen. Nach Verlauf von wenigstens einer
Stunde kamen sie nach und nach zusammen, das Schisflein
ins Wasser zu ziehen. Sämmtliche Boote werden für die
Nacht hoch auf das Land gezogen und gegen das Austrocknen
zum Theil mit Wasser gefüllt; und die Leute lagern herum
wie die Griechen vor Troja. Das Wasserablassen, Ver-
stopfen rc. nimmt noch Zeit genug in Anspruch, ehe man
in See stechen kann. Eines Morgens weckte mich ein
mäßiges Erdbeben, bei dem vulkanischen Boden keine
Seltenheit, pünktlich y24 Uhr, kurz nach der Zeit, wo der
Peloponnes und Malta heftig erschüttert wurden, und ebenso
kurz nach dem ersten amerikanischen Beben; es würde von
größerem Interesse sein, wenn nicht seitdem eine heftige
Schütterperiode in beiden Gebieten, im Mittelmeer und
in Arizona, eingetreten wäre. Mir half es zeitig am
Strande erscheinen, ohne daß ich deshalb vor 6 Uhr auf-
brechen konnte. Trotz der ersten Lässigkeit arbeiteten die
Fischer stundenlang, den nüchternen Magen mit der nie
erlöschenden Cigarette betäubend, oder zum Frühstück das
schwere Maisbrot mit einem minimalen Happen getrockneter
Sardine genießend, die Hanptkost des Tages. Nicht als
ob die Leute in der Stadt besseren Verhältnissen unzu-
gänglich wären; die Handwerker, die sich allerdings als
halbe Künstler betrachten, sind nicht ungeschickt, der Töpferei
wurde schon gedacht, die Tischler schnitzen gute Möbel, die
Schuhmacher arbeiten solid, auch der für ganz Portugal so
bezeichnende antediluvianische zweiräderige Ochsenkarren,
dessen Deichsel den verlängerten schweren Mittelbalken des
Bodens abgiebt, dessen Rüder aus einem Brette geschnitten
sind, der grundsätzlich nicht geschmiert zu werden scheint,
so daß er in allen Tonarten weithin durchs Land klingt,
auch er macht in Ponta Delgada mehr und mehr einem
praktischen Wagen mit reichlichem Eisenzeug Platz, mehr
als z. B. in Oporto; aber im Ganzen muß das Volk erst
bedürfnißreicher werden, ehe etwa auf einen höheren Import
und stärkeren Austausch zu rechnen ist; denn von der be-
wußten Bedürfnißlosigkeit der Weisen kann schwerlich die
Rede sein. Schon regt sich die moderne Industrie, nament-
lich sind zwei große Spiritusfabriken errichtet, die Mais
und Bataten brennen, und zur Weinverbesserung ihr gutes
Produkt nach dem Festlande exportiren; an beiden sind
deutsche Beamte thätig. Eine zu erhoffende Kabelverbinduug
und Kohlenstation wird den Verkehr wesentlich beleben. Die
Großgrundbesitzer thun viel, um die einheimischen Nassen
der Hausthiere durch Einfuhr edleren und angemesseneren
Blutes zu verbessern, und die Agri- und Hortikultur macht
regelrechte Fortschritte. Doch davon ein andermal.
Globus LII. Nr. 13.
26
202
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
Hans Dernschwam^s orientalische Reise 1553 —1555
aus Handschriften im Anszuge mitgetheilt von Prof. H. Kiepert.
II.
Bulgaria.
Nissa [Nisch] scheint vor zeiten ein schone große statt
gewesen, hat keine maur mehr, hat nahende hoche kale
schneeige berge, darnnder einer der höchst Kunawit ge-
nannt H. Am end der statt fleußt das Wasser Nestus so
die inwohner Nischt nennen — ungeferlich als groß wie die
grau, scheint tief sein, hat ein hulzene prucken darüber zimb-
lich breit und gut. — Es sind zu Nissa indrei türkisch kirchen
oder Metzith [rnockseck, Moschee] mit zwei thurncn. Alda
hat man an einer Karvasalia gebaut von steinen, so man
überall von alten gebeuen herzn gefurt — darin etliche
Römische Antiguitates, die zerbrochen, daß wir sie nit lesen
haben kunten, sind vermaurt wordn; haben wir hernach ge-
schrieben stein an der erden liegend gefunden, die man zu
demselbigen Hans hat brauchen wollen* 2 3 *).
8. August. 9 St. 6 M. von Nissa aus nahend von der
brücken ist ein alter gepflasterter weg etwa 500 schritt lang
und also breit, als zwei wagen einander weichen mugen,
von den Römischen kaisern gemacht worden und zum theil
erhalten wird. Haben ans beiden seiten kleine geburg ge-
sehen, die Landstraß gehet in der mitt als eben. Auf der
rechten seiten über ein kleines wasser gefaren, so vom geburg
herabsleußt, ist rötlich, dann auch die ackerfelder etliche meil
Wegs rot feist leimig erdrich seind, hat man Khutna ge-
nant^); bis in ein bulgarisch dorf Clissura, sovil als
ein Clausen oder paß ft.
9. August. 9 St. 6 bis 7 M. Von der herberg aus
über ein zimlich hohen und langen berg gezogen, zum theil
noch alte gepflasterte Römische weg gewesen. Von dem
geburg auf der linken Hand uns gezeigt eine alte statt
Pyrott, welche Pyrrhns, des Achillis vatcr [!], gebaut5).
Nachmals den ganzen tag durch eine schone Landschaft von
1) Wohl ein Mißverständniß, wenigstens findet sich kein
ähnlicher Name unter den neuerdings in der Umgegend erkundeten
Bergen; der Zusatz des Autors „darnach imStrabone zu sehen,
wie die genant seind gewesen vor zeiten" beweist das Interesse
des Autors an gelehrten Studien, die jedoch in diesem Falle
fruchtlos verlaufen sein würden, da das gesammte Alterthum
über diese Gegenden überaus schweigsam geblieben ist; ebenso
beruht die Anwendung des antiken Flußnamens Nestus auf die
Nischawa nur auf einer durch den zufälligen Anklang veranlaßten
Verwechselung.
2) Es folgen 11 lateinische Inschriften, herausgegeben im
0. Inscr. lat. vol. III, p. 267.
3) Die Kutina kreuzt die große Straße 6 km östlich von Nisch.
ft Klisura heißt noch jetzt ein Dorf an derselben Stelle,
6 km östlich von Ak-palanka i 3 km westlich von diesem liegt
ein „Neudorf", Nowofelo, wo Dernschwam bei der Rückreise
am 19. und 20. Juli übernachtete und von wo er die Entfernung
bis Nissa jvon Czaribrod her fehlt die Angabe) auf etwa 10 St.
(frue bis 3 ur) oder 8 Al. schätzt. Das zwischen beiden Dörfern
gelegene, von Dernschwam nicht erwähnte Städtchen Ak-palanka
(ober jetzt serbisch Bjela-palanka, beides „weiße Festung" be-
deutend) scheint erst später von den Türken angelegt; es wird
unter dem Namen des Erbauers zuerst 1658 bei Quirlet als
Mussa-Pacha-Palanka, dann 1721 bei von Driesch als
Muftapha P. P. genannt.
ft Die durch den Krieg von 1885 allgemeiner bekannt ge-
wordene jetzige serbische Grenzstadt Pirot, deren Name den auf
gelehrtem Felde nicht taktfesten Schreiber zu einer so unge-
heuerlichen Etymologie veranlaßt, muß damals sehr unbedeutend
oder nur Ruine gewesen sein, da sie von der Fahrstraße, welche
schwarzem erdrich und wenigen bergen trefflich fruchtbar,
zu einem elenden bulgarischen Dorfe, haben sie auch Clissura
genannt oder Czaribrod. (R: von Sophia 10 gute
ungrischer meil Wegs bis in ein bulgarisch Dorf genannt
Czaribrod; uns sind auch in hundert wagen mit bley begegnet
zu zween ochsen so die Bulgari mit der robot von Sendere
gen Constantinopel füren müssen — ist solch bley also ge-
stellt, wie die Herrn Fugger vor zeiten zu Ofen kaust, in
Neuensoll [Neusohl] füren lassen, daß man Ratzenplcy ge-
nennt, zum saigen nit getaugt hat, ist zu hart und klingt
nit; auch ist daselben herumb bey Sendere Eisenbergwerk
zu Kuczeyna genannt gegen der Thunau gelegen ft.
10. August. 9 St. 5 M. in ein bulgarisch Dorf
Welitzaft, waren aber jetzt nur Ratzen [©erben] da, die
tracht ist nit auf bulgarisch.
Die landschast nit also breit und fruchtpar, wie vor
dato, ist ein wenig schmaler als zwischen gepurge, doch in der
mitten zimlich eben ft — aus der linken seiten kahle
steinige berg, aus der rechten von weitem große geburg
darzwischen irgends Orbelus sein soll. Uber berg und
that haben wir überall gepflastert alte verfallene weg und
landstraßen gesunden, so noch der Römer gemacht, zum theil
darauf und daneben gefaren; unterwegs ein selb weit von
einander zu runden steinen seulen kommen, darauf die bnch-
staben zerschlagen worden ft.
11. August. 5ftz St. 3 M. nach Sophia, scheint
eine große statt sein gewesen vor zeiten, ist noch groß genug,
ohne mauren und bevestigung, von schlechten nideren baurs-
hensern von holz von einem gaden [Stockwerk], nichts in
die hoche gebaut, auswendig mit prettern von einem zum
andern verplankt, inwendig mit zennen verfridet alle wie
saustell, damit sie nur trncken sitzen. Haben von auswendig
bis in 15 metzith [Moscheen] oder kirchen gezehlt, ohn die
kleinen so von holz gepanen. Keine antiquiteten sehen
künden, deren auch keine vorhanden, alda ist eine große
Christenkirche gewesen, sieht über die ganze stabt aus, ist setz
ein zenghaus von allerlei raub. (Juden sind auch bis in 100
von Christen, Griechen und Armenier über die tausende ft
mit erheblicher Wegkürzung dem südwestlichen Rande der
kleinen Beckenebene gefolgt sein muß, gar nicht berührt wird.
ft Kutschaina-Maid an bei Kruschewitza am Pek, der bei
Gradischte, beinahe gegenüber von Baziasch, in die Donau geht;
jetzt wieder in Betrieb.
ft Bjelitza am Bergfuße westlich von der Hauptstraße, nur in
den neuen russischen Aufnahmen ; in beiden Handschriften wie
oben, also nahezu richtig, dasselbe weiterhin falsch Welikho ge-
schrieben.
ft Eine Schilderung, welche auf die große, höchst ergiebige
Beckenebene von Sophia kaum paßt; entsprechender der Wirk-
lichkeit lautet die Stelle in der Rückreise: „ein schon land wol
angebaut, trefflich fruchtbar schwarz erdrich, Weingarten und so
vil getraid als man ninderts gesehen, scheint wenig holz haben,
daß man in dorfen kaum ein notturft zum kochen zu wegen
mag pringeu."
4) Offenbar römische Meilensäulen.
ft Ein türkisches Bad mit der ganzen Badepraxis beschreibt
Verfasser ausführlich, das Lokal selbst nennt er „ein groß vier-
eggens gepeu, oben auf kriechische art mit einem runden gewelbe
wie zu Rom die kirchen Pantheon, mit weißem marmelgepolirten
stein gehebig gepstastert." Bei der Rückreise wird die Stadt
wegen der darin herrschenden Pest nicht betreten, sondern über-
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553—1555.
203
12. August. Weiter durch ein bulgarisch jetzunder
türkisch dors Wrboveli genannt sGrubljane d. russischen
Karte?] — bald über ein schnell steinig wasser, kombt von
dem gebirg gegen der rechten Hand, hat man Jskra und
etliche Sikras genennt, scheint bos sein wann es anlauft, hat
ein hulzene brücken, aber dieser zeit an orten zerrissen ge-
wesen. Von dannen ferner feind auf der rechten seiten zwei
geschutte Hubel an der straßen, seind alte Römische begrebnus
irgends von erlegtem Volk in einer schlacht. Weiter durch
ein klein bulgarisch dorflein mit namen Trnawa —
weiter ein hohen langen steinigen berg, bos zu faren, ge-
nannt Walkhareo sserb. Form für Wakarelj auf türkisch
Alaschaklisse sAladscha-Kilisse „bunte Kirche") ein bulgarisch
dors 9 St. 5 M. von Sophia *).
13. August. 11 St. 6 M. (R. 10 M.) bis Wetrin,
dieses ist auch gar ein schwere tagreiß gewesen, von beiden
seiten groß hochgeburg gesehen und darzwischen breite ebene
und schon fruchtbare landschaft, darinnen viel dorfer, ackerfelder
aber kein Weingarten----------von dann über einen hohen
langen schweren berg, hat obenauf eine große ebene, ist
verwachsen mit großen bäumen* 2) — über das gepurg berg
auf und ab und durch das that ist vor zeiten ein breiter ge-
pflasterter weg von großen steinen gewest, so noch die alten
Römischen Kaiser haben machen lassen — an viel orten
sind wir noch auf demselbigen weg gefaren — als auf
einem rigel, an beiden seiten andere groß gepurg und gründ
scheinen sein, dardurch man ninderst reisen mag, als wie
der gepflasterte weg gangen ist. Sind wir in aller hoche
auf ein bulgarisch dors kommen genanntRo w ak-D erw en,
auf türkisch K a P i - D c r w e n (kl: nennt man auf bulgarisch
Wrata auf türkisch Kaputzikh, das ist so viel als zum Thor)3).
Alda sich die gepurg eng zusammen thun, ist eine Veste
klammen und clausen gewest, alba man ein land hat schützen
mugen, alda der Nowak ein Bulgarier und Marcus Kra-
jovith4 5) den Türken lange zeit großen widerstand gethan
haben. Im hinausziehen steht noch ein Hochs thor von
zieglen, hat das wasser über ein lachter underwaschen bis
auf die großen quadersteine auf den gründ, darauf kriechische
inschrift, die nit mehr lcslich geweste).
Ungevehrlich eines Falcouetschuß von obstehendem thor
an der straßen aus der rechten Hand auf einem steinigen
bergle ist ein viereggt steinen gemeur gestanden, aber gar
zerschleift, in 40 schritt lang und breit, ist eine Veste clausen
gewesen in Bulgaria, nennen sie noch Clissura. — Diese
geburg Halm nit schwarzwald 6), sonder allerlei ander holz
nachtet im Dorfe Malasch Witze (Maleschewtzi in der neuen
russischen Karte, 2 km nordöstlich von Sofias auf türkisch
Krpiutz, ein für Türken sogar unaussprechbares, jedenfalls
stark verderbtes Wort, — vielleicht Köprükjöi „Brückendorf" ?
da Maleschewtzi an der durch die Stadt Sofia fließenden nicht
unbedeutenden Gradska-rjeka liegt.
0 R. „in der Höhe unter dem andern Gepurg", d. h. auf
einer Hochebene, richtig.
2) In dieser Gegend liegt jetzt das Städtchen Jchtiman,
dessen arabischer Name („Friedensschluß") schon feine Entstehung
in türkischer Zeit andeutet, das daher von unseren Reisenden
noch nicht erwähnt wird.
3) Ganz richtig, nur hat die türkische Form Kapudschik
(falsch Rr. Kaputzil) die Diminutivbcdeutung: „Thörchen."
4) Kraljewitj, d. i. der Königssohn Marko, der in so vielen
Liedern gefeierte serbische Nationalheld.
5) Spätere Reisende, z. B. Wenner, Schweigger, v. Driesch
u. A. beschreiben jenes Monument unter dem traditionellen
Namen des „Trajansthores", den unser Autor nicht gehört haben
muß und der, obwohl das Bauwerk selbst jetzt völlig zerstört
ist, doch noch immer im Volksmunde an der Oertlichkeit haftet,
wie ihn denn noch die neueste russische Aufnahme dort ver-
zeichnet (Trajanowa woröta).
6) Begreiflich, daß dieser Unterschied der schon südlicheren
Vegetation dem von seinem nordungrischen Wohnsitze her an
die Nadelholzwälder der Karpaten gewöhnten Autor auffiel.
von Puchen und kleine eichen, sind auch zum mehren theil
kahl und steinig.
Wettrin sWjetreu) auf bulgarisch und auf türkisch
Assarschik liegt in der Höchen geburg und außerhalb des
Dorfes an der straßen aus einem kleinen bergle ist ein zer-
schleift schloßt; ist ein groß bulgarisch dors haben zwei Pfaffen,
wohnt kein Turk zwischen ihnen, ist ein schön stark Volk,
haben in viel Heusern ihren eigen wein gehabt zu verkaufen.
14. August. 9x/2 St. 5 M. Von Wetrin aus haben
wir noch ungefehrlich 4/z oder 1/i Meil (richtig!] grundein
gehabt bis auf die ebene und von dannen hat man zuruck
mugen sehen, wie hoch die clausen Nowak gelegen und wie
vest von natur dasselbige gepurg scheint sein. Hat sich das
land ans beiden seiten je lenger je weider aufgethan und auf die
lenge hat mau auf der linken Hand kein gepurg mehr sehen
mugen, hat sich verloren, auf der rechten das groß gepirge
alweg vermerkt2). Weiter sind wir an das wasser Mo ritz a
sMaritza) kommen, dadurch wir gefaren, hat ein brücken
von quadersteinen, ist ziemlich breit hat auf beiden seiten ge-
lender aufrecht von quadraten, wie die brücken zu Regens-
burg — ist 165 schritt lang. Weiter durch ein türkisch
Dorf gefaren Pasarczikh3) darin zwei karvasalia und
zwei metzith, soll ein statt sein, ist nit eines Dorfes wert
von zigeinerischcn Hutten und pfragen. Uber nacht in
G o w e d a r, soll auf türkisch Segersolie oder Sederzie heißen,
wohnen Bulgaren und Türken durch einander4). Ist ein
schon eben land und fruchtbar, haben nnterweges große
selber gesehen mit reis besäet, der wechst allein in wässerigem
erbrich darauf große bechlin über das selb gelassen.
Den ganzen tag haben wir unzehlige spitzige und große
geschutte tumulos oder Hubel gesehn, nachcn und auch ferne
von der straßen und ihr in 20 Hubel bei einander, sollen
alte Römische begrebnus sein, alda große schlachten geschehen
müssen sein').
15. August. 12 St. 5 — 6 M. in ein bulgarisch und auch
türkisch dorf Konisch c) genannt, umb zehn uhr seind wir
Dieses ist offenbar mit dem oben angeführten türkifchen
Namen Assardschik „kleine Schloßruine" gemeint.
2) Es ist die antike Rhodope gemeint (der gelehrtere Busbeek
bedient sich dieses Namens, wie des Flußnamens Hebrus statt
Maritza), deren Hochgipfel von der oberen Maritza-Thalebene
sichtbar bleiben, während gegen Norden die niederen parallelen
Vorhöhen des Balkan, die Sredna Gora und der Karadfcha
Dagh in der That über die weite Ebene hin aus dem Gesichts-
kreise zurücktreten.
3) Tatar-Pazardschik, jetzt eine nicht unbedeutende Stadt,
wie Wjetren auf der Nordfeite des Flusses gelegen, der also
damals von der gewöhnlichen Fahrstraße auf dieser Strecke
zweimal, zuerst mittels einer Fuhrt, dann auf der unmittelbar
bei Pazardschik gelegenen Brücke passirt wurde.
4) Gowedar findet sich nur in der russischen Aufnahme
von 1878, an derselben Stelle aber in der Karte des Wiener
Mil. Geogr. Inst. Siresik und daneben Saghisdschik,
letzteres entlehnt aus meiner, in der Ztschr. d. Ges. f. Erdk.
1876 veröffentlichten Uebersetzung der Specialkarte Mchemmed-
Nusret Paschas; doch läßt die Uebereinstimmung mehrerer Zeug-
nisse jetzt viel mehr einen Schreibfehler in dieser türkischen Quelle
(z statt r mit einem Punkte zu viel) annehmen, so daß Sighir-
clschik („kleiner Stier") die richtige Lesart sein wird.
b) Die Zurückführung dieser bekanntlich später in weiten
Strichen ganz Südost-Europas in großer Menge aufgefundenen
Denkmäler einer, wie man jetzt allgemein annimmt, vorhistori-
schen Zeit auf römischen Ursprung scheint schon damals bei
Bulgaren und Machen volksthümlich gewesen zu sein: wenigstens
finden sich dieselben Aussagen darüber bei allen folgenden
Reisenden, die bis ins 18. Jahrhundert denselben Weg gezogen
sind, wie besonders die schon genannten österreichischen Gesandt-
schaften.
6) Denselben Ort passirten noch andere Reisende desselben
Jahrhunderts: (Kunusch türkisches Dorf mit bleigedecktem Kara-
wanserai, drei Meilen von Philippopel, weiterhin seitwärts Pa-
pasli bei Gerlach 1578, Konosch bei Schweigger); die große Heer-
straße muß also damals nicht, wie später (jetzt ist sie durch die
26*
204
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553—1555.
gen Philipopolis lomen, nennen die Bulgaren und Tür-
ken Plodi j Plowdiw butg.] etliche auch [bte Türken) Phillibe.
Die statt hat lein maur, scheint von leim koth und holzwerk
gebaut, hat viel Metzith oder Turkenkirchen, alle mit pley
gedeckt — sind durchgefaren, haben kein rechtschaffnes Haus
gesehn, — hat drei rauche felsige bergle, auf dem einn ist
ein alt schloß gestanden.
Auch auf dato die straffen durchaus auf beiden seiten
und von fern als weit man hat sehen mugen die ganze
Haiden aus haben wir spitzige geschutte Hubel gesehn und
ihr in 20, 30 und 40 zehlen mugen und fein etliche sehr
groß.
16. August. 12 St. 6 gute nngr.M. in ein bulgarisch
und türkisch dorf Klokodnitze und auf türkisch Sementze
(R. Semische I, haben darumb so grosse tagreisen thun
müssen, daß underwegen nichts gepauts ist, dann kein dorf
an der straffen mehr ist, haben wol ackerfelder gesunden,
die mit susam und reiß besehet gewesen.
17. August. 8V2 St. 6 M. durch ein dorf alda am
meisten Bulgari wohnen, Wirowo auf türkisch Jokbwyekh
CW. Jockhwieck Pr.) genannt2) in ein bulgarisch und tür-
kisch Dorf Harmaly sCharmanlü).
18. August. 7 St. 4 M. in einen ziemlich großen
türkischen markt, Mustafa Basch a genannt, darum das
ein Bascha die neue steinerne brücken über das Wasser
Moritza gepaut hat, die Bulgari nenns Most, das ist ein
brücken; ist von guaderten in 112 schritt lang und 23
schuh breit, hat auf beiden seiten von guaderten aufgesetzte
glender wie die brücken zu Prag, aber kein neben erhochten
weg, hat 21 schwibbogen. Das Wasser ist breit grisig und
weiß, aber nit sonderlich tief — auch noch etlich wenig
tumulos gesehn.
(Bis hierher reicht nach der oben bei Nisch gemachten
Bemerkung des Autors Bulgarien und er bekräftigt dies
bei der Rückkehr mit den Worten „von Trinapol fecht sich
Bulgaria an, redt man in allen Dörfern bulgarisch". Es
ist daher hier die passendste Stelle, seine ebenfalls erst an ver-
schiedenen Orten aus der Rückfahrt gemachten Beobachtungen
über die Lebensweise, namentlich auch die Tracht dieses
Volkes zusammenzustellen, wiewohl dieselben, verglichen mit
den mehrfach noch ausführlicheren Beschreibungen anderer
Zeitgenossen — ja bei der Stabilität derartiger Zustände
im Orient, selbst im Vergleich zu den Schilderungen der
jüngsten Zeit, — kaum viel Neues enthalten.)
(Philippopcl.) Die weibspilder und sonderlich die
jungfrauen flechten über den ganzen köpf vil zops durch
einand, wie ein netz, haben gehenge in den ohren, umb den
hals kettlein und schnürn, daran allerlei muscheln, plane
glasstein, Messing fennig, etliche Heublein von muschlen, wie
man es auf die roßzeum macht umb und umb mit Nirn-
berger Raifpfcnnig und vom huetle herab ein schnür under
das kinn auch von muschl. Die großen maid tragen ge-
meinlich lebcrfarb schlecht tuch, das zu Salonekh die Juden
machen. Item kniehosen gefaltet oder gestreift wie ungerisch
Eisenbahn ersetzt) über Papasli, sondern geradliniger und um
etwa sieben Kilometer südlicher gegangen sein, wo sich Kunusch
als Ort zum ersten Mal in der neuen russischen Aufnahme findet,
während es in der Wiener Karte noch fehlt und in Nusret
Pascha's türkischer Karte nur als Distrikt- (Nahien-) Name zu
finden ist.
Ebenso Gerlach 1578 und Driesch 1720, die erste Form
ist Schreibfehler; der richtige Name nach Nusret-Pascha's Karte
Semisdsche; Semichtsche durch Stichfehler in der neuen russi-
schen Karte, die sonst neben oder statt der türkischen Benennun-
gen regelmäßig die bulgarischen giebt, so daß der von Dern-
schwam bewahrte bulgarische Name jetzt wohl verschollen ist.
2) Richtiger in der russ. Karte Junus-Böjük, 7 km N von
der über Uzundschowa führenden Heerstraße. Wirobo auch bei
Schweigger.
hosen, etliche haben wullen socken, etliche türkische ledern
Sopka und darnach rote türkische Patschma, das sind niedere
schueh, etlich tragen gar kein Hosen, haben kein uberrock oder
mantel, gehen allein also in ein weibsrock ohn furtuch, ihre
hembder sind umb den halß an der brüst und ermeln breit
und von viel färben ausgenehet von geferbte wulleufaden,
wie auch in Siebenbürgen der prauch ist. — Die Weiber-
feind alle freundlich, wer frembder kombt, tragen sie alle
zu und sprechen die lente an, das die Türkischen weiber nit
thun, das sie so unstetig und zigeinerisch armselig sein, nichts
arbeiten kunnen, allin die menner und die gefangenen ver-
richtens alles. Die Bulgari dürfen kein guten rock antragen,
gehn alle in grauen und weißen kotzen, haben auch kein schuh
noch stifel, allein Paczschgar von rauhen ochsenheuten und
kniesocken, ihr Hut sein von weißem filz oder praunen schlech-
ten tuch, — seind uicht so gar wie die Türken beschoren,
haben hinden hinab lange harlocken, barbet) man sie kennt,
tregt keiner kein gewehr, allein große Prügel, haben große
beschwernuß von den Türken, müssen in 50, 100 meil Wegs
aus die robot gehen und noch darzu daheim alle steur und
auflag geben, das sie billich alle erhungern sollten.
In Sophia habn die weiber ein andere tracht als die
Pulgari von Trinapol aus, die maget zwar wie obgemeldt,
die weiber haben auf dem haubt ein preite schussel wie ein
kröne gestalt unden am hanbte enge und oben aufwerts
erhochte und breit wie ein diese schussel, umb und umb ge-
spiegelt ding hangend, ans jeder seiten herabhangende zotten
von vil färben und darunder ein langtet schmal leinen weiß
tuchlein wie ein Stola geformiert.
Die Bulgari und andere windische Nationen ziehn auf
den dorfern schweine, darumb sie (die Türken) die Christen
under andern scheltworten domus, das ist sen und kep ek,
das ist Hund, heißen und ist doch kein unstetiger Volk in der
wclt, die also seuisch und hündisch fressen auf der erden
ohne tischtuch teller Messer gabel, reißen und beißen wie die
Hund an den deinen, waschen maul und Hand in der suppen,
haben gar keine lesfel und ihre speiß ist auch nur Czorba
mit voller Hand ans der schussel oder sautrog — also lustig
sind auch fast die Ungern, die auch die singer wol in einer
speiß waschen und wenn man ihrer spott, dürfen sie sagen
auf ihr sprach: soll atz en ktenu betzi kescbnal, das
ist: meine negel seind besser als ein Wiener Messer.
sRumclien oder Thraciern)
19. August. 6V2 St. 3 t (R.3V2) gen Adriano-
polis, heißt man jetzund Trinapol I, underwegens etliche
gepflasterte alte rouüsche weg und kurze steinbrncken von
einen und zweien schwibbogen über graben und lachen ge-
paut, ■— haben auch viel alte römische tumulos gesehn —
und auf der rechten seiten das Wasser Moritza. Es ist ein
eben land und ein schone lustige gegend, als weit man sehen
hat mugen und hat bis zu der statt ein schön lustig wein-
gepurge.
Die statt liegt von einer seiten in der hoche wie auf
einen breiten riegel, wie ungefehrlich Ofen, ist zum theil
innen uneben, hat eine hoche maur und kein graben dar-
sur, etlich thurn von zieglen, ist noch ein solch Z- auf zwein
davon gestanden und als lang wir darneben gefahren sein,
ist zur halben maur eine kriechische schrift von geprennten
zieglen, seind ziemliche große buchstaben. Des Kaisers
schloß liegt innerhalb des Wassers Moritza zwischen bäumen i)
i) Sonst nirgend bezeugte Form, da die Griechen den an-
tiken Namen nicht verändert haben, den die Bulgaren Odrin,
die Türken Edirne (Endrene schon bei Busbeek) aussprechcn; an
eine Beeinflussung durch die bekannte französische Verunstaltung
Andrinople ist wohl bei unserm guten Deutschen nicht zu denken.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
205
wie in einem Wald, also das man allein ein thuen sehen
mag, dahin niemands hinzugehn darf, verhueten die janitza-
rischen paurnknecht als ein heilthumb.
Von fernen haben wir tut metzith und kirchen gesehn,
aber nit zehlen mugen, feind alle mit Pley gedeckt und auf
ihr art von vil runden dechern und engen fenster in der
hoche und bei jeder ein hoch steincrs thurnle oben mit einem
kranz, darin man wie in einer ausladung umb und umb
gehen mag. darzu man in einer schnellen hinauf geht. Nem-
lich ihr der Türken llostia sChodscha) oder pfaff viermal
des tags auf alle seiten schreit, wie die pflugamscheln Pflegen,
haben sonst kein ander gesang noch musica.
In der Sarah zu Trinapol sollen in 700 knaben sein
von Christen und von allen Orten, die man da lest die
sprach snämlich die türkisches, glauben, schreiben lesen und
allerlei ritterspil lernen, und wann ihn der bart beginnt zu
wachsen, so thuet man ihn heraus und praucht ihn warzu
er tauglich macht, in des Kayscrs besoldung, daraus wer-
den Spay, Czaussen, Beken und Baschen I. Also hat der
Kayser auch zu den maidlen eigen Sarah für sein frauen-
zimmcr. Solche sehen jar und tag nichts andrs als die
maur und Himmel und wenn sie herauß genommn werden,
sollen sie bescheidter sein als andere und wie man sieht
feind es grobe esel und narren, die nicht mehr kunnen als
ihr Ceremony und Puchen, stellen sich ernstlich und hypo-
critisch an, wie die barfußer auch, und wenn sie sollten mit er-
barn leuten am tisch essen, haben sie kein mores, nicht an-
ders wie die sen, und also leben auch die Baschcn selbs.
20. August. 5 St. 3 M. in ein türkisch dorf Hausa
sChawsa).
21. August. 10 St. 5 M. in ein türkisch dorf Piri-
Bascha-goy^). Das Land von Trinapol alles sandig
gewest und ein Hubel nach dem anderen, kein recht sliessend
wasser noch bachlein sondern gegrabene prunnen, alles veroedt
land, hat keine wclder noch holzwerk.
22. August. 10 St. 6 — 7 M. underwegs mehr alte
römische geschutte Hubel gesehn — in ein türkisch mark, soll
der kayserin sein, darin ist ein steinen Haus von einem
gaden, darbei eine große metzith, auch ein schon bad, alles
mit pley gedeckt — auf der einen seiten wohnen Türken und
auf der anderen Kriechen 3).
23. August. 8 St. 5 gute M. gen Sclimbria
[(Siliwrt], die statt ist wie auf einer leitcr hinauf gepaut
bis auf ein klein bergle, darunter das meer auf der rechten
seiten, die stattmaucr von zieglen mit zinnen und mehr
0 Spahi, Lehnsreiter (persisches Wort), tschauscli, Büttel
(in der jetzigen Sprache Unterofficier), beg, „Fürst", Titel höhe-
rer Beamten und Landbesitzer, pascha ist bekannt.
2) D. h. Dorf (Kjöi) des Piri-Pascha, eines der vielen ein-
gegangenen, da sich in keiner anderen Nachricht oder Karte eine
Spur davon findet; es muß den Distanzen nach in der Nähe
des sogleich zu nennenden Bergas gelegen haben.
3) Den angegebenen Entfernungen nach das Städtchen
Tschorlu, bestätigt durch die Erwähnung von Chiurli bei
Busbeek.
thurn, halb Herauswerts und Hineinwerts gepaut scheint ein
alt ding sein, gar zerschossen und zerbrochen, — hat in drei
metzith. Guten wein haben wir in der oberen statt bei
den Kriechen gesunden, 3 wiener seidl umb 1 asper [l1/2
Kreuzers
(Diese letzten vier Tagereisen wurden bei der Rückreise,
obwohl ebenfalls in der heißen Jahreszeit, in drei zusammen-
gezogen, wie folgt: 5. Juli von Sclimbria 11 St. 10 bis
12 M. in das Dorf Karistran [10 d. Meilen richtiges
Maß); 6. Juli 9 St. 10 große M. durch ein zerschlcifte
mark Burgas l) sicht man noch thor und maurn, hat ein
fließend wasserlein * 2 3) gegen Babesky, alda zwo türkische
metzith, aus einer kriechischen alten kirchen die auf antigui-
tetisch gepaut, haben die Türken die fenster vermauert und
ein türkischen metzith gemacht. — 7. Juli 13 St. 8 M.
von Babesky durch Hausa bis Trinapol.)
24. August. 11 St. 6M. von Sclimbria in ein türki-
schen mark genannt Czekmese, hin und wieder alte römi-
sche gepflasterte weg gefunden die setz zergangen sind und
nit unterhalten, durch ein alten zerschleiften mark gefaren 3)
alda am end im hinausziehn auf der linken Hand ein alte
zerbrochene kirchen von guadraten, darin noch leut woh-
nen; — ein weitläufige landschaft, aus der einen seiten das
meer, auf der anderen alles Haiden, oedt land, — und über
eine lange vermute prucken, so über ein kleinen seichten arm
des mecres gehet, so von der rechten Hand hinein laufet bis
under den mark, der auf ein berg liegt in der hoche wie
Ofen.
25. August. 5 St. 2 M. bis gen Constantin opel.
(Ausführlicher auf der Rückreise: 3. Juli von Const.
5 — 6 M. durch Kutzuk-Czekhmedi sKütschük-Tschek-
mcdsche „kleine Zugbrücke") alda wir am Hineinfahrn
über nacht gelegen, bis gen Biugkh sBöjükj-Czekmesi,
das ist zu der großen oder langen brücken über ein arm des
meeres, in der mitten hat sie etlich hohe fchwibbogen, dar-
nach von holz in 160 schritt4) darnach wieder von steinen —
wo jetz der Türken bcgrebnus darauf vil runder marmel-
steinen seulcn von alten gepaucn, under andern gar ein
hoche columna. — alda feind viel Kriechen, haben eine
kirche. — 4. Juli 4 M. nach Sclimbria.)
0 Gewöhnlich zum Unterschiede von mehreren gleichnamigen
Lüle-Bergas „Pfeifenkops-Burgas" genannt, weil die Lager vor-
züglichen Thones dieser Gegend zu jener beliebten Industrie
ausgenutzt wurden, die gegenwärtig durch den allgemeinen Ge-
brauch der Cigaretten, — selbst seitens der Bauern — so gut
wie untergegangen ist.
2) Nur scheinbarer Widerspruch gegen die am 21. August
bemerkte Wasserlosigkeit, da die Rückreise 6 bis 7 Wochen früher
vor die große Sommerhitze fiel, welche allerdings in dieser
Gegend alle Büche trocken legt.
3) Kann der Oertlichkeit nach kaum verschieden sein von dem
auffallender Weise mit Stillschweigen über die zweite Brücke
erst bei der Rückreise genannten Böjük-Tschekmedsche.
1 Selbstverständlich türkische Nothbrücke zur Ausfüllung
eines zerstörten Theiles der antiken Steinbrücke.
Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
III.
Ich komme zum Schlüsse auf die religiösen Ideen
der Golden und das, was mit denselben in naher Ver-
bindung steht. Wie alle Ureinwohner Sibiriens sind auch
die Golden außerordentlich abergläubisch. Sie sind
z. B. der Meinung, daß unfehlbar die Zobel ihr Jagdgebiet
verlassen werden, wenn Jemand ein brennendes Scheit von
ihrem Herde wegnimmt, um es auf einen andern zu über-
tragen, oder wenn sich Jemand an dem geheiligten Herdfeuer
206
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
die Pfeife anzündet *). Dieselbe Folge und noch mancher-
lei andere Unfälle zieht nach ihrer Meinung auch die Oeff-
nung eines Vorrathshauscs nach sich, so lange die Leiche eines
Verstorbenen noch über der Erde liegt; es stockt daher nach
Eintritt eines Todesfalles mindestens auf drei Tage jeder
Handel. Und dieser Aberglaube erstreckt sich mit seinen
üblen Folgen nicht bloß ans das Heimathsdorf des Ver-
storbenen, sondern so weit wie die Kunde von dem Todes-
fälle dringt2). So war Jakobsen in der Umgegend von
Malmüskoje — ungefähr unter dem 50. Parallelkreise am
rechten Ufer des Amur gelegen — im Februar 1885 völlig
außer Stande, die Bewohner irgend eines Dorfes zum Ver-
kaufe ihrer Habe zu bewegen, weil in dem nahe gelegenen
Orte Bolon am Tage vorher eine Frau gestorben war.
Weiterhin erhält nach ihrer Ansicht durch den Kauf eines
Kleidungsstückes der Käufer Macht über den früheren
Eigenthümer desselben. Deshalb weigerte sich ein Schamane
in der Gegend von Troitzkoje auf das Entschiedenste, dem
Reisenden einige Stücke seines Anzuges zu verkaufen; er
wolle sich lieber den Kopf abschlagen lassen, sagte er, als
Jakobsen mit der Ueberlassung seines Eigenthums Macht
über sich einräumen. Auch ein anderer Golde schnitt
wenigstens von einem Gürtel, den er dem Reisenden nach
langem Feilschen überließ, ein Stück ab, damit, wie er
sagte, ihm der Fremde nicht schaden könnte. Auch an die
Steinwasfen, welche am Ussurl und am Amur auf der
Strecke zwischen Chabarowka und Tyr — ungefähr unter
dem 53. Parallelkreise am rechten Ufer des Stromes ge-
legen — in Massen zu finden ftnb3), knüpft sich der Abcr-
0 Als Jakobsen am Gorin war und in einem dortigen
Hause, in dem er übrigens von den allein anwesenden Frauen
recht freundlich aufgenommen worden war, den Versuch machte,
seine Pfeife an der Lampe anzuzünden, wurde ihm auch dies
verboten, mit der Motivirung, daß die Einwohner eines Dorfes,
in welchem ein derartiger Frevel verübt werde, verdammt feien,
ini Jenseits die Lampen zu putzen, eine Thätigkeit, die bei den
Golden als eine besonders niedrige und unangenehme gilt.
2) Es verdient Beachtung, daß die Golden ähnlich wie
andere unkultivirte Völker sich gegenseitig auf weitere
Entfernungen hin von merkwürdigen Ereignissen be-
nachrichtigen. So wurde Jakobsen, als er im Februar 1885 in
der Gegend von Troitzkoje sich ein Schamanenkostllm mit Ge-
walt angeeignet hatte, am nächsten Tage in ziemlich weit ent-
fernten Orten mit der größten Feindseligkeit aufgenommen, ja
seinen Dolmetscher Iwan wollten die aufgeregten Golden sogar
tödten, weil er nach ihrer Meinung dem Fremden die heiligen
Kleider in die Hände gespielt hatte. So schnell hatte sich die
Nachricht von Jakobsen's Verfahren in der Umgegend verbreitet.
Noch ein anderes Beispiel von der verhältnißmüßig schnellen
und weiten Fortpflanzung von Nachrichten in diesen Gegenden.
Als Jakobsen Anfang Oktober 1884 auf der Fahrt von Nikola-
jewsk nach Sachalin in der de Castries-Bai anlegte, wurde ihm
dort von einem deutschen Kausmanne mitgetheilt, daß vom
Amur aus das Gerücht nach Alexaudrowsk gedrungen sei, drei
fremde Menschen führen in einem Boote den Strom hinab.
Hin und wieder stiegen sie an Land, erschlügen die Golden und
Giljaken, welche sie träfen, und salzten deren Fleisch in große
Kisten ein, welche sie mit sich führten, um es dann späterhin
zu essen. Wie man sieht, gebricht es den Golden und ihren
Nachbaren nicht an Phantasie in der Erfindung von Schauer-
geschichten. Daraus nun, daß Jakobsen schon am Amur in
den von ihm besuchten Dörfern ähnliche Andeutungen über
seine und seiner Gefährten Absichten gehört hatte, durste er mit
Recht schließen, daß das ihm mitgetheilte Gerücht sich auf ihn
bezog und seiner doch ziemlich beschleunigten Ankunft in jener
Gegend noch vorausgeeilt war.
3) Am Gorin existirten, so viel Jakobsen erfahren konnte,
diese Reste der Steinzeit nicht. Ob die Bemerkung des Reisen-
den, daß die Fundorte dieser Steinwaffen ebenso weit
reichen, wie die Fanggebiete des Rvthlachses, den that-
sächlichen Verhältnissen entspricht, vermag ich nicht festzustellen,
da es mir an jeglichem Material mangelt, die Angabe zu kon-
troliren. Uebrigens wüßte ich, die Richtigkeit von Jakobsen's
Bemerkung zugegeben, für den Kausalnexus dieser Verhältnisse
keine Erklärung, es sei denn, daß die Ufer der Amurzuflüsse,
glaube der Golden. Sie werden von den Männern als
Talisman mitgenommen, wenn sie mit Beginn des Winters
ans die Zobeljagd ausziehen; mit einem derartigen Steine
bestrich eine Frau am Gorin das Euter ihrer Kuh, welche
in nächster Zeit kalben sollte, um einen desto reichlicheren
Milchertrag hervorzubringen; durch den Staub endlich,
welchen sie von diesen Steinen abschaben, glauben sie mit
Sicherheit Krankheiten heilen zu können I. Daher sind sie
nur selten und mit Aufwendung großer Anstrengungen und
Kosten zur Veräußerung dieser Steine, welche sie mit dem
Namen „Blitzsteine" bezeichnen, zu bewegen. Aehnliche
Heilkraft fchreiben die Golden auch einer Reihe von Gegen-
ständen zu, welche sie als Amulete tragen oder als Weih-
geschenke aufhängen; doch empfiehlt es sich, von diesen erst
später zu sprechen. Charakteristisch ist es noch, daß die
Golden den Namen des Tigers nicht auszusprechen wagen,
weil sie fürchten, ihn dadurch herbeizurufen und seine Opfer
zu werden, eine Thatsache, welche lebhaft an die in Peschel's
Völkerkunde, S. 244, erwähnten erinnert.
In religiöser Beziehung sind die Golden Anhänger
des Schamanismus, dessen Grundgedanken übrigens auch
der geringe Bruchtheil von ihnen, welcher sich wenigstens dem
Namen nach zum Christenthum bekennt, noch immer bei-
behalten hat. Die Schamanen nehmen unter ihnen eine
außerordentlich angesehene Stellung ein. Ihre
Verletzung wird als ein der Gesammtheit angethanes Un-
recht empfunden (vergl. vorige Spalte, Amu. 2) und, wenn
möglich, gerächt; ihre Errettung aus Gefahr ist ein Grund
zur allgemeinen Freude. So fand Jakobsen, als er im
September 1884 den Amur abwärts fuhr, das Dorf
Tscholtschioi, welches etwas oberhalb der Mündung des
Chuugar in den Amur liegt, in voller Lust, weil der dort
wohnhafte Schamane von einer schweren Krankheit genesen
war. Der Reconvalescent selbst zog in feierlichem Schritt
durch die Dorfstraße, um sich seinen getreuen Schutz-
befohlenen zu zeigen; in seinem Gefolge aber befand sich die
gesammte Dorfjugend, die ihrer Freude durch Singen und
Tanzen Ausdruck gab und in deren Mitte zu Ehren des
Genesenen eine Fahne geschwenkt wurde. Uebrigens er-
wiesen sich die Vertreter des Schamanenstandes, welche
Jakobsen kennen zu lernen Gelegenheit hatte, im Allgemeinen
als ganz liebenswürdige Leute, welche aus ihren religiösen
Ideen und Gebräuchen kein großes Geheimniß machten.
Es giebt bei den Golden zwei Klassen von
Schamanen, die großen und die kleinen. Die
letzteren dienen entweder ihren mächtigeren
Amtsgenossen als Gehilfen bei ihren religiösen
Verrichtungen oder sie üben die ärztliche Thätig-
keit aus. Bei den Golden nämlich herrscht wie bei allen
dem Schamanismus ergebenen Völkern der Glaube, daß
alle Uebel im Allgemeinen und alle Krankheiten im Besonderen
Wirkungen böser Geister sind, die nur dann beseitigt
werden können, wenn es gelingt, den Urheber derselben
durch einen noch stärkeren Geist zu überwinden und macht-
los zu machen. Macht über die Geister aber besitzen
nur die Schamanen, und zwar dadurch, daß ihnen die
Kräfte ihrer verstorbenen Vorgänger zu Gebote
stehen; eine Meinung, die nur dann rechten Sinn hat,
welche vom Rothlachs nicht aufgesucht werden, ehemals unbe-
wohnt gewesen wären, wie ja auch v. Middendorf das Thal
der Bureja unbewohnt fand, obgleich derselbe durch seine Natur
der Bewohnbarkeit keine Hindernisse in den Weg legt.
0 Dieselbe Ansicht theilen auch die unter den Golden
wohnenden Russen im Allgemeinen, und es ist wohl kaum
zweifelhaft, daß hier der Einfluß der Unterthanen über die
Herren Macht gewonnen hat, ebenso wie das Jakobsen bei den
im Burjatengebiete wohnhaften Russen fand. Vergl. Nr. 1
des laufenden Bandes dieser Zeitschrift, S. 15.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
207
wenn die Schamanen eine geschlossene Kaste bilden oder
ihre Geheimnisse in bestimmten Familien erblich
sind x). Wird ein Schamane zu einem Kranken gerufen,
so wendet er die seltsamsten Mittel an, um die Heilung
desselben zu vollbringen. Entweder er sucht durch Tanzen,
Singen, Trommeln und die Verursachung anderen lauten
Geräusches den bösen Geist dahin zu bringen, daß er sein
Opfer verläßt, und er ist in diesem Falle oft freundlich
genug gegen den Vertriebenen, ihm einige Holzpuppen zur
Verfügung zu stellen, in welche er fahren darf, um an ihnen
seine weiteren Künste zu üben. Oder er saugt an den
kranken Stellen des Körpers eine Zeit lang und speit dann
irgend einen im Munde verborgen gehaltenen Gegenstand,
wie einen Stein oder ein Stückchen Eisen und ähnliches,
aus, indem er behauptet, daß diese Dinge in den Körper
des Patienten hineingezanbert worden wären und ihm die
Schmerzen verursacht hätten. Oder er übergiebt dem
Kranken beziehungsweise dessen Angehörigen förmliche
Recepte, durch deren Gebrauch sie geheilt werden sollen.
Diese Recepte sind höchst eigenthümlich. Sic bestehen ans
grauweißem, chinesischem Papier und sind bedeckt mit einer
Menge in groben Umrissen, aber doch ganz gut erkennbar
gezeichneter Figuren, unter denen Tiger, Panther, Bären,
Fische und andere Thiere besonders häufig erscheinen. Nach
diesen übrigens von den Schamanen selbst gefertigten
Recepten haben nun die Hilfesuchenden diejenigen Figuren
in Holz auszuschnitzen, welche ihnen der Arzt bezeichnet,
und sie dann entweder als Amúlete an den kranken
Körpertheil zu befestigen oder aber als Weihgeschenke den
betreffenden bösen Geistern darzubringen, von welchen sie
gequält zu werden glauben. So begegnen wir den Bildern
von Tigern, Panthern, Wölfen und Schweinen, welche gegen
Unterleibsbeschwerdcn helfen sollen; so heilt ein Bär, welcher
in ein menschliches Herz beißt, oder ein Vogel, der ein
solches Herz an seinem Schwänze trägt, Brustschmerzen
und Halskrankheiten * 2), so beseitigt eine menschliche Figur,
welche mehrere nicht näher zu bestimmende Thiere an einer
Leine hält, Krankheiten oder Schmerzen, die den ganzen
Körper belästigen. Auch die Abbildungen von Körpertheilen
erscheinen als Amúlete, um zur Heilung von Krankheiten
zu dienen. So wird ein menschlicher Kopf ohne Hals als
Heilmittel gegen Kopfschmerz und Nasenbluten verwendet;
Holzarmc, sowie Hände und Füße aus demselben Material
mit und ohne Gelenke 3) dienen zur Beseitigung der Schmerzen
in den genannten Gliedern; gegen Beschwerden in den
Schulterknochen sucht man Hilfe bei kleinen geflügelten
Menschenbildern, die mit Zeug umwickelt sind, während
gegen solche in den Knien auch wohl kleine Schuhe ans
Papier oder Fischhaut im Gebrauche sind. Neben allen
diesen Medikamenten gegen Gebrechen der Extremitäten fand
Jakobsen, allerdings nur selten, eiserne Ringe, welche wie
die meisten der vorgenannten Amúlete an den kranken Körper-
theilen befestigt und für besonders heilkräftig gehalten werden.
Für kreisende Frauen und Wöchnerinnen wird aus Wurzeln
Ob einer von beiden Fällen bei den Golden eintritt, ist
mir aus Jakobsen's Bericht und aus anderweitigen mir zu-
gänglichen Mittheilungen von Reisenden nicht bekannt geworden,
doch darf ich wohl in dem, was W. Radloss in seiner Abhand-
lung: Das Schamanenthum u. s. w., Leipzig 1885, S. 16 sagt,
eine Bestätigung meiner Meinung sehen.
2) Diese Amulete pflegen mit noch einigen anderen vereint
von den Kranken an einem Kopfringe getragen zu werden, wie
dieselben auch bei den Ainos auf Sachalin im Gebrauche sind.
3) Die Gelenke befinden sich bei diesen Holzgliedern nur an
denjenigen Stellen, wo der Kranke den Schmerz fühlt, also
etwa am Ellenbogen, am Handgelenke oder in einem oder
mehreren Fingern. Bei rheumatischen oder gichtischen Schmerzen,
die den ganzen Arm durchziehen, finden sie sich an den ge-
nannten Stellen und an allen Fingern.
ein Trank gekocht, der ihre Schmerzen lindern soll, oder
man stellt in der Zeit der Geburtswehen an ihrem Lager
ein hölzernes Frauenbild mit stark aufgetriebenem llnterleibe
als Schutzgeist auf1). Das eigenthümlichste unter allen
diesen Heilmitteln aber ist dasjenige, welches gegen Augen-
krankheiten angewendet wird. Ueber einem dünnen, etwa
25 cm langen Stäbchen erhebt sich ein zweites in Bogen-
form. Beide sind mit grauen Papierstreifen umwickelt,
und mit dem gleichen Papier ist auch das Segment zwischen
ihnen ausgefüllt. Auf diesem papiernen Hintergründe heben
sich zwei ganz roh geschnitzte, wie es scheint, menschliche
Gestalten ab, die in den unteren Stab eingelassen sind.
Dieses Bildwerk, welches übrigens auch bei den Verwandten
der Golden, den Orokos auf Sachalin, üblich ist, wird in
der Ambara aufgehängt, ähnlich wie man in meiner alt-
märkischen Heimath die bei den sogenannten Sympathiekuren
gebrauchten Hilfsmittel wohl in dem Schornstein des Hauses
zu verbergen pflegt.
Für den Fall, daß die bisher erörterten Heilmethoden
ihre Wirkung verfehlen, steht dem Schamanen noch eine
andere zu Gebote. Er läßt durch einen seiner ihm unter-
gebenen Geister den Teufel, welcher die Krankheit erzeugt
haben soll, herbeiholen und vernichtet ihn dann. Das ge-
schieht natürlich am radikalsten dadurch, daß er ihn tobtet2).
Eine solche Heilung erlebte der Reisende selbst in dem oben
schon genannten Dorfe Chungar im September 1884. Als
er das Dorf am Abend durchschritt, fiel plötzlich in einer
Hütte derselben ein Schuß, und er erfuhr auf feine Er-
kundigung hin, daß dort eine todtkranke Frau liege, bei
welcher sich ein Schamane befinde. Dieser hatte, als alle
anderen von ihm angewandten Heilmittel unwirksam ge-
blieben waren, dem Manne der Kranken befohlen, den bösen
Geist, welcher die Krankheit erzeugt haben und in einer Ecke
der Hütte sitzen sollte, zu erschießen. Der Mann hatte
diesen Befehl wirklich erfüllt; ob das Mittel aber von Er-
folg gewesen ist, konnte Jakobsen leider nicht mehr fest-
stellen, da er schon am nächsten Tage in aller Frühe wieder
aufbrechen mußte. Wenn übrigens auch dieses letzte Mittel
der Schamanen unwirksam bleibt, so geben sie den Kranken
auf, indem sie sich und andere damit trösten, daß die Gott-
heit das Verderben des betreffenden Menschen unabänderlich
beschlossen habe. Zur Herbeischafsung der bösen Geister
dienen dem Schamanen besondere Götzenbilder, die man
vielleicht am besten als Schamanengötzen bezeichnet.
Sie erscheinen bisweilen als Thiergestalten, z. B. als
Bären, meist aber stellen sie Menschen dar. Wie dem
Reisenden mitgetheilt wurde, sieht der Schamane in
diesen Bildern die Geister seiner verstorbenen
Amtsvorgänger, und vielleicht aus Achtung vor ihrer
Würde stattet er sie etwas besser aus, als die gewöhnlich in
den Häusern der Golden befindlichen Idole. Zwar die
Schnitzerei ist nicht vollendeter als diejenige der anderen
Götzenbilder, dagegen werden die Augen durch Kupfernägel
oder blaue Glasperlen gebildet und der Rumpf mit einem
Fellkleide überzogen. Von einem solchen Götzen, den
Jakobsen im Ussnri gebiete nur mit großer Mühe erlangen
konnte, behauptete sein Besitzer, daß er selbst bei den be-
denklichsten Krankheitsfällen, wo alle übrigen Götzen macht-
los geblieben wären, noch zu helfen im Stande sei, indem
er ihm, dem Schamanen, immer neue Rathschläge ins Ohr
flüstere.
x) Dieselbe Bedeutung hat wahrscheinlich auch ein anderes
hölzernes Frauenbild, aus dessen Vorderseite in der Bauchgegend
ein Reliesbild angebracht ist, welches einen kleinen Menschen
darstellen soll.
2) Vergl. des Verfassers Aufsatz in Nr. 1 des laufenden
Bandes dieser Zeitschrift, S. 14.
208
Aus allen Erdtheilen.
Bekleidet sind die kleinen Schamanen bei den
Krankenheilungen mit den gewöhnlichen An-
zügen der Golden, doch tragen sie einen Gürtel, von
welchem nach hinten eine Menge von eisernen Glocken
herabhängen. Außerdem führen sie die übliche Schamanen-
trommel und den dazu gehörigen Schlägel, welcher
letztere flach und mit Fell umwickelt ist, damit der durch
ihn erzeugte Ton möglichst dumpf klingt. Die Trommel
ist ellipsenförmig gestaltet, so daß ihr größerer Durchmesser
ungefähr 75 ein betrügt, und hat einen nur sehr schmalen
Holzrand. Die Eisenstübe oder Götzenbilder an der inneren
Seite, wie sie bei den Burjaten und altajischen Berg-
kalmüken üblich sind r) und als Handhabe des Instrumentes
dienen, fehlen hier und sind durch ein paar sich kreuzende
Bindfaden ersetzt. In dem Gebrauche dieser Trommel be-
sitzen die goldischen Schamanen eine gewisse Virtuosität,
welche Jakobsen in Troitzkoje zu beobachten Gelegenheit
fand. Er hatte nämlich einem in der Nähe dieses Ortes
wohnhaften Oberschamanen, dessen Haus er in dessen Ab-
wesenheit besucht hatte, seine sämmtlichen Utensilien weg-
genommen und der über diesen Frevel entsetzten Frau des
Zauberkünstlers einen namhaften Betrag Geldes und den
Befehl zurückgelassen, daß sie ihren Mann nach seiner Rück-
kehr zu ihm schicken sollte, damit derselbe in aller Form
sein Eigenthum an den Reisenden abtrete. In der That
kam derselbe auch am nächsten Tage nach Troitzkoje und
brachte zwei seiner Untergebenen mit, wie es schien,
um durch Aufbietung dieser Truppenmacht den Reisenden
zur Herausgabe seiner Werkzeuge zu zwingen, was aller-
dings nicht gelang. In Folge dessen machten die drei
Heiligen gute Miene zum bösen Spiele, besonders nachdem
sie mit Branntwein reichlich bewirthet waren, und zeigten
Jakobsen sogar noch ihre Künste. Bei dieser Gelegenheit
also bewies einer der anwesenden kleinen Schamanen seine
Virtuosität ini Gebrauche der Trommel. Er schlug das
Instrument bald leise, bald laut; bald nur mit dem
Schlägel, bald auch mit den Fingern der linken Hand, mit
welchen er den Bindfaden an der inneren Seite hielt, so
daß es klang, als ob er zwei Instrumente zu gleicher Zeit
bearbeite. Weiterhin machte er ein Kunststück, das auch
bei unseren Trommlern sehr beliebt ist, indem er von der
Mitte des Trommelfelles aus mit dem Schlägel immer
näher an den Rand heranrückte, so daß der Ton immer
leiser wurde und man zuletzt den Eindruck hatte, als ob in
weiter Ferne getrommelt werde. Während dieser ganzen
Knnstleistung sang der Schamane fortwährend improvi-
0 a. a. O. S. 14.
sirte Worte vor sich hin oder rief) ete dieselben auch an
den einen oder anderen aus der ihn umgebenden Gesell-
schaft. Er vermochte letzteres dadurch, daß er die Trommel
ganz dicht an seinen Mund hielt und die Kante derselben
nach der Person hinrichtete, welche er anreden wollte. In-
dem sich nun der Ton an der Trommel fortpflanzte, ver-
stand der Angeredete die Worte des Schamanen, während
die hinter dem Rücken des Sprechenden befindlichen nur
ein undeutliches Gemurmel vernahmen. Auf diese Weise
ließ auch der Schamane seinen Aerger an dem mit an-
wesenden russischen Pfarrer von Troitzkoje ans, welcher, wie
oben mitgetheilt, sich bei den heidnischen Golden der Um-
gegend dadurch sehr mißliebig gemacht hatte, daß ans seine
Anregung Goldenkinder in die russische Schule gesteckt
waren, um christlich erzogen zu werden. Bei den in Folge
dessen ausgebrochenen Unruhen hatten die aus Chabarowka
herbeigerufenen Soldaten aus einem Streifzuge dem Scha-
manen neben anderen Dingen auch seine Trommel entführt,
und es war ihm erst vor Kurzem gelungen, eine neue an
Stelle der verlorenen sich zu verschaffen. Diese Verhältnisse
machte er zum Inhalt eines Schmähgesanges, in welchem
er den Priester verspottete, weil er ihn nicht habe hindern
können, eine neue nnd vor Allem eine viel bessere Trommel
zu erwerben, als seine frühere gewesen wäre I. Auch einen
Tanz führte der Schamane bei diesem Besuche dem Reisen-
den vor, wie er ihn bei den Krankenheilungen zu executiren
pflegt. Derselbe besteht zunächst in einem Drehen des
Unterkörpers nach rechts und links, in Folge dessen die von
dem Gürtel nach hinten hinabhängenden Glocken ertönen,
dann erfolgt ein Wiegen des Oberkörpers in den Hüften,
während die Beine in schnellem Wechsel über einander ge-
schlagen werden, endlich aber wird daraus ein langsames
Hüpfen um den inneren Rand der Hütte herum von rechts
nach links. Da alle diese Bewegungen von dem Trommel-
schlage und dem Gesänge des Schamanen begleitet werden, so
kann man sich denken, daß durch diese Handlung ein ziemlich
großer Lärm verursacht wird; dagegen hatte Jakobsen bei die-
ser Vorstellung nicht die beängstigende Empfindung, welche
ihm der Tanz des burjatischen Schamanen2) verursacht hatte.
0 Es ist bemerkenswert, daß die Sitte, den Gegner durch
Gesang zu verhöhnen, auch bei den Eskimos, besonders bei den
grönländischen, von dem Reisenden mehrfach beobachtet wurde.
Auch hier kam die Trommel dabei zur Anwendung und auch
die Geberden der Eskimos waren denen des goldischen Scha-
manen sehr ähnlich; namentlich siel dem Reisenden die Gleich-
heit der bald drohenden, bald neckenden Bewegungen, sowie
das Sprühen und Blitzen der Augen bei beiden Völkern auf.
2) Vergi, des Verfassers Aufsatz in Nr. 1 des lausendes
Bandes dieser Zeitschrift, S. 15.
Aus allen Erdtheilen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Ans der in diesem Jahre in London abgehaltenen
Imperial Conference sämmtlicher englischer Kolonien kain es
in der Neu-Guinea-Frage zum Ausgleich zwischen Groß-
britannien und den australischen Kolonien. Die letzteren
verpflichteten sich, vorläufig auf sieben Jahre, zu einem jähr-
Jnhalt: Desirtz Charnay's jüngste Expedition nach Pucatan. I. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. H. Simroth: Ponta
Delgada aus San Miguel (Azoren.) II. (Schluß.) (Mit einer Abbildung.) — Pros. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische
Reise 1553 —1555. II. — Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden. III. — Aus allen Erdtheilen:
Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion am 8. September 1887.)
lichcn Beitrage von 15 000 Pfd. St. zu den Verwaltungskosten,
nnd England übernimmt von dem Augenblicke an, wo dieser
Vertrag vom Parlamente der Kolonie Queensland anerkannt
ist, anstatt des bisherigen Protektorats die Souverainität
über das Gebiet. Queensland garantirt unbeschränkt die ganze
obige Summe und hat sich mit den anderen Kolonien wieder
über deren Quotcnzahlung zu einigen.
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich V i e w c g und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herürbsichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1887.
Desirü Charnay's jüngste Expedition nach Uucatan.
ii.
Bei Fortsetzung der Ausgrabungen fand Charnay Bruch-
stücke und Andeutungen genug, um mit Hilfe von Er-
zählungen einzelner Bewohner Jzamals, welche jetzt ver-
schwundene Theile noch gesehen hatten, eine Reconstruction
des ganzen Bauwerkes unternehmen zu können, wie sie
unsere erste Abbildung zeigt. Selbst die Farben, mit welchen
die Stuckverziernngen der Wandflächen bemalt waren, hatten
sich stellenweise erhalten; als sie unter der Einwirkung der
Luft verschwanden, verfiel Charnay auf das Mittel, sie
sofort zn erneuern und dann abzuphotographiren. Die
Verzierung besteht ans rothen Palmen und Rosetten, sowie
ans blauen geometrischen Einfassungen, Alles auf gelbem
Grunde; genau dieselben Ornamente finden sich noch heutigen
Tages in den besseren Häusern Jzamals, und es unterliegt
nicht dem geringsten Zweifel, daß sich diese Knnstübnng
ununterbrochen von der Zeit der Conguista bis heute fort-
geerbt hat. Dieselben Muster und Farben finden sich auch
noch bei den Kinderspielsachen, als welche dieselben Gegen-
stände, Vögel, Schildkröten, Männer, die zu Pfeifen ein-
gerichtet sind, dienen, welche auch von den alten Mayas
abgebildet worden sind. — An der Reconstruction des
Tempels selbst ist nichts erfunden,. nur Fehlendes nach
Analogie wirklich erhaltener Ueberreste und Funde ergänzt;
daß diese ganzen, mit feinpolirtem Kalkputz überzogenen
Gebäude im grellsten Farbenschmucke prangten, das beweist
außer den erhaltenen Spuren die gleiche Sitte bei den
Aegyptern, Griechen und den Völkern des Orients, in deren
von der strahlendsten Sonne beschienenen Ländern ein weiß
abgeputztes oder ans weißem Marmor errichtetes Gebäude
den Augen wehe thun würde. In Spanien, Portugal und
Italien sieht man blau, roth oder gelb angestrichene Häuser,
Globus LH. Nr. 14.
welche uns Nordländern fast undenkbar erscheinen möchten;
es geschieht das ans ganz demselben Grunde, als wenn man
bei Schnee oder ans Gletscherfahrten sich eine blaue oder
rauchgraue Brille aufsetzt.
Das indianische Volk, welches jene Denkmäler hinter-
lassen hat, pflegte aber nicht nur die Architektur, sondern
auch Litteratur, Geschichte und Dichtkunst. Die Chroniken
berichten von Theatern, auf welchen die Eingeborenen selbst
noch nach der Conguista Lustspiele aufführten; und ebenso
wissen wir von Gedichten des Königs von Texcoco, des
großen Netzahualcoyotl, von Thierfabeln u. f. pv. Daß solche
Geisteserzeugnisse aufgeschrieben worden sind, scheint nicht
wahrscheinlich. Die Figurenschrift der allbekannten mexi-
kanischen und Maya-Handschriften war dafür nicht geeignet;
sie konnte wohl für Kalender dienen, um die Zeit der
Feste und der religiösen Ceremonien zu fixiren, man konnte
mit ihr die Erinnerung an einzelne Kriege und Eroberun-
gen festhalten, Jagd und Fischfang schildern und über
Naturerscheinungen, wie trockene und fruchtbare Jahre,
Vulkanausbrüche, Kometen u. f. w. berichten, aber für Ge-
dichte und Theaterstücke reichte sie nicht aus, ebenso wenig
wie für die eigentliche fortlaufende Geschichtserzühlung.
Dafür trat die mündliche Ueberlieferung, das menschliche
Gedächtniß ein; solche Traditionen mögen sich wortgetreu
durch Jahrhunderte hindurch fortgepflanzt haben. Erzählt
man doch zum Beweise für die Zähigkeit, mit welcher sie
festgehalten werden, daß Australier noch jetzt in einer von
der ihrigen verschiedenen Sprache Gesänge und Legenden
wiederholen können, die sie gar nicht verstehen.
Während die Arbeiten in Jzamnl ihren Fortgang
nahmen, unternahm Charnay verschiedene Ausflüge in die
27
210 Destre Charnay's jüngste Expedition nach Mieatan
Dofirs Charnay's jüngste Expedition nnch Jucatan.
211
Umgebung, wo an Ruinen kein Mangel war; aber die
Erzählungen derjenigen, welche dort Paläste, Statuen, In-
schriften und dergleichen gesehen haben wollten, stellten sich
stets als erlogen heraus. Pyramiden gab es genug, aller-
es waren stets nur Steinhaufen. Schon wollte er diese
Streifereien als unnütz ganz aufgeben, als er über die
12 km nordöstlich von Jzamal gelegenen Ruinen der alten
Stadt Teeoch, die schon Lauda als bedeutend bezeichnete, so
eingehende Nachrichten erhielt, daß er in Gesellschaft des
Präfekten sich zu Wagen auf einem entsetzlichen Wege dort-
hin begab. Ihr Führer brachte sie zu einer aguada, einer-
großen Bodensenkung, die wahrscheinlich früher ein durch
Menschenhand unlgestaltetes Ecuote gewesen ist und dcr
alten Stadt das Wasser lieferte. Dieselbe muß in der
That unerschöpflich sein; denn damals enthielt sic nach drei
vorausgegangenen Trockenjahren noch Wasser; leider ist das
Becken mit Rohr und Wasserpflanzen überwachsen und der
umgebende Kokospalmenwald hat durch Feuer und Heu-
schrecken, welche die Halbinsel Pucatan zu Grunde richten,
sehr gelitten. Die Reste der Stadt liegen von dem Teiche
500 m nach Norden; aber Charnay's Enttäuschung war
nicht gering, als er fand, daß irgend einer der ersten Con-
quistadoren das Material der einheimischen Bauwerke für
seinen fürstlichen Landsitz verwendet hatte, und daß die groß-
artigen Ruinen, von welchen ihm die Leute in Jzamal
gesprochen hatten, spanischen Ursprungs waren. Nur um-
fangreiche Nachgrabungen könnten wohl ältere Reste zu
Tage fördern.
Das nächste Ziel des Reisenden war die Stadt Valla-
dolid, die 90 km südöstlich von Jzamal liegt, und die er
aus der schon oft von ihm zurückgelegten Straße übcr
Balantun, Tnnkas, Citas, wo er übernachtete, und Ual'ma
erreichte. Letztgenannter Ort besitzt den schönsten, unter-
freiem Himmel liegenden Cenote in ganz ?)ucatcui; kein
zweiter ist so malerisch und so zierlich. Meist haben sie
ein düsteres, trauriges Aussehen, sind schwarz, finster und
erinnern nur zu sehr an die Menschenopfer, deren
Schauplatz sie einst gewesen sind. Derjenige von Uaima
jedoch ist weit, offen, heiter, von prächtigem Grün, von
Schlingpflanzen und Blumen umgeben und von Vögeln
Eine Vorstadt von Valladolid
belebt; man möchte es kaum für möglich halten, daß die >
Eingeborenen an solcher Stelle so schauerliche Feste ver-
anstalteten. Er liegt wenige Schritte von der Straße und
dicht bei der Kirche, in deren Schatten die Maulthiere aus-
ruhten, während Charnay den See photographisch aufnahm.
Zur Linken, wenn man an ihn herantritt, ist durch einen
Felssturz neueren Datums eine schneeweiße, gewaltige Höhte
entstanden. An Seilen mußte sich Charnay an der über
20 m hohen, in riesige Stufen getheilten Felswand zum
Wasserspiegel hinablassen, um den Standpunkt zu gewinnen,
von welchem ans unser drittes Bild das interessante Ge-
wässer zeigt.
Als Charnay zu seinen: Wagen zurückkehrte, bemerkte
er erst eine große Aufregung unter den Bewohnern des
Dorfes und sah vielfach Schildwachen und Soldaten; es
stellte sich heraus, daß die Indianer nach zehnjähriger
Ruhe den Vernichtungskrieg wieder aufgenommen und das
civilisirte Gebiet angegriffen hatten. Ihre erste That be-
stand darin, daß sie den 11km südöstlich von Valladolid
gelegenen kleinen Ort Tixnalahtun überfielen, die Häuser^
in Brand steckten und die Bewohner niedermetzelten. Der
). (Nach einer Photographie.)
Reisende überlegte schon, ob er seine Fahrt fortsetzen oder-
lieber umkehren sollte, als er den ihm bereits bekannten
Obersten Traconis, Kommandanten der östlichen Indianer-
grenze und einen in Jndianerkümpfen vielersahrenen Mann,
traf; dieser redete ihm zu, seine Reise fortzusetzen, da cr
an keinen größeren Krieg, sondern höchstens an ein Paar-
Scharmützel glaubte und Charnay versprach, selbst ihn nach
seinem letzten Ziele, den 55 km östlich von Valladolid
gelegenen Ruinen von Koba zu geleiten. So setzten beide
zusammen am nächsten Morgen die Fahrt fort und trafen
gegen 3 Uhr Nachmittags in Valladolid ein.
Diese Stadt, von ihren Einwohnern bescheidener Weise
„Sultana del Oriente" genannt, wurde bald nach Mcrida
an der Stelle des alten Zagui gegründet und blühte rasch
auf; ihre Bevölkerung kam derjenigen von Merida gleich,
sie besaß schöne Häuser, weite Gärten, eine große Kathedrale,
prächtige Klöster und ausgedehnte Vorstädte und war von
einem Kranze reicher Hacienden umgeben. Aber der
Jndianeranfstand vom Jahre 1848 hat diese ganze Blüthe
vernichtet, wie er die ganze Halbinsel an den Rand des
Abgrundes gebracht und ihr zwei Drittel ihrer Bevölkerung
Cenote von Uaïina. (Nach einer Photographie.)
212 Désirs Charnay's jüngste Expedition nach Aucatan.
SDefire Charnay's jüngste Expedition nach Yucatan.
213
geraubt hat. Die Unterjochung und schreckliche Bedrückung
der Eingeborenen trägt die Hauptschuld an jenen unauf-
hörlichen Kämpfen; aber wären die Spanier auch nicht so
grausam und die Maya nicht so bedrückt gewesen, zum
Kriege wäre es über kurz oder laug doch gekommen. Von
der Eonguista an haben die Indianer durch drei Jahr-
hunderte hindurch sich das heiße Verlangen nach Unabhängig-
keit und den Durst nach Rache bewahrt; ein Cocom war
es, der das erste Zeichen zum Aufstaude gab, ein Abkömmling
jenes königlichen Geschlechtes, von welchem die Spanier schon
einmal zum Laude hinaus gejagt worden waren. Den Anlaß
gab ein Bürgerkrieg zwischen den verhaßten Weißen selbst,
wobei jede Partei ihre indianischen Diener und Sklaven
bewaffnete und denselben alle möglichen Freiheiten, Steuer-
erniedrigung, Zulassung zu den Staatsämtern u. s. w. ver-
sprach, Verheißungen, welche bei der Leere des Staatsschatzes
und der Habgier der Grundbesitzer nie eingelöst werden
konnten.
Sobald aber der Indianer Waffen in den Händen hatte,
erwachte auch sein Muth; er gewann Uebung in ihrer
Handhabung, gewöhnte sich an das Flintenfeuer, fand
während der Märsche und Kämpfe gleichgesinnte Kameraden
und Freunde, Verabredungen fanden statt, und so brach am
30. Juli 1847 der erste Aufstand los, ohne daß sich die
spanischen Herren, zu sehr mit ihren eigenen Parteikämpfen
beschäftigt, sonderlich viel darum gekümmert hätten. So ge-
wannen die Indianer Zeit, um sich zu organisiren, und der
anfangs auf abgelegene Gebiete des Ostens beschränkte Auf-
stand breitete sich schnell aus und wurde zu einem Ver-
nichtungskriege aus Tod und Leben, ohne Gnade und Pardon.
Die Indianer machten nicht den waffentragenden Männern
allein den Krieg, sondern ihre wilde Wuth ergötzte sich am
massenhaften Abschlachten auch der Weiber und Kinder.
Gefangene wurden nicht gemacht, sondern Alles sofort nieder-
gemetzelt. Wenn die Wilden eine Stadt umzingelt hatten
und die Vertheidiger derselben sie nicht zurückzuschlagen ver-
mochten, so dachte man nicht au Kapitulireu und Verhandeln,
sondern suchte sich durchzuschlagen: was fiel, siel. Die
Kirchen waren stets die letzten Zufluchtsorte der Unglück-
lichen und gewöhnlich auch die Stätten ihrer Abschlachtung.
Das Kloster Sisal in Valladolid.
Die ganze Halbinsel floß von Blut, und auch Valladolid
wurde erobert und geplündert und seine Bevölkerung
decimirt. Wie üblich, spielten englische Kaufleute in dieser
Tragödie ihre abscheuliche Rolle, indem sie von Belize
(Britisch Honduras) aus den Indianern Pulver, Blei,
Flinten und sonstiges Kriegsmaterial lieferten und dafür
von den nicht auf dem Kriegspfade befindlichen Eingeborenen
werthvolle Hölzer eintauschten. Ohne diesen schändlichen
Handel hätte der unheilvolle Kampf schon längst ein Ende
genommen, während er so noch jetzt, nach vierzig Jahren,
seinen Fortgang nimmt.
Einige Monate nach Beginn des Aufstandes war die
ganze Halbinsel Yucatan mit Ruinen erfüllt; halb wahn-
sinnig vor Angst flüchteten die Familien nach Merida, dem
sich die siegreichen Indianer so weit näherten, daß man ihr
Kriegsgeschrei in der Stadt vernahm. Drinnen wurden die
Lebensmittel knapp; der Staatsschatz war leer, die spanische
Bevölkerung decimirt und Yucatan lag im Todeskampfe. Ein
wenig mehr Disciplin und Gemeinsinn ans Seiten der In-
dianer, und cs wäre um die weiße Rasse aus der Halbinsel ge-
schehen gewesen; so aber traf von Mexiko Hilfe ein, welche
die verlorene Hoffnung wieder erweckte und den Weißen
erlaubte, ihrerseits zum Angriffe überzugehen.
Valladolid selbst wurde am 18. Juli 1848 von
40 000 Indianern eingeschlossen, und seine Garnison und
Bevölkerung drei Monate laug in Angst und Entsetzen ge-
halten. Keine Hilfe erschien. Als schließlich die Lebens-
mittel aufgezehrt, die Munition erschöpft war, mußte man
an die Flucht denken. Der Auszug aus der Stadt war
schrecklich; zwauzigtausend Menschen jeden Alters und
Geschlechts bewegten sich in einer langen schwankenden
Reihe, die zur Seite von einigen Soldaten begleitet wurde,
nordwärts in der Richtung auf Tizimin zu. Die Feinde
hinderten sie zuerst nicht, denn draußen erschien ihnen der
Angriff leichter als innerhalb der Stadt, und jeder Wider-
stand vergebens zu sein. Sobald der Zug die Wälder
erreicht hatte, begann das Gemetzel vorn, hinten und auf der
.Seite; Wehgeschrci der Opfer, das Geheul der Wilden, ein
riesiges Morden. Nach Lust tödteten und schändeten die
Indianer, ruhten sich dann, mordeten weiter und setzten
214
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
bluttrunken ihr scheußliches Treiben bis zur Dunkelheit fort.
Dann erst kehrten sie m die ganz verlassene Stadt zurück,
plünderten die Häuser und Kaufläden und gaben sich den
widerwärtigsten Orgien hin.
Vierzig Jahre sind seit sener Zeit verflossen, aber
Valladolid trauert noch innner. Seine große Kathedrale,
deren Glockenthürme höher und in edlerein Stile erbaut
sind, als diejenigen von Merida, hat sich noch nicht von der
einst erlittenen Plünderung und Entweihung erhoben; aus dem
langen Schiffe ist der reiche Schmuck verschwunden, und
noch immer warten die kahlen Mauern des Inneren ans
den großherzigen Geber, welcher sie von Neuem mit Heiligen-
bildern, wunderbaren Statuen und Altären mit vergoldeten
Säulen ausstatten soll. Die Kirche liegt an einem weiten,
neuerdings mit Bäumen bepflanzten Platze im Mittelpunkte
der Stadt und kann mit ihren dicken Strebepfeilern und
Die Kapelle la Candelaria in Valladolid.
dem mit Zinnen versehenen platten Dache recht wohl eine
abermalige Belagerung aushalten.
Die Straßen Valladolids sind noch heutigen Tages
öde; eine Menge Häuser stehen leer, ihre Dächer sind ein-
gestürzt, die Mauern zerfallen; in der Vorstadt Sisal ist
das große, prachtvolle Kloster der Franciscaner von Un-
kraut und Gestrüpp umwuchert und umschließt keine einzige
unversehrte Zelle, birgt keinen einzigen Mönch mehr in
seinen verlassenen Kreuzgängen. Im nördlichen Theile der
Stadt liegt die kleine Kapelle La Candelaria, welche
ebenso wie das Kloster im Inneren nur Ruinen und Ver-
fall zeigt; draußen im Freien aber bewundert man, Dank
der magischen Leuchtkraft des unvergleichlichen Sonnenlichtes,
den zierlichen maurischen Porticns, welcher sich neben der
Kapelle erhebt. Ans dem freien Platze davor spendet ein
Ceiba-Baum seinen Schatten, in welchem einige Bummler,
den photographirenden Reisenden anstaunend, sich wohl
i fühlen.
Hans Dernschwain^s orientalische Reise 1553 — 1555
ans Handschriften im Auszuge mitgetheilt von Prof. H. Kiepert.
III.
Die wertläusige Beschreibung, welche unser Reisender
der Lage und den Bauwerken der türkischen Hauptstadt
angedeihen läßt, bietet neben zahlreichen ähnlichen derselben
und der folgenden Zeit, namentlich der kurzgefaßten aber
überaus klaren und von erheblicherem historischem Verständ-
niß zeugenden seines Gefährten Busbeek, kaum irgend etwas
Eigenthümliches, kann daher hier ohne Schaden übergangen
werden. Und die in diese Schilderung eingestreuten, bei
Gelegenheit des zweiten Aufenthaltes in Konstantinopel ans
der Rückreise und sonst noch hier und da wiederholten oder
erweiterten Bemerkungen allgemeineren kulturhistorischen
Inhalts werden besser im Zusammenhange ihre Stelle
am Schlüsse dieser Mittheilungen finden.
Der Umstand, daß der Sultan Suleiman, sowie sämmt-
liche Minister sich wegen der Rüstungen zu dem erneuerten
j Kriege mit Persien, welches die ihm 1534 bis 1547 ent-
rissenen Grenzlandschaften Baghdad, Wan, Aderbeidschan,
! Georgien zurück zu erobern strebte, bereits inmitten seiner
anatolischen Provinzen, zu Amasia befand, forderte die
Weiterreise auf asiatischem Boden, zu welcher endlich nach
einem vollen Halbjahr peinlicher Bewachung („in einer
karwasalia sind K. Mas. Botschafter eingesperrt gewesen
sambt den dienern und verhuetet worden wie andere ge-
fangene lcut und nit frei ausgehen lassen und mit len-
ten reden dürfen") die Erlaubniß seitens des Sultans
i eintraf.
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwcim's orientalische Reise 1553 — 1555.
215
Den 9. Merz sind wir von Constantinopcl per Scutari
ubergefarn.
10. Merz. 5 St. 3 M. in ein kriechisch dorf am
gestad des meeres, heißt Chortophilou, auf türkisch
K a r t a l, ist ein Geier *) allda feind viel Kriechen. Das
nieer auf der rechten und auf der linken Hand das geburg
gehabt — — weiter auf der linken Hand ein große alte
Christenkirch zerstört gesehn, scheint ein kloster gewesen,
haben den ganzen tag uneben landschaft steinigen weg
sandig und streuch gehabt, berg auf und ab, wenig
ackerfeld.
11. Merz. 3 M. in ein Dorf genamt Gevise, soll
Libifsa sein allda Hannibal soll begraben fein gewesen* 2),
kein steinen gepan noch alte steine da gefunden worden,
sie wären denn alle in die Metzith und karwasalia ver-
pönt worden; die hat ein Bascha Mustafa gepaut, welcher
auch die brücken über die Bioritza nahende bei Trinapol
gepaut.
12. Merz. 6 M. oder mehr (Rückr. 22. Juni 8 M.)
gen Nicomedia auf türkisch setz genannt Jsnimik^).
Als wir über den berg kamen im gründ ist links an der
straßen ein groß zerschleiftes kricchisches schloß aus einem
kleinen felsen gelegen bis an die Straßen hinab gepaut
gewesen, stehn noch etliche runde thurn, soll Hareke ge-
nannt gewesen. Gegen dem schloß über liegt im meer ein
langelich geburge, eine schone kleine insel Karamusa ge-
nannt *). Weiter neben dem gestad des meeres feind wir
unter dein geburg gefaren, — darnach über einen hohen
steinigen weg — dieselbige stelle nennt man Jnsche-skele
pnopton strioturairr mnris — ist das meer oder arm
ungeferlich 4 oder 5 mal als breit als die Thunau zu
Presburg.--------Die landstraßen feind überall gepflastert
also weit als zwei wagen breit, wo nit harter boden ist,
scheint zun: theil neulich geräumt zu sein, als der kaiser vor
2 jähren wider den Katznlbascha sKizilbasch — Schah
von Persien] gezogen ist.
13. Merz sind wir zu Nicomedia bliben bis auf den
mittag, alda die zerschleifte statt besichtiget, ist eine schone
alte kriechische statt gewesen auf einem langen rigel ein
wenig über dem meer gelegen und das schloß am end des
rigel gepaut gewesen, ein wenig hocher als Ofen, und rund
umb sich ein mentet gehabt, feind also große stuck gemeuer,
daß man meint es seien gewachsene felsen, seind von ziegel
und steinen durcheinander, daß man nit mehr von einander
hauen mag. Die große werkstuck hat man in solch langer
zeit alle verfurt per Constantinopcl und anderst wohin, jetztuud
haben wir noch gesehen, wie inan den gründ von der
stattmauer ausgrabt, sein schon große gehaute guadrate.
Gegen dem meer her abwerts von dem schloß feind ge-
Ist jener griechische Name echt (die kr. schreibt unsinnig
Chartophila), so bedeutet er „kräuterliebend", was als Orts-
name immer passender erscheint, als die türkische Form (Kartal,
eigentlich „Adler"), die immerhin nur eine Entstellung aus jener
sein könnte. Aber schon Cedrenus und Theophanes nennen den
Ort Kartalimen.
2) Ist ein Irrthum; das hoch gelegene Gebize entspricht
vielmehr genau dem von byzantinischen Geschichtsschreibern öfters
genannten Städtchen Dakibyza, während das im Alterthume
eben wegen Hannibal's Grabstätte öfters genannte Libyssa
nach den Maßangaben der römischen Straßen etwas weiter
südöstlich und unmittelbar ant flachen Meeresstrande lag.
3) Die vollständige, in älteren türkischen Schriften gebrauchte
Form ist Jsnikmid (elg Nixour^hua'), in der Aussprache
aber und seit lange auch in der Schrift, selbst officiell, abgekürzt
I 8 m i d.
4) Hier hat das Auge den Reisenden getäuscht, Kara-
mur s al, wie es wirklich heißt, ist keine Insel, sondern liegt am
bergigen südlichen Ufer des Golfs von Jsmid.
b) Giebt die Bedeutung des türkischen Namens „schmaler
Landungsplatz" nahezu wieder.
wältige Pallatia gewesen — und oben auf als ein kranz
sein gewaltige marmelstein gelegen schon und künstlich ans-
gehauen von mancherlei formen, ist mancher in 3, 4 lachtet
lang und 1 l. dick gewesen. Die kann man große halben
nit handlen (handhaben) noch auf den schiffen bringen,
sonder alda hat es ein fagmul (Sägemühle), schncidt man
dieselben, wie es die bauineister befelchen zu des kaisers
gebeu. — Haben auch zwei heidnische bäder gefunden,
auf die art gebauen wie setz zu Constantinopcl sein, die
man von unden ans heizt *). — Zu Nicomedia macht man
schone arbeit von topperlin (Töpfchen) schon gemalt von
allerlei färben und verglast, schussel und krug, und seind
ihr vil Meister ein lange gaffen voll, verfurt man weit in
Türkei.
Nachmittags auszogen — über ein alte steinerne
brücken von quadraten von zweien schwibogen über ein
ziemlich wafserlc, so gegen uns in das meer fleußt, soll
Kilos heißen2). Von Nicomedia ist die landstraßen schon
und breit gepflastert, ist noch von den Römern bliben, —
über 15 steinen und hulzen prucken bis in ein klein dorflin
Kasikli3).
14. Merz von frue bis in die finstere nacht, thuet
mehr als in 10 ungerisch mcil, berg auf bis um 12 uhr
und in 25 mal durch wasferle, über den großen langen Wald,
als buchen, eichen, castanien, nespeln, cypresfen; wie man
spurt, ist über den Wald ein alter gepflasterter breiter weg
gewest, so noch der Römer gemacht. -— Als wir aus dem
geburg kommen, hat man ein schon lustige ebene gegend
gesehen, 1^2 meil bis zu einer alten kriechischen statt Nicea
jetzt Jsmik (Jznik) auf türkisch genannt, darbet ist ein
langersuffer see, nit vast breit, hat gut visch. Indem ebenen
feld an der straßen haben wir. ein Ollolisenrn gefunden
von der erden ist erstlich von großen Werkstücken ein gevier-
eckter fuß mit einem gesimbs oben in 1 flachtet hoch und
über V2 lachtet breit, darauf fünf hoche dreieckte stein ans
einander nach der Proportion und breite über sich enger
und spitziger 4).
Nicea ist ein große statt gewesen, nit also groß als
Wien, mit zwo herlichen ringmauern umb sich, die in-
wendige ist hoch, hat ein runden stupfeten thurn in den
andern, davor ein zwinget mit niederen mauer und auch
runde thurn und ist kein thurn wie der ander, 360 an
zahl, von unden auf von gewaltigen werkstucken aufgebaut,
darnach mit geprannten roten zieglcn und steinen gemauert,
— hat vier thor gehabt, darunter zwei gewaltig gewesen,
und in 10 kleinere Pforten, darunder eine gefunden von den
kaiser Marco A u r eli0 mit seiner Überschrift gegen den fee.
1) Die aus Dernschwam's Kopie im Cp.Inscr. Latin. III,
p. 59, n. 324 publicirte Inschrift ergiebt als Erbauer der
Thermen einen der Kaiser, welche den Namen Antoninus führten,
als Wiederhersteller K. Diocletian.
2) Kiles,Vulgäraussprache von Kires-su, „Kirschenwasser"
(falsch kr. Ti les).
3) Kasockli bei Butzbeek, richtiger nach dem Dschihanuüma
Kazykly-beli (mit weichem z) d. i. Ort der Gepfählten, von der
landesüblichen Bestrafung der dort häufigen Räubereien so be-
nannt. Die Entfernung zu 4 M. auf dem Rückwege angegeben.
4) Tie Handschriften enthalten hier ein paar Zeichnungen
dieses Grabmonuments eines auch aus Tncitus' Geschichten be-
kannten vornehmen Bürgers von Nicaea, des Cassius Philiscus,
wie die Inschrift (0. I. Gr. II, 3759) lehrt, welche in den Ver-
hältnissen so gewaltig von einander abweichen, daß man daraus
keine Vorstellung über die wirkliche Form gewinnen könnte,
wenn der Obelisk nicht eben noch erhalten und schon 1745 von
Pococke (Osscrription of the East II, 2, p. 123) eilte recht
gute Zeichnung desselben publient wäre, welche diesmal dem
Kopisten der Prager Handschrift recht giebt, jedoch nicht seiner
unsinnigen Maßangabe des Sockels, dessen Höhe der Engländer-
auf 11 Fuß gemessen hat, mit 14 Lachtern (Klaftern) statt der
richtigcren V/i des Wfb.
216
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
Die statt ist also zerschleisft, das kein vorig alt haus mehr
stehet und die Türken haben die gasten alle mit kothmauern
aufgefuret, daß inwendig lauter garten sein und darin
haben sie Hutten wie die saustell. Ein Karwasalia von
stein ist allda, hat der Jbraim Bascha gebaut, ist noch nit
gar vollendt, weil ihn der kaiser hat lasten umbringen.
Alle kirchen sind in gründ zerschleißt, allein ein kirchlein
in Mariae Himmelfahrt namen gepaut nicht sogar, wie
wol es kein dach mehr hat und durch die gewclber regnet,
soll Niccphorus gepaut haben; allda in einer abseilen
(Apsis) ist sein grab und in einer andern ist sein mutter
und schwester gemalt oder sein weib und dochter in ehr-
barlicher tracht; im chor oben im gewelb, das gar verguldt,
ist Christus und hat seiner mutier Maria seel an der brüst
in den henden, oberhalb seind drei engel, darneben die
apostel und zwei engel mit sahnen, das Pflaster ist alles
von schonen steinen ausgesetzt mit viel figuren, als were
es gemalt. — Hat uns der pfaff lateinische bucher zeigt,
zwei die in Ungern geraubt worden und hat uns anzeigt
daß zu derselbigen zeit nit mehr als 11 christen sein H.
Bon Nicea haben nit mehr wagen mit 4 redern, sondern
asiatische karrn mit 2 redern gehabt, die haben keine speichen,
sondern runde scheiben von ganzen brettern irgeuds einer
spannen dick, ist ein plockig einseitig ding, ziehn die buffel
oder zween ochsen.
16. Merz über ein langen hohen steinigen berg, von
dem wir den fee aus der rechten Hand lang gesehen, — daß
wir also den see umbfaren und zuruck ziehen müssen, hat
neben dem see weingerten. In aller hoche ans der rechten
Hand ist ein klein Natzisch (serbisches) dörflich ans dem
Syrmischen herein gefuert worden. — 3 M. in ein türkischen
mark Janischar (Jenischeher) so viel als Neustadt. Vor-
der statt ist ein oeder viereckter thurn von 3 gaben über-
einander, auf jeder seiten in der mitte ein fenster und umb
denselbigen 4 hoche Pfeiler, seind oben gewelbt, daraus man
umb und umb gehen hat mngen, soll der Orchan gebaut
habn. Kein wein gefunden, nachend in ein kriechisch dorf
darnach gesandt. Hat eine schone ebene gegend umb sich
von getraid, auf allen seiten mehr kleine dorslin gesehen.
Die Inwohner sind lauter kriegsleut, — die wenig oder-
gar nichts arbeiten, habn von allen arten sclabcn oder-
gefangenen, menner und weiber, als sie ans Krabaten
(Croatien) Windischland (Kram), Ungern und sonst herein
herfurt * 2 3).
17. Merz 2—3 M. (so W, 3—4 Pr.) in ein dorslin
Agk-Byuckh (Akbijik) ist sovil als zum weißen knebelbart,
U Nicaea ist so ost in neuerer Zeit besucht und seine
Denkmäler gezeichnet worden, daß wir aus obiger Schilderung
allerdings nichts Neues lernen; sie ist eben nur beispielsweise
als ein Muster von Dernschwam's durchaus anschaulicher Be-
schreibungsart in größerer Ausführlichkeit aufgenommen worden.
2) Mit dieser „Neustadt", Jenischehir, wie die im
Jahre 1299 erbaute erste Residenz Sultan Osman's genannt
wurde, endet der aus früheren Berichten, erst in unserem Jahr-
hundert auch durch mehrmaligen Besuch europäischer Reisender
(beginnend 1802 mit v. Hammer-Purgstaü) einigermaßen bekannte
Theil der Fahrtlinie der Gesandtschaft; alles Folgende fast bis
Angora ist durchweg neues Terrain und erst in allerneuester
Zeit und auch nur thcilweise wieder besucht worden. Wäre mir
die Veröffentlichung vorliegender Mittheilung schon vor Jahren
möglich gewesen, so hätte sie, um geographisch verständlich zu
werden, wohl die Beigabe einer Kartenskizze erfordert; heute ist
diese entbehrlich, da ich aus meine theils schon publicirten, theils
handschriftlich in größtem Maßstabe vollendeten und im nächsten
Jahre zu publicirenden Karten Kleinasiens verweisen kann
(Carte ck68 provinces asiatiques de l’empire Ottoman, 6 931.,
1 : 1500 000 und Carte de l’Asie Mineure in 24 Bl. 1888,
1 : 500 000), von denen schon die kleinere das Verfolgen des
Weges unserer Reisenden ermöglicht. Ganz abzusehen ist von
dem vorläufigen Constructionsversuche, den ich als Beilage zu
nach einem kriegsmann also genannt, des Orchans dienst-
mann gewesen, liegt allda begraben H; allda der Rustan-
Bascha ein groß karwasaria von neuem gepaut, darin
200 roß gestellt mochten werden, hat 29 kamern, ist mit
plei gedeckt. Die landstraßen ist an vil orten, wo es von
nothen, gepflastert bis an ein ziemlich Wasser, schier wie zu
Gran, soll Galbor-su heißen — weiter auf der rechten
Hand haben wir ein groß teich oder see gesehen under dem
geburge — danach bösen weg durch ein Wald von kleinen
eichen und steinen geburg. Das schneegeburg, so wir vor
uns gesehen, ist trefflich hoch und hocher als bei uns sin
Ungern) die geburg sein, soll Olympus sein, heißt man
auf türkisch Kesitsch sKeschisch-dagh, „Mönchs-Berg)
ist sovil als lierenms oder wüsten; daraus soll ein
großer see sein in aller hoche, allda haut man eis, das
man gen Constantinopel fürt zu verkaufen 2).
18. Merz durch lauter eichenwald, bösen tiefen weg,
doch gut feist leimig erdrich, — hat vil wilde schwein —
auf halben weg ans der rechten Hand ein klein wasterle-
gehabt — auf beiden seiten von der straßen kleine
dorslin von wenig henslein — über 3 M. in ein dorf
Ermen-Patzargikh b) allda lauter Türken, keine Kriechen,
allda ist ein große Karwasaria, darin 150 oder 200 roß
stehen mngen — ein heimlich schone gegend, — hat aber
kein weinwax.
19. Merz über 5 brucklein — darnach hat sich das
geburg eng zugethan wie in ein schonen thal, weiter und
enger, berg auf und ab, nicht zu hoch, gut erdrich, dar-
zwischen über ein zimlich fließend waster vom geburg
zweimal gefarn das gegen uns geflossen, die Wald sind von
eichenbanmen auch kien und forchen holz. Vil Maulesel,
kameel und karrn mit getraid per Brussa seind uns begegnet
den ganzen tag. — darnach hat sich das thal weit auf-
gethan und schone gegend gesehen, ackerfcld und wiesen gen
meiner ersten, durch die Vorbereitungen für das große Jn-
schriftenwerk veranlaßten Besprechung dieses Theiles von D's.
Reise in den Monatsberichten der Verl. Akad. d. W. 1863,
13. Juli gegeben habe; nicht nur mangelten damals noch die
genannten neueren topographischen Materialien, sondern ich
hatte damals die Handschrift nur aus wenige Stunden zur
Verfügung, welche nicht hinreichten, von dem ganzen Detail dcr
Wegebeschrcibung Kenntniß zu nehmen; erst nachdem mir dies
1867 möglich geworden war, konnte ich allerdings ausschließlich
nach Dernschwam's Bericht eine von allen früheren Darstellungen
abweichende und später durch die Arbeiten der Ingenieure be-
stätigte hydrographische Hauptform in alle meine, seit jener
Zeit erschienenen Karten diese Länder schon im Wesentlichen
richtig eintragen, deren Quelle allerdings selbst den Fachmännern
unbekannt bleiben mußte und erst jetzt ans Licht tritt: nämlich
den seiner ganzen Länge nach von West nach Ost gestreckten
Lauf des Pursak, des Hauptzuflusses des Sakaria, den alle
früheren Kartenversuche um die volle Hälfte seines Gesammt-
lauses verkürzt hatten, indem sie in Ermangelung jeder bestimm-
ten Nachricht von Eskischehir an in kürzester Linie (scheinbar
natürlicher) dem Hauptflusse zuführten.
1) Ebenso I. v. Hammer in seiner osmanischen Geschichte
nach einheimischen Quellen; aber besucht hat den Ort bis heute
kein europäischer Berichterstatter; Herr von der Goltz-Pascha,
jetzt in türkischen Diensten, hat mir wenigstens versprochen,
eine Recognoscirung dorthin durch seine Osficiere ausführen zu
lassen.
2) Starke Uebertreibung in der Erzählung der türkischen
Begleiter; die Seen des Olymp sind sehr kleine, tief zwischen
steilen Berglehnen eingesenkte, schwer zugängliche Becken und
wenigstens im Sommer eisfrei, dagegen sind es die auf den
nördlichen Abhängen die heiße Jahreszeit überdauernden Schnee-
lager, von welchen das der Hauptstadt unentbehrliche kühlende
Material auch heutigen Tages allnächtlich auf Eselkarawnnen
weggeführt wird.
3) Hier fällt Humann's Route von 1882, dem ich eine
Revision der Dernschwam'schen Angaben dringend empfohlen
hatte, mit der unferes alten Reisenden zusammen (Reisen in
Kleinasien und Nordsyrien, Berlin 1886, S. 13).
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
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ein mark Boczgyngkh oder grauenstciu K liegt an einem
lustigen ort zwischen den gepurgen, wiewol es nit hoch
gcpurg ist. Vor dem mark hcraußen ist ein berg hocher
nls Ofen, darauf in der hoche ein kaler sels umb und umb
alö wär es ein mauer herumb von fernes anzusehn.
Am Wege auf der linken Hand ein lange schon weisse
marmelstcine polirte faulen 13 schuh lang, ist allda aus-
graben worden vor 6 fahren. Die Metzit sMoschce) hat
der Cafsan Pascha vor 30 fahren gebaut zimlich schon,
darbet zwei gastheuser, alda man den Wandersleuten ein
zorba sSuppe) oder reis gibt mit ein stucklcin schafenfleisch,
ist das ganze fahr nit leer. Alda vor [friUjer] kein dorf
gewesen, wegen der raubcrci, bis er Cassan Volk herzuge-
zogen, lauter hoffertige Pfaffen, bettlcr und rauber. Vor der
Metzit hat cs ein rohrprunnen und trankstellen an der
straßen, darunter ein weißer mar-
melsteinen trog, viereckt 8 spannet
breit und hoch, kreuzweis ausge-
baueu und inwendig ans allen
vier seiten zwei stasfel Hinab-
werts ausgehauen, also breit das
ein mensch darauf sitzen mag,
ich acht sei ein bad gewesen von
einem alten kriechischen gepäu
dahin gefurt.
Aus einem kriechischen dorf hat man uns wein ans den
abend zugefurt. Die schelmen lassen bei der nacht ihnen
wein von Kriechen bringen, saufen wie das vicch, daß sie
erliegen.
Auf der straßen auf der rechten ist ein alt begrebnus,
alda ans einem Marmelstein ein adler ausgehauen; weiter
für ein groß hoch geschütten buhcl, darunder ein dorflin,
guten eben weg durchaus traidboden, schafereieu auf beiden
seiten gesehen, sonst gar kein weid noch gras für ochsen und
kuhe. Aus vorgeschrieben berg feind wir vor abends gangen,
hat ein zimliche hoche, ist ein lauter bruchig grauer und
rother felß, oben ans sind 2 tief viereckte loch er glatt aus- j
gehauen, tiefer als ein langer spieß und 3 schritt weit und
breit, sollen cistern gewesen sein, sonst spurt man kein
geben oben. Unter selbigem perge an der strassen, alda
wir herein in diesen markt kommen sind, ist vor zeiten ein
statt gewesen, alda man noch vor 6 faren die fundamenta
und großen qnaderstein ansgraben hat.
20. Merz. Den ganzen tag von früh an bis umb
3 uhr in 6 meilen in einem eben gctraidboden gesaren,
von beiden seiten gepurge gehabt, darunter vil kleine dorflin
von niedern Hutten mit erden überschüttet und in die erden
grabn, also das man über die Heuser auch reiten und farn
möcht, — auf der linken Hand ein Karwasalia in den
pichel hinein gcpaut auch mit erd überschütt, gar nieder,
soll der Cassan Bascha haben lassen machen, gegenüber ein
türkisch begrebnus, darauf ein alabasterstein gefunden darauf
kriechisch geschrieben schone lesliche buchstaben, haben geeilt
und nicht halb abschreiben mugen. Andere stein,
darauf nichts geschrieben, sind figurn darauf ausgehauen,
die ich zum teil in der eil abgemalt* 2): erstlich zween
ochsen an ein joch, ein Pflug darunder, wie man denn noch
in Asia ackert, darneben ein Weingartenmesser und ein
0 Von hier die griechische Inschrift Dernschwam's 0. I.
Gr. III, 4132. Böz-öjük „die graue Anhöhe", Humann,
S. 14, der auch noch Reste der einstigen Prachtbauten der
Türken gesehen hat, dann aber einen südlichen Seitenweg über
Jn-önü einschlug, während die Gesandtschaft 1555 der geraden
Hauptstraße folgte.
2) Die Beifügung von Facsimiles dieser einzeln in den
Text der Handschriften gezeichneten Objekte konnte übergangen
werden, da dieselben sich in den weiter folgenden Zeichnungen
wiederholen.
Globus UI. Nr. 14.
hauen, darunder roßkamp, gegenüber auf der langen seiten
ein zirkel wie ein spiegel und ein kamp, mehr zwo spindeln
mit gärn, wie sie noch in dem land im spulwerk sein.
In dieser gegend ist der schelm Othomanus, ein panr,
ausgestanden mit anderen aufririgen, welche sich aufs plün-
dern geben, erstlich die umbliegende flecken verheert, — item
ein statt auf der rechten Hand, genannt Jskyschar, das
ist alte statt, weiter ein schloß und markt, Byloschigkh
(Pyleschigk Pr.) genannt, auch zerstört, alda man noch
seiden gewand soll machen, auf der linken seiten gelegen,
weiter auf der rechten ein schloß und markt Egrijuß,
ein schloß ans der rechten Karischahar genannt, alda
Türken und Armenier sollen wohnen l), bis in ein dorf
oder mark Zouschuran (Czauschuran kr.), andere nennen
es Czanss ad an (Csauß Sadan kr.). — In diesem dorfe
Com sch ura n (Czomschuran kr.), da wir über nacht
gelegen, hat kein karwasaria, allein saustelle, hat ein tiefen
schepfbrunnen kein fließend Wasser, hat alle Heuser in die
erde gcpaut und beschütt; die begrebnus hat vilc gute alte
Werkstein von marmel ~).
21. Merz. Von Zauß-Sadan in ein groß dorf Kar ali,
quasi nigra yilla von fru bis umb 4 uhr, thuet in
8 meilen; habn den ganzen tag guten ebenen weg gehabt,
lauter getraidland, auf beiden seiten schone gepurge gesehen,
nicht hoch und kahl ohne welder — hat nindert kein holz
zu prennen und haben kein gute Waid, alles kurz und aus-
prennt, doch lauter edel kreuter: salvia, aftsintum pon-
tioum, aftrotonum. Seind auf dato durch ein lang dorf
gefahren darbei an der straßen ein groß begrebnus, alda
vil schöner alter marmelstein zerprochen aus den umb-
licgenden zerstörten kriechischen stettcn, dabei ein lange
Karwasaria in die erden gemauert. Weiter an der straßen
zur linken Hand ein begrebnus, alda das dorf undcr dem
perge, haben ein wasser diesen tag gehabt auf der rechten
Hand, das von dem gepurge gegen anfgang fleußt, dahin
wir zogen und uns nachgeflossen ist, mitten durch die land-
schast, als groß wie das Wasser Leytta zu Prugg sauf der
österr.-ungr. Grenze) ist, weißlich und dies, heißt man
ft Diese Reihenfolge von Orten, die außerhalb des Ge-
sichtskreises der Reisenden liegend, nur nach mündlichen Mit-
theilungen aufgezeichnet sind, ist nicht ganz richtig: Eskischehir,
jetzt eine Stadt von etwa 10 000 Einwohnern, aber damals
wohl nur sehr unbedeutend, da es von der großen Fahrstraße
nicht einmal berührt wird, liegt von der bezeichneten Stelle
allerdings nahe südlich, und wenig thalauswärts oder südwestlich
davon zeigt sich auf einem Felshügel mittelalterliches Gemäuer,
welches Kara-schehir (schwarze Stadt, so Domaszewski bei
Humann, S. 18, Karadscha-schehir „schwärzliche Stadt" in der
österr. Ingenieur-Aufnahme) genannt wird; sicher das Karischahar
Dernschwam's; dagegen liegt Biledschik, noch jetzt eine größere
durch Betrieb von Weberei blühende Stadt, schon von Bazar-
dschik aus, also mehrere Stationen vorher nordwärts im Rücken,
näher nach derselben Richtung der vierte Ort, den zuerst Humann
als Egri-ös („krummer Bach") auf die Karte eingetragen hat.-
ft Die wunderlichen Verschiedenheiten in der Schreibweise
dieses Namens (bei Busbeek Chiausada, bei Bclsus, einem
anderen ungrischen Theilnehmer der Gesandtschaft, der jedoch
nur Inschriften aufgezeichnet hat, 0.1. Gr. III, 4127, Chousadan)
lassen sich um so weniger auf die wirkliche Form zurückführen,
als kein irgend ähnlicher Name in dieser Gegend von den wenigen
neueren Besuchern vernommen worden ist, der Ort also vielleicht,
wie so viele Hunderte türkischer Dörfer, untergegangen ist; in
der ersten Worthälfte scheint das türkische tscllauscll „Büttel"
zu stecken, ob in der zweiten ada „Insel" oder oda „Wohnung"
oder gar ein Personenname, bleibt ungewiß. Indem Busbcck
vor Erreichung dieser Station anmerkt: Cassumbasa in
arctissimis angustiis montis Olympi situm: ex his angustiis
in latissimos campos descendimus („Kasfumbascha liegt in
den engsten Thalschluchten des Olymp, aus denen wir dann in
sehr weite Ebenen hinabstiegen), so giebt er damit in seinem
ganzen Berichte die einzige flüchtige Andeutung einer Bodenform,
sehr im Gegensatze zu Dernschwam, der diesen Dingen viel Auf-
merksamkeit gewidmet hat.
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Prof. H. Kiepert: Hans Dernfchwam's orientalische Reise 1553 —1555.
Kuthe - su, das ist das wasser so bei Kute der statt für
fleußt i).
Darnach in ebenen landschaft ein langleter griner perg,
ist oben gar eben gewest — darunter ein dors gelegen,
darin man ein neue steinen Mezitt paut hat; an der statt
soll vor ein kricchischer markt gewesen sein, heißt man zmn
schwarzen perg* 2). Vil schaferei gesehen, ohne schwänz,
aber ein breit abhangend arsch wie ein Hund.
Weiter über obstand wasser Kuthe-su gesaren über-
ein prnggen und das wasser auf der linken seiten gelassen,
darnach an der straßeu auf der rechten zu einer großen
begrebnus kommen, alda viel schöner zerbrochner marmel-
stein, zu der Hunde sd. i. der Türkens begrebnus dahin
gesuert, welche sie zu Häupten und fuessen in die hoche
aufstellen. -- Alda auf ein marmelstein ein Römi-
scher adler und zwei ochsenkopf mit ein joch, wie in Asia
der brauch ist. — Weiter wieder über obstandt wasser
Kuthe-sn über ein prnggen, haben wirs wider auf der
rechten Hand gelassen, ist schnell und dies, kann man nit
sdurchs reiten.
Zn Karalj auf dem begrebnus haben wir vil alter
marmelstein gefunden, darauf noch viel lesliche kriechische
Epitaphia 3) gestanden und viel figuren — und was an-
gesichts gewesen, haben sie alles glatt gehauen. — Zwischen
Karalj und Czanß-Sadan haben sich die weissen ziegen an-
gefangen mit langen weichen Haren, daraus man Schamelot
macht. Überall im selbe findt man absintliium ponticum
und wilde cipreß und ander nider kreutlein, ist die schaf-,
viech- und roßweide, kein wein haben sie da.
Auf zwei andere stein allda fnnst kein geschrifft, allein
diese Weber instrumenten, — muffen anzeigen, daß alda das
seidenwirken sey aufkommen, oder daß vil Weber gewonet
Halm, dann in denen gegenden viel schaf sein und weiße
ziegen, — werden auch tebbichwirker gewesen sein.
22. Merz. Von Karali fruh bis 1 uhr in citi dorf
Togray, gehort dem Sultan Baiatzet, ber zn Trinapol
wohnt, dem die stati Knthe nit weit von hinnen anch zn-
gehort. An der stratzen auf der rcchten ein hubel, darauf
ein gros;e begrebnns, darunder ein dorf halb under ber
b Richtiger schreibt der eben genannte Belsus Kutai-su;
die größere Stadt in seinem vberen Thäte, welche ihm damals
den Namen gab, heißt bekanntlich Kjutahia (das antike
Cotycüum), der Fluß selbst, der Thymbres des Alterthums,
wird jetzt seinem ganzen Lause nach Pursak genannt.
2) Der türkische Name wird nicht einmal genannt, aber
die Lage wie die Bedeutung des übersetzten Namens führen aus
das von Humann und den Eisenbahn-Ingenieuren 20 km O
von Eskischehir am Pursak verzeichnete Dors Karahüjük.
3) 0. ln86r. 6raee. III, n. 4122 — 4125. Ein Ort
Karaly („schwärzlich") kommt in den neueren Reiseberichten hier
nicht vor.
i Ak-
il ii '» il
erden l) — in der metzit vil alter steine vermauert; alda auf
dem Hubel ein großer hocher marmelstein, darauf die nach-
folgenden figuren gefunden: Weiter über ein wasserte in
ein: graben ist zwirch
über durch das eben
land geleit vor zeitcn
Lv\gy worden. — Weiter
■^—7 auf der rechten ein
begrebnns von vil
alten steinen mit
figuren und schriften,
alda diese fignr und
ans der linken Hand
von fernen ein ge-
burge und weldcr
gesehen, hat sonst
nindert kein pau-
noch prennholz.
Am Wege ein ge-
stuet dem Rustam
Bascha zugehörig2),
in 500 rossen, dar-
be! ein siebenburgijcher ungcr und walach und ein behaim
von Kunigsgraetz.
Weiter an das gestrige wasser Kuta kommen, das
gegen der linken Hand wider durchs land fleußt, darüber wir
über ein steinen hoche Prnggen gefaren mit einem schwib-
pogen und darneben ein kleiner schwibpogen am ende, darauf
am gelender obn ein stein gelegen, daran diese figuren, alles
weber und debbichmacher Instrumenta, wie ichs zum theil
wurken hab sehen in schlechten dorfcn und nichts dabei ge-
schrieben.
Die prnggen heißt man Ath-Kyuprj, das ist Roß-
1) Offenbar hat der Reisende über Tag, in der Zeit der
Saatbestellung, wie es ihm auch später (2. April) und auch anderen
ergangen ist, keinen Mann (Weiber würden kaum Rede stehen)
im Dorfe gefunden, also auch keinen Ortsnamen erfahren,
daher er gewissenhaft anmerkt: „ist in 14 tagreiß von Constp.
danach zu fragen, wie dasselbig dorf heißet" und später am
Rande Vgus villa (Wf) notirt hat; den Namen hat er erfahren,
da aus der Rückreise zufällig das Nachtquartier an diesen Ort
traf (s. unten 14. Juni).
2) Dasselbe besteht noch jetzt unter dem Namen Beilik-
aghyry „Fürstenthums-Gestüt" nach Humann, S. 25, der es
ebenso wie die folgenden Punkte At-kjöpru und Dogrei nur
von fern gesehen hat, da er an dieser Stelle genöthigt war,
das Pursak-Thal zu verlassen, uni auf mehr südlichem Wege
die Ruinenstätte von Pessinus zu erreichen; so ist denn der
weitere östliche Verlauf des Pursak außer Dernschwain's Jtinerar
für jetzt nur in der sehr flüchtigen Recognoscirung der im Auf-
träge W. Pressel's für Eisenbahnprojekie 1873 reisenden In-
genieure Ogleditsch und Schütt verzeichnet. Den Dorsnamen
hat, wie die Neueren bestätigen, Dernschwam richtiger wieder-
I gegeben, als Busbcek und Belsus, die ganz unverständlich Haz-
dengri, Hatdengri schreiben. Griechische Inschriften von Dogrei
a. a. O., Nr. 4117 bis 4119.
»»
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
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pruggen; innerhalb der prucken sind etlich paurn-huttlein
und ein Metzith, hat der diustan angefangen und stehen
lassen. Weiter über ein klein muelwasserle zwerchs über
auf die linke Hand fliessend, fleußt neben dem darf Togrej
für. — Also den tag schon eben land, guet erbrich, traid-
poden, auf den seiten weit zu den gepnrgen — wenig wasser,
auf beiden seiten viel dorfen, sind uns wieder Camele mit
gedrait begegnet per Prufsa; diese straße heißt man des
Kaysers straße, ist die große und ebene straßen von Con-
stantinopel ans durchs Landt, feiert nit.
23. Merz. VonTogreinach Masut-Kien H 4 meil,
ans beiden seiten große gepurge gehabt, aber mitten über-
ein talen steinigen berg, darauf vil scgelbaum, wider in
ein thal und ebene kommen, ist gueter leimiger boden.
Ein alt zerprochen schloß zu der rechten Hand, dorflein hin
und wider und weingerten auf der weiten gesehn. Zn
Masut-Kien auf der bcgrebnus vil alte steine gefunden,
kriechisch und lateinisch, auch ein stein, daraus die Türken
ein morser gemacht, darin die gemein wciz stampft zu ihrer
Zorba sSuppech Was irgends ein jeder für ein handwerker-
gewesen ist, hat er ans sein grabstein sein handwerksweise
abconterfeit, als goldschmidt becher, tebbichmacher ihr zeichen
von weberwerk, — dabei irgends einig namen gestanden,
aber kein solch Epitaphium haben wir gefunden, das aä
historiara dienet.
Im dorf ist ein wasserlein voller grundeln, so die Türken
nit fahrn dürfen; — haben die baurn den Herrn N(icolaus
Vrenczy) nberredt, daß in der nahend ein dorf fei, alda
man alte schriften und stein findt, bin ich auch mitgangen
und nichts gefunden, hat mau uns zu einem felsen auf einen
hohen berg gesuert und gesagt, das ist ein alter fels, solche
Hunde und barbari seind die Türken, seind in 2 meil also
umbgangen.
24. Merz, in ein dorf Muhat* 2) 4 meil. Erstlich
von Masut-Kien durch ein alt zerschleift dorf, Uber das
gestrig bachlin, darbt ein mul sMühlef under der erden,
durch ein zerschleift kriechisch dorf, darin große Heuser ge-
standen, zwo meil zur rechten an obstandem bachlin ein
dorslin rechts am borgte darauf ein zerschleifte kricchische
kirchen. Uber zwo prucken von steinen, Weingarten hin und
wider, dorfer auf beiden seiten, überall zwischen gepnrgen,
wie in Siebenbürgen, hat gneten feisten leimigen boden. —
Allenthalben kein lang gras noch weide, auch kein holz, darbci
man kochen macht, kochen bei kuhkot zusammengescharrt und
gedorrt. Haben viel gaiß und schaf mit dicken feisten
breiten schwenzcn und zigen von langen subtilen Haren.
Darnach seindt wir kommen an ein wasser, das zwerchs
überfleußt von der rechten Hand des gepurgs her kommend
in ebenem selbe, soll Sangarius sein; darüber ein hul-
Mas'üd-kjöi, Dorf des Mas'üd lhäufiger arabischer
Personenname), ebenso in Schütt's oben genannten Routier,
mehr entstellt Masotthoy bei Belsus und Busbeek. Wahr-
scheinlich identisch mit Massik-Keui bei Perrot, Lxploiat.
Atlas feuille C. Griechische Inschrift Nr. 4133. lat. III, 284
bis 286. Diese besonders wichtig, weil sic sich auf eine Colo u ia
Julia Augusla Felix beziehen, die, wie Mommsen nachgewiesen
hat, nur das etwa 2 bis 3 Meilen südlich entfernte Ger me
sein konnte.
2) Mahathli bei Busbeek, Maslii, östlich vom sakaria in
Ainsworth's Route. Die folgenden Orte — bei Busbeek Zugli,
Chilancyck, und dann irrig nochmals als verschiedene Nacht-
station ckalancrhioh, endlich Potughin geschrieben — sind, wenn sie
überhaupt noch existiren, mit den jetzt vorhandenen Blitteln um
so weniger zu verificiren, als die Richtunacn der Straßen häufigem
Wechsel unterworfen sind. Wohl aber finden sie sich, auch zweifel-
haft, ob richtig geschrieben und gedruckt, wieder in einer im
Dschihannnma (©. 671 der türk. Ausgabe) doch ohne Entfer-
nungen mitgetheilten, also vor 150 Jahren noch srequentirten
Route: Akkjöprü, Oghlakdji, Mahare (Mahnze?), Jüklü, Jalandji,
Aladja-Ada, Angora.
zen pruggen, alda wir am sontag Laetare gehabt Habens. —
In ein solchen schlechten dorf, alda man sich weder kelle
noch hitz verwaren mag, wirken die alten Weiber tebbich,
— und hat mich wunder genommen, wie solch grob ein-
fältig leut solch arbeit sollen machen und die model in köpf
und sinn haben und das gärn von allen färben, das man
doch in dorfern nit spinnen noch fcrben kann; in den feldern
und pergen ist es voller alabaster gewest, den ich tvie ein
thon geschnitten hab 2).
Weiter für ein guell gefahren auf der linken Hand von
warm wasser. Wider pergauf und ab, — die perge sind
alle kahl steinig ohne holz und gras.
25. Merz von frue bis umb 2 uhr in 3 meil, daß
wir ein rad zerprochen haben, in einem dorslin bleiben
müssen, Sunglie genannt; auf beiden seiten schneegepnrge
von ferns.
26. Merz. 3 uhr erst auszogen bis in nacht 3 meil in
ein dorf, genannt Jalanschy-Aly, ist sovil als verlogner
Ali, ist zwischen zweien perglen in der hoche gelegen, hat
einen ziemlichen gut ensprung wasser. Denselbigen tag mehr-
mal durch ein pechlin in eim graben sThal), vil weite
ebene, gueten roten leimigen podeu, scheint saluiterisch sein,
denn hier und wider das erdrich gar weiß ist. Weiter
zwirchs ein große kreuzstrassen durchs land.
27. Merz von 7 bis 12 uhr 2 weilen in ein dorslin
Kutilin, die Heuser halb im perge und vornen mit erden
überschütt, wie wolfs und fuchs locher.
28. Merz. 3 meil um 10 uhr vormittags gen Ancira,
so auf türkisch Augur genannt, — ist alles voll, so in der
statt gewesen, heraus gelosten in 2 oder 21/2 tausend man,
hudelmans gesind, der Bascha Beglerbegk ist auch in 150
man heraus geritten. — Die statt ist an einem trefflich
schonen ort und boden gelegen, wie maus nur immer
wnnschen kuuut, ist weit und groß umb den berg bis in
die ebene gepaut, ohne ordnung, enge kleine gasten un-
gepflastert, von lauter kot und gedruckueten ungepranten
zieglen gepaut, die dacher allein mit erden gedeckt und an
den fundamentcn sieht man überall, daß die statt noch viel
grosser gewesen ist. Das schloß auf aller hoche des perges
hat weit umbsangen und rundumb ein hoche maur von
guadratten steinen, ein halber thurn um den andern in 45
schritt von einander und davor hats noch ein zwiuger mit
zinnen in zween mann hoch. Darin ist der Armenier-
kirchen, ein heusle von kot gemacht, in 4 schritt lang und
breit mit 3 gewelbn, in einem fenster ein alabasterstein ein-
gemaurt, scheint wie ein durchsichtig licht und feur, daruber
wollen zu narren werden und für ein wunder halten, das
doch natürlich und des alabastcrfteins art ist, — hab ich
auswendig mit eim huet verdeckt, darum er bald dunklcr
worden. Gegenüber hat es dergleichen ein solchen Höchen
perg darauf ein wehr stehet, wird vor zeitcn auch ein schloß
gewesen sein — zwischen den zweien fleust im gründe ein
zimlicher pack), darüber von einem perge zu dem andern
ein hoche clausen von guadratten gepaut, hat 3 thuren under
eine dardurch setz der pach fleußt und auf den seiten ober-
halb thuren welche feiern, das wasser heißt Benti-
resy3). — auf obstanden flnder seind zween steincne
liegende Lewen gegen einander über, von einer andern seiten
kombt ein ander wasser aus dem perge Aytos, das man
*) Diese Brücke des Sakaria muß identisch sein mit der
bei dem Dorfe Pebi, nahe oberhalb der Mündung des Pursak
in den Sakaria von den Eisenbahn-Ingenieuren verzeichneten.
2) Also wohl eher Talk oder Speckstein, oder Meerschaum,
der bekanntlich in der Umgegend von Eskischehir massenhaft
ausgebeutet wird.
3) Bend-deressi „Wasserbehältcr-THnl"; mit dem der persi-
schen Sprache entlehnten Worte dsucl werden auch die großen
Reservoirs für die Constantinopeler Wasserleitungen bezeichnet.
28*
220
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
Czibuk-su sTschibük-su, „Rohrwasser") genannt, die kommen
bei Ancira zusammen und seit in ein ander Wasser Tar-
hawamolar komt in das Wasser Sangarium.
In der statt herniden steht ein schone alte hoche dicke
senke ans ein breiten gevierten suß von qnadrattsteinen,
ausgehanen als wann sie mit großen und zwischen mit kleinen
reifen gepunden war, hat kein schrift gehabt. Die Türken
Habens BaalkeßJ genannt, das sovil ist Jungfranhonig,
sagen von Salomon fabeln das ers gesetzt hat, das erlogen
ist, denn die Türken habn keine Historien, wissen nichts
anders als was ein nachpaur dem andern aus einfaltigkeit
fursagt.
In der statt auf dem nit gar Höchen berg daraus das
schloß steht, haben wir noch ein alt Römisch gepen gesehn,
welches ein groß gewaltig theatrum oder-palatinm gewesen,
anfs zierlicheste gestaut von schonen weißen marmelstein und
die Türken nicht alles hernieder haben Prechen mngen, hat
kein dach mehr und setz habn die Pfaffen in 10 kamern
an das inwendig gemenr gestaut, die thuren nit 1 x/4 wiener
ellen hoch, in solchen gemechen wohnen die Türken.----------
Daselbst sind Römische Antiguitates zwirch über nach der
lenge cingehauen gewesen, die man zum theil lesen mngen* 2).
Ist nit theur, hat man 8 brot umb ein asper (1V2 Kreuzer)
kauft, daran ein mensch in der noth in 7 oder 8 tag solt
sich mngen behelfen, dachen auch sunst runde wohlgeschmache
0 Balkis, mythischer Name der Königin von Saba bei
den Arabern; die Volksetymologie vom türk, dal „Honig" und
kyz „Mädchen" hat natürlich keinen Sinn.
2) Gemeint ist natürlich das Hauptmonument der alten
Stadt, das Augusteum mit dem inschriftlich erhaltenem Testamente
des Kaisers, wovon wir nach Perrot's noch nicht erschöpfenden
Bemühungen jetzt durch Humann die erste vollständige, durch
Abgießen hergestellte Kopie erhalten haben.
baygel mit weissem suessen mohn bestreut; wein haben wir
bei den kriechen gefunden zimlich theur.
30. Merz. Von Ancira ein kurze tagreiß 7 bis
12 uhr 2 meil in ein klein dorsle Ballaczer dadurch ein
greble fleußt, hat gründet gehabt; weiter über ein steinen
brücken mit zwei schwipogen über das Wasser Benth und
Zubnck, durch das Wasser sinnd wir also im eben thal über
6 mal gefarn, scheint weit auslaufen, wann es regen-
wetter ist1).
31. Merz in das dorf Sarikttrt, das ist zum gelben
wolf 2) — alda haben sich kranbitbeerstauden sWachol-
derst angefangen, dann in etlich tagen kein holz noch
straus gesehen worden. — Wider über ein lang Höchen
kahlen steinigen sterg, nochmal in ein langen thal, dardurch
obstandt wasser fleußt, dardurch wir mehrmal gefaren,
dasselbig nennen die stauern Hosan-su3). Nebn obstandem
stach ist ein gar alt zerschleift groß gepen gewesen, darin
noch vil gewelbe gestanden von lauter qnadrattsteinen —
muß ein Wirthshaus sein gewesen in der wildnus, denn von
beiden seiten man über lange hoche perge ziehen hat müssen,
darüber man in ein tag nit wol kommen mngen. — Also den
ganzen tag durch schone landschaft, perg auf und ab zogen,
auf beiden seiten weit von der straffen dorser über 30 gesehen.
0 Von den schon hier und noch mehr in Busbeet's Berichte
i entstellten Stationsnamen, bis Tschorum (öalygazai-, Zarekuct,
Zermeczii, Algeos, Goukurthoy) läßt sich bei unserer in diesen
Gegenden noch immer sehr mangelhaften Detailkenntniß kein
einziger aus anderen Quellen wieder erkennen, ebenso wenig
von den theilweise abweichenden Ortsnamen der Rückreise.
2) Die ausnahmsweise fehlende Distanz läßt sich aus der
Rückreise auf etwa 7 bis 8 Meilen berechnen.
ch Wohl nach dem Dorfe Hassanoghlu benannt, welches
auf der oberen Straße von Angora nach Kaledschik, nördlich von
der hier beschriebenen liegt.
Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
IV. (Schluß.)
Die großen Schamanen geben sich mit Kranken-
heiluugen nicht ab, sondern ihr Amt besteht einerseits im
Vorhersagen der Zukunft, andererfeits in der
Ueb erfU h r un g der Seelen Gestorbener in das
Jenseits. In ersterer Beziehung verfahren sie mit
großer Vorsicht, indem sie ihre Weissagnngen wie die
Orakelsstender aller Zeiten und Nationen in eine möglichst
unbestimmte Form kleiden, damit ihnen kein Vorwurf
gemacht werden kann, wenn bei vermeintlich treuer Be-
folgung ihrer Rathschläge der Frager einen Mißerfolg
seines Strcbens erlebt. Die Ueber führung der
Seelen in das Jenseits ist eine ziemlich complicirte
Handlung, über deren Verlauf Jakobsen Folgendes in Er-
fahrung gebracht hat. Nach der Beerdigung eines Todten
wird der Platz in der Hütte, welchen jener bei Lebzeiten
einzunehmen pflegte, mit einem zusammengefalteten Teppich
bedeckt, auf dem ein Bündel Platz findet, dessen Umhüllung
aus dem Kopfkissen, dessen Inhalt aber aus den Kleidern
des Verstorbenen besteht. Vor diesem Bündel stellt man
dann eine, auf einem grob geschnitzten hölzernen Untersatze
stehende, etwa 20 ein hohe, menschliche Figur aus dem-
selben Materiale ans, welche in Gesichtshöhe mit einem
kleinen runden Loche versehen ist, das den Mund vorstellen
soll. In dieses Loch wird häufig das Mundstück einer mit
Tabak gestopften und angezündeten Pfeife gesteckt, die dann
mit dein Kopfe auf der Erde ruht und dadurch Halt ge-
winnt, außerdem aber werden vor diese Statuette hin und
wieder Holzgefäße mit zerlegtem Fisch und chinesischem
Branntwein gestellt, als ob die durch dieses den Namen
„P an j a" tragende Holzbildchen dargestellte Seele des Ver-
storbenen sich davon nähren sollte. Diese Erinnernngs-
statuetten müssen nun so lange im Hause an dem früheren
Platze des Verstorbenen aufbewahrt werden, bis die Seele
des Todten von dem Schamanen in das Jenseits über-
geführt ist. Da nun aber diese Ceremonie mit verhältniß-
mäßig großen Kosten — etwa 100 Rubel — verknüpft
ist, so wird sie gewöhnlich im Herbst vorgenommen,
nachdem die Golden durch reichen Fischfang und den Ver-
kauf ihres Ueberflusses zu Gelde gekommen sind. Sehr
häufig thun sich dann, um die Kosten zu vermindern,
mehrere Familien zusammen und lassen die Seelen ihrer
verstorbenen Mitglieder in Gemeinschaft in das Jenseits
eppediren; nicht selten aber vermögen auch arme Golden in
langen Jahren nicht die Summe aufzubringen, welche dieser
Akt der Pietät verschlingt. Dann kommt es wohl vor,
daß sich in einer Hütte eine Menge solcher Pansas an-
sammeln, die durch die Einwirkung des Herdfeuers und
Tabakrauches allmählich völlig geschwärzt werden, und es
soll sich sogar ereignen, daß die lebenden Bewohner eines
Hauses durch die todten so sehr im Raume beengt werden,
daß sie sich gezwungen sehen, auszuwandern und eine neue
Hütte zu erbauen.
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
221
Wenn eine goldische Familie sich entschließt, die Ueber*
führung ihrer Verstorbenen in das Jenseits vornehmen zu
lassen, so benachrichtigt sie den nächsten Oberschamanen und
seinen Gehilfen von ihrem Vorhaben und sorgt ferner für
die Herbeischaffung einer erklecklichen Quantität von chinesi-
schem Reisbranntwein. Nach der Ankunft des Schamanen
wird dann am Ufer des Flusses, der das Dorf bespült, eine
Hütte erbaut, welche ganz mit kostbaren Zeugen chinesischen
Ursprungs ausgcschlagen und dem oder den Pansas als
Aufenthaltsort angewiesen wird. Darauf richtet man in
der Nähe dieser Hütte einen ziemlich hohen, mäßig dicken
Mast auf, welcher durch eine an der Thür der Hütte be-
festigte und dann rings um die letztere gezogene Leine mit
dem Wohnsitze der Seelen in Verbindung steht. An dieser
Leine befestigt dann der Schamane eine Menge von bunten
Zeuglappcn, von Vogel- und Menschenfiguren aus Holz,
welche letzteren sich vor den übrigen Idolen besonders da-
durch auszeichnen, daß sie einen kammartigen Aufsatz auf
dem Kopfe tragen I. Alle diese Dinge gelten als dienst-
bare Geister des Schamanen, welche ihm bei der Be-
fördernng der Seelen in das Jenseits behilflich sein sollen.
Dann wirft sich der Schamane in sein Kostüm, welches
aber erst weiter unten beschrieben werden soll, und beginnt
die eigentliche Ceremonie. Zu derselben weiht er sich durch
den Genuß von Hnndeblut, das er aus einer Holzschale von
der Form einer Ente trinkt, und durch das Verbrennen
eines Krautes, dessen Dampf ihn in eine gewisse Betäubung
versetzen soll* 2). Nachdem er in feierlichem Schritte mit
seinem Gehilfen die Hütte betreten hat, beginnen beide
unter Trommelschlag und leisem Gesänge einen Tanz, der
fast nichts weiter ist, als ein in gewissen rhythmischen Be-
wegungen verlaufender Umgang um die auf dem Tische der
Hütte oder einem eigens dazu hergerichteten Bette auf-
gestellten Pansas. Je länger dieser Umgang dauert, desto
unverständlicher wird der Gesang des Oberschamanen, in
welchem, wie bei den Burjaten und bei den nordwest-
amerikanischen Indianern, unheimliche Kehltöne eine be-
deutende Rolle spielen, desto wilder aber werden auch seine
Bewegungen, bis er endlich, wie von einer höheren Macht
getrieben, ans der Hütte herausstürzt, auf den Mast zueilt
und ihn mit bewundernswerther Schnelligkeit erklettert,
indem er die oben erwähnte Leine nach sich zieht. Auf der
Spitze des Mastes verbringt er dann schaukelnd und fort-
während die Arme und den Oberkörper bewegend oft
mehrere Stunden, ohne die Augen zu öffnen, plötzlich aber
läßt er sich wie leblos von der Höhe herabfallen. Nachdem
er dann eine Zeit lang, den Athem anhaltend, am Fuße des
Mastes wie todt gelegen hat, wird er von einigen der Um-
stehenden in die Hütte getragen und von seinem Gehilfen
durch Gefang und Trommelschlag wieder ins Leben zurück-
gerufen. Wie neugeboren erhebt sich dann nach einiger
Zeit der scheinbar Todte, tanzt und springt einige Zeit lang
wie ein Besessener herum, wird dann aber allmählich wie-
der ruhiger. Hier tritt eine Panse in der heiligen Hand-
Diese Idole heißen Agami.
2) Vergl. Nr. 1 des laufenden Bandes dieser Zeitschrift
S. 15. Ol, übrigens die im Texte genannten Vor-
bereitungen von den Schamanen vor dieser reli-
giösen Handlung oder vor den von i h n e n v o l l -
brachten Opfern angewendet werden, will ich
dahin gestellt sein lassen, denn Jakobsen's Bericht ist
über diesen Punkt nicht ganz klar; der hohe Grad von
exstatischer Erregung, in welchem sich die Schamanen bei dieser
Handlung befinden, rechtfertigt vielleicht die Fassung des Textes.
Beachtcnswerth ist übrigens, daß sich auch die Hametze der
Bella-Koola-Indianer durch den Genuß von Hundeblut aus
ihre religiöse Verrichtung vorbereiten, wie mir durch eine brief-
liche Mittheilung von Jakobsen's Bruder, der sich noch jetzt bei
ihnen aufhält, bekannt geworden ist.
lung ein, welche wahrscheinlich mit einer Rede des Scha-
manen ausgefüllt wird, in der er die Angehörigen der
Verstorbenen ermahnt, nicht mehr traurig zu sein, sondern
sich zu freuen, daß die Seelen ihrer Familienglieder in das
Jenseits eingegangen sind, und dieser ihrer Freude durch den
Genuß von einer Schale Branntwein Ausdruck zu geben.
Dann macht der Oberschamane den Versuch, seine Mütze
vom Kopfe zu nehmen, doch vermag er das trotz alles Reißens
und Zerrens nicht fertig zu bringen. Auch das Schlagen
mit einem dicken Stabe, den er bei sich trägt, pflegt nicht
die beabsichtigte Wirkung zu haben, ja es soll sogar vor-
kommen, daß sich die Schamanen den Kopf mit einem
Beile bearbeiten lassen, um die Mütze zu entfernen. Endlich
tritt auch hier der Gehilfe des Schamanen als rettender
Engel ein, indem er unter vielen seltsamen Gebcrden seinem
Meister die Mütze vom Haupte nimmt und damit die heilige
Handlung beendigt. Die allmählich wilder werdenden Be-
wegungen des Schamanen in der Hütte, bei denen er auch
häufig ein langes Messer schwingt, sollen wohl einen Kampf
mit bösen Geistern um die Seelen der Verstorbenen dar-
stellen, die er denselben entreißt, indem er in vollen: Laufe
aus der Hütte eilt. Indem er den Mast erklettert, will er
symbolisch sein Aufsteigen in den Himmel darstellen,
wohin er vermittels der erwähnten Leine die ihm an-
vertrauten Seelen nach sich zieht, die ihm aber auch so noch
von den nachfolgenden bösen Geistern streitig gemacht wer-
den, wie feine heftigen Bewegungen auf der Spitze des
Mastes zeigen. Erst nachdem er sein Werk vollbracht hat,
erlahmt seine Kraft; er kann sich auf der mit aller Glnth
der Exstase erreichten Höhe nicht halten und stürzt herab,
um dann durch seinen Genossen mit Hilfe der ihm unter-
gebenen guten Geister zu neuem Leben erweckt zu werden.
I Ist die heilige Handlung vollendet, so werden
j die Erinnernngsstatuetten zerschlagen und damit
fallen die Namen der Todten der Vergessenheit
1 anheim, so daß z. B. ein Golde, welchen der
Reisende fragte, wie sein verstorbener Vater
geheißen habe, die Antwort gab: „Ich weiß es
nicht mehr, ich habe es vergessen." Mit all-
gemeiner sinnloser Betrunkenheit der „trauernden" Hinter-
bliebenen und ihrer Dorfgenossen schließt dann die
Feierlichkeit.
Die Kleidung der großen Schamanen weist bei
weitem mehr Besonderheiten auf, als die der kleinen. Der
Oberkörper ist mit einer Lederjacke bedeckt, auf der sich
zahlreiche Bilder von heiligen Thieren, wie Schlangen,
Schildkröten, Eidechsen und andere zeigen. Unterleib und
Beine stecken in einem Unterrocke von russischem oder chine-
sischem Zeug, der etwa bis zum Knie reicht. Bei den eben
geschilderten Festen tragen sie über beiden Kleidungsstücken
ein langes Obergewand aus weißem Zeuge, das ebenfalls
phantastisch bemalt ist. Auf Brust und Rücken hängen
eine Anzahl von runden Metallscheiben, welche von den
Chinesen für sehr hohen Preis gekauft werden und nichts
Anderes als Spiegel sind, während die Schamanen behaupten,
daß sie gleich nach Erschaffung der Welt auf einem Bannn
gewachsen und von dem Stammvater ihres Volkes herunter-
geschossen worden seien. Die Hände werden mit baum-
wollenen Handschuhen bedeckt, welche denselben Schmuck
zeigen wie Jacke und Oberkleid. Eine Trommel führt auch
der Oberschamane, und er behauptet, daß ihm die Gottheit
durch dieselbe Offenbarungen zukommen lasse. Dieselbe
Thätigkeit schreibt er auch dem Vogel Kori zu, welcher,
aus Holz bestehend und mit Leder überzogen, über seinem
Haupte anfgehängt wird. Ein weiteres Stück seiner Aus-
rüstung ist ein ziemlich langer und dicker Stab, der im All-
gemeinen mit Schlangenhaut überzogen, sonst aber ohne
222
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Lande der Golden.
Schmuck ist. Der, welchen Jakobsen mitgebracht hat, war
ursprünglich an seiner Spitze mit einem metallenen Buddha-
bilde von chinesischer Arbeit geschmückt, für dessen Bedeutung
übrigens der Besitzer kein Verständniß hatte. Trotzdem bat
er den Reisenden, der ihm halb mit Güte, halb mit Ge-
walt seine Ausrüstung abnahm, ihm wenigstens dieses Bild
zu lassen; wahrscheinlich, weil er dasselbe für einen ganz
besonders kräftigen Beförderer seiner Zwecke hielt. Neben
der Trommel ist das wichtigste Stück der ganzen Schamanen-
kleidung die Mütze, von welcher allgemein angenommen
wird, daß sie der Sitz der dem Schamanen dienstbaren
überirdischen Macht istx). Sie ist mit eisernen Bügeln
und Hörnern, sowie mit Messingglocken verziert, und rings
herum hängen von ihrer Spitze eine Menge von Streifen
ans dem Felle von Bären, Zobeln, Vielfraßen, Wölfen,
Füchsen und anderen Thieren herab. Wenn der Schamane
nun bei seinen Tänzen, wie das zu geschehen Pflegt, heftig
den Kops schüttelt, so erklingen die Schellen, die Fellstreifen
aber fliegen ihm wie Schlangen um Haupt und Schultern
und verleihen ihm ein wahrhaft unheimliches Aussehen.
Im Inneren der Mütze befinden sich zwei starke und breite
Lederstreifen, welche über die Backen gelegt und unter dem
Kinn derartig befestigt werden, daß es allerdings schwierig
ist, die Mütze durch einen auch recht kräftig geführten
Schlag vom Kopfe zu entfernen. Uebrigens dienen die er-
wähnten eisernen Bügel und Hörner dazu, die Wucht dieser
Schläge derartig abzuschwächen, daß sie dem Getroffenen
keinen Schaden thun. Bei länger dauernden Ceremonien
pflegt in den Zwischenpausen an die Stelle der eben be-
schriebenen Kopfbedeckung eine weniger schwere und große
zu treten, damit der Schamane sich von der ihm aufliegenden
Last einigermaßen erholen kann, Nach Beendigung einer
Schantanenhandlnng ist cs nicht erlaubt, die heiligen Kleider
auf den Erdboden oder in den Behälter, der sie sonst ein-
schließt, zu legen, sondern sie müssen erst einige Zeit lang
aufgehängt werden.
Wie dem Reisenden mitgetheilt wurde, verehren die
Golden als h L ch st e s, s e g e n s p e n d e n d e s Wesen die
Sonne; neben ihr aber außerdem als dem Menschen
freundliche Mächte den Mond, den Gott des Wassers
oder besser gesagt den Amur ström und endlich einen
Waldgott, also neben den Tag und Nacht regelnden Ge-
stirnen diejenigen Dinge, welche ihnen das Dasein
überhaupt ermöglichen. Wie auch bei anderen, dem
Schamanismus ergebenen Völkern scheint bei den Golden
sich die Verehrung dieser guten Gottheiten in
kultischer Beziehung auf ein Minimum zu
b c s ch r ä n k e n, denn inan meint, daß sie ohnehin schon
bereit fiub, dem Menschen nur Gutes zu Theil
werden zu lassen, und daß man sich vielmehr un-
ablässig bemühen müsse, die bösen Geister milde zu stimmen.
Daher bringt man dem höchsten Wesen nur zweimal
im Jahre ein Opfer dar, welches in einem schwarzen
Schwein zu bestehen pflegt. Zum Zwecke der heiligen
Handlung versammeln sich an den betreffenden Festtagen die
Golden eines bestimmten gottesdienstlichen Distriktes gegen
Sonnenaufgang auf einer Lichtung des Waldes, wo in der
Nähe eines durch besondere Größe und Schönheit ausge-
zeichneten Baumes zwölf starke Pfähle in den Boden ein-
geschlagen sind. Hier tobtet der Schamane das zum Opfer
bestimmte Schwein, besprengt mit dem Blute desselben die
Pfühle und eröffnet dann, nachdem auch die Aeltesten der
Golden die heiligen Pfähle besprengt haben, ein Opfermahl,
bei dem cs höchst fröhlich zugeht. Als besondere Ehren-
I Daraus erklärt sich auch die Unfähigkeit des Schamanen,
nach vollbrachter heiliger Handlung die Mütze mit Aufwendung
rein irdischer Mittel von seinem Haupte zu entsernen.
gäbe steht bei diesem Opfermahle dem Schamanen der Kopf
des Schweines zu. Zur Zeit des Mondwechsels pflegen
die Golden das Nachtgestirn mit stillen Gebeten zu
verehren, zu deren Vollbringung jeder einzelne auch ohne
die Unterstützung des Schamanen berechtigt und befähigt ist.
Dem Amur werden als Opfergaben hölzerne Fische dar-
gebracht, deren Rücken schüsselförmig ausgehöhlt und mit
Hirse angefüllt sind. Ein solches feierliches Opfer findet
alle Jahr einmal von Seiten ganzer Distrikte statt; daneben
aber vollzieht ein ähnliches auch jeder einzelne Angehörige
des Volkes, wenn er, um sich günstigen Fischfang zu ver-
schaffen, es für nöthig hält. Bei diesen Einzelopfern soll,
wie Jakobsen berichtet, nur die Hirse in den Fluß geschüttet
werden, während der Holzfisch, nachdem man seine Höhlung
mit Steinen angefüllt hat, am User niedergelegt wird. Was
letzteres Verfahren bedeuten soll, weiß ich nicht zu erklären;
denn sollte etwa das Gefäß für späteren Gebrauch aufbe-
wahrt werden, so geschähe das ohne Zweifel weit sicherer
im Hause des Opfernden, oder sollte etwa beabsichtigt sein,
daß sich der Fluß bei höherem Wellenschläge oder Wasser-
stande selbst den Holzfisch aneignete, so würde dieser Erfolg
doch viel bestimmter erreicht, weitn man ohne Weiteres zu-
gleich mit dem Inhalte die Schale versenkte. Wahrschein-
lich liegt hier ein Mißverständniß von Seiten des Reisenden
vor, wie es bei der immerhin großen Eile, welche er beim
Sammeln seiner Nachrichten anwenden mußte, wohl unter-
laufen konnte.
Neben diesen ohne Bild verehrten vier höchsten Wesen
existiren noch eine Menge von anderen guten
Mächten, welche, tu der Gestalt von Thieren
u n d M e n s ch e n a b g e b i l d e t, i n j e d e m G o l d e n h a u s e
gefunden werden. Alle diese Götzenbilder siild roh aus
Holz geschnitzt oder sie werden aus Stroh angefertigt, hin
und wieder findet man auch wohl ein Thierbild aus Metall
oder eine Puppe aus Fischhaut. Es würde unmöglich sein,
alle die bei den Golden vorkommenden Götzen aufzuzählen;
ich beschränke mich daher aus einige wenige, welche von
besonderer Bedeutung sind. So steht an der Wand der
Vorderseite des Hauses eine etwa 70 cm hohe weibliche
Gestalt, welche als Beschützerin des Hauses gilt. Dieselbe
Bedeutung hat in anderen Gegenden ein ziemlich langer
Stab, der hin und wieder auch mit Schnitzerei verziert ist
und im Inneren des Hauses aufgestellt ist. Andere schon
oben beschriebene Frauengestalten gelten als Beschützerinnen
der kreisenden Frauen; andere als Beschützer der Kinder,
an deren Wiegen übrigens auch kleine Puppen aus Fisch-
haut befestigt werden, welche demselben Zwecke dienen sollen.
Besonders bemerkenswerth ist es, daß mau für den Fall,
daß von Zwillingen das eine Kind stirbt, zum Schutze des
überlebenden einen besonderen Götzen verwendet, nämlich
eine kleine Männergestalt mit schwarzem Hute. Auch als
Schutzgott für die Pferde dient ein besonderer Götze, ebenso
wie ein hölzerner Vogel als Helfer bei der Jagd angefleht
wird. Am zahlreichsten sind die Fischgötter vertreten,
welche zunächst als hölzerne Fische erscheinen, und zwar so,
daß deutlich Lachse, Störe, Schleien, Hechte und andere
von einander zu unterscheiden sind. Daneben findet man
Menschengestalten, sowie Tiger unb Bären aus Stroh H
und Holz, unter denen sich die Tiger durch ihre eigenthüm-
liche, bei allen Golden typisch gewordene Gestalt auszeichnen.
I Diese Strohfiguren werden nach Jakobsen's Mittheilung
von den Frauen angefertigt, das heißt wohl von L> ch am a u i n n e n
(s. unten), wie sie, um das hier noch nachträglich zu erwähnen,
bei den Golden neben den männlichen Gliedern der Zunft er-
scheinen. Uebrigens verrichten diese weiblichen Schamanen
gerade so wie die sogenannten kleinen Schamanen
vor allem den Dienst von Aerzten.
Aus allen Erdtheilen.
223
Auf den ersten Blick möchte man sie für Krokodile halten,
doch steht dem nicht nur der Umstand entgegen, daß Krokodile
den Golden völlig unbekannt sind, sondern auch die aus-
drückliche Erklärung der letzteren, daß diese Figuren Tiger
bedeuten sollen. Dabei ist es nun im hohen Grade merk-
würdig, daß die Verwendung des Tigers als Fisch-
götze und als Amulet gegen Krankheiten nach
Norden hin nur bis zum Gorin reicht, während jen-
seits desselben bei dem oben besprochenen Uebergangsvolke
und den Giljaken der Bär an seine Stelle tritt. Es
hängt diese Erscheinung damit zusammen, daß der Gorin
in dieser Gegend die nördliche Grenze des Ver-
brcitnngsbezirkes des den Golden so furchtbaren
Thieres bildet, während an dem Nordufer des Stromes
der Bär als Herrscher über die Thierwelt eintritt. Die
Golden, welche die Stärke des Tigers an sich selbst zu
erfahren so oft Gelegenheit haben, zollen ihm göttliche Ver-
ehrung, ihre nördlichen Nachbaren, welche seine Macht gar
nicht oder doch nur von Hörensagen kennen, versagen sie
ihm i). Die Fischgötter werden, ehe man auf den Fang
auszieht, um Hilfe und Segen angefleht. Fällt der Fang
reichlich aus, so schreibt man ihnen den Erfolg zu und be-
lohnt sie mit Opfern, die darin bestehen, daß man ihnen
das Maul mit dem Fette oder Blute von Fischen bestreicht
oder sie mit Flossen schmückt; bleibt dagegen der erbetene
Segen aus, so entzieht man den Fischgöttern die Verehrung
und fertigt neue, welche vielleicht bei der nächsten Gelegen-
heit schon wieder anderen den Platz räumen müssen -). Daher
trifft man dieselben überall bei den Golden in großen Mengen
an, und so ist cs denn auch Jakobsen gelungen, eine ganze
Anzahl derselben zu erwerben.
Nur selten stellt ein Golde die in seinem Hause befind-
lichen Götzenbilder oder Amulete selbst her, sondern er läßt
sie von dem Schamanen anfertigen und bezahlt sie ihm mit
hohen Preisen. Uebcrhaupt wissen auch bei diesem Volke
die S ch a m a n e n ihr G e w e r b c gründlich 5 u i h r e r
Bereicherung zu benutzen, wie sie z. B. den größten
ff Erwähnen will ich hier, daß als Idol die Schildkröte
bei den Golden nur in der Nähe der Mündung des Ussuri
von Jakobsen constatirt ist, und daß dies gerade die Stelle ist,
wo meines Wissens allein ini Amurgebiete die Schildkröte vou
Schrenck nachgewiesen ist.
ff Wir haben es hier sowie in dem Glauben der Golden
an die Heilkraft der oben besprochenen Amulete mit den deut-
lichen Resten des früher auch bei ihnen herrschend gewesenen
Fetischismus zu thun.
Theil der immerhin beträchtlichen Kosten, welche die Ueber-
führung der Seelen in das Jenseits erfordert, für sich ein-
heimsen oder bei Krankenheilungen und Prophezeiungen
schon ihren Lohn in Empfang nehmen, bevor sie die religiöse
Handlung vollziehen, um im Falle des Mißerfolges ihres
Gewinnes nicht verlustig zu gehen, was allerdings bei der
allen Golden eigenthümlichen Furcht vor der Macht dieser
Zanbcrpriester selten genug vorkommen würde.
Zum Schluffe will ich noch eine Sage des Volkes
über seine Entstehung mittheilen. Vor langen
Zeiten, heißt cs, lebte in dem Lande, welches jetzt die Golden
bewohnen, ein Held von gewaltiger Größe und Körperstärke.
Dieser Mann litt ganz außerordentlich unter der Hitze, die
damals auf der Erde herrschte. Denn es gab nicht wie
heute nur eine Sonne, sondern drei, welche mit ihren
sengenden Strahlen alles Leben auf der Erde zu ersticken
drohten. In Folge dessen gab es auch nur wenig Wasser,
und wenn einmal ein Fisch es wagte, aus dem Wasser
hcranszuspringen, wie sie es heute au schönen Tagen so gern
thun, so büßte er seine Kühnheit sicher mit dem Tode.
Ebenso gingen viele Thiere des Waldes durch die Sonnen-
gluth, welche allen Pflanzenwuchs zerstörte, elend zu Grunde.
Da faßte eines Tages der Held den Entschluß, diesem
unerträglichen Zustande ein Elide zu bereiten, und ging
schnell an die Ausführung desselben. Eines Abends, als
die Sonnen zur Ruhe gegangen waren, stieg er mit Pfeil
und Bogen bewaffnet auf einen hohen Berg und erwartete
hier den Anbruch des Tages. Als nun die Sonnen eine
nach der anderen am Himmel empor stiegen, spannte er
mit gewaltiger Kraft seinen Bogen und durchschoß die erste
und die zweite mit seinen Pfeilen, so daß sie erloschen und
herabfielen. Nun wurde cs auf der Erde erträglich; überall
sprudelten frische Quellen ans der Erde hervor und füllten
die Flüsse, in welchen die Fische fröhlich ihr Wesen trieben,
und Gras und Bäume gediehen herrlich den Thieren des
Waldes zur Nahrung. Zuerst freute sich der Held dieses
frischen, fröhlichen Lebens, aber bald wurde es ihm einsam
inmitten aller der Herrlichkeit, denn es gab außer ihm keine
Menschen. Da fand er bei seinen Irrfahrten im Lande
einen mächtigen Baum, an dessen Zweigen runde, glänzende
Scheiben hingen, von welchen er mit sicherem Schusse eine
herunterholte. Kaum berührte dieselbe den Erdboden, so
verwandelte sie sich in ein menschliches Wesen, das Weib.
Der Held nahm dasselbe zu sich, sie lebten als Mann und
Weib, und von ihnen stammen die Golden.
Aus allen
Europa.
— Ein nicht vom geographischen, aber vo>n statistischen
und volkswirthschaftlichen Standpunkte interessantes Buch ist
Rudolf Bergner's „Rumänien. Eine Darstellung
des Landes und der Leute" (Breslau, I. U. Korn's
Verlag. 1887. Preis 10 Mk.), schon darum, weil unsere
Litteratur über dieses Reich überaus dürftig ist. Der erste
Theil bietet in unterhaltender Form Reiseschilderungen, der
zweite wissenschaftliche, namentlich statistische Daten und
Tabellen, die zum Theil auf officielle oder officiöse Quellen
zurückgehen. Das Ganze ist mit ersichtlicher Vorliebe für
die Rumänen geschrieben, ohne die Schattenseiten zu ver-
schweigen. Bergner führt uns zuerst nach der Villcnstadt
E r d t h e i l e n.
Bukarest, die gegen früher an Civilisation bedeutend gewonnen
hat, dann nach Jassy, diesem Jndeuneste ersten Ranges.
Die Opposition der rumänischen Regierung gegen die Juden,
von deren Schmutz, Aberglauben und Wucher er Unglaubliches
berichtet, billigt er durchaus (S. 77); übrigens werden die-
selben nur in der nördlichen Moldau zur Plage — in der
Walachei finden sic sich nur vereinzelt (S. 167). Bergner
behauptet (S. 349), daß die Bevölkerung solcher Städte, wo
die Zahl der Israeliten die der Christen übertrifft, in dem-
selben Maße abnimmt, als die der Juden wächst, während
die rumänische Rasse, die städtische Bevölkerung der Walachei
sowohl, als auch die der Dorfgemeinden im ganzen Reiche,
sich beständig vermehrt. — Dann wird ein Ansflttg in die
Karpathen erzählt, das zurückgehende Galatz, das aufblühende
224
Aus allen Erdtheilen.
Braila und Konstanza (Küstendsche) geschildert, dessen Ausfuhr
seit den zwei letzten Jahren um 100 Proc., dessen Einfuhr
um 300 Proc. gestiegen ist und für dessen Hafen die Kammer
unlängst 20 Millionen Lei bewilligt hat. — Mit der Er-
werbung der Dobrudscha hat Rumänien ein schlechtes Ge-
schäft gemacht: es mußte einige Hunderttausende seiner Söhne
und Töchter mit Bessarabien abtreten und erhielt dafür eine
klägliche fremdartige Bevölkerung in der Dobrudscha, die un-
ablässig bestrebt ist, dem Lande den Rücken zukehren (S. 157).
Namentlich die Tataren wandern nach Osten aus; in un-
ergiebigen Jahren, weil sie sich unglücklich fühlen, in ergiebigen,
weil sie alsdann Reisegeld haben. Das erklärt die erschreckende
Bevölkerungsabnahme der Dobrudscha: von 250 000 Seelen
ist die Bevölkerung ans 170 000 gesunken (S. 148 f.). Ans
dem zweiten Theile heben wir hervor die Abschnitte über die
zahlreich vorhandenen Heilquellen (S. 262 ff.), die Ortschafts-
statistik (S. 305 ff.), die Bevölkerung (S. 351). Im Ganzen
ist es nicht gerade ein durchaus erfreuliches Bild, welches
vor uns aufgerollt wird, es zeugt nur für die unerschöpfliche
Lebenskraft des Landes, wenn seine Finanzen sich verhältniß-
mäßig in gutem Stande befinden. Denn Ackerbau, Weinbau,
Viehzucht sind heruntergekommen und ebenso der Verbesserung
bedürftig, wie die gesammte Lage der Bauern (S. 380).
Der Salzexport ist zwar groß, Wälder noch reichlich vorhanden
und die freie Jagd ergiebig, aber sonst existirt ebenso wenig
ein Bergbau als eine Forstwirthschaft oder ein Jagdgesetz.
Die rumänische Industrie befindet sich noch in den ersten
Anfängen, abgesehen von den Ausländern gehörigen Fabriken;
der Handel ist blühend, aber gleichfalls meist in den Händen
von Ausländern. Dagegen befriedigt die Entwickelung der
Eisenbahnen und der Schiffahrt durchaus. Mancherlei be-
darf in Rumänien noch der Besserung, aber die Aussichten
für die Zukunft sind die schlechtesten nicht.
Aste n.
— Der zwischen Großbritannien und China bezüglich
Birmas und Tibets am 24. Juli 1886 abgeschlossene
Vertrag, dessen Ratificationen am 25. August d. I. in
London ausgewechselt wurden, hat im Wesentlichen folgenden
Inhalt: „Art. I. Da bisher Birma alle zehn Jahre eine
Mission geschickt hat, um Prodncte des Landes zu überreichen,
so stimmt England bei, daß die höchsten Behörden Birmas
fortfahren sollen mit diesen alle zehn Jahre wiederkehrenden
Missionen, deren Mitglieder birmanischer Rasse sein sollen.
Art. II. China stimmt zu, daß England in allen Angelegen-
heiten, welche sich ans die gegenwärtig von England in Birma
ausgeübte Herrschaft und Autorität beziehen, Freiheit haben
solle, nach bestem Ermessen zu handeln. Art. III. Die
Grenze zwischen Birma und China soll durch eine Kommission
abgesteckt werden und der Grenzverkehr durch eine eigene
Convention festgesetzt werden. Beide Länder versprechen, den
Handel zwischen China und Birma zu ermuthigen. Art. IV.
Da die von der chinesischen Regierung eingeleitete Unter-
suchung ergeben hat, daß die in einem besonderen Artikel des
Vertrages von Tschifn vorgesehene Expedition nach Tibet
auf viele Hindernisse stößt, so verspricht England die Expe-
dition abzuberufen. Da die britische Regierung den Handel
zwischen Indien und Tibet zu beleben wünscht, so wird es
die Pflicht der chinesischen Regierung sein, nach sorgfältiger
Prüfung der Verhältnisse Maßnahmen zu treffen, um die
Bevölkerung zur Entwickelung des Handelsverkehrs anzuregen.
Falls es ausführbar ist, soll die chinesische Regierung dann
Handelsrcgnlative erlassen. Sollten sich aber unüberwind-
liche Hindernisse zeigen, so wird die britische Regierung nicht
in ungehöriger Weise darauf dringen." — Der letzte Abschnitt
in Betreff des indisch-tibetischen Handels ist so gut wie nichts-
sagend; aus seiner Fassung leuchtet offenbar Chinas feste
Absicht hervor, die von Großbritannien so lange und lebhaft
gewünschte Eröffnung Tibets auch jetzt noch nicht zu ge-
währen.
Afrisst.
— Das Reuter'sche Bureau hat ans St. Paulo de Loanda
eine vom 9. September datirte Depesche empfangen, der zufolge
Major Barttclot, der mit einer Besatzung von etwa
100 Mann im Lager von Jambuga am Fuße der Strom-
schnellen des Aruwimi gelassen wurde, betreffs Stanley's
Expedition für den Entsatz von Emin Pascha folgende
Mittheilungen nach Leopoldville sandte: „Major Barttelot
empfing Nachrichten von Hrn. Stanley, die er etwa am
2. Juli nach einem zehntägigen Marsche von Aambuga nach
dem Inneren abgefertigt hatte. Zn dieser Zeit war Stanley
noch immer auf der Fahrt den Aruwimi aufwärts begriffen,
welchen Fluß er bis auf eine gewisse Entfernung oberhalb
der Stromschnellen schiffbar fand. Hier ließ er ein mit-
gebrachtes stählernes Walfischfangboot vom Stapel, sowie
mehrere Flöße, die von der Expedition angefertigt und für
den Transport des schweren Gepäcks bestimmt worden waren.
Sämmtliche Mitglieder der Expedition waren bei guter Ge-
sundheit, und Lebensmittel waren in den großen Dörfern
unweit des Flusses leicht zu erlangen. Das Land, welches
die Expedition passirte, zeigte eine allmähliche Steigung nach
einem etwas hoch gelegenen Taffellande. Eine andere Kara-
wane von 480 Mann folgt der Expedition am linken Ufer
des Aruwimi. Die aus 40 Sausibarern bestehende Vorhut,
unter Führung des Lieutenants Stairs, ist aus leicht bepack-
ten Mannschaften zusammengesetzt, deren Aufgabe es ist, nach
Proviant zu forschen. Stanley hoffte etwa am 22. Jnli im
Mittelpunkt des Distrikts Mabodi anzukommen uitb er-
wartete, Wadelai Mitte August oder früher zu erreichen. Der
Vorstoß vollzog sich so friedlich, daß Stanley den Major
Barttelot instruirte, daß, sollte dies fortdauern, er ihm in
Kurzem Befehle senden würde, der Expedition an der Spitze
der in Pambnga zurückgelassenen 100 Mann auf derselben
Route zu folgen." Major Barttelot hatte, begleitet von
Tippo Tip, die Wasserfälle besucht und eine Abtheilung
von 20 Mann daselbst zurückgelassen. Tippo Tip kam am
16. Juni an der Station der Wasserfälle an. (A. Z.)
Inseln des Stillen Oceans.
— Ein Telegramm ans Cooktown überbringt der Ncn-
Guinea-Compagnie in Berlin die Nachricht, daß eine Wissen-
schaft l i ch e F o r s ch u n g s e x p e d i t i o n unter Führung des
Dr. Schräder an Bord des Seedampfers „Samoa" den
Kaiserin-Augusta-Fluß bis 141** 48' östl. L. befahren
hat. Die frühere Fahrt des Dampfers „Ottilie" erstreckte
sich auf ungefähr 200 Seemeilen, während jetzt der Strom
auf eine Länge von etwa 260 Seemeilen schiffbar befunden
worden ist.
Inhalt: Dösirü Charuay's jüngste Expedition nach Pucatan. II. (Mit fünf Abbildungen.) — Prof. H. Kiepert: Hans
Dernschwam's orientalische Reise 1653 —1555. III. — Otto Genest: Kapitän Jakobfen's Reisen im Lande der Golden. IV. (Schluß.)
— Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion am 13. September 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Wri besonderer Herüebsrchtlgung der Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Desire Charnay's jüngste Expedition nach Uncatan.
in.
sSämmtliche Abbildungen nach Photographien.^
An demselben Platze, wie die verwüstete Kathedrale, liegt
auch das Stadthaus von Valladolid, ein Gebäude ohne
jede Originalität, aber auch ohne Prätention, in welchem
die Bureaux des Magistrats, der Präfektur, die öffentliche
Bibliothek und ein Wachlokal vereinigt sind. In letzterem
waren damals die mit der Vertheidigung der Stadt be-
trauten Milizen untergebracht. Sonst bietet Valladolid
nichts Bemcrkcnswerthes, abgesehen von seinem (ieitote,
einer geräumigen und tiefen Grotte; dieser Teich gehört mit
seinen Felsstürzen, feinen Höhlen, Stalaktiten und dem
schönen Spiegel klaren grünlichen Wassers, in welchem
hübsche schwarze Fische spielen, zu den schönsten und
malerischsten der ganzen Halbinsel. Tie Fische waren
schuppenlos und von glatter Haut und gehörten zur Familie
der Siluroiden; die größten maßen 18 bis 20 cm Länge.
Sie haben auf beiden Seiten des Bauches zwei Stacheln,
welche eine gefährliche Verletzung erzeugen sollen; die Haut
ist glatt wie beim Aal und färbt die Hände beim Anfassen
stark roth und Alkohol rosafarbig. Sie waren so zutraulich,
daß Charnay mit einem rohen Angelhaken rasch ein Dutzend
derselben sing, die ein treffliches Gericht abgaben und im
Geschmacke an den Aal erinnerten; als er aber am folgenden
Tage nach dem Cenote zurückkehrte, um sich ein frisches
Gericht zu angeln und etwa auch einige Exemplare für das
Pariser Museum zu erbeuten, biß kein einziger Fisch,
offenbar durch Erfahrung gewitzigt, mehr an.
Was die Einwohner der Stadt Valladolid anlangt,
so stimmt Charnay mit allen früheren Berichterstattern in
dem Lobe ihrer Herzlichkeit, ihres Wohlwollens und ihrer
Gastfreundschaft überein. Sowohl der oberste politische
Beamte, als auch der militärische Befehlshaber stellten sich
Globus LII. Nr. 15.
ihm zur Verfügung; Oberst Traeonis überließ ihm für die
ganze Dauer seines Aufenthaltes ein mit Möbeln aus-
gestattetes Haus und sein Freund Manuel Herrera diente
ihm bei allen Ausflügen als Führer. — Als Typen der
Bevölkerung mögen die auf unserer dritten Abbildung dar-
gestellten Personen dienen: vorn sitzen der indianische
Häuptling Aniceto Znl, einer von denjenigen, welche im
Jahre 1886 wiederum die Offensive ergriffen hatten, und
neben ihm der yucatekische General Cantón; dahinter steht
ein Mestize und ein Indianer, letzterer, sowie sein Häupt-
ling, leicht an ihren Zügen und ihrer Kleidung kenntlich.
Tie Nachrichten vom Kriegsschauplätze lauteten schlecht;
die Regierungstruppen waren in drei ans einander folgenden
Gefechten geschlagen worden, und in Folge dessen herrschte
allgemeine Aufregung und alle Verbindungen waren unter-
brochen. Der geplante Besuch der Ruinenstätte Koba war
dadurch für Charnay unmöglich geworden; denn es befand
sich in der ganzen Stadt kein einziger Soldat mehr, der ihn
hätte begleiten können, und die Möglichkeit, sich allein dorthin
zu begeben, war einfach ausgeschlossen. Valladolid war nur
von einigen Hunderten rasch bewaffneter, aber ganz un-
geübter und fast munitionsloser Milizen beschützt, so daß
unter seinen Einwohnern große Bestürzung herrschte, denn
dieselben glaubten, daß das Endziel der Indianer eine neue
Plünderung ihrer Stadt sei. In ruhigen wie in Kriegs-
zeiten hatte man ein Signalsystem eingeführt, welches darin
bestand, daß man rings in der Umgegend dort, wo sich die
Indianer am wahrscheinlichsten nähern würden, Posten im
Walde versteckte, welche Tag und Nacht dort aushielten und
beim geringsten Anzeichen vom Heranrücken des Feindes
die Lunte einer gefüllten Bombe anzuzünden hatten. So-
29
Das Stadthaus' in Valladolid
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Incatan.
227
bald dieselbe platzte, steckte der nächste Posten die seinige an,
dann der dritte, der vierte u. s. f., so daß die Einwohner
der Stadt und der umliegenden Dörfer gewarnt wurden
und sich für den Angriff vorbereiten konnten. In einer
Nacht nun hörten die Wachtposten den Knall einer solchen
Bombe oder glaubten ihn wenigstens zu hören und bald er-
tönte auch die Sturmglocke; Charnay, der nichts ahnte,
wachte davon auf und sah bald darauf sein Zimmer von
den zum Theil weinenden Frauen des Hanfes erfüllt; nun
erst erfuhr er den Grund des Alarms. Nasch kleidete er sich
an und begab sich durch die finstere Negennacht nach dem
Rathhause, lleberall liefen Leute umher, um Nachrichten
einzuziehen, und ganze Familien flüchteten sich schon in die
Kathedrale. Als der Tag anbrach und sich keine Indianer
zeigten, wurde man ruhiger und fing an, jenen Bomben-
knall für problematisch zu halten. Allmählich nahm die
Stadt dann wieder ihr gewöhnliches Aussehen an. Char-
nay aber, welchen! der Jndianerangrifs den Besuch von
Koba vereitelt hatte, sollte durch eine andere Entdeckung
mehr als entschädigt werden. Als er sich, unglücklich über-
fein erzwungenes Nichtsthun, bei denjenigen Einwohnern
der Stadt, welche sich mit Antiquitäten abgaben, nach alten
Denkmälern erkundigte, theilte ihm einer derselben, Don
Juan ^Medina, mit, daß in den Wäldern seiner Hacienda
Ek-Balam, etwa 30km nördlich von Valladolid, also
gänzlich außerhalb des Bereiches der Indianer, zahlreiche
Pyramiden mit theilwcise noch aufrecht stehenden Monnmen-
ten und Gewölben vorhanden sein sollten; der Besitzer selbst
aber hatte noch nichts davon gesehen. Die ganze Mittheilung
beruhte nur auf Hörensagen; aber der indianische Name
Ek-Balam, d. h. der schwarze Tiger, schien vielversprechend.
So reiste Charnay in einer Volaucoche dorthin ab; der
abscheuliche Weg führt gerade nördlich über Tizimin, bei
keinem Dorfe, sondern nur bei spärlichen armen Hacienden
Cenote von Valladolid.
und einfachen Ranchos vorbei. Die Vegetation zu beiden
Seiten war um so schöner. Um fünf Uhr Morgens waren
Charnay und Don Juan von Valladolid abgefahren, um
9V2 Uhr trafen sie bereits auf der Hacienda Ek-Balam
ein. Ein weiter, von indianischen Hütten umgebener Platz
liegt vor dem Hofe der Hacienda, in seiner Mitte erheben
sich zwei mächtige Ceibas und verbreiten in der heißen
Jahreszeit angenehmen Schatten. Zwei Höfe für das Vieh,
eine kleine, mit Kokospalmen bepflanzte Huerta und ein
langes strohgedecktes Gebäude, das als Wohnung und Vor-
rathsraum dient, bilden die ganze Ansiedelung.
Nach einem einfachen Frühstücke machten sich die beiden
Herren auf den Weg nach den Ruinen, voran zwei Indianer
mit Waldmessern, um ihnen den Weg zu bahnen. Etwa
1 km von der Hacienda zeigen sich zahlreiche Pyramiden,
von jeder Größe und wie durch Zufall umhergestrent;
weiterhin andere, bedeutendere, im Viereck angeordnet, mit
Ruinen und zum Theil noch aufrecht stehenden Bildwerken
bedeckt. Eine große Entdeckung! Sofort kehrte Charnay,
ohne auf die Bemerkungen seines Begleiters zu hören, nach
Valladolid zurück, um seine Instrumente und seinen photo-
graphischen Apparat zu holen und damit eine vollständige
Durchforschung der Ruinen vorzunehmen. Mit Don Juan
wurde ein Vertrag wegen der zu stellenden Arbeiter ab-
geschlossen, und am dritten Tage befand sich Charnay wieder
in Ek-Balam. Während sich die Indianer unter Leitung
des Don Manuel Herrera au die Ausgrabung der Denk-
mäler machten, durchwanderte Charnay die ganze Stadt
des schwarzen Tigers und machte auf Schritt und Tritt
neue Funde und Entdeckungen. Dieselbe muß einst ein be-
deutender Ort gewesen sein; sie enthält Denkmäler von der
uns bereits genugsam bekannten Art und ist verhältnißmäßig
modern, denn sie gehörte mit Choaca, Ake, Koba jenen öst-
lichen, von dem Eroberer Montejo besuchten Städten zu jener
Gruppe größerer und kleinerer Ortschaften, welche zur Zeit
der Conquista blühten und sich nach dem Sturze der beiden
2W
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Aucatan.
großen Herrschcrfamilien, d. h. nach dem Falle des Tolteken-
rciches, unter Maya-Häuptlingen entwickelt hatten.
Eine Menge zerstreuter Pyramiden umgiebt in Ab-
ständen von 100 bis 300 m den Kern der Stadt selbst,
welcher ans einem gewaltigen rechteckigen Platze von 80 und
100 m Seitenlange besteht. An seinen vier Hauptecken ist
derselbe von verschiedenen Gebäuden eingefaßt. Im Westen
erhob sich ans einer gemauerten Esplanade von 75 in Länge,
40 m Breite und 5 bis 6 m Höhe ein 70 in langer Palast,
welcher den westlichen Rand der Esplanade einnahm.
Dieses Gebäude bestand aus einer doppelten Reihe kleiner
nicht zusammenhängender Gemächer, darin wie durch ihre
gleiche Größe Klosterzellen gleichend; es waren ihrer etwa
24, auf jeder Seite 12, und jedes 2 in breit und 5 rn lang.
Ihre Thüren sind schmal und innen mit Haken versehen,
an denen Matten zum Verschlüsse der Oeffnung aufgehängt
werden konnten. Eharnay hat dieses Bauwerk „Palast der
Nonnen" getauft, weil in allen alten Städten derartige
Amceto Bill und General Eanton.
Bauwerke mit zahlreichen Gemächern so heißen; in Uxmal,
wie in jeder anderen großen Stadt, gab es ja ein Collegium
von vcstalischcn Jungfrauen, welche mit der Unterhaltung
des heiligen Feuers betraut waren. Das Aussehen dieser
Ruine, seine Abmessnngen, seine Einfachheit, sein schmales
und wenig vorspringendes Gesims bringen Eharnay zu dem
Glauben, daß der obere eingestürzte Theil ebenso kahl, wie
die untere Hälfte der Mauer, und nur mit Malerei verziert
war. Das zeigt also einen ganz anderen Charakter, als
' jene gewaltigen Bauten von Chichen, Uxmal und Kabah
mit ihrem massiven Material, den vorspringenden Gesimsen
und der prächtigen Dekoration, welche die Gebäude von
oben bis unten bedeckte; an Stelle der einstigen großen
Fürsten sind jetzt zahlreiche unabhängige Kaziken getreten,
welche weder die Macht, noch die Mittel, noch auch den
Geschmack jener besaßen, sondern nur noch deren Werke in
ärmlicher und kleinlicher Weise nachahmten. Auch befanden
sich die Maya-Stämme bei Ankunft der Spanier entschieden
Däsirs Charnay's jüngste Expedition nnch Aucatan.
229
im Verfall; sie standen nicht mehr unter jener eisernen
Organisation, welche aus ihnen das gehorsamste aller Völker
gemacht hatte, und verfielen so rasch wieder in Barbarei,
daß, wenn die Spanier ein Jahrhundert später gekommen
wären, sie vielleicht nur noch Spuren der früheren Civili-
sation vorgefunden hätten.
Wie uns die Geschichtsschreiber berichten, hatten die
Mayas eine Vorliebe für die Einsamkeit und die Stille der
Wälder und flohen das Treiben der Städte und Dörfer;
das ist aber keine Eigenschaft eines civilisirenden Stammes.
Als beim Sturze der Toltekenherrschaft die Halbinsel in
eine Menge kleiner Fürstenthümer zersplitterte, war das der
Kleiner Tempel in Ek-Balam.
Ansang einer Rückkehr zu dem ursprünglichen wilden Leben > Theile ihre Freiheit wieder erlangt haben, sind sie in die
des Naturvolkes und heute, wo diese Indianer zum großen z Wälder zurückgekehrt und führen ein Leben der Jsolirung,
Ruinen des Palastes der Nonnen in Ek-Balam.
wie es für sic so großen Reiz hat — übrigens ein höchst
natürlicher Atavismus. Das Volk der Maya ist demnach
niemals civilisatorisch aufgetreten, sondern ist nur gewaltsam
durch eine fremde Nasse civilisirt worden, und die Denk-
mäler Pucatans sind auch nicht ans die Mayas zurückzuführen.
Nun zurück zu den Ruinen.
Zur Rechten des erwähnten großen Platzes, d. h. im
Osten und gegenüber dem Palastc der Nonnen, erhebt sich
eine große dreistöckige Pyramide, ans deren Spitze Charnay
spärliche Reste eines Tempels fand. Darunter entdeckte er
einen kleinen, mit Schutt erfüllten Raum, au dessen Thür
ein Theil der Ornamentik — ein Todtenkopf aus Stuck
230
Prof. H. Kiepert: Hans Dernfchwam's orientalische Reise 1553 —1555.
und Reste von Inschriften — erhalten war. Seine ur-
sprüngliche Vermuthung, es mit einem Grabe zu thun zu
haben, erwies sich aber nach dreitägiger Ausgrabung als
falsch: es war eine einfache Kapelle. Immerhin lieferten
die Arbeiten einige interessante Funde, darunter Bruchstücke
einer Terracottastatue, welche schwarz bemalt war. Viel-
leicht liegt darin eine Beziehung zu beut Namen der Stadt,
Ek-Balam oder Schwarzer Tiger, wie auch ihr Kazike hieß.
An der Südseite des Platzes, aber nur einen kleinen
Theil derselben aus-
füllend, liegt auf einer-
ziemlich niedrigen
Pyramide ein dop-
pelter Palast; die
beiden gleich großen
Bauwerke sind etwa
18 in lang und ent-
halten sedes vier ziem-
lich große Räume,
welche vielleicht die
Wohnung des Kazi-
ken darstellten. Auch
hier war die Aus-
schmückung ärmlich,
ohne Skulpturen und
nur ans bemaltem
Stuck bestehend.
Im Südosten des
Platzes liegen im
Walde ans einer schö-
nen Esplanade zwei
weitere Gebäude,
beide sehr klein, wahre
Kapellchen, davon
eine ganz zerstört,
die andere noch auf-
recht stehend, aber
in schlechtein Zu-
stande. Letztere er-
innert an ähnliche Tempel auf den Inseln Mngeres und
Cozumel, deren Heiligthümer zur Zeit der Conquista in
voller Blüthe standen; sie umschließt nur einen einzigen
Raum von 41/2 m Breite, 2,70 m Tiefe und 3 m Höhe,
war mit Stuck überzogen und weist über der Thür noch
Spuren von Inschriften auf.
Die ganze Nordseite des Platzes wurde einst von einer
Pyramide eingenommen, in welcher Charnay jedoch keine
Eine Milpa oder yucatekisches Ackerfeld.
Ausgrabungen vornahm, da sie nur aus Schutthaufen bestand.
Durch Dammschüttungen stand sie mit der östlichen Pyramide
in Verbindung; zwischen beiden wurden eine Anzahl sehr gut
erhaltener Cisternen gefunden, welche zur Aufnahme des von
den Esplanaden und Pyramiden abfließenden Regenwafsers
bestimmt waren. Davor breitet sich eine Milpa ans, d. h.
ein nach indianischer Weise bestelltes Feld, für dessen Anlage
der von den Vorfahren gereinigte und geebnete Stadtplatz eine
vortreffliche Stelle darbot. Um ein Feld herzurichten, beackern
die Indianer nicht
den Boden, wie man
es in Europa macht;
dazu wäre die felsige
Oberfläche Puca-
tans nicht geeignet.
Man begnügt sich
vielmehr damit, das
Gebüsch abzuschnei-
den und die Bäume
1 m über dem Erd-
boden umzuhacken,
was meist im Okto-
ber geschieht. Dann
läßt man beides bis
zum März trock-
nen und zündet es
bei Südostwind au.
Die große Menge zu-
rückbleibender Asche
düngt den Boden, in
welchen der Indianer
bei den ersten Regen-
güssen seine Mais-
körner legt; kommen
keine Heuschrecken,
was leider nur zu oft
geschieht, so darf er
einer reichen Ernte
entgegen sehen.
EflBalam ist, wie gesagt, Vertreter einer Epoche des
Verfalls, welche bisher unbekannt war, weil die Städte der-
selben in Folge ihres schlechten Materials, der Kleinheit
der Gebäude und der mangelhaften Banweise fast vollständig
zerfallen und verschwunden sind, weil ihre weniger schönen
Reste die Aufmerksamkeit der Reisenden weniger ans sich
zogen, und weil dieselben vom Centrum mehr entfernt lagen
und deshalb weniger besucht wurden.
Hans Dernfchwam's orientalische Reise 1553—1555
aus Handschriften im Auszuge mitgetheilt von Prof. H. Kiepert.
IV. (Schluß.)
1. April von 6 bis 3 uhr 5 ungr. meil in ein klein
dorflein D gier ms genamt, nicht so hoche perg als vor
dato, den ganzen tag das gestrige waffer gehabt und dardnrch
bis in 25 mal gefaren, scheint ein solch Wasser sein wie
die Wien, zu seiner zeit an ihm selbs klein, allein ein perg-
wasser, das vom regen und schnee groß wird. Die Jnwoner
sind solche barbari, daß sie nichts mehr wissen, ob es das
wasser Halis sey und wie es vor zeiten genannt gewesen.
Die Türken nennens alles Sn, das ist Wasser, und ungefehr-
lich von der stclle da es fur flentzt. Ein meil von dem
dorf bis ins nachtlager glitzend stein gefunden, soll alumen
squamosum oder lapis specularis fMarienglas) sein.
2. April. 6—12 uhr 5 ung. M. zn eim dorf, alda
kein mensch daheim gewest, heiht A ll i g w y s s H, erstlich
uber ein breiten berg, darnach uber ein wasser so von der
linken seiten von Septentrione fleutzt in das ander wasser,
0 Ali-göz, Auge (d. i. Quelle) Ali's?
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 — 1555.
231
darneben wir zogen und den ganzen tag zu der rechten
gehabt haben; obstandt zwirchwasser ist ein trieb nngeschmach
salniterisch Wasser, nach kupfer schmeckend, das fleußt von
eim kupferbergwerk, so auf der linken seiten gelegen bei einer
statt und schloß Kangri 4) genannt, soll Agi-su sAdschi-su,
„bitteres Wasser"^ auf türkisch heißen, wird das wasser
Halis sein, scheint ein bos Wasser sein. Alsbald wir über
das wasser Agi oder Halis gefaren sein um 9 uhr hat sich
ein wunderbarlichs geburg angefangen bis um 12 ur oder
weiter, ganz kahl von mehr färben und von alabastersteinen,
grauen und roten steinen, große adern, solche perge sinnd
lautr salz, graulich und weiß, wo man das erdrich kostt ist
es gesalzen und aus diesem salzbcrge ist ein wasserlin ge-
flossen, darüber wir auch gefaren, als breit daß man es
überspringen mag, dasselbig ist so gesalzen gewest, wie das
wasser zu Hall im Innthal, fleußt vergebens in das wasser
Halis, wenn man gleich gern wollt alda salz sieden, hat
man nit so viel holz daß man darbet kochen möcht 2). Die
Türken künden nichts zu nutz bringen, seind allein aufs
rauben geschickt. — In der ebene im that fleußt das wasser
Halis, dann muß man wider über ein geburge ■— ist all
nit schöner zn wünschen, allein daß kein holz noch wein hat.
Umb diese Zeit hat sichs angefangen, daß im dorf die paurn
alle ihre Heuser verlassen haben und sich mit ihrem Viech in
die geburg an die wasser lagern in Hutten. Das Wasser
darneben wir auf den 2 April am urfar sUeberfahrts
gelegen, ist ein trieb kalt tief wasser, breiter als die Gran
zn Gran oder der Main zu Frankfurt mag sein, heissen die
Türken an dcmselbigen ort Kaczul-Armut sKizil-JrmLks
ist sovil als rot wasser, soll aus den gcpurgen 'komm, die
wir zur rechten Hand gesehen, darbet) ein statt liegen soll
Znas sSiwnss genannt, alda vil Armenier. Die wasser
darüber wir von dato zweien tagen und auf dato gefaren
flicssen alle darein und machens also groß, wird das wasser
Halis sein, ist auf dato so groß als die Thunau zu Ofen
mag sein 3).
3. April. 6 bis 2 uhr 6 meil ungrisch, alles gegen
aufgang zogen in ein dorf genannt Cznkur - kuy 4). Das
gestrig wasser Halis den ganzen tag gesehn und auf der
rechten Hand gelassen und jcnhalb noch hocher schwarz ge-
purge und vil dorfer. Auf den seiten des Wassers den
ganzen tag berg und tal gefaren, zn der linken Hand das
kahl steinig salniterisch gepurge gelassen — und nber drei
bachlin die ans dem gepurge von links gekommn — an vil
orten seind die perge rot leimig erdrich, ein weil eng ein
1) Kjankari, vulgär Tschangri, das alte Gangra, noch
immer eine ansehnliche Stadt. Danach niuß der Weg, welchen
die Gesellschaft geführt wurde, das linke Ufer des wirklichen
Halys weit abwärts verfolgt haben, womit die Autorität der
Zeichnung des betreffenden Flutzlaufes durch den Ingenieur
Br tot, der ich in den angeführten Karten gefolgt bin, mit
ihren starken, durch Felsriffe gebildeten Flußkrümmungen aller-
dings schwer zu vereinigen ist.
2) Die von Hamilton (Travels in Asia Minor 1, 405)
beschriebenen Steinsalzlager von Tschajanköi gehören ziemlich
derselben Gegend an, liegen jedoch auf dem entgegengesetzten Ufer
des Stromes.
3) Der scheinbare Widerspruch hinsichtlich der Wasserfülle
erklärt sich durch die in diese Gegend treffende Einmündung
des größten südlichen Zuflusses des Halys, von dem wir nur den
türkischen Namen Delidsche-irnmk (toller Fluß) kennen. Doch
ist die Nergleichung mit der Donau eine starke Uebertreibung.
Man sieht, daß der Autor über die Identification des Halys
nicht von vornherein sicher gewesen ist, indem er diesen alten
Namen zuerst einem kleinen nördlichen Zuflusse beilegt; erst
zuletzt hat er das Richtige getroffen. Es ergiebt sich daraus,
daß das wahrscheinlich im jedesmaligen Nachtquartier nieder-
geschriebene Tagebuch keine spätere Redaktion seitens des Ver-
fassers erfahren hat.
4) So Wf., richtig Tschuknr-kjöi, „Grubendorf"; sonst
stark entstellt: Tr. Czakarkroy, Busbeek Goukurthoy!
weil breite theler, wohl angebaut mit traid. Seind an der
straffen durch ein dorf gefaren, alda der kayser vor etlich
tagen gelegen und waidwerk pflegt, Heist Kutlar-sarai. Die
ganzen straßen herein ist das volk verprcnt und schwarz
wie halbe moren, Halm scheusliche Weibsbilder übel durchaus
gekleidt. Mehr an den straßen kein antiqnitet gesehen,
darumb das irgends in dem land wenig stelle wesen sein
müssen, hetten sonst die alten steine alle zu ihren begreb-
nussen gefirt. In denen landen fehrt man nicht mit wagen,
kann auch nit überall fahren.
4. April fruc 6 bis 5 uhr, 7 bis 8 meil wegs bis
Zorom sTschornm, Czoram Tr. Chorou Bush.] ein lange
schwere tagreiß, über ein gesalzen bachlin, zwirchs fliessend
von dem geburge, darüber zwo hulzen pruggen beyeinand,
ist noch ein schons weits tal gewesen, dorfer auf den seiten,
angesceteselber und griene baumein ackern, dergleichen man
in etlich tagreisen nit gesehen hat. Darnach sind wir über
das wasser Halis zogen, ist gegen der linken Hand geflossen,
darüber ist ein hnlzene pruck neu gemacht 190 schritt lang
und 5 breit, hat von beiden seiten erhochte gelender 4), das
wasser ist rot und trieb, hat hoche urfer.
Darnach hat sich ein berg angefangen dergleichen lengern
und hochern wir auf der straffen nit zogen fein, anfcnglich
kahle falitterischc perg und gegen der hoche holz klein und
groß zerstreut, forchen oder kienbanm, kranawitbeerstanden,
auch standen wie segelbaum gestalt die habn solche schwarze
kranwetbern wie bey uns groß und Wohlgeschmack), weiter
ein gnell von gutem trinkwasser als auf der strassen vil tag
nit mag gewesen sein und über ein wasserte von den; gepirg
bey der statt Czoron gegen uns fliessend, darüber vor zeitcn
ein alt Römisch steinen prucklein gewesen.
Die türkische statt Czorom (Tschorum) wer draussen2)
mit einem dorfc gleich, hat kein maur umb sich, ligt under
einem berge, hat eine schone breite ebene und ackerfelder, kein
garten, haben zwo steinen Metzit gesehen. Bosen wein
hat man von eim armenischen dorf in die statt Pracht.
Wir sind gelegen bei irer begrebnus, die auf einem Hubel
liegt, darauf vil alter Colnmnen und an den Werksteinen
etliche kricchische unlesliche schriften 3 4).
5. April von 6 bis 11 uhr in ein dorf Alwan
Czelibi sTschelebi) von wegen der Derwisch-wohnung
nennen sie es auch Dekc (Tekhie ?r.4), das ist Derwisch-
closter und cinsidlen; erstlich ein weil von Zorom ein eben
that bis an zwei kleine bachlin zwcrchs über fliessend, danach
lauter kahle steinige gepurge und auf den seiten noch hochere
schncegebnrge gesehen, hat kein holz denn allein irgends ein
kienbanm weit von dem andren. Im dorf ist ein hnlzene
Meczit, alda haben die Derwisch ein kirchen von steinen
schlecht gebaut, die von alten gepeuen gerissen, also unge-
fehrlich gestalt; darin wohnen 5 paurn und narren, die sich
4) Unzweifelhaft dieselbe, welche jetzt der von Jskclib nach
Jozqad und Kaisarie führenden Hauptstraße dient; weiter ab-
wärts, wo der Halys in enge Felsschluchten tritt, ist ein Fahr-
weg längs des Flusses überhaupt nicht mehr möglich. (Nach
G. Hirschfeld's Lokaluntersuchung 1884.)
2) Er meint: in europäischen Ländern. Aehnlich angeekelt
äußert sich vor einem halben Jahrhundert Hamilton (Travels I,
378), welcher glaubte der erste europäische Besucher zu sein, und
neuerdings Humann (a. a. O. S. 85).
3) Lesbar nur die nach Dernschwam's Copie 0.1. Gr. III,
4105 edirte.
4) Thekethioi (statt Tckke-kjöi „Klosterdorf") bei Busbeek
und auch Hamilton hat keinen anderen Namen gehört, Perrot
1861 dagegen den wirklichen nach dem mohammedanischen
Heiligen, den er wohl nach moderner Aussprache Evlen-Tchelebi
schreibt; als S ch eich-'Alw an-Tekkij ess i kennt das Kloster
schon die beste Autorität, der Fortsetzer des türkischen Geographen
Hadschi-Chalisa (Dschihannüma, türkische Ausg. Const. 1732,
S. 625). Das Eindringen in das Innere des Heiligthums ist
nur der Gesandtschaft, keinem neueren Reisenden gelungen.
232
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553—1555.
der almusen, heimblicher rauberei und aller schelmerei und
buberei behelfen. 1) der schelmen sanctuarium, darin sie
beten mit decken überlegt, hat oben ein hulzen poden mit
erbrich überschütt, auswendig ist ein grosser stein in der
hoche eingemauert, darauf ein kriechisch Epitaphium gestan-
den, 2 und 3 abseilen, 4 der eingang in die runde oben
gewelbt, 5 ist daran gepaut, darin ein erhaben grab mit
planen zamlot bedeckt, darüber ein weiße stol und türkischer
band gelegt, 6 daran ist noch ein stöckle paut mit drei
runden gewelben, darin auch ein grab, soll S. Jorgen freund
sein gewesen. Von keinem heiligen wissen die Türken nicht
als von S. Jorgen, den sie neunen Chedir-Jles, das er
sei gewesen in den Lande Cappadocia ein berühmter ritters-
man und daß er nicht gestorben sei und noch lebe und
wer ihn anruft, meß glaubens er sei, demselben hilft er.
Sie sagen auch von einem Drako, der alda gewohnt habe
ans dem Perge, ist oben in der hoche ein zeichen 6 schritt
lang mit steinen gelegt, als lang der Drako gewesen soll
sein, linder dem perge ein weißer marmelstein, darin
sieht man wie Hufeisen, soll S. Jorgen mirakel sein. Die
Derwisch haben anzeigt, wie S. Jorgen roß an den ort mitten
in ihr kirchen ein Wasser aufsteigt in ein stein, das sein
roß alda mit dem fuß das Wasser erweckt habe, das doch
von anderswo, wie wir die locher gesehen, dahin geleit ist.
lind daß dieselbige gegend einem Herrn oder kunig hab zu-
gehört, nachend von obstandeni dorf Balwan Czelibi gelegen,
ist genannt AllekatJ soll ein große statt sein gewesen,
dahin man uns neben der strassen gefriert in ein dorf
Sagana^) komen, darnach gen Aelkat, ist ein zcrschleift
dorf in einer klammen — allein ein alten stein gefunden,
weiter in zwo Meilen mehr begrebnns au der straffen aus
einer großen seulen 6. Jul. Vero Maximino nobilissimo
Caesari 3).
6. April von früh 6 bis 4 oder 5 nhr, gute 6 meilen
in ein dorf BagdlidczschaJ, schone landschaft, hat viel
weite gründe, woht angeseet, mehr dorfer, wein- und obs-
gerten, leimig rot erbrich.
7. April früh bis mittag dreikgnte meil bis Amasia.
Ein schon zimlich groß wasser fleußt gen Amasia von der
rechten her, das ist Iris I und zu der statt zeucht man wol
1) Aetkhat Pr., Aurhat bei Hamilton und (nach diesem) j
bei Perrot, richtiger Archat bei Chanykoff, Ztschr. d. Bert. Ges.
f. Erdk. 1866, S. 432.
2) Tchaana bei Hamilton, Tchahanah bei Perrot.
3) Römischer Meilenstein, C. Inscr. Lat. III, 308.
4) Ballitzscha Pr., Baglison Busbeek, richtig Baghlidscha
„Weinbergsort", nach Chanykoff, Barth, Perrot.
5) Gelehrter Name aus dem Alterthume; die türkischen
Namen (Tozanlu-su und Jeschil-irmak) scheint der Autor bei
seinem längeren Aufenthalte in Amasia nicht erkundet zu haben. !
ein halbe meil in einer Clausen zwischen kahlen steinigen geburg,
die straß ist eng also, daß unserer wagen keiner dem an-
dern weichen kundt, auf der rechten seiten mag man reiten
und gehn am steig und wo man ml hat vor beut velsen
gehn mugen, seind durch den vels hin wider hoche und
nidere fußwege ansgehaucn in 5 schuch breit, welche ihre
natürliche gelender haben. Und die statt kann man eher
nit sehen, bis man gar hinzukombt, bis wider an das
Wasser, das im gründ zwischen ho.chen geburgen für fleußt
und wo es neben dem wasser erdboden hat, da seind wein-
und obsgarten, ackerfelder, alle von stein- und kotmanren
befriedet und lnstheuslen von kot darein. Wenn man zu
der statt kombt ist wider ein hnlzene brücken 80 schritt lang,
dabei etlich hoche wasserreder, die wasser heben in die gerten
und stehen noch zwo alte schone kirchen von Werkstücken rechts
und links gegenüber, sonoch die Kriechen gepaut haben, alda
gehet der weg durch wie durch ein ander thor. Die Heuser
sind alle ans gebrenten zieglen und kot gemacht und die
inngeben von nngehaunem holz und tramen von zweien
gaben hoch, unden seind roßstelle, oben auf ihre Wohnungen,
auch mit tramen überlegt und bretern, darauf reisig und
mit erden überschütt einen halben ellen dick und liegt schier
ans jedem hanß ein runder langeleter stein, wie ein colnmna,
mit demselben hin und wider gewalzen schleht man den
estrich wie mit eim cilinder. Fast mitten in der statt ist
ein alter runder thurn von zieglen, darin man in ein
schnccken hinauf gehet, hat oben ein vier- oder achtecketen
umbgang und über sich ein klein spitzig thurnlein, Halm noch
die Kriechen gepaut, ist irgends ein glocken darin gehangen.
Ist ein arme elende panrn statt von kot wie die schwal-
beunester übereinander, sollten nit Heuser genannt werden,
sitzen in der zimmer wie in ein gefengnus, habn kein knchen
sKnchef in keinem Hausse, nur in den kamern kleine kamin,
darbei sie kochen. Sind in I I Metziten aber die fnrnemste
so der Bajatzeth gepaut mit zwey turnen.
Das ober schloß hat wol ein schon ansehen auswendig,
seind aber nur dinn maurn und inwendig kotheuser, darin
dienstvolk wohnt und ein Pnrggraf, der das ganz jähr nickt
für das thor darf gehen. In dem rindern schloße bin ich
gewesen, ist von steinen mauern, auswendig rund, inwendig
von nngeprenten zieglen, holz und brettern ohne dachcr —
ist mitten drin ein groß Hans tief in der erden oder felien,
darumb man oben gehen mag und hinabsehn, wie ein keller
durch hulzen gitter, ist oben mit pley gedeckt, — in welchem
hanß des Kaysers zelt liegen. Auf dem schloß gehet man
an der steinwand hcrumb in die felsen hinein, und große
thor scheinen gehauen, der seind 5 nach einander, je eins
hocher als das ander, das seind nicht Wohnungen gewesen,
sonder alter heidnischer Künige begrebnns, — von ersten
sind zwo hoche stolwand gegeneinander über ausgehanen
in zween landsknechtische spieß hoch und in 2 oder 24^
schritt breit, ist ein stolwand in 10 schritt lang hinein in
j velsen und von einer wand zu der andern ist der vels auch
ausgehauen wie ein fchwibpogen über sich, — also das der
nmbhaute velß frey stehet, so seind die zwo stolwende hin-
durch auch zusammen gelöchert worden. — linder anderen
ist zu dem höchsten begrebnns in 70 stasfel hinauf ein brei-
ter gang mit ein gelender in die steinwand ausgehauen.
Von wegen des Mustaffa, des Kaysers söhn, so er nni-
pringen lassen, ist das land Cappadocia vast geschwnrig
und heimlich Persianisch, darumb der Turk viel richten
shinrichtenf lassen. Der Kazulbafcha, soll heißen Schachane
sSchahanschahjs hat nit also vil volk als der Turk und dazu
kein geschutz, darumb stehet er kein schlacht, aber weil das
land gepurgig ist, hindcrzeucht er ihn und zwackt ihm täglich
vil Volk ab, hauts alles nieder. — Und wie die gefangen
Cristen sagen, soll der Turk dem Kazul nicht 50 mann ab-
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
233
geschlagen haben, aber der Kaznl dem Türken viel tausend,
weil er behender zeucht, in einem tag oder nacht so vil als
der Turk in 3 tagen. — Denn sie die Persianer nichts
von den Türken halten und seind vast beherzt wider sie und
die Türken sind ein gar elend weibisch Volk haben kein herz
gegen ihnen; wan die gefangenen und verleugneten Cristen
nit weren, als die Krabaten, Winden, Bosner und Ungern,
reudig vermaledeit ungezifrig Volk, die erger und verzweifelter
sind als der Teufsel selbs, so wer der Türken mannheit gar
nichts.
Solch Volk ist ein hart Volk, das nur von dem viech lebt
und sauer milch ißt und trinkt allein wasser, sind alle wie
halbe moren verprinncn auf der sonnen, solch Volk das hitz
kelt Hunger durst und armut gelitten thuet es uns Cristen
zuvor, die wir im kriege nur Wohlleben wollen, wein und
überflüssig provand nachfuren, und davon wird all unser
kriegsvolk krank daß sie ganzen tag auch nacht fressen und
saufen, auch übel kleidt sein, regen wind fetten und hitz nit
leiden kunnen, so überkommen sie alle krankheit, preun,
bauchweh, durchflussig werden, wie ich wohl darbey gewesen
zweimal under Ofen gesehen hab. Wenn man unserem
Volk kein wein nachfneret und sie wasser trinken lernet wie
die Türken pflegen, wurden sie auch besser kriegsleut sein,
alda würd man sie gehorsam machen, wurden nicht mehr
balgen gottslestern anfrurig sein von wegen ihrer bezahlung,
wurden auch nit also spilen und mehr verkleiden als ihr besol-
dung ist, wie ich ihr vil gesehen, die in 18 Wiener ellcn
dafset under die plodcrte zerschnittene Hosen zu futter tragen,
die ihnen mogten nachschleifen.
Zu Amasia sindt man kein wcintabern, uns hat ein
Kriech vom land in ziegcnhcutcn wein zugefurt aber theur
und doch nichts sonders, hitzige kalchwein und alle roth ge-
ferbt mit ebulo (Hollunder) und dazu gemengt mit geprannten
wein-, heimlich haben auch etlich Armenier in steinern tru-
gen under der erden wein vergraben, doch vor den Türken
öffentlich nicht geben dorfen, — wir haben wohl weisst wein
gefunden, die also natürlich alda herumb gewachsen, noch lassen
sie die nit ungcmacht, wie wol sie laugnen, so sind sie doch
also hitzig unlieblich zu trinken, das sich einer darnach er-
schuttet, als hett er lauter geprannten wein getrunken.
(Rückreise.)
Sie folgt genau derselben Linie, nur durch andere
Nachtquartiere werden Abweichungen von dem ersten Bericht
bedingt und ans diese können wir unseren Auszug beschränken.
Abfahrt von Amasia am 2. Juni Nachmittag 3 M. nach
Bagdlitza.
3. Juni früh bis 6 uhr 8 meil in ein dorf Kara-
dagin, das wir des Wegs verfehlt, liegt in einen thal vast
steinig I, hat gut kalt wasser; in der Metzit über der thur
ist ein alt römisch Epitaphium.
4. Juni 6 M. nach Czorom.
5. Juni Czukurkoy, alda hat Herr Sah in obstandnem
wasser Halis gefischt und bald zwo große schaiden gefangen
H/z Wiener ellcn lang.
6. Juni 8 M. Aliguyhs.
7. Juni früh bis halb 7 uhr, 9 bis 10 M. feldlager
an eim guten frischen wasserte neben dem dorf Abasta (?),
überall vil seltsamer kreuter gefunden die man in der Apo-
theken braucht und draussen nicht hat, als Abrotonus,
Ruta, Salvia silvestris et romana, Dragantum, Folia
Senae, Rubia tinctorum, Cilicriza (Glycyrrhiza) oder
sueßholz, Absintium ponticum.
!) Also seitwärts der Hauptstraße, daher von keinem
neueren Reisenden bemerkt. Die Inschrift 0. I. Gr. III, 41 IG
wird auch aus Belsus, Abschrift unter dem Ortsnamen Kara-
dpk (?) citirt.
Globus LII. Nr. 15.
8. Juni 7 bis 4 uhr 6 meil ins Dorf Kal ab a (?) sind
aus dato wieder für das alte zerschleifte closter gefahren,
am wasserle darüber ein steinern prucken von quadratten
gewesen.
9. Juni früh bis 11 uhr mittags 4 meil nach A n c i r a.
Nahend bei Ancira in y2 meil ist ein Closter zu unser
frauen genannt, ein schlechte alte kriechische kirchen, darin
seind 4 oder 5 munich Armenier — alda ist ein groß alt
Cristen begrebnns, dahin von den alten herlichen Römischen
Palatien große zerbrochen stein seulen und Epitaphien
gefurt I.
11. Juni den ganzen tag sovil als wir vor in 2 tagen
hinein gereist 9 — 10 M. nachend bei Jalanezy-Ali ge-
legen.
12. Juni 10—11 M. neben dem wasser Sangari
neben der prucken gelegen.
13. Juli von fru bis umb 3, 10 Meil oder mehr für
ein dorf heißt KaragiediI 2).
14. Juni von fru bis 3 uhr, 9 —10 meil über
das wasser Kuthe-su in ein dorf Ugus, ans den bcgrebnus
so auf einem berge ist, sind viel alte stein, daraus ge-
schrieben Antiquitates 3 *).
15. Juni, früh bis 3 uhr 9 meil nach Mutala t
(Mutalop Fr.) auf dem gemeinen begrebnns seind vil
zerbrochner antiquitates deren man wenig recht mehr lesen
kann, alles kriechisch H. Gegen obstandem darf über under
dem gepurge mag man ein alte statt sehen, nennen die Türken
ungleich, einer Ekyscher einer Beylik 5).
16. Juni fru bis 2y2 uhr 8 M. bis Boz-byugk.
17. Juni 7 oder mehr M. durch Pazarzikh bis
Agbiug.
18. Juni 8 M. bis Nicea.
19. Juni still gelegen.
20. Juni über den langen Wald, wo ein alter ge-
pflasterter weg gewest, so noch der Römer gemacht, 9—10
meil per Kasikhly.
21. Juni Nicomedia, 22 Gewise, 23 Skntar, zu-
sammen 143 meil bis Constantinopel.
Constantinopel hat alles schlecht hulzen und nieder ge-
ben, nit halb als gut als in Schwaben oder Bayrn ein
gemein dorf, als draussen nit einem stall gleich sehen. In
ander leut Heusern kann man nit underkomen wie in der
Cristenheit, sind auch nit daraus gepaut und ist zwischen
ihnen kein ehrbarliche Vertraulichkeit nicht daß ein freund zu
dem andern sollte einziehn dürfen, dann sie selbs nit Ver-
sammlungen dürfen haben. Darum Handelsleut und kriegs-
volk alles in die.Karvasalia einziehn, wie zigeinerisch gesind.
In solchen karwasalia sind auch K. Mas. Botschafter ein-
gesperrt gewesen, sambt den dienern und verhuctet und
I In der dem Reiseberichte angehängten Jnschristensamm-
lung (es gehören hierher 0. I. Gr. III, 4019, 4045; 6. I. Lat.
III, 253,244,275) wird das Kloster armenisch Surb-Bogos,
d. h. S. Paulus, genannt.
2) Karagiegi Pr. (— jedi „sieben"? oder — gedik „Rücken,
Anhöhe" ?) G. I. Gr. III, 412G.
3) C. I. Gr. III, 4041 — 4048, auch nach der Abschrift
von Belsus, der irrig Ogur und Ogut schreibt; von D. auf
der Hinreise am 22. März schon nahezu richtig als Ugus er-
wähnt; Ujuz-hammami „Krätzebad" nach einer heißen Heil-
quelle in Humann's neuestem Reiseberichte.
I Die Inschriften nach Busbeek's Copie im C. I. Gr. III,
4136 — 4140; aber sein Ortsname Mvntalab ist ebenso
falsch wie das bei Tournefort (1704) vorkommende Mounptalat;
Dernschwam's Schreibweise wird durch Tschihatchesf's (Jtinerar
von 1849, 25. Mai) und Humann's Mutalib bestätigt (un-
genauer Mutalyk in Wrontschenko's Karte von 1835), ebenso
wie die Lage nahe nördlich von Eskischehir.
^ 5) Jenes ist der schlecht verstandene Name, dieses Titel
„Fürstenthum, Fürstensitz".
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Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553 —1555.
verschlossen worden wie andre gefangene leut und nit frey
ausgehn lassen. In der Karwasalia auf den gangen in
einer abseiten hat es ein heimlich gemach mit stulen auf
ihr arth, und als oft ein durlischer schelm darauf gehet muß
ihm sein erkaufter gefangener ein trug mit wasser nach-
tragen, alda wafcht er sich wie ein beschissen lind mit dem
finger im arsch umbgewandt und als oft er sein wasser
abschlagt auch dergleichen, als unverschämt wie andre sene.
Solche Mores hat auch ein Ungrisch Bischof von Gran,
Paulus de Warda gehabt, der im 15. Jahr zu Prespurg
gestorben, welcher mit Verlaub stets vor den teilten mit dem
finger im arsch umbgangen ist, daß einem grausen hat
sollen, ein gefeffre supp mit ihm zu essen. Sollten die
Türken Papier brauchen, wer ihrem Machomet ein große
unehr; wo sie nur ein stucklein weiß oder beschrieben Papier
finden, so heben sie es ans und sagen, daß ihr heiliger
glauben ans Papier sey geschrieben, in ehren gehalten soll
werden.
In den kamern der Karwasalia sind lauter Handwerker
und am meisten schustcr gewest, unbeweibte leut, die ihren
zins daraus geben, was sie fertigen tragen sie feil aus,
kocht ihr keiner nit, auch der Wirt kocht für seine gest nichts,
haben auch gar kein kuchen sKüchch nit darinnen, sondern
die sudelkoch tragen ihr eine zween kupfern kessel au: hals
Hangende von eim zum andern herumb, ist in den einen
Czorba, das ist ein koch sGekochtessj oder mus von linsen,
gersten, faseoli, ein suppende speiß, in den andern etwa ein
lumpen oder schlecht schafenfleisch. Die Türken lebn übel,
essen gar schlecht ding als kes brot knobloch zwieffel
rettich Plutzer sMelonens und vil obs durch das ganze
fahr aus und trinken wasser darauf, ander Nationen wurden
krank darvon, schadt ihnen nicht; wer ein Czerbet vermag
zu trinken das ist ein wasser mit Honig angemacht, der ist
ein Herr. Wann ein Turk Wohlleben will, so tragt er das
schaffleisch grad von dem mezger zu dem sudelkoch, der
schneidt es gar kleine setzt es ungewaschen in ein diese
kupfern schussel im bachofen, laßt es in seinem feisten rosten,
thut geschnittn zwiffl daran und ein wenig cssig, also frist
er das fleisch samt den: unflat.
Nach dem abendmahl pflegen sie durcheinander zu singen
als wenn die Hunde heuleten, haben keine melodei noch lieb-
lich gesang nach den noten, ihr gesang ist allein Illa illa
hillala, mit diesem gesang möcht man hundert meil Wegs
ziehn, wie die Ungern mit ihrem lieb daidanum haidanum,
hat kein end nit. — und ihr spilleut, Pfeiffer trommeter
und Pauker haben so ein liebliche música, als wenn die sene
untereinander kurren und wenn man ein alten pelz ausklopfet.
Es ist nit wie in der Cristenheit, das der gemein mann
von einem land zu dem andern, wie die lanzknecht und
andere laudfarer pflegen, laufen und frey ziehen dürfen,
man siecht anderst auf, wer nicht dem Kayser zugehört,
das ist welcher nit ein Czauß oder Janczar ist, sein gewon-
liche tracht fürt, wie ihr brauch ist, der kann selb dritt
oder fünften nicht durchs land tomen und wann irnz kauf-
leut hin und wieder reisen wollen, so fanden sich auf der
straßeu ihr viel zusamen, damit sie sicher durch mugen komen,
nehmen von einer statt zu der andern bekannte oder ein
Janczar mit sich; — item die Juden und frcmbde kauf-
leut aus Polen, Neuffen, Walnchey, Ungern wissen nach
ihrem prauch ans und ein zu reisen, sind überall mit ihrer
waar frey, wann sie nur dem Kayser feine maut zahlen,
und mancher hat kaum für 20 oder 50 fl. waar, als ungrisch
Messer, Hute, preusisch rot leder, geprannte wein und bier,
leinwat und ungezweifelt seind die Juden alle kundschafter
auf beiden theilen und wer cs wagen will, der mag mit
solchen leuten bald aus und ein komen, auch weiter hinein
in Aegypten und Asiam ziehen.
Wie wohl der Kayser ein unsäglich dienstvolk in krieg
füret, so bleibt doch ein unsäglich Volk noch in der statt,
denn Constantinopel allein ein konigreich von Volk ist,
darum so große Hurerei alda ist, als in der weit mag fein;
wann Spahi Czausen und all ander besold! voll ein fahr,
zwei oder drei außen bleiben, dieweil Habens ihre weiber
gut, baden den ganzen tag, kommen in etlich tagen nicht
heim, saufen in winkeln wein, gehn ihr etlich mit einander
zu einem in ein Haus, dahin dann puben sich finden lassen,
treibens mit einander wie das viech und wie and) zu Rom
und Venedig unverschämt getrieben wird, also sind zu Cou-
stantinopel viel tausend offner huren, gehen alle vermummt,
daß sie auch ihre mcnner nnderwegens nit kennen."
Das Wenige, was aus der am 3. Juli von Constanti-
uopel angetretenen Rückfahrt durch Bulgarien und Serbien
nachträglich bemerkt wurde, findet sich bereits der obigen
Darstellung der Hinreise einverleibt; etwas ausführlicher
wird der Erzähler erst, wo er diesmal auf dem Landwege
über Esseg den ungrischen Boden wieder betritt und zwar,
da er hier nichts in geographischer Beziehung Neues zu be-
richten hat, in Schilderung der entsetzlichen Zustände, welche die
türkische Verwüstung herbeigeführt hatte. Viele mannhafte
Leute hatten verzweifelnd sich in die damals noch ausgedehnteren
Wälder geflüchtet und sagten als Haiduken den Türken selbst,
auch den wohlbcwaffneten Geleitsreitern des Gesandt-
fchaftsznges Furcht ein. Daß die furchtbar gemißhandelten
Ungern selbst die Hoffnung auf baldige Wiedervertreibung
der Türken nicht aufgegeben hatten, scheint die wiederholt
angeführte „Verehrung so die armen leut im durchziehn
dem kaiserlichen botfchafter entgegengebracht" zu bezeugen.
Andererseits läßt es der Autor an Vorwürfen gegen feine
Glaubensgenossen und neuen Landsleute nicht fehlen; von den
Bewohnern von Batuszäk heißt es „seind ungrisch und lutterifch
und doch erger als die Türken". Semlin gegenüber Belgrad
„istjetzund einem schlechten dorf gleich, das schloß gar zer-
schleift — soll der Turk eher eingenommen haben als
Weißenburg sBelgrad^ das doch nichts fest gewesen —
auf solche Heuser haben sich die Ungern an der granitzen
verlassen, ist ein Pfaffengassen der Thunau Sau Trau
Theissa nach gewesen, also haben sie das land mutwillig
verloren".
Als Hauptschuldigen an dem Unglück, welches das Land
und die ganze Christenheit durch die türkischen Verwüstungen
und Eroberungen getroffen, nennt der Autor, außer dem
wiederholt mit den derbsten Phrasen überschütteten Papste
„der alle zerrnttung in der Welt gemacht und allein daran
schuldig daß der Machomet in Asia oberhand genommen"
einen angeblichen Rivalen des Mediceers Leo X., den Bischof
Thomas von Gran, welcher gewissermaßen zur Entschädi-
gung für die getäuschte Hoffnung von dem neuen Papste
die Jndulgenz zum Predigen eines Krenzzuges gegen die
Türken 1514 aus Rom zurückgebracht habe, „und klagt man
auf diese stund in Ungerland und alle umbliegende lender,
daß sich die weltliche fürsten solche ehrlose Pfaffen von ihres
eigen geiz und ruhms wegen habn verfueren lassen und
ihnen glaubt, als wollen sie den Türken blos mit aufrurischem
Volk und ohne geld schlagen".
Das Eindringen türkischer Bevölkerung in Südnngern
wird wiederholt in den allerdings damals sehr verfallenen, vor
Zeiten großen Märkten Sata (Sotin in Sirmien), Bukhu-
war (Vukovar), Muhaczsch (Mohacs) bemerkt: „feind Ratzen
fSerbenf Ungern und Türken durcheinander wohnend, doch
jetzund das mehrer theil türkisch." „In Ofen haben die
Janitzaren das schloß innen, ist elendig anzusehn, gehet das
dachwerk alles ein, die Heuser gehn ein gaden nach dem
andern ein, bauen nichts allein so vil einer trucken fitzen
mag, wo große weite zimmer und faal gewesen haben sie
Prof. H. Kiepert: Hans Dernschwam's orientalische Reise 1553—1555.
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kefterle von holz und koth gemacht, die keller brauchen sie
nicht, sind mit mist ausgefüllt, die Heuser also verbaut, daß
man die thor und großen einführten nicht erkennen mag,
dann vor den Heusern obdachcr und kremerladcn gebaut,
darin die Handwerker nach türkischem brauch auf der gaffen
sitzen. Aus unser frauen kirchen haben die Türken die
oberste Metzith gemacht, die altar und grabstein heraus
gethan und anderst gepflastert. S. Jorgen kirchen ist die
andere metzith, barbet ein neuer thurn ans türkisch art sein
Minarch darauf ihre hoschia schreien. Die Hunde haben
auch die hohen fenster über die helftc vermanrt und daran
ihre krem und Hutten gebaut. S. Johanniskloster ist auch
zu einer metzith gemacht. Aus dem Closter zu S. Niclas
haben sie ein zeughaus geinacht. Die Cristen haben zu
S. Magdalena noch die kirchen innen und eine schlagende
uhr und laute glocken, seind in dem glauben zwiespältig, ihr
zween alte graubertige papistische Pfaffen Haltens auf die
alte verfuerische art und ihr zween oder drei auf lutterische
und zum theil zwinglische art, darnmb sie die kirchen mit
brettern nnderschlagen. Die Papisten haben den chor innen,
alda sie messe halten und Vesper singen ans lateinisch, darzu
wenig kommen; wo sie ihr ambt verbracht, so fachen die
lutterischen in der äußeren kirchen ihr ceremonien und gesang
an auf ungrisch, darzu vil leute gehen und halten cs ehr-
barlich, aber auf beiden seiten sind es grobe und ungelehrte
leute, die nicht noch lateinisch künden. — Ist der ungelehrten
pfaffcn schuld, das vil einfältiges Volk zu Türken werden,
solch Unverstand und Hoffart der pfaffcn hat bisher in
Deutschland allen irthumb angefangen, denn grafen edcllent
ungelehrte leute Thnmherrn sein und die gelehrten als
Doctorcs gottlose leute sein, der anderen liedlein singen und
wie ichs gesehen, so sind unsere geistliche nicht ehrbarer als
der Türken hoschia, — dann nit allein bei den Cristen,
sondern auch bei den Türken die Pfaffen überall den vortanz
haben zur Holle.
Es ist zu Ofen und Gran ein hudelmansgesind und
von weibern lauter huren und haben alda kleine maidlen
von 11 in 13 jähren verheiratet gesehen, die noch ans der
gasten umblaufen, sagen die eltern müssen darnmb thuen,
daß ihnen sonst die Türken mit gemalt nehmen und ihren
Mutwillen begehen."
Am 11. August 1555 erreichte die politisch erfolglos
gebliebene Botschaft nach 1®/* Jahren wiederum Wien.
Das geographische Ergebniß dieser Aufzeichnungen
konnte allerdings, so lange das völlig vergessene Buch im
Bibliothekstaub ruhte, der Mitwelt keine neue Aufklärung
gewähren, und überall, auch im europäischen Theile, der
seit jener Zeit wiederholte, zum Theil genauere, nament-
lich aber an die Oefsentlichkeit getretene Beschreibungen
erfuhr, beschränkt es sich ja auf eine der vielen Wegelinien,
aus denen erst zwei Jahrhunderte später ausgezeichnete
Fachmänner, vor allem Bonrguignon d'Anville, die ersten
kritischen kartogaphischen Versuche zu combiniren unternahmen.
Hätte er, hätten seine englischen Nachfolger um den An-
sang unseres Jahrhunderts, James Renncll und Williani
Martin Leake, das Werk unseres Autors gekannt, so wurde
es ihnen namentlich für einen Theil Kleinasiens eine weit
sicherere Grundlage gewährt haben, als die alle Distanzan-
gaben vermeidenden mageren Auszählungen meist arg ent-
stellter Ortsnamen in den einzigen damals zugänglichen
Quellen, Busbcek und John Ncwberie (1582); ist es doch
gerade für diese specielle Linie meines Wissens bis zum
Jahre 1877 die einzige brauchbare Quelle geblieben und
auch seitdem noch nicht vollständig durch neue Beobach-
tungen ersetzt.
Es mag auffallend erscheinen, daß eine vor drei Jahr-
hunderten zu den besuchtesten Reichsstraßen gehörige, nach
Dernschwam's Zeugniß (auf der Rückreise) von nach Tausen-
den zählenden Kameelkarawanen benutzte, überdies fast
durchaus gut fahrbare Linie seitdem so völlig verödet ist.
Nicht weniger aber muß ein anderer Umstand uns, an möglichst
geradlinige Hauptstraßen gewöhnte und ans Grund correcter
Karten urtheilende Europäer befremden: der von der Ge-
sandtschaft eingeschlagene Weg zwischen Jsmid und Angora
macht eine gewaltige südliche Ansbiegung, um erst etwa
von der Station Bazardschik an in die normale Ost-
richtung überzugehen. Solche Unregelmäßigkeit scheint
ihren Grund in der echt orientalischen Trägheit alter
Gewohnheit zu finden; verfolgt man auf der Karte die
Hauptrichtnng weiter in westlicher Richtung, so führt sie
(beiläufig auf dem von Humann 1881 gemachten Wege)
direkt auf Brussa, die ältere Residenz der osmanischcn
Herrscher: ans ihrer Zeit also scheint sich jene große Straße
mit ihren zahlreichen Karwanserais erhalten zu haben,
auch nachdem längst der Reichsmittelpunkt nach dem Bos-
porus verschoben war, und man behalf sich mit einer die
j ältere Straße in kürzester Linie von Jsmid aus erreichenden
Querstraße, so erheblich auch der dadurch veranlaßte Umweg
war. Es wird kaum zu ermitteln sein, wie lange es gedauert
hat, bis diesem Uebclstande durch Gebrauchnahmc der jetzt
gewöhnlichen direkten Poststraße von Jsmid über Saban-
dscha, Nallychan, Bejbazar nach Angora abgeholfen wurde;
ich finde sie mit ihren Stationen zuerst verzeichnet in der
unter dem Namen Dschihännüma („Weltspiegel") bekannten
türkischen Geographie, die jedoch in. diesem Theile nicht'
mehr von dem gewöhnlich als Autor citirten Staatsmann
H adschi-Chalifa (st um 1650), sondern von seinem
Fortsetzer und Druckleger (1732), dem Renegaten Jbrahim-
A g h a, herrührt.
Daß diese die ganze Halbinsel in NW—SO-Richtung
durchschneidende große Verkehrsstraße demnächst (sogar
noch im laufenden Jahrhundert?), wie soeben wieder Zei-
tungstrompetenstößc aus Constantinopel melden, durch eine
Eisenbahn werde ersetzt werden, mögen diejenigen glauben,
die türkischen Schlendrian nicht ans eigener Erfahrung
kennen!
236
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhälfte von San Miguel (Azoren). .
Ausflüge nach der Westhälste von San Miguel (Azoren).
Von Dr. H. Simroth.
I.
Einige Stunden genügen zu einem Spaziergauge auf
einen der kleineren vulkanischen Hügel, welche Ponta Del-
gada umgeben. Die Wege sind anfänglich wenig an-
mnthend, da sich nach links und rechts am Strande die
Vorstädte in die Dörfer fast ununterbrochen fortsetzen und
bergauf wenigstens lange, selten weiß getünchte Mauern
aus schwärzlicher basaltischer Lava weithin Gärten und
Felder einschließen, den Blick unangenehm beengen und die
Orientirung häufig fast unmöglich machen, so daß man in
dem Labyrinthe gelegentlich die Richtung verwechselt. Die
Farbe erscheint um so öder, als die Frische des Gesteins
kaum den freundlichen Ueberzug grüner Moos- und Farn-
vegetation aufkommen ließ, wie in Südeuropa unter gleichen
Bedingungen. Gelegentlich ragen Bananen über die Mauern,
außerdem Pittosporumhecken, auch noch vereinzelte Palmen
und Weinlauben; weiter nach dem Freien zu folgen Bataten-
und meistens Maisfelder. Die Bataten, aus den ersten
Blick den Kartoffelfeldern ähnlich, leiden unter der oft
ungeheuren Menge eines bei uns weniger gemeinen
Schmetterlings, des Windenfchwärmers, dessen Raupe an
den Blättern dieser Convolvulacee ausgezeichnet gedeiht.
Raupen und Puppen waren zu Tausenden zu finden, wie
bei uns die Kohlweißlinge, und es interefsirt vielleicht die
Züchter, daß unter den erwachsenen Raupen im August die
grüne, Ende September die rothbraune Varietät bei weitem
überwog. Sollte die Sommersonne wirklich die Ursache
der Dunkelung sein? Der Schmetterling fliegt vielfach bei
Tage, und er wie der Todtenkopf wurde mir häufig als
„Vögelchen" ins Hotel gebracht, wo ich Mühe hatte, den
Cadaver vor der Freßlust einer äußerst kleinen gelbrotheu
Ameise, die im Zimmer gemein war, zu schützen. Uebrigens
reinigt man die Felder von der Raupenplage, indem man
eine Heerde Truthühner hineintreibt, die in wenigen Tagen
reine Bahn machen. Die Maiskultur scheint ziemlich
ergiebig; zum Theil war er schon im August reif, zum
Theil noch Ende September auf dem Felde. Um die Reife
zu beschleunigen, nimmt man den Pflanzen nach dem Kolben-
ansatz alle Blätter bis auf die, welche den Kolben umhüllen.
Die Felder machen so einen ziemlich kahlen Eindruck. Nach-
her werden die Kolben herausgebrochen; schließlich werden
die Halme geerntet, und selbst die Stoppeln mit den Wurzeln
schont man nicht, um sie in diesem ziemlich holzarmen Lande
als Brennmaterial zu gebrauchen. Die Werkzeuge zur
Bodenbearbeitung und Ernte sind äußerst einfach und in
der Hauptsache nur zwei, eine große Hacke, die etwa unter
einem Winkel von 65" am kurzen Stiele sitzt, und ein
grobes Messer, etwas stärker als ein Haubajonett, wie dieses
gerade aufgepflanzt und an der Rückseite weiter oben mit
einem kurzen aufwärts gekrümmten Haken versehen. Auf
den Feldern fiel hier und da ein runder, oben offener roher
Thurm auf, nur mit einer kleinen Eingangsöffnung zur
vorläufigsten Aufbewahrung. Mit der Aberntung der
Maiskolben ist man noch nicht am Ende angekommen. Sie
müssen erst (Dank der Feuchtigkeit des Klimas?) an der
Luft getrocknet und vor den Ratten geschützt werden. Ersteres
geschieht an langen kräftigen Stangen, die zu drei oder vier
zu einem hohen Pyramidengerüste vereinigt und einzeln in
ganzer Länge rings mit den Kolben behängt werden. Diese
Pyramiden bilden eine eigenartige lebhafte Staffage in allen
Dörfern, um so bunter, als vorzugsweise die gemeine gelbe
Sorte und nur selten die dunkelrothe gebaut wird; und die
beladenen Karren, die vom Felde heimschwanken, sind gern
syinmetrisch mit den verschiedenen bunten Kolben geschmückt.
Die getrockneten Kolben ziehen die Ratten in Schaaren an.
Will man sie auf dem Boden aufstapeln, so ist ein senkrechter
Graben von fast Meter Breite und Tiefe unerläßlich. Fast
alle Speicher aber, namentlich auf der Westhälfte, ruhen auf
Holz- oder Steinsäulen, deren jede oben mit einer breiteren
Steinplatte gedeckt ist, eigenthümliche Scheuern, häufig, in
wohlhabenden Dörfern, zierlich bunt. Trotzdem sind sie
nicht immer rattenfrei, und man versicherte mir, daß in
einem Falle, als die Dielen aufgerissen wurden, ein Paar-
Hunde auf einmal über 60, in einem anderen über 100
der Unthiere erbissen hatten. In den Landhäusern herrschte
noch vielfach die gemeine oder Hausratte; sie hat sich schon
dahin flüchten müssen vor der Wanderratte, die später von
den Hafenplätzen aus vordrang; der bekannte Rattenkrieg.
Um die Hunde gleich zu erwähnen, so giebt es wohl nicht
zu wenig, aber ich entsinne mich nicht, daß mir einer lästig
gefallen wäre. Meist sind es gewöhnliche Köter, dem
Balearenhunde ähnlich; eine besondere Bedeutung hat nur
der Terceirahund gehabt, den man auch auf S. Miguel
häufig antrifft. Von der Größe, Statur und dunkelgrau-
braunen Farbe des Boxers, doch weniger stark, Doppelnase
mit kurzem Schwänze und Ohren und mit schiefem, heim-
tückischem Blick wurde diese von Cuba stammende Rasse, die
zum Hetzen von Stieren gebraucht wurde, während der
spanischen Herrschaft im 17. Jahrhundert auf Terceira
eingeführt, wo sie sich bei der allgemeinen Liebhaberei so
vermehrte, daß sie aus Nahrungsmangel Nachts rudelweise
auf die Jagd ging und so viel Schafe riß, daß deren Zucht
fast einging.
Doch zurück zu den Hügelfeldern. Wo die Mauern
gerade vom Berge kommen, hört man oft das Wasser in
ihnen rauschen, denn die Wasserleitungen sind in sie ein-
gelassen. Von Zeit. zu Zeit hat die Wand eine Nische mit
einem Brunnentrog und einem schwachen Rohre darüber,
den Trog für die Esel, das Rohr, um das Wasserfüßchen
zu füllen oder unmittelbar daraus zu trinken. Doch geht
die Sparsamkeit der an große Oekonomie gewöhnten Be-
völkerung so weit, daß jeder, der seinen Durst löschte, nach-
her das Rohr mit einem schmutzigen Lappen wieder ver-
schließt. Uebrigens scheint die Schnauze des Esels hier ein
wichtiges Transportmittel zu sein für die niedere Thierwclt
des süßen Wassers. Die außerordentliche Armuth der Krater-
seen auf der Höhe, von denen die Leitungen kommen, werden
wir sehen. Umgekehrt enthalten die Brunnen in der Stadt
und zwischen den Gärten eine ganze Reihe kleiner Würmer,
Krebschen, nebst einer Süßwasserschnecke (Physa) und einer-
winzigen Muschel (Pisiäium), und ihre Ausbreitung geht
stromaufwärts von Brunnen ¿u Brunnen. Bei deren ge-
schützter Lage dürfte an kein anderes Vehikel zu denken fein,
als an die Schnauze des Esels, der von Brunnen zu Brunnen
Halt inacht. Wo die Mauern aufhören, pflegt Brombeer-
Dr. H. Simrüth: Ausflüge nach der Westhälfte von L>an Miguel (Azoren).
237
gebüsch und Adlerfarn die Raine zu begleiten, wie häufig
bei uns. Auf den Hügeln steht wohl ein Hain von Pinus
maritima. Die bekannte Feldhenschrecke mit rothen und
blauen Unterflügeln (Acridium), die Feldgrylle, deren Gesang
beliebt ist, treiben ihr Wesen, unter den Steinen haust die
Spinnenassel oder der langbeinige Tausendfnß, fast das
einzige Wesen, das an südliches Klima erinnert, wie in den
Häusern die große amerikanische Schabe. Auch ein paar
Ameisenkolonien, deren geschlechtslose Thiere sich in gewöhn-
liche Arbeiter und großköpfige Soldaten gliederten, waren
südeuropäisch. Auf einem Hügel stand eine kleine Wind-
mühle, von holländischer Art, aber äußerst einfachem Bau,
ein kleines Rad, zwei Steine, aber weiter keine Getriebe
oder Beutel zu irgend feinerer Verarbeitung; und doch ist
diese schon ein Fortschritt, denn wenn man früh Morgens
durch die Dörfer reitet, hört man überall das Geräusch der
Handmühle, auf der für den Tagesbedarf der Mais gemahlen
wird. Eine Verbesserung ist es schon, wenn der Esel in
der Stube die Menschenhand ersetzt. Uebrigens hat jede
Hütte, roh aus Stein ausgeführt (ein viereckiger Bau mit
oft nur einem Fenster, das nur zum Theil durch kleine
Scheiben, sonst durch einen Holzladen ausgefüllt wird),
seinen großen, plumpen, breiten, schornsteinartigen Backofen
neben sich, der, weiß getüncht, gegen die Hauswand scharf
absticht. Auch in der Stadt sieht man derartige Schorn-
steine massenhaft, wenn auch anders auf den Häusern an-
gebracht. Jede Familie bewohnt im Allgemeinen ihr eigenes
Haus, heißt dort „casado“ (von oaoa, Haus) „verheirathet".
Die Billigkeit des einfachen Bauens bringt es wohl mit
sich, daß man oft angefangene oder verlassene Häuser ruinen-
artig verfallen sieht, bei der jungen Kultur ein unerwarteter
Anblick. Auffallend contrastirt fast immer die schmucke
Kirche mit der sonstigen Einfachheit der Dörfer. So etwa
in der näheren Umgebung.
Gleich in der ersten Woche machte ich mit Sr. Chaves
eine Partie auf die Berge hinauf ein wenig westlich von
Ponta Delgada. Früh halb sechs Uhr stand der Eseljunge
bereit. Der Esel war ungemüthlich gesattelt. Ich weiß
nicht, ob dieser Sattel noch sonst irgendwo Mode ist. Vorn
und hinten als Sattelknopf ein Halbrundes Holz, oben mit
schrägem Kreuz, die beiden Hölzer jederseits durch zwei Längs-
stäbe verbunden. Das harte Gestell wird durch bunte
Decken und Polster erträglich, aber sehr breit gemacht.
Hinten Ledergeschirr und Schwanzriemen, mit Schaffell
gefüttert. Halfter und Strick statt Zaum, kein Bügel.
Der Eingeborene jokelt meist, die Beine nach einer Seite.
In der That fand ich das Reiten nach ordentlicher Sitte
auf die Dauer sehr anstrengend. Vorn und hinten hingen
am Sattel große frische Zweige von Pittosporum, wie es
hieß, gegen die Fliegen. Das Thier sah bunt genug aus.
Der barfüßige Junge trabt, wenn er nichts zu tragen
hat, den ganzen Tag mit größter Ausdauer^ nebenher
und treibt von Zeit zu Zeit mit einem Stocke, in
dessen Spitze ein Nagel eingelassen ist, zu größerer Eile
an, man merkt es am unvermeidlichen seitlichen Ansschlagen,
der Esel „lockt gegen den Stachel". Anfangs ging es
zwischen den Mauern hin, über die noch mancher südliche
Baum herüberwinkte, dann durch ein Dorf, dann durch die
Maisfelder; dazwischen Getreidcstoppelu. Kein Haus folgt
mehr. Jetzt fühlt man sich, von der Steilheit der Felder
abgesehen, wie im Vaterlande. Der Eindruck wurde erhöht
durch den Wachtelschlag, der von allen Seiten ertönte. Be-
merkt mag werden, daß dieses Hauptfederwild der Inseln
nicht selten weiß wird, wie die Schneehühner. Auch die
Schwarzamsel wird sicher viel häufiger theilweise weiß gefärbt
als bei uns. Ich sah mehrere mit weißem Schwänze im
Freien; bei uns wäre es eine Seltenheit. Liegt es im
Klima oder nicht vielmehr darin, daß die weißen Exemplare,
die so viel auffälliger sind, nicht so leicht durch Raubvögel
ausgemerzt werden? Uebrigens sind die Wachteln Stand-
vögel geworden, so gut wie die Singvögel. Von Zeit zu
Zeit sieht man den gemeinen Mäusebussard dahin schweben,
den einzigen so nützlichen Tagranbvogcl der Inseln, der
ihnen bekanntlich durch eine Verwechselung den Namen
gegeben hat. Er war das größte einheimische Thier,
das den Entdeckern durch feine Menge auffiel, und wurde,
weil Raubvögel vom Laien so schwer zu unterscheiden
sind, für einen Habicht (Astur) gehalten, daher die Azoren
oder Habichtsinfeln. Uebrigens scheinen die Vögel dort
längst nicht mehr die Häufigkeit zu besitzen, die sie anfangs
so bemerkbar machte. Hat man die Felder hinter sich,
dann beginnt eine wesentlich verschiedene Region, die immer-
grüne. Auf unserem Wege waren die Sträucher spärlich,
nur die Erica azorica trat mehr hervor; dafür herrschte
ein gleichmäßiger Graswuchs. Und als wir, etwas über
2000 Fuß, auf dem Sattel angekommen waren, wo auch
von der anderen Seite der Ocean heraufgrüßte, konnten wir
uns wohl in den schottischen Hochlanden wähnen. Gräser,
Rietgräser und Binsen mit wenigen Blumen (die Flora
der azorischen Blüthenpflanzen erreicht die Zahl 450 noch
nicht) zwischen sanften Hügeln, in die breite Rinnsale, viel-
leicht von 30 bis 400 Neigung, eingeschnitten waren; auch
sie in gleichmäßigem Grün. Hier und da ein kleiner
Weiher, und die Gleichmäßigkeit der grünen Berglandschaft
wurde dadurch erhöht, daß außer einigen Mikrolepidopteren
ein einziger Schmetterling, das allbekannte Ochsenauge
(Epinsplitzls janira), überall sich herumtrieb. Eine nebelige
Luft gestattete wenige Blicke hinunter nach der belebten
Küste, wo den ganzen Tag klares Wetter herrschte. In
der That, jeder der feuchten Luftströme, der an den Bergen
aufsteigt, muß durch die Auflockerung in der Höhe seine
Feuchtigkeit verdichten, und diese Gipfel sind meistens in
lockere Wolken gehüllt. Kein Wunder, daß die Snmpf-
gräser vorwiegen. Dazwischen dichte Polster von Sphagnum,
und namentlich oben an den Tusfabhängen über und über
die Charakterpflauzen dieser Höhen, die zierlichen Leber-
moose, die so wenig Thiere ernähren, häufig von graziösen
Selaginellen übcrkleidet. Die Vegetation der Weiher so
arm wie nur möglich, ein gleichnamiges Potamogetongrün.
Kein Schlammgrund, sondern ein lockerer grober Sand von
Lapilli, zum Theil faustgroß, schwärzlich, roth überlaufen,
wie Coaks anzufühlen, hier und da in frischen Spiralen
gewunden, und so die Einwirkung der Schleuderkraft auf
die flüssig ausgeworfene Masse handgreiflich demonstrirend.
Diese Kraterseen sind außerordentlich wenig belebt. Eine
kleine, grüne, schwimmende Alge färbt das Wasser, ein ein-
ziges kleiner Copepod, eine vereinzelte Blattlaus auf dem
Potamogeton, kein Wasserfloh oder dergleichen, höchstens ein
paar Insektenlarven; der gemeine Wasserfrosch (Kana
68oul6nta), der erst 1820 eingeführt wurde, hat sich überall
verbreitet, und als einziger Fisch schwärmt der Goldfisch,
zwar in großen Massen, aber bei dem Nahrungsmangel
nur ausnahmsweise in großen Exemplaren. Dieses feuchte
grüne Hochland ernährt in den unteren Partien, die Einzel-
besitz sind, Ninderheerden, weiter oben, wo die Gemeinden
participiren, schwarze und weiße, nicht sehr feinwollige
Schafe und eine schöne, milchreiche Ziegenrasse. Diese
stattlichen, schwärzlichen, graubraunen oder gelblichen Thiere
mit kurzen Schnauzen zeichnen sich durch ein hübsches Ge-
hörn aus, ähnlich dem der Gazelle oder Saigaantilope,
anfangs parallel, dann aus einander tretend und oben'wieder
genähert. Die Hörner erreichen bei einzelnen Böcken eine
ganz auffallende Länge. Man wollte zwar behaupten, daß
die Rasse in Degeneration sei und früher noch längere
238
Oscar Bau mann: Zur Kenntniß der Wai * Neger.
Hörner gehabt habe. Sollte das aber nicht auf die all-
gemeine Täuschung hinauslaufen, die uns die Kindheits-
erinnerungen größer erscheinen läßt? Möchten doch künf-
tige Reifende der Sache ihre Aufmerksamkeit schenken und
die ausgesucht schönen Bälge, die mir der deutsche Konsul,
Barno de Fontebella verehrte und die sich im Berliner und
Frankfurter Museuur befinden, zum Vergleich nehmen! Die
Schäfer haben sich in den lockeren Tuffen hier und da eine
feuchte Höhle mit Bank ausgegrabeu, ein Schutz gegen die
Witterung, aber sicher ein Rheumatismnsherd. — Die
Sphagnumbänke sind dem Zoologen besonders wichtig, denn
hierher haben sich die Charakterschnecken der Inseln zurück-
gezogen, die Vitrinen, die Blutouin ntlnntien, eine Nackt-
schneckengattung, die nirgends in der Welt noch eine Art
hat, und Arion, Thiere, die es durchaus vermieden haben,
in die Kulturzone herabzusteigen. Ihre Beschränkung ans
die Höhen erlaubt vielleicht den Schluß (da für ihren
Mangel in den Userstrecken kaum ein anderer Grund vor-
zuliegen scheint), daß die Inseln, deren Alter durch Kalk-
ablagerungen ans St. Maria, die einzigen bekannten Sedi-
niente der Gruppe, bis in die Miocänzeit zurückverlegt wird,
sich in Hebung befinden, freilich im Gegensatze zur platonischen
Atlantissage, die in neuerer Zeit viele Verfechter gefunden
hat, wonach die Eilande den Rest eines alten unter-
getauchten Festlandes darstellen würden.
Noch mag ein landschaftliches Moment erwähnt werden.
Verschiedene Aquädukte durchziehen das Hochland, ein- und
mehrstöckig; und an dem von Nov e Janellas (neun Fenstern)
fällt die lebhaft orangerothe Flechtenbekleidung geradezu als
einziger bunter Schmuck des grünen Stimmungsbildes auf.
Hier trennten wir uns und ich ritt allein zurück, um in
zwei bis drei Stunden noch einmal die Kontraste schottisch-
melancholischen Hochlandes, süddeutscher Getreideflnren und
südlich reichen Uferlebens aus mich wirken zu lassen.
Zur Kenntniß !
Von Oscar
(Mit einem F a cs im i
Unter dem Namen Krnboy begreift man an der afri-
kanischen Westküste gewöhnlich jeden Schwarzen, der sich an
der Liberianischen Küste als Arbeiter für Dampfer und
Faktoreien anwerbeir läßt. Dieser Schablone werden
mannigfache Völkerstämme eingereiht; das Stammeszeichen
des schwarzblauen Streifens über Stirn und Nasenrücken,
sowie der ausgefeilten Schneidezähne gilt schon längst nicht
mehr als Kriterium, da die echten Kru von der Kruküste
dasselbe häufig verschmähen, während andere Stämme es
adoptirt haben. So geht denn Alles, echte Kru, Bassa,
Krebo, Ber ib 6 und andere, unter der Bezeichnung Krnboy.
Eine einigermaßen selbständige Stellung haben die
Waileute (auch Bei oder Bey genannt), die seit circa
30 Jahren bei Weißen arbeiten, sich zu wahren gewußt,
obwohl auch sie öfters der allgemeinen Krnboy-Schablone
beigezählt werden. Da sich bei der österreichischen Congo-
Expedition einige Wai befanden, hatte ich im täglichen
Verkehr Gelegenheit, sie kennen zu lernen und manches von
ihren heimischen Sitten zu erfahren.
Die Wai bewohnen den Küstenstrich zwischen Monrovia
und Cape Mount, sowie das Hinterland, wo sie im Osten
an die Mandingo anstoßen. Mit letzteren fühlen die Wai
sich stammverwandt; viele haben sogar den Islam ange-
nommen, während andere zwar den „Mandingo-Gott" an-
erkennen, inr klebrigen aber ihr bequemeres Heidcnthum vor-
ziehen. — Die Waileute sind meist kräftige, wohlgebaute
Menschen von ziemlich lichter Hautfarbe und angenehmen
Gesichtszügen. Unter guter Zucht sind sie als Arbeiter
besonders ans Plantagen und zum Expeditionsdienst brauch-
bar und zeigen sich sehr anstellig. Sie verdingen sich für
ein bis zwei Jahre und erhalten 4 bis 6, Hendiente auch
8 Dollars monatlich in Gütern. Als oberster Agent für
das Engagement fuugirt Wai-John, auch King John oder
Hnga Pataua genannt, ein alter Waineger, der bei Mon-
rovia wohnt und Waiboys an die Weißen vermiethet, wofür
er das Angeld einsteckt. So viel Respekt die Wai vor
diesem haben, so gering ist die Achtung, welche sie den
schwarzen Beamten der Republik Liberia erweisen. Sie
hassen diese amerikanischen Freigelassenen gründlich, da diese
sie nur durch Steuern auszusaugen suchen, ohne ihnen
irgend welchen Rechtsschutz zu gewähren, und würden jede
europäische Regierung der ihrigen vorziehen.
der Wai-Neger.
t Banmann.
ile der Wai-Schrist.)
Ist einem Waimanne ein Kind geboren worden, so
darf er der betreffenden Frau erst nach einem Jahre wieder
beiwohnen. Der Name, den ein Knabe bei der Geburt be-
kommt, wird bei vielen nach Vollendung einer Art reli-
giöser Erziehung später umgeändert. Dabei fuugirt ein Mann
als Pathe, dessen Namen der Knabe von nun an trägt.
Die Beschneidung wird stets vor Eintritt der Mannbarkeit
oder im Kindesalter vollzogen. Schulen giebt es keine,
die nationale Wai-Schrist, von welcher später die Rede sein
wird, wird den Knaben vom Vater oder Freunden gelehrt.
Will ein Mann hcirathen, so wird mit dem Vater der
Braut das Kaufgeld ausgemacht. Der Wille des Mäd-
chens ist jedoch nicht vollständig unterdrückt; erklärt dasselbe,
einen bestimmten Mann hcirathen zu wollen, so können die
Eltern sie daran nicht verhindern. In diesem Falle
hängt es von der Frau ab, ob sie den Mann Brautgeld
zahlen lassen will oder nicht. Meist ist dieser jedoch frei-
willig dazu bereit, da er durch diese Zahlung größere Rechte
über die Frau erlangt. — Jagt ein Mann seine Frau fort,
so hat er, selbst im Falle eines Ehebruches ihrerseits, kein
Anrecht auf Ersatz des Kaufgeldes vom Vater, stets jedoch,
wenn die Frau ihn verläßt. Den Ehebruch zu rächen,
bleibt dem Ermessen des Einzelnen überlassen; meist wird
derselbe jedoch sehr gelinde beurtheilt. — Hat eine Frau
bei der Geburt eines Kindes Schwierigkeiten, so glauben
die Wai, daß das Kind nicht von ihrem Gatten sei und
daß die Geburt erst dann vor sich gehen könne, wenn die
Frau den Namen ihres Verführers genannt hat. — Beim
Tode eines Mannes werden Tänze abgehalten und der Sohn
oder nächste Anverwandte ist verpflichtet, Jedermann reichlich
zu bewirthen, der ihn an diesem Tage besucht. Hat er
keine Mittel, so erhält er von Freunden Geschenke, um seine
Pflichten erfüllen zu können. — Der Sohn beerbt den
Vater; ist er jedoch noch jung oder abwesend, so wird er vom
Dorsches und anderen Häuptlingen oft seines Erbthcils unter
allerlei Vorwänden beraubt, ohne dies verhindern zu können.
Sehr merkwürdig, ja unter den Negern alleinstehend ist
die Existenz einer nationalen Schrift der Wai-Neger. Die-
selbe wurde vor ca. 50 Jahren von einem Waimanne er-
funden und ist schon mehrfach philologisch behandelt worden.
Es ist eine Silbenschrift, welche mehr als 50 Schriftzeichen
kennt, von links nach rechts geschrieben wird und keinerlei
Aus allen Erdtheilen.
239
europäische oder arabische Zeichen aufgenommen hat. Die-
selbe trennt die Worte nicht, der Schluß jedes Satzes wird
durch die Silbe „he" angezeigt. Es existirt eine altere
und sehr bedeutend vereinfachte neuere Schriftform. Die
Wai sind sehr schreiblustig, manche unserer Leute führten
förmliche Journale, ja man konnte keinen Zettel liegen lassen,
ohne daß einer derselben ein paar Schriftzeichen darauf ge-
malt Hütte. Zum Erlernen der Schrift haben sie ein
Alphabet und ein Buchstabirsystem. Weiber erlernen die
Schrift selten. Von einer Abnahme des Gebrauches der
Wai-Schrift ist wenig zu bemerken. Fast alle Waiboys,
die ich an der Küste traf, schrieben dieselbe, während nur
wenigen der Gebrauch der lateinischen Lettern bekannt war.
Das beistehende Facsimile giebt einen Brief wieder, den
mein Wai-Diener Daia an meine Eltern richtete.
Zf'
^ ¿0 //
c^/ C0
■0^
Es lautet in der Umschreibung:
hlg-naga Pa-a-ia inn
ÜSTg-naa. lii-su-ua ka-ka
he-ng-fa-ba| ng-fa ng-
naa hi-su-ua ka-ka. he.
und auf deutsch:
„Ich Daia selbst
ich sage der Grüße viele
meines Herrn Mutter) dem
Herrn sage ich der Grüße viele. Schluß."
Hierbei ist unter dem Herrn in der letzten Zeile mein
Vater zu verstehen.
Alle Wai glauben bestimmt an die Existenz von Vam-
pyren. Dieselben betreiben schon im Leben ihr blutdürstiges
Gewerbe und besitzen die Gabe der doppelten Gestalt.
Zwar können sie sich nicht unsichtbar machen, jedoch den
Menschen, dessen Blut sie saugen, lähmen und am Schreien
hindern. Meist sind es Kinder, welche sie anfallen und
langsam zu Grunde richten. Wird Jemand vom ganzen
Stamme als Vampyr erklärt, so kann er verbrannt werden,
was jedoch höchst selten geschieht. Meist werden Sklaven
getödtet, wenn in einem Hause mehrere Kinder sterben und
der Zauberdoktor (meist ein Mandingo) dieselben als Vam-
pyre bezeichnet.
Die Hauptkunst der Zauberer besteht im Anfertigen von
Amuletten, sowie darin, aus Strichen im Sande die Zukunft
und Geheimnisse zu entziffern. Jedem Verstorbenen wird
die Milz aus dem Leibe genommen. Ist sie normal groß,
so war der Mann kein Vampyr, ist sie jedoch angeschwollen,
so war sie cs, die den Mann zum Vampyr machte und
wird schleunigst verbrannt. Geschieht dies nicht, so bleibt
der Mann auch nach dem Tode Vampyr. Er verwest nicht
im Grabe und verläßt dasselbe nächtlich, um in die Hänscr
einzudringen. Er ist unsichtbar, doch hört man ihn schlür-
fend den Palmwein trinken, die Speisen verschlingen und
schnarrend schreien. Natürlich sangt er auch Blut. Auch
treibt er sich als Waldteufel herum und schlägt Menschen,
die dadurch dem Tode geweiht sind. Entdeckt man endlich
sein Grab, so wird er verbrannt, was seinem Treiben ein
Ende macht.
Die Wai haben nicht unmelodische Gesänge, sowie zahl-
lose Sagen, Märchen und Fabeln. Als Beispiel sei eine
der letzteren mitgetheilt, wie mein Diener Daia sie nach
! dem Urtexte übersetzte.
„Dieses Papier ist ein Fabelpapier (d. h. dieser Text
berichtet eine Fabel). Das Leguan hörte einst, wie der
Hund immer von dem Menschen gerufen wurde, und dachte:
,Der Hund muß eine wichtige Person sein, da er stets ge-
rufen wird? Und das Leguan schloß Freundschaft mit dem
Hunde und bat denselben, ihm ebenso große Bedeutung für
den Menschen zu verschaffen. Der Hund war einver-
standen und ließ das Leguan auf seinen Rücken steigen.
Dann lief er ins Dorf und stahl ein Stück Fleisch aus
einem Topfe. Und die Weiber liefen ihm schreiend nach
! und hieben mit einem Knüttel auf ihn ein, trafen aber nur
j das Leguan. Das Leguan, welches früher hochbeinig lief,
wurde damals derart niedergeschlagen,-daß es bis heute den
Bauch am Boden schleppen muß."
Damit schließe ich meine kurzen Bemerkungen über die
Wai, die ich nur deshalb mitgetheilt habe, weil ich beob-
achtete, daß Schwarze im intimen Verkehr in der Fremde
oft eher geneigt sind, von den internen Gebräuchen ihres
Stammes etwas auszuplaudern als in der Heimath selbst.
Und wie wenig von dieser ihrer Heimath ist noch bekannt!
Das Land der Kru, Wai, Krcbo und anderer Stämme, die
schon seit Jahrzehnten bei Weißen arbeiten, ist heute noch
so gnt wie unerforscht, und wenige Meilen landeinwärts
von der Liberianischen Küste dehnt sich die große terra
incognita West-Mandingos aus.
Aus allen Erdtheilen.
E u r o p a.
— In ornithologischcr Hinsicht merkwürdig ist das häufige
Auftreten der Viehkrähe (Nucifraga caryocatactes L.)
hier in den westlichen Schären, schreibt die in Helsing-
fors erscheinende „Nya Pressen“. Auf Drumsö ist dieser
Vogel während der letzten Tage (Ende August) in kleineren
Völkern bis zu 80 Stück gesehen worden. Mehrfach sind
Vögel, die nicht im geringsten Grade scheu zu sein scheinen,
durch Steinwürfe getödtet worden. Im Jahre 1844 er-
schien die Viehkrähe zum ersten Mal in großen Schaaren bei
uns und verbreitete sich damals sogar bis Lappmarken hin-
auf. Mehrere Exemplare wurden noch im November an-
getroffen, wo sie, steifgefroren, mit den Händen sich fangen
ließen. Woher sie kamen, wohin sie zogen und welche Ur-
sachen das Auftreten dieser Vögel in so großer Menge an
Orten veranlaßten, wo sie zuvor niemals und auch nachher
nicht wieder gesehen wurden, dürfte noch jetzt nicht aufgeklärt
sein. Seit jener Zeit sind einzelne Exemplare bei Helsingfors,
Laukas, Rautalampi, Kuopio, Jyväskylä, Kajaua, Paldamo,
Wasa, Esbo und Hollola geschossen worden. Heckend ist der
Vogel bei uns mit Sicherheit noch nicht angetroffen worden.
Nach Magnus von Wright heckt er in dichten Wäldern im
Gebiet des Haselstrauches, mithin in Europa und Asien. Da
der ungefähr einen Fuß große Vogel an seinem langen schwarzen
Schnabel, seiner braunen, mit weißen tropfenförmigen Flecken
versehenen Kleidung, seinen schwarzen Flügeln, und seinen mit
240
Aus allen Erdtheilen.
weißen Spitzen garnirten schwarzen Schwanzfedern zu er-
kennen ist, so läßt er sich leicht beobachten.
— Eine wirklich unangreifbare Ziffer für die Be-
völkerung Rumäniens — schreibt R. Bergner in
seinem „Rumänien" (Breslau 1887) — läßt sich schwer
erbringen; indessen kann man, ohne viel zu irren, die Ge-
sammtzahl aller Bewohner auf über 5^ Millionen an-
geben. Wenn die Zählung von 1859 als Resultat 4 424 961,
die von 1885 4 650123 ergab, so ist es augenscheinlich,
daß die letztere Ziffer zu tief gegriffen ist. Der Nationalität
nach möchte er obige Zahl wie folgt vertheilen: Rumänen
41/2 Millionen, Juden 300 000, Zigeuner 200 000, Bul-
garen 100 000, Magyaren 50 000, Deutsche 50 000, Grie-
chen und Armenier je 15 000, Russen, Lipovener, Türken,
Tataren, Italiener, Franzosen (die letzteren drei besonders in
den Hafenstädten) bilden den Rest (über 270 000). Im
moldauischen Oberlande wohnt auch eine kleine Zahl russischer
Starowinzen und Bukowinaer Ruthenen. Die Zahl der Juden
giebt M. I. Ghika mit 134168 viel zu niedrig, M. Frun-
zecn mit 400 000 viel zu hoch an. Im Ganzen dürften
über neun Millionen Rumänen vorhanden sein, von
denen Berguer dem Königreiche 41/2 Millionen, Bessarabien
V2 Million, Siebenbürgen 174 Millionen, Bukowina
7z Million, Ungarn 17s Millionen, Bulgarien und Serbien
1/4 Million, Makedonien und Thessalien 7s Million, Oester-
reich 74 Million zuweisen rnöchte.
Asien.
— Wie Bouvalot, der inzwischen mit seinen Geführten
Cnpus und Popin indisches Gebiet erreicht hat, aus Rnssisch-
Tnrkestan an die Pariser Geographische Gesellschaft (Compte
rendu 1887, Nr. 12) schreibt, erhielt der Kapitän
Grombtschewski 1885 den Befehl, die Grenze Ferganas
gegen das chinesische Kaschgarien bis zur russischen Festung
Jrkeschtam (am oberen Kyzyl-su) zu bestimmen. Bei dieser
Gelegenheit besuchte er Kaschgar, nahm die Pläne dieser
Stadt, sowie von Jarkand und Chotan ans und verfaßte
dann einen Bericht über die Verwaltung, den Handel, die
militärischen Streitkräfte u. s. w. von Chinesisch-Turke-
stan, dem seine Ronteuaufnahmen beigegeben sind. Die
Chinesen legten ihm möglichst Schwierigkeiten in den Weg
und bedrohten jeden, der dem russischen Offtcier Mittheilungen
machen würde, mit tausend Stockschlägen. Trotzdem, trotz
des schlechten Wetters und trotz eines Militäraufstandes in
Kaschgar, bei welchem er nur knapp dem Tode entging, wußte
Grombtschewski sein Ziel zu erreichen. Sein Bericht ist leider
nur in sehr geringer Auflage gedruckt worden und darum
schwer zugänglich. ______________
A frik a.
— Seit April d. I. erscheint eine zweite verbesserte Auflage
von „Justus Perthes' Specialkarte von Afrika" in
10 Blntt, wovon bereits vier Sectionen vorliegen. Unter den
deutschen ist sie jedenfalls die größte (1 : 4 000 000) und
detaillirteste für den ganzen Erdtheil, und ihre Uebersichtlich-
keit und Klarheit sichert ihr eine weitere Verbreitung, als sie
den bedeutend specielleren 60 Blättern der „Carte d’Af'rique“
von R. de Lannoy de Bissy, wenigstens in Deutschland, be-
schieden sein dürfte. Die bisher erschienenen Sectionen 2,
6, 7 und 8 zeigen überall die bessernde Hand, welche stets
das Neueste an Entdeckungen und politischen Aenderungen
nachzutragen bemüht ist; namentlich sind in dieser Hinsicht
die Routen von Capello und Jvens und diejenigen von
Reichard und Dr. Böhm auf Section 7 (Congo) und 8
(Seengebiet) zu nennen. Section 7 ist im März gedruckt,
aber bedürfte schon jetzt wieder mancher Verbesserung (z. B. am
Lopuri, an der Congo - Mündung, im sogenannten Congo
Frantzais, für welchen die Rouvier'schen Arbeiten grundlegend
sind); nichts beweist besser, wie unablässig die Erforschung
hier fortschreitet. (Inzwischen sind zwei weitere Lieferungen
mit den Sectionen 4, 5, 9 und 10 erschienen, welche gleich-
falls viel des Neuen enthalten.)
— Das vom „Globus" auf S. 383 des vorigen Bandes
angezeigte Werk von Dr. I. Chavanne, „Reisen und
Forschungen im alten und neuen Congostaate",
ist hinsichtlich seiner naturwissenschaftlichen Schilderungen, wie
Dr. Charpentier im Septemberhefte der „Preußischen Jahr-
bücher" nachweist, ein dreistes Plagiat ans den Veröffent-
lichungen des Dr. Pechnöl-Loesche. Chavanne schildert z. B. ein
Gewitter, welches er 1884 inD uketown erlebt haben will,
mit denselben Worten, wie Pechutzl-Loesche eines, das er am
5. Mai 1875 au der Loangoküste beobachtete und in seinem
Buche „Die Loango-Expedition" beschrieb. Schwer zu be-
greifen ist, wie Chavanne, der mehr als hundert solcher
Abschreibereien sich zu Schulden hat kommen lassen, glauben
konnte, daß sein Verfahren lange verborgen bleiben würde.
— Ueber den Plantagenbau in Kamerun hat die
„Kamerun-Land- und Plantagengesellschaft Woermann, Thor-
mtthlen u. Co." drei Berichte des Hrn. E. Teuß veröffentlicht,
welche sich auf die Zeit vom 1. August 1885 bis 30. Juni
1887 beziehen. Aus denselben geht hervor, daß die Versuche
im Tabaksbau nicht den gewünschten Erfolg gehabt haben;
das Produkt zeigte eine mangelhafte Brennbarkeit, was auf
die unmittelbare Nähe des Oceans und dessen salzige Aus-
dünstungen zurückgeführt wird, weshalb man ein weiter land-
einwärts gelegenes Gebiet, und zwar in Batanga, für-
weitere Versuche in Aussicht genommen hat. Um so besser
sind bis jetzt dieKakaopflanznngen gediehen; Ende 1886
! befanden sich bereits 30 000 Kakaobäumchen in gutem Ge-
deihen, und es bestand die Absicht, 1887 eine noch größere
Anzahl anzupflanzen. Das gute Fortkommen derselben und
die leichter werdende Arbeit in den Kakaoplantagen hat die
daselbst beschäftigten Accra-Leute, 20 an der Zahl, veranlaßt,
um Verlängerung ihres Engagements zu bitten; dieselben
wollen ihre Frauen nachkommen lassen und sich dauernd auf
den Plantagen niederlassen. Es ist das immerhin ein nicht
zu unterschätzender Erfolg.
Südamerika.
— Hr. Dr. R. A. Philippi schreibt uns aus Santiago
in Chile voin 22. Juli 1887: Der Vulkan Llaima,
der genau im Osten der Mündung des Rio Cantin oder
Imperial und 19 deutsche Meilen von derselben entfernt liegt
und 3011 m hoch ist, ist seit Mitte Juni in Eruption.
Den 24. desselben Monats war der Ansbruch so stark, daß
die Besatzung des am Südfuße angelegten Forts Llaima und
die Einwohner des im Schutze desselben entstandenen Dörf-
chens um Mitternacht sämmtlich flüchteten, aus Furcht vor-
dem Aschenregen und aus Besorgniß, der schmelzende Schnee
könnte das Flüßchen, an welchem das Fort liegt, so an-
schwellen, daß es vom Wasser fortgerissen wurde; es ist aber
nicht dahin gekommen.
Inhalt: Desirä Charnay's jüngste Expedition nach Yucatan. III. (Mit sechs Abbildungen.) — Prof. H. Kiepert:
Hans Dernfchwam's orientalische Reise 1553 —1555. IV. (Schluß.) — Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhälste von
San Miguel (Azoren.) I. — Oscar Baumann: Zur Kenntniß der Wai-Neger. (Mit einem Facsimile der Wai-Schrift.) — Aus
allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika. (Schluß der Redaktion am 20. September 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert i» Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich V i e w c g und Sohn in Braunschweig.
Art besonderer Herürksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie,
B e g r ü n d e t von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände L 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
De.sire, Charnatsts jüngste Expedition nach Uucatan.
Der Bericht Oviedo's über Montejo's Zug, welcher
auf einen Begleiter des letzteren, den Ritter Alonzo Luxan,
zurückgeht, bestätigt durchaus Charnay's Ansichten über das
verhältuißmäßig junge Alter der Ruinen im östlichen Yuca-
tan. Montejo war gegen Ende September 1527 aus der
Insel Co zum el (gegenüber der Ostküste von Yucatan) gelan-
det und nach viertägiger Rast nach deiu Festlande übergesetzt,
das er bei dem Dorfe Tala, dem heutigen Telha, betrat.
Durch die Wahl eines sumpfigen Lagerplatzes verlor er
einen Theil seiner Soldaten, wurde aber in seiner Noth von
Unopate, dem Kaziken der Insel, unterstützt und nach dem
Dorfe Möcht geleitet, wo er freundliche Aufnahme fand.
Dieses Dorf zählte über 100 sehr schöne Häuser und eine
Anzahl Qnös, d. h. mit Tempeln und Bethäusern gekrönter
Pyramiden, alle ans Stein erbaut und mit kunstvollen
Skulpturen versehen. Dort weilten die Spanier volle zwei
Monate, während die Indianer von allen Seiten herzu-
strömten, um die Weißen und namentlich deren Pferde, vor
denen sic große Furcht bezeigten, anzustaunen. Der Weiter-
marsch führte durch zahlreiche Dörfer von 500 bis 1000
Häusern, wo sic eine Menge von Gebäuden und sehr schöner
Denkmäler bewunderten, nach der Stadt Conil, welche
mehr als 5000 Häuser zählte, und wo die Spanier wiederum
zwei Monate verweilten, ehe sie sich nach dem nur zwei
Wegstunden entfernten Cachi begaben. Dort befanden sich
Marktanlagen nebst einem Raume für die Marktrichter,
wie Charnay ähnliche in den Ruinen von Chichcn-itza auf-
gefunden und beschrieben hat. Ihren Weg nach Westen
durch eine mit weihrauchhaltigen Bäumen bewachsene Ge-
gend fortsetzend, gelangten die Spanier nach Choaca, der
größten Stadt, welche sic bis dahin betreten hatten. Sie
Globus LII. Nr. 16,
IV.
wird von allen Schriftstellern erwähnt, war Hauptstadt der
gleichnamigen Provinz und von solcher Ausdehnung, daß
Montejo's Schaar, welche beiden ersten Häusern um Mittag
eintraf, erst gegen Abend die Wohnung des Kaziken erreichte;
die Häuser dieser Stadt bestanden alle ans Stein und
Mörtel und die Tempel (ques) zeichneten sich durch ihre
Ornamentik und ihre Skulpturen aus. Diese Beschreibung,
welche an den Brief Montejo's an Karl V. über die von
ihm besuchten yncatekischen Städte, jene großen, schönen
und „ganz neuen" Orte erinnert, liefert wiederum den
Beweis, daß die Bauten Pucatans zum großen Theil modern
waren, Werke der damals lebenden Bevölkerung. Es
folgten Feindseligkeiten mit den Bewohnern der nächsten
Stadt, Ake, welche von den doppelzüngigen Leuten von
Choaca gegen die Spanier aufgehetzt worden waren mtb
ihre Vertrauensseligkeit mit einer blutigen Niederlage
büßen mußten; dann ging es weiter nach Cicia und Loche,
wo ein besonders mächtiger und stolzer Kazike residirte, der
sich um die Spanier wenig kümmerte und sie fast nur durch
seine Beamten anreden ließ; sprach er ja selbst einmal zu
ihnen, so mußten sofort zwei Diener zwischen ihm und dem
christlichen Anführer ein leichtes Tuch an den Zipfeln in
die Höhe halten.
Als Stephens dieselbe Gegend durchzog, wie Montejo,
konnte er die Wahrheit jenes Oviedo'schen Berichtes prüfen;
als er sich in Chemax östlich von Valladolid befand, er-
zählte ihm der dortige Pfarrer von der Jndianerstadt Koba
und der schönen Straße, welche dort noch erhalten ist und
einst Chichcn-itza (westlich von Valladolid) mit der Insel
Coznmel verband. Solche 8 bis 10 m breite, cemcntirte
Straßen durchzogen die ganze Halbinsel. Derselbe Pfarrer
31
Tempel in Tuloom. (Nach Stephens.)
Desirs Charnay's jüngste Expedition nach Yucatan.
243
besaß in Kantunile eine Hacienda, ans welcher sich mehrere
künstliche Pyramiden befanden; in einer derselben hatte er
ein Grab aufgedeckt, welches drei Skelette, das eines Mannes,
einer Frau und eines Kindes, und außerdem zwei irdene
Vasen barg, in denen Schmncksachen aus Stein und geschnit-
tenen Muscheln, Obsidianpfeilspitzen und ein Messer mit
Horngrisf lagen; letzteres datirte sehr wahrscheinlich aus der
Zeit von Montcjo's Zuge her und gelangte als Geschenk
oder durch Tausch aus dem Besitze eines spanischen Soldaten
in denjenigen des dort be-
grabenen Indianers.
Stephens konnte seiner st
Zeit auch die heute voll-
ständig im Walde versteckten
Ruinen von Tuloom an
der Ostküste (84 km süd-
östlich von Valladolid) be-
suchen, welche im Jahre '
1518 die Bewunderung
der Spanier hervorriefen.
Die dortigen Banwerke ent-
sprechen durchaus der Be-
schreibung, welche die Histo-
riker von ihnen hinterlassen
haben; ihre TempelundPa-
läste gleichen ganz denjeni-
gen, welche Charnay im
Inneren der Halbinsel be-
sucht und beschrieben hat.
Derjenige Tempel, welchen
unsere erste Abbildung dar-
stellt, ist offenbar nach dem-
selben Modell und demsel-
ben Plane erbaut, wie der-
jenige in Chichen-itza; beide
werden auch jetzt von den
Indianern „Castillo" ge-
nannt; die Aehnlichkeit bei-
der erstreckt sich nicht nur
auf das Aeußere, sondern
auch die Vorkragung, die
Decoration und die Anord-
nung der Räume — ein
isolirter, auf drei Seiten
von einem Korridor umge-
bener Saal — ist bei bei-
den dieselbe.
Da der Jndianerauf-
stand andauerte und sich
keine Aussicht auf weitere
Ausflüge und Forschungen
bot, so kehrte Charnay nach
Merida zurück und begab .r":"
sich von dort, sobald seine JLt&i
Photographien entwickelt . .
waren, nach Campeche an Fruchthändlerm in Campeehe.
der Westküste. Bis CHo-
ch o l a, eine Entfernung von 32 km, konnte er schon die Eisen-
bahn benutzen; von dort ging es in einem guten Wagen den
ersten Tag über Maxcanu nach Calkini und am zweiten in
sechs Stunden nach Pocmuch, von wo ein Tramway nach dem
nur 8 km entfernten Tenabo geht. Drei Reisende im Ganzen
benutzten diese Gelegenheit, deren Zweck man nicht begreift;
denn es giebt dort weder Waaren zu befördern, noch auch Per-
sonen. Vielleicht wird das Unternehmen von der Central-
regierung mit Geld unterstützt,und man hat es mit einem bloßen
„job“, wie es in den Vereinigten Staaten heißt, zu thun.
Von Tenabo ging cs wieder im Wagen nach Vistalegrc,
und von dort führt eine Eisenbahn nach Cempeche; es sind
24 km, aber daß sie weiter gebaut wird, dafür ist wenig
Aussicht vorhanden. Man befindet sich bei dem Bahn-
endpunkte Vistalegrc im dichten Walde, wie in Pocmuch;
kein Dorf, kein Haus, nicht einmal eine Hütte ist zu sehen.
Als Charnay seinen Kutscher nach dem Bahnhöfe fragte,
wußte dieser nicht, was damit gemeint sei. Das rollende
^ Material bestand aus einer alten, ganz verfallenen Strecken-
maschine, einem Personen-
und einem ganz kleinen
Güterwagen. Der Perso-
nenwagen hatte drei Ab-
theilungen, für jede Klasse
eine; nur die erste enthielt
Sitzbänke und war leidlich
rein, die beiden anderen
starrten vor Schmutz. Einige
Indianer hockten sich in die
dritte Klasse, zwei niedliche
Mestizinnen bevölkerten die
zweite und fünf Personen
die erste, zusammen ein
Dutzend Passagiere, so viel,
wie vielleicht niemals zu-
sammengekommen waren.
Begreiflich, daß die Ein-
^ nahmen nicht einmal die
Kosten des Holzes, womit
die Lokomotive geheizt wird,
decken. Aber die Linie selbst
ist schnurgerade, das Ter-
rain eben, von keinem Was-
serlaufe durchschnitten, wes-
halb Kunstbauten nicht in
Frage kamen. Der Erbauer
legte einfach seine Schwel-
len auf die vorhandene gute
Straße und die Schienen
darauf.
Anfangs ging die Fahrt
gut von statten, abgesehen
natürlich von gelegentlichen
Erschütterungen; Charnay
stand auf der Plattform und
freute sich an dein Walde,
in welchem Palmen zerstreut
waren, hier und da auch
- eine Pyramide oder eine son-
; „ stige geheimnißvolle Ruine
^ sich zeigte und dessen große
" st " Bäume mit Lianen über-
laden waren. Plötzlich aber
''' ^ ging der Zug langsamer und
die Maschine fing an zu
(Nach einer Photographie.) husten, wie ein Schwind-
süchtiger, denn es ging ein
wenig bergauf, und darauf war die Lokomotive nicht eingerichtet.
Schon fing sie an wieder zurückzurollen, als der Heizer schnell
hinabsprang und Holzscheite hinter die-Räder steckte, um sie
daran zu hindern. Eine Anzahl Passagiere stieg ab, und
so nahm die um einige hundert Kilo erleichterte Lokomotive
einen neuen Anlauf, um wenige Meter weiterhin wieder
stehen zu bleiben. Es blieb den Reisenden zuletzt nichts
übrig, als selbst Hand anzulegen und den zum Glück kleinen
Zug über die für die Lokomotive unüberwindliche Steigung
hinwegzuschieben; sonst wäre es ihnen nie gelungen, Campeche
31*
Charnay's Wohnung in Jaïna. (Nach einer Photographie.)
245
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der
zu erreichen. In der That, eine merkwürdige Art Eisen-
bahn!
Campeche ist eine hübsche kleine Stadt, welche Charnay
schon zweimal berührt hatte, jedoch ohne sich aufzuhalten.
Diesmal aber mußte er einige Tage verweilen, um Er-
kundigungen einzuziehen, und er fand dort so freundliche
Aufnahme, daß er den Aufenthalt nicht bereute. Nament-
lich rühmt er den Klub „La Lonja" wegen seiner guten
Wirthschaft und seines geräumigen Saales; Gründer
desselben ist ein Botancour, wahrscheinlich ein Nachkomme
der als Herren der Canarischen Inseln berühmt gewordenen
normannischen Bethencourt (1402 bis 1424). Der Klub
liegt an dem Hauptplatze der Stadt, welcher von einem
prächtigen, in Newyork angefertigten Gitter umgeben, mit
Fayenceplatten belegt und mit Bäumen und Blumen be-
pflanzt ist; letztere werden Morgens und Abends von Straf-
gefangenen begossen. Zur Rechten die sehr bescheidene
Kathedrale und vor derselben der Markt mit seinen Ver-
käuferinnen von Gemüsen und Früchten in indianischer
Tracht, welche derjenigen von Merida ähnlich ist; an der
anderen Seite des Platzes liegt das Rathhans, und wendet
man sich von da links, so kommt man zu dem Molo, wo
man sich allmorgendlich an dem bewegten Leben und Treiben
der Fischer erfreuen kann. Die Mannigfaltigkeit der dort
feilgebotenen Fische ist erstaunlich; man findet ihrer dort
von allen Formen und Farben, gestreifte, schwarze und
weiße Rochen, Aale, Sägefische, Krötenfische, Krabben rc.
und den besonders beim niederen Volke beliebten „cazon“,
d. h. junge Haifische von der gewöhnlichen Art oder vom
Hammerhai, darunter Burschen bis zu 2 m Länge. Nur
den König aller Fische des Golfes von Mexico, der in Blau
und Gold mit Purpurreflexen schimmernde Pampano, wird
dort nicht verkauft; derselbe, dessen Wohlgeschmack seinem
wundervollen Aeußeren gleichkommt, wird unmittelbar den
reichen Leuten ins Haus gebracht und dort mit Freuden
begrüßt.
Charnay bekam in Campeche verschiedene Alterthümer,
Statuetten, Obsidianmesser, Perlen von Halsketten u. dergl.
zu sehen, nach deren Ursprung er forschte. Dabei ergab
es sich, daß die meisten dieser Gegenstände von Indianern
einer- Insel Jaina hcrstammten, daß dieselbe acht Stunden
nördlich von Campeche liege und dem Hafenkapitän Don
Andres Espinola gehöre, welcher sie als ein irdisches Paradies
mit Tausenden von Kokospalmen schilderte, wo zahllose
Westhülfte von San Miguel (Azoren).
interessante Sachen zu finden seien; nach seiner Ansicht sei
die ganze Insel künstlichen Ursprunges. — Zwei Tage
später reiste Charnay, mit Lebensmitteln für zwei Wochen
versehen, dorthin ab; Don Andres begleitete ihn, um ihn
seinen Leuten vorzustellen. Um 10 Uhr Abends fuhr die
Canoa bei gutem Winde von Campeche ab und erreichte
Iai'na schon um 4 Uhr Morgens. Bei Tagesanbruch
konnte Charnay seine Wohnung, einen wahren Palast, er-
blicken: zuerst ein am Meere gelegenes Gebäude, eine Art
großer, allen Winden offen stehender Gallerie, wo man um
die Mittagsstunde in der Hängematte verweilt, um sich der
Seebrise zu erfreuen; dahinter und mit der Gallerie durch
eine Laube von Schlingpflanzen verbunden lag das eigent-
liche Wohnhaus, gut im Stande und ganz geschlossen, da
die Nächte kalt sind. Links die Wohnung des Majordomus
und unter den Kokospalmen zerstreut die Hütten der In-
dianer.
Sobald Charnay und sein Diener Valerio untergebracht
waren, ließ Don Andres die Glocke läuten, ein Zeichen,
worauf sich der Majordomus und an 40 Indianer in der
Gallerie versammelten. Andres stellte denselben seinen Gast
als Herrn des Hauses, dem Jeder ohne Bezahlung un-
bedingten Gehorsam schulde, vor und bezeichnete einen der
Leute, der ihm Fische, einen zweiten, der Austern zu liefern
habe, und eine hübsche Indianerin als Köchin, während der
Rest bei den Ausgrabungen helfen sollte. Eier und
Geflügel lieferte der Hof in Menge, und da das Wasser
der Insel schlecht war, sollten 100 Kokosnüsse dasselbe er-
setzen. Kurz, Charnay fand sich in aller Form zum Herrn
der Insel Iai'na eingesetzt, worauf Don Andres, nachdem
die Indianer Gehorsam gelobt hatten, gegen 1 Uhr die
Rückfahrt antrat.
Aber kaum war die Canoa ans dem Gesichtskreise ver-
schwunden, als die sämmtlichen Leute davongingen und sich
um ihren provisorischen Herrn nicht mehr kümmerten.
Charnay begriff sehr bald, daß die Aussicht, nichts für ihre
Dienste zu erhalten, die Indianer mißgestimmt machte, ließ
also schnell den Majordomus kommen und versprach, alles
und Alle zu bezahlen, und zwar reichlich; er selbst, Poli-
carpio, solle täglich 8 Realen (5 Franken), jeder bei den
Ausgrabungen verwendete Mann die Hälfte davon, d. h. doppelt
so viel, als er sonst verdiente, erhalten. Das schien zu
wirken, und Don Policarpio versicherte den Reisenden der
Ergebenheit sämmtlicher Inselbewohner.
Ausflüge nach der Westhülfte von Sau Miguel (Azoren).
Von Dr. H. Simroth.
II. (Schluß.)
Ein anderer Ausflug galt Sete Cid ad es, der groß-
artigen Kraterlandschaft im Westen der Insel, nicht weit
vom Pico do Carväo, der nur einen unbedeutenden Kegel
auf der ganzen westlichen Erhebung darstellt. Doch führt
der direkte Weg nicht an ihm vorbei, sondern eine leidliche
Straße geht etwa zwei Stunden weit vom Meeresufer hin bis
Fetciras, und die Städter gelangen bis hierher im Wagen,
um dann auf vorausgesandten Eseln ins Gebirge auf-
zusteigen. Ich zog es vor, den ganzen Weg zu Esel zu
machen. Es ist bequemer, da man jeder Zeit beliebig lange
halten und das Thier dem Jungen überlassen kann. Der
Weg an der Küste führt durch einige ziemlich malerische
Dörfer, inzwischen steigt er bald hoch auf, so daß man
schroff unter sich zur Linken die Brandung sieht, bald über-
schreitet er einige schmale Schluchten, welche die Wasser
gerissen haben, und die jetzt durch die Belladonnalilie ver-
schönt waren. Die Dörfer erhalten durch Maispyramiden
und Weinlauben ihren Charakter, sodann aber muß des
mächtigen Rohres (Arundo donax) gedacht werden, das
um Felder und Gärten erstaunlich üppige Hecken bildet
und namentlich am Abhange freudigst gedeiht. Auf den
Mauern sieht man häufig Agaven oder noch mehr die so
ähnlich in runden Büscheln wachsende australische Gewebe-
pflanze Phormium tenax, die Hortensie taucht hier und da
246
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhülste von San Miguel (Azoren).
auf. Die Schweine, die genug meist in offenen Kosen
oder unter einer Weinlaube gehalten werden, sind schwärzlich
grau oder roth, hochrückig, dieselbe Rasse, die in Portugal
am verbreitetsten ist. Wirthshäuser trifft man in Dörfern
gar nicht, nur den obligaten Cigarren- und Cigarretten-
verschleiß, wo auch wohl ein scharfer Fusel in großen
Schnapsgläsern verschenkt wird, nach dem leider die Esel-
jungen sehr lüstern waren; doch sieht mau keinen Be-
trunkenen. Von Feteiras beginnt der eigentliche Aufstieg,
der für den Esel immerhin steil genug ist; doch ist durchweg
ein bequemer Reitweg vorhanden. Wir treten sogleich in
eine Schlucht ein, in die ein kleiner Weiler aus zerstreuten
Holzhütten sich idyllisch einklemmt. Hier beginnt die Vege-
tation der eigentlichen Azorengehölze, von der bei der Tour
zum Pico do Carvao weniger zu sehen war. Es ist die
Region der immergrünen Sträucher und kleinen Bäume,
reichlich mit prächtigen Farnkräutern untermischt. Die
erste Azorenflora wurde von Seubert geschrieben, die jüngste
Bearbeitung stammt von Watson (in Godman, Natural
history os the Azores. London 1870); man möge sie
nachsehen. Die geringe Anzahl der Blütheupslanzen, die
auf den Inseln vorkommen, wurde bereits erwähnt, sie
beträgt wenig mehr als ein Drittel von denen, die in Eng-
land. und noch nicht ein Viertel von denen, die in Deutsch-
land wachsen, bei der südlichen Lage und dem feuchten Klima
eine außerordentliche Armuth, so recht zu der Natur ent-
legener oceanischer Inseln passend. Das Ver-
hältniß würde sich noch viel ungünstiger ge-
stalten, wollte man die Eindringlinge, die
der Mensch als Kulturpflanzen und Unkräuter
mitbrachte, abrechnen, denn sie würden natür-
lich einen besonders hohen Bruchtheil aus-
machen. Von diesen 440 Pflanzen sind nicht
weniger als 40 endemisch, also auf den Inseln
selbst entstanden, eine Folge der Jsolirung
und der dadurch veränderten Existenzbedin-
gungen. Im Uebrigen ist die Flora wesent-
lich mit der südeuropäischen verwandt, am
meisten mit der iberischen, doch finden sich
auch genug Elemente von Madeira und den
Cunaren darunter, weniger amerikanische, und am schwäch-
sten ist das afrikanische Festland vertreten. Daraus, daß
der Graswuchs auf den Hochsätteln mehr oder weniger
deutschen Sumpf- und Moorwiesen gleicht, wurde schon
hingewiesen. Besonders bezeichnend für die Juseln ist
das Gebüsch lorbeerartiger Sträucher, die sich, wo sie sich
selbst überlassen sind, zu einem lichten Hain mäßiger
Bäume erheben. Das Grün herrscht durchaus vor. Die
Unterschiede mit unserer Flora treten vielleicht am besten
hervor durch einige Zahleuvergleiche. In England ist die
artenreichste Pslanzenfamilie die der Compositen, also
bunt- oder insektenblüthiger Kräuter, auf den Azoren die
der grün- oder windblüthigen Gräser; während in Eng-
land die Farnkräuter an Artenzahl die elfte Stelle ein-
nehmen, kommen sie auf den Azoren an vierter, tragen
also wesentlich zum Grün der Landschaft bei; unseren wald-
bildenden Amentaceen, den Eichen, Buchen, Birken , Erlen,
Weiden rc. steht auf den Azoren nur ein einziger Kätzchen-
träger gegenüber, die Myrica saya, welcher die Insel Fayal
ihren Namen verdankt, und dieser eine hat die Tracht des
Lorbeers angenommen mit immergrünen, ovalen, dunklen,
lederartigen Blättern, so daß er im Gros verschwindet. Und
das ist um so auffallender, als doch in Portugal noch Kork-
eiche und Kastanie, zwei Kätzchenträger, einen so wesentlichen
Antheil haben an der Physiognomie der Landschaft. Zu
solchen immergrünen Azorcngesträuchen gehören der kurz-
nadelige Wachholder (Juniperus brevifolia), Persea indica,
Esel, mit Maisstroh bepackt.
die gemeine Myrte, allerdings selten geworden, weil sie zum
Gerben gebraucht wurde (nach Watson), Viburnum tinus
(unser sogenannter Laurnstinus), Naurus canariensis u. a.,
vor allem aber die Azorenhaide, die gelegentlich so große
Sträucher bildet, daß der kurze Stamm mehr als schenkeldick
wird. Dabei zeichnet sie sich vor unserer gemeinen Haide
vortheilhafter aus durch das frische Saftgrün der Spitzen,
die mit zarten Tannentrieben wetteifern. Am schönsten
wächst sie an sonniger Tusfwand. Ueberhaupt gedeihen alle
diese Pflanzen am besten in den schluchtartigen Thalein-
schuitten, die immerhin zu steil sind, um als Ackerland
benutzt werden zu können, oberhalb der Kulturzone tritt
namentlich die Erika hervor. Wenn ein solcher Abhang
noch über und über mit den hellen, meterlangen, hängenden
Fiederwedeln der Dieksonia culcita, des hervorragendsten
unter den freilebenden Farnkräutern, überdeckt ist, dann
dürste es schwer sein, ein reicheres in Grün abgestuftes
Vegetationsbild aufzutreiben. So zieht sich der Weg durch
Schluchten und Hohlwege hinan, an Feldern vorbei nach
dem Weidelande, das dem vom Pico da Carvao gleicht.
Auffallend sind nur die hier noch massenhafteren ganz schmalen
Zickzackpfade au den grünen Steilhängen. Sie dienen alle
einem bestinunten Zwecke, nämlich der Herabbeförderung
der ausgerodeten Haide auf Eselsrücken, um Composterde
für die Ananashäuser zu gewinnen. Ueberall sieht man
die unmäßig bepackten Thiere ihren sicheren Schritt nehmen,
und ein Beispiel der Tragkraft mag der
kleine mit Maisstroh beladene Esel geben,
den ich auf dem Wege in möglichst genauen
Maßverhältnissen skizzirte. Doch an den
Eseln vorbei zur höchsten Höhe des Weges,
ziemlich 2000 Fuß hoch. Hier wartet unser
ein wunderbarer Anblick. Die Paßlünge be-
trägt wenige Meter, vor uns liegt der ge-
waltige Kraterkessel von Sete Cidades, dessen
Wände außerordentlich steil, anscheinend senk-
recht abstürzen zum doppelten Kratersee, hin-
ter uns ein sanfter grüner Abhang, der sich
doppelt so tief abflacht bis zum unendlichen
Ocean. Jede Seite fesselt den Blick durch
Großartigkeit, Eigenart und den unmittelbaren Einblick
in den Schafsenswettstreit der beiden wichtigsten Erdformer,
Vulkan und Neptun. Als der Entdecker von S. Miguel,
Gontzalo Velho Cabral, der 1444 bei der ersten Lan-
dung eine Anzahl Afrikaner dort zurückließ, im näch-
sten Jahre zur Insel wiederkam, fand er das Westge-
birge verändert, denn die Bergfpitze war durch eine ge-
waltige Eruption weggeblasen und die erschreckten Leute
hatten sich nach der Ostseite geflüchtet. Freilich zeigt der
Augenschein — und Hartung („Die Azoren in ihrer
äußeren Erscheinung und nach ihrer geognostischen Natur
geschildert", Leipzig 1860) weist speciell darauf hin — daß
dieser 3/4 geographische Meilen weite Kessel nicht auf einmal
entstanden sein kann, aber sicher ist wohl, daß er vor 400
Jahren seine jetzige definitive Gestalt im Großen und Ganzen
erhalten hat. Nun lehrt ein Blick auf die Vidal'sche Karte,
wie der glatt fortlaufende, nur hier und da höhere und mit
besonderen Kegeln besetzte Kraterrand rings gleichmäßig
nach dem Meere abfällt und nur nach Osten zu, wo die
Insel sich verlängert, unregelmäßiges Gebirge sich anschließt.
Dieselbe Karte zeigt aber, wie am äußeren Kraterabhange
ziemlich hoch oben rings eine Reihe Bäche entstehen, die
fast genau radiär dem Ocean zustreben. Ein solches Bild
hatte ich hinter mir. Das Wasser hat auf die homogenen
Tuffschichtcn so regelmäßig schwemmend eingewirkt, daß
der Abhang in eine Anzahl anscheinend paralleler Dächer
zerschnitten ist, deren Firste oben aus dem Berge heraus-
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhülfte von San Miguel (Azoren).
247.
wächst, während nach unten die Schluch-
ten tiefer und die Dächer höher werden.
Genau auf einer solchen sanft ansteigen-
den First sahen wir den Weg, den wir
zurückgelegt hatten, denn es ist eine
Eigenthümlichkeit dieser Tuffe, die sie
mit dem chinesischen Löß theilen, daß
sie, wenn man einen senkrechten Ein-
schnitt macht, lauge unverändert stehen
bleiben, so daß selbst Grenzmauern von
einiger Dauer herausgearbeitet werden
können. Die gleichförmig grünen Dächer,
das Weideland, gingen nuten in die
Felder über, und zuletzt tauchten Dörfer-
auf, und hier und da sah man das Ende
steil in das Meer abstürzen, von dem
bei dcnl wolkig windigen Wetter glän-
zende, absonderliche Lichtesfekte heranf-
blitzten. — Vor uns der oder besser die
Krater. Sollten sie ans sieben geschätzt
werden können? Dann wenigstens hätte
der Name Sete Cidades (sieben Städte)
einigen Sinn — ohne dieses ein reiner
oanis a non canendo, wohl entstanden
aus legendenhafter Deutung als die un-
tergegangenen Städte von sieben durch
die Mauren ans Portugal vertriebenen
Bischöfen. Die Ansicht ist nach zwei
combinirten Photographien, die von un-
serem Standpunkte aus genommen waren,
verkleinert, allerdings mit störenden Un-
genanigkeitcn, die solchen Photographien
so leicht anhängen. Links müßte die obere
Horizontlinie mehr wagerecht verlaufen
oder selbst etwas ansteigen, denn es ist
der ans uns zukommende Rand des Hanpt-
kesscls, der völlig rund erscheint. Der
Abhang im Hintergründe ist auf etwa
1000 Fuß zu schätzen. Ausgefüllt wird
der Kessel durch zwei lebhaft grüne Seen,
welche durch eine schmale Landbrücke, die
eben einen Fahrweg abgiebt, getrennt
sind (die trennende Linie ist im Bilde
nicht ausgezogen), übrigens eine wirk-
liche Brücke, denn durch ein Thor, das
einen Kahn durchläßt, commnniciren die
Seen, von bcucn der eine der blaue heißt
(azul), nach meiner Erfahrung mit Un-
recht. Rechts im Vordergründe, wie eine
an die Wand gemauerte Krippe, wird
ein anderer Krater sichtbar, der also nur
zum Theil eine eigene Umrahmung hat.
Dafür tritt links ein prachtvoller kleine-
rer, höchst normaler Krater hervor, der
lcider auch nicht regelmäßig genug wie-
dergegeben ist. Wie die Wasserläufe
an der äußeren Abdachung nach dem
Meere zu strahlige Schluchten gerissen
haben, so ist hier der Abhang rings in
enge, schmale und steile Barrancos ein-
geschnitten, deren Relief noch dadurch
besonders hervortritt, daß sie am oberen
Kesselrande selbst beginnen und diesen
lebhaft auszacken. Die unteren Sohlen
dieser Schluchten sind noch dem Mais-
bau gewonnen, an den schrofferen oberen
Hängen klammert Gebüsch sich an. Hin-
Sete Cidades (nach einer Photographie verkleinert). Im Vordergründe die kleine Lagoa, dahinter die Lagoa grande. Der Blick ist von Süden nach Norden gerichtet.
248
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhälfte von San Mignel (Azoren).
1er diesem Kegel macht sich ein anderer Krater bemerk-
bar, der aber, wie mehrere kleine Kegel, gegen den Hinter-
rand verschwindet. Links in der Nahe der Landbrücke liegt
ein freundliches Dörfchen mit Kirche, ein Herrenhaus am
See, rechts hinten an der großen Lagoa ein kleiner Weiler,
sonst erlauben die Steilabstürze kaum weitere Ansiedelungen,
namentlich fallen die Wände rings um die Lagoa pequena
mit alpiner Steilheit ab; doch wird solcher Eindruck durch
das Grün gemildert.
Wieder ergab der Kraterrand in seinen Sphagnum-
polstern einige charakteristische Weichthiere, namentlich das
kleine Craspedopoma azoricum, ein gedeckeltes Gehänse-
schneckchen, dessen Verwandte aus dem europäischen Festlande
in seltenen Tertiärablagerungen gesucht werden müssen; in
diesem stillen Winkel hat sichs gehalten, während der reichere
Wettbewerb des Kontinents es wegfegte und durch andere
Formen ersetzte. Doch hinab den steilen Zickzackweg in den
Kessel, in den schon einmal, wie versichert wird, ein Wa-
gen gelangte. Aus
dem Gebüsch in ge-
mischten Wald, und
unten bequem weiter
zum Dörfchen, wo
wir bei Sr. Tra-
vassos in einfachem
Wirthshaus eine gute
Aufnahme finden.
Dieser kleine, unter-
setzte Blaun, der
lange Jahre in Bra-
silien zubrachte, nach
Art vieler ärmeren
Inselbewohner, die
als Brasileiros in die
Heimath zurückkeh-
ren, war das Muster
eines beweglichen,
gutmüthigen Süd-
länders, der die üb-
liche Zeichensprache
bis zur höchsten Voll-
kommenheit gebracht
hatte. Man wird in
Portugal (von den
Hauptstädten abgese-
hen) nicht leicht znm
Essen gerufen, ohne
daß Kellner oder
Wirthin mit dem
Munde und beiden Händen eifrige Eßbewegnngen ausführen,
und wenn ich früh in Ponta Delgada nach meinen Fischern rief,
so legte der Einzige, den ich erwischte, regelrecht die Backe in die
rechte Hand, um zu sagen, daß Alle noch schliefen. Travasso
war am lustigsten und drastischsten. An der Art, ein Diner
herzurichten, könnten sich die Wirthe in unseren entlegenen
Dörfern ein Muster nehmen. Hühnersnppe, Huhn mit
Reis, Fricasss von Huhn, gebratenes Hühnchen und ein
Dessert von Kuchen, Marmeladen, Bananen, die noch hier
oben gedeihen, und Obst bildete eine reiche Speisekarte auf
einfachster Grundlage, und alles vortrefflich. Ich speiste
mit Sr. Maren Napozo, dem Eigenthümer der Seen, dem
ich mancherlei Belehrung verdanke. Der Tag wurde mit
Sammeln hingebracht. Das Wetter blieb trotz dem Sep-
tember feucht und nebelig, und das will bei dem einge-
schlossenen Becken genug heißen. Die Betten, wiewohl iin
ersten Stock, waren naß anzufühlen, und früh war es un-
möglich, mit schwedischen oder vielmehr Mailänder Zünd-
hölzern, die auf dem Tische des Schlafzimmers gestanden
hatten, eine Cigarre anzuzünden. Sie brannten erst, als
sie eine halbe Stunde in der Hosentasche erwärmt und
getrocknet waren. Ich machte einen Morgenspaziergang
über die Landenge zwischen den Seen. Zum Theil üppige
Gehölze wachsen am Strande, zum Theil dürre Kiefern;
auf der Halbinsel, die in die Lagoa grande hinausragt,
wuchern malerische Feigenbäume im Waldesdickicht; am
Wege steht viel verwilderter Papyrus in dem sumpfigen
Boden. Ich entsinne mich nicht, derartige Luftfeuchtigkeit
wieder erlebt zu haben. Wolken und Nebel deckten von
oben den Kessel zu und senkten sich tiefer und tiefer, man
konnte nicht unterscheiden, ob es regnete oder nebelte, schließ-
lich waren Wolken und Seespiegel eins; eine triefende
Gewächshansschwüle. Einige Möwen über dem See; die
üblichen Goldfische; am Rande, wo ein sanfter Wellenschlag
dürre Bimssteinbrocken wälzt, hüpfen ungezählte Frösche;
wenige Heerden, und ein Paar waschende Weiber, die
bis an die Knie im
See stehen, bilden die
Staffage, letztere, wie
in Portugal und auf
Madeira, die unver-
meidlichen Figuren,
wenn man glaubt,
fern von der Stadt
ein einsames Fleck-
chen gefunden zu ha-
ben; und bei Ponta
Delgada begegnete
mir wiederholt unser
Sr.Travassos ander
Spitze einer großen
Cavalcade von Esel-
reiterinnen, jede zwi-
schenriesigenWüsche-
bündeln thronend.
Aber in diesem ent-
legenen Wasser wa-
ren sie doppelt auf-
fallend. Gegen Nord-
ost geht, da kleinere
Kegel sich gegen den
See vorlagern, eine
tiefe Schlucht gegen
den Rand des Haupt-
kraters. Man dringt
über Gerölle hier
festerer Lava vor. Die
Schlucht, mit frischem Bache, verzweigt sich nach oben, die
Wände rücken einander immer näher, hier und da steht eine
hohe begrünte Tuffsäule, von der Verwitterung noch ver-
schont, ein prachtvolles Grün, wie überall, schließlich die letzten
schmalen Spalten mit reichen Lebermoosdraperien belegt
und endlich vollkommen geschlossen, nur der Blick allein
klettert an der senkrechten Kraterwand gegen die Wolken
empor. Hinten lag das Wasser des Sees schwarz, und die
Bergwand dunkel, und als der blaue Himmel ein wenig
durchbrach, war es über der Mitte des Kessels, ans dessen
Rande ein schweres Kuppelgewölbe von Wolken lastete, die
ungeheure Höhlung des Kraters nach oben fortsetzend und
in die Höhe verengend, so daß selbst der Gedanke bloß durch
die Oeffnung im Zenith mit der fernen Welt sich zu ver-
binden wagte. — Nebenbei mögen einige Staubpilzc (Lyco-
perdon) erwähnt werden, die ans vollkommen blanken,
mageren, einzeln daliegenden Bimssteinbrocken herauswuchsen,
an die neuesten Recepte, Champignons auf Bauschutt mit
Basaltische Lava mit Kanülen und Brücken am Westende von S. Miguel,
am Fuße des Pico das Camarinhas.
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach der Westhälfte von San Miguel (Azoren).
249
Salpcterwasscr zu cultiviren, erinnernd. — Gegen Mittag
wurde das Wetter klarer, und ich machte eine Rundfahrt
auf dem See. Sr. Rapozo leiht freundlichst den Kahn.
Aber es bedarf eines kundigen Ruderers, weil nicht selten
föhnartige Böen vom Kraterrande Heranbrechen und es an
Landungsplätzen fehlt. Die Bucht am Herreuhause, wo
der Kahn lag, war die einzige Stelle der Kraterseen und
der Azoren überhaupt, wo die weiße Nymphäa prächtig
gedeiht; sie ist wohl eine ganz moderne Einführung, da sie
in der Flora noch nicht erwähnt wird. Im klebrigen hat
auch dieser See dasselbe Potamogetón, dieselbe Chara, sein
Wasser ist durch dieselbe Alge grün gefärbt, derselbe Copepod
zwischen den Algen und dasselbe Bryozoon an den Pota-
mogetonstcngeln. Hier spielt sich der Kampf ums Dasein
und die gegenseitige Oekonomie in äußerst einfachen Ver-
hältnissen ab. Der Goldfisch muß hauptsächlich von der
Alge sich nähren, ebenso die Kaulquappe des Wasserfrosches.
Dadurch wird sie aber merkwürdig beeinflußt. Versuche
haben ergeben, daß die Verwandlung und Geschlechtsreife
von einem hinreichenden Quantum animalischen Futters ab-
hängig ist, daß dagegen rein vegetabilische Kost die Larven-
charaktere länger conservirt. In der That war es höchst
verwunderlich, wie die jungen vierbeinigen und oft schon
hüpfenden, ziemlich großen Frösche am Seestrande noch den
völlig langen und kräftigen Ruderschwanz der Larve besaßen
und sich ins Wasser flüchteten, um dort in schlängelnden
Ruderbewegungen nach Quappcnart davonzueilen. Der
Hauptantheil animalischen Futters möchten die Leichen
niederer Thiere sein, die vom Kratcrrande in die Seen hin-
abgespült werden, wie denn au dem kleinen Wasserfalle der
Lagoa Pequeña die Fische am dichtesten sich drängen, Nencr-
dings hat man nun aus Deutschland und England Lachs-
forellen kommen lassen und in die Seen gesetzt, und vor
mehreren Jahren waren einige Aale von Furnas gebracht
worden. Beide müssen von Goldfischen und Fröschen leben,
die außerdem höchstens den vereinzelten Wasservögeln oder
dem Hunger zur Beute fallen. Dies Jahr nun war ein
Aal gefangen von 1,2 m Länge, und eine todte Lachsforelle
trieb auf dem Wasser, reichlich armcslang und entsprechend
dick. Gleichwohl bestehen für beide Schwierigkeiten, der
Aal zum mindesten pflanzt sich hier nicht fort, denn die
Seen haben keinen sichtbaren Abfluß nach dem Meere, und
über das Laichen der Lachsforellen liegen noch keine Er-
fahrungen vor. Ein stärkerer Besatz dieser köstlichen Wasser-
becken mit Edelfischen dürfte leider keine Aussichten haben.
Wir landeten an verschiedenen Stellen; wo der Wasserfall
herabfiel, war eine wahrhaft tropische Vegetation, modernde
Baumstämme lagen zwischen den kräftigen Blättern der
Jgname (Oalaäium esculentnw), die ans schwellendem
Selaginellentcppich sich erhob; unter ihm ein zusammen-
hängender Marchantiarasen, alles von Baumkronen über-
deckt. Auf der anderen Seite eine tiefe schmale Höhle, zum
Scherz durch Menschenhand gegraben. Fast waren wir
mit der Rundfahrt zu Ende, als Freund Chaves, der nach-
gekommen war, am Ufer erschien. Wir stiegen zusammen
den waldigen Abhang hinauf nach dem Rande des einen
rechten Kraters, der sich an den des großen anlehnt. Ein
regelrechter Kreis, der gleichmäßig steil grün abstürzt, tief
unten ein vollkommen nnbewcgtcs dunkles Wasserbecken, vier
weiße Möwen schwammen darauf, eine märchenhaft ruhige
Einsamkeit. Es kostete Mühe, sich vom Rasen wieder zu
erheben.
Den anderen Morgen gings auf frischen Eseln (die vom
Lande sind entschieden munterer als die geplagten Thiere
der Stadt) den westlichen Abhang hinauf. Wieder ein
steiler Zickzackweg zwischen den beiden Westkratcrn; eine
große Ziegenheerdc. Als wir die Höhe erklommen hatten,
Globus ttl. Nr. 16.
jagte ein frischer Wind Wolken und Nebel über den Kamm,
und von unten brüllte, im Nebel verborgen, die Brandung
herauf. Wir stiegen zum Westende der Insel hinab, wo
der Fels viel steiler abfällt; in kurzer Zeit ist man unten.
Ein kleines Dorf, freundlich gelegen, und dann zu den
blasigen, schlackigen, schwarzen Klippen, die öde und unfrucht-
bar, hier und da mit kleinen Spalten, in den Ocean hin-
ausstarren, ein anderes Bild vulkanischer Kraft. Spärliche
Pflanzen (Hieraciumarten) standen zerstreut, und einige
Heuschrecken belebten sie. Der Nebel theilt sich, und aus
dem Meere ragen mehrere schwarze Felsen auf, während die
Brandung zum Theil weit draußen weiße Strudel wirft und
von der Zerrissenheit des Meeresbodens zeugt. Wir stehen
am jüngsten Punkte der Insel. Hier war es, wo 1811
der letzte Vulkan, Sabrina, aus der See emporstieg, um
bald wieder zu verschwinden. Jetzt liegen hier draußen, bei
Mosteiros, die reichsten Fischgründe, und künftig reisende
Zoologen mögen nicht versäumen, die Bank zu untersuchen,
sie verspricht reiche Schätze, die zu heben mir Mangel an
Zeit und, bei anderer Disposition, an Mitteln verbot. Von
hier führte uns der Weg nach dem Pico das Cama-
rinhas, einem ziemlich kahlen Kegel, der seinen Namen
von einem kleinen Gestrüpp hat, welches weiße, eßbare, den
Heidelbeeren ähnliche Früchte trügt (Corema alba). Eine
große bunte Radfpinne breitete ihre Netze aus, die sich
von dem der Kreuzspinne durch eine im senkrechten Durch-
messer elegant angelegte Treppe unterscheiden; ihre großen
birnförmigen Eiercocons, die im Spätsommer erzeugt wer-
den, waren gerade fertig. Unten am Pik wartete unser
eine andere Scenerie. Ein flaches Feld schwarzer basal-
tischer Lava lagert sich gegen den Ocean vor (Ponta
Ferraria). Einzelne heiße Quellen entspringen hier noch
innerhalb der Fluthzone zwischen dem zerrissenen Gestein,
wo sie sich mit dem Seewasser mischen. Ein höchst ein-
faches Badehaus ist gebaut, das, so viel ich weiß, auf
öffentliche Kosten arme Rheumatismnskranke aufnimmt.
Das Baden allerdings ist so primitiv als möglich. Der
Kranke muß über zackige Klippen in ein kleines natürliches
Becken, eigentlich ein Loch, hinabkriechen. Mir wurden
diese Thermen zoologisch interessant, denn eine kleine, durch
ihre Kriechbewcgungen mit qnergctheiltem Fuße merkwürdige
Schnecke, Peäixes afer, die an der Küste von Senegambien
im brackischcn Wasser zu Hanse ist und sonst an den Klippen
der Azoren nur sehr zerstreut vorkommt, trat hier unter
den geeigneten klimatischen Bedingungen in größter Häufig-
keit und Ausbildung ans. Doch würde die meisten ein
landschaftliches Vorkommnis; mehr fesseln. Die Lava, halb
säulig zerklüftet, ist durch tiefe, spaltensörmige Kanäle zer-
rissen, durch die das dunkelgrüne Meer schäumt. Drei oder
vier Brücken sind über den Kanälen stehen geblieben, und
die blendende Sonne warf schwarze Schatten unter den
Felsenthoren; bei der Stärke der Brandung ein großartiges
Schauspiel. Ein Theilchen giebt die flüchtige Skizze noth-
dürftig wieder. Ungleich gewaltiger soll der Eindruck sein,
wenn der Sturm die Wogen ans den Kanälen heraus-
peitscht. Boca de inferno würde man es in Portugal
nennen, wenn es bekannt wäre, denn dieser Theil der
Insel ist der abgelegenste. In Ginetes, einem freund-
lichen, wohlhabenden Dorfe, haben Sr. Chaves' Schwäger
ihr Landgut, und wir wurden gastlichst aufgenommen.
Die Herren machten durchweg einen feinen, gebildeten Ein-
druck, die Damen, die bei Tische nicht mit erschienen, traten
in einfacher ländlicher Kleidung auf. Der Hof war ganz
den südlichen Verhältnissen angemessen. Ein einstöckiges
Wohnhaus, mit mäßigem, solidem Comfort, aber schönen
Räumlichkeiten, die große Hausflur bereits als Wohnzimmer
benutzt. Vor der Thür eine Art Veranda, mit Ziegeln
32
250
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
gepflastert, von niedriger weißgetünchter Mauer umrahmt,
an der sich eine Steinbank hinzieht, der Boden mit frischen
Binsen bestreut, der beliebte Spielplatz für die Kinder, ein
angenehmer Aufenthalt für Familie und Gesinde. Letzteres
wird, wie mir schien, fast sauft behandelt, und als beim
Kaffee Chartreufe gereicht wurde, erhielten die barfüßigen
Dienstboten ebenfalls ihr Glas. Unter den Verwandten
herrscht große Zärtlichkeit, und die Diminutivformen find
gerade aus den Inseln sehr gebräuchlich, ein weiches „oh
compadrinho meu“ (Gevatter) klingt häufig herüber und
hinüber. Bei Tische legt der Hausherr dem Gast die besten
Stücke reichlichst vor, und es ist Sitte, einen Nest auf dem
Teller zu lassen. Ich fürchtete umgekehrt durch Mäkelei
unhöflich zu erscheinen und strengte mich entsprechend an.
Neben dem Hause war die offene Tenne, ein festgestampfter
Platz, von Steinplatten umgeben. Man war dabei, die
Körner von den Maiskolben zu lösen, mit der Hand oder
einfacher Holzraspel. Auf der anderen Seite der mit Mais-
stroh belegte Viehhof, auf den die stattlichen Rinder gegen
Abend heimgetrieben wurden. Wenig Ställe. Reiche
Maisfelder zogen sich hoch am Kraterrandc von Sete Cidades
hinauf. Man forderte mich zur Jagd auf (aus Amseln,
Wachteln, Canarienvögel, Kaninchen). Mir war die Zeit
zu kostbar, und wir ritten lieber nach einem lichten Hain,
um zu sammeln. Der übliche immergrüne dünne Wald,
mit mäßigen Bäumen und Selaginellen am Boden; in der
That war die Ausbeute an Landschneckeu, den Charakter-
thieren, relativ reich, trotzdem er nur mehrere 100' über der
See lag. Man hat gemeint (nach alten Berichten), daß die
Azoren ursprünglich dicht bewaldet und so regnerisch ge-
wesen wären, als die feuchtesten Antillen. Wahrscheinlich
aber hat das grüne Aenßere der Berge, die man schwerlich
erstieg, getäuscht, und es wird sich kaum um eine andere
Vegetation gehandelt haben, als man sie jetzt noch in solchen
Hainen, namentlich in den höheren Schluchten, antrifft. —
Ein kleiner Luftballon, den Sr. Chaves gegen Abend steigen
ließ und der über dem Krater von Sete Cidades in den
Wolken verschwand, erregte den Jubel der jungen und alten
Dorfbewohner, ein freundlicher Verkehr. Als bald nach
6 Uhr mit südlicher Schnelle die Nacht hereinbrach, sagten
wir den liebenswürdigen Wirthen adeos und fuhren in
einer Droschke, nach Landessitte mit drei rüstigen Maul-
thieren neben einander bespannt, in drittehalb Stunden
heim nach Ponta Delgada, eine prächtige Fahrt in ruhig
dunkler stacht, bald am Meeresstrande, bald zwischen engen
Tuffwänden, über welchen die riesigen Arundohecken zu-
sammenschlugen. Mein Begleiter schwärmte von den feurigen
Angen der Andalufierinnen, ich dachte nach Hanse. „Vous
ill etes pas pour l’amour? — c’est chose de la race.“
Nachher sang er mir die getragenen, melancholischen, ein
wenig monotonen Weisen azorischer Volkslieder, und ich
darf hinzufügen, daß keine von unseren Melodien dem Insel-
bewohner so sympathisch ist, als unser altes
„Ich weiß nicht/ was soll cs bedeuten".
Das Schamanenthum unter den Burjaten?)
1. Die Götter und die Gottheiten.
Die höchsten Gottheiten der Schamanenbekenner (Schama-
nisten) find die T eng er in, die Himmelsgötter, welche im
Himmel über der Erde wohnen, aber sonst ein Leben führen,
wie die reichen Burjäten auf Erden. Es giebt 99 Tenge-
rin — die Zahl 9 spielt eine besondere Rolle unter den
Bnrjäten — davon find 55 westliche, ältere oder gute, und
44 östliche, jüngere oder böse. Die ungleiche Zahl ist da-
durch zu erklären, daß ursprünglich zwischen den 54 west-
lichen und 44 östlichen Himmeln (d. i. Göttern) ein Grenz-
gebiet („Obo") lag, welches schließlich von den stärkeren
tvestlichen Göttern eingenommen wurde, so daß es nun 55
westliche Himmel oder Götter giebt.
Die erste Stelle unter den westlichen Tengerin hat der
Sajan- Sagau -Tengeri (Burjäten von Kndinsk) oder der
Chan Tjnrmaß (Bnrjäten von Balagansk), die erste Stelle
0 Nach dem Russischen: N. N. Agapitow und
Nt. ttf. Changalow, Beiträge zur Kenntniß des
Schamanismus in Sibirien. I. Das Scham anen-
th uur unter d en Burjaten des G ou v eru. Irkutsk.
Besonders abgedruckt aus den Nachrichten der Ostsibirischen
Abtheilung der k. Nuss. Geographischen Gesellschaft in Irkutsk.
Bd. XIV, 1883, 170 Seiten mit Abbildungen. Die beiden
Verfasser leben im Gouvernement Irkutsk; der eine von ihnen,
M. N. Changalow, ist von Geburt ein Burjate, wurde im
Lehrer-Seminar in Irkutsk erzogen und ist jetzt Lehrer der
Schule in Kudinsk; er sammelte über das Schamanenthum
Notizen und schickte ein davon handelndes Manuskript au
N. N. Agapitow in Irkutsk. Dadurch wurde der Letztere ver-
anlaßt, iu den Jahren 1881 und 1882 gemeinsam mit Changa-
low Reisen in das Gebiet der Burjaten zu machen, um weitere
Forschungen anzustellen. Als Resultat der gemeinsamen Unter-
suchung ist die vorliegende Schrift veröffentlicht. Wir geben
hier das Wesentlichste aus der Abhandlung wieder. L. Stieda.
unter den östlichen Tengerin aber Chamchir-Bogdo oder
Ata-Ulan. Die genannten Götter besitzen eine sehr zahl-
reiche Nachkommenschaft und Verwandtschaft, deren einzelne
Angehörige keineswegs bei allen Bnrjäten in gleicher Weise
benannt und beschrieben werden. Das darf nicht Wunder
nehmen. Die Bnrjäten haben keine schriftlichen Aufzeich-
nungen über ihre Götter, deren Namen und Schilderungen
nur in der Tradition leben. Hier sollen selbstverständlich
nicht alle Namen des Geschlechtsregisters wiedergegeben
werden; doch mögen einige Platz finden. Als Stammvater
der 10 westlichen Tengerin gilt Oer-Monchyn-Tengerì
(Tengeri bedeutet etwa Himmel); seine neun Söhne haben
verschiedene Namen, wie Galla-ulan-Tengeri (feurig-
rother Himmel) und Ssnr-Ssagan-Tcngeri-Ssachila-
gata-Bndal (der Himmel, welcher den weißen Blitz her-
niedersendet). Es ist leicht ersichtlich, daß es sich bei allen
diesen Götternamen nur uni eine Personifikation der physi-
schen Eigenschaften des sichtbaren Himmels handelt.
An die Tengerin schließt sich deren zahlreiche Verwandt-
schaft, die Chaten oder Fürsten, ferner der Herr des
Feuers und der Erzeuger des Gewitters.
Der Herr des Feuers. Die Verehrung des Feuers
ist unter den Bnrjäten sehr verbreitet. Die personificirte
Gottheit des Feuers heißt bei den Balagansker Bnrjäten
Ssachäda-noyon und seine Frau Ssachala-Chatnn; bei den
Kudinsker Bnrjäten lauten die Namen etwas anders. Dem
Fcucrgotte, welcher eben als ein Sohn des Tengeri gilt,
wird geopfert, indem man einen Schafbock oder ein Pferd
schlachtet, und zwar innerhalb der Jurte am Herde. In
jeder Jurte vertritt die Stelle des eigentlichen Feuergottes
ein besonderer Haus- oder Herdgott, d. h. ein Beschützer
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
251
und Beherrscher des betreffenden Herdes. Demnach steht
eine große Schaar von niederen Feuergöttern unter der Bot-
mäßigkeit des Herrn des Feuers. — Eine Erzählung wird
am besten die Auffassung der Burjaten wiedergeben:
Einst ritt ein Mann, welcher 10 Sprachen kannte und
die Gabe besaß, die Stimme der Thiere zu verstehen, seines
Weges. Er reitet am Hause eines reichen Mannes vorbei
und hört, wie die Hunde bellen: „Kehre nicht bei uns ein,
man wird dir nichts zu essen geben und dein Pferd wird
hungrig bleiben!" Er reitet weiter und kommt zur Hütte
eines Armen; da hört er, wie die Hunde bellen: „Kehre
bei uns ein, du und dein Pferd werden satt werden." Der
Arme empfängt den Gast freundlich und ergreift sofort ein
junges Schaf, um es zu schlachten, aber das andere alte
Schaf — es waren nur zwei vorhanden — spricht: „Schlachte
lieber mich; ich bin schon alt und das junge Schaf wird
dir viele Nachkommen bringen." Der Gast, welcher die
Sprache des Schafes verstand, wies den Hausherrn au, das
alte Schaf zu schlachten. So geschieht es: Während des
Mahles wirft der arme Mann große Stücke Fleisch in das
Feuer als Opfergabe für den Herrn des Feuers. Der Gast
bemerkt, daß der Herr des Feuers anwesend und gut gekleidet
und genährt ist. In der Nacht tritt eine elend und er-
bärmlich aussehende, schlecht gekleidete Gestalt in die Hütte:
das war der Herdgott aus dein Hause des Reichen! Der
Herdgott der Hütte des Armen fragt den Ankömmling,
warum er so schlecht aussehe und sein eines Auge verletzt
sei. Der Hcrdgott des Reichen antwortet: „Der Reiche
ist geizig; er nährt mich schlecht, er hat mir neulich sogar
ein Auge ausgestoßeu, als er mit einem spitzen Gegenstände
das Hcrdfeucr aufrührte (dies Verfahren gilt den Burjäten
als eine Sünde); aber ich werde ihn dafür bestrafen; noch
in dieser Nacht werde ich sein Haus niederbrennen." Da
bat der Feuergott des Armen, der Fenergott des Reichen
solle einen hölzernen Becher, welcher Eigenthum des Armen
sei, aber sich im Hause des Reichen befinde, beim Brande
retten. Als in der Nacht das Haus des Reichen nieder-
brannte und der Becher des Armen aus dem Feuer heraus-
geworfen wurde, klagte der Reiche den Armen der Brand-
stiftung an. Da trat der Gast dazwischen und setzte dem
Reichen auseinander, daß das Haus durch seinen eigenen
Herrn des Feuers angesteckt worden sei, zur Strafe für den
Geiz und die Nichtachtung des häuslichen Herdgottcs. Der
Reiche aber glaubte dem Gaste nicht, daß dieser die Unter-
haltung der Feuergottheiten und die Stimme der Thiere
verstanden habe, fragte ihn, um ihn zu Prüfen: „Wohin
fliegen jene beiden Krähen?" Der Gast antwortete: „Sie
fliegen zur Stelle, wo der Sohn des Reichen bestattet
werden soll." Man folgte den Krähen und gelangte wirk-
lich zur Bestattung; das Opferthier war bereits geschlachtet,
beide Krähen saßen dabei. Jetzt endlich glaubte der Reiche
den Worten des unbekannten Gastes und hörte aus, den
Armen wegen der Brandstiftung anzuklagen.
Jeder gläubige Burjäte hält es für seine Pflicht, sobald
er speist, dem Herrn des Feuers einige Stücke zuzuwerfen,
oder beim Trinken einige Tropfen des Getränkes in die
Herdasche zu träufeln. Sobald ein Schaf oder ein anderes
Thier geschlachtet wird, schneidet man ein dreieckiges Stück
aus der Kopfhaut heraus und wirft cs ins Feuer — kurz
bei jeder derartigen Gelegenheit erhält der Herr des Feuers
seinen Antheil.
Als ein Bruder des Feuerherrn wird der Herr des
Sternes Solbon, „Solbon-sagan-tengeri", angesehen.
Solbon ist der Planet Venus, der Stern, welcher Morgens
und Abends sichtbar ist, der Schutzherr der Pferde und der
Menschen. Wenn im Herbst nach dem Erscheinen des
Sternes ein Füllen geboren wird, so nimmt man an, daß
cs zu einem guten Pferde heranwachsen wird. Getigerte
Pferde sind dem Solbon geheiligt. Blntigc Opfer werden
demselben heute wohl nicht mehr gebracht. Solbon hatte
drei Frauen, die letzte war eine einfache Burjätin; sie war
bereits verlobt; als sie aber, von den Hochzeitsgästen um-
ringt, zum Bräutigam sich begeben wollte, wurde sie von
Solbon ergriffen und gen Himmel gehoben.
Der Erzeuger des Donners und des Blitzes. Die
Burjäten nennen den Donner den Himmclsgcsang (tengeri-
dun); wenn es donnert, sagen sie, der Himmel singt(tcugeri
dugara). Die verschiedenen Donncrgottheitcn gehören zu
den westlichen Tengeri und sind Brüder. Man erzählt
eine Sage, nach welcher eine jener Gottheiten, Chochodo-
Morgon, früher als guter Jäger und sicherer Schütze auf
der Erde lebte, dann aber in den Himmel versetzt wurde,
um den Blitz und Donner zu bewachen. Der Gott des
Regens, Churou-noyon, hat seinen Aufenthalt im Himmel;
hier besitzt er ein Schloß und neun Tonnen mit Wasser;
wenn er eine Tonne öffuet, so regnet es drei Tage lang.
Die Erfindung einzelner Gewerbe und einzelner Hand-
werke wird den Himmelsgöttern, dcn Tengerin, zugeschrieben;
so vor allem die Kunst, das Eisen zu schmieden. Der erste
Himmelsschmicd war Dadaga-chara-darchan (darchan
— Schmied); er hatte 73 junge Schmiede unter sich; alle 74
gehören zu den westlichen Himmeln und ließen sich einst
auf den hohen Berg Mundarga (Berge von Tunkiusk)
herab.
Die Chaten (Himmelsfürstcu) sind verschiedene; es
giebt sowohl westliche wie östliche; ein besonderer ist der
Uchan-chat. Bei den Burjttten von Balagansk spielen die
westlichen Chaten, bei den Burjäten von Kudinsk und
Olchonsk die östlichen Chaten eine besonders wichtige Rolle.
Die Burjäten von Kudinsk erzählen, neun Söhne des
Buchau-noien-babai ließen sich vom Himmel auf die Erde
nieder, wählten sich neun verschiedene Wohnsitze und wurden
zu Herrschern oder Fürsten. Jeder Sohn hatte abermals
neun männliche Nachkommen, so daß cs schließlich 90 Chaten
giebt. Die Verfasser führen lange Reihen der verschiedenen
Bezeichnungen der Chaten nach verschiedenen mündlichen
Ueberlieferungen auf, welche wir alle bei Seite lassen können..
Es handelt sich dabei um mannigfache Gottheiten, welche
theils Beschützer und Herrscher bestimmter Gegenden sind,
z. B. der Gott der Angara-Quelle, des Flusses Seleuga,
des Berges Charchal u. a., theils bestimmte Verhältnisse
beschützen, z. B. Tulman-sagon-nojen, der Gott der Hochzeit
und der Ehe.
Mit dem Namen Uchan-chat werden alle Beherrscher der
Meere, Seen und Flüsse bezeichnet; sie sind vom nordwest-
lichen Himmel herabgestiegen und haben sich in die größte
Tiefe der Gewässer niedergelassen, doch gilt meistens der
Himmel als ihr Aufenthaltsort. Es sind 12 an der Zahl;
der oberste Gott ist Ucha-lobsen und seine Frau Uchan-daban;
einer heißt Gochoschi-nojen, der Beschützer des Fischfangs
mittelst der Kienfackel. Aus einer Analyse der Namen der
verschiedenen Wassergottheiten ergiebt sich den Verfassern,
daß es sich dabei nur um eine Personifikation der physischen
Eigenschaften des Wassers handelt — der Glanz, die spiegel-
glatte Oberfläche des Elements haben ihnen den Namen
gegeben. Den Wassergöttern werden Fische und Brannt-
wein geopfert, mitunter aber auch Schlachtopfcr dargebracht.
Die Burjäten aber kennen auch eine große Menge
östlicher Chaten (Gottheiten), welche dem Menschen nicht
wohlwollend gesinnt scheinen, darunter Chara-morin-eschin,
den Herrn des schwarzen Pferdes. Ihm wird eine kolossale
Körperkraft zugeschrieben; einst war er ein gewöhnlicher
Burjäte, der eben wegen seiner großen Kräfte zum Range
einer Gottheit erhoben wurde.
32*
252
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
Aus der großen Menge der Wassergottheiten treten
einzelne scharfer hervor, so z. B. die Gottheit des Baikalsees.
Die Burjaten bringen einer besonderen Göttin, der Herrin
des Sees, Aba-chatan genannt, ihr Opfer dar und sprechen
auch von einer Tochter des Sees, welche die Frauen beauf-
sichtigt. Die Burjaten vonBalagansk erzählen, der Baikal-
see habe neun Söhne und eine Tochter; die neun Söhne
sind der Fluß Selenga mit seinen Nebenflüssen, die Tochter
die Angara.
Doch nicht allein der Himmel und seine wechselnden Er-
scheinungsformen, nicht allein das Wasser werden zu Gott-
heiten, — die ganze Natur, je nachdem sie Furcht oder
Verwunderung oder Zufriedenheit im Menschen hervorruft,
gab der schöpferischen Phantasie des Menschen Veranlassung,
in der Sonne, im Monde, in den Sternen, in den Thieren
und Pflanzen, ja in den abgeschiedenen Menschenseelen Gott-
heiten zu finden.
Sonne und Mond haben eine gemeinschaftliche Gottheit
(Geist), einen Herrn (eshin), richtiger eine Herrin, welche
Schandangin Chandangin heißt. Es giebt eine Sage,
welche so lautet: Eine Frau hatte zwei Töchter; als sie
starb, verheirathete sich der Mann zum zweiten Mal; aber
die Stiefmutter liebte die Töchter aus erster Ehe nicht.
Einst sagte sie: „Wenn Euch doch die Sonne oder der
Mond holte!" Als die Mädchen hinausgingen, um Wasser
zu holen, wollten die Sonne und der Mond siegreifen. Das
eine Mädchen klammerte sich an einen Busch, die Sonne
aber packte das Mädchen, und ein Theil des Busches riß ab.
Da bat der Mond die Sonne, ihm das Mädchen zu über-
lassen. Die Sonne lieferte dem Monde das Mädchen ans
und seit jener Zeit sieht man im Monde das Bild eines
Mädchens, welches mit einer Hand einen Busch erfaßt.
Die Burjaten glauben in der Mondfläche das geraubte
Mädchen, die Herrin des Mondes, zu sehen und zeichnen ihr
Bild auf die Kisten der Schamanen.
Die Verehrung der Sonne und des Mondes spielten in
früherer Zeit entschieden eine viel wichtigere Nolle als heute;
das ist daraus zu erschließen, daß auf gewissen Bildern
(Ongn), von denen später die Rede sein wird, an den
beiden Enden des bogenförmig sich wölbenden Himmels,
und noch heute auf den Kisten der Schamanen Sonne und
Mond dargestellt sind. Idole des Sonnen- und Meer-
gottes, wie dieselben Schaschkow in Form von hölzernen,
kreisförmigen, mit rother Seide überzogenen Scheiben be-
schreibt, haben die Verfasser jedoch nicht zu Gesicht be-
kommen.
Auch andere Naturerscheinungen wurden Veranlassung
dazu, besondere Gottheiten zu erfinden. So haben die Bur-
jäten eine solche, welche Morgens die Sonne anzündet;
Gcgelama, und eine andere, welche sie Abends verlöscht,
D alai-lama.
Die Burjaten reden ferner von den Herren des Süd-
und des Nordwindes; sie rechnen beide zu den westlichen
Tengcrin, während sie die Gottheit (Herr) des Nebels zu
den östlichen Tengerin zählen. Sie haben ferner einen Herrn
des Waldes, der Steppe u. s. w. Letzterer ist böse und
macht, daß sich die Menschen verirren.
Die verschiedenen Gottheiten des Waldes und der Steppe
haben keine Gewalt über die wilden Thiere; diese üben nur
ganz bestimmte Lokal-Götter ans; so unterscheiden die Bur-
jäten „Herren" oder Gottheiten der östlichen, westlichen,
südlichen und nördlichen Taiga (undurchdringlicher, dichter
Wald).
Die Verehrung der Thiere ist nicht sehr verbreitet. Als
Gottheit wird nur der Adler angesehen, weil er vom Himmel
kommt; sonst werden gewisse Thiere verehrt, weil man ihnen
die Urheberschaft eines Volksstammes zuschreibt, so das Gnu,
der Wolf; der Igel wird wegen seiner Klugheit, der Bär-
wegen seiner Stärke verehrt. Von wirbellosen Thieren
kennt die Mythologie der Schamanen nur die Biene und
einen Wasserkäser; beide werden oft bei Gelegenheit der
Götzenbilder (der Ongon) gemeinsam mit anderen Thieren
dargestellt.
Spuren einer früheren ausgedehnten Thierverehrung
find wohl noch in den Belustigungen zu suchen, welche am
Abend nach großen Opferfesten und bei anderen feierlichen
Gelegenheiten stattfinden, bei denen der Schamaue selbst die
Nolle eines Thieres, eines Bären oder eines Igels, übernimmt.
In den Sagerz und Sitten der Burjäten sind auch An-
deutungen eines gewissen Schlangeukultus zu erkennen.
Eine Schlange (Mogoi, burjätisch) erscheint in vielen Sagen
als ein vielköpfiges Ungeheuer. Ein buntes Schaf wird
dem Schlangenkönige Altan-toli und seiner Frau geopfert,
indem man die Knochen, sowie einen Theil des Fleisches,
welches mit vierfarbigen seidenen Streifen umwickelt ist,
verbrennt. Bei der Beschwörung, wenn der Schamane die
Gottheit anfleht, das Opfer gnädig anzunehmen, erzählt er,
daß das Oberhaupt der Schlangen (Taischa) aus dem Berge
Tamiri-Ulan wohne. Ein wirklicher Kultus einzelner Thiere
existirt aber heute wohl kaum mehr unter den Burjäten.
Ueber Pflanzenkultus läßt sich nicht viel sagen: einzelne
Pflanzen, z. B. die Fichte, sollen göttlichen llrsprnngs fein.
Vor anderen haben die Bnrjäten eine gewisse abergläubische
Scheu, z. B. vor stark verkrüppelten Bäumen; unter solchen
durch zu kriechen, gilt als Sünde. Anderen Bäumen wird
aus unbekannten Gründen eine gewisse Verehrung zu Theil.
Beim Dorfe Kurtun steht z. B. ein Lärchenbaum, an dessen
Stamm bunte Fetzen gehängt werden; einzelne Haine gelten
als heilig, weil sie gewissen Gottheiten als Aufenthaltsort
dienen, oder weil Schamanen daselbst beerdigt sind.
Der Schamanist entnimmt aber auch dem Mineral-
reiche Gegenstände der Verehrung. Der unerwartete Fund
eines ungewöhnlich geformten Steines ist Grund genug, um
denselben zu verehren und ihm zu opfern. Solche Steine
heißen B um al-sch ul nn, d. h. vom Himmel gefallene
Steine; doch handelt es sich dabei nicht um Meteorsteine.
Bei den Burjäten von Kudinsk hat jeder Uluß (Dorf)
seinen heiligen Stein, welcher mitten im Uluß in einem
Kästchen eingeschlossen auf einer Säule aufbewahrt wird.
An das Ende der ganzen Reihe der verschiedenen Gott-
heiten der bnrjätischen Mythologie seien die „Geister" gestellt,
welche nichts als die Seelen der verstorbenen Verwandten,
der Ahnen u. s. w. sind. Zur Kategorie derselben gehören
1) der Dachul, 2) der Muschubun, 3) der Ada. Dachnl ist
die Seele eines Verstorbenen, eines armen Mannes, einer
armen jungen Frau oder eines Mädchens, jeder Uluß (Dorf)
hat einen eigenen Dachul. Derselbe schadet den Kindern,
Erwachsenen aber kann er nichts anhaben; bei Krankheiten
der Kinder wird deshalb ein Schamanen herbeigerufen, um
den Dachnl zu besänftigen.
Muschubun, wörtlich schlechter Vogel, ist die Seele
einer Jungfrau, welche der Vater nach ihrem Tode ins
Grab gesenkt hat. Der Muschubun hat eine menschliche
Gestalt und zwar die eines Weibes, nur die Lippen sind
roth und schnabelartig vorgestreckt; wenn ein Muschubun sich
in ein beliebiges Thier verwandelt, so bleiben dennoch seine
Lippen unverändert. Er trägt unter dem rechten Arme
einen Feucrstahl; sobald man ihm denselben entreißen will,
so schreit er: „schau in deine Hand". Man darf aber nicht
hineinsehen. Sieht man dennoch hinein, so erblickt man
statt des Stahles einen Wurm; sieht man nicht hinein, so
ckann man reich werden.
Ada sind sowohl gute, wie böse Geister, die etwas an
die russischen Hausgeister (Domowoi) erinnern. Ein Ada
Aus allen Erdtheilen.
253
erscheint in der Gestalt eines kleinen Menschen mit einem
eigenthümlichen Munde, welcher unter dem Unterkiefer liegt;
er kann sich in ein Kind, ein Mädchen, einen Hund, sogar
in eine gefüllte Blase verwandeln. Hat der Ada die Ge-
stalt eines Menschen angenommen, so verbirgt er seinen
ihn entstellenden Mund im Aermel seines Rockes. Er ver-
breitet einen eigenthümlichen knoblanchartigen Geruch. Ist
ein Ada getödtet worden, so erscheint er als ein kleines
Thier. Eulen sind dem Ada sehr gefährlich, indem sie ihm
nachstellen und ihn vernichten. Weil die Ada vor allem
danach trachten, die Kinder zu schädigen, so halten die Bur-
säten in der Nähe ihrer Kinder eine Eule, mindestens hängen
sie den Balg einer solchen hin. Gewöhnliche Menschen
können nur bisweilen die Ada sehen, der Schamane dagegen
mit Leichtigkeit.
Wie die Ada von den Schamanen verfolgt und vernichtet
werden, darüber giebt folgende Erzählung Auskunft. Ein
großer Schamane reiste einst zu einem reichen Burjäten, wo
er 13 Ada sah. Der Bursäte bat ihn, er möge sein Haus
von den ungebetenen Gästen befreien, welche die Ursache des
Todes aller seiner Kinder seien. Der Schamane versprach
es und befahl am anderen Tage gebratenes Fleisch und
andere Nahrungsmittel in einen Krug zu thun. Als er am
anderen Tage die Jurte betritt, nimmt er selbst die Gestalt
eines Ada an und sieht, daß alle 13 Ada im Kruge sitzen;
sie lassen sich die Speise gut schmecken und sagen: „Wie
gut sind doch Vater und Mutter!" Sie bemerken den neuen
Ada, den Schamanen und fragen ihn, wo er herkomme?
Dieser antwortet: „Ich streife durch die Häuser und sehe
in die Schale"; dann schließt er sich der essenden Gesellschaft
an. Alle Ada saßen nun im Kruge und speisten, nur einer
saß ani Rande und wachte. Als nun die Reihe an den
Schamanen kam zu wachen, so schlug er den Deckel zu und
nun waren alle Ada gefangen. Der Krug mit den 13
Ada wurde dann aufs Feld hinausgetragen und daselbst ver-
brannt.
Eine andere Erzählung lautet: Im Uluß Tangut, beim
Bursüten Barsädai, war ein Ada, welcher alle Kinder des
Bursäten gefressen hatte. Der Bursäte bat nun eine Scha-
manenfrau Arsut, den Ada zu vernichten. Diese befahl,
Fleisch und Mehlbrei in einen Krug rechts in die Jurte zu
stellen; sie selbst ging außen um die Jurte herum und
zauberte; sie umspannte die ganze Jurte mit einer Schnur
aus Haaren und ließ nur die Thür frei. Vier starke
Männer betranken sich, und die Schamanenfrau stellte sich
trunken; da kam der Ada durch die geöffnete Thür in die
Jurte — sofort versperrte die Schamanensrau auch die Thür
mit dem Haarseil. Nun befahl sie den Männern sie fest
zu halten, sobald sie gewahr würden, daß sie etwas fange.
Die Frau zauberte eine Zeit lang, dann faßte sie plötzlich
etwas in der östlichen Hälfte der Jurte und warf sich von
einer Seite zur anderen, als ob sie mit Jemand kämpfe. Die
Männer aber hielten sie an den Handgelenken und am
Körper und fuhren dann mit einem scharfen Messer zwischen
beide Hände der Frau — Plötzlich verbreitete sich ein starker
Geruch nach Schnittlauch; es zeigten sich deutliche Fisch-
schuppen und gleichzeitig erschien eine Art Ziesel oder Iltis,
aber ohne Fell; das Thierchen wurde sofort erschlagen.
Die guten Ada sind ganz anders; sie Pflegen, hüten
und bewachen die Kinder, das Vieh und alles Hausgeräth.
Sobald ein Fremder etwas nehmen will, so schreien sie
„manai“, d. h. es ist unser.
Bemerkenswerth ist der Glaube der Bursäten an eine
gewisse Verbindung zwischen der Seele eines lebenden
Menschen und seinem Bilde. Ein dem Bilde zugefügter
Schaden, so meinen sie, tritt beim Menschen in Wirksamkeit,
ganz abgesehen davon, daß die Aehnlichkcit zwischen dem
Menschen und dem Bilde nur eine sehr geringe ist. — Die
Burjäten fertigen nun sog. Sjä an, d. h. sie zeichnen aus Zeug-
lappen menschliche Figuren mit dem Kopf nach unten.
Diese Abbildungen werden an irgend einem Orte in der
Jurte des Besitzers, dem man Schaden zufügen will, versteckt.
Der Einfluß des Sjä giebt sich durch Krankheit und Tod
des Jurtenbesitzers kund. So lange ein Sjä in der Jurte
ist, helfen alle Opfer nichts; die Gottheiten haben alsdann
die Menschen verlassen. Sobald daher in einer Jurte ein
Sjä vermuthet wird, so niuß ein Schamane geholt werden,
um den Sjä aufzusuchen und zu verbrennen. Dieser kommt,
ruft die Gottheiten an und beginnt den Sjä zu suchen, sowohl
innen, wie außen um die Jurte laufend; hat er den Sjä
entdeckt, so zieht er einen Kreis; nun suchen auch die anderen
den Sjä. Hat der Schamane den Sjä gefunden, so versucht
er ihn zu verschlucken, was die anderen nicht zulassen, denn
das wäre eine Sünde. Wenn es nicht gelingt, den Sjä
am gegebenen Orte zu finden, so wandert er fort, einen
glänzenden Streifen wie eine Sternschnuppe hinter sich
lassend. Der gefundene Sjä muß verbrannt werden, kehrt
aber zu dem Schamanen, welcher ihn gemacht hatte, zurück
und beunruhigt ihn so lange, bis der Schamane einen neuen
Sjä anfertigt und denselben versteckt. Es herrscht auch der
Aberglaube, der Sjä könne sich in eine todte Frau ver-
wandeln, er leuchte und werde durch Feuer nicht zerstört.
Aus allen
Europa.
— Nachdem bis September 1886 eine Vertiefung des
Fahrwassers der Seine stattgefunden hat, können jetzt
zwischen Ronen und Paris Schiffe von 700 bis
900 Tonnen verkehren, während früher nur Schiffe von
300 bis 400 Tonnen den Fluß befuhren. Sogar ein Schiff
von 1000 Tonnen Inhalt hat Paris ohne Schwierigkeiten
zu erreichen vermocht. Auch die Schnelligkeit des Verkehrs
hat sich gehoben, indem das Passiren der Schleusen früher
11/2 Stunden in Anspruch nahm, jetzt aber in 20 Minuten
bewirkt wird, so daß ein Schiff auf der Tour von Ronen
nach Paris volle 10 Stunden Zeit spart und die Reise jetzt
wöchentlich zweimal statt lvie früher nur einmal machen
E r d t h e i l e n.
kann. Es ist also erklärlich, daß der Verkehr seit Vertiefung
des Fahrwassers um 20 Proc. zugenommen hat und daß sich
die Frachten weit billiger als früher stellen. Zu Anfang des
Jahrhunderts zahlte man 25, nach den Bauten von 1846
dagegen 8 bis 10 und gegenwärtig nur 3 Frcs. pro Tonne.
— Ueber die Deutschen in Rumänien, speciell in der
Dobrudscha, enthält R. Bergner's „Rumänien" (Breslau
1887) einige Angaben (S. 145,150, 352), welche wir ihres
Interesses halber hier zusammenstellen. Die Behallptnng,
daß die Deutschen der Dobrudscha gleich denen Ungarns und
Siebenbürgens unterdrückt und mißhandelt würden, erklärt
Bergncr für durchaus irrig. Den Leuten, welche unter
türkischer Herrschaft gute Zeit hatten, so viel Land bebauen
254
Aus allen Erdtheilen.
konnten, als sie nur wollten und nur den Zehnten der Ernte
zu bezahlen hatten, kommt es sauer an, jetzt Militärdienste zu
leisten und Viehsteuer, Kopfsteuer und Feldabgaben zu be-
zahlen, wie so ziemlich jeder andere Bewohner Europas. Auf
Rosen gebettet sind sie nicht, aber es geht ihnen befriedigend.
Für das große Mutterland freilich müssen sie schon seit
Decennien als verloren gelten; ihrer politischen Ansicht nach
sind sie Zigeuner. — Bergner giebt folgende Liste der deutschen
Dörfer der Dobrndscha:
Name Religion Besteht seit ungefähr Ungefähre An- zahl der Familien
Malkotsch römisch-katholisch 26 Jahren 40
.«ululiti 6 20
Katalni protestantisch 26 50
Admatscha 34 70
Tschuknrowa .... 34 70
Kuschuluk 10 „ 110
Taraverdi 10 00
Kvschali 6 „ 30
Vahari .. 4 „ 30
In nachstehenden Ortschaften wohnen Deutsche mit Türken,
Tataren, Rumänen oder Bulgaren gemischt:
Name Religion Besteht seit ungefähr Ungefähre An- zahl der Familien
Bahadagh protestantisch 25 Jahren 10
Tnlcea protest. u. katholisch 25 40
Karamnrat römisch-katholisch 10 50
Anatolkiöj Protest. >1. katholisch 6 15
Kösteudschc » " ■ « 6 15
Kolonien vou Deutschen giebt es fast in jeder Stadt Rn-
maniens; ihre Gesammtzahl im Lande verauschlagt Bergner
auf 50000. Speciell deutsch - evangelische Gemeinden mit
Pfarrern existiren in Turnu-Severinu (300 Seelen, eine
zweiklassige Schule), Craiova (600 Seelen, cine dreiklassige
Schule), Pitestschi (250 Seelen, cine einklassige Schule),
Galatzi (600 Seelen, eine dreiklassige Schule), Braila (600
Seelen, eine einklassige Schule), Bukarest und Jassy.
Asien.
— Der französische Bicekonsnl Pavie in Luang-
Prabang am mittleren Mekong-Flusse hat es versucht,
von dort einem Zuflusse des Mekong folgend Tongking zu
erreichen. Nach 19 sehr schwierigen und anstrengenden Tage-
märschen mußte er iitbcffcit kurz vor dem wichtigen Orte
Theng umkehren, da Banden der als Räuber verrufenen
chinesischen H6s das Land verheerten.
— Im „Bulletin de la Soc. de Geogr. Commerciale
de Paris“ (IX, Nr. 6) behandelt der Hydrograph I. Renaud
die Frage der Häfen von Tongking und weist nach, daß
als solche nur Hai-phong, wo sich die Franzosen zuerst fest-
setzten, dann Qnang-jen und das weiter östlich gelegene
Hone-gac oder Port Courbet in Betracht kommen können,
daß aber die beiden ersteren für größere Seeschiffe gar nicht
oder sehr schwer zu erreichen sind. Nur Hone-gac entspricht
den Anforderungen sowohl der Seeschiffahrt, als auch des
Binnenhandels; es liegt im Centrum eines allerdings noch
nicht ausgebeuteten Kohleubczirkes und läßt sich mit dem
Hinterlande am leichtesten durch eine Eisenbahn in Verbindung
setzen. Renaud räth deshalb, möglichst bald Hai-phong als
Hafen aufzugeben, wenn auch die Interessen der dort an-
gesiedelten Kanfleutc darunter litten, und Hone-gac an seine
Stelle zu setzen.
— Auf S. 319 f. des vorigen Bandes hat der „Globus"
bereits über die Reise der Engländer James, Uounghns-
band und Fulford in der Mandschurei berichtet; seitdem
sind über dieselbe vollständigere Berichte erschienen, von Ful-
sord ein Blne-Book (China, Nr. 2, 1887), von James ein
Vortrag in der Londoner B. Geographical Society (gedruckt in
deren „Proeeedings“, September 1887). Letzterem entnehmen
wir Folgendes. Der Theorie nach ist der 8000 Fuß hohe
Tschang-pai-schan (Langer weißer Berg) an der Grenze
der Mandschurei und Koreas ein den Ahnen des chinesischen
Kaiserhauses geheiligter Berg, den zu betreten als Sakrileg
gilt. Noch vor Kurzem veröffentlichte die Pekinger Zeitung
einen Bericht des Gouverneurs von Kirin, wonach er, den
bestehenden Befehlen gehorsam, alle Schluchten im Tschang-
pai-schan sorgfältig durchsucht hätte, um zu sehen, ob etwa
verbrecherische Leute dort nach der Ginseng-Wurzel suchten,
aber er habe das Gebiet ganz ruhig und frei vou Ein-
dringlingen gefunden. In Wahrheit denken die Mandarinen
nicht daran, in das Gebirge zu gehen, und es wachsen dort
rasch Ansiedelungen empor. Die Kolonisten thun sich zu
Gesellschaften oder Gilden zusammen, mit Vorsitzenden, Stell-
vertretern und Ausschüssen, welche Gesetze erlassen und Ge-
walt über Leben und Tod haben. Die Behörden von Kirin
wissen sogar davon und wenden sich gelegentlich bei Verfol-
gung von Räubern an diese Gilden, und nicht ohne Erfolg;
aber theoretisch existiren dieselben nicht. Manche von ihren
Gesetzen sind eigenthümlich, aber praktisch. So sah James
eine Bekanntmachung, worin die Leute gewarnt wurden,
gewisse, namentlich aufgeführte Uebelthäter zu beherbergen.
Eine andere untersagte allen Koreanern das Fischen; die-
selben werden nämlich in großer Anzahl von den Kolonisten
als Feldarbeiter verwendet und sollen ihre Zeit nicht mit
Sport vertändeln, sondern dem Ackerbail obliegen. Eine
dritte regelte den Handel mit Ginseng und verbot Jedermann,
solchen vor einem bestimmten Tage zu kaufen oder zu ver-
kaufen. Für Uebertretung dieses Verbotes sollte ein wohl-
habender Mann der Gilde ein Pfund Reis — dort im Ge-
birge ein Luxusartikel —, zehn Taels in Geld und zwei
Schweine, je im Gewichte von mindestens 75 Pfund, bezahlen;
ein Ausländer jedoch, der als arm und zahlungsunfähig an-
gesehen wird, sollte mit Stöcken zu Tode geprügelt werden.
Dies Gesetz war zum Schutze für eifrige Ginseng-Sucher-
erlassen, welche die abgelegeneren Thäler aufsuchten und dann
den Markt oft von anderen, welche vor Schluß der Saison
zurückkehrten, überfüllt antrafen. Diese Gilden sind höchst
wirksame Einrichtungen; tu der ganzen Mandschurei ist
Leben und Besitz eigentlich nur innerhalb ihres Machtbereiches
gesichert, trotzdem Räuber in demselben, weil er mit dichtem
Walde bedeckt und weit ausgedehnt ist, unter anderen Um-
ständen sichere Zustncht finden würden.
— Der englische Konsul in Hiogo (Japan) weist in
seinem letzten Berichte auf die Wichtigkeit hin, welche die
canadische Pacificbahn für den japanischen Handel
erlangen dürfte. Während der Theesaison von 1886 (ehe
noch Vancouver durch regelmäßige Dampfer mit Uokohama
verbunden war) wurde Thee in Segelschiffen nach Port
Moody verschifft, um von dort durch die canadische Pacific-
bahn nach dem Osten von Canada und den Vereinigten
Staaten gebracht zu werden. Im Ganzen gingen sieben
Schiffe mit über 31/4 Millionen Pfund Thee von Hiogo
nach Port Moody. Ueber dieselbe Angelegenheit verbreitet
sich Mr. Hall, der Konsul in Uokohama. Er weist darauf
hin, daß ein ansehnlicher Theil des Handels zwischen Japan
und Amerika auf dem langen und umständlichen Wege über
den Atlantischen und Indischen Ocean anstatt über den Stillen
vermittelt wird. Fast ein Drittel des 1886 von Japan nach
Amerika verschifften Thees ging in Dampfern durch den Suez-
Kanal nach New Uork, während das meiste Kerosene in Segel-
schiffen von New Uork und Philadelphia aus um das Vor-
gebirge der Guten Hoffnung herum importirt wurde. Dagegen
ging mehr als ^/4 von den: Handel Amerikas mit Japan
und die Hälfte der nach Europa ausgeführten Seide über
Aus allen Erdtheilen.
255
den Stillen Ocean nach San Francisco; an diesem Handel
sind Großbritannien und die Vereinigten Staaten etwa je
zur Halste betheiligt. Unzweifelhaft werden die Dampfer
der canadischen Pacificlinie (f. oben S. 31) binnen Kurzem
nicht nur den größten Theil des Thees, welcher bisher durch
den Suezkanal ging, an sich reißen, sondern ebenso auch einen
guten Theil der bisher über San Francisco gehenden Ausfuhr.
Afrika.
— Dr. H. 53 o i ent, Direktor des Hamburger Zoologischen
Gartens, plädirt in seinem Vortrage: „Der Elephant in
Krieg und Frieden" (Sammlung von Virchow und
Holtzendorff. Nene Folge, zweite Serie, Heft 6, Hamburg,
I. F. Richter, 1887), warm für die Verwendung gezähmter
afrikanischer Elephanten in unseren Kolonien. Nachdem er
die Geschichte ihrer Verwendung im Alterthume kurz dar-
gelegt, kommt er auf die Schwierigkeiten zu sprechen, welche
die Trägerfrage der Erforschung Afrikas bereitet, und rechnet
ans, daß ein Elephant 75 bezw. 110 Träger zu ersetzen ver-
mag. „Daß die Erschließung Afrikas für den europäischen
Handel und damit für die europäische Kultur ungleich größere
Fortschritte machen wird, wenn man erst den gezähmten
afrikanischen Elephanten zum Bundesgenossen hat, ist un-
zweifelhaft."
— In Zanzibar sittd im Laufe von zwei Jahren (1885
bis 1887) nicht weniger als fünf europäische Aerzte
gestorben; man ist dort jetzt in Krankheitsfällen auf die Hilfe
eines Parsen angewiesen.
— Dem Reuter'schen Bureau tvird unter dem 17. Sep-
tember aus Sansibar gemeldet, daß dahin Nachrichten aus
dem Inneren gelangt sind, wonach cs den Boten, die von
den dortigen Konsuln entsandt worden, um Emin Pascha
von der Abscndnng der Stanley'schcn Expedition in Kenntniß
zu setzen, und die den neuesten Nachrichten zufolge in Mlisa,
am östlichen Gestade des Albert Nyanza-Sees, angekommen
waren, endlich gelungen sei, zu dem Pascha zu gelangen.
Sie trafen mit ihm am Südende des Albert Nyanza zusammen
und kamen in seinem Lager an, gerade als er von seiner
Expedition nach dem Usungora - Lande zurückkehrte. Die
Kunde von der Entsendung der Entsatzexpedition unter Stanley
überraschte Emin Pascha ungemein und ließ ihn, da er nicht
wissen konnte, welche Route die Expedition eingeschlagen habe,
den Entschluß fassen, nach Wadelai zurückzukehren, nachdem
er vorher die von seinen Truppen an der Westküste des
Sees besetzt gehaltenen verschiedenen Posten von den Um-
ständen in Kenntniß gesetzt, die ihn bewogen, den Rückzug
anzutreten. Als die Boten, welche obige Nachrichten über-
bringen, Emin Pascha verließen, war er völlig wohl und
brachte von seiner Expedition von Usungora eine Quantität
Mnndvorräthe mit. Die Emissäre der Konsuln sollten unver-
züglich, nachdem sie Emin Pascha gesprochen^ nach der Küste
zurückkehren; als aber die Zeit dafür erschien, weigerten sie
sich abzureisen, mit dem Beutcrken, daß sie nicht wünschten,
sich aufs llicne den Gefahren auszusetzen, die sie auf dem
Marsche nach dem See durchgemacht hatten, insbesondere da
die Route infolge des zwischen M'Wanga, dem König von
Uganda, und der benachbarten Bevölkerung von Unjoro ge-
führten wüthenden Krieges gefährlicher geworden ist. Die
Truppen M'Wanga's waren in zwei Schlachten besiegt und
die zwischen deut Albert Nyanza-See und dem Muta Nzig-
See gelegene Gegend gänzlich verwüstet worden. — Im An-
schlüsse an diese Nachricht machen wir auf einen in der
Virchow - Holtzendorff'schen Sammlung (Nene Folge, zweite
Serie, Heft 5) erschienenen Vortrag von Prof. P. Treut-
lein, „Dr. Ed. Schnitzer (Emin Pascha), der ägyp-
tische Generalgouvcrneur des Sudan", aufmerksam,
welcher nach den sehr zerstreuten Originalberichten eine
historische Uebersicht des Wachsens und Vergehens der ägyp-
tischen Macht im Sudan und der bisherigen Schicksale und
Thaten Emin's giebt. Vielen mag jetzt, wo das Zusammen-
treffen Stanley's und Emin's unmittelbar bevorsteht, damit
gedient sein, rasch Näheres über den deutschen Pascha in
Jnnerafrika zu erfahren.
— Ein Brief Stanley's vom 23. Juni an Mr.
Mackinnon meldet, daß Tippn Tib, der arabische „Gouver-
neur" der Stanley-Fülle, bei seiner Ankunft daselbst zwar bei
seinen eigenen Leuten Gehorsam fand, daß aber die anderen
Sklavenhändler, den Said-bin-Habub an der Spitze, ihm
denselben verweigerten und ihn nicht als Gouverneur an-
erkannten. Tippn Tib verlangt nun 30 Soldaten des Congo-
Staates nebst zwei Officieren, um sich Anerkennung zu ver-
schaffen ; aber Stanley selbst meint, daß es ihm schwer ankommetr
muß, gegen seine früheren Spießgesellen und Freunde mit
Gewalt aufzutreten, glaubt jedoch, daß er dem in ihn gesetzten
Vertrauen entsprechen wird. — Man sieht, die Schwierig-
keitett lassen nicht ans sich warten.
— Im Aufträge der Regierung des Congo-Staates ist
Kapitän Van Gele am 1. Juli mit den Lieutenants
Li 6 nart undDhanis und 100 Mann auf zwei Dampfern
von der Station Bangala aufgebrochen, um die Frage über
den Hülle und seine vernrnthete Zugehörigkeit zum Congo-
Systeme ihrer Lösung näher zu bringen. Er tvird den
rechtsseitigen Congozustuß Jtimbiri (Loika) bis zu den
Lubi-Fällen hinauffahren, dort einen Posten mtter Dhanis
zurücklassen und dann nördlich zum Hülle vordringen, wo
ein zweiter Posten errichtet werden soll. Dort öffnet sich ein
weites, noch nie von einem Europäer betretenes Forschungs-
feld vor ihm, wo cs manches Räthsel zu lösen giebt.
Südamerika.
— Zwei neuere chilenische Expeditionen, diejenige
des Kapitäns Serrano auf dem Rio Palena (43^o südl. Br.)
(s. „Globus", Bd. 51, S. 304) und eine zweite, an welcher
skull. Otto Philippi theiluahm und welche die Wasserscheide
zwischen dem Atlantischen und dem StillenOcean
ans der Strecke voin Rio Palena bis zum Passe von Villa-
rica feststellen sollte, haben dargethan, daß in jener Gegend
die Wasserscheide keineswegs mit dem Kamme der Anden
zusammenfällt, sondern östlich desselben, also ans bisher argen-
tinischem Gebiete liegt. Die Flüsse entspringen östlich von
der Cordillere ans einer ca. 500 m hohen Ebene und durch-
brechen das Gebirge in engen Schluchten. In Folge dieser
Wahrnehmung wird, tute H. Wich mann in Petermann's
Mittheilungen (1887, S. 253) ausführt, eine in dem Grenz-
Vertrage vom Juli 1881 bereits vorgesehene neue Grenz-
bestimmung sich nöthig machen.
Polargcbiete.
— Im Frühjahr dieses Jahres wurde bekanntlich viel davon
gesprochen, daß Freiherr Nordenskiöld eine Expedition nach
dein Südpol zu unternehmen beabsichtige. Es zeigte sich
indessen bald, daß die Nachricht wenigstens verfrüht sei, aber
sie hatte doch das Gute, daß die Frage wegen einer wissen-
schaftlichen Forschungsreise Gegenstand eingehender Discnssion
in der englischen Presse wurde. Allgemein erkannte man
an, daß Freiherr Nordenskiöld der richtige Mann an der
Spitze eines solchen Unternehmens sei. Inzwischen ist ein
diesbezüglicher neuer Plan aufgetaucht. Man ist nämlich in
Australien ernsthaft darauf bedacht, eine Forschnugs-
expedition nach dem Südpol auszurüsten. Die
königl. Gesellschaft in Victoria und die königl. australische
geographische Gesellschaft haben nämlich mit dem Premier-
256
Aus allen Erdtheilen.
minister in Victoria darüber berathen, ob es zweckmäßig sei,
burd) Staatsunterstützung zu Südpolnrforschuugcu zu er-
muntern, und haben vorgeschlagen, daß zu diesem Zwecke
10 000 Pfd. St. bewilligt würden. Der Premierminister
in Victoria hat auch zugestimmt, eine solche Bewilligung ins
Budget aufzunehmen, unter der Voraussetzung, daß die übrigen
Kolonien an dem Unternehmen sich zu betheiligeu bereit sind.
Genannte wissenschaftliche Gesellschaften haben ferner vor-
geschlagen, daß man Schiffsbesitzer auffordern solle, geeignete
Schiffe zu dem angegebenen Zwecke zur Verfügung zu stellen.
Die Bedingungen für die Annahme einer solchen Offerte
sollen sein, daß jedes Schiff die nöthigen Bequemlichkeiten
für zwei Gelehrte darbietet und daß die Schiffskapitäne auf
alle Weise ihren Wünschen bezüglich der Anstellung wissen-
schaftlicher Untersuchungen entgegenkommen. Die den Schiffs-
besitzern zu gewährenden Entschädigungen sollen sehr annehm-
bar sein und außerdem will man noch eine Prämie
demjenigen Schiffe gewähren, das über 70° südl. Br.
vordringt. Es sind zlvei Schiffe erforderlich, die aur 15. Ok-
tober in Port Philip Bay zum Absegeln bereit liegen müssen.
Der Zweck der Expedition soll die Kartirung von Küsteu-
strecken unb Inseln innerhalb des antarktischen Kreises sein,
welche in den Karten der Admiralität noch nicht enthalten
sind, ferner die Aufsuchung neuer Wasserwege nach dem Süd-
pol und geeigneter Häfen zur Uebcrwinterung, die Anstellttug
wiffenschaftlicher Untersuchungen betreffend Meteorologie,
Erdmagnetismus rc. In England hat man die Nachricht
über die beabsichtigte Expedition mit Sympathie aufgenommen.
Vermischtes.
— Die in den letzten Jahren so häufig eingetretenen Erd-
beben und Erdrevolutionen haben mehr als je das Interesse
des großen Publikums für die Geologie geweckt, welche in
Prof. Dr. Melchior Neumayr wohl zum ersten Male einen
Interpreten gefunden hat, der es unbeschadet aller Wissen-
schaftlichkeit versteht, sie in einer jedem Gebildeten verständ-
lichen und ihn fesselnden Form vorzutragen. Von seiner
„Erdgeschichte" (Leipzig, Bibliographisches Institut) liegt
jetzt der prachtvoll ausgestattete zweite (Schluß-) Band
vor, der die geschichtliche Entwickelung des Erdinneren und
den jetzigen Bau der einzelnen Länder der Erde schildert.
Durch die geistvolle und leicht verständliche Darstellung ist
das Buch vortrefflich geeignet, geologische Kenntnisse in
weitere Kreise zu tragen, nicht minder durch die zahlreichen,
mit größter Sachkenntniß ausgewählten Textfiguren und die
farbigen Tafeln und Karten. Es sei unseren Lesern aufs
Beste empfohlen.
— In Nr. 122 der vom Deutschen Vereine zur Ver-
breitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag herausgegebenen
„Sammlung gemeinnütziger Vorträge" behandelt Dr. Georg
Müller-Frauenstein in fesselnder Weise die Frage: „Wie
malen sich die Naturvölker den Anfang und das
Ende der Menschen aus?" Wir geben hier kurz seine
Resultate, indem wir wegen des Einzelnen auf die Abhandlung
selbst verweisen. Die bei weitem meisten Völker stimmen
mit der biblischen Erzählung überein, daß der Schooß der
heiligen Mutter Erde im wörtlichen Sinne auch die Wiege
des Menschengeschlechtes sei, und zwar suchen sie den Ort im
Allgemeinen in ihrer eigenen Heimath. Hohe Berge oder
Höhlen sind gewöhnlich die Ausgangspunkte. Die Herero
aber, manche Kaffern, besonders aber amerikanische Stämme
(Arawaks, Iurakarecr) und die Polynesier lassen die ersten
Menschen aus Bäumen oder doch Pflanzen hervorgegangen
sein; Anklänge an diesen Glauben finden sich auch in der
Edda, bei den alten Persern und Griechen, sowie bei den
Birmanen. Vielfach wird auch den Affen, wohl ihrer
Menschenähnlichkeit wegen, die Ehre zugetheilt, unsere Stamm-
vüter zu sein, so namentlich in Vorder- und Hinterindien,
sowie in dem von indisch-buddhistischen Ideen erfüllten Tibet;
anderswo gelten Ameisen, Schlangen, Krokodile, Fische, Hunde,
Wölfe, Hyänen, Raben als Urväter des Menschengeschlechtes.
Hier hat wahrscheinlich deren religiöse Verehrung den Ge-
danken, sie seien die Schöpfer der Menschen, erst erzeugt;
ähnlich bei den Bewohnern der Urwälder, die nichts Ge-
waltigeres und Nützlicheres kennen, als die Riesenstämme,
denen sie so oft ihre Nahrung und Wohnung verdanken, welche
sie deshalb göttlich verehren und von denen sie daun auch
ihren eigenen Stammbaum ableiten. Die Thatsache schließlich,
daß der menschliche Körper in Staub zerfällt, legt den Ge-
danken wie keinen anderen nahe, daß er auch daraus hervor-
gegangen sei. Der Naturmensch hält daran fest, daß der
Körper nach dem Tode vergeht, und strebt nur in seltenen
Ausnahmefällen danach, ihn zu erhalten für die Zeit der
Rückkehr des Geistes. Daß letzterer nicht vergeht, sondern
unsterblich ist, diese Hoffnung begleitet den Natur-, ebenso
wie den Kulturmenschen durch das Leben. Es läßt sich das
heute bei dem massenhaft gewachsenen Material sicherer be-
haupten als früher. Die Leugner des Unsterblichkeitsglanbens,
denen ein Leben im Jenseits eine Utopie ist, sind bei den
Kultur- und ebenso bei den Naturvölkern durchaus vereinzelt;
sie sind nicht etwa die Träger, sondern die Verächter des
Volksglaubens. Unbezweifclte Anhänger dieses Glaubens
sind die amerikanischen Urbewohner, die Polynesier, die meisten
Papuas und Kontinental-Australier, dieDravidas, die asiati-
schen Malayen und Mongolen, die wollhaarigen Kap-Völker,
die Bantu- und Sudanneger und natürlich die Kaukasier.
Am mittleren Congo, am oberen Nil und vielleicht auf den
östlich von Neuguinea gelegenen Inselgruppen allein ist er
mit Sicherheit nicht nachzuweisen. Doch geben auch da alle
genauer erforschten Völker, welche mit den dort wohnenden
verwandt sind, durch ihren Ahneudienst zu der Hoffnung Au-
laß, daß hier nur uoch längere Beobachtung nöthig ist, um
die Regel zu einer ausnahmslosen zu machen.
— In einer tut Verlage von I. Springer in Berlin als
Sottderabdruck aus dem Archiv für Post und Telegraphie
erschienenen Schrift, betitelt: „ L a u d k a r t e n, ihre H e r-
stellung und ihre Fehlergrenzen" unternimmt Geh.
Rcchnungsrath H. Struve, in einer dem ursprünglichen
Publikationsortc entsprechenden Weise eine populäre Dar-
stellung der theoretischen tvie praktischen Arbeiten zu geben,
mit denen der Kartograph, wie dessen Vorarbeiter, der Topo-
graph, zu thun haben. Dem Laien, welcher nur einen Ein-
blick in diese Arbeiten thun will und sich um das Wie und
Warum nicht weiter kümmert, ist daher die vorliegende Schrift
zu empfehlen und nützlich, für den Fachmann aber ist dieselbe
wohl kaum ein Ersatz für die verschiedenen vorhandenen
Lehrbücher, mögen dieselben nun den praktischen oder den
theoretischen Gesichtspunkt mehr int Auge haben. Allein
diesen Ersatz zu bieten hat ja der Verfasser auch nicht beabsichtigt.
Inhalt: Düstre Charnay's jüngste Expedition nach Yucatan. IV. (Mit drei Abbildungen.) — Dr. H. Simroth: Aus-
flüge nach der Westhälfte von San Miguel (Azoren). II. (Schluß.) (Mit drei Abbildungen.) — Das Schamanenthum unter
den Burjaten. 1. Die Götter und die Gottheiten. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika. —
Polargebiete. — Vermischtes. (Schluß der Redaktion ant 27. September 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschweig.
Uri besonderer Herüeksrchtrgung der Anthropologie und Ethnologie.
B e g r ü n d e t von Karl A n d r e e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Desire Charnay's jüngste Expedition nach Uucatan.
V. (Schluß.)
(Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.^
Am nächsten Morgen unternahm Charnay mit einigen
Begleitern einen Ausflug durch die Insel Jaina, um sich einen
Ueberblick über dieselbe zu verschaffen, und photographirte
einige landschaftliche Ansichten. Jaina liegt, wie gesagt,
etwa 32 km nördlich von CamPeche und gilt bei den Ein-
wohnern, ebenso wie die noch 12 km nördlicher gelegene
Isla de Piedras, für eine künstliche Schöpfung, was falsch
ist; bei näherem Zusehen ergiebt sich, daß die Basis der
Insel wie von ganz Pucatan Kalk ist. Jai'na ist 3 km
lang und etwa 800 m breit; ein Kanal von 80 bis 100 m
Breite, der bei Ebbe trocken liegt, trennt sie vom Festlande.
In denselben ergießt sich der Bach Sacpool, d. h. Bach des
weißen Kopfes, so genannt, weil er über weißen Kalkstein
fließt. Auf dieser angeblich so fruchtbaren Insel wird aber
gar nichts gebaut, da die Eingeborenen, durch wiederholtes
Erscheinen der Heuschrecken entmnthigt, von jedem Landbau
Abstand genommen haben. Sie beschäftigen sich damit, ans
dem Festlande Brennholz zu schlagen, dasselbe ans Jaina
anzusammeln und es in Canoas nach Campeche zu führen.
Wie der ganze Norden Pucatans, wo die Indianer Cisternen
bauten oder das Wasser der Cenotes benutzten, fehlt es auch
Jaina an süßem Wasser; zwar entspringt etwa 30 m vom
Ufer eine Quelle unter der Meeresoberfläche, eine an den
Küsten Pucatans öfter vorkommende Erscheinung, und man
hat auch versucht, dieselbe in einem ausgehöhlten Palm-
stamme zu fassen; aber ihr Wasser vermischt sich mit dem-
jenigen des Meeres und wird brackig, so daß Charnay
während seines Aufenthaltes ans die Milch von Kokosnüssen
angewiesen war.
Globus UI. Nr. 17.
In der ersten Zeit der toltekischen Eroberung muß
Jai'na ein heiliger Ort gewesen sein, wohin die Pilger von
allen Seiten her zusammenströmten; denn sie umschließt vier-
große und acht kleine Pyramiden, welche einst ebenso viele
Paläste und Tempel getragen haben. Daraus, daß die
Historiker von denselben nichts berichten, möchte Charnay
schließen, daß sie älter waren, als die ähnlichen Bauwerke
von Jzamal, Chichen-itza und Cozumel, und, durch letztere
verdrängt, in Vergessenheit geriethen, ans der Mode kamen.
Außerdem aber diente die Insel als Begräbnißplatz, und
wenn man nach der zahllosen Menge dort gefundener Gräber,
der von Charnay entdeckten Masse von Knochen und nach
den Tausenden von Vasen, Idolen, Terracotten, Statuetten
und sonstigen Alterthümern, welche man dort gesammelt und
entweder zerbrochen oder nach allen Seiten hin verkauft hat,
schließen darf, so sind einst Leichen von weither dorthin ge-
schafft worden. Jene Ueberreste werden an der östlichen
und nördlichen Küste der Insel meist bei starkem Seegange
bloßgelegt, welcher freilich zugleich dazu beiträgt, dieselben zu
zerstören, so daß die Indianer, wenn wieder Ruhe einge-
treten ist, immer nur einen Theil der bloßgelegten Stücke,
der von den Wogen verschont worden ist, sammeln können.
So gleicht das ganze Ufer nur einem großen Haufen von
Muscheln und Terracottascherben. Es giebt das auch einen
Beweis dafür ab, daß das Meer früher nicht so weit reichte
und schon viel von der Insel abgespült hat. Charnay selbst
fand denn auch die meisten seiner Alterthümer im Meere.
Er begann seine Arbeiten am Strande unweit seiner
Wohnung, wo man schon früher Gräber entdeckt hatte; es
33
258
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Jucatau.
ließen sich dort leicht noch drei Stellen erkennen, wo man
nachgegraben und große Urnen von derjenigen Art, in welcher
man noch heute in den Häusern Wasser aufbewahrt, gefunden
hatte. Ursprünglich waren diese Stellen durch große
Muscheln bezeichnet, deren Spitze in der Erde stak, während
die Oesfnnng mit der Erdoberfläche in gleicher Höhe lag.
Panorama von Jai'na.
Eine ähnliche Sitte findet sich in Nieder-Californien, wo
die Indianer ihre Gräber mit Walfischknochen bezeichneten.
Am ersten Tage stieß Charnay nur auf Bruchstücke, am
zweiten aber fand er einen Krug (onntsro), wie zwei ähn-
liche bereits früher an derselben Stelle ausgegraben und von
den Indianern ihrer ursprünglichen Bestimmung als Wasser-
fli.nyf^DRÉ" 'Íe-L'ni-
Strand von Jai'na.
bchälter zurückgegeben worden waren. In dem größten l Da die Leichen selbst nicht in der Urne Platz gefunden
dieser Gefäße befanden sich außer Lanzenspitzen, Obsidian- ! hatten, so folgt daraus, daß nur die des Fleisches bereits
Messern, Steinäxten u. dergl. die Gebeine von zwei Personen, beraubten Knochen in dem Gefäße, das sich durch zierliche
Dósiré Charnay's jüngste Expedition nach Aucatan.
259
Formen und einen Kranz von hübschen Rosetten auszeichnest
von auswärts nach der Insel gebracht worden sind.
An den nächsten Tagen grub Charnay im Centrum der
Insel, um den dortigen Boden kennen zu lernen, nnd machte
von dem Gipfel einer Pyramide eine hübsche Aufnahme von
der Nordspitze, auf welcher, von Palmen umgeben, zwei
Hütten liegen.
Jaina erinnert an die Insel Bellote, welche der Reisende
1881 besuchte, und die er zum großen Theile aus Küchen-
abfüllen bestehend fand, welche von den späteren Indianern
zur Fabrikation des Mörtels für ihre Bauten verwendet
wurden. Ans Jaina aber ist die Oberfläche in der That
eine künstliche, insofern sie zum größten Theile aus Küchen-
abfüllen und Gefäßscherben besteht. So ergab eine 1,50 m
tiefe Nachgrabung am Fuße einer Pyramide ein Gemisch
aus Erde, Muscheln von
verschiedenen Arten und
einer Menge von Terra-
eotta-Scherben verschiede-
ner Färbung oder mit
Mustern bedeckt, von denen
Charnay eine Sammlung
anlegte. Die Pyramiden
und deren Unterbauten be-
decken einen gewaltigen
Raum; sie bestehen aus
einer Art Molassc und sind
mit Hausteinen verblendet.
Mau hat dort eine Säule
von 50 am Durchmesser
nnd mehreren Meter Höhe
gefunden; dicht dabei stieß
Charnay auf zwei riesige,
mit „Inschriften" bedeckte
Platten, deren Charaktere
(katunes) wie in Palengne
im Viereck angeordnet sind
und neben bekannten hicro-
glyphischcn Zeichen Figuren
von Menschen und Thieren
ausweisen. Diese Inschrif-
ten sowohl, wie auch zwei,
ans den Rückseiten der Plat-
ten angebrachte große Figu-
ren sind sehr schlecht erhal-
ten; ebenso hat sich von
den Tempeln, welche einst
die Pyramiden krönten,
keine Spur erhalten.
Die Arbeiten gingen
langsam von statten, und
Fundstücke waren selten;
am Rande der Unterbauten fanden sich Massen von
Trümmern und verwitterten Knochen, aber wenig oder
gar keine wohl erhaltene Sachen; alles war durch den
Druck zerstört worden. Als aber Charnay eine Pyramide
öffnen wollte, verweigerten seine Indianer unbedingt jeden
Gehorsam; ihr Widerwillen gegen die verlangte Arbeit aber
rührte nicht nur von der Abneigung her, die sie gegen
jede Veränderung ihrer Gewohnheiten hegen, sondern auch
von ihrer Furcht, an die alten Monumente Hand anzulegen.
Der Majordomus erzählte dem Reisenden, daß sie vor einigen
Jahren einer Pyramide Baumaterialien entnommen hätten,
nnd daß dabei ein Mann durch einen Sturz seinen Tod
gefunden; dies wurde als Werk eines Geistes eines der alten
Indianer angesehen, und seitdem wagten sich die Leute nicht
mehr an die Pyramiden heran. Man habe schon öfter,
Verschiedene, auf Jaina gefundene Gegenstände.
fügte der Majordomus hinzu, zur Nachtzeit einen Zwerg
ans einer Pyramide in die andere gehen sehen, und zu ge-
wissen Zeiten verwandele sich derselbe in einen Hahn oder
in ein Krokodil; es sei also thöricht, an die alten Bauwerke
zu rühren. Daraufhin blieb dem Reisenden freilich nichts
anderes übrig, als zu schweigen. Allerdings war die Furcht
nicht der einzige Grund der Widerspenstigkeit, denn auch die
anderen Leute, welche nicht bei den Ausgrabungen beschäftigt
waren, zeigten sich von einer unliebenswürdigcn Seite: der
Fischer brachte keine Fische, man weigerte sich, ihm von den,
im Ueberfluß vorhandenen Hühnern zu verkaufen, und nur
für schweres Geld konnte er anderthalb Dutzend Eier erstehen.
Nur die indianische Köchin blieb immer bei guter Laune
und that ihr Möglichstes, aus den Rohprodukten, welche
aufzutrciben waren, genießbare Speisen herzurichten. So
diente die Insel und selbst
die große Galerie zwei
jungen Haisischfängern zum
Zufluchtsort; Nachts befan-
den sich dieselben auf dem
Meere und bei Tage auf
der Insel, um ihren Fang
zu trocknen. Wo und wie sie
schliefen, blieb ein Räthsel.
Von ihnen erhielt Charnay
Haifischfleisch, das mit einer
Tomatensauce ein leidliches
Essen abgab. DonPolicar-
pio brachte ferner Man-
grovewurzcln, welche dicht
mit kleinen Austern besetzt
waren; cs war unmöglich,
dieselben zu öffnen, aber
wenn man sie an das Feuer
legte, erschlossen sie sich von
selbst. Charnay selbst und
Valerio konnten Hunderte
von jenen großen Schnecken
sammeln, von denen ein hal-
bes Dutzend genügt, einen
Menschen zu sättigen; wenn
man sie sechs Stunden lang
in Meerwasser kocht, geben
sie ein zwar zähes, aber
wohlschmeckendes Gericht ab.
Dazu kam noch der Ertrag
der Jagd, welche der Rei-
sende zur Ebbezeit auf der
Sandbank im Norden der
Insel aus die zahlreich dort
versammelten Möwen, Rei-
her, Regenpfeifer nnd Peli-
ware indessen selten, sehr
er bald ans sie verzichtete,
weier Manatis oder La-
kane machen konnte; letztere
scheu und dabei so zähe, daß
Wichtiger aber war der Fang z
mantine durch einen indianischen Bewohner der Insel, was
große Freude in den Herzen seiner Genossen und für
länger als einen Monat Ueberfluß in den Hütten derselben
hervorbrachte. Jedes der beiden Thiere, Männchen und
Weibchen, wog über 300 kg, und es bedurfte der Anstren-
gung von acht Männern, um jedes auf das feste Land zu
schaffen. Drei mit langen Messern versehene Leute zogen
der Beute das Fell ab, welches an Dicke der Haut des
Flußpferdes gleichkommt; Kops, Flossen nnd Schwanz wur-
den abgeschnitten und der Rest in lange Streifen zertheilt,
die man an der Sonne trocknen ließ. Nun konnte jeder-
mann für einen höchst mäßigen Preis sich mit Vorrath ver-
33*
260
Dssirs Charnay's jüngste Expedition nach Jucatan.
sehen, und auch Charnay erstand sich für 5/4 Franken ein
mächtiges Rückenstück. Kopf, Schwanz und Flossen dienten
zur Bereitung eines Nationalgerichtes, das den Namen
pibicochinita führt. Dazu wird ein großes Loch in die
Erde gegraben, dasselbe mit Holz und Kohlen ausgefüttert
uud letztere in Brand gesteckt; darauf kommen dann, in
Bananenblätter gewickelt, die Fleischstücke zu liegen, die mit
Zweigen zugedeckt werden, woraus das Ganze mit Erde be-
worfen wird. Nach 24 Stunden Schmorens wird die
Grube geöffnet und der Schmaus beginnt.
Teller ans Gräbern der Insel Jaina.
Fischerstation auf Isla de Piedras.
Früher wimmelte der Golf von Mexico von Lamantinen,
welche sich von den Algen und Wasserpflanzen, die in Menge
die sanft abfallenden Ufer bedeckten, nährten; dem fast voll-
ständigen Verschwinden der Thiere schreibt das Volk das
Auftreten des gelben Fiebers zu: dasselbe entstände aus den
verfaulenden Algen, welche nicht mehr von den Lamantinen
beseitigt würden. Ebenso mißt der Volksglaube der Haut
dieser Thiere eine besondere Eigenschaft bei: es werden
daraus Stöcke gefertigt, welche angeblich sehr gefährlich sind,
weil jede, damit beigebrachte Wunde nicht heilen, sondern
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
261
unfehlbar den Tod zur Folge haben soll. So glaubt man
wenigstens in der Habana, wo solche Stöcke so zu sagen mit
Gold ausgewogen werden.
Indessen war Charnay nicht nach Jaina gekommen, um
dort als Robinson zu leben und zu faulenzen, und cs mußte
ihm sehr daraus ankommen, den Starrsinn der Bewohner
zu überwinden. Er ließ sie also sämmtlich zusammen-
rufen und setzte für jeden antiken Gegenstand, Beil, Urne
oder Statuette, welcher ihm gebracht würde, je nach seiner Be-
deutung eine Belohnung von 1 bis 4 Realen (etwa x/2 bis 2
Mark) fest. Diese Ankündigung that Wunder, denn schon am
folgenden Morgen machten sich die Leute an die Arbeit; cs
waren die Frauen und Kinder, welche die besten Funde machten.
Mit einem alten Waldmesser oder auch nur einem
Stücke harten Holzes durchwühlten sie bei Ebbe, Morgens
und Abends, das Ufer des Meeres und gruben aussGerathe-
wohl Löcher. Auf solche Weise wurden Teller, wie die
drei in der vierten Abbildung dargestellten, gesunden, welche
denjenigen, die Charnay in dem Gräberfelde von Teotihua-
can entdeckt hat, in der Form ähneln. Es sind das Grabes-
beigaben; sie haben in der Mitte gewöhnlich ein Loch und sind
meist mit rother Malerei, welche eine Lyra oder eine Palme
darzustellen scheint, versehen; der mittelste Teller ist grau.
Täglich gab cs neue Fnndc, so kleine Gegenstände neben
zierlichen Knochen, offenbar armen Kindern angehörig,
grobe Gefäße, phantastische, kaum aus dem Gröbsten heraus-
gearbeitete Thierfiguren, dann ein hübscher Tiger, wohl
das Spielzeug eines reichen Kindes, gelb bemalt und mit
rothen Flecken überdeckt, und besser modellirt als die Schafe
und Kühe ans den Gräbern Cyperns oder Alt-Griechen-
lands; ferner Perlen einer Halskette ans grünem Stein,
Achat, Muscheln und drei kleine, sehr fein gearbeitete Köpfe;
neben großen Röhrknochen die grobe Axt eines Ackersmannes
und weiterhin eine ganze Sammlung von Messern und
Werkzeugen ans Obsidian, die vielleicht einem Arzt oder
einem Barbier angehört haben. Jeder Gegenstand läßt
Schlüsse auf seinen einstmaligen Besitzer zu: so mag eine
prächtige Axt aus polirtem Kieselstein einst einem Fürsten
angehört haben, und unweit davon lag zwischen Gebeinen
eine niedliche Statuette, die einen Kaziken in Festestracht
darstellt (s. die dritte Abbildung). Derselbe trägt einen
kronenförmigen Kopfschmuck, überragt von dem großen,
yucatekischen Federschmucke, Ohrgehänge, eine Halskette und
Armbänder; der Leib ist in eine lange Tunica gehüllt, über
welche ein prachtvoll gearbeiteter Baumwollpanzer gezogen
ist. Das Gesicht ist so fein modellirt, daß man geneigt ist,
es für ein Portrait zu nehmen.
Später fand Charnay eine zweite Statuette von einem
ganz anderen Charakter; daneben lag ein Opsermesser aus
Feuerstein, und so liegt die Vermuthung nahe, daß das
Bildwerk einen Priester (ahkin) vorstellen soll. Ihn kenn-
zeichnet als solchen die langen, auf die Schultern herab-
fallenden Haare und das lange Gewand mit schlaffem
Gürtel; das Gesicht aber mit der riesigen Nase und dem
breiten Munde ist entschieden eine Carricatur. Das Be-
streben, gerade die priesterliche Klasse im Bilde lächerlich zu
machen, kehrt übrigens bei vielen Völkern wieder, in China,
Japan, Indien wie in Europa; nur die Mohammedaner
sind davon frei, da ihnen ja der Koran das Abbilden der
menschlichen Gestalt überhaupt verbietet.
Das Vorkommen von Feuerstein, Achat, Obsidian rc.
beweist übrigens, daß in früherer Zeit zwischen Pucatan,
Tabasco und den Hochplateaus von Mexico ein reger Verkehr
bestanden hat. Auch berichtet uns ja Sahagun, daß
reiche Kaufmannsgesellschasten ans Mexico ein ganzes Jahr
im warmen Unlerlande umherreisten, ihre Waaren dort ab-
setzten und dafür Cacao, Baumwolle und Stoffe ein-
tauschten; und noch heutigen Tages unternehmen die in-
dianischen Kaufleute von Guadalaxara, die Eisenbahn ver-
schmähend, mit ihren kleinen Eseln dieselbe Reise, treiben in
derselben Weise denselben Handel und bleiben wie ihre Vor-
fahren ein volles Jahr lang unterwegs.
12 km nördlich von Jaina liegt die Isla de Piedras,
wohin sich Charnay, nachdem er seine Arbeiten auf der
ersteren Insel beendet hatte, von den beiden jungen Haifisch-
fängern rudern ließ. Sie ist viel kleiner als Jaina und
nur 500 irr lang, 300 m breit, war aber, wie jene, ein
heiliger Ort, wie eine große künstliche Plattform beweist.
Dieselbe war einst mit Hausteinen bekleidet, welche jetzt
herabgestürzt sind und den Strand bedecken; von ihnen hat
die Insel ihren heutigen Namen („Steininsel") erhalten.
Einige Händler haben ans ihr eine Fischfangstation errichtet,
ein paar strohbedeckte Hütten unter Kokospalmen. Aus
der Plattform, welche sich 3 bis 4 m über den Meeresstrand
erhebt, ist jede Spur des Tempels, den sie einst trug, ver-
schwunden; eigenthümlich sind die ans sehr geschickt angeord-
neten Muscheln errichteten Scheidewände, welche den Unter-
bau durchziehen; namentlich an der Nordseite, wo das Meer die
Stcinbekleidnng fortgerissen hat und in die Pyramide selbst ein-
gedrungen ist, kann man diese, in Pucatan sonst nicht wieder vor-
kommende Bauweise gut beobachten. Offenbar ist es aber nur
der Mangel an Steinen gewesen, welcher den Baumeister ans
den Gedanken gebracht hat, die zu Tausenden ans der Insel und
in ihrer Umgebung vorhandenen Muscheln so zu verwerthen.
Die Isla de Piedras war Charnay's letzter Ausflug.
Von dort kehrte er über Campeche nach Frankreich zurück.
Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
Von Dr. H. Simroth.
I.
Bei meiner Ankunft in der Hafenstadt Ponta Delgada
im August war es zunächst unmöglich, die Herren, welche
mir bei ihren Verdiensten um die Kenntniß der Inseln
aus der Literatur bekannt waren, aufzusuchen. Denn fast
die ganze fashionable Welt war ans den Bergen im be-
rühmten Badeort Furnas. So zögerten wir nicht lange
und sandten ein Telegramm (es ist dies die einzige Draht-
verbindung auf den Inseln) an den Hotelier, Sr. Jero-
nimo, ob Betten frei seien. Die Antwort lautete günstig
mit ein Paar Tagen Aufschub, nicht ohne Zufügung eines
Grußes, aber dieser wieder in der insular-zärtlichen
Diminutivform „Saudinha" (Pröstchen). So brachen wir
eines Morgens aus, Zervas und sein Liesse begleiteten
mich freundlichst. Das übliche Maulthierdreigespann, das
nicht geschont wurde. Allerdings führt nach Fnrnas, im
Oftgebirge, die beste moderne Straße an der Südseite der
262
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa da Fogo (Azoren).
Insel entlang, aber bei der häufigen Zerrissenheit durch
Schluchten geht es oft scharf bergauf und bergab, und
schließlich steigt der Weg doch zu fast 1000 Fuß auf, aber
es geht in fünf- bis sechsstündiger Fahrt in schlankem Trabe
ohne Schleifzeug. Ponta Del gada setzt sich östlich in
Dörfer fort, Nosto do Cllo bis Alagoa, der dritt-
größten Stadt der Insel, und man hat genug Gelegenheit,
Einblick in Hütten zu nehmen. Je näher der Stadt, um
so wohlhabender im Allgemeinen; es fallt die südliche Freude
an Form und Farbe in die Augen, die Firmenschilder sind,
der Waare entsprechend, anschaulich lebhaft gemalt, ein
Weinausschauk setzt die Buchstaben aus Reben zusammen
und dergl., die buntesten Töne concurriren; weiterhin wird
die Anpreisung schon primitiver und unmittelbarer, Proben
hängen an der oberen Kante des offenen Fensterrahmens, so
in einem eine Scheere, ein Zwirnknäuel, ein Hornknopf rc.
Die Ausstattung der ländlichen Wohnung ist äußerst dürftig,
ein Tisch, eine Lade u. dergl., aber kaum Stühle, die Leute
sitzen auf dem mit Binsen bestreuten Boden umher, die
Frauen vielfach mit der Zubereitung des Flachses beschäf-
tigt. Mit der dürftigen Unsauberkeit der Wohnung
(Drouet giebt an, daß die Bettwanze, die ich nirgends traf,
allgemein verbreitet sei — Drouet: éléments de la Faune
açoréenne, Paris 1861) contrastirt auffallend die weiße
Wüsche, die überall auf den Zäunen zum Trocknen nmher-
hängt, und meine barfüßigen Fischer z. B. trugen unter
dem leinenen Beinkleid noch eine gleichfalls
leinene Unterhose. Hühner sieht man natür-
lich in Masse, und zwar oft die besten Racen,
Malayen, Eochinchinas u. a. Die Straße
ist nicht selten als Tenne genommen, der
Mais liegt am Wege aufgeschüttet, und die
Hühner haben freien Zutritt. Verschiedentlich
sah ich hier und bei anderer Gelegenheit wohl
einen Blaun, der seine Bohnen auf holperiger
Dorfstraße, wo die Esel darüber gingen, aus-
drasch und nachher mühsam zusammenlas,
durchweg sehr kleine Wirthschaft. Bei der
Villa d a A g o a do P a o ändert sich die
Landschaft, weil die gleichnamige Serra, der
westlichste Ausläufer des mannigfach gcgliedertenOstgebirgcs,
an die Küste herantritt, Reizend sind von dieser Strecke die
Rückblicke nach Ponta Delgada. Da die Küste von dort
bis zur Pont a G a l e r a, an der wir uns jetzt be-
finden, eine flache und doch vielfach gebrochene Bogenlinie
beschreibt, entsteht eine allerliebste Straudübcrsicht, mit den
reichen Dörfern und Quintas, den massenhaften Kegeln der
mittleren Senkung darüber, und endlich dem Gebirge
von Scte Eidades als Hintergrund. Agoa do Pao
liegt in einem breiteren Thal, das hinten durch steileres
Gebirge malerisch abgeschlossen wird. Häufig ändert sich
hier die Scenerie, denn die Straße führt oft durch tiefe
Hohlwege, oder Tusfschichtcn, mehrere 100 Fuß hoch, treten,
fast nackt, heran. Sie erinnerten mich ausfallend an unsere
Muschelkalk- und Juraabhänge, so gleichmäßig horizontal
waren sie geschichtet, natürlich aus vulkanischer Asche und
Tuff. Die Lagen treten hier und da sehr instruktiv auf,
die Wirkung des durchsickernden Regenwassers darlegend.
Man sieht ein Band von Puzzolan, das sich weithin wage-
recht am Abhang hinzieht; die thonigen Bestandtheile sind
an seiner Sohle als Liegendes zusammengeschwemmt, wozu
irgend ein Wechsel der Tnffschichten den Anlaß gab, und
bilden eine für Wasser undurchlässige Schicht, und diese ver-
räth sich äußerlich durch eine Linie kleiner Farnkräuter, die
sich prächtig an dem geologischen Profile markirt. Wo die
Abhänge weniger steil sind, finden sich überall Orangen-
gürten und Weinberge, leider aber die ersteren zum großen
Theile wüst und verwildert, und die Weinberge kümmer-
lich (s. u.). In einem der Gärten steht ein riesiger Drachen-
baum, der größte, den ich sah, wie man ihn sonst nur
von Teneriffe abgebildet findet. Bei Villa Franca ist
wieder eine der wenigen Strandpartien, wo dem Meere die
Anhäufung eines schwach geneigten Sandes gestattet wurde,
auf den die Brandung Welle auf Welle wuchtig glättend
hinauswirft; einer der Punkte, den der Conchyliensammler
zu benutzen hat. Im Sande wurden denn eifrigst Schnecken-
und Muschelschalen zusammengelesen, eine Menge aller-
liebster, zierlicher, bunter, aber sehr kleiner Sächelchen, wie
denn nur sehr wenige Weichthicre, ein Tritonshorn und eine
Steckmuschel, hier zu stattlicher Größe, aber nur vereinzelt,
heranwachsen. Die niedlichen Formen, namentlich die klein-
sten Cypraeen, noch nicht 1 em, haben zu einer besonderen
Industrie» Veranlassung gegeben: die Mädchen kleben sie
zusammen, wie bei uns ans Schachteln u. dergl., doch nicht
bloß als decorativen Zierrath, sondern zu wirklichen Land-
schaften; so soll der Pic von Pico ganz gut wiedergegeben
werden. Häufig scheint diese Kunst allerdings nicht mehr
zu sein, denn es gelang mir nicht, ein Bild aufzutreiben.
Billa Franca ist die alte Hauptstadt der Insel, die be-
reits 1623 durch ein Erdbeben von Grund aus verwüstet
wurde. Sie hat nicht wieder vermocht, sich zur Blüthe von
Ponta Delgada, das jedenfalls die Zukunft für sich hat,
emporzuschwingen. Immerhin machen die sauberen Ge-
bäude, Plätze und Straßen einen fast vor-
nehmeren Eindruck als dort. Wir frühstückten
im Gasthofe, der, wie in Portugal so sehr viele,
von einer freundlichen Wittwe gehalten wurde.
Angenehm ist es dem Reisenden, daß ihm
überall sogleich selbstverständlich Waschwasser
und Handtuch gereicht wird. Die daneben zur
allgemeinen Benutzung angebrachte Zahnbürste
mag als ein Zeichen allzu naiver gastlicher Auf-
merksamkeit Erwähnung finden. Während wir
aßen, stand eine brünette Odaliske mit aschbrau-
nem Teint dienstfertig dabei, um mit großer
Schilfrispe die Fliegen von uns und den Speisen
abzuwedeln, ein Makartbild.
Bald hinter Villa Franca beginnt der Weg zu steigen,
zwischen den Maisfeldern. Die blaue Hortensie nimmt als
Chausseezaun immer mehr überhand, häufig ist Populus
angulata angepflanzt, eine neuere Einführung, die trefflich
gedeiht. Richt lange, und wir waren zur Höhe von einigen
Hundert Metern emporgestiegen, links das Gebirge, rechts
den freien Blick auf die See, und hier mit einigen wunder-
baren Aussichten. Vor uns die große tiefe genau keilför-
mige Schlucht, an deren oberem Ende der Wagen fährt,
mit gleichmäßig frisch grünen Wänden, und die ganze Thal-
weite ausgefüllt vom Ocean, so daß das Auge Mühe hat,
von der nuten sichtbaren Uferlinie bis zur Horizont-
begrenzung emporzuklettern, und immer wieder von der
Masse der Wasserfläche überrascht wird, und diese Fläche
im zartesten hellblauen Atlas mit unzähligen feinen Furchen
wie der Flügel eines Bläulings, oder besser eines jener
brasilianischen Falter, die bei geeigneter Beleuchtung hell
atlasblau aufblitzen; darüber eine flache Decke zarten Som-
mergewölks mit unendlich scheinender Lustperspektive, und
am Schluß, in einer Entfernung von 80 Irrn, selbst ein
Wölkchen, Santa Maria. Eine der eigenartigsten Land-
schaften, und wie wenig Momente, aus denen sie sich auf-
baut! Von Zeit zu Zeit kam unten Villa Franca in
Sicht und das Jnselchen dabei und die ganze reiche Ufer-
strecke in violettem Duft — aber nichts reichte an die ein-
fache Größe jener Schluchtenbilder. Run bogen wir von
der See ab und zwischen die Berge hinein. Häufig schien
Theil einer Tuffwaud mit
Regenrissen.
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Fumas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
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der Weg versperrt durch einzelne hohe Kegel oder fast
Säulen von Tuff, die stehen geblieben sind und die gelegent-
lich an die Absonderung des Quadersandsteins in der säch-
sischen Schweiz erinnern. Au den Tuffhängen ließ sich
hier die Einwirkung des Regens sehr klar verfolgen,
und die beistehende Skizze zeigt ein Stückchen einer solchen
Steilwand. Die Regentraufe, die etwa von einer über-
hängenden Pflanze kommt, giebt die erste seichte Rinne, und
das wird die Straße, aus der sich das Wasser tiefer und
tiefer in das lößartig festlockere Material scharfrandig hinein-
frißt; und es kommt bei der horizontalen Schichtung wirk-
lich etwas Aehnliches zu Stande, wie im Elbsandstein-
gebirge. Das Ende ist die Schluchtenbildung. Allmählich
erweitert sich der Paß, und ein reicher Wald, theils aus
einheimischen Sträuchern und Bäumen, theils aus ange-
pflanzten Eucalypten, Cedern, Araucarien bestehend, nimmt
Platz, mit der dichteste Waldwuchs, den man auf der Insel
trifft. Nicht lange, und das Thal thut sich aus einander
und die Lagoa von Furnas liegt zwischen herrlichen
Bergen. Leider fand ich keine Ansichten dieser schönen
Landschaft, Walker aber hat zwei prächtige Bilder davon
gegeben, die inan nachsehen möge. Wirklich ist es nicht
übertrieben, wenn man diese Scenerie mit Schweizer Bil-
dern verglichen hat, von den Schneespitzen abgesehen. Mich
erinnerte sie ziemlich lebhaft an den köstlichen Kessel von
Obersdorf im Allgäu. Bei der Fahrt am See entlang
hat man Zeit, ausführlich zu genießen. An seinem Ende
biegt die Straße wieder in ein engeres Defile ein und um
den Fuß des Pico de Gaspar herum, und wir sind
binnen wenigen Minuten im Dorfe Furnas. Ueber
einen Hügel hinweg machen sich bereits auf weithin die
weißen Dampfwolken der Geyser bemerkbar; rings ist das
Thal durch hohe Bergwände eingeschlossen, aus denen der
Ausgang zu fehlen scheint, vor uns ine Norden erhebt
Thermen von Furnas.
sich das Gebirge noch 300 bis 400 in unmittelbar hö-
her, seitlich und hinter uns sitzen den Wänden stattliche
Kegel aus. Sie halten allseitig rauhen Luftzug ab, Jahr
aus, Jahr ein herrscht eine gleichmäßig milde Wärme,
eine üppige Vegetation, ein ewiger Frühling, ein zweites
Tempe.
Sr. Jeronimo empfing uns vor dein Hotel, einem weit-
läufigen Gebäude, mitten im Dörfchen. Es waren genug
Fremde da, so daß in zwei großen Zimmern gespeist wurde.
Die Fremdenzimmer freilich waren einfach genug, und
Walker klagte über Mangel an Reinlichkeit. Sonst fanden
wir uns mit ihm recht gut aufgehoben. Man trifft selbst
einigen Comfort, namentlich die bequemen Rohrstühle von
Madeira. Ein einfacher Saal ist der Versammlungsraum
für den Abend, der Kursaal. Ein Pianino steht im Hinter-
gründe. Mit Einbruch der Dämmerung kommt ein ziem-
liches Publikum zusammen, fast alles, was die Insel an
Honoratioren beherbergt, auch ein englischer General mit j
(Nach einer Photographie.)
seiner Tochter hielt sich auf. Ich lernte Dr. Machado und
Sr. Ernesto do Canto, den alle früheren Reisenden wegen
seiner freundlichen Unterstützung mit Rath und That er-
wähnen und der als Herausgeber des „Archivo dos
Açores“ alle auf die Inseln Bezug habenden, namentlich
historischen Thatsachen sammelt, kennen. Nicht lange, und
es wird Musik gemacht, einige Herren mit guter und
namentlich sehr kräftiger Stimme tragen italienische Lieder,
Opernmelodien u. dergl. vor, ein Tanz schließt sich an;
Rundtänze waren dabei so gut wie verpönt, man bewegt
sich mehr gemessen und graziös. Die Alten plaudern. Ge-
nossen wird nichts. Gegen 10 Uhr ist bereits alles ans.
Früh wird gebadet, den Tag über geht jeder seinen Weg,
die Jugend belustigt sich mit Eselpartien u. dergl. Das ist
das ziemlich gleichförmige Leben der liante saison. Er-
staunlich ist es, mit welchem Mangel an Behaglichkeit sich
der vornehme Portugiese, der wohl in Coimbra und Paris
stndirt hat, begnügt. Einige der Herren wohnen zwar in
264
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
ihren prächtigen Villen, sonst aber ist man mit der einfach-
sten Bauernstube mit kahlen Wänden und ohne Sopha
zufrieden, ja man miethet einige Parterrezimmer, die jeden
Morgen mit frischen Binsen ausgestreut werden. Doch im
Ganzen gilt dasselbe auch von den feinen Häusern der
Stadt, in denen man neuerdings alte Möbel aufhäuft, ohne
sie jedoch zu behaglicher Einrichtung zusammenzustellen.
Wenn uns die Franzosen bisweilen ähnlichen Mangel an
Geschmack vorwerfen, hier können wir uns trösten. Frei-
lich kommt das südliche Klima in Rechnung, das den
Schwerpunkt des Lebens ins Freie verlegt.
Unser erster Ansgang galt natürlicher Weise der Besichti-
gung der Geyser und Thermen (siche die beistehende
Abbildung, für deren photographisches Original der Stand-
punkt leider insofern unglücklich gewählt ist, als der Hinter-
grund viel zu niedrig und trivial erscheint). Sie liegen
zumeist in einer geringen Entfernung hinter einem Hügel.
Die Hauptquelle sprudelt in einer Stärke von 2 Fuß etwa
3 Fuß hoch regelrecht empor. Man hat sie mit einer-
niedrigen Mauer eingefaßt und sieht von weitem die starke
Rauchsäule sich erheben. Sie kommt aus einem kleinen
Kegel von Kieselsintcr, den sie allmählich abgesetzt hat.
Rings um diese Caldeira grande ist natürlich der Boden
heiß. und selbst der Weg geht über die erhitzte Stelle. Bis
auf die andere Seite geht die Umwandlung des Gesteins
durch die salinischen Wasser und Gase. Man sicht, wie
die Trachytlava mehr und mehr zerfressen und ausgeblasen
wird, bis eine bimssteinartige Masse entsteht. Dabei ist
der Boden vielfach mit reinem, ans der Einwirkung von
schwefliger Säure auf Schwefelwasserstoff entstandenem
Schwefel überzogen, so viel mir schien, von der monoklinen
Form. Wenigstens erkennt man hier und da längere
Nadeln, undurchsichtig schwefelgelb, also nachträglich wohl
in rhombischen Schwefel umgesetzt. Handstücke zerbröckelten
mir leider unterwegs. Neben der wallenden Caldeira
grande wird das Wasser in einigen gemauerten Becken
gesammelt und erscheint hier von einer trüben hellhimmel-
blauen Farbe. Ein Stück davon befindet sich eine wesent-
lich andere Erscheinung, ein kleiner Schlammvulkan, der
bereits seit Jahrhunderten an derselben Stelle ununterbrochen
in Thätigkeit ist. Ein flacher Schlammhaufen, der durch
und durch brodelt; überall steigen Blasen auf und halten
den Schlamm in Bewegung. Die Temperatur erreicht
den Siedepunkt, und wir sahen, wie die Leute geflochtene
Körbe, mit Farnkraut ausgelegt und mit Jgnams gefüllt,
einfach in den Schlamm gruben, um sich ihr Mittagsmahl
zu kochen. Eine Strecke weiter nuten an dem Abhange
des Baches, Ribeira quente, der alle diese Wasser aufnimmt
und nach Süden zürn Meere abführt, selbst im Unterlaufe
noch die höhere Wärme bewahrend, dringen wieder starke
Dampfwolken aus einer Grotte hervor; Wasser ist wenig
darin, aber der Eindruck, den man empfängt, ist gleichwohl
der stärkste, denn es bricht mit vielem Geräusch in inter-
mittireuden Stößen aus, um dann wieder zurückzusinken.
Das ist die Caldeira de Pedro Botelbo, die ihren Namen
trägt nach einem Wundermanne, der einst aus Versehen
hineinfiel, aber seiner Heiligkeit halber wieder ausgespien
wurde. Es behielt ihn nicht. Auch hier viel Kieselabsatz,
den das Landvolk fast mit Lebensgefahr an den unzugäng-
lichsten Stellen wegkratzt, seiner eingebildeten Heilkraft
wegen. Dies die hervortretendsten Punkte. Nicht weniger
interessant ist es aber, im ganzen Umkreise, namentlich um
die ersten beiden, den ganzen Erdboden prickeln und rauchen
zu sehen. Alle paar Schritte kommt eine Quelle oder
brodeln Blasen auf; und die Wasser sind von der ver-
schiedensten Temperatur, ja an einer Stelle dringen un-
mittelbar neben einander, kaum einige Fuß getrennt, eine
ganz heiße und eine kalte Quelle aus der Bergwand, letztere
wohl auf Regenwasser zurückzuführen, das zufällig seinen
direkten Abfluß hier findet, ohne zu dem heißen Herd in
der Tiefe niederzusinken. Uebrigens ist mit diesem allen
das Gebiet vulkanischer Thermen nicht erschöpft, es streicht
vielmehr eine Zone von OSO nach WNW quer durch die
Insel, an der Nordküste kommen bei Ribeira grande ähn-
liche Mineralwässer zum Vorschein, und weiter nach Süden
sind es Mofetten, die Kohlensaure aushauchen, stark genug,
um für Vögel und kleine Vierfüßler zum Todesthal zu
werden. Die früher erwähnten warmen Quellen im Fluth-
gürtcl bei Ginetes stehen schwerlich mit dieser östlichen Zone
im Zusammenhange.
Der Gehalt der Furnaswasser an Salzen, Gasen und
Säuren ist sehr verschieden, durchweg aber ein ziemlich hoher.
Die Regierung ließ 1872 alle Heilquellen der Insel durch
Prof. Fouqué untersuchen, Walker hat einige Analysen mit-
getheilt; hier genügt es wohl, nur die wesentlichen Bestand-
theile anzugeben. Der Hanptqnell enthält in absteigender
Reihenfolge Kieselsäure, Glaubersalz, Kochsalz, Gyps,
schwefelsaures Kali, Eisenoxyd, dazu Salzsäure. In anderen
herrschen Carbonate vor, Natrium-, Eisen-, Calciumbi-
carbonat, und von Gasen Kohlensäure, Schwefelwasserstoff,
Stickstoff und Spuren von Sauerstoff. Sonst tritt noch
Mangan auf und von größerer Wichtigkeit Alaun. In
früherer Zeit beutete man ihn mehr versuchsweise aus,
doch erlagen die Werke bald wieder, bis sie bereits 1630
durch einen Vulkanausbruch, der hier stattfand, und das da-
init verbundene Erdbeben vernichtet wurden. Es lohnt
wohl nicht, die Gewinnung wieder aufzunehmen. Ungleich
wichtiger ist selbstverständlich die außerordentliche Heilkraft
der Wasser. Wir kosteten einige und verspürten eine mäßig
abführende Wirkung. Sie soll gegen Stein- und Leberleiden
wohlthätig sein, ähnlich den böhmischen Thermen. Am
meisten werden sie aber gegen Rheumatismus, das erwähnte
Hauptübel der feuchten Inseln, angewendet, und hier sollen
sie Wunder thun. Bis jetzt ist ein kleines Hospital erbaut,
das 30 bis 40 ärmere Kranke aufnimmt. In den letzten
Jahren hat man ein Badehaus errichtet, während früher
mehr in kleinen Hütten unmittelbar an den Quellen gebadet
wurde; jeder durfte sich ein privates Badehans bauen, der
ein öffentliches errichtete. Es scheint fast, als ob die alte
Weise vortheilhafter gewesen sei, da jetzt das Wasser bei der
Leitung an Wärme und gelösten Stoffen verliert. Anfangs
sollen die Bäder aufs Stärkste angreifen, so daß der Kranke
glaubt, es gehe zu Ende, und kaum mehr zur Fortsetzung
der Kur zu bewegen ist; dann aber geht's aufwärts, und
nach zwei bis drei Dutzend Bädern Pflegen sehr schlimme
Fälle geheilt zu sein. Die Saison dauert vom Juni bis
zum September. Man sieht Leute, die sich mühsam an zwei
Krücken fortschleppen, noch Heilung suchen, und indem ersten
Morgenstunden werden andere auf Eseln zum Bade gebracht.
Man hat sich neuerdings mit der Idee getragen, ein mo-
dernes Hotel im großen Stile zu bauen und durch die
nöthige Reklame Furnas zu einem Weltbade zu machen.
Die Wasser scheinen es zu verdienen, und daß keine Carls-
bader Diät verlangt wird, würde vielen erwünscht sein.
Der Aufenthalt könnte kaum reizender sein. Jetzt schon
wird sich kaum ein Kurort an Promenaden messen können,
denn es sind hier fast noch kostbarere Parks angelegt, als
in Ponta Delgada, wenigstens hat man sich mehr ausbreiten
können, und so sind wahre Perlen von Landschastsgärtnerei
entstanden. In diesem geschützten Thale scheinen trotz der
Höhe sämmtliche, auch tropische Pflanzen so gut zu gedeihen
als unten an der Küste, und viele Bäume scheinen noch
viel üppiger zu werden. An Pracht-Araucarien zählte ich
18 Astqnirle, die obersten weit aus einander, und es wurde
Christian Nusser: Die bolivianische Provinz Pungas.
265
versichert, daß sie erst vor sechs Jahren angepflanzt seien,
und sicher nicht mit den 12 untersten Quirlen. Wie reimt
sich das zur gewöhnlichen Jahresfolge? Auch sonst wirkt
das gleichmäßige Klima verschiedentlich abweichend ein; so
sollen die Tulpeubänme nicht blühen, weil ihnen die winter-
liche Ruhe fehlt oder nur ganz kurz ist. Es kommt wohl
nicht zur genügenden Bildung und Aufspeicherung von Re-
scrvestoffen für den Frühlingstrieb. Daß man die rauh-
blätterige, unfreundliche Ulme, wenn auch in ausnehmend
schönen Exemplaren, als Einzelbanm bevorzugt, war mir
bei der Fülle der Holzarten verwunderlich; doch scheint auch
das gewöhnliche Landvolk eine besondere Vorliebe dafür zu
besitzen; denn wenn ich irgendwo etwas skizzirte und ein
Haufen Weiber und Kinder herumstand, wurde die Ulme auf
dem Blatte zuerst entdeckt. Einer der Parks ist öffentlich,
doch sind auch die privaten alle offen, und Niemand wehrt
den Eintritt. Allerliebst nimmt sich die Umrahmung der
kleinen gewundenen Teiche mit Gebüsch von Farnen und
Fuchsien aus. Des Thales Charakterblume aber ist die
blaue Hortensie, die über und über in Blüthe stand, mit
riesigen Bällen (ich maß einen von 35 am Durchmesser);
manche Blüthen waren auch wieder in die kleine fruchtbare
Urform zurückgeschlagen. Die schönste Parkmauer, die man
sich denken kann, stand hier als ein Erdwall, der oben ein
blaues Hortensienband trug, unter beut die langen Wedel
der Dicksonia, alle gleich frisch grün, über die Böschung
herabfielen. Unsere beliebte Calla aethiopica bildete einen
Rasen am Bache, mit genug Blumen. Ihr ähnlich sind be-
kanntlich die Pamspflanzcn oder Jgnams, die mit dem
warmen Wasser der Thermen berieselt werden. Die Felder
stehen überall, wo das Wasser über einen sanften Abhang
ohne besondere Mühe hingeleitet werden kann. Sie machten
den üppigsten Eindruck. Zervas fand ein Blatt, dessen
Stiel 2 in, und dessen Fläche 1 in maß. Ich sah Ernte
und Neubestellung, beides vereinigt. Man holte Pflanze
auf Pflanze heraus, erntete die großen Knollen und steckte
einzelne Triebe wieder an Ort und Stelle in den sumpfigen
Boden, um baldigst von Neuem zu ernten.
Die bolivianische Provinz Dungas.
Von Christian Nusser.
I.
Die Provinz Pungas, so klein sie im Verhältniß zum
ganzen Areal des an Naturschätzen aller Art so reichen
Boliviens ist, war von jeher der wichtigste Bezirk dieser
Republik — nicht in politischer Hinsicht, denn dazu ist sie
viel zu wenig bevölkert und kann keinen Vergleich mit den
volkreicheren Centren der kalten und gemäßigten Distrikte
der Andinischen Hochebene aushalten, wohl aber in ökono-
mischer, weil die tropischen Thäler und Schluchten, ans
welchen sie sich zusammensetzt, jahraus jahrein eine Summe
von Produkten zur Ausfuhr bringen, welcher eine ebenso
hohe Bedeutung zugesprochen werden muß, als der Edel-
mctallgewinnung, welche bekanntlich die Hauptindnstrie des
Landes bildet. Die Produktion der Pungas ruht haupt-
sächlich auf landwirthschaftlicher Basis, deshalb ist die Aus-
beute eine regelmäßige, stets in den gleichen Verhältnissen
sich wiederholende — vielleicht auch zunehmende —, während
der Ertrag des Minenbetriebes, wie Jedermann weiß, sehr
vom Zufall abhängt.
Die Erzeugnisse der Pungas, von welchen die Coea
obenan steht, haben aber, so lange nicht bequeme Verkehrs-
wege zu diesen Thälern führen, was noch lange auf sich
warten lassen dürfte, nur lokale, d. h. auf das Inland sich
erstreckende Bedeutung, weil die Frachten, sobald es sich
nicht um einen Artikel handelt, der zu medicinischen
Zwecken von Europa gefordert wird, der Ausfuhr hindernd
im Wege stehen.
Zwar ist der Nnngaskasfcc auf der letzten Pariser Welt-
ausstellung dem arabischen Mokka an Güte gleich erachtet
worden, allein deshalb wird er noch nicht exportfähig, und
die kleine Ausfuhr, die davon nach Chile stattfindet, hängt
weniger mit Wechsclknrsopcrationen zusammen, als mit dem
Geschmack einiger Liebhaber extra guten Stoffes, welche ihn
mit Recht dem centralamerikanischen vorziehen und diesen
Tribut ihrem Geschmack wohl entrichten können.
In europäischen Lehrbüchern wird die Behanptnng auf-
gestellt, der Name Pungas werde den Gegenden gegeben,
welche unter 1600 m Meereshöhe liegen. Es ist dies nicht
Globus LII. Nr. 17.
richtig. Die Zone der Pungas erstreckt sich, wenn wir
eine Landmarke aufstellen wollen, ungefähr vom Hnaina
Potosi in südöstlicher Richtung bis zum Tunari-Gebirge
und zerfällt, in landläufiger, nicht geographischer oder admi-
nistrativer Redeweise, in die Pungas von La Paz und die
Pungas von Cochabamba. Allerdings hat der Name Pnn-
gas insofern einen typischen Beigeschmack erhalten, als stets
ein alle tropischen Erzeugnisse hervorbringender tiefer, von
Gebirgsbächen und Flüssen durchströmter Einschnitt darunter
verstanden wird, aber weder weiter nach Norden, in der
Provinz Caupolican, noch nach Osten, in der Provinz Valle
grande, ist je von Pungas die Rede gewesen. Mit dem
Begriff Pnngas verbindet sich eben auch derjenige einer
verhältnißmäßig intensiven Kultur, und vollends in den
tropischen Niederungen des den Amazonas und Paraguay
speisenden Flnßnetzes kann man nur von Llannras (Ebenen)
sprechen.
Was den als Provinz Pungas bezeichneten administra-
tiven Bezirk anbelangt, mit dem wir uns hier vorzugsweise
beschäftigen, so repräsentirt er die Pungas von La Paz.
Er hat keine natürliche Grenzen, doch kann man sagen,
daß er einerseits vom Rio Coroico, andererseits vom Rio
La Paz-Bopi eingeschlossen wird, mit einem Annexe, der bis
in die Ebenen des Bern hinausreicht. Der Flächeninhalt
der Provinz ist natürlich nicht anzugeben, da ihre Grenzen
zu unbestimmt sind; die auf 36 000 Seelen angegebene
Einwohnerzahl beruht auf einer alten, willkürlichen, wahr-
scheinlich zu niedrig gegriffenen Schätzung.
Der Reisende, der die interessanten Pungasthäler zu
besuchen beabsichtigt, hat, wenn er nicht über eigene Thiere
verfügt, schon von Anfang an mit Schwierigkeiten zu käm-
pfen, um sich Maulthiere für seine Reise zu beschaffen, da
eine Reitpostverbindnng mit Pnngas nicht besteht und nur
selten Jemand gewillt ist, Thiere für diese Tour gegen
Entgelt ansznleihen, weil sie sowohl der schlechten Wege
als des Futtermangels wegen sehr herunterkommen. Hat
er endlich mit Mühe und Noth einen Ljungas-Indianer,
34
266
Christ:an Nusser: Die bolivianische Provinz Pungas.
Eigenthümer von zwei oder drei Maulthieren, aufgetrieben, der
in seine heimathlichen Thäler zurückkehrt, so kann er daraus
zählen, daß er, wenn der Aufbruch für 9 Uhr Morgens
verabredet ist, etwa um 12 Uhr im Sattel sitzt und wie ein
rechter Don Quijote durch häufige Anwendung der Sporen
dem schwächlichen und unwilligen Geschöpf Lust und Liebe
zu dem begonnenen Tagewerke einzuflößen hat. Die
wenigen Maulthiere, welche die Pungas- Indianer besitzen,
sind alle gleich elend; sie sind betreffs Tragkraft nur unbe-
deutend leistungsfähiger als die Esel, welche zudem gegen
Strapazen ausdauernder sind, und diese Inferiorität hat,
selbst wenn der Indianer bessere Qualität kaufen und
größere Sorgfalt aus die Thiere verwenden würde — zwei
Sachen, die er nicht thut —, wohl ihren Grund darin, daß
das Klima der Nungas die Lastthiere entnervt, quälerische
Insekten und die Futterkuappheit den Zustand chronischer
Entkräftung aufrecht erhalten. Es ist seltsam, daß da, wo
die Vegetation so üppig ist, daß sie selbst steile Abgründe
mit einem von Lebenskraft strotzenden Pflanzenteppich über-
wuchert, nur eine dürftige, „eaelli" genannte Futterpflanze
von der Natur gespendet wird.
Statt 300 spanischen Pfunden, der Last eines kräftigen
Maulthieres, transportiren jene kaum 2OO Pfund. Das
Maulthier, welches das Bett, d. h. die Wollniatratze, und die
anderen Habseligkeiten des Reisenden trägt, wird von dem
ihn begleitenden Indianer, der mit dem Reiter gleichen
Schrill hält, am Halfterstrick geführt.
Hat man die holperigen Straßen von La Paz im
Rücken, so dehnt sich vor dem Beschauer das breite, von
hohen Abdachungen begrenzte, anfänglich sanft ansteigende
Thal von Potopoto aus, durch welches der Weg direkt
zum Gebirgskamm hinaufführt, der noch am gleichen Tage
überschritten werden muß. Die breite Thalsohle ist gut
kultivirt und weithin streift der Blick über das sehr an-
sprechende Bild der von kleinen Baum- oder Gesträuch-
gruppen beschatteten Landhäuser oder Jndianerhütten, obwohl
der Baumwuchs spärlicher vertreten ist, als es im Interesse
der landwirthschaftlichen Schönheit zu wünschen wäre.
Nach einer Stunde hört das kultivirbare Terrain auf, das
Thal verengt sich und an der einst reichen Gewinn ab-
werfenden Goldwäfcherei Chuquiaguillo vorbei steigt der
Pfad an, in die Regionen, wo die Punanatur in dem
spröden, in Büscheln wachsenden Cordillcragras verkörpert ist.
Während diese Strecke über den mit losen Kieseln be-
deckten abscheulichen Weg zurückgelegt wird, kann der in-
dianische Führer einer näheren Betrachtung unterzogen
werden. La Paz liegt hart am Rande der Puna (Andi-
nische Hochebene) in einem Einschnitt, der mit dem Aus-
druck „Cabezera de Balle", d. h. die oberste Stufe eines
nach den Niederungen sich senkenden Flußthales, das ver-
schiedene Zonen durchstreicht, bezeichnet wird. Man hat
hier also Gelegenheit, die verschiedenen Typen der Urein-
wohner, wenn wir die jetzt noch ansässige Indianer-Rasse
dafür gelten lassen wollen, zu studiren. In der Umgebung
von La Paz, welche auf 50 Stunden im Umkreise, beinahe nach
allen Seiten hin, nur Indianer der Aymara-Rasse beherbergt,
stoßen wir zuerst auf den numerisch wichtigsten Theil derselben,
auf den die Puna bewohnenden Indianer. Nach diesem, der
sich in der Mehrheit durch stämmigen Körperbau und seine von
der Hochlaudluft gedunkelte Kupferfarbe auszeichnet, kommt
der schlanke, eine lichtere Hautfarbe aufweisende Indianer
der warmen, aber noch nicht tropischen Thäler (valles);
Thäler, in welchen Melonen, Trauben, Aprikosen, Feigen rc.
gedeihen und die ihrer herrlichen Luft und ihrer Fruchtbarkeit
wegen als paradiesische Ruheplätze gepriesen werden. Auf
den Balle-Indianer, den Stutzer unter seinen Slammes-
genossen folgt der Pungas-Indianer. Weiter hinaus, beim
Betreten der Tiefebene, stößt man aus die Movimas, Lecos,
Mozetenes u. s. w., die zum Theil unterworfen sind, zum
Theil nicht, aus die hier aber, weil sie anderer Rasse sind,
nicht einzugehen ist. Der Nungas-Jndianer ist kleiner, von
zierlicherem Körperbau als sein Bruder der Hochebene.
Seine Hautfarbe ist gelb, von einem Gelb, das man einer
krankhaften Umbildung des dunkelkupferfarbenen Pigments
zuschreiben möchte; auch die Physiognomie ist eine andere
geworden; wir finden bei ihm nicht mehr das charakteristische
Vogelgesicht, die häßlich gebogene Nase des Aymara; die
Züge sind weicher, verschwommener. Auch er trägt den
auf den Rücken herabhängenden Zopf. Die Beine sind
nackt bis zur Kniebeuge; zum Marschiren bedient er sich
lederner Sandalen. Nicht selten sieht man Nungas-Jndianer,
deren Füße bis an die Waden herauf mit greulich ent-
zündeten oder eiternden Geschwüren bedeckt sind; in der
Regel die Folge ihrer Nachlässigkeit, die von den Sandflöhen
(piques) in die Zehen gelegten Eierbeutel nicht recht-
zeitig zu entfernen. Der wollene grellfarbige Poncho ver-
läßt sie als Schutz gegen Kälte und Regen nie auf ihren Reisen.
Es bedarf einiger Uebung, um anfänglich einen Indianer
von anderen individuell — im gleichen Bezirk — zu unter-
scheiden, aber selbst für den Neuling sind die Durchschnitts-
merkmale leicht erkennbar, welche den Puna-Indianer vom
Balle-Indianer und den Nungas- Indianer von den beiden
ersteren trennen. Die Unterschiede sind wie von Tag zu
Nacht, wie die, welche zwischen dein Deutschen und dem
Italiener bestehen.
Es ist anzunehmen, daß die die Puna bewohnenden
Indianer den Urtypus der Rasse darstellen, daß aber ihre
physischen Eigenschaften durch die topographischen und kli-
matischen Bedingungen der Wohnplätze, die sie sich ausgesucht
haben, modisicirt worden sind. Das Band der Sprache um-
schlingt sie, und wenn, wie alle spanischen Geschichtsschreiber
übereinstimmend aussagen, die Jncas den von ihnen unter-
worfenen Völkern, oder wenigstens den Häuptlingssamitien
derselben, die Quichuasprache aufgedrungen haben, so berichtet
dagegen keine Tradition von einer zwaugsmäßigen Ver-
breitung der Aymarasprache.
In den Pungas von Cochabamba herrscht, weil sie in
den Bereich der Quichuadistrikte fallen, natürlich die
Quichuasprache.
Im Uebrigen sind diese drei Aymarakategorien, ob sie
jetzt aus der Puna, im Balle oder in den Aungas leben,
Heloten, die sich unter der Znchtruthe des Correjidors,
Pfarrers, Gutsbesitzers, Soldaten und des lieben Publikums
im Allgemeinen zu beugen haben; sie sind eine unbehilfliche
Masse von arbeitleistenden Instrumenten, in welcher sich
grausame Instinkte sammeln können und müssen, ohne daß
sich deshalb aus ihren Leidenschaften je ein Aufschwung zu
einem höheren Ziele heraus entwickeln könnte. Sie sind
nicht dem Untergänge geweiht, dazu sind sie zu nützlich;
uud der Boden, den sie bewohnen, wird ihnen wohl nie
streitig gemacht werden. Man darf sich aber mit einiger
Neugierde wohl fragen, was das Schicksal dieser peruanischen
und bolivianischen Ackerbauer in späteren Zeiten sein wird,
wenn sie schon in der jetzigen in Bezug auf ihre gesellschaft-
liche Stellung Anachronismen sind.
Der Weg, welchen der Reisende verfolgt, ist einer der
belebtesten der Republik. Kaum eine Stunde vergeht, daß
nicht größere oder kleinere Züge von Lastthieren angetroffen
werden, meistens Esel; doch auch das Llama niuß sich zum
Besuch der heißen Thäler bequemen, wird aber, nachdem die
Frachtangelegenheiten erledigt sind, ohne Aufenthalt wieder
den kälteren Regionen zugetrieben. Die Frachten nach
I Nungas bestehen aus Lebensmitteln inländischen und aus-
! ländischen Ursprungs und europäischen und Nordamerika-
Christian Nnsser: Die bolivianische Provinz Jungas.
267
nischen Jndustrieerzeugnissen; die Rückfrachten per Esel und
Maulthier zu aus Cocaballen, der Rest ans Kaffee,
Cacao, Chinarinde u. s. w.; und per Llama beinahe ans-
fchließlich aus l1/^111 langen, 20 cm breiten und etwa 6 cm
dicken, roh zugerichteten Brettern, der alleinigen Ban- und
Möbelholzzufuhr, mit welcher der allernöthigste Bedarf bis in
das jetzige Jahrzehnt hinein gedeckt werden konnte.
Jedem Thiere werden zwei Bretter, eines an jeder Seite,
angebunden und, den lästigen Panzer wohl innerlich ver-
wünschend, schleppen sie sich, die gewöhnlichen herzbrechenden
Seufzer ausstoßend, der Heimath zu. Neuerdings mag ihr
Loos in dieser Beziehung gemildert sein; Dank der Eisen-
bahn von Mollendo-Puno und der Dampfschiffahrt auf dem
Titicacasee gelangen nordamerikanische Fichtenholzbretter
auf der holzarmen Hochebene zum Verkauf, während die
letztere oft kaum durch eine Entfernung von 15 Leguas
(a 5572 m) in der Luftlinie von unerschöpflichen Wäldern
der werthvollsten Holzarten getrennt ist!
Nach Bewältigung der zu den Hochflächen der Cordillera
von Pnngas ansteigenden Berglehnen führt der Weg durch
eine breite, am Fuße schneebedeckter Gipfel durchbrechende,
sattelartige Oesfnung auf die andere Bergfeite. Auf steilem,
drei Stunden dauernden Abstieg wird um 9 Uhr Nachts
das aus ein paar elenden Hütten bestehende Pong o erreicht,
wo übernachtet und für die Thiere ein unverschämt theures
Futter beschafft werden kann. Von Pongo aus fängt der
Weg an, recht schlecht zu werden und zwar von nun an so
schlecht, daß die Pungaswege bei den in Betreff der Reife-
bequemlichkeiten gewiß anspruchslosen Landessöhnen eine
traurige Berühmtheit erlangt haben. Indeß entschädigt
hierfür einigermaßen die Vegetation, die sich mit jedem
Schritt abwärts großartiger entfaltet. Von dem von Pongo
zwei Stunden entfernten Undnavi zweigen zwei Wege ab,
von welchen der eine nach Coroico, der andere nach Chulu-
mani, den beiden Emporien der Provinz, führt. Auf- und
absteigend zieht sich der Pfad zwischen wild verwachsenem
Gehölz zürn Flußbett hinab, aber nur hier und da gestattet
die von der Sonne noch nicht aufgesogene Feuchtigkeit, die
sich als Nebel an den Bcrgseiten festgesetzt hat, die Aussicht
auf die dunkelgrünen Linien ihrer Wälder, welche mit der
Nacktheit der im Rücken liegenden Gipfel contrastiren. Neun
Stunden hat der Abstieg gedauert, bis zu der Ecke, an
welcher der Rio Chairo in den viel bedeutenderen Coroico
einmündet. Wir sind im Herzen der tropischen Natur, an
einem Punkte, der, nicht minder malerisch als erfrischend, den
Reisenden in bewunderndes Staunen versetzt. Wo in der
tiefen Flußrinne die Bodengestaltung keine Kultur erlaubt,
bedeckt der vom Menschen noch nicht berührte Urwald die
Bergfeiten, wo sich aber oberhalb dem Flusse die Berglehnen
etwas abflachen, begegnet man Hütten, die von Anpflan-
zungen umgeben sind, in welchen die Bananen, Orangen,
Ananas, der Kaffeestranch und der Cacao üppig gedeihen.
Der reichste Pflanzenwuchs, die herrlichsten Blüthen erfreuen
den Beschauer in der nun von ihrem Dunstschleier befreiten
Atmosphäre. — Nicht weit von den Einmündungen des
Elena und Polosa in den Coroico beginnt der steile Auf-
stieg zu dem hoch über dem Flußbett gelegenen Coroico.
Wenigstens zwei Stunden sind erforderlich, um diese Strecke
zurückzulegen. Coroico ist ein altes Städtchen von circa
2000 Seelen, das im großen Jndianeraufstande von 1780
schwer heimgesucht wurde. Ueber die während dieser Re-
bellion in Coroico vorgefallenen Greuelthaten berichtete der
Augenzeuge Pfarrer D. Marcos Aliaga: „Grauen und
Abscheu erregten die von den Indianern von Coroico (des
Bezirks) während des Aufstandes verübten Scheußlichkeiten,
denn sie machten alle Spanier, Mestizen, Neger und Mu-
latten nieder, die es in ihrem Distrikte gab, ohne selbst die
Säuglinge zu verschonen, wobei sie die unmenschlichsten und
ungeheuerlichsten Todesarten zur Anwendung brachten, wie
sie die barbarischsten und rohesten Völker nicht zu ersinnen
vermöchten; denn sie versuchten, sich durch Trinken von
Menschenblut zu sättigen und zwar so sehr, daß sie mit
einander stritten, wer den Vorrang dabei haben würde, und
thaten es so unmäßig, daß sie davon krank wurden. Am
Gründonnerstag des vergangenen Jahres (1780), an welchem
der Aufruhr den höchsten Punkt erreichte, schlachteten sie,
nur allein in der Kirche von Coroico, in Gegenwart
Jesu Christi im allerheiligsten Sakrament ans dem Altar,
572 Personen ab, welche sie dann herausschleppten und ans
dem Dorfplatz einscharrten, so daß, wenn sich nicht die
Feder dagegen sträubte, unerhörte Greuelthaten aufgezählt
werden könnten, welche den Berichterstatter als wenig wahr-
heitsliebend erscheinen lassen würden."
Heute ist Coroico die Hauptstadt der zweiten Sektion
von Pungas. Der Ort steht aus einer tafelförmig vor-
springenden Flanke in der halben Höhe des gepriesenen
Berges Uchumachi, welcher der Kern und das Centrum der
besten Haciendas (Landgüter) der Pungas ist. Zweiund-
fllnfzig Haciendas, welche Coca, Kaffee und Cocao prodn-
ciren, bedecken die Abdachungen dieses ungeheuren Kegels,
von dessen Gipfel nach verschiedenen Seiten hin wasserreiche
Bäche herabströmen. Ans der überall zu Tage tretenden
Feuchtigkeit bilden sich fortwährend Wolken, deren ^Nieder-
schläge in jenen Pflanzungen ein außerordentliches Wachs-
thum befördern. Ungefähr die gleiche Zahl von Landgütern
bedeckt die Seiten der gegenüber liegenden Höhen, die durch
ihre gleichartige Produktion mit derjenigen von Uchumachi
wetteifern.
Die überreiche Vegetation von Pungas ist um so
interessanter, als die von den nackten Rändern der Cordillera
aus zur Thalsohle hinab von Stunde zu Stunde sich
ändernden Formen in hundertjährigen Urwald übergehen;
sie zeigt, vereint mit einem klaren Horizonte, ein ver-
führerisches Bild. Mit ewigem Grün bedeckte Berge,
schäumende Kaskaden, die von hohen Gipfeln herabstürzen
und nach kurzem Lauf zu mächtigen Flüssen anschwellen, die
fremdartige Vogel- und Jnsekten-Welt, die mit Wohlgerüchen
geschwängerte Atmosphäre, das Alles sind Erinnerungen,
bei welchen der Geist mit Vorliebe verweilt. Die Schatten-
seiten fehlen freilich auch nicht; beständen sie auch nur aus
dem heimtückischen Wechselsieber (Terciana), sie wären schon
im Stande, jeden Genuß auf die Dauer zu verbittern. Es
giebt Plätze, an welchen auch die eingeborenen Indianer
häufig davon befallen werden, andere, wo cs selbst die In-
dianer des Fiebers wegen nicht auszuhalten vermögen und
die dann zu Zeiten der Kolonialherrschaft mit Negern be-
setzt worden sind, die sich allerdings als gegen Fieber-
miasmen gefeit erwiesen und deren Nachkommen noch heute
existiren, wie z. B. in Mururata, einer der schönsten Be-
sitzungen in Pungas.
Coroico ist der Sitz eines Correjidors, eines Fiskals
und eines Untersuchungsrichters. An einem Notar und
verschiedenen Advokaten fehlt es auch nicht. Man mag
hieralis auf den Lieblingssport, die Proceßsncht, der Leute
schließen. Die Einwohner, die sich zu den Weißen rechnen,
sind, wie beinahe alle unter tropischem Himmel lebenden
Bevölkerungen, indolenter Natur. Die in bestimmten
Zwischenräumen auf einander folgenden Coca-Ernten und
der Aufkauf (rcscats) der von den Indianern in kleinen
Quantitäten gepflanzten Coca bilden ihre hauptsächlichen
Beschäftigungen, welche für ihre Bedürfnisse, unter die eine
gewisse unordentliche Lebensweise nlitgerechnet werden darf,
genügend abwirft. Von einem milden Klima begünstigt,
vegetiren sie in der Unbeweglichkeit ihrer Wälder, wo weder
268
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
aufregende Hoffnungen noch beunruhigende Sorgen Platz
haben; eine materielle Existenz, die weder intellektuelle Ge-
nässe noch Pflichten gegen Andere kennt; die verwandtschaft-
lichen Bande sind locker geschürzt. Ein Hauptzug ihres
Charakters scheint Eitelkeit zu sein, gepaart mit Egoismus,
dagegen ist ihnen Gastfreundlichkeit nicht abzusprechen.
Drei oder vier Familien bilden die Dorfaristokratie, die
tonangebenden Kreise, welche unter der übrigen Bevölkerung
ihre Anhänger rekrutiren. Da erlebt man denn zeitweise
das Schauspiel der Montecchi und Capuleti, wenn sie sich
einander in die Haare gerathen. Aber nicht in blutigem
Ringen enden die Kämpfe dieser Recken, sondern in lächer-
lich hochtrabenden Zeitungsartikeln, welche das Publikum
der Landeshauptstadt zu seinem größten Gaudium mit den
Schmerzen der Provinz bekannt machen und über die un-
geahnte Wichtigkeit einiger seiner bisher recht obskuren Mit-
bürger erleuchten. Der Vorgang spielt sich zum Beispiel
so ab: Die Familie Solls hat eines der zahlreichen Feste
zu feiern, welche durch die Wohlanständigkeit, den guten
Ton oder den Wunsch sich zu vergnügen geboten sind. Sie
ladet dazu auch den Sohn der Familie Mnrillo, einen viel-
versprechenden Baccalaureus, unter den übertriebensten
Freundschaftsdemonstratioucn ein. Anfänglich herrscht die
schönste Harmonie, alles ist Zucker; sobald aber die geistigen
Getränke ihre Wirkung äußern, stören die schönen Damen
oder die noch schönere Landespolitik das Gleichgewicht. Dem
rebellischen Gaste werden einige Teller auf dem Kopfe zer-
schlagen und er selbst sehr uuceremoniell zur Thür hinaus-
spedirt. Der Baccalaureus, der den Musen huldigt und
schon Gedichte an den Mond, die Sterne, an „Sie" und
so weiter veröffentlicht hat, schleudert vielleicht Steine gegen
die wieder verschlossene Thür, vielleicht begnügt er sich damit,
unter einer Fluth von Schimpfwörtern mit schwerem Kopf
sein Lager aufzusuchen.
Acht Tage später erscheint in der angesehensten Zeitung
der Landeshauptstadt ein mit „Tentativa de asesinato“
(Mordversuch) überschriebener langer Artikel, in welchem der
Baccalaureus zu wissen thut, daß er von seinem Politischen
Gegner Solis in eine Falle gelockt und seiner politischen
Meinungen wegen mit Tellern und anderen stumpfen In-
strumenten überfallen und für todt auf dem Platz gelassen
worden sei; das unparteiische und aufgeklärte Publikum
möge bis zur Erledigung des jetzt beim Untersuchungsrichter
anhängigen Falles mit seinem Urtheil zurückhalten.
Die nächste Nummer bringt als Entgegnung: Una
impostura (eine schmähliche Verleumdung). Ein Mulatte,
Manuel Mnrillo, dessen Herkunft wir nicht kennen und
der nicht wohl unser politischer Gegner sein kann, da er
noch nicht trocken hinter den Ohren ist, beschuldigt uns, ver-
mittels Suppenschüsseln und Tellern einen mörderischen
Anschlag gegen ihn ausgeführt zu habeu. Die Wahrheit
ist, daß besagter Mulatte und Baccalaureus sich in der
aufdringlichsten Weise in unsere Gesellschaft einschlich und
wegen seines unanständigen Benehmens gegen die anwesen- ¡
den Senoritas an die Luft gesetzt werden mußte. — Dann
folgt eine Fluth von Sarkasmen, die mit der Versicherung
endet, daß man mit der Ruhe eines unbefleckten Gewissens
der angekündigten Untersuchung entgegensehe, inzwischen
aber das aufgeklärte und unparteiische Publikum bitte u. s. w.
So wogt das Gefecht lange hin und her, bis die Par-
teien der Einrückungsgebühren müde sind, und da der Pro-
ceß in der Zwischenzeit einschlief, so sehen wir die Gegner,
durch gemeinsames Gelage an drittem Orte ausgesöhnt,
wieder als dicke Freunde verkehren.
Diese krankhafte Neigung, persönliche Angelegenheiten in
der Presse zur Sprache zu bringen, ist für diese Böoter ein
beliebter Zeitvertreib. Da ist beinahe kein Pfarrer, Corre-
jidor, Richter oder Municipalrath der Provinzen, der nicht
einmal in seinem Leben als ein ganz gefährliches Subjekt
und gemeines Scheusal hingestellt worden wäre. Den mit
Recht oder Unrecht Angegriffenen bleibt aldann nichts
Anderes zu thun übrig, als Unterschriften zu sammeln und
die Reinheit ihres Wandels und die Verderbtheit ihrer
Gegner ebenfalls durch die Presse bezeugen zu lassen. —
Die Besitzer der großen Haciendas residiren meistentheils
in der Departemeutshauptstadt. Denn erstens genießen sie
dadurch die gesellschaftlichen Vortheile, welche jedes größere
Centrum bietet, zweitens wickelt sich dort der Verkauf ihrer
Erzeugnisse, also namentlich der Coca, ab, und drittens ist
es nöthig, zum rationellen Betrieb einer Nungashacienda
auch eine Hacienda auf der Puna zu besitzen, welche die für
den Transport nach und von den Pungas nöthigen Last-
thiere, sowie den aus getrocknetem Schasfleisch (chalona),
getrockneten Kartoffeln (chuiio) u. s. w. bestehenden Lebens-
mittelzuschnß liefert, der für die auf der Hacienda in Nun-
gas arbeitenden Indianer (colonos) bestimmt ist, während
die Nuugashacienda im Austausch die auf der Punahacienda
lebenden Colonos mit der unentbehrlichen Coca versieht. Der
Gutsbesitzer hat demnach bald dieser, bald jener Hacienda
einen Besuch abzustatten; verläßt er sich ganz auf seine
Mayordomos (Verwalter) und fröhnt er nur dem lieben
Nichtsthun, so kommt er zurück und verarmt mit der Zeit.
Man behauptet, die mittlere Lebensdauer betrage in
Nungas nur 35 bis 40 Jahre und die Bevölkerung nehme
ab. Ob es sich wirklich so verhält, mag dahin gestellt
bleiben; der Beweis dafür wäre in Abwesenheit jeder Art
von Statistik jedenfalls schwierig zu erbringen. Immerhin
ist sicher, daß zur Zeit der Coca-Ernten Arbeitskräfte gern
gesehen sind. Es strömen auch welche periodisch in kleiner
Anzahl zu, aber beinahe ausnahmslos verdorbenes Volk,
Deserteure und in Folge von Revolutionen versprengte
Soldaten, welche alle in den weitverzweigten Thälern und
Schluchten Schutz und Nahrung suchen. Es ist ein mise-
rables Leben, welches sie da führen müssen, und nicht
umsonst ist „piear la coca en Yungas“ (in Nungas
Cocablätter abpflücken) zu einem Sprichwort geworden,
das den letzten Ausweg eines am Hungertuch nagenden
> Unglücklichen oder Faullenzers bezeichnet.
Das Schamanenthnin unter den Burjaten.
2. Die Götterbilder (Idole).
Die schamanischen Götterbilder oder Götzenbilder (Idole)
sowie alle mit dem Kultus in Verbindung stehenden figür-
lichen oder bildlichen Darstellungen werden „ O n g o n “
genannt. Aber auch einige niedere Götter oder heilige
Thiere führen diesen Namen, ebenso wie einige berühmte
Schamanen, z. B. Muschin-ougon, Chogtu-ongon u. A.,
ferner heißt es Teche-ongon (Ziegenbock), Bucha-ougon
(Stier), Babagon-ongon (Bär).
Die Ongone sind von einander unterschieden, 1) nach
ihrem Standort, 2) nach dem Materiale, aus welchem sie
Dns Schamanenthum unter den Burjaten.
269
angefertigt sind, und 3) nach der Gottheit, welche sie dar-
stellen sollen.
Nach dem Standorte hat man Gebirgs- (Berg-) Ongone
und Jurten- (oder Haus-) Ongone. Erstere finden sich
nur noch unter den Burjaten am Baikalsee und werden von
den Schamanen für verheiratete Burjaten bald nach der
Hochzeit, für nnverheirathete selten angefertigt. Auf ein
viereckiges, etwa 18 ein messendes Stück Seidenzeug oder
Plüsch oder anderes Zeug werden drei bis fünf menschliche
Figuren gezeichnet; bei einigen Burjaten nimmt man zwei
Lappen und zeichnet auf den einen Lappen drei, ans den
anderen fünf Figuren; bei den Burjaten in Olchonsk werden
je vier Figuren auf einen Lappen gezeichnet. Die Figuren
bestehen aus einfachen Umrissen; der Kopf ein Kreis, mit
Strichen für Nase und Mund, zwei gläserne oder metal-
lene Perlen statt der Augen; auf dem Kopse eine Eulen-
fcder oder ein Stück Otternfell; der Rumpf ein grader
Strich mit ausgestreckten Strichen, welche Arme und Beine
darstellen; in der Brustgegend eine kleine menschliche Figur
ans Blech. Unterhalb der großen Figur find am Rande
des Lappens senkrecht und wagerecht sich kreuzende Linien
als eine Art Verzierung angebracht, oben an den Ecken des
Lappens hangen zwei Bänder, ein weißes und ein gelbes.
Welche Bedeutung die kleinen Figuren auf der Brust der
großen haben, ist unbekannt; die Schamanen geben darüber
keine Auskunft. Die großen Figuren stellen Gottheiten dar,
deren Namen sehr verschieden sind. Die Ongone werden
nebst etwas Thymian oder Tabak, als Opfergabe, in einen
Kasten oder einen Sack aus Filz gethan, und dieser in der
Nähe des Dorfes (Ulnß) entweder oben auf einem Berge
oder am Fuße eines Berges niedergelegt. Gewöhnlich
richtet man eine Säule auf, welche oben eine Vertiefung
hat; in dieselbe stellt man das Kästchen oder den Sack; ein
Deckel schließt das Ganze. Bei den Burjäten in Olchonsk
hängt man das Kästchen zwischen zwei Säulen ans, welche
etwa 1 m von einander entfernt sind. Bisweilen wird ein
Birkenstämmchen benutzt, indem man das Kästchen zwischen
die aus einander weichenden Aeste einfügt. Die Ongone
bleiben so lange unverändert stehen, als ihre Besitzer am
Leben sind; nach dem Tode derselben werden sie verbrannt
und die Säule umgestürzt. Beim Aufrichten eines Ongons
ist ein Schamane zugegen; er macht den Ongon, weiht ihn,
beschwört die Götter; dabei wird geopfert: zwei Schafe,
Stutenmilch und 15 Kessel Tarassun (Milchbranntwein).
Bei der Einweihung wird Tarassun verspritzt, und die Götter
werden angerufen, dann wird der Ongon an seinen Platz
gestellt, das Fleisch aber und der Branntwein zu Ehren der
Gottheit von den Anwesenden verzehrt.
Die Haus- (Jurten-) Ongone haben ihren Platz
innerhalb der Jnrten oder außen an der Eingangsthür.
Die Gestalten sind verschieden: entweder sind es rohe Nach-
bildungen der menschlichen Figur oder nur ein Kopf allein,
oder es sind Zeichnungen auf Zengstofse. Bon dem Herrn
des Feuers wurde schon berichtet; eigenthümlich sind nur die
demselben geweihten Ongone: ein solcher hatte die Gestalt
eines fußlangen Sackes aus Filz; an einer Seite war der-
selbe offen, und hier wurden Fleisch, Fett und andere Opfer-
gegenstände hineingesteckt. Außen waren auf dem Sacke
drei Figuren, eine kleine und zwei größere, sichtbar. Ein
andererOngo n bestand atis zwei platten, hölzernen, mensch-
lichen Figuren von ca. 21 bis 22 cm Länge und 4,5 cm
Breite, die Figuren waren mit rothem Tuch überzogen, der
Kopf mit schwarzer Wolle verziert. Die beiden Figuren,
welche den Herrn des Feuers und seine Frau darstellen
sollten, wurden in einem rothtnchenen Sack an einer der vier
Säulen am Herd der Jurte aufgehängt.
Die Beschreibung einer Anzahl anderer Ongone können
wir hier fortlassen; es handelt sich im Wesentlichsten immer
um dasselbe: Figuren von Menschen oder Thieren; Zeich-
nungen auf Tuch und anderen Stoffen.
Die Verfasser vergleichen die Figuren der Ongone mit
jenen bekannten bildlichen Darstellungen an den felsigen
Ufern des Baikals, und sprechen in Berücksichtigung der
Aussage der Burjäten selbst den Darstellungen am Baikalsee
die Bedeutung von öffentlichen (d. h. Gemeinde-) Ongonen zu.
3. Opfcrdarbringungcn und Wahrsagen.
Die Opfer sind sehr verschiedener Art:
1. Branntwein-Opfer. Ehe ein Burjäte ge-
wöhnlichen Branntwein oder Milchbranntwein (Tarassun)
trinkt, gießt er ein paar Tropfen auf den Boden, wenn er
sich im Freien oder in einem Zimmer befindet, oder er gießt
etwas Branntwein auf den Herd, wenn das Trinken in
einer Jurte vor sich geht; es gilt das Opfer also dem
Herrn des Feuers. Das Besprengen mit Branntwein
spielt bei jedem Thieropfer eine Rolle. Eine besondere
Verwendung findet das Branntweinopfer bei Gelegenheit
der Erkrankung eines Burjäten, weil die Krankheit als ein
Akt der Rache von Seiten der Götter für. das Ausbleiben
eines Opfers angesehen wird. Die Verfasser schildern das
dabei geübte Verfahren folgendermaßen: der Kranke setzt sich
an den Herd und stülpt sich eine Mütze auf den Kopf;
vor ihm steht ein Gefäß mit Milchbranntwein und ein
hölzerner Trinkbecher; der Schamane mit bedecktem Haupte,
die Peitsche und die Schellen in der linken Hand, stellt sich
rechts am Herde auf, zündet Fichtenrinde oder andere stark
riechende Stoffe an und beränchert damit den Kranken, den
Branntwein und die Schale. Jetzt gießt der Kranke den
Branntwein in die Schale und reicht diese dem Schamanen;
dieser spricht ein Gebet zu dem Gott, der nach seiner Mei-
nung das Opfer verlangte, trägt der Gottheit die Bitte des
Kranken um Genesung vor und schleudert dreimal etwas
Branntwein aus der Schale an die Decke der Jurte. Das
vierte Mal spritzt er den Branntwein in den Winkel der
Jurte, wo der Ongon des Jltisherrn (Cholongon-eshin)
hängt; die fünfte, volle Schale wird dem Schamanen gereicht,
welcher sie nach Verspritzung einiger Tropfen entweder selbst
leert oder einem der Anwesenden zum Leeren giebt; die
sechste Schale trinkt der Kranke oder einer der Verwandten;
die siebente bekommt der Schamane gleichsam zum Lohn.
2. Bänder und Tabak sind gleichfalls Opfergaben.
Der Ongon und alle Geräthe der Schamanen werden
reichlich mit Bändern geschmückt; an die heiligen Bäume
werden buntfarbige Bänder, weiße, blaue oder rothe, gehängt.
Tabak wird als Opfergabe in die Kästchen oder Säcke gethan,
in welchen man die Ongone aufbewahrt; mit demselben
werden heilige Plätze, auch Paßübergänge im Gebirge
bestreut.
3. Das Opfer, welches eine Person oder eine Familie
bringt, heißt Kyryk; der Zweck ist, eine erzürnte Gottheit,
welche Krankheit oder Unglück sendet, günstig zu stimmen.
Geopfert werden verschiedene Thiere: Stuten oder Hengste,
Kühe, Schafböcke, Ziegen, selten Fische. Das Opfcrthicr
muß je dem Gotte entsprechende Eigenschaften haben, die
Auswahl steht denl Schamanen zu. Unter freiem Himmel
vor der Jurte oder in einiger Entfernung davon wird
geopfert. Die Anwesenden sitzen; der Schamane beränchert
die Personen und die Opfergeräthschaften, bringt ein Brannt-
weinopfcr und spricht ein Gebet. Nun wird das Opferthier
getödtet, ihm das Fell abgezogen, das Fleisch zerschnitten
und in einen Kessel, geworfen; die Alten und die Schamanen
trinken dazu Branntwein. Ist das Fleisch gekocht, so werden
die Knochen herausgenommen, gesammelt und aufs Feuer
270
Aus allen Erdtheilen.
gelegt. Dann nimmt man eine junge Birke und bindet
die mit Stroh gefüllte Haut des Opferthieres an dieselbe.
Jetzt folgt die eigentliche Beschwörung von Seiten des
Schamanen. Schließlich wird das gekochte Fleisch gegessen
und nur ein ganz kleiner Theil verbrannt. Die Anwesen-
den betreten noch einmal die Jurte, Branntwein wird
verspritzt und damit ist die Ceremonie des Kyryk beendigt.
4. Ein Opfer, an welchem sich ein ganzes Dorf oder
ein ganzer Stamm betheiligt, heißt Taylagan. Auf eine
eingehende Beschreibung desselben, welche die Verfasser
liefern, muß hier verzichtet werden. Im Wesentlichen ist
das Verfahren das gleiche, wie beim Kyryk, nur betheiligen
sich hier viele Personen und es werden mehrere Thiere
geopfert. Auffallend ist, daß alle Frauen fern bleiben müssen;
nur die Männer, Mädchen und Kinder beiderlei Geschlechts
dürfen zugegen sein. Die Zahl der Opferthiere kann sehr-
groß sein, oft sind es 20 bis 30 Pferde und 100 Schafe.
Es sind selbstverständlich nicht alle Opferfeste einander
gleich, insofern als je nach den verschiedenen Gottheiten
gewisse Eigenthümlichkeiten zu beobachten sind; so ist z. B.
das dem Herrn des Feuers geltende Opserfest anders als
das, welches dem Schlangengotte gilt.
5. Heilig.sprechen der Thiere. Es können den
verschiedenen Gottheiten verschiedene Thiere geweiht werden,
so dem Uchan-Chat ein Stier, anderen Gottheiten ein Pferd,
eine Ziege. Das betreffende Thier wird mit Wasser, dem
Thymian und andere Niechmittel beigemengt sind, gewaschen;
dann wird der Gottheit ein Branntweinopfer gebracht,
das Thier mit Bändern geschmückt und zuletzt in Freiheit
gesetzt.
6. Opferfeste, welche zu Ehren sehr hoher Gottheiten
begangen werden, heißen Churai-gargacha; solche sind
das Fest zu Ehren der Gottheit in Ssatinsk, der Gottheit
der Insel Olchon, zu Ehren der östlichen und westlichen
Tengeri n. a. Auf die Einzelbeschreibnng können wir hier
nicht eingehen.
Das Bestreben eines jeden Menschen, líber die Zukunft
etwas zu erfahren, ist so natürlich, daß wir uns nicht
darüber wundern dürfen, auch bei den Burjäten die Neigung
dazu zu finde». Zum Prophezeien und Wahrsagen werden
von den Burjäten sehr verschiedene Gegenstände benutzt,
der Bogen, das Schulterblatt der Thiere, Zinn, Wasser.
Am allerverbreitetsten ist das Prophezeien aus den Rissen
eines gebrannten Schulterblattes.
Beim Wahrsagen mittels eines Bogens wird aus dem
Tone, welchen die mit größerer oder geringerer Kraft an-
gespannte Sehne von sich giebt, die Zukunft verkündigt.
Bei Gelegenheit eines dem Wassergotte dargebrachten
Opfers wird in eine mit Wasser gefüllte Schüssel, in welcher
ein Pferdehaar liegt, geschmolzenes Zinn gegossen und ans
der Form des erkaltenden Metalles die Zukunft verkündigt.
In ein Gefäß, welches Wasser oder Branntwein enthält,
werden einige Stückchen Pflanzenmark (von einer Saussurea)
geworfen: das eine Stückchen bedeutet den Hausherrn,
d. h. diejenige Person, welche die Zukunft erfahren will,
die anderen Stückchen bedeuten die Schamanen. Derjenige
Schamane, dessen Stückchen sich mit dem des Hausherrn
vereinigt, muß zum Abhalten des Opfers aufgefordert
werden.
Das Verfahren, aus den Rissen des gebrannten Schulter-
blattes eines Schafes zu prophezeien, ist sehr verbreitet.
Die Erklärungen der Schamanen über die Bedeutung der
verschiedenen Risse und Sprünge sind meist gleichlautend:
zwei große einander parallel laufende Längsrisse werden
als der Weg des Lebens und der des Todes bezeichnet; die
Prophezeihung knüpft an das Verhältniß der Länge beider
Linien zu einander und an ihre Richtung an; ist die Lebens-
linie länger als die Todeslinie, so ist die Prophezeihung
günstig, weicht die Lebenslinie ab, so droht dem Menschen
baldiger Tod; das Auftreten mehrerer Risse baldige Freude,
Gunst des Himmels, eine bevorstehende Reise, die Noth-
wendigkeit, eine bestimmte Handlung vorzunehmen u. s. w.
Aus allen
Europa.
— Am 29. September starb zu Berlin Geheimerath Prof.
Dr. W. Koner im 71. Lebensjahre, in der geographischen
Welt allgemein bekannt als der langjährige verdiente Heraus-
geber der „Zeitschrift für allgemeine Erdkunde" und deren Fort-
setzung, der „Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin",
welche beide unter den zahlreichen geographischen periodischen
Veröffentlichungen in vorderster Reihe standell und stehen.
— Topinard giebt in der „Uovuo ¿’Anthropologie“
die Resultate der genauen Messungen an den Schädeln ans
den Dolnlens von Lozere. Die dortigen Menschen waren
danach nicht so ausgeprägt dolichocephal, wie die Höhlen-
bewohner Frankreichs, sondern bereits mesoticephal, und auch
weniger leptorhinisch. Topinard sucht in ihnen bereits die
ersten Resultate der Mischung der alten höhlenbewohnenden
Dolichocephaleu mit den am Ende der Renthierperiode ein-
dringenden Brachycephalen, deren direkteste Nachkommen heute
in der Auvergne und der Lozere wohnen.
— In London findet demnächst ans Anregung der Miß
Mary Brown eine Ausstellung von allen möglichen Gegen-
ständen statt, welche sich auf die Entdeckung Anrerikas
durch die isländischen Normannen beziehen. Unter
anderen wird die vollständige Nachbildung eines Wikinger-
Saales vorgeführt werden, möglichst mit echter Einrichtung,
E r d t h e i l e n.
echten Waffen und Gerüchen, ebenso getreue Nachbildungen
der in Norwegen gefundenen Wikingerschiffe rc.
— Die dänische Regierung hat in dem Finanzgesetz für
1888/89, welches dem jetzt versammelten Reichstage vorgelegt
worden ist, die außerordentliche Bewilligung von 68 000
Kronen zur Vermessung und Untersuchung der islän-
dischen Gewässer beantragt. In den Motiven wird darauf
hingewiesen, daß seit dem Jahre 1848, wo der Krieg eine
in Vorbereitung begriffene Expedition nach Island zu dem
erwähnten Zweck verhinderte, von dem isländischen Althinge
schon zweimal diesbezügliche Anträge gestellt worden sind.
Große und für den Verkehr wichtige Fjorde, heißt cs in den
Motiven weiter, liegen unvermessen und sind so unbekannt,
daß aus diesem Grunde jährlich mehrere Schiffsvcrluste statt-
finden, sowie auch auf vielen Stellen das Anlaufen der Küste
in unsichtigem Wetter wegen mangelnder Kenntniß der um-
gebenden Mecrcstiefeu unmöglich gemacht wird. Außer dieser
sehr nöthigen Vermessung wird auch beabsichtigt, eine Ver-
messung und Untersuchung der die Insel umgebenden Fisch-
gründe vorzunehmen, die jetzt um so größere Bedeutung für
den Staat haben, als das Interesse für die Fischerei bei Is-
land in den letzten Jahren in hohem Grade rege geworden
ist, dieses aber der Unterstützung und Anleitung seitens des
Staates bedarf, damit diese einträgliche Fischerei, deren ganzer
Aus allen Erdtheilen.
271
Ertrag bisher nur fremden Nationen zugefallen ist, auch der
dänischen Rhederei zu Gute kommen kann. Außerdem muß
man sich auch des großen Interesses erinnern, welches diese
Untersuchungen in wissenschaftlicher Richtung haben werden,
nicht nur bezüglich der Tiefenverhältnisse, sondern auch in zoolo-
gischer und meteorologischer Hinsicht, Arbeiten, welche Nor-
wegen in seinen angrenzenden Gewässern vor mehreren Jahren
schon ausgeführt hat. Diese Untersuchungen sollen alljährlich
in den Monaten Mai bis August stattfinden, und man hofft
dieselben im Laufe von fünf bis sechs Jahren vollenden zu können.
Asien.
— Der Konsul der Vereinigten Staaten in Jerusalem,
Herr N. Gillmann, theilt dem „American Naturalist“
mit, daß er in unmittelbarster Nähe derKirche des heiligen
Grabes ein uraltes Grab aufgedeckt habe, welches nach den
Grabbeigaben kanaanitisch oder jebnsitisch, jedenfalls
vorjüdisch sein muß. Die Kirche steht somit auf einem alt-
heidnischen Begräbnißplatze und es wird dadurch noch un-
wahrscheinlicher, daß sie die richtige Stelle des Grabes Christi
bezeichnet; ein frommer Jude hätte zur Zeit des Beginnes
unserer Aera gewiß nicht einen solchen Ort zur Anlage eines
Familiengrabes gewählt. Gillmann verspricht übrigens, dem-
nächst noch eine Anzahl durchschlagender Beweise dafür zu
bringen, daß das wahre heilige Grab sich vor dem Damaskus-
thore und zwar an dem Hügel, welcher die Höhle des Jere-
mias enthält, befunden habe.
— In Petermann's Mittheilungen (1887, VIII) ist eine
Uebersetzung vonA. M. Konschin's „Geologischem Ueberblick
Transkaspiens" veröffentlicht, welche für die Frage des alten
Oxusbettes von entscheidender Wichtigkeit ist und dieselbe
endgültig zu beseitigen scheint. Weder der Ungus (zwischen
Tschardschui am Amu und Bala-ischem am Usboi), noch der
Usboi selbst haben nach Konschin's Untersuchungen je dem
Amu (Oxus) zum Bette gedient; beide sind vielmehr durch-
aus marinen Ursprunges, entstanden in Folge der allmählichen
Austrocknung eines Meeres, welches einst die Wüste Karakum
bedeckte, Aral-See und Kaspisches Meer mit einander verband >
und umfaßte und durch Hebung des Bodens und Einfluß
polarer Winde in (geologisch gesprochen) junger Zeit verschwand.
Dell Belvcis für dessen Existenz liefern ganze Kolonien von
Vertretern der aralo-kaspischen Molluskenfauna im Sande,
die Existenz von Uferwällen, Spuren von Meeresbrandung
an den beiden Balkan-Gebirgen rc. Wasser ist allerdings
einmal durch den Usboi geflossen, aber es geschah das in
vorhistorischer Zeit, und es ist Meerwasser gewesen, welches
aus dem, einen weit größeren Umfang als jetzt besitzenden
Aral-See — derselbe überfluthete damals noch die Gegend
der Sarykamysch - Seen — dem Kaspischen Meere zuströmte.
Mit diesem Nachweise wird auch das Projekt einer Ableitung
des Amn-darja in den Usboi endgültig beseitigt.
— An die Spitze der Verwaltung aller ostasiatischen
Gebiete Frankreichs wird nächstens ein General-
gouverneur gestellt werden; unter demselben verwaltet ein
„Lieutenantgouverneur" Cochinchina, je ein „Generalresidcnt"
Kambodscha und Tongking und ein „Obcrresident" Anuam.
Der Gencralgonverneur wird eine Art von Ministerium zur
Seite haben, bestehend aus den Direktoren der allen vier
Gebieten gemeinsamen Verwaltungsfächer. Der Kolonialrath
von Cochinchina verliert seine bisherige Selbständigkeit, und
seine Beschlüsse werden von der Genehmigung des Marine-
ministers abhängig. ____________
Afrika.
— Am 24. September kam bei Dr. Felkin in London i
ein aus Wadelai, 17. April, datirter Brief Emin Pas cha's ¡
! an, worin derselbe schreibt, selbst wenn Stanley dort an-
komme, werde er nicht mit demselben zurückkehren. Er habe
12 Jahre ausgeharrt, und würde es für das größte Unrecht
ansehen, seinen Posten zu verlassen. Er wolle Gordon's Werk
fortsetzen und dort die möglichste Civilisation einführen. Früher
oder später müßten auch jene Länder in den Kreis des
Fortschrittes gezogen werden, und er bleibe unbedingt so lange
an seinem Platze. Das einzige, was England zu thun brauche,
sei der Abschluß eines Vertrages mit Uganda und Unyoro,
um eine sichere Straße nach der Küste zu eröffnen, welche
nicht von der Laune irgend eines kindischen Königs oder
von irgend einem Araber-Chef abhinge. Wadelai sei durch
Grasbrand ganz zerstört worden, allein mit Hilfe eines be-
nachbarten Negerfürsten habe er Wadelai wieder schöner als
früher aufgebaut. Nur unter den größten Anstrengungen
retteten sie Waffen und Munition. Im Februar brachen
durch einen Sturm Brände in fast jeder Station aus. Ihr
Leben, führt der Brief weiter aus, spinne sich jetzt regelmäßig
wie früher ab. Sie säen, ernten, spinnen, bessern die Dampfer
aus und bauen einige neue Boote. Er, Emin, occupire alle
ihm von Gordon anvertrauten Stationen, und er wiederhole,
er würde es für schmählich halten, dieselben aufzugeben und
zu verlassen, wenn die Entsatz-Expedition ankomme. Er
und sein Volk hätten böse Zeiten durchgemacht, aber sie seien
mit Ausnahme der Aegyptcr gute tapfere Menschen. Ein
Fremder, erklärt Einin, könne nur schwer sein Werk fortsetzen,
und er werde daher keineswegs desertiren. England solle
bloß für eine sichere Straße nach der Küste sorgen, mehr
brauche weder er noch sein Volk.
— Der Sultan von Zanzibar soll die ihm durch den
deutsch-britischen Vertrag überlassene Festlandsküste, soweit
dieselbe innerhalb der deutschen Interessensphäre liegt, auf
fünf Jahre an die deutsch-ostafrikanische Gesellschaft
verpachtet haben, wodurch er in den Bezug von „erheblichen
sicheren Einnahmen" gelangt.
— Dr. Hans Meyer aus Leipzig, welcher, wie wir
bereits früher mittheilten, Deutsch-Ostafrika bereist, hat als
der erste den höchsten der beiden Gipfel des Kilimandscharo,
den nahezu 6000in hohen Kibo, bis zum Rande seines
Kraters erstiegen. H. H. Johnston, welcher 1884 behufs
naturwissenschaftlicher Sammlungen längere Zeit ans dem
Gebirge verweilte und zweimal dessen Ersteigung versuchte,
konnte nicht bis zur Spitze gelangen, sondern mußte in einer
Höhe von 4973 in wieder umkehren. Dr. Meyer wird im
Oktober in Deutschland zurückerwartet.
— Ende September haben sich Dr. Zintgraff und
Lieutenant Zenner in Hamburg nach Kamerun eingeschifft,
wo ersterer ethnographische und astronomische, letzterer zoolo-
gische und meteorologische Beobachtungen anstellen wird.
Daneben aber sollen sie den praktischen Zweck verfolgen, die
Neger des Inneren an den Verkehr mit Weißen zu ge-
wöhnen und sie dahin zu bringen zu suchen, daß sie mit
Vermeidung der den Zwischenhandel monopolisircndcn Küstcu-
stämme selbst zum Tauschgeschäft an die Küste kommen. Um
die nicht gerade leichten Verhandlungen mit Nachdruck zu
führen, nehmen die beiden Reisenden ein reich ausgestattetes
Lager sorgfältig ausgewählter Tauschartikel und von Kamerun
aus 50 bewaffnete Träger mit sich.
Inseln des Stillen Oceans.
— Eine Erforschungsexpedition unter Leitung von
GeorgeHunter undHarding, welche der britische Special-
kommissar von Neu-Guinea, John Douglas, ausgerüstet
hatte, ist am 15. Juli d. I. wieder in Port Moresby ein-
getroffen. Die Reisenden verfolgten den östlichen Arm des
in 100 Br. und 147° 40' östl. v. Gr. mündenden
272
Aus allen Erdtheilen.
Kemp Welch River und erstiegen das 5000bis 6000 Fuß
hohe Hauptgebirge zwischen Mount Obree in 90 30' südl. Br.
und 148" östl. v. Gr. und Mount Brown in 9° 45' südl. Br.
und 1480 18' östl. v. Gr. Sie entdeckten jenseits dieses
Gebirges vorzügliches Land und brachten werthvolle Samm-
lungen aus dem Thier- und Pflanzenreiche zurück.
— Die Expedition unter W. R. Cuthbertson und
W. .Saher (vergl. oben S. 94) hat an: 20. Juli Port
Moresby verlassen. Der vorerwähnte Mr. George Hunter
begleitet dieselbe, und der Specialkommissar, Mr. John Dou-
glas, hat die nöthigen Pferde für den Transport geliefert.
Der Reiseplan ist der vorgerückten Jahreszeit wegen dahin
geändert worden, daß nicht Mount Owen Stanley, sondern
der 10240 Fuß (3120m) hohe Mount Obree bestiegen
werden soll.
— Die katholischen Missionare, welche seit un-
gefähr zwei Jahren auf Pule Island in Z0 48' südl. Br.
und 1460 28' südl. Br. stationirt sind, leisten auch der Er-
forschung von Ren-Guinea gute Dienste. Sie haben fest-
gestellt, daß die frühere vom Kapitän Runcee entdeckten
Flüsse Ethel und Helida, welche an der gegenüber-
liegenden Küste von Ren-Guinea in 8° 45' südl. Br. und
1460 33' östl. v. Gr. münden, nur unbedeutende Wasserläuse
sind. Ein neuer Fluß, den sie Sauet Joseph benannten,
wurde von ihnen aufgefunden. Er kommt vom Fuße des
3062 rn hohen Mount Aule in 8° 15' südl. Br. und 1460
40' östl. v. Gr. her und verläuft von dort in südlicher Richtung.
Das Land zu seinen beiden Seiten ist außerordentlich frucht-
bar und von friedliebenden Eingeborenen dicht bevölkert.
Die Missionare besuchten 15 Dörfer, unter denen einige
einen bedeutenden Umfang hatten und über 2000 Bewohner
zählten. Sie beabsichtigen, 32 1cm den Fluß hinauf eine
Station zu errichten und wollen unter Begleitung des
Dr. Edenfeldt noch vor Beginn der nassen Jahreszeit ver-
suchen, den Moitnt Aule zu ersteigen.
N 0 r d a tu c v t f a.
— Die Existenz einiger submariner Thäler an der
Küste von Californien ist durch die neuesten Unter-
suchungen der Coast Survey genauer festgestellt worden.
Rach einer Mittheilung von Geo. Davidson im „Lnlletin
of the California Academy of Science“ haben diese
Thäler eine unerwartete praktische Wichtigkeit gewonnen.
Die Küste von Californien ist nämlich so gleichmäßig ge-
bildet, daß die Küstenfahrer im Nebel sich vermittels des
Lothes orientiren. Ein Plateau, im Großen und Ganzen
innerhalb der Hundertfadenlinie bleibend, begleitet die Küste
in einer Breite von 40 bis 50 Miles und stürzt dann jäh
zu 2000 bis 2400 Faden ab. So lange also die Hnndert-
fadenleine noch keinen Grund findet, ist das Schiff weit genug
draußen, um seinen Kurs ruhig fortzusetzen. Im vorigen
Jahre scheiterte aber ein nach Port Humboldt bestimmter
Dampfer trotz dieser Vorsicht; er befand sich eben im Gebiete
eines der submarinen Thäler, welche mit ganz bedeutenden
Tiefen und steilen Gehängen bis dicht an die felsige Küste
herantreten. Verschiedene setzen sich ins Land hinein fort;
eines derselben bildet die prächtige Bucht von Monterey und
läuft in das Thal des Rio Saliuas ans, ein anderes bildet
den Santa Barbara-Kanal und in seiner weiteren Fortsetzung
das Thal von Santa Barbara; mehrere enden aber auch
schon vor der Küstenlinie. Die Fauna dieser Thäler ist
leider noch nicht genauer untersucht; jedenfalls tritt hier die
nordische Tiefseefauna stellenweise bis dicht an die Küste und
unter die Fauna der wärmeren südlichen Strömung heran.
Ob die Existenz der Thäler auf eine positive Niveauverände-
rung deutet, müssen genauere Untersuchungen feststellen.
— Die geographische Breite des californischen Lick Ob-
servatory beträgt nach den seitherigen Sternbeobachtungen
370 20' 24,9". Die Triangulation der Coast Survey
hatte 0,4" weniger ergeben. Der wahrscheinliche Fehler
beträgt ± 0,10".
— Der Konsul der Vereinigten Staaten in Merida,
Mr. E. H. Thomson, hat nach einer Mittheilung des
„American Naturalist“ in den Ruinenstädten Puea-
tans eine interessante Beobachtung gemacht. Bei seinen
Forschungen in dem von Europäern noch nie, von Indianern
nur selten besuchten Lab na fand er nämlich in weitem Um-
kreise um die Hauptruinen überall im Walde zerstreut kleine
Trümmerhäufchen auf rechtwinkeligen festen Terrassen, offen-
bar die Ruinen ehemaliger Wohnungen, die, aus Luftziegeln
erbaut, bis auf ihre Fundamente verschwunden sind. Damit
verliert die Ansicht, daß die großen Ruinen Ueberreste ge-
meinschaftlicher Wohnungen, analog denen der Pueblos-
indianer, seien, bedeutend an Wahrscheinlichkeit. Herr Thom-
son erhofft von seinen Nachforschungen, welche er im Interesse
des amerikanischen Nationalmnseums fortsetzt, bedeutende
Resultate, da in dem abgelegenen Labna viel weniger zerstört
und verschleppt worden ist, als in den anderen leichter zu-
gänglichen Städten.__________________
Südamerika.
— Der französische Reisende de Brettes, welcher bereits
im April 1885 den südlichen Gran Chaeo bereist und dort
einen großen, bisher unbekannten Salzsee entdeckt hat, erhielt
vom französischen Unterrichtsministerium eine Mission nach
derselben Gegend und traf Ende Juli 1886 in Montevideo
ein, wo der Ingenieur de Boiviers, welcher die hydro-
graphischen Arbeiten übernehmen sollte, zu ihm stieß. Aber
die von der Regierung der Argentinischen Republik zugesagte
Unterstützung resp. Eskorte blieb aus; die Reisenden befuhren
also zunächst den Parana und Paraguay bis Asuncion und
berichtigten die Karte beider Flüsse. In Folge des Ausbruches
der Cholera wurde der Hafen von Asuncion geschlossen und
sie drei Monate daselbst festgehalten; sie benutzten diese Zeit,
um die Lagune Apacaray aufzunehmen und auszulothen, eine
Arbeit, welche vor Jahren von den Ingenieuren Walpy
und Hurell begonnen, aber 1864 durch den Krieg unter-
brochen wurde. Die Reisenden wollen nun in der Umgebung
von Villa Conception eine Jndianereskorte anwerben und
mit derselben auf eigene Hand den Grau Chaco zu kreuzen
und Tarija in Bolivien zu erreichen versuchen.
— Die Regierung des argentinischen Staates Cordoba
hat Ende März d. I. auf Veranlassung des Professors
,O. Döring die Mittel zur Errichtung eines Netzes von
meteorologischen Stationen, 40 an der Zahl, bewilligt.
Berichtigungen:
In Nr. 8 des laufenden Bandes lies:
S. 123, Spalte 1, Zeile 15 v. u. Spaniern (statt Cyamirn).
S. 126, Spalte 1, Zeile 13 Diatribe (statt Diatrite).
S. 126, Spalte 2, Zeile 29 dep0sitadas (statt depositados).
Inhalt: Désiré Charnay's jüngste Expedition nach Pucatan. V. (Schluß.) (Mit fünf Abbildungen.) — Dr. H. Simroth:
Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo. I. (Mit zwei Abbildungen.) — Christian Ausser: Die bolivianische Provinz
Pungas. I. — Das Schamanenthum unter den Burjaten. 2. und 3. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. —
Inseln des Stillen Oceans. — Nordamerika. — Südamerika. — Berichtigungen. (Schluß der Redaktion am 4. Oktober 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g und Sohn in Brannschweig.
Sût besonderer Herücb sichtig un g der Anthropolog le und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise voir 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Ob
(Nach dem Französischen d
Als Hr. Marcel Dieulafoy dem Director der fran-
zösischen Museen de Ronchand von seiner Mission nach
Persien (vgl. „Globus", Bd. 44 bis 49) Bericht abstattete,
erwähnte er auch des Eindruckes, welchen die unbestreitbar
antiken Schutthügel von Susa ans ihn gemacht halten, der
Versuche der Engländer, dort nachzugraben, und des Inter-
esses, welches Nachforschungen daselbst haben müßten. Dies
gab den Anstoß zur Ausrüstung einer neuen Expedition, zu
welcher das Ehepaar Dieulafoy bestimmt wurde, und wozu
ihm 31000 Franken aus Ersparungen der Museen aus-
geworfen wurden. Der Unterrichtsminister steuerte seiner-
seits 10 000 Franken bei, der Kriegsminister lieh Waffen,
Zelte und Pferdegeschirre, der Marineminister übernahm
den Transport der Expedition bis Aden, und die Directoren
der Looks Ü68 Nonts st. Chaussées und der École nor-
male wählten jeder einen ihrer Zöglinge aus und stellten
ihn unter Dieulafoy's Befehl. Soweit war alles in Ord-
nung; aber als M. de Ronchand bei der persischen Regie-
rung officicll um einen Firman, der die Nachgrabungen
gestattete, nachsuchte, wurde derselbe rundweg abgeschlagen.
Da wandte sich Dieulafoy an seinen alten Freund Dr.
Tholozan, den vertrauten Leibarzt des Schah, welchem er
schon während seiner ersten persischen Reise so viel zu
danken gehabt hatte; dieser stellte dem Schah vor, welches
günstige Licht die Gestattung der Ausgrabungen auf seine
Liebe zu den Wissenschaften werfen würde, und hatte schließ-
lich Erfolg. Die persische Regierung erhob zwar noch
einige Einwendungen wegen der räuberischen Stämme in
Arabistan und des dort herrschenden Fanatismus, machte
Vorbehalte hinsichlich des Grabes des Daniel und for-
derte einerseits eine Theilung der anszugrabenden Objekte,
Globus LU. Nr. 18.
o cf.
r Madame Jane Dieulafoy.)
andererseits die sämmtlichen Edelmetallsachen für sich, aber
gab schließlich ihre Einwilligung zu den gewünschten Aus-
grabungen. Da die betreffenden Firmane nicht vor Ab-
lauf von zwei Monaten abgefaßt und abgeschickt werden
und in Paris ankommen konnten, so kam man überein,
daß sie nach Buschir gesandt werden sollten, wo Dieulafoy
sich etwas aufzuhalten beabsichtigte.
In Toulon stießen noch zwei Algerier mohammeda-
nischen Glaubens, beides ehemalige Tnrkos, der eine eine
Art Schreiber, der andere ein ehemaliger Polizist, zu der
Expedition, welche sich am 17. December 1884 an Bord
des großen Transportschiffes „Tonkin", das Munition für
das chinesische Geschwader geladen hatte, einschiffte.
Die Fahrt ging über Philippeville, durch den Suez-
Kanal und das rothe Meer, bei Perim vorbei nach Obock,
wo das Schiff Kohlen und Proviant einzunehmen hatte.
Als es sich dem Vorgebirge RaS Bir näherte, zeigten sich
am Horizonte Berge, die von Nordost nach Südwest ziehen
und dann zwischen Obock und Tadschura nach Süden um-
biegen; am Fuße dieser vulkanischen Kette erstreckt sich ein
madreporisches Plateau, das in ziemlich hohen Steilklippen
zum Meere abfüllt, und das Gebiet von Obock bildet. Im
Jahre 1862 wurde dasselbe vom Kommandanten Fleuriot
de Langte eingeborenen Häuptlingen abgekauft und mit
10 000 Maria-Theresia-Thalern bezahlt; seine Oberfläche
beträgt etwa 25 Wegstunden im Quadrat.
Beim ersten Anblick zeigt sich zunächst der Soleillet-
Thurm, dann einige knorrige Bäume, eine Senkung mit
unansehnlichen Rhizophoren, welche dem Bette eines aus-
getrockneten Gießbaches entspricht, schließlich ein Haus,
welches der Kohlencompagnie gehört, ein im Bau begriffenes
35
Danakil - Gruppe. (Nach einer Photographie.)
Obock.
275
Hospital und einige Seemeilen davon entfernt ein Haufen
Kohlen, welcher unter freiem Himmel lagert. Der Hafen
wird von einer doppelten Reihe von Riffen eingefaßt, die
von Ras Bir und von Kap Obock ausgehen. Eine Korallen-
bank im Südosten der Bai theilt ihn in zwei Becken, welche
durch einen Kanal mit einander zusammenhängen. Wäre
letzterer nicht gewunden und mit Klippen besetzt, so könnte
der Ankerplatz für ausgezeichnet gelten, da er, ausgenommen
gegen schwere See von Nordosten, überall hin geschützt ist.
Vorsichtig fährt der „Tonkin" auf die Bojen zu, bei denen
der „Brandon", das Stationsschiff der Kolonie, liegt und
wirft in mehr als einer Seemeile Entfernung vom Lande
Anker. Von sonstigen Schissen sind nur der ganz kleine
Regierungsdampfer „Pingouin", eine mit Kohlen beladene
Schute und zwei bis drei Barken von Eingeborenen in diesem
sonderbaren Meereshafen zu sehen. Inzwischen hat der
„Tonkin" seine Signale gegeben; langsam antwortet ihm
der Semaphor des Soleillet-Thurmes, und eine Stunde
später laufen ein paar schwarze Eingeborene zum Strande,
waten bis an das Knie ins Wasser und klettern ans die
Kohlenschute. Daun erscheinen drei ganz weiß gekleidete
Europäer, entledigen sich ihrer Schuhe, streifen die Hosen
hinauf und waten etwa 20 Minuten im Wasser, che sie ein
paar Kähne erreichen, die zwar nur zwei Fuß tief gehen,
aber immer noch zu groß sind, um sich dem Lande mehr
nähern zu können.
Mit der Kohlenschute und den Europäern, welche die
Behörden der Kolonie Obock darstellen, fanden sich auch
Fischer ein, deren einer von den Reisenden in Dienst ge-
nommen wurde, um sie dem Lande so nahe als möglich zn
Ansicht von Obock. (Nach einer Zeichnung von Al. Dieulafoy.)
schaffen, und das war noch etwa eine viertel Seemeile. Den
Schirm in der Hand, die Schuhe über der Schulter, sprangen
die Männer lustig ins Wasser, das freilich fast heiß zu
nennen war, während sich Madame Dieulafoy durch den
Fischer au das Land tragen ließ. Eine Eingeborenenhütte
— vielleicht versieht sie auch Dienste als Zollstation —
bezeichnet den Landeplatz, von wo aus ein sandiger Pfad
und daneben eine schmalspurige Eisenbahn, auf welcher
man wahrscheinlich „Goldstaub und Elephantenzähne" zu
trausportiren hoffte, sich landeinwärts ziehen. Links bleiben
die früher erwähnten Rhizophoren; dann erreicht man den
Klippenabfall, an dessen Fuße im Schatten baumartiger
Tamarisken und knorriger Mimosen mit feinem spärlichem
Laube etwa dreißig Hütten liegen. Dieselben sind mit
Stoffen aus Ziegenhaar bedeckt oder bestehen einfach aus
Palmblattmatten, die an den größten Arsten aufgehängt
sind. Ringsherum liegen sehr kleine magere Kühe, Ziegen und
stattliche weiße Schafe mit schwarzem Kopfe. Was die
Tracht der Bewohner anlangt, so begnügen sich die Männer
mit einem Schurze um die Lenden, während nur ein paar
Wohlhabendere eine Toga von weißem Calicot hinzufügen.
Mehr Kleidung tragen die älteren Frauen, indem sie sich
ganz in Leinwand wickeln, dabei aber Schultern und Arme
nackt lassen. Auf dein Kopfe, dessen Wollhaar einige
Coquctten in Zöpfe zu flechten sich bemühen, sitzt ein Stück
Baumwollenzeug in Gestalt einer mehr oder weniger phan-
tastischen Kappe. Silberne Armspaugen und Halsbänder
aus Perlen vollenden ihre Kleidung. Die Kinder aber
tragen nichts als ein Amulet um den Hals.
Die Danakil sind von schwarzer Hautfarbe, wohlge-
85*
276
Oboes.
wachsen, aber von mageren Formen; sie sind gewandte
Jäger, geschickte Fischer, laufen sehr schnell und verbinden
mit diesen Vorzügen eine Grausamkeit und Hinterlist, deren
sie selbst sich vor allem rühmen. Einen Feind von hinten
zutreffen, gilt bei ihnen für lobenswerth; ihn niederzumetzeln,
verleiht Ruhm. Die Tödtung eines gewöhnlichen Feindes
verleiht das Recht, ein volles Jahr hindurch eine schwarze
Feder im Haare zu tragen; wer einen Löwen oder einen
Weißen erlegt — diese Gleichstellung sollte für letzteren
höchst schmeichelhaft sein — darf zehn Jahre lang eine
weiße Feder tragen. Diese blutigen Sitten paffen so gut
zu dem Charakter des Volkes, daß ein Mann kein Weib
zur Ehe findet, wenn er nicht seine Würdigkeit durch Er-
legung eines Mitmenschen dargethan hat. Vorsichtige Fa-
milien sollen sogar alte schwache Neger kaufen und sie ihren
Kindern zum Tödten überlassen, welche aus diese Weise schon
im jugendlichen Alter dem grausamen Stammesgesetze Ge-
nüge leisten und sich die schwarze Feder erwerben können.
Die Ehre, mit dem Löwen aus gleiche Stufe gestellt zu
werden, machte die drei damals (Ende 1884) in Obock an-
sässigen Europäer sehr vorsichtig. Im vorhergehenden
Jahre wagten sie sich niemals unbewaffnet von einem ihrer
Häuser, die kaum 40 m von einander entfernt waren, zum
anderen. Wurde doch einer der ältesten Ansiedler, Arnous,
über welchen sich die Danakil angeblich zu beklagen hatten,
ans der Schwelle der Faktorei selbst getroffen. Noch heute
herrscht solche Unsicherheit in Obock, daß der Gouverneur
sich allabendlich an Bord des „Pingonin" begiebt, um dort
zu schlafen, während der Wachtposten bei Anbruch der bracht
die Zugbrücke aufzieht und sich möglichst verschanzt.
Frauen von Obock. (Nach einer Photographie.)
Nachdem man den ans Korallenkalk bestehenden Klippen-
rand erstiegen hat, erreicht man die Faktorei: innerhalb der
Umfassungsmauern stehen zwei Gebäude, das eine zur
Wohnung des Gouverneurs bestimmt, das andere zur Kaserne
für zwanzig, unter dem Befehle eines Sergenten stehende
Soldaten. Dann folgt die Concession Menier, wo man einen
Gemüsegarten mit drei Kohlköpfen und einem Dutzend Salat-
stauden bewundern kann, und weiterhin das Hospital, ein
großes Gebäude ans Madreporenkalk mit großer Terrasse.
Vom militärischen Standpunkte aus betrachtet, kann
Obock einmal eine werthvolle Kolonie werden; es ist eine
Kohlenstation, wo die französischen Schiffe sich mit Heiz-
material versehen können, falls ihnen Aden verschlossen ist.
Selbst den Fall gesetzt, daß der Suez-Kanal frei wäre,
könnte England die Enge Bab-el-Mandeb durch Perim
schließen unb dadurch die französische Marine zwingen, wieder
den Weg um das Kap der guten Hoffnung herum einzu-
schlagen. Aber auch für Friedenszeiten hofft man sich durch
Obock von den englischen Kohlen- und Transportschiffen los
zu machen; aber einstweilen ist man noch nicht so weit.
Heute kostet Obock- alljährlich mehr als 400000 Franken
und bezieht, was französische Waaren anlangt, Kohlen,
welche direkt von Cardif kommen, und zwar in Schiffen,
die in England erbaut und in Swansea beladen worden sind
und die nichts Französisches an sich haben, als die Flagge,
die Bemannung und einen Anlegehafen, wo sie von Zeit zu
Zeit rasten, um sich die Schiffahrtsprämie zu verdienen.
Und dabei kosten dieselben Kohlen in Aden 20 Franken
weniger als in Obock und werden in ersterem Hafen fünf-
mal schneller an Bord geschafft, als in letzterem.
277
Oboes.
Danakil-Familie in Obock. (Nach einer Photographie.)
278
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
Nun befördern zwar Kolonien im Allgemeinen nicht
bloß den Kohlenhandel, sondern auch Ackerbau, Industrie
und Handel. Aber wie kann von Ackerbau die Rede sein
in einem Lande, welches nur Gießbachbetten ohne Wasser,
Felsen ohne Humus, eine Atmosphäre ohne Wolken und
eine unerbittlich hcrabgluhende Sonne besitzt? So bleibt
also der Handel mit den Hinterländern, mit Schon und
Abessinien, die Karawanen mit ihrem Golde, Elfenbein
und Getreide. Leider aber ist die commerciclle Zukunft von
Obock ebenso trübe, wie die landwirthschaftliche, denn eine
schwer zugängliche Bergkette trennt die Kolonie von den
nach Abessinien führenden Karawanenstraßen und sperrt
dem Hawasch, der sonst vielleicht hätte befahren werden
können, den Zutrittzum Meere; das mehrere Tagereisen süd-
licher gelegene Tadschura ist in dieser Hinsicht mehr bevorzugt.
Wie es heißt, unterhält Frankreich mit König
Menelek von Schoa, dem Vasallen des Königs Johannes
von Abessinien, die besten Beziehungen; aber sein Land ist
weit entfernt. Eine Karawane braucht sechs lange Monate,
um sich zu organisiren; der Weg, welcher zwischen Tad-
schura — nicht Obock — und den schoanischen Grenzen
liegt, ist weit und wird von räuberischen Somalistämmen
unsicher gemacht. Und worin besteht die Einfuhr nach
Schoa? In Salz, Waffen und einigen Toilettenbedürfnissen
für die Königin; eine einzige Karawane sührlich würde für
alle Erfordernisse in diesen Richtungen genügen. Als
Rückfracht können Karawanen Honig, Kaffee, Moschus und
Goldstaub, welcher in geringen Mengen in den Flüssen
gesammelt wird, aufkaufen, und zwar nur vom Könige
selbst, der diesen ganzen Handel monopolisirt. Mit dem
Elfenbein ist es seit einigen Jahren nur noch knapp bestellt;
der Elephant verschwindet mehr und mehr, und abessinische
Stoßzähne, welche von den Indiern besonders gesucht sind,
werden in den königlichen Magazinen immer seltener.
Aus allem dem geht hervor, daß Obock keine Station
für Karawanen ist. Abessinien genügt sich selbst und wird
noch für lange Zeit keine französische Produkte kaufen;
Schoa ist aber schwer zugänglich und wird es täglich mehr
werden, wenn man fortfährt, den Somali-Häuptlingen in
beschämender Weise Tribut zu zahlen, um von ihnen zu
erlangen, daß sie sich anscheinend unterwerfen. Warum
braucht man für einen Thurm, ein Hospital und zwanzig
Strohhütten einen Gouverneur und Bureaukraten. Fünfzig
Soldaten unter einem energischen Officier, ein Marine-
zahlmeister, gut eingerichtete Kohlenlager, eine Landebrücke,
einige Bosen u. dergl. würden genügen, um den Eingebore-
nen Achtung vor der französischen Flagge einzuflößen und
im Nothfälle die französische Flotte oder von Süden kommende
Schiffe, welche Aden nicht anlaufen wollen, mit Kohlen und
Proviant zu versehen.
Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
Von Dr. H. Simroth.
II. (Schluß.)
Das Wetter scheint hier weniger trübe zu sein, als in
Sete Cidades; die Entfernung vom Meere ist weiter und es
liegt, namentlich nach Nord und Ost, noch ein höherer
zusammenhängender Gebirgscomplex schützend dazwischen.
Gleichwohl hatten wir vor Sonnenaufgang stets das Thal
voll Wolken, und nachdem sie weg und der Himmel scheinbar
klar war, spannte sich doch von Viertelstunde zu Viertel-
stunde, wenn man auf die Berge stieg, ein Regenbogen unten
durchs Thal. Eine Straße führt ziemlich steil den nörd-
lichen Hang hinauf zu einem ausgedehnten Hochland, von
dem man den Ocean wieder erblickt. Es ist das übliche
Weideland, doch mit mehr Haide als Gras, auch fehlte die
Sphagnum-Vegetation fast ganz. Eine riesige Heidelbeere,
den Inseln eigenthümlich (Vaccinium cylindraceum), ist
hier nicht selten. Große Rinderheerden genug. Furnas
hat man jetzt unter sich, man sieht über den Berg weg, der
es von der Lagoa abschließt, und gewinnt so einen Ueber-
blick über die Formation des Gebirges, dessen einzelne Gipfel
sich hier über 3000 F. erheben. Es ist hier aber schwerer,
mit einiger Sicherheit die vulcanischen Herde herauszurechnen,
denn die Kraterründer sind vielfach zerbrochen und einge-
stürzt, und die Akten dürften selbst über ihre Zahl noch nicht
geschlossen sein. Ein Spaziergang galt einer engen und
tiefen Schlucht ganz in der Nähe, ans der ein frischer Bach
reißend hervordrang. Es ging durch eine wilde Vegetation
in die Höhe. Oben war der Weg abgesperrt, eines Unglücks-
falles halber; denn um ihn weiter zu verfolgen, ist Schwindel-
freiheit nöthig, so schroff stürzt die Wand zur Tiefe ab. Es
fehlt also auch nicht an grotesken Partien. Mir, der ich die
dentschen Gebirge gewohnt war, wollte auf diesen lockeren
Tuffen trotz aller Steilheit das echte Berggefühl allerdings
nie recht kommen, denn es wird einem schwer, von dem
Postulat des festen Gesteins ganz zu abstrahiren. Kein
Wunder, daß gelegentlich beträchtliche Bergrutsche vorkommen.
Erst vor ein paar Jahren war ganz in der Nachbarschaft
eine Wand niedcrgcbrochen und hatte einen großen Theil
eines schönen Parks verschüttet. Hier war es interessant zu
beobachten, wie leicht und schnell die Vegetation sich auf das
lose Geröll übertragen läßt. Schon waren neue Wege
geebnet, und eine ansehnliche Palme war ohne allen Nach-
theil mitten in den Schutt verpflanzt worden, von niederen
Formen abgesehen. Die Durchfeuchtung des Bodens läßt
die Wurzeln nicht absterben. Selbstverständlich galt der
Lagoa eine besondere Excursion. Auch hier, am unteren
Ende des Sees, zeigt der Rauch Thermen an, der Boden
ist heiß und voll Schwefel, und einige Quellen sprudeln
heraus, bei hohem Wasserstand allerdings unter dem See-
spiegel verschwindend. Am See dieselbe einförmige Vege-
tation, eine fluthende Bank bildend, die je nach dem Winde
aus der oder jener Seite lagert. Der geringe Wechsel spielt
sich so gleichförmig ab, daß manchmal eine Userstrecke dick
mit dem gelben Blüthenstaube des Potamogcton bedeckt ist,
den man für eine mineralische Bildung genommen hat.
Am Abhange des Ufers liegt, ziemlich hoch oben, ein einziges
Haus, das mannigfache Schicksale gehabt hat, als Pensionat
und dergleichen. Erstaunt aber ist man, am entgegengesetzten
oberen Ende mitten in der Einöde eine äußerst luxuriöse Kapelle
zu finden, die der Besitzer dcö Grundes, Sr. Josä do Canto,
errichtet hat. Die ganze kostbare, innere Ausstattung, Kron-
leuchter, Allarschmuck und dergleichen entstammt französischen
Kunstwerkstätten. Ein wahres Prachtwerk, aber die An-
dächtigen fehlen, wenigstens für regelmäßigen Gottesdienst.
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa da Fago (Azoren).
279
Auch hier, in aller Entlegenheit, wächst ein wohlgepflegter
Park auf, der sich durch die große Menge exotischer Gehölze
auszeichnet. Ein herrlicher Endpunkt für einen weiteren
Ausflug einer zusammengereisten Badegesellschaft! Und wie
abgeschieden dieser schweizerische Kessel! Die Lagoa hat keinen
Abfluß, für die Straße hat man einen Hohlweg ausschach-
ten müssen, und die Ribeira guente entspringt getrennt
für sich.
Das Thierlebcn ist eben so arm, wie in Sete Cidades.
Ja die Berge sind wegen des Mangels an Torfmoosen noch
ärmer an niederen Thieren. Im Wasser dieselben paar
Wesen, nur die Ribeira beherbergt reichlich den Aal, der
Gelegenheit hat, wiewohl über steile Klippen und Hänge, zum
Meere zu kommen. Ausfallend ist es, daß das bewegte, ja
das reißende Wasser sogleich reicher belebt ist, ein Strudel-
wurm ist gemein, und eine Mückenlarve klammert sich an
den Steinen an, ganz im Gegensatz zu unseren Stechmücken,
die doch im Jugcndzustande gerade stagnirenden Sumpf
bevorzugen. Die Berge beherbergen sehr zahlreiche wilde
Kaninchen, die man früher eingeführt hat. Sie scheinen
unverändert, höchstens kann man eine etwas hellere und eine
dunklere Varietät unterscheiden, aber es bleibt künftigen Ver-
suchen überlassen, zu entscheiden, ob das Klima sie in so
weit beeinflußt hat, wie die von Porto Santo, so daß sie sich
mit den festländischen nicht mehr fortpflanzen lassen. Frett-
chen und Wiesel, ebenfalls importirt, ersteres zur Min-
derung der Kaninchenplage, bilden das behaarte Raubwild.
Am bemerkenswerthesten ist die Beschränkung des einzigen
der Insel allein zukommenden Vogels, eines Dompfaffen
ohne die lebhaft rothe Brust unseres Männchens (Pyrrhula
coccinea s. murina), aus diese Ostgebirge. Die Ent-
stehung reicht wohl weit zurück, was dadurch beglaubigt wird,
daß nach Maßgabe der Geologie diese Ostgebirge den
ältesten Theil von S. Miguel ausmachen. Auch beherbergen
sie noch eine weitere ornithologische Merkwürdigkeit für die
Inselbewohner, unseren Buntspecht nämlich. Ein Zufall
ist es, daß auch hier die erste Besiedelung durch den Menschen
erfolgte, in dem romantischen Thäte vonPovoatzuo, südöstlich
von Furnas, das ich indeß nicht besuchte. Nach einigen
Tagen nahmen wir Abschied von dem paradiesischen Erden-
fleck und nahmen mit uns die dem Insulaner eingewurzelte
Ueberzeugung: Es giebt nur ein Furnas.
Noch gedenke ich eines Gebirgsausfluges, der zu dem
einsamsten aller Kraterseen der Insel führte, zur Lagoa
do Fogo. Er liegt fast in der Mitte auf dem westlichsteu
Vorsprunge der bergigen Osthälfte. Ich machte die Tour
zu Esel, ein etwas anstrengender Ritt für einen Tag.
Anfangs ist es dieselbe Straße nach Furnas, bis zur Praya
vor Villa Franca, aber zu Esel ist cs doch anders. Man
kann mit dem Volke verkehren. Eine alte Bauerfrau mit
ihren Enkelinnen (durch eine runde Holzlehne ist das un-
bequeme Gestell in einen Damensattel verwandelt) schloß sich
mir an, und nachdem der Junge durch wuchtige Schlüge,
die auf die höchst schätzenswerthe Eselhaut niederdonnerten,
mein Thier in lebhafte Gangart versetzt hatte, galoppirten
wir unter Scherzen um die Wette. Von der Strandpartie
bog dann der Weg ab und zum Gebirge hinauf, durch einen
langen, drachcnschluchtartigen Pfad, der in den Tuff gegraben
war, oben gekrönt von der knieholzartigen Erica, frisch grün
mit schwarzen Schatten, ein Tag mit voller südlicher Be-
leuchtung. Mir that allmählich der Esel leid, wegen der an-
haltenden Steilheit. Aber als ich bedauernd abstieg und zu
Fuß ging, benutzte schnell der Bengel die Pause zum Reiten;
geschont wird nicht. Zur Rechten hatten wir wieder eine
tiefe Schlucht, die indeß noch nicht so weit ausgehöhlt ist,
als die östlicheren hinter Villa Franca. So füllt sie in
Terrassen ab, über die ein wohlgcfüllter Gebirgsbach, der
Abfluß des Sees, in schönsten Cascaden herabschäumt, hübsche
Blicke aus der Tiefe. Oben eim einsames Försterhaus, das
mich, da ich ein Empfehlungsschreiben mithatte (wohl auch
ohne dies) gastlich aufnahm. Freilich mit Proviant muß
man sich selbst versorgen, Aepfel und Kaffee wurden freund-
lichst gespendet, Nun ein Hochwald, aus Pinien und
prächtigen Cedern gemischt, und ein zierliches Gebüsch echter
Akazien. Nachher biegt man in ein langes Defilv ein und
fühlt sich plötzlich im Hochgebirge. Ein schmaler schlechter
Pfad über Steine und Hochmoor, nackte und grüne Felsen
mit Farn, Gras und Haide, am steilen Hange vereinzelte
Kühe. Es ist schwer zu sagen, woher eigentlich der Eindruck
des Hochgebirges stammt. Am Forsthause, das doch etwa
1000 F. hoch frei nach der See zu liegt, gedeihen noch ein
paar Drachenbäume so gut wie an der Küste. Das Klima
kennt nur geringe Höhenunterschiede, die Vegetation dagegen,
sich selbst überlassen, desto mehr. Endlich kommt der See, etwa
1600 F. hoch, gleichmäßig von Bergen eingeschlossen. Mein
Junge streckte sich auf dem sonnigen Strande aus und über-
ließ mich meinen Untersuchungen. Das Wasser hatte noch
weniger Pflanzenmuchs als die früher geschilderten Becken,
einige Möwen flogen zwar darüber, aber wohl nur nach
kümmerlicher Nahrung, ein paar verhungerte Goldfische
lagen am Strande, ein einziger Frosch verkroch sich unter
Bimssteingeröll, es gelang mir nicht, trotz vieler Mühe, eines
zweiten ansichtig zu werden, ein paar Spinnen und Käser,
aber selbst die Kuhfladen ohne Mistkäfer, gierig von ver-
einzelten Regenwürmern, einer südlichen Form, aufgesucht.
Der Zoologe, der fast überall eine reiche niedere Gesellschaft
findet, kann sich kaum vereinsamter fühlen. In der Schlucht,
wo dasselbe Wasser des Sees dahineilt, sofort ein saftgrünes
Ufer, Würmer und Mosquitolarven und Frösche genug, wenn
auch eine kleine Artenzahl, doch eine Masse von Individuen.
Wenn irgendwo, hier gilt das Motto: Leben ist Bewegung.
Die Entstehung dieses Kraters ist uns gut beglaubigt, sie
erfolgte während eines heftigen Ausbruches 1563. Vom
24. Juni an fanden in diesem Theile der Insel Erdbeben
statt, die man auch iu Terceira gespürt haben soll, und denen
bald Aschenregen folgten. Am 1. Juli nahm man zuerst
wahr, daß der Gipfel des Trachytdomes des alten Monte
Volcao gewichen und daß auf ihm ein Krater im Ausbruch
begriffen war. Am 2. Juli brach an den Abhängen ein
Lavastronl hervor, der drei Tage lang nach dem Meere ab-
floß. Die von Erderschütterungen begleiteten Explosionen,
welche große Felsblöcke hoch in die Luft und weit fort-
schleuderten, dauerten bis zum 4. oder 5. Juli fort, aber
während 30 Tagen schien die Sonne nur düster durch dichte
dem Vulcan entsteigende Wolken. Ungeheure Massen von
Asche und Bimsstein wurden emporgeschleudert und in den
nächsten Umgebungen so hoch angehäuft, daß die Gebirgs-
bäche verstechten und erst nach 14 Tagen wieder hervor-
brachen. In einer Entfernung von 200 Minuten regnete
es Asche und Bimsstein auf ein paar Schiffe; die erstere soll
sogar in Portugal niedergefallen sein (Hartung 1. o.).
Der Rückweg war prächtig, mit schönen Aussichten,
ähnlich wie auf der Höhe nach Furnas zu. Unten im Dorfe,
das sich in die Schlucht hinaufzieht (diese von Banaueu-
gärten ansgefüllt), begegnete mir ein kurzer Leichenzug.
Crucifix und schwarzgoldener Priester voran, auf einem
Sargboden (ohne Deckel) lag ein weiblicher Leichnam, von
weißem Flor überdeckt. Beim Rückwege, der durch einen
herrlichen Sonnenuntergang auf dem Meere, dem nach
kürzester Dämmerung ein klarster Mondenschein folgte, ver-
schönt wurde, fielen wieder die vielen verödeten Orangengärten
und kümmerlichen Weinberge auf und sie mögen die Ver-
anlassung sein, noch kurz auf die Boden- und Kultur-
verhältnisse einzugehen.
280
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
Die Portugiesen bezeichnen gern die Azoren als den
Garten ihres Landes, und man kann in den meisten Be-
schreibungen von ihrer ungemeinen Fruchtbarkeit lesen. Die
Gürten, die Parks, die Kulturen bei den Hasenplatzen
machen gewiß diesen Eindruck. Aber mit solcher Ansicht
steht die Thatsache in scharfem Kontrast, daß jede Frucht,
die hier eingeführt, besonders gedieh und eine finanzielle
Blüthe auf die Dauer versprach, nach einer gewissen Zeit
verkümmerte und schließlich wieder aufgegeben werden mußte.
Es kommen freilich Zufälligkeiten, namentlich Epidemien,
ins Spiel, die auch anderswo Schaden anrichteten und die
jene Thatsache verdunkelten. Aber die regelrechte Wieder-
holung dieser traurigen Erscheinung drängt doch, nach einer
inneren Ursache, die in der Insel selbst liegt, zu suchen.
Dem Klima kann schwerlich die Schuld beigemessen werden,
wie könnte es günstiger sein? So bleibt wohl nur der
Boden, der natürlich verschieden ist, je nachdem er aus alten
oder jungen Laven oder aus Bimssteintuffen herpOrging.
Im Allgemeinen scheint er ärmer zu sein, als maiwanzu-
nehmen geneigt zu sein pflegt, zum mindesten für die Bedürf-
nisse vieler Pflanzen. Freilich gelten Laven meist für sehr
ertragsfähig, und sie sind gewiß mit allerlei Gasen, Ammo-
niumsalzen rc. geschwängert, die dem Gedeihen der Pflanzen
außerordentlich förderlich sind. Aber wir kamen zu dem
Schluß, und namentlich war Zervas durch seine Analysen
dazu geführt, daß jener Reichthum nur für eine verhältniß-
mäßig sehr beschränkte Zeit vorhält. Die krümelige,
lockere, wenig gebundene Beschaffenheit des Erdreichs, zumal
der oberflächlichen Tuffe und Aschen, habe ich öfters zu er-
wähnen Gelegenheit gehabt, die vielen beigemengten Bims-
steinbrocken verhindern eine bessere Bindung. Auf diese
Weise wird eine hohe Durchlässigkeit für das Wasser er-
zeugt, und bald, fast unmittelbar nach dem heftigsten
Gewitterregen, ist die Erde wieder trocken, nicht weil das
Wasser der Steilheit wegen so schnell abflösse — man
sieht keine oder nur uubedeutende plötzliche Abschwemmungen,
die allerdings bei winterlichen Platzregen bisweilen enorm
sein sollen —, sondern es ist im Boden verschwunden, wie es
etwa bei den so dürren Lateriten Jnnerafrikas, namentlich
des Congogebietes, geschehen soll. So erklärt sich wohl auch
das annähernd sich gleichbleibende Niveau abflußloser Krater-
seen, die doch bei der Niederschlagsmenge auf den Bergen
mehr und mehr anschwellen müßten. Auf diese Weise
muß aber der Boden in mehr oder weniger kurzer Zeit
ausgelaugt werden, und nur in den Schluchten, wohin sich
der Hanptabfluß zog, hat sich das werthvollere Material ge-
häuft, so gut wie in der Uferzone. Ich muß natürlich zu-
geben, daß eine solche Anschauung noch durch viele analytische
Untersuchungen erst zu beweisen ist, aber auf jeden Fall scheint
sie mit der Vertheilung der Vegetation im besten Einklänge
zu stehen. Das Gedeihen der Banane im Hochthal von
Sete Cidades, die üppigen Parks in dem von Furnas, die
Drachenbäume am Försterhause vor dem Engpaß der Lagoa
do Fogo zeigen, daß das Klima der Höhen selbst tropischen,
mindestens subtropischen Bäumen gewachsen ist. Trotzdem
kleiden sich die Spitzen in die allergenügsamsten Lebermoose,
dann folgen die Gräser, und dann erst die immergrünen
strauchartigen Gehölze in gleicher Höhe mit jenen Bäumen.
In den Schluchten dagegen der freudige Hain, und weiter
unten in den Dörfern die strotzenden Gürten von Bananen.
Daß aber diese Vertheilung von jeher so gewesen und nicht
erst durch die Kultur mit ihrer Waldvernichtung, mit dem
Weidevieh hervorgerufen ist, beweist wohl der Mangel an
Humus in allen höheren Lagen. Daß der ursprüngliche
Wald nicht die Höhe und Dichtigkeit unseres Waldes be-
saß, wurde früher gefolgert. Namen, wieUioo dosCedros,
scheinen anzudeuten, daß man Bauholz nur an bestimmten
Punkten schlagen konnte. Ja selbst das fruchtbare Thal
von Furnas, das nach einigen Einsiedlern zuerst von Schä-
fern besucht wurde (Walker), scheint demnach mehr Gras-
wuchs gehabt zu haben. Wo man den Weinstock am Ge-
lände pflanzt, muß man erst ein hinreichend großes Loch
am Tuffabhang graben und mit Erde füllen. Die Cerea-
lien allein, namentlich der Mais, machen eine Ausnahme
und geben überall gute Ernten, trotzdem daß seit Jahr-
hunderten nur von Zeit zu Zeit durch die Gründüngung
untergepflügter Lupinen nachgeholfen wird; ihnen soll der hohe
Kaligehalt des Bodens zu Gute kommen. Nun, sie genügen
zur Noth, um die dichte Bevölkerung zu ernähren H; um aber
einen wesentlichen Ueberschuß zu ergeben für den Export,
zur Begründung wirklicher Wohlhabenheit und für den Ein-
tausch industrieller Erzeugnisse, dazu fehlen in dem gebir-
gigen Lande die nöthigen Flüchen. Hierzu müssen werth-
vollere Pflanzen gebaut werden. In früherer Zeit war es
der Wein, der, wenn auch dem Madeirawein nachstehend,
immerhin ein ähnliches Getränk ergab. Er soll lediglich
durch Oidinm, das 1853 zuerst auftrat, zerstört worden
sein. Ob nicht der Boden mit die Schuld trägt, indem er
die Constitution der Reben schwächte, muß unentschieden
bleiben. Was man jetzt von Weinbergen sieht, macht
keinen vielversprechenden Eindruck, trotzdem, daß wohl von
der Pilzkrankheit keine Rede mehr ist und bereits Ende
August die Lese stattfindet. Wie ich früher sagte, kultivirt
man jetzt meist die widerstandsfähigere amerikanische Rebe,
die aber ein schlechteres Produkt liefert, und sucht die Be-
handlung des Mostes zu verbessern. Von Versuchen, wie
man sie ans Madeira neuerdings gemacht hat, bessere Sorten
durch Pfropfen auf amerikanische Unterlage zu stärken, habe
ich nichts gehört; auch sollen sie aus dieser südlicheren Insel
selbst noch keineswegs vom erhofften Erfolge gekrönt wor-
den sein.
Neben und nach dem Weine war es die Orange, die
namentlich auf S. Miguel wunderbar gedieh. Einige alte
Bäume von portugiesischer Zucht sollen noch in einem
Garten stehen. Später brachte man ostasiatische Sorten,
die den Ruf der Frucht weithin verbreiteten. Sie gingen
namentlich auf den Londoner Markt und hatten einen regen
Schiffsverkehr mit England während des ganzen Winters
zur Folge. Man packte jede einzeln in ein Maiskolben-
hüllblatt (ein ausgezeichnetes Packmaterial) und bezog das
Holz zu den Kisten aus Portugal, bis der entsetzliche Bruder-
krieg um 1830 dazwischen kam, dann von Amerika, und
schließlich fielen diesem Zwecke alle stärkeren Bäume der
Insel zum Opfer. Aber im laufenden Jahrhundert kam
eine Schildlaus (Aspidiotus) und richtete großen Schaden
an. Es ist aber hier, wie in anderen Füllen, anzunehmen,
daß fast nur geschwächte Pflanzen derartigen Jnsekten-
angrisfen erliegen und so zeigte sich bald auch in Gürten,
die von Ungeziefer frei waren, eine Krankheit, die man
lagrima nennt, eine Art Harzfluß. Daß aber in Wirk-
lichkeit in der Erschöpfung des Bodens die Ursache liegt,
wird erwiesen dadurch, daß die Bäume gesund bleiben sollen,
wenn man sie von Zeit zu Zeit an einen anderen Stand-
ort versetzt. Es geht das um so eher an, als man die
Pflanzen der Stürme wegen (die noch durch die Pitto-
sporumhecken gebrochen werden) niedrig hält. So ist denn
auch diese Quelle des Reichthums im Verstechen. Die
0 Das Verhältniß könnte anders erscheinen angesichts der
Thatsache, daß jährlich etwa 6—7000 Moios Mais (a 800 Liter)
ausgeführt werden. Doch steht dcni ein Auswandererstrom gegen-
über , der in der letzten Jeit auf mehr als 3000 Personen im
Jahre angeschwollen ist. Für den Mais ist aber jedes Fleckchen
verfügbarer Erde in Anspruch genommen, daher der Maximal-
betrag der Ernte, vom Dünger abgesehen, gewiß längst erreicht ist.
Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
281
Kultur des Theestrauchs, die mau durch zwei Söhne des
himmlischen Reiches sachgemäß einrichten ließ, soll über-
raschend gute Resultate ergeben haben, hat aber bis setzt,
wenn auch eine Pflanzung von 27 000 Bäumen existirt,
mäßige Fortschritte gemacht, und ich habe auch nicht ge-
hört, daß man sich ihr mit besonderer Energie zuzuwenden
gedenkt — wohl schon wieder eine halb aufgegebene Sache.
Dagegen fing man Anfangs der 70er Jahre mit der
Ananas an. Das Aroma soll so vorzüglich sein, wie
bei westindischen, und die ersten Früchte erzielten in
London horrende Preise. So nahm denn dieser Zweig
der Hortikultur einen höchst erfreulichen Aufschwung, und
jetzt steckt ein großes Kapital darin. Massenhaft sieht man
die weißgetünchten Glashäuser, zum Schutze gegen die
Witterung; sie werden nicht geheizt. Aber der Betrieb ist
kostspielig genug. Die Ananas verlangt guten Humus,
und der fehlt, daher man darauf angewiesen ist, aus den
Bergen die Haide zusammenzuholen und zu Composterde
vermodern zu lassen. Was aber das Schlimmste ist, jede
Pflanze erfordert neue Erde, und die alte muß weggeworfen
werden; sie kommt wenigstens den Gärten zu Gute. Eine
Eigenthümlichkeit mag erwähnt werden. Wenn die jungen
Pflanzen anfangen, ungleich zu wachsen, macht man in den
Häusern ein Schmanchfcuer an, das starken Rauch ver-
breitet; dadurch wird wieder Gleichmäßigkeit erzielt, indem
die allzu üppig treibenden zurückgehalten werden, ohne
Schaden fiir die künftige Frucht. Gärtner mögen dies
erklären. Leider hat die starke Konkurrenz bereits die
Preise gedrückt, und schon hat sich ein Konsortium ge-
bildet, um der Verschleuderung entgegenzutreten. Ich sah
Grundmauern von Ananashäusern, die man nicht wieder
in Betrieb setzte. — Gerühmt wird endlich der Tabak von
S. Miguel, der mehr im Norden der Insel gebaut wird,
nach dem ich nicht kam. Man fabricirt Cigarretten
(Eigarros) und Cigarren (Charutos), beide nach unserem
Geschmack sehr mäßig und sehr theuer, wie man vergleichs-
weise in Deutschland am billigsten raucht. Das Verkaufs-
recht wird an den Meistbietenden vergeben. Aber auch diese
Kultur kann zu keiner rechten Ausnutzung kommen, weil
dieser Tabak aus der Provinz bis 1885 — kaum glaub-
lich — in Portugal denselben Eingangszoll zahlte, wie
jeder fremdländische, und weil der Boden zu sehr ausge-
wogen wird. Bekanntlich geht man augenblicklich in Por-
tugal mit einem Monopolprojekt um, das hoffentlich
S. Miguel vortheilhaft ist.
So hat denn, leider, diese glückliche Insel, ein reiner
Acclimatisationsgarten, kaum eine glänzende Zukunft vor sich,
weil die Grundlage, der Boden, nicht hält, was er zu ver-
sprechen scheint. Vielleicht, daß der eine Bestandtheil, die
Puzzolane, einigen Ersatz schafft. Sie soll sich zu hydran-
lischeu Mörteln vorzüglich eignen, da sie an 20 Proe.
amorphe Kieselsäure enthält.
Noch ein paar Worte über die Hansthiere. Das
Meiste ist schon erwähnt. Die Rinder sind von einer
großen langhörnigen Rasse; man sucht sie durch eingeführte
Guernsey-Bullen noch zu veredeln. Namentlich erscheinen
die Ochsen sehr kräftig und brcitbrüstig, weil man sie erst
mit dem zweiten Jahre kastrirt. Auch scheinen sie gut
behandelt zu werden, und man sieht sie häufig durch eine
grüne Decke geschützt, die zeltartig an der gabelförmigen
Deichsel befestigt ist. Sonst ist der Nutzen sehr gering,
man gewinnt nicht die genügende Milch und fabricirt,
immerhin ein Fortschritt gegen Portugal, ein wenig Butter.
Außerdem kommt nur der Fleischwerth in Betracht. —
Die Schafe werden in Ponta Delgada häufig zum Ziehen
gebraucht, ein kleiner Wagen mit Gabel und Joch wird von
einem Thier gezogen, meist um Wasser zu holen, doch nicht
als Spielzeug für Kinder. Aber der unübertreffliche, un-
ersetzliche Genosse des Menschen bleibt doch der Esel, dieses
interessanteste der südlichen Hausthiere. Er ist entschie-
den ein Charakter, und in seiner Weise so vollendet, wie
die Hauskatze als Ranbthier; sicher hat er sich mehr
Selbständigkeit gewahrt als das Pferd. Temperament
und Constitution, zumal der Haut, erlauben ihm, alle Un-
bilden der Behandlung gelassen zu ertragen. Das harte
Sattelgestell scheuert ihn wund. Als ich einen mit der
Gerte an die Schenkel schlug, belehrte man mich, daß der
Schlag an den Kopf gehöre, und der eingeborene Reiter
lenkt ihn, indem er ihm mit einem Knüppel von links oder
rechts eins an die Ohren versetzt. Er sucht sich selbst
seinen Pfad, in fast halsbrecherischer Weise bei Steilhängen
am äußersten Rande. „Va para caminho“ (geh ans
den Weg) ist des Treibers unablässige Ermahnung. Er-
zieht es vor, mit den zierlich sicheren Hufen die ungleiche
Felsentreppe hinabzuklettern und im Vorbeigehen noch stach-
lichtes Brombeergebüsch zu naschen, als die bequeme Alltags-
straße daneben zu betreten. Dabei knickt er mit den Hinter-
beinen ein und stützt sich auf die Fersen, und wenn Regen
den Pfad zu schlupfrig machte, rutscht er wohl glattweg
hinab, kugelt sich und steht unbeschädigt dienstbereit wieder
da. Ev geht trotz des Reiters Verbot zum Brunnen, und
ist er beim Aufstieg ermüdet, streckt er alle Viere von sich,
ruht ein Weilchen auf bcm Bauch und nimmt seinen Herrn
beim Aufstehen bequem wieder auf. Und welche Lasteil
trägt er auf schlechtester Straße! Einiges ist schon er-
wähnt. Aber man sieht nicht selten die ganze Familie,
Vater, Mutter und Kind, auf seinem geduldigen Rücken,
auch wohl mehrere Kinder in riesigen Körben zu den Seiten,
der genügsamen Ausdauer nach Tagen, Jahren und Jahr-
zehnten nicht zu gedenken. Sein Kleid, wiewohl rauh und
struppig, ist doch ungleich malerischer, als das des Pferdes,
eine harmonische Abstufung der Farben, Kops und Ohr
allein in reicher Schattiruilg, und so der ganze Körper.
Man trifft sie auf S. Miguel in allen Größen und Farben,
Rappen, Braune, Grane, Schimmel, Schecken. Von zoolo-
gischem Interesse war es, daß nicht selten die Fußgelenke
(Knie) eine mehr oder weniger lebhafte dunklere Querstrci-
fnng aufwiesen, eine Erinnerung an die Zebrastreifung des
Urpferdes. Ich zählte nach und nach wohl ein Dutzend
solcher atavistischer Esel. Und welche Intelligenz prägt
sich im Mienenspiel aus! Die lebhafte Bewegung des
Ohres, und vor allem die außerordentlich bewegliche Mus-
kulatur der Schnauze. Dem Huud ähnlich, hält der Hengst
am Koth der Vorläufer, er reißt die Nüstern auf und
spitzt die ausdrucksvoll faltige Oberlippe, in einer Abwechs-
lung, die dem Pferde versagt ist. Mit ähnlichem Ausdruck
streckt er den Kopf vor, wenn er einen Geführten wittert.
Dann ringt sich aus gepreßter Brust in höchster Sentimen-
talität Ton auf Ton los, bis es der beklommenen Stimme
endlich gelingt, in Trompetengefchmetter auszubrechen. Jetzt
setzen sich beide Freunde in lebhaften Trab, der bis zur
Begegnung anhält. Aehnlich wird jeder Gegenstand, der-
bes aufmerksamen Thieres Interesse erregt, begrüßt, die
Ziegenheerde, der Reiter, der abstieg und sich eine Zeit lang
entfernte. Und wie traulich sich das graziöse Füllen bei
unserer Annäherung hinter die Mutter schmiegt! Wahr-
lich, der Esel ist ein Charakterthier, dem nur eins fehlt,
die Schnelligkeit. Zwei Töne find es, die mir vom Insel-
strande noch im Ohr klingen, das unausgesetzte Brüllen der
Brandung, und, mit ihm wetteifernd, des Esels Geschrei.
Globus LII. Nr. 18.
36
282
C h r istia n Ausser: Die bolivianische Provinz fungas.
Die bolivianische Provinz U n n g a s.
Von Christian Ruffer.
II. (Schluß.)
Ueber die Coca und ihre Eigenschaften ist besonders seit
Entdeckung der werthvollen Eigenschaften des Cocains schon
unendlich viel geschrieben worden, so daß dieses Thema hier
nur insoweit in Betracht gezogen werden soll, als es sich um
die Kultur dieser Pflanze handelt.
Zum Gedeihen der Cocapflanze sind feuchte, kräftige
Ländereien mit tropischem Klima, die in der Aymarasprache
Pungas genannt werden, erforderlich. Soll eine neue An-
pflanzung angelegt werden, so hat die Aussaat in den
Monaten December und Januar vor sich zu gehen, in
welchen die häufigen und starken, bis in den April dauernden
Regengüsse das Aufgehen der Samen erleichtern. Man
kann ans zweierlei Weise verfahren. Die eine Methode
besteht darin, das Terrain zu reinigen, herzurichten und die
Samen — drei oder vier Körner zusammen — in die auf
dreiviertel Meter Entfernung von einander gezogenen
Furchen reihenweise einzulegen und dann, wenn die Pflänz-
chen gesproßt haben, nur einen Stock stehen zu lassen und
mit dem Ueberschuß das Nichtaufgegangene zu ergänzen;
die andere, gebräuchlichere, vortheilhaftere, aber umständ-
lichere Methode beginnt mit der Anlegung einer Pflanz-
schule (almáciga), auf welcher der Same dem zuvor ge-
reinigten und gelockerten Boden übergeben wird. Da
genügende Feuchtigkeit die erste Bedingung für das Wachs-
thum der schon nach wenigen (10 bis 14) Tagen aufgehen-
den Pflänzchen ist, so ist es, wenn der Regen zu lauge auf
sich warten läßt, leichter, eine Pflanzschule zu begießen, als
eine weit ausgedehnte Anpflanzung. Das Gleiche läßt sich
in Betreff des den Sämlingen zu gewährenden Schattens
sagen. Das Ueberdecken einer Pflauzschule mit belaubten
Rosten oder Matten zum Schutz gegen die brennenden
Sonnenstrahlen läßt sich leicht bewerkstelligen, während das
Zwischenhineinpflanzen von Puca (Brotwurzel, Maniok)
und anderen Nutzgewächsen zur Beschattung der Sprößlinge
der ersten Methode getadelt wird, weil jene die in dem
Boden enthaltene Kraft, welche der Cocapflanze ungeschmä-
lert zu Gute kommen sollte, theilweise aufsaugen. Im
folgenden Jahre haben die Pflanzen eine Höhe von circa
40 cm erreicht und werden im December oder Januar in
das hergerichtete, meistens stufenweise an den Bergseiten sich
hinaufziehende Terrain versetzt. Keine Wurzel, so klein sie
auch sei, darf beim Versetzen umgebogen werden, sonst stirbt
die Pflanze ab; die Wurzelfasern müssen lothrecht in die
Erde versenkt werden. Nun wächst die Pflanze schnell,
blüht im April oder Mai und reift den „muello“ ge-
nannten Samen. Erst im fünften Jahre steht der Strauch
in seiner vollen Entwickelung von 2l/2 m Höhe, man läßt
ihn aber nicht so hoch werden, sondern fördert seine Aus-
dehnung mehr in die Breite. Schon im zweiten Jahre
können seine Blätter eingeerntet werden, und nun geht es
mit den Ernten viele Jahre hindurch fort, ohne daß es
nöthig wäre, die alten Stöcke durch neue zu ersetzen. Aller-
dings zeigt sich mit der Zeit sowohl bei den Pflanzen als
auch bei dem Boden eine Erschöpfung, die in der Abnahme
der geernteten Mengen ihren Ausdruck findet. Das Ge-
deihen des Strauches hängt von der Fruchtbarkeit, der ge-
nügenden Regenmenge und dem sorgfältigen Ausjäten und
Entfernen des Unkrauts ab. Die Cocablüthe ist gelbweiß.
Der Strauch blüht nur einmal im Jahre, giebt aber drei
Ernten, die gewöhnlich mitas genannt werden. Diejenige,
die beinl Ausgang der Regenzeit stattfindet, ist die er-
giebigste; man heißt fie mita de Marzo; dann kommt die
mita ele San Juan (Johannes der Täufer), sie ist die ge-
ringste, weil sie nach der Blüthezeit stattfindet, wo der
Strauch feine Säfte theilweise zur Samenbildung ver-
wendet. Die dritte und letzte ist die mita de Santos
(Allerheiligen) Anfangs November. Man fängt mit der
Ernte an, wenn die Blätter 1l/<2 Zoll lang sind, Festigkeit
besitzen, an der Innenfläche lebhaft grün, auf der Oberfläche
etwas gelblich sind. Beim' Einsammeln der Blätter muß
mit viel Behutsamkeit verfahren werden, um die neuen
Blattansätze nicht zu schädigen. Man packt mit Zeigefinger
und Daumen der linken Hand die Spitze des Zweiges und
streift mit der rechten Hand die Blätter behutsam ab. Das
noch Richtigere, Blatt für Blatt abznkneipen (picar 1a
coca) geschieht selten, weil es gar zu viel Zeit beansprucht.
Die gesammelten Blätter werden im Hofe der Hacienda auf
einem Pflaster von Schiefcrplatten in der Sonne getrocknet.
Diese Operation will mit großem Verständniß ausgeführt sein;
von ihr hängen zum guten Theil die Brauchbarkeit und die
Erhaltung der typischen Eigenschaften des Produktes ab.
Die Blätter dürfen weder zu ausgetrocknet noch zu feucht
verpackt werden; im ersteren Falle verlieren sie Farbe und
Geschmack und zerbröckeln zu Staub, im zweiten Falle
werden sie braun, gühren und sind ebenso untauglich. Die
Fermentation, d. h. das Braunwerden, ist ein Uebclstand, dem
auch die best präparirte Coca bei dem Versandt nach Europa
ausgesetzt ist und den Verschiffern manchen Schaden zufügt.
Haben die Blätter den richtigen Trockengrad erreicht, so
werden sie in Mengen von 25 spanischen Pfunden unter
dem starken Druck einer Presse zu viereckigen Ballen ge-
preßt, die mit getrockneten Bananenblättern und einem
grobwolligen Gewebe umgeben sind. Diese Menge er-
hält den Namen „Cesto“. Zwei Cestos bilden einen Tam-
bor, dessen vielen Schwankungen unterworfener Preis 1886
ungefähr mit 15 Pesos notirt wurde, d. h. ll¡.2 Pesos per
Cesto.
Auch Jauja und Ayacucho in Peru produciren viel
Coca, allein der Coca der Pungas von La Paz wird von
den Indianern, die ja in dieser Hinsicht die kompetentesten
Kenner sind, vor allen anderen Provenienzen der Vorzug
gegeben. Aehnlich wie beim Kaffee oder Thee Geschmacks-
nnterschiede je nach der Herkunft der Produkte konstatirt
werden, muß bei der Coca je nach der Lage und dem Di-
strikt, ans welchem sie stammt, ein für den Konsumenten
wohl bemerkbarer Unterschied bestehen. Die Produktion ge-
wisser Haciendas ist sehr gesucht und stets besser bezahlt
als diejenige anderer, vielleicht am gleichen Berge liegender
Pflanzungen. Die Coca de Rescate, die von den Händlern
überall in kleinen Quantitäten zusammengekauft wird, er-
zielt ihrer gemischten Beschaffenheit wegen selbstverständlich
die geringsten Preise. Die Hauptabnehmer, geriebene
Christian N usser: Die bolivianische Provinz Aungas.
283
LNcstizen aus den Silber-bergwerken, lassen sich da kein £
für ein U vormachen. Bevor sie einen Handel abschließen,
ziehen sie Proben, kauen einige Blätter, und wissen dann
ganz genau, was ihnen geboten wird.
Man kalkulirt, daß Bolivien jährlich 400 000 Cestos
(100 000 spanische Centner) producirt, wovon auf Pnngas
3OO OOO, ans die Pungas von Cochabainba und die Pro-
vinzen Caupolican und Larecaja 1OO OOO entfallen. Zum
Mittelpreise von 6 Pesos per Cesto, wie er vom Zwischen-
händler erstanden wird, ergiebt sich in diesem Artikel ein
jährlicher Umsatz von 2 4OO OOO Pesos.
Am Produktionsorte wird für Rescate 3 bis-5 Pesos
per Cesto bezahlt. An den entfernten Verbranchsplätzen,
besonders in den Bergwerksdistrikten, steigt der Preis ans
9 bis IO Pesos, und im Kleinhandel wird wohl der doppelte
Preis herausgeschlagen. Für die Regierung bilden die aus
diesen Artikel gelegten Abgaben eine reiche und sichere Ein-
nahmequelle. Diese Steuer wird vom Staate verpachtet
und die Unternehmer ziehen in der Regel recht namhaften
Nutzen ans dem Geschäfte. Verschiedene an den Kreuznngs-
punkten von Uungas postirte Zollstellen überwachen die
Coca-Anßfnhr. Zur Instandhaltung und Verbesserung der
Wege haben sich die Besitzer der Unngas-Haciendas eine
Abgabe von 1 Real per Cesto auferlegt, was jährlich etwa
37 OOO Pesos abwerfen sollte, allein der größte Theil der
eingehenden Gelder wird in nutzlosen Reparaturen vergeudet
oder gestohlen.
Die Preise der anderen Produkte, als Anhaltspunkte
angeführt, stellten sich im August 1886 in La Paz für
Reis ausgezeichneter Qualität von Songo auf 23 Pesos,
Branntwein 25 Pesos, Cacao 36 Pesos, Kaffee 26 Pesos,
Man! (Erdnüsse) 26 Pesos, alles per spanischen Centner.
Das gegenwärtige Aeqnivalcnt eines Peso beträgt 2,40 Mark.
Der Cacao, besonders die violette Spielart, ist unübertreff-
lich und steht hoch über dem brasilianischen und venezo-
lanischen.
Bisher wurde der ganze Branntwcinbedars, der leider
enorm groß ist, durch peruanische Einfuhr gedeckt. Jetzt
ist der Anfang gemacht worden, dieses Gift im Lande selbst
im Großen zu erzeugen. Die Eigenthümer eines der be- I
dentendsten in der Unigcgcnd von Coroico gelegenen Land-
güter, der Hacienda Mururata, ließen neuerdings mit un- j
geheuren Kosten eine vollständige Einrichtung zur Erzeugung
von Branntwein ans Zuckerrohr aufstellen, deren nach den
neuesten Systemen konstruirte Apparate ganz Erstaunliches zu
leisten versprechen.
Wenn nun auf der einen Seite dem Lande ein öko-
nomischer Vortheil daraus erwächst, Industrien, deren Pro-
dukte im Lande selbst konsnmirt werden, auch im Lande
selbst zu pflegen, so hat ans der anderen Seite der National-
ökonomiker die Konsequenzen zu beklagen, welche in diesem
speciellen Falle die Pflege der Industrie nach sich zieht. —
Beklagte man bisher in Pungas das durch Excesse in
Spirituosen herbeigeführte Zusammenschmelzen der india-
nischen Rasse, als die Flasche Schnaps noch vier Realen
kostete, so wird es noch schlimmer gehen, wenn der In-
dianer für das gleiche Geld drei oder vier Flaschen erhält.
Besonders in dcnPnngas ist die Trunksucht ein gefährliches
Laster, das die Sterblichkeit vermehrt und viele nützliche
Hände der Arbeit entfremdet. Eine Verschlimmerung nach
dieser Richtung hin muß den Ruin der Coca-Industrie
herbeiführen. Es entsteht da ein schwierig beizulegender
Streit zwischen humanitären und ökonomischen Interessen.
Einerseits hätte der Staat den Indianer, der mit idiotischer
Leidenschaftlichkeit an dem Schnaps hängt, gegen neue Quellen
des Verderbens in Schutz zu nehmen, andererseits sollen
der Privatindustrie ihre Rechte gewahrt bleiben.
Wendet man sich zu den beiden letzten, einst wichtigen
Erzeugnissen der Pungas, Gold und Chinarinde, so unter-
liegt es keinem Zweifel, daß in Betreff des Goldes alle
Gewässer dieser Provinz goldführend sind; an den Schwierig-
keiten des Betriebes und dem Mangel an wohlfeilen Arbeits-
kräften gehen indeß die meisten Unternehmer zu Grunde.
Es wird deshalb eigentlich nur noch ein Flüßchen aus-
gebeutet, der Rio Cajones, der nördlich vom Tamam-
payo unter 16" 7' 6" südl. Br. in den Bopi fließt. Sein
Goldreichthnm wurde vor etwa 30 Jahren entdeckt und
seine Aünvionen werden seither unansgesctzt dnrchgewaschen,
ohne daß aber vielleicht mehr als ein Drittel des Placers
erforscht worden wäre. Das Gold ist grobkörnig, in Pepitas bis
zu einer viertel Unze, nicht über 17karätig und deshalb von
häßlicher, trüber Farbe. Bis jetzt war cs nicht nöthig,
tiefer als 12 m zu gehen, um ans den vonoro, die gold-
führende Schicht, zu stoßen; die ersten Entdecker stießen
häufig schon bei V* m Tiefe ans denselben. Indeß scheint
keiner der bisherigen Goldgräber besonders nennenswerthe
Erfolge erzielt zu haben. Im Jahre 1886 bestanden 29
Concessionen, von welchen 13 bearbeitet wurden.
Die Chinarinden-Jndustrie hat einen vollständigen Um-
schwung erlitten. Nachdem durch das bis in die letzten
Jahre hinein getriebene Raubsystem die die gute Rinde
prodncirenden Cinchonas in den Wäldern ausgerottet oder
so schwer erreichbar geworden waren, daß sich die Kosten
der Gewinnung nicht mehr lohnten, wagte man sich daran,
von diesem so unentbehrlichen Baume an hierzu geeigneten
Standörtern künstliche Pflanzungen anzulegen. Deutsche
waren es, welche hierzu den ersten Anstoß gaben. Leider
war es schon etwas spät. Die in Indien und auf Java
ausgezeichnet gedeihenden Cinchonapflanzungen machen den
südamerikanischen Rinden eine furchtbare Concnrrenz.
Die großen Erwartungen, die man auf den Gewinn
setzte, der voraussichtlich ans den Cinchonapflanzungen zu
ziehen war, spornte auch die Pungncnos an, eine Arbeit zu
unternehmen, deren Lohn erst nach sieben oder acht Jahren
geerntet werden konnte. Die zahlreichsten Pflanzungen sind
wohl am Mapiri, einem der Quellflüsse des Rio Caca,
der aber schon zur Provinz Larecaja gehört. In dhnngas
bestanden 1886 am Rio Bopi 20 Pflanzungen, deren
Baum-Inventar von 1000 bis 90 000 Stück wechselt, mit
einer Gesammtsnmme von 3OO OOO Bäumen. Zu diesen
kommen die Pflanzungen der Mission Covendo mit 600000,
der Mission Sta. Ana mit 400 000 und der Mission
Muchanes mit 2OO OOO Stück, zusammen am Rio Bopi
1 5OO OOO Bäume. Die Gesammtzahl der in der Repu-
blik angepflanzten Cinchonas soll über 4 OOO OOO Stück
betragen. Es hat aber, wie gesagt, den Anschein, als ob
die beträchtlichen, in diesen Geschäftszweig gesteckten Kapi-
talien kaum einen mageren Zins abwerfen werden. Sowohl
die oben angegebenen Gründe, als auch die Einführung
fiebcrstillender chemischer Präparate, wie Antipyrin n. s. w.,
erklären das wahrscheinliche Fehlschlagen der auf diese In-
dustrie gesetzten Hoffnungen. —
Am 20. Oktober wird jedes Jahr in Coroico der
heiligen Jungfrau zu Ehren ein Fest gefeiert, das seinen
Ursprung einer denkwürdigen Begebenheit verdankt, welche
sich dem Gedächtniß der Einwohner jenes Distriktes unaus-
löschlich eingegraben hat und von der wunderbaren Er-
scheinung der Mutter Gottes her datirt, die am 20. Oktober
1811 stattfand, als, wie im Jahre 1780, ein Jndianer-
aufstand die spanische Mischrasse auszurotten drohte. Die
mit Messern, Lanzen und Keulen bewaffneten Indianer
hatten sich drohend um Coroico znsamniengezogen und
schickten sich unter scheußlichem Tumult und Geheul an, die
Weißen und Mestizen in Massen abzuschlachten, als sie
80*
284
C h r i st i a n N u s s e x:
plötzlich durch ein sichtbares Zeichen der heiligen Jungfrau
überrascht wurden, das sic angsterfüllt über Berge und
Schluchten in die Flucht jagte. In was aber dieses Zeichen
bestand, ist nicht in Erfahrung zu bringen.
Sieben Leguas von Coroieo liegt die Ortschaft Cori-
pat a. Ans der ganzen Strecke kommt man an gut unter-
haltenen Cocapflanzungen vorbei, für welche das Terrain
besonders günstig ist, weshalb ans die Produktion anderer
Nutzgewächse wenig Gewicht gelegt wird. Eine Legua vor
Coripata ist eine Schlucht zu überschreiten, auf einer Brücke,
welche „Salto de Vasguez“ genannt wird, weil sich von
ihr aus ein Individuum dieses Namens freiwillig in den
schauerlichen Abgrund stürzte. Auf dem gleichen Wege
passirt man auch die alte Hacienda Chnvacolla, welche
zur Zeit der spanischen Herrschaft einem Martin Lanza,
Gouverneur von Ajungas, gehörte. Aus seiner Flucht vor
den im Jahre 1780 ausgestandenen Indianern ermüdete
sein Pferd, aber das Glück wollte, daß er sein erschöpftes
Thier mit einem frischen vertauschen konnte, dessen Eigen-
thümer er als Gegenleistung das schöne Besitzthum Chnva-
colla schenkte, denn der Tausch rettete ihm ans Kosten
einiger Ländereien das Leben.
Bon Coripata ans, wo sich die Existenzbedingungen der
Einwohner um kein Haar von denjenigen Coroicos unter-
scheiden, gelangt man an die Ufer des rasch fließenden Ta-
mampayo, der durchwatet werden muß. Vom anderen
Ufer aus zieht sich eine zwei Leguas lange Steige an einer-
abscheulich steilen Bergseite hinauf zum Dorf Chirca, ans
welches eine Reihe von schneebedeckten Andcngipfeln herab-
blickt, welche die Hitze mildern und die Lage und das Klima
günstig beeinflussen. Ein lebhafter Transportverkehr findet
dort statt, Kultur und Rescate der Coca bilden die Haupt-
beschäftigung der Einwohner. Zwei Leguas guten Weges
verbinden Chirca mit der Provinzhanptstadt (in sehr euphe-
mistischem Sinne) Chulumani, dem Sitz einer Unter-
prüfectur. Chulumani liegt in der halben Höhe eines
massigen abgeplatteten Gebirgsstockes, ans dessen Rücken sich
die Lagune Casiri befindet.
Die Richtung, in welcher die Cordilleren zu Chulumani
stehen, bewirkt, daß der Luftwechsel sehr erschwert wird und
in der heißen Atmosphäre die erhitzten, ans dem strotzenden
Pflanzenwnchs aufsteigenden ungesunden Dünste sich an-
sammeln. Das Fehlen des andinischen Elements, die Ab-
kühlung, und die tropische Natur der unteren Regionen
machen den Aufenthalt zu einem unerträglichen, von ende-
mischen Fiebern begleiteten. Drei tiefe Schluchten, vier
Gebirgsbäche, schlechte Wege und brennende Temperatur
sind die Annehmlichkeiten, welche die Weiterreise nach Jrn-
p a n a schmücken.
Diese alte Ortschaft ist in reizender Lage eine Legna
vom Rio Puri entfernt auf einem Gebirgsvorsprung an-
gelegt, von welchem aus die Ortschaften Laza, Ocobaya und
Chulumani erblickt werden können. Dank ihrer günstigen
Lage ist sie von den Krankheiten, welche die meisten Punkte
von Pnngas heimsuchen, verschont. Bon dicht bewachsenen
hohen Bergen umgeben, deren obere Flächen mit Pflanzungen
und Weiden bedeckt sind, besitzt Jrnpana einen Ueberstuß
von Bodenerzcugnissen aller Art.
Nach der andinischen Hochebene sowohl, als nach den
Balles und, dem Norden zu, nach den Missionen des Beni
hin, kreuzen sich hier die Routen, sei es über Gebirgspfade,
sei es vermittels Flußschiffahrt. Auch hier beschäftigt sich
die Einwohnerschaft vorzugsweise mit der Knltnr und dem
Rescate der Coca, früher auch in bedeutendem Maßstabe mit
der Einsammlung von Chinarinden.
Das nächste Ziel unserer Rundreise ist das in der Pro-
vinz Jngnisivi (Departement Cochabamba) gelegene Cir-
Die bolivianische Provinz Puiigas.
cuata. Bevor die Ufer des zu überschreitenden Rio de
La Paz erreicht sind, stellt sich die Nothwendigkeit ein, sich
um ein Nachtlager inuzusehen, das in der Hacienda Lopez
gefunden wird. Die ländliche Wohnung ist von Chirimoya-
bäumen, majestätischen Bananengruppen und Orangen-
gebüsch beschattet, deren Laub, von der balsamischen Nacht-
brise leicht bewegt, zitternde Schatten auf die vom klaren
Mondlicht hell beleuchteten Stellen abzeichnet.
Ein schroffer Pfad schlängelt sich eine Stunde lang zum
Fluß hinab, der der Schlucht gegenüber, aus welcher der
Miguilla herausbricht und in den La Paz mündet, über-
schritten werden muß. Bon dem Punkte au, wo die beiden
Flüsse zusammenströmen, beginnt die Schiffahrt ans dem
La Paz, die allerdings riskirt, ohne eigentliche Berkehrs-
bedeutnng und mit tausend Mühseligkeiten verknüpft ist,
denn Riffe mib Sandbänke hänfen die Schwierigkeiten,
welche beim Passircn der engen Stromschnellen zu gefahr-
vollen Wagnissen werden. Es ist in der That überraschend,
wie unter dieser im Allgemeinen wenig unternehmenden und
von keinem abenteuerlichen oder wißbegierigen Geist ge-
triebenen Bevölkerung, die mit so Wenigein zufrieden ist,
sich Leute finden konnten, welche den mühseligen Berns der
Bootsleute ergriffen. Es ist dies nur erklärlich durch die
Liebe zum Umherschweifen, einen Trieb der Ungebundenheit,
und die Aussicht ans Gewinn, der aber nie im Verhältniß
zu den erduldeten Strapazen stand. Indem wir eine solche
Expedition für einen Augenblick begleiten, sehen wir zunächst
sechs oder sieben Bootsleute sich aus ebenso vielen znsammen-
gepflöckten Baumstämmen einschiffen, also ans einem Floß,
das in der Landessprache Balsa heißt.
Die Ladung besteht aus 6 oder 8 Centnern Lebens-
mitteln, ihrem ganzen Vermögen, mit dem sie eine Flußreise
von 50 bis 80 Leguas antreten. Festgeschwemmte Baum-
stämme (Pallisaden), Conglomeratbänke, über welchen sich
die Strömung stürmisch bricht, kochende Wirbel, Stromstürze,
schwindelerregende Stromschnellen, so ist die Fahrt beschaffen,
die an der „Espia" genannten Uferbank ihren Anfang
nimmt. Mit jedem neuen Zufluß wächst die Mächtigkeit
des Flusses; zuerst nimmt er den Puri ans, dann den Ta-
mampaya, von dessen Eintritt an dem Fluß der Name
Bopi beigelegt wird, den er aber bald mit dem Namen
Beni vertauscht. Die Existenz der Bootsmaunschaft gleicht
derjenigen der wilden Stämme, die vagabnndirend jene un-
ermeßlichen Strecken durchstreifen, mit welchen sie znsammen-
treffen und von deren Blut vielleicht in ihren Adern rollt;
aber schon hat die Civilisation sie leicht mit der Spitze ihres
Flügels gestreift; sie finden es nicht mehr unerträglich, einem
Bedürfnisse, einem Luxus zu lieb einen bestimmten Zweck
zu verfolgen. — Nach einer an Mühen und Gefahren
reichen Tagereise, die vielleicht tragische Ereignisse, Krank-
heiten, welche die Bemannung lähmen, Schiffbruch zwischen
den brandenden Wassern und den Verlust eines Theiles
ihrer ärmlichen Habe mit sich bringt, machen sie von An-
strengung und Hunger überwältigt an einer öden, ungast-
lichen Kiesbank Halt, um die Nacht zu verbringen. Ladung
und Floß ans Ufer ziehend, bereiten sie die ans Reis und
Bananen bestehende Mahlzeit zu, die mit ein wenig Kaffee
das Mahl bildet, welches die den Tag über aufgebrauchten
Kräfte zu ersetzen hat. Aber die Nacht bringt nicht viel
Ruhe; neben den Insekten und selbst dem Jaguar, lästigen
und gefährlichen Nachbarn, deren man sich, um die Feuer
grnppirt, zu erwehren hat, stört die Sorge um das gebrech-
liche Fahrzeug den Schlaf, das ein plötzliches Anschwellen
des Flusses entführen kann. Mit Tagesanbruch beginnt die
Fahrt aufs Neue, die nur eine Wiederholung der Mühen
des vorhergehenden Tages ist.
So kommen sie zuletzt Dank ihrer Verwegenheit und
C hrist i a it N usser: Die bolivianische Provinz Pungas.
285
Beharrlichkeit im Lager der Chinarindensammler an, wo sie
Leidensgefährten antreffen, die sowohl von dem heißen,
feuchten Klima als von dem Mangel an Lebensmitteln ent-
kräftet und heruntergekommen sind, und die stets mit Begier
der Ankunft eines Händlers entgegensehen, der ihnen Lebens-
mittel und Spirituosen zuführt, von welch letzteren sie einen
unmäßigen Gebrauch machen. Haben die Rindensammler
solchergestalt ihre Borrüthe erneuert, so vertiefen sie sich
wieder in die Wälder, um ihrem unlohnenden, vom Zufall
abhängenden Geschäft nachzugehen, das übrigens mit jedem
Jahr an Ausdehnung verliert, seitdem künstliche Anpflan-
zungen die Produktion reguliren.
Von Circuata, das nichts Bemerkenswerthes bietet, zieht
sich der 'Weg durch das Thal von Miguiüa, dessen Breite,
Fruchtbarkeit und Ausdehnung den Reisenden angenehm
überrascht; die Dichtigkeit der Wälder, die romantischen
Schluchten, die Bäche, welche zur Thalsohle niederfließen
und die Kulturen befruchten, bilden zusammen ein bewun-
derungswürdiges Panorama. Cajuata liegt an einer er-
höhten Stelle des vom Rio Suri durchflossenen engen Thales.
Lähmende Hitze und endemische Krankheiten machen seine
Bewohner zu schwächlichen, apathischen Kreaturen. Die
kleine Ortschaft ist deshalb von Bedeutung, weil sich hier
wieder Wege nach Juquisivi und Cochabamba, Pungas und
La Paz schneiden. So nachlässig und in geringem Umfang
die Agrikultur betrieben wird, so fruchtbar und freigebig
sind die Ländereien. Die Ernten fallen nicht gleichzeitig
ein. Das ganze Jahr hindurch blüht und reift die Frucht,
säet und erntet man. Eine der Gegend eigene Kartoffelart,
die Poreja, wird viermal im Jahre geerntet.
Ein gutes Stück Weg, auf dem der Ort Chirapaca be-
rührt wird, ist von Cajuata bis Jnquisivi zurückzulegen.
Die Vegetation, die landschaftlichen Bilder bleiben sich gleich
und verändern ihren Charakter erst, wenn der von einer
Brücke überspannte Rio Sacambaya überschritten ist, von
dessen Ufern ans ein cine Legua langer Aufstieg zwischen
reich belaubten Mollebäumen zu der Provinzhanptstadt
I nquisivi, dem Endziel der Reise, führt. — Die wichtigsten
Centren der Pungas sind durchwandert und der Halbkreis,
der mit dem einen Endpunkte von der andinischen Hochebene
ausging, schließt sich mit dem anderen beinahe wieder an
dieselbe an.
Jnquisivi macht anfänglich einen nicht ungünstigen Ein-
druck. Das Klima ist gesund und erfrischend. Die mit
Ziegeln gedeckten Häuser haben ein freundliches Aussehen;
vier große Seibos, in welchen unzählige Vögel nisten, be-
schatten die Ecken des geräumigen Marktplatzes und rufen
die Erinnerung an patriarchalische Dorflinden wach. Bald
aber schwindet die Illusion, und wer dazu verdammt ist,
längere Zeit inmitten der wenigen Einwohner zu verweilen,
die sich gleichgültig in den Zerfall der früheren von der
Rinden-Industrie herrührenden Prosperität zu ergeben
scheinen, ist froh, nach Erledigung seiner Angelegenheiten
jener Eintönigkeit wieder zu entrinnen.
Der nördliche Theil der Provinz Jnquisivi, Arco-
pongo, ist kaum gekannt. Seine Höhenzüge, Thäler und
weiten Ebenen erstrecken sich auf Entfernungen, deren
Grenzen nicht einmal annähernd angedeutet werden können.
Meistens sind es zahlreiche Viehheerden, welche auf den
pajonales den Reichthum jenes jungfräulichen Bodens aus-
machen, der größtentheils in Händen von Gutsbesitzern ist,
die über die Ausdehnung ihrer Besitzungen selbst im Zwei-
fel sind und die, so lange sic ihre Erzeugnisse nicht verwerthen
können, eben nnr ein kärgliches Dasein führen. Der Rest
des Territoriums bleibt im Urzustände und geht in die
Montaña, die herrenlosen Wälder, das herrenlose Gut, auf.
Wolle, Häute n. s. w. bilden einen Theil der Erzeugnisse;
in den tiefer gelegenen Ländereien gedeiht der Kaffeestrauch,
Coca, Zuckerrohr, Tabak, überhaupt alles das, was die
Pungas produciren. Nur fehlen Hände und Straßen, um
davon in vollem Umfange profitiren zu können.
Man gelangt eben zu der Ueberzeugung, wenn man
diese Gegenden bereist, daß die Verbindungswege überall
das geblieben sind, was sie schon zu Zeiten der Inkas
waren. Die Pfade führen bergauf, bergab, führen über un-
wegsame Bergrücken, weichen den Ebenen ans und verlängern
die Entfernungen durch weite und unnöthige llmwege, die
oft nur einem Felsblock, einer sumpfigen Stelle, oder der
Abwesenheit einer Brücke zuzuschreiben sind, lauter Hinder-
nisse, die leicht zu beseitigen .wären. So war es, so ist cs
geblieben. Die Indianer, welchen die Verpflichtung obliegt,
ohne Vergütung für die Instandhaltung der Wege zu sorgen,
geben sich nur mit schlechtem Willen dazu her, und vielleicht
nnr einmal in vielen Jahren. Die Gutsbesitzer sträuben
sich vollends gegen jede materielle Leistung; freilich ist es
wahr, daß sie in vielen Füllen nur pobres de solemnidad,
verschämte Arme, sind, die ans ihrem vom Verkehr ganz
abseits gelegenen fürstlichen Areal sich glücklich schätzen,
wenn sie eine Schüssel voll Bananen in den Kochtopf stecken
können.
Es ist schwierig, die Anmuth, Schönheit und Ab-
wechselung jener in ihren Höhenzügen eisigen, in ihren
Thälern tropischen Marken zu schildern. Von den Gebirgs-
kämmen herabsteigend, gelangt man in wenig Stunden von
einer sichtlich abgegrenzten Zone in die andere — natürlich
nur da, wo sich der Ostabhang der Anden jäh in die Tiefe
senkt — und man könnte sagen, daß von dem Hochplateau
aus, wo die Kartoffel unter dem Einfluß des gefrierenden
Wassers zu Chuño präparirt wird, die Mühle sichtbar ist,
in der das Auspressen des Zuckerrohrs vor sich geht; wo
das Brüllen des auf den pajonales der Bergabhänge
weidenden Viehes sich mit der zornigen, durchdringenden,
der nervenaufregenden Stimme des Jaguars vermischt, der
am Flußufcr seiner Bente nachgeht. Aetherische Regionen
und grausige Abgründe, Tummelplätze des Adlers, der ans
den prächtig gefiederten Ara und das brennendrothe Felsen-
huhn Jagd macht. Schweift der Blick aber, wo das Wirr-
sal der bewaldeten Höhen sich öffnet, in die Ferne, so labt
er sich an einem Ocean von dichtbelaubten Wipfeln oder au
den mit hohen Gräsern bewachsenen pajonales, die wie vom
Winde bewegte Kornfelder in leisem Lnstzugc hin- und her-
wogen.
286
Das ^chamanenthum unter den Burjaten.
Das Schamanenthum unter bcu Burjaten.
4. Die Schamanen. (Erste Hälfte.)
Der Schamane (mongolisch und burjatisch 60, die
Schamanin odegou) ist der natürliche Vermittler zwischen
den Menschen und den Gottheiten, der Sachwalter der
Menschen vor Gott, der Verkündiger des göttlichen Willens.
Er bringt die Opfer, beschwört die Götter und verrichtet
die nöthigen Ceremonien bei den wichtigsten Lebensakten
der Burjaten, bei der Geburt, bei Krankheiten, beim Tode; er
gilt als die Person, welche die Fähigkeit besitzt, mit Hilfe
der schützenden Gottheiten die Zukunft zu enthüllen.
Es können sowohl Männer wie Frauen Schamanen
werden. Ueber die Entstehung des ersten Schamanen berichtet
folgende Sage.- Anfangs gab es gar keine Menschen, sondern
nur die himmlischen Götter, die Tengerin, böse wie gute;
die bösen waren früher da als die guten. Die westlichen
guten Tengerin schufen die Manschen, welche anfangs glück-
lich lebten, keine Krankheiten hatten und keinen Kummer
kannten. Aber bei den östlichen bösen Göttern fielen die
Menschen in Ungnade; sie singen an zu erkranken und zn
sterben. Die westlichen guten Götter nahmen Antheil an
den Menschen und beriethen, wie ihnen zn helfen fei. Die
Berathungen fanden auf den Plcjaden, dann auf dem Monde
statt. Alan beschloß, den Menschen zur Unterstützung im
Kampfe gegen die bösen Götter einen Schamanen zu senden.
Dazu wählte man den Adler, eine Gottheit, welche von
den östlichen Tengeri abstammte. (Sonderbar — wie konnten
die westlichen Götter zur Bekämpfung der östlichen Götter
einen ans der Mitte der letzteren auswählen?)
So wurde der Adler der erste Schamane.
Obgleich er den Menschen half, indem er die bösen
Gottheiten vertrieb, so trauten ihm die Menschen doch nicht:
sie sahen in ihm nur einen Vogel; überdies konnte der
Adler den Menschen keine Rathschläge geben, weil er nicht
.reden konnte und die Menschen seine Stimme nicht ver-
standen. (Nach Meinung der Bnrjäten haben die Vögel,
wie alle Thiere, ihre eigene, nur ihnen selbst verständliche
Sprache; nur derjenige Mensch, welcher 70 Sprachen kennt,
versteht auch die Stimmen der Thiere.) In Folge jener
Schwierigkeit kehrte der Adler wieder in den Himmel zurück,
berichtete den westlichen Tengeri von seinem Mißerfolge
und bat, entweder einen Bnrjäten zum Schamanen zn
machen oder ihm die Möglichkeit zn gewähren, mit mensch-
licher Stimme zn reden. Die Götter bestimmten nun, daß
der Adler seine Schamanenwürde dem ersten ihm begegnen-
den Menschen übertragen solle. Der Adler kehrte also zur
Erde zurück und bemerkte eine unter einem Baume schlafende
Frau, welche ihren Mann verlassen hatte. Der Adler ver-
einigte sich mit der Frau und sie ward schwanger; jetzt
kehrte sie zu ihrem Manne zurück. Die bösen Götter aber,
um das Weib zu verderben, sandten einen bösen Geist
Schulmus ans die Erde. Schulmus verwandelte sich in
ein schönes Weib und veranlaßte den Burjäten, seine erste
Frau zn verjagen. Aber der Adler kam der Frau zu Hilfe,
ergriff den Schulmus und warf ihn ins Meer — nun
lebte das Ehepaar wieder in Frieden. Die Frau aber
gebar einen Sohn und das war der erste Schamane Morgon-
Ehara oder Bocholi-Chara.
Nach einer Variante der Sage wurde die Frau selbst
zuut ersten Schamanen.
Die Kleidung und das Zubehör eines
Schamanen. Die Kleidung eines Schamanen von heute,
sowohl die alltägliche als auch die bei Beschwörungen be-
nutzte, unterscheidet sich nicht von der gewöhnlichen bnrjäti-
schen, nur ganz besonders beliebte und bejahrte Schamanen
pflegen besser gekleidet zn sein; die Mehrzahl der Schamanen
ist aber sehr arm. Aber aus früherer Zeit findet man an
Begräbnißstätten der Schamanen Reste von Kleidern und
Verzierungen, welche für die jetzigen Schamanen unerreich-
bar und völlig unbekannt sind. Der Vollständigkeit wegen
beschreiben die Verfasser auch viele zur Kleidung und
Ausrüstung der Schamanen gehörige Gegenstände, welche
heute gar nicht oder wenigstens seltener als früher benutzt
werden.
Ein Pelz war früher ein beständiges Zubehör eines
Schamanen; heute wird nur dem todten Schamanen ein
solcher angezogen. Der Pelz kann blau oder weiß sein.
Ein weißer Schamane empfängt einen weißen Orgoi
(d. i. Pelz); ein schwarzer Schamane einen blauen. Der
schwarze Schamane ist Nachts vor dem Antlitze des Nacht-
himmels „Ochtorgon" thätig; er ist der Diener des Nacht-
himmels. Der blaue Orgoi entspricht aber dem blauen
Himmel. Der Orgoi wird aus seidenen oder baumwollenen
Stoffen genäht, ist aber sonst seinem Schnitte nach nicht
von einem gewöhnlichen Pelze zn unterscheiden. Die
Schamanen von Balagansk erhallen wohl auch bei Lebzeiten
einen solchen Pelz. Besonders eigenthümlich sind die ihnen
angehängten metallenen Figuren von Menschen, Pferden,
Vögeln u. dergl.
Eine Pelzmütze unterscheidet einen Schamanen von
einem gewöhnlichen Bnrjäten; sie wird ans Luchsfell an-
gefertigt mit einer Troddel oben; oder statt einer Pelzmütze
wird eine Schirmmütze genominen, aber stets mit einer
Troddel. Nach der fünften Weihe oder Waschung erhält
der Schamane eine eiserne Mütze, welche eine gewisse Aehn-
lichkeit mit einer Krone hat, und eiserne Stöcke mit Pferde-
köpfen.
Stöcke utit Pf erde köpfen (Morin-Chorbo) sind bei
allen Schamanen der Baikal-Bnrjäten im Gebrauch; allein
ausgenommen sind die Bnrjäten von Balagansk. Jeder
Schamane hat zwei Stöcke aus Eisen oder Holz. Die
hölzernen werden aus einer Birke geinacht, welche am Be-
grübnißplatze eines Schamanen gestanden hat; am Ende
des Stockes wird in sehr kunstloser Weise etwas, das einem
Pferdekopfe ähnlich sieht, geschnitzt. An den eisernen Stöcken
steht der Pferdekopf unter rechtem Winkel znm Stocke. Die
Stöcke werden mit allerlei Zierrath behängt.
Musikalische Instrumente. Bei den Schamanen
von Kudinsk ist eine große Glocke tut Gebrauche, weil
dieselbe bequemer zu handhaben ist als die sonst übliche
Tromniel. Eine solche Trommel hat Gestalt und Aus-
sehen eines Siebes, statt des Netzes ist ein Stück Pferdeleder
ausgespannt. Dies sowie die mit Pferdeköpfen versehenen
Stöcke sollen das Pferd darstellen, auf welchem der Schamane
über die Erde hinwegreitet, sich zum Himmel erhebt und
dann in das unterirdische Gefängniß Erlen-Chans sich
hinabläßt. Ferner ist beständig im Gebrauch ein Instru-
ment, welches Chur genannt wird; dies von den Verfassern
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
287
sehr ausführlich beschriebene und abgebildete Instrument ist
eine sogenannte Maultrommel, die im Allgemeinen in
Mittelasien eine sehr große Verbreitung hat. Die Burjaten
von Balagansk aber wenden keine Maultrommel an, sondern
ein Saiteninstrument, eine Art Geige.
Schließlich gehört zur Ausrüstung eines Schamanen
noch ein großer Kasten, ein Zauberkasten, etwa 1 m lang
und 35 cm hoch, von der Gestalt eines Hausdachcs; die
Wände sind mit allerlei Figuren verziert, mit allerlei
Bändern, Schellen, Thierhäuten behängt. In ihm werden
die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände der Schamanen,
die Pferdestöcke, eine Peitsche, Trommel, Thierhäute, kleine
Holzgefüße von verschiedenen Größen u. s. w., aufbewahrt.
Einweihung des Schamanen. Ein jeder Burjäte
kann Schamane werden; doch wird gewöhnlich nur ein solcher
Schamane, dessen Vorfahren mütterlicher- oder väterlicher-
seits Schamanen waren, so daß er gleichsam schamanischer
Abstammung ist. Doch können auch andere Leute und zwar
zufällig oder, wie die Burjüten glauben, nach dem Willen
der Götter Schamanen werden: so derjenige, dessen naher
Verwandter vom Blitze erschlagen wurde, letzterer wird für
einen Erwählten der Götter gehalten, für einen Schamanen,
und als solcher begraben, nicht verbrannt; seine Verwandten
gelten demnach als Abkommen eines Schamanen. Solche
Schamanen heißen Nerjer-utcha. Ein vom Himmel
gefallener Stein (bnmal-schuln») kann auch Schamanen
machen. Wer Milchbranntwein (Tarassun) trinkt, worin
ein solcher Stein gewaschen wurde, wird Schamane; denn
man glaubt, daß vom Steine eine besonders geheimnißvolle
Kraft in den Branntwein übergegangen ist. Ein so gewordener
Schamane heißt Budal-utcha.
Auf die angegebene Weise können aber alte Leute
Schamanen werden, denen es nicht mehr möglich ist, alle
Gebete, Sitten und Ceremonien gut zu erlernen — dann
giebt es schlechte Schamanen. Der eine der beiden Ver-
fasser kannte einen Schamanen, der nicht die Namen seiner
eigenen Götter herzusagen wußte. Solche Schamanen
werden dann noch von besonders dazu geeigneten alten
Leuten unterrichtet; es giebt solche, welche die Gebete und
Beschwörungsformeln besser kennen als die Schamanen
selbst.
Unter gewöhnlichen Umständen werden aber schon während
des Knabenalters die Individuen dem Schamanenstande be-
stimmt. Ein geeigneter Knabe ist träumerisch, liebt die
Einsamkeit, hat bedeutsame Träume und leidet an Nerven-
anfällen, in welchen er ohne Bewußtsein ist; man nimmt
dann an, daß die abwesende Seele bei den Göttern unter-
richtet wird. Wenn der Knabe älter wird, so geräth er
oft in Verzückung, sieht Geister, hat häufige Träume und
Nervenanfälle, dann sängt er an, durch die Dörfer zu
wandern, um die Schamanengebräuche kennen zu lernen.
Später begiebt sich der Jüngling in den Wald, auf einen
Berg und beginnt hier sich in der Kunst der Schamanen
zu üben, errichtet einen Scheiterhaufen, ruft die Götter laut
an, fällt in Ohnmacht; dabei übt er sich seinen Körper ge-
hörig zu bewegen und seine Stimnie zu brauchen, um schließ-
lich als fertiger Schamane hervortreten zu können. In früherer
Zeit wurden bereits Knaben von 10 Jahren zu Schamanen
ausgewählt, jetzt wohl kaum früher als mit 20 Jahren.
Es giebt zwei Arten von Schamanen, weiße und
schwarze, je nachdem sic den guten oder bösen Göttern
dienen. Der weiße Sagani-ba steht im Dienste der guten
Götter, der westlichen Tcngeri und Chaten, welche den
Menschen nur Gutes thun; solche Schamanen sind sehr ge-
achtet; ein solcher in Balagansk war besonders berühmt;
er hieß Barlak, trug ein weißscidenes Gewand und ritt
auf einem weißen Pferde.
Derschwarzc Schamane (Charain-bo) steht im Dienste
der bösen Gottheiten, deshalb bringt er den Menschen nur
Böses, Krankheit und Tod. Wenn ein solcher Schamane
einen Menschen vernichten will, so nimmt er einen Stock,
schwärzt die eine Hälfte desselben, sowie seine eigene linke
Gesichtshälfte mit Kohle und kehrt seinen Kessel in der
Jurte so, daß der Boden aufwärts steht; ist cs dann Nacht
geworden, so ruft er die bösen Götter an, welche den be-
treffenden Menschen schaden sollen; schwarze Schamanen
fertigen auch jene früher beschriebenen Zauberfiguren „Sjä“
an. Sie bringen auch nur den bösen Göttern Opfer, den
östlichen Tengeri und Chaten, dem Erlen-Chan, dem Herrn
der Insel Olchon und dem Herrn des schwarzen Pferdes.
Doch giebt es auch bei den Burjäten von Kudinsk Scha-
manen, welche sowohl den guten wie den bösen Gottheiten dienen.
Die eigentliche Weihe des Schamanen ist eine Körper-
waschung; die einzelnen Individuen müssen bald drei, bald
sechs Waschungen vornehmen, weil durch dieselben ihre
Kenntniß und ihr Verstand wächst. Man wählt einen
erfahrenen Schamanen, welcher die Ceremonie leiten soll,
das ist der Schamanenvater, dann nenn junge Leute zu
Gehilfen, welche Schamanensöhne heißen. Das benutzte
Wasser muß Quellwasser sein; diejenigen, welche das Wasser-
Morgens holen, opfern dem Herrn der Quellen etwas
Branntwein, den übrigen trinken sic selbst; bei der Rückkehr
durch den Wald nehmen sie ganz junge Birkenbäumchen
und machen daraus Besen, welche in den Jurten des neuen
Schamanen niedergelegt werden. Zn Hanse wird das
Wasser gekocht, und in den Kessel wirft man stark riechende
Kräuter, Rinde u. s. w. Dann schneidet man einem Ziegen-
bocke etwas Wolle von den Ohren, Stückchen von den Klanen
der Füße und von den Hörnern, tobtet ihn durch einen
Stoß ins Herz hinein und läßt einige Tropfen des Herz-
blutes ins Wasser fließen. Den Ziegenbock erhalten die
Weiber, welche das Fleisch kochen und essen — das Wasser
ist nun zur Weihe geeignet.
Nun beginnt der Schamanenvater seine Thätigkeit, er
prophezeit ans dem Schnlterblatte eines Schafes, ruft die
Götter an, taucht die Birkenbesen in das geweihte Wasser
und schlägt damit auf den entblößten Rücken des Schamanen-
jünglings ; ebenso verfahren die neun Schamanensöhne.
Dabei werden folgende Rathschläge hergesagt:
„Wenn ein Armer dich ruft, so gehe zu Fuß zu ihm,
fordere wenig für deine Mühe, nimm, was er giebt!“
„Immer sei besorgt um die Armen, hilf ihnen, bitte die
Götter um Beistand gegen die Bösen und gegen deren Macht.“
„Wenn dich ein reicher Mann ruft, so reite auf einem
Ochsen zu ihm und fordere nicht viel für deine Mühe.“
„Wenn dich ein Reicher und ein Armer gleichzeitig
rufen, so gehe zuerst zum Armen und dann zum Reichen!“
Der Geweihte verheißt die Gebote zu erfüllen, dann
spricht er die Worte des Gebetes, welche der Schamanenvater
hersagt, nach; es wird noch einmal Branntwein gespendet
und die Ceremonie ist beendigt.
Diese Waschung, bei welcher übrigens mitunter nur
Wasser allein ohne Ziegenblnt zur Verwendung konnnt,
geht der ersten Weihe voraus. Gewöhnlich nimmt jeder
Schamane eine solche Reinigung durch Wasser mindestens
alljährlich, hier und da wohl auch allmonatlich bei Neumond
vor, oder auch in besonderen Fällen, wenn die Schamanen
sich z. B. verunreinigt glauben, durch Berührung unreiner
Gegenstände.
Einige Zeit nach der eben beschriebenen Ceremonie der
Reinigung wird diejenige der ersten Weihe vorgenommen;
solche Weihen können verschiedene auf einander folgen, drei
bis neun, je nach dem Reichthume und Wohlstände der be-
theiligten Gemeinden, weil die zur Weihe nöthigen Mittel
288
Aus allen Erdtheilen.
Opferthiere, Branntwein, Geld und andere Unkosten ver-
ursachen. Daher begnügt man sich mitunter auch mit einer
einzigen Weihe.
Zum Vater wird wie früher ein Schamanenvater mit
nenn Söhnen gewählt, in Begleitung dieser zieht der junge
Schamane reitend zu seinen Bekannten, um Gaben zu
sammeln. Die Ankommenden lassen laute Rufe erschallen;
man bewirthet sie mit Milch, hängt Tücher und Bänder
an die Birke, welche der junge Schamane in den Händen
trägt, und schenkt ihm Geld, um die nöthigen Gegenstände,
nenn hölzerne Schalen, Schellen, Seide, Branntwein u. s. w.,
einzukaufen.
Am Abend vor dem Feste werden junge Leute in den
Wald geschickt, um unter Aufsicht eines Alten eine Kiefer
und eine Anzahl starker Birken zu füllen; eine besonders
schöne Birke ist zur Anfertigung der Stöcke mit Pferde-
köpsen bestimmt. Man sucht die betreffenden Bäume im
Begräbnißhain des llluß (Dorf), welcher Ajacha (russisch
Schamanka) heißt, weil daselbst die Leichen begraben und
die Schamanenleichen verbrannt werden. Das Fällen der
Bäume ist von verschiedenen Ceremonien begleitet, bei denen
der Milchbranntwein ebenfalls eine Rolle spielt.
Der Schamanenvater mit seinen neun Söhnen wohnen
nenn Tage in einem gemeinsamen Zelte, halten ein neun-
tägiges Fasten, wobei sie nur Mehl in Wasser gekocht,
Branntwein und Thee genießen, und fertigen alle zur Aus-
rüstung des jungen Schamanen nöthigen Gegenstände an.
Das Zelt ist dreimal umzogen von einem Haarseil (¡Seit),
an welchem Thierfelle, farbige Fäden und kleine Hämmer
aus Holz hängen. Am Vorabend zaubert schließlich der
Schamanenvater nebst allen herzngereisten Schamanen und
ruft die Götter an; am Morgen des Festtages wird end-
lich Alles hergerichtet, insonderheit werden die Bäume auf-
gestellt.
Vor allem wird in der Jurte eine große starke Birke
so aufgerichtet, daß die Wurzeln rechts in südwestlichen
Winkeln vergraben werden, während die Spitze des Baumes
in der Rauchöffnung steckt — der Bannt stellt die Thür der
Götter (Udeschi-bnrchan) symbolisch dar oder den Weg, ans
welchem der Schamane zum Himmel und zu den Göttern geht.
Der Baum bleibt meist auch später noch in der Jurte stehen,
so daß man an ihm sofort die Jurte eines Schamanen er-
kennen kann. Die anderen Birken werden im Umkreise
der Jurte aufgerichtet und mit allerlei Dingen behängt;
auf die Bedeutung der einzelnen Bäume und die Beschrei-
bung der angehängten Gegenstände verzichten wir hier.
Der junge Schamane und die Gehilfen machen sich als-
dann fertig und ziehen wo möglich reine Hemden an, welche
mit bunten Bändern geschmückt werden.
Zuerst werden die Ausrüstnngsgegenstünde des jungen
Schamanen geweiht, seine Pferdestöcke vor allem; diese sollen
dadurch in lebende Pferde verwandelt werden, welche dem
Schamanen zur Vermittelung zwischen der Erde und dem
Geisterreiche dienen werden. Dabei wird ein Schaf getödtet
und dem Herrn des Pferdestockcs (Chorboschi-Nocn) und
feiner Frau Branntwein verspritzt; die unteren Enden des
Stockes werden mit Blut bestrichen — so werden and) die
anderen Sachen behandelt.
E r d t h e i l e n.
Aus all e u
Afrika.
— Am 22. September d.J. ist in Honolulu der Afrika-
reisende Dr. Karl Pa ff avant von Basel im Alter von
.33 Jahren gestorben. Er hatte Medicin nnb Naturwissen-
schaften stttdirt und absolvirt und beschloß, sein Leben der
Afrikaforschung zu widmen. Er bildete sich zu diesem Zwecke
unter Nachtigall's Leitung in Berlin speciell atls und rüstete
ans eigenen Mitteln eine Expedition nach Westafrika. Ein
widriges Geschick ließ ihn an der Westküste des schwarzen Erd-
theils Schiffbrnch leiden; Passavant verlor dabei einen Begleiter
und seine sämmtlichen wissenschaftlichen Jnstruniente. Doch ließ
sich der junge Forscher nicht abschrecken. Er kehrte nach Europa
zurück, um, aufs Neue ausgerüstet, eine zweite Expedition nach
Westafrika zi: unternehmen. Bekannt ist, wie er durch seine
Kenntniß des Landes der deutschst Expedition förderlich war
und wie er mit seinen Krnuegern die deutschen Truppen in
ihren Kämpfen in Katnerull unterstützte. Seine Hoffnung, vont
Westen in das Innere vordringen ztt können, scheiterte an den
kriegerischen Verwickelungen. Der lange Aufenthalt in dem
mörderischen Klima hatte seine Gesttndhcit untergraben; mit halb
gebrochenem Körper kehrte er nach Europa zurück, unternahm
1886 noch eine Reise durch Rußland und den Kaukasus und
1887 eine solche durch Nordamerika. Von San Francisco
begab er sich nach Honolulu, wo er der Schwindsucht erlegen ist.
— Zn der Ersteigung des Kilimandscharo durch
Dr. Hans Meyer (f. oben S. 271) wird der „Allgemeinen
Zeitung" atls Leipzig geschrieben, daß der Reisende ant ersten
Tage von Mareale's Dorf (in Maraugu) bis zur unteren
Urwaldgrenze, am zweiten durch den regcntriefenden Urwald
bis zur oberen Waldgrenze nach dem „Lager Johnston's"
gegangen sei, am dritten Tage baumlose, mit wenig Ginster
und Eriken bestandene Grasmatten bis zutu ersten Schnee
und am vierten ganz vegetationslose Aschen- und Lavalager
bis zum Fuße des eigentlichen Kibo durchschritten habe, um
endlich am fünften Tage den Aufstieg bis znm Kraterrande
zu vollenden und zum Kraterfuße wieder zurückzukehren. Am
oberen Kraterraude fand er noch eine 40 bis 50 m hohe,
dem Rande anfliegende Eiswand vor sich, die er nicht zu
ersteigen vermochte, da sein Begleiter 300 in tiefer wegen
Schwäche zurückgeblieben war. Den sechsten Tag verwendete
Dr. Meyer atls Anfertigung von Photographien des höchst
eigenthümlichen Hochplateaus zwischen Kibo und Kimawenzi
mit der dasselbe durchziehenden vulkanischen Hügelkette, auf
Einsammeln geologischer Belegstücke und Herstellung eines
Kartencroqnis. Dann kehrte er zum ersten Schnee zurück,
sammelte von dort aus mehrere Tage und hielt sich endlich
noch zwei volle Wochen in Mareale's Dorfe mit Photogra-
phiren, Zeichnen und Sammeln auf.
Inhalt: Obock. (Mit vier Abbildungen.) —Dr. H. Simroth: Ausflüge nach Furnas und der Lagoa do Fogo (Azoren).
II. (Schluß.) — Christian Ausser: Die bolivianische Proviitz Pungas. II. (Schluß.) — Das Schamanenthum unter den Bur-
jaten. 4. (Erste Hälfte.) — Aus allen Erdtheilen: Afrika. (Schluß der Redaktion am 13. Oktober 1887.)
Redakteur: Dr. R. Kiepert l» Berlin, W. Liudcustraße 1t, III Tr.
Druck lind Verlag von F r i e d r i ch V i e w e g und S o h u in Braunschweig.
Band III.
Jso 19.
Ulis besonderer Derü cd sichtig NN g der Anthropologie und Ethnologie.
B e g r n übet v o n K st r l Andre e.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
1111 f(flhiptfi Säljrlid^ 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
' ' ^ zum Preise von 12 Mark pro Band zu. beziehen.
DienlafolPs Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dienlafoy.
I.
^Sämmtliche Abbildungen nach Photographien.^
Von Obock ging die Fahrt nach Aden, von dort aus der
„Huzara" nach der Rhede von Karatschi, wo die „Assyria"
die Expedition aufnahm; am 27. Januar 1885 wars die-
selbe ans der gewaltigen 9rhede von Bender-Abbas, wo
sämmtliche Flotten Europas manövriren könnten, Anker.
Zu beiden Seiten zeigen sich längs der gelben Küste Gärten
und zahlreiche Dörfer, inmitten die persische Stadt, im
Hintergründe überragt von einer Kette schneebedeckter Berge.
Der Ankerplatz befindet sich drei Seemeilen vom Lande bei
einem entmasteten Schisse, das an der Grenze der Untiefen
liegt und für die Dampfer der englischen Gesellschaft als
Magazin und Lagerplatz dient. Da die „Assyria" hier
Ladung zu löschen hatte, so erhielten auch die Reisenden
Erlaubniß all Land zu gehen. Wie in Obock, kaun auch
hier das Boot nicht unmittelbar an den Strand gelangen,
so daß man sich die letzte Strecke von Menschen tragen
lassen muß.
Bender-Abbas unterscheidet sich wenig von den persischen
Städten, welche Dienlafoy während seiner ersten Reise be-
suchte: Neubauten neben Ruinen, Schmutz und Abfälle auf
den unebenen, holperigen Straßen, auf den halb unterirdischen,
mit Palmblättern überdeckten Bazaren Buden, deren Sauber-
keit in scharfem Gegensatze zu der Vernachlässigung der
vorüber- ulid hindurchführenden Straßen steht. Die Nachricht
von der Ankunft der Europäer hatte sich rasch in der Stadt
verbreitet, und nun wuchs die sie begleitende, drängende,
schimpfende Volksmenge zusehends an; ein Shawlhäudler
nahm sich schließlich der ins Gedränge gerathenen Expeditions-
Globus III. Nr. 19.
Mitglieder an und führte sie durch eines der Stadtthore
hinaus auf das freie Feld, wo sich auf dem sterilen Boden
eine riesige Mimose erhebt. Dort füllten roth gekleidete
Frauen ihre cuttif geformten Vasen mit Wasser oder plau-
derten mit anderen, die wuschen. Hinter diesem Landschafts-
bilde, welches den von den blendenden Sonnenstrahlen
schmerzenden Augen so wohl thut, erheben sich Bauten ans
Bruchsteinen, darunter eine fast zusammengestürzte, welche
einer alten christlichen Kirche gleicht, und andere pyramiden-
förmige, letztere Grabdenkmäler von Engländern.
Am 28. Januar setzte die „Assyria" ihre Fahrt fort,
die am frühen Morgen des nächsten Tages eine ängstliche
Unterbrechung durch Auflaufen auf eine Sandbank erlitt.
Zum Glück blies der Wind vom Lande her, so daß cs
möglich war, mit Hilfe von Segeln und einiger Manöver
mit der Schraube bald wieder frei zu kommen. Untiefen
sind in diesem sehr seichten Meere überaus häufig; sie ver-
hinderten auch in Verbindung mit hohem Seegänge eine
Landung bei der nächsten Station, Linga, welche sich durch
eine Schiffswerft, auf welcher volle Thätigkeit herrschte, aus-
zeichnete. Der Kapitän mußte sich also damit begnügen,
die Post durch ein Boot an Land zu schicken, und sobald das-
selbe mit seiner bis auf die Haut durchnäßten Mannschaft
wieder zurückgekehrt war, wurden die Anker wieder gelichtet
und das Schiff, welches bisher von Karatschi an beständig
der Küste von Belutschistan und Persien entlang gefahren
war, nahm nun seinen Cours itach den auf der arabischen
Seite liegenden Bahrein-Inseln. Dieselben sind in
37
290
Dieulafoy's Ausgrabungen in Sustr
Folge von Quellen, welche auf dem Festlande ihren Ursprung
haben und unter dem Meeresboden hinfließen, sehr fruchtbar
und verdanken ihre commercielle Bedeutung den schon im
frühen Alterthume berühmten Perlenbänken, welche der
chaldäische Stamm der Gerrhäer ausbeutete. Bon hier
zogen die Räuberbanden aus, welche zur Zeit der ersten
Sassanidenkönige Mesopotamien verwüsteten und Ketesiphon
plünderten; von hier segelte die Flotte mit dem ersten
arabischen Heere ab, welches in Iran einzudringen ver-
suchte; gleich nach der Landung wurde es indessen vom
Satrapen Schehrek aufs Haupt geschlagen, während ein
Sturm alle Schiffe vernichtete.
Mit dem Postboote gingen die Reisenden an Land,
konnten aber auch hier nicht unmittelbar den Strand er-
reichen; Eingeborene hatten jedoch ihre weißen Helme bemerkt
und kamen auf kräftigen Eseln an das Boot herangcritten,
um die Europäer ganz an Land zu schaffen.
Ein natürlicher Quai schützt die Stadt gegen Hochflnthen;
nach Süden liegt das große Postgebäude, von welchem die bri-
tische Flagge herabweht, nördlich davon zeigt sich eine Batterie
mit veralteten Kanonen, welche den Eingang zu der officiellen
Residenz des Scheich Arssa Ben Ali, des Sultans von
Bahrein, schützt. Trotz seines Palastes und seiner Kanonen
ist dieser Scheich nur ein Scheinfürst; denn es ist nur zu
bekannt, daß alle diese reichen Inseln unantastbares Eigen-
thum Großbritanniens sind. Bahrein selbst macht davon
keine Ausnahme; seine zahlreichen Einwohner leben und ge-
deihen unter dem S chutze des Obersten Roß, der eifersüchtig
darüber wacht, daß sie nur englische Waaren beziehen, Eisen-
zeug, Tuche, Zucker, Banmwollwaaren und indischen Reis,
Mimose bei Bender-Abbas.
was alles die „British Jndia" alle vierzehn Tage herbei-
schafft.
Damals, Ende Januar, erschienen die Bazare, wo
Tausende und aber Tausende von trockenen Fischen auf-
gestapelt waren, ruhig, fast verlassen; aber das Gleiche ist
nicht zu jeder Jahreszeit der Fall. Im Monat März er-
wacht die Stadt; dann führt der Perlenhandel Schaarcn
von Tauchern und indische Kaufleute, die Auszubeutenden
und die Ausbeuter, dorthin. Der Scheich weist jedem Boote
die Stelle, wo es fischen darf, an, damit die Bänke sich
wieder auschonen können, und auf ein verabredetes Zeichen
verlassen sämmtliche Boote den Hafen. Der Taucher, der
mit einem Netze, das von einem Weidenreisen offen gehalten
wird, und mit einem langen Dolche zum Schutze gegen
Haifische versehen ist, bindet sich um den Leib einen- Strick,
wodurch er mit dem Boote in Verbindung bleibt, steckt die
rechte große Zehe in einen Ring, der an einem Ge-
wichte von 10 kg- befestigt ist, richtet ein kurzes Gebet
an Allah, holt tief Athem und stürzt sich dann in das
azurblaue Meer. Das Gewicht zieht ihn ans den Grund,
wo er die Muscheln zusammenrafft und in sein Netz
wirft, bis ihn Luftmangel zwingt, sich wieder hin-
aufziehen zu lassen. Die Araber von Bahrein bleiben
gewöhnlich 60 bis 70 Sekunden unter Wasser; einige
sollen eS bis auf sechs Minuten gebracht haben. Manche
sind nach zwölfmaligem Untertauchen ermüdet, andere wieder
halten diese anstrengende Arbeit mehrere Stunden lang ans.
Ein zweites Signal ruft die Boote ans Land zurück. Die
Muscheln werden dann in einem wohl verschlossenen Gehege
am Strande abgeliefert, wo man sie in Kessel mit sieden-
292
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
dem Wasser wirft oder wartet, bis die vorschreitende Fäul-
niß gestattet, sie zu öffnen, ohne daß man Gefahr läuft,
die Perle zu beschädigen. Bootsherren und Käufer über-
wachen mit gleicher Sorgfalt das Auslösen der Perlen, wozu
fast unbekleidete Arbeiter verwendet werden; sobald einer
derselben die Hand znnl Munde führt, also den Verdacht
erweckt, als wollte er eine Perle verschlucken, so wird er
gebunden und gezwungen, eine gehörige Dosis Ricinusöl zu
trinken: der Werth des Objektes muß dieses etwas summa-
rische Verfahren entschuldigen. Wir übergehen, was Ma-
danie Dieulafoy über die Entstehung der Perlen, ihre ver-
schiedenen Formen und die daran geknüpften Sagen der
orientalischen Völker sagt, und fügen nur noch hinzu, daß
es bei diesem gesuchten Schmuckgegcnstande nicht nur auf
die Form, sondern auch auf das „Wasser" und den „Orient"
jähr sind dort 1500 Boote beschäftigt, und die Tancherei
tvirft einen jährlichen Ertrag von acht Millionen Mark ab,
wovon jedoch für die einheimische Bevölkerung nichts ab-
fällt. In den Bazaren der Stadt findet man keine einzige
Perle zu kaufen; alle werden unmittelbar nach Schluß der
Fischerei verkauft und ausgeführt.
Ein Ritt durch die llmgebnng der Stadt, welcher den
Aufenthalt der Reisenden auf Bahrein beschloß, hinterließ
in ihnen einen überaus günstigen Eindruck von der Frucht-
barkeit und Vegetation der Insel, welche in dieser Hinsicht
hoch über den Ufern des Nil und des Schatt-el-Arab, den
Rosengärten von Jspahan und Schiraz steht. Auf kothigen
Wegen gelangten sie zu Esel zunächst zu einer vielfach aus-
gebesserten, großeit, nun aber ganz verfallenen Moschee,
deren beide Minarets noch aufrecht stehen. Zierliche, mit
ankoinmt. Unter ersterem ist die Färbung zu verstehen,
welche von Azur- und Silberweiß bis zu einem gelblichen
Weiß, einem mehr oder weniger lebhaften Goldgelb, Rosa,
Blau, Lila und Schwarz wechselt; in Europa bevorzugt
man die weißen Varietäten, während die Araber die gelb-
liche Färbung als Zeichen der Unveränderlichkeit lieber
haben. — „Orient“ bezeichnet die Reinheit, das Schillern,
den Glanz, Kardinaltngenden, deren Zusammentreffen den
Werth einer Perle verdreifachen können gegenüber dem-
jenigen einer sonst gleich großen und schweren. Während
das Alterthum seine Perlen nur aus Indien und vom Per-
sischen Meerbusen bezog, hat man jetzt Bänke an den Küsten
Australiens, Amerikas und bei einigen Inseln des Stillen
Oceans entdeckt; trotzdem werden die Fischereien von Bah-
rein nicht weniger emsig betrieben als früher. Im Früh-
Vahrem.
Inschriften versehene Kapitüle, Berichte über Restaurationen,
Lobsprüche zu Ehren Allnh's, hier und dort angebrachte
Grabsteine könnten dem Kundigen die Geschichte des Bau-
werkes erzählen. Unweit desselben sprudelt eine bis zum
Grunde des Beckens durchsichtige warme Quelle; rings um
sie herum, wie längs eines Kanals, welcher das Wasser
eines artesischen Brunnens den Bewässerungsgräben zuführt,
liegen Luzernefelder, welche in Beeten, wie Gartengemüse,
gesäet ist und so grün und saftig aussieht, als wäre sie in
Mistbeeten gezogen. Und so ging es endlos weiter, Garten an
Garten, der Weg beschattet von Magnolien und Dattelpalmen
und gelb blühenden Mimosen, an deren Stämmen sich duftendes
Gcisblatt eulporrankte. Zahlreiche, mit Matten ans Palm-
blättern bedeckte Hütten, tveiß gekleidete Bauern und Frauen
in rothen Gewändern belebten das reizende Landschaftsbild.
294
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
Am 31. Januar hielt die „Assyria" bei strömendem
Regen vor Buschir; es dauerte länger als zwei Stunden,
ehe die Expeditionsmitgliedcr in dem Lotsenboote die Stadt
erreichten, welche wegen des dicht fallenden Regens ans
100 m Entfernung noch kaum sichtbar war. Völlig durch-
näßt, fanden sie zuerst bei den Zollwächtern Aufnahme und
wurden dann einigen Soldaten übergeben und von diesen
nach dem Hause geführt, welches ihnen der Gouverneur der
Stadt ans ihren Wunsch bereit gestellt hatte. Dasselbe war
ihnen bereits vertraut und lieb, denn sie hatten es schon bei
ihrer ersten Anwesenheit tu der Stadt (vergl. „Globus",
Bd. 48, S. 97 ff.) bewohnt. Auch sonst ließ sich alles
gut an-, der Gouverneur ließ die Expedition dnrch seinen
Stellvertreter begrüßen und melden, daß er die königlichen
Firmane für sie in Händen habe; zugleich langte ein freund-
schaftlicher Brief des Dr. Tholozan an. Alle Hindernisse
waren beseitigt, alle Schwierigkeiten überwunden. Auch
hatte Prinz Zelle Sultan eingewilligt, Dienlafoy's Geld
in Empfang zu nehmen, wogegen der Statthalter von
Arabistan Befehl erhielt, dieselbe Summe den Reisenden
später auszuzahlen und sic von deut Jahrestribute seiner
Provinz in Abzug zu bringen. So konnten die Reisenden
ohne Furcht vor Räubern nach dem Schauplatze ihrer ge-
planten Ausgrabungen sich begeben.
Den früheren Gouverneur fanden sie in Buschir nicht
mehr vor; bald nach ihrer Abreise hatte die sich Bevölkerung
der Stadt, der übertriebenen Erpressungen müde, empört
und den Palast belagert. Mirza Mustosi Nizam hatte,
als Fischer verkleidet, Reißaus genommen, während sein
Gepäck geplündert wurde. Er hatte es aber während
der kurzen Zeit seines Amtirens verstanden, so viel zu er-
übrigen, daß er mittels reicher Geschenke an die maß-
gebenden Persönlichkeiten bald darauf zum Verwalter der
Provinz Kirman ernannt wurde und den tönenden Titel
„Der Glückliche des Königreiches" davontrug. An seiner
Stelle ist nun der älteste Sohn des Sahabi Diwan, des
Statthalters von Schiraz, damit betraut, die Buschirer zu
beglücken.
Am 7. Februar langte die „Arabia" auf der Rhede
von Bltfchir an, mit welcher die Expedition ihre Reise fort-
setzte. Ihre Bekannten und Freunde wünschten ihnen Glück
zu ihrem Unternehmen, aber Niemand schien Vertrauen auf
einen glücklichen Ansgang desselben zn haben. Die Schwierig-
keiten, welchen Loftns 30 Jahre früher begegnet war, die
Gefahren, welche er trotz seines diplomatischen Ranges in
Susa zu bestehen hatte, sind noch nicht vergessen, und Jeder,
welcher ihnett Lebewohl sagte, that es mit einem Gesicht,
aus welchem die Vorahnung eines Unglücks nur allzu deut-
lich abzulesen war. — Am nächsten Tage kam der Dampfer
in Feilieh an, wo die Expedition auf den „Karun",
welcher dem uns schon bekannten Scheich Moses (siehe
„Globus", Bd. 48, S. 101) gehörte, überging. M. Dieulafoy
bestand darauf, den „Karun" miethen und die verbranchten
Kohlen bezahlen zn wollen; aber der Scheich weigerte sich,
auch nur die geringste Vergütigung anzunehmen. „Ich mache
keinen Unterschied zwischen dem Gelde meiner Freunde und
dem meinigen", war seine Antwort — eine im Orient sehr-
seltene Großherzigkeit.
Eine Azorenfahrt von Insel zn Insel.
Von Dr. Heinrich Simroth.
I.
Wer vor 30 Jahren in einem Sommer alle nenn Azoren
besuchen wollte, konnte von Glück sagen, wenn es ihm gelang,
so günstige Fahrgelegenheiten zu treffen, daß er mit einiger
Regelmäßigkeit sein Ziel erreichte. Der Verkehr zwischen
den Inseln war und ist zwar lebhaft, aber unregelmäßig,
und man war leicht gezwungen, auf der unbequemen Barke
unfreiwillig den Aufenthalt zu verlängern, wenn bei dem
häufigen Windwechsel wohl noch kurz vor der scheinbar-
sicheren Landung eilig vor einem hereinbrechenden Sturme
auf der hohen See Schutz gesucht werden mußte, bis nach
Tagen und selbst Wochen ein neuer Versuch, die Küste zu
gewinnen, möglich wurde. Man möge Hartnug's allerliebst
frische Schilderungen im citirten Werke nachlesen! Jetzt
ha: es der Reisende mit dem Dampfer bequemer, allerdings
nicht ohne den Nachtheil flüchtigerer Hast, der unseren
modernen Verkehrsmitteln anklebt. Und so ging ich ant
9. September wieder an Bord des „A^or", mit dem ich
vor vier Wochen gekommen, und der inzwischen eine Fahrt
nach Lissabon gemacht hatte. Er lag zur achttägigen Runde
im Hafen von Ponta Delgada bereit. Abends um 1/27 Uhr
betrat ich das gute Schiff in völliger Nacht. Trotzdem von
den Passagieren keiner über den Bereich der Inseln hinaus
konnte, flössen doch reichliche Thränen zuni Abschiede, und
die Umarmungen wollten kein Ende nehmen. Im schönsten
Mondscheine dampften wir ab, der Himmel war klar, nur
über der Insel stand, wie üblich, einiges Gewölk. Eine
Stunde ging's an S. Miguel entlang. Dann steuerten wir
mit kräftiger westlicher Brise den flämischen Inseln zn.
Die Azoren zerfallen bekanntlich in drei Gruppen, die in
der Richtung von Ostfüdost nach Westnordwest einander
folgen. S. Miguel und S. Maria bilden die östliche,
Corvo und Flores die westliche Gruppe, die fünf übrigen
die Mitte, die znm Theil von Flamländern kolonisirt wurde.
Anders, als der äußere Augenfchein ergiebt, ist die wahre
natürliche Eintheilung, wieder anders die politische. Die
Anordnung der Vulkane läßt drei oder vier Reihen erkennen,
die der angegebenen Himmelsrichtung parallel streichen.
Die nördlichste Reihe umfaßt den östlichen Theil von
S. Miguel; ans ihr liegt die früher besprochene Thermen-
linie von Ribeira qnente, Furnas und Ribeira grande, sie
hat ihre Fortsetzung auf Terceira und Graciosa und wird
durch zwei unterseeische Vulkane ergänzt, deren einer 1720
östlich, der andere 1872 westlich von Terceira entstanden
ist. Die zweite Parallele beschränkt sich auf das Westgebirge
von S. Miguel (Setc Cidades) und den westlich davon 1811
aufgethürmten und wieder weggespülten Sabriuakrater. Die
dritte ist die längste; sie beginnt bei den Formigas, jenen
Klippen zwischen S. Miguel und S. Maria, die zu allererst
von einem maurischen Freibenterschiff entdeckt zu sein scheinen;
zu ihr gehören S. Jorge und Corvo und wieder ein ver-
schwundener Vulkan, der 1683 westlich von S. Miguel
ausbrach. Die vierte endlich, fast eben so lang, geht von
S. Maria über Pico-Fayal bis Flores. — Wieder anders
ist die politische Grnppirung. Danach zerfallen die Inseln
Dr. Heinrich ©imroti): Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
295
in drei Distrikte; der Gouverneur des ersten, S. Miguel
und S. Maria, hat seinen Sitz in Ponta Delgada, der des
zweiten, Terceira, Graciosa und S. Jorge, in Angra do
Heroismo, der des dritten, Fayal, Pico, Flores und Corvo,
in Horta. — Der Bevölkerung nach bilden die Inseln der
Mittelgruppe noch immer ein Ganzes. Denn wenn auch
die schwache flämische Kolonie mehr oder weniger voit der
portugiesischen Menge aufgesaugt wurde, man glaubt doch
die heimischen, nordischen Zuge sofort wieder zu erkennen.
Das Volk ist strammer, geweckter, es wird viel weniger ge-
bettelt, und mit geringerer Unterwürfigkeit und Zudringlich-
keit. Der Bootscigner, der in Angra an Bord kam, um
wegen der Landfahrten zu akkordiren, hatte einen blonden
Schnurrbart, eine Seltenheit unter den Eingeborenen; die
Abschlüsse vollzogen sich ohne allzu viel Feilschen, und die
Fährleute begannen ein freundliches Gespräch, während es
mir doch immer schwer geworden war, meine Fischer von
S. Miguel, so willig sie sich benahmen, zu lebhafterer Unter-
haltung zu bringen. Ich hatte die Nacht verschlafen und
erwachte vom Kanonenschüsse, der die Ankunft im Hafen
anzeigte. An Deck erwartete mich ein reizendes Bild. Ein
wundervoller Morgen, blaues Meer, und eine allerliebste
Ansicht der Bucht, in die wir eindampften. Vor uns Angra,
die noble Hafenstadt von Terceira, auf Hügeln amphi-
theatralisch aufgebaut, rings stattliche Quaianlagen, von wo
breite, hohe Treppen an den Strand hinabführen; sie haben
zum Theil beträchtliche Tcrrainabtragungen nöthig gemacht,
und die steile Böschung ist von blanken Häusern gekrönt.
Reichthum an Kirchen; namentlich tritt eine doppelthürmige
gleich bei der Landung monumental entgegen, stattlicher als
irgend eine auf S. Miguel; haben's doch die Jesuiten
meisterhaft verstanden, die Symbole des Glaubens augen-
fällig und eindringlich zu machen, ich erinnere nur an die
ähnliche Egresa da nossa Senhora dos montes über Funchat,
die unübertrefflich aus den Ocean hinanslcnchtet, ein Wahr-
zeichen dem noch fernen Seefahrer. Ueber der Stadt grüne
Gürten mit Landhäusern, in die sie sich auflöst; und als
krönender Bau der große Obelisk, der auf die hohe Bedeu-
tung der Insel für Portugals geschichtliche Entwickelung
hinweist. Im Hintergründe hohe, im Morgenduft schwim-
mende Serren, die nach rechts und links symmetrisch, und
doch abwechslungsvoll genug gegen die Bucht, sie umrah-
mend, hervortreten; links der Monte Brazil, ein ans hellen
Tuffen aufgeschütteter, begrünter Berg, der nur durch einen
schmalen Isthmus mit deni Lande zusammenhängt; er trägt
eben an der Landenge das moderne Kastell; rechts aus
schwärzlichen Felsen das alte spanische Fort und weiterhin,
sich überschneidend, Klippe aus Klippe, Kap auf Kap, ins
Meer abstürzend. Und hinter uns ist die Bucht auch wieder
abgeschlossen durch ein neues landschaftliches Moment.
Dem Meer entsteigt eine kleine Insel, regelmäßig couisch,
oben abgeplattet, nach Art der Krater, anscheinend nackt
und hell, zum Mindesten durch die Sommersonne kahl ge-
brannt, das Jlheo das Cabras, die Ziegeninsel, ein
zweites Capri. In der That erinnerte sie mich lebhaft
an die mannigfachen Capribilder, namentlich wenn sie, von
der Abendsonne beleuchtet, roth golden aus der unendlich
blauen Fläche sich erhob, in der prachtvoll harmonischen
Stimniuug der Complementärfarben, die hier, bei der
völligen Unbebautheit durch kein weiteres Element gestört,
in voller Stärke auf das Auge wirken. Bei näherem Zu-
sehen entdeckt man, daß die losen Wände des Kegels durch
des Meeres Gewalt in zwei Hälften zertheilt wurden, von
denen die eine auch nur noch weniger hoch anfragt. So
hat sie Aehnlichkeit mit dem noch merkwürdiger gebildeten
früher erwähnten Jlheo von Villa Franca, einem nur auf
einer Seite durch einen Lavaerguß geöffneten Krater, der
nun im Innern eine Lagune umschließt, atollartig, nur
höher. Kleinere Schiffe können einfahren und finden ge-
legentlich, wenn auch selten, volle Sicherheit bei tobendem
Sturm.
Ich war zwei Tage am Lande, auf der Hin- und Rück-
reise, wenig genug; immerhin ließ sich Manches erhaschen.
Die Stadt hielt, was sie aus der Ferne versprach. Sic
macht zweifellos den vornehmsten Eindruck aller Insel-
städte. Die freilich schlecht gepflasterten hügeligen Straßen
fehen noch gleichmäßiger ans, als in Ponta Delgada, fast
lauter zweistöckige weiße Häuser mit grünen Fenstergittern,
ungemein blank. Wer nähme sich bei uns in einer Stadt
von 11000 Einwohnern die Mühe, die Unterseite des vor-
springenden Dachraudes zu putzen? Hier, wo allerdings
die flacheren Dächer besser darunter sehen lassen, sind die
Hohlziegel abwechselnd schwarz und mennigroth gestrichen,
und ein sauberer weißer Rand grenzt sie vorn ab. Kachel-
bedeckung (Azulejos) fah ich keine, sie ist eine speciell portu-
giesische Sitte, und Angra verdankt seine Anlage oder doch
seine Vollendung der spanischen Zeit, die während des
dreißigjährigen Krieges nach sechzigjähriger Dauer ihr Ende
erreichte. Neueren Datums ist bekanntlich der heroische
Beiname. Der deutsche Reisende, der jetzt mit dem Schiff
nach Lissabon kommt und nach üblichem Branch im Hotel
Central absteigt, wird das Denkmal des Herzogs von Ter-
ceira, das den kleinen Platz daneben schmückt, nicht leicht
übersehen. Die Bronzestatue erschien mir wenigstens ganz
vorzüglich. Das ist der Mann, der in der Zeit trübster
Reaktion und Vergewaltigung das Banner des Rechts und
der verfassungsmäßigen Freiheit hoch hielt. Noch jetzt
hört man den portugiesischen Officier klagen, daß der Por-
tugiese zwar nicht oft marschiren mußte, aber zumeist gegen
Portugiesen. So leicht sich die Lostrennnng Brasiliens
vom Mutterlande vollzog, indem cs mit der Rückkehr des
durch Napoleon nach der Kolonie vertriebenen Hofes nach
Lissabon Dom Pedro, den Kronprinzen von Portugal und
Vicekönig von Brasilien, zum konstitutionellen Kaiser aus-
rief, um so blutiger wurden die Folgen für das Mutter-
land, und die Stürme des Bruderkrieges brausten zum Theil
über die Azoren. Ohne mich ans einen historischen Excurs
einlassen zu wollen, gedenke ich kurz der wenigeu That-
sachen, die auf die Inseln hinführen. Die bigotte Königin
Carlotta Joaquina suchte ihrem Lieblingssohne Dom Miguel
die Erbfolge zuzuwenden; Intriguen und eine Verschwörung
erfolgten, die seine Verbannung nach sich zogen. Beim
Tode des Königs 1826 siet die Krone von Portugal dem
ältesten Sohne, dem Kaiser von Brasilien, zu, der zu
Gunsten seiner ältesten Tochter, der achtjährigen Dona
Maria da Gloria, darauf verzichtete. Die Königin-Mutter
hatte inzwischen deren Verlobung mit Dom Miguel durch-
gesetzt, der nun zurückkehrte und als Regent den Eid aus
die Verfassung leistete, — um ihn drei Wochen später be-
reits zu brechen und sich zum König zu machen. Jetzt
begann der erbitterte Bruderkrieg. Der Graf Villa Flor
führte Dom Pedro's Sache von Terceira aus, nachdem zit
verschiedenen Malen auf der Insel abwechselnd die Kon-
stitutionellen und die Mignelisten die Oberhand behalten
hatten. Schließlich wurden die letzteren, die sich noch eine
Zeit lang, von den Priestern gehetzt, im Gebirge verschanzten,
unterdrückt, und Terceira wurde der feste Stützpunkt, von
dem aus endlich die Wiedererobernng des Königreichs
glückte. Villa Flor, der spätere Herzog von Terceira,
schwur, sich den Bart nicht zu scheeren, bis das Werk der
Befreiung vollendet. Der erste Waffengang war der llcber-
sall von S. Miguel, auf dessen Nordseite eine verhältniß-
mäßig kleine tapfere Schaar landete, um in energischem
Vordringen die Uebcrmacht zu werfen und sich des Waffen-
296
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
depots im Fort von Ponto Delgada zu bemächtigen. Die
übrigen Inseln machten keine Schwierigkeiten und heischten
kein Blut. Der Kaiser Dom Pedro, der inzwischen auch
auf die Krone von Brasilien zu Gunsten seines Sohnes,
des jetzigen Kaisers, verzichtet hatte, kam selbst nach den
Inseln, und Walker beschreibt ganz ergötzlich das Staunen
der Landleute, die zum ersten Male ein gekröntes Haupt
sahen und doch nur einen Menschen darin finden konnten.
Diese Anwesenheit, hauptsächlich militärischen Zwecken ge-
widmet, wurde doch von der größten Bedeutung für die
Inseln, denn die energische Regsamkeit des Kaisers schuf
eine Reihe freisinniger fortschrittlicher Einrichtungen, Ab-
schaffung der Klöster, die zum Theil bei der Einziehung
der Klostergüter mit großen Härten, namentlich gegen die
ans den besseren Familien stammenden Nonnen, die ihr
Heirathsgut mitgebracht hatten, verbunden war, Erleichte-
rung des Druckes, der aus dem gemeinen Manne in Folge
zu hoher Abgaben lastete, Hebung des Bolksnnterrichts und
dergleichen. Durch englische Parteigänger (— das officielle
England und namentlich der alte Wellington nahmen für
den Usurpator Partei —) verstärkte sich das kleine Heer,
es folgte die Landung bei O'Porto u. s. w. Angra aber
ist stolz, daß von ihm die gerechte Sache ausging, daher:
Angra do Heroísmo, a muito nobre e sempre leal
eidade.
Jetzt freilich hat die Stadt außer landschaftlicher Schönheit
hauptsächlich den historischen Ruhm, ans den sie sich zurück-
ziehen muß. Der Handel ist mäßig, die Quais, ans denen
zur Zeit des spanischen Regiments ungeheure Schätze sich
aufstapelten (— Walker erzählt, daß im Winter 1589 zu
90 Silberkisten im Werthe von fünf Millionen Dukaten,
von Gold und Edelsteinen abgesehen, als Ladung zweier
spanischen Schiffe herumstanden —), sind ietzt ziemlich leer,
und die Straßen kommen einem wie ausgcstorben vor. Am
hübschen baumumpslanzten Campo, der unerläßlich ist und
ziemlich im Centrum liegt, konnte ich Nachmittags um drei Uhr
im stattlichen Cigarrenladen, der, wie auf den Inseln überall,
Tabak von S. Miguel anpries, nichts erhalten, weil die
Leute, wie der Nachbar sagte, dinirten, in der Hauptstraße.
Ich besuchte das alte weitläufige spanische Fort, dessen dunkle
Mauern und Thürmchen allmählich z» zerfallen beginnen.
Auf der Zugbrücke fragte ich um Einlaß. Erschrocken über
den Fremdling bejahte eine kleine Brünette, die sich im
Burggraben an einer freundlichen Bananenpslanzung zu
schassen machte. Ans dem Thorgebäude klang Klavierspiel;
der innere Plan war ein Bataten- und Maisseld, rings
aber lagen noch alte Geschützrohre, und weite Gänge führ-
ten schräg nach abwärts durch den Felsen, Aussallsthoren
zu; überall die haltbaren Spuren des finstern Philipp und
wilder Corsarenzeit, einer heiteren Gegenwart weichend.
Einige Straßen in der Nähe des Forts waren aus-
fallend genug. Zwar dem ärmeren Viertel angehörig,
hatten sie doch das Ebenmaß der Hauptstadt bewahrt,
wenn auch in anderer Weise. So bestand die eine aus
einer Reihe hoher, ganz gleicher Stufen, auf jeder dasselbe
Häuschen, einstöckig, zwei Thüren neben einander, und außer-
halb jeder ein Fenster, also zwei minimale Familienwoh-
nungen. Noch wunderlicher dicht dabei die Rua dos
Italianos, gleichfalls bergig, die Häuschen nur halb so
groß, wieder ganz gleich, jedes ans einem Steinsockel, der
nach einer Seite durch dieselbe Anzahl Stufen zugänglich
ist. Jedes Gebäude hat in Portugal etwas Barockes, be-
merkt Müller-Beeck (Reise durch Portugal). Auf der
Straße, an den Seiten, ans den Mauern, auf jedem über-
flüssigen Plätzchen lagen Massen kleinerer Fische, zumeist
Sardinen, ausgebreitet, um in der Sonne zu trocknen, eine
kümmerliche Nahrung, hauptsächlich von einer fast noch
trockeneren unterbrochen, vom Stockfisch nämlich, der hier
überall massenhaft eingeführt wird. Die Portugiesen sind
ja die Erfinder der Stockfischerei, die sie zuerst in Neufund-
land etablirten, und aus ihrem „bacalhäo“ (von baculus)
ist wohl erst durch Umstellung unser Kabeljau geworden.
Jetzt freilich sind sie gezwungen, den Bedarf am National-
gericht durch Import zu decken. Noch gedenke ich der
üblichen Märkte und vor allem der Fleischhalle, eines Mu-
sters von Marmor und Sauberkeit. Jst's nicht eigenthüm-
lich, daß man hier im Süden, bei fast gleichmäßigem Klima,
in jeder kleinen Stadt die Märkte auf eigens abgeschlossenen
Plätzen abhält und die Waaren durch rings umlaufende
breite Veranden genügend schützt, während wir Nordländer
allmählich die Markthallenfrage für unsere Metropolen ven-
tiliren und im Uebrigen Verkäufer und Waare Frost und
Hitze, Regen und Wind aussetzen? Freilich kommt in
Portugal die genaue Stcuerkontrole, die am Thor geübt
wird, dazu; auch ist der Südländer weniger wetterfest; ist
doch ein portugiesisches Schilderhaus zierlich achteckig mit
Glassensterchen. Die Leute brachten ihr Geflügel in
üblicher Weise herbei, einen breiten Stock über die Schulter,
an dem die Thiere massenhaft mit den Beinen aufgehängt
sind. Eigenartig ist die Tracht der Weiber; nicht der
Kapuzenmantel von S. Miguel („capote e capello“),
oder doch in anderer Anordnung; die Kapuze nämlich be-
ginnt bereits an der Taille und erstreckt sich bis über den
Kopf, so daß der Oberkörper darin steckt, wie im Fond
einer Halbchaise; die untere Mantelhülfte ist natürlich ein
gewöhnlicher Rock. Die Unterhaltung zweier Frauen, bei
der lediglich die Hände aus der Kutsche heraus gestikulirten,
hatte etwas Urkomisches.
Die Jungen am Strande waren munter genug; auch
sie kamen mir geweckter vor, als in Ponta Delgada, wo sie
zum Sammeln wenig zu gebrauchen waren. Am schwierigsten
waren sie freilich in Portugal, wo die ärmsten Bengel, die
einem freundlich Bescheid gaben über alles, was zu fragen
war, ihre Beihilfe selbst gegen kupferne Berge verweigerten,
und mit einem „Ich will nicht" lachend davon gingen.
Hier in Angra waren sie gleich zur Hand und fingen mir
Eidechsen, eine der größten Raritäten trotz Felsen und
Sonne. Bei der Entdeckung fehlten Reptilien und Am-
phibien den Inseln ganz, und bekanntlich sind ihre Eier
wenig traitsportfähig, da sie auch durch einen nur kurzen
Aufenthalt in Seewasser zu Grunde gehen. Drouet fand
vor dreißig Jahren die Lacerta Dugesii, die eine der
beiden auf Madeira heimischen Arten, bloß an einer Stelle
auf Graciosa (Moments de la saune agoreenne. Parisl861),
Godman giebt 1870 noch keinen weiteren Fundort an.
Jetzt konnte ich sie auf Terceira am Hafen und auf
S. Miguel, in Ponta Delgada, aber auch nur an den
Mauern des am Hafen gelegenen Forts S. Braz consta-
tiren, an denen sie sich in den letzten Jahren immer weiter
ausbreiten soll, ein hübsches Beispiel geographischer Ver-
breitung durch zufälligen Schifsstransport. — Ans einem
Schifferkahn sah ich plötzlich einen Jungen, der sich eiligst
halb entkleidete, sich ins Meer stürzen und geschickt tauchen,
um einen großen Tintenfisch, der entronnen war, wieder
einzufangen. Jetzt schnitt ihm der Alte mit einem ge-
schickten Griff das Hirn (den Schlnndring) entzwei, und
das Thier lag hilflos im Kahn, noch die acht Arme mit
ihrer so vollständigen Jnnervirung lebhaft aber zwecklos
bewegend. Ich erwähne den Fall nur, weil ich auf den
Azoren jene Taucherkünste, die in Fnuchal von einer jugend-
lichen Zunft so meisterlich geübt werden, durchaus vermißte;
sie wären mir für meine Arbeiten äußerst willkommen
gewesen. — Wie ich unter der alten Feste zwischen den
Klippen eines kleinen Lavafeldes die Fluthzvne nach Eon-
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zn Insel.
297
chylien, lauter Kleinigkeiten, absuchte, tummelten sich ein
paar Knaben, munter singend, im Wasser; bald aber kamen
sie, hockten sich ebenso hin und fingen an, die spärlichen
Bruchstücke aus den Gesteinsritzen hervorzusuchen und mir
anzubieten. Auf einige Minutiösen erpicht, konnte ich ihre
Hilfe nicht brauchen und wies sie zurück, doch war's schwer,
sich der freundlich zudringlichen Bursche zu erwehren; und
als ich schließlich aufstand, und ihre Begleitung gar nicht
los wurde, fiel mir das rechte Mittel ein. „Habt Ihr das
Gold gefunden?" rief ich ihnen zu; augenblicklich krabbelten
sie mit verdutzten Gesichtern von Neuem im Saude und
ließen mich ziehen. Das Volk kann sich, wie Hartung
schon erfuhr, unter geologischen Arbeiten nichts Anderes
denken, als die Suche nach edlen Metallen, die im Boden
stecken sollen; wie denn der Blick nicht über das Praktische
hinausreicht — selbstverständlich.
Die kopfschüttelnde Neugierde, mit der mau meine Be-
mühungen um die niedere Thierwelt so häufig verfolgte, wich
fast stets einer ehrfurchtsvollen Bewunderung, sobald ich
durch die Geberde des Einnehmeus den medicinischen Zweck
meiner Thätigkeit klar gelegt hatte. Daß sich edle Erze
nicht finden, ist nur zn gewiß. Aber ich möchte auch das
Vorhandensein von Schwefelkies, zum Mindesten in größerer
Menge, bezweifeln. Walker sucht für die Thermen und
Solsataren von Furnas wenigstens die Möglichkeit aufrecht
zu erhalten, daß sie durch Eindringen von Wasser in Pyrit-
lager entstehen; er stützt sich auf isländische Vorkommnisse,
die ausführlich geschildert werden, und weist zur Verstärkung
der Parallele auf die gleichfalls vulkanische Natur der
nordischen Insel hin. In der That setzt der Abfluß
jener Thermen, der Ribeira guente, Oker ab, und einige
kleine Quellen liefern die so beliebte ^§ua. kernea. Dennoch
wird man jene Hypothese mit gutem Grunde zurückweisen
dürfen. Eisen als geringer färbender Bestandtheil ist ja
verbreitet genug; für den Absatz von Schwefelkies aber
scheinen die Bedingungen zu fehlen. Hartung stützt seine
Behauptung von der jungen Natur der Azoren nicht nur
durch die Sedimente von Santa Maria, durch die geringe
Vertiefung der Schluchten im Vergleich mit Madeira, son-
dern auch namentlich durch das Fehlen von Verwerfungen
und entsprechenden Spalten und Klüften, woraus er weiter
die rein vulkanische Erhebung der Gebirge — ohne Fal-
tungen — ableitet. Mit den Spalten aber fehlt wohl die
Basis für Schwefelkiesanhäufungen, und wir sind ge-
zwungen, den Ursprung der Thermen, so gleichmäßig sie
durch Jahrhunderte bereits springen, im vulkanischen Herd
selbst zu suchen, eine Ansicht, die zu den im Beginn dieses
Aufsatzes erwähnten bekannten Streichungslinien vorzüglich
paßt.
Ein anderes geologisches Vorkommmß geht Terceira
näher au. Hartung hat mit seiner gewohnten Umsicht zwei
Punkte aufgefunden, wo andere, nicht vulkanische Felsartcn
aufgehäuft sind. Der eine ist die Bucht von Villa do Porto
auf S. Maria (s. u.), dort „kommen zahlreiche, abgerundete
Bruchstücke eines grobflaserigen Gneißes vor, der vielen
schwarzen und weißen Glimmer enthält. Die Bruchstücke
liegen mit den übrigen aus basaltischen Laven bestehenden
Geschieben am Gestade, jedoch in so großer Zahl, daß man
sie nicht gut für ausgeworfenen Ballast halten kann". Die
andere Stelle ist Praia au der Ostküste von Terceira.
Dort „bedecken das Gestade außer den Geschieben vulkanischer
Erzeugnisse auch noch glatt geschliffene Bruchstücke von
rothem Sandstein, von dichtem Kalkstein, von Quarz, von
Schriftgranit und von einem anderen Granit mit gelblich-
weißem Feldspath, Quarz, schwarzem und weißem Glimmer
und Turmalin. Aber diese Blöcke, welche einige Zoll bis
mehrere Fuß im Durchmesser haben, kommen nicht nur
Globus LII. Nr. 19.
unmittelbar am Meeresuser vor, sondern sie liegen auch
eine halbe Minute weit landeinwärts an der Oberfläche
zerstreut, wo man sie sammt den Lavabruchstücken behufs
Einhegung der Felder in Steiuwälleu aufgehäuft hat. Es
ist ebenso undenkbar, daß diese Blöcke durch Menschenhände
an den vom Gestade entfernten Punkt geschafft sein sollen,
als cs unmöglich ist, daß sie bei der gegenwärtigen Obcr-
flücheugestaltung durch die Brandung dahin gerollt sein
könnten..." Hartung weist nun darauf hin, daß man der-
artige erratische Blöcke in den Vereinigten Staaten bis zum
38. Grade nördlicher Breite gefunden habe, und findet des-
halb keine Schwierigkeit in der Annahme, daß sie au die
Azoren, in 37° und 39°, gleichfalls durch Eisberge geschafft
worden seien, woraus einmal eine geringe Hebung der Ost-
küste von Terceira, andererseits die Thatsache folgen würde,
daß jene Inseln bereits zur Glacialzeit annähernd ihre jetzige
Gestalt besessen hätten. Bei dem immer größeren Interesse,
welches sich inzwischen an die Eiszeit geknüpft hat, wäre ein
derartiger Beweis südlichen Vorschubs gewiß äußerst er-
wünscht. So viel ich aber in Erfahrung bringen konnte,
dürfte die Erklärung doch eine andere sein. Mau meinte,
daß selbst der Bauer an jedem fremden Stein seine besondere
Freude habe; und in der That, auf solchem vulkanischen
Grunde ist einem der Anblick eines soliden Urgesteines ein
Labsal; und ich wurde von einem Artillerieofficier um die
Bestimmung eines gewöhnlichen Feuersteines angegangen,
den der eine dem anderen als Dedikation sandte, und die,
welche ich zwischen den Lavaklippeu von Angra auflas,
wurden mit vielem Danke angenommen, als Raritäten, nicht
zum Feueranzündeu. So sollen die Bauern den Ballast
landeinwärts geschafft haben, hauptsächlich, um ihn ihren
Häusern einzufügen; er blieb daun gelegentlich liegen und
diente zur Einfriedigung. Aber noch andere Gründe scheinen
mir gegen den Transport durch Eisberge zu sprechen; Praia
auf Terceira liegt nach Osten, die Bucht von Villa do Porto
dagegen öffnet sich direkt gegen Süden. Wie sollen hier regel-
mäßig Eisberge zum Stranden kommen? Zum Mindesten
müßten wohl, wenn man zu abnormen Strömungen seine
Zuflucht nehmen will, beide Lokalitäten eine entsprechende
Lage haben. Noch mehr: Wenn die Wirkung der Eiszeit
sich hier so weit bemcrklich machte, daß dichte Schwärme von
Eisbergen die Azoren passirten, hätte dann nicht die Tempe-
raturerniedrigung so stark sein müssen, daß die höheren
Höhen der Azoren, zum Mindesten der 7600 Fuß hohe Pik
von Pico, der doch jetzt im Winter eine leichte Schneedecke
trügt, sich selbst mit Gletschern bedeckte? Daun hätten aber
wohl irgend welche Spuren bleiben müssen, Abschleifung der
Unterlage, Moränen, Gletscherschramnicn oder dcrgl. Von
alledem scheint nichts vorhanden, und man wollte nichts
bemerkt haben. Ich darf natürlich kein endgültiges Urtheil
abgeben, meine Aufgabe war keine geologische, aber ich
mochte doch nicht versäumen, mein Scherflein zur Klärung
der interessanten Frage beizutragen.
Ein Spaziergang galt dem Monte Brazil, jenem
Tuffvulkan, der nur schmal mit dem Laude verbunden ist.
Im Hasen steht an einer Seite noch eine säulenartige Klippe
mit derselben Horizontalschichlung; es ist verwunderlich,
wie der einzelne Pfosten so lange der Fluth widerstehen
konnte. Der Weg zum Berge war glühend heiß und sonnen-
verbrannt, kaum noch eine Spur von Vegetation; gleichwohl
klebten zahlreiche Schnirkelschncckeu (Helix erubescens)
massenhaft an den trockenen Mauern. Den Portugiesen
war der Eintritt zum Fort gestattet, ebenso dem Ochsen-
karren, der das Wasser heraufführte; mir sah man wohl
gleich den Fremden au, man sistirte mich, bis mein Paß
geprüft war, eine merkwürdige Vorsicht, da der Berg weiter
oben keine Befestigung trägt. Die Wache, Artilleristen,
38
298
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
musterte meine Gläser und nahm sich wieder mit freudiger
Ueberraschung der Spinnen an. In Terceira liegt der
Stab der Jnselgarnisonen, Artillerie und Jäger, „Ea^adores".
Auf dem Berge war's ausnehmend heiß und trocken, Adler-
farn, Haide, Ginstergebüsche und einige wenige Gruppen
von Strandkiefern. Der Krater ist doppelt, zwei mulden-
artige Kessel, die dem Ackerbau gewonnen sind. Die regel-
mäßige Quadrirung der Mulden durch Steinwälle und
Zäune nahm sich eigenartig genug ans. Ich kletterte in
der Hitze umher und hoffte jenseits einen Weg zu finden,
der außen herumzuführen schien; vergeblicher Wunsch, die
Unterlage fällt überall in steilen, unersteiglichen Klippen
ab, eine Brutstätte der Seevögel, und ich war gezwungen,
rückwärts zu klettern. Einige Schiffskameraden halfen mir
gleich die massenhaften Arten von Heuschrecken fangen,
waren aber noch mehr auf die Feldgryllen erpicht, des Ge-
sanges wegen. Und der Wächter des Signalslaggenstockes
auf der Spitze, der unser Treiben beobachtet hatte, rief mich
bald mit lebhafter Geberde hinauf, um mir einen mächtigen
Rohrhalm zu überreichen, den er voll Gryllen gestopft hatte,
freilich unsere gemeine Art. Woher dieser Ueberfluß an
Heuschrecken? Gelegentlich werden Schwärme der afrikani-
schen Wanderheuschrecke herübergeweht, aber doch nur selten,
und meist ohne großen Schaden zu thun, da sie die Stärke
der Luftströmungen weiter treibt, zweifellos ins Meer. Der
Grund ist ein anderer, und ausfällig genug, um ihm ein
Paar Worte zu schenken. Terceira hat zwar mehr Nieder-
schläge als S. Miguel, wenigstens in den Hauptstädten,
und im Sommer so gut wie im Winter. Gleichwohl ist
die Zahl der Regentage im Sommer geringer, der Himmel
weniger bewölkt, kurz, das Klima nähert sich mehr dem
Kontinentalklima, gewiß bei der noch weiteren Entfernung
der Insel vom Festlande, unter derselben Breite, eine schwer-
erklärbare Erscheinung. Einige Daten aus einem acht-
jährigen Zeiträume, die ich dem Direktorium der Lissaboner
Sternwarte verdanke, mögen es verdeutlichen.
Regenmenge in Millimetern.
Ponta Delgada Angra do Heroismo
Frühling............ 222,0 238,6
Sommer................90,8 111,1
Herbst...............216,4 310,6
Winter.............. 326,2 385,2
Jahr................ 855,4 1045,5
Danach hat der Sommer ungefähr den gleichen Procent-
satz der jährlichen Niederschlagsmenge an beiden Orten, der
Herbst ist sogar in Angra relativ feuchter. Anders aber
stellt sich die Regenwahrfcheinlichkeit nach den folgenden
Beobachtungen:
Anzahl der Regentage.
Ponta Delgada Angra do Heroismo
Frühling............ 47,4 44,1
Sommer...............31,0 19,3
Herbst.............. 38,5 44,4
Winter.............. 60,0 55.3
Jahr............... 186,9 163,1
Relative Heiterkeit des Himmels.
Ponta Delgada Angra do Heroismo
Frühling ...... 2,9 5,4
Sommer............... 3,4 6,0
Herbst............... 3,2 5,5
Winter............... 2,4 4,6
Jahr................. 3,0 5,4
Danach entspricht die Regeuwahrscheinlichkeit an beiden
Orten in den verschiedenen Jahreszeiten ungefähr dem Ver-
hältniß der Niederschläge, außer im Sommer, wo sich der
Regen in Angra auf viel weniger Tage vertheilt. Ueber-
haupt aber ist die Bewölkung auf Terceira eine viel ge-
ringere und entsprechend die Verdunstung eine viel größere;
von Angra ist sie bloß für den Sommer bekannt und be-
trägt 484,7 mm, in Ponta Delgada erreicht sie im ganzen
Jahre 812,1mm, wovon 262 auf den Sommer kommen.
Ein solches Verhältniß scheint dem Relief der Insel wenig
angemessen. Die Erhebung des kompakteren, ovalen Eilandes
ist ungefähr dieselbe wie die von S. Miguel, und das
Gebirge ist in ähnlicher Weise in eine kleinere West- (Caldcira
de Santa Barbara) und eine größere Osthälfte (Caldeirno)
getheilt, nur ohne den trennenden, niederen Landrücken
dazwischen, und die Abbildung, welche Hartung vom Caldeirno
giebt, zeigt diesen durchaus mit Bäumen, zum Mindesten
mit reichlichem Strauchwerk erfüllt. Man sollte also eher
eine stärkere Entwässerung der an den Gebirgen aufsteigen-
den Luftmassen erwarten. So kaun denn schließlich der
Grund der merkwürdigen Verschiedenheit nur in dem Wechsel
der Winde gesucht werden, auf die ich unten zurückkomme.
Mit der Bewölkungsdifferenz harmonirt die verschiedene
Häufigkeit der Gewitter.
Anzahl der Gewitter.
Ponta Delgada Angra do Heroismo
Frühling............. 1,0 0,4
Sommer............... 0,7 0,3
Herbst............... 1,5 0,2
Winter.............. 2,4 1,3
Jahr................. 5,6 2,2
Danach sind sie selten genug, zumal auf dem heiteren
Terceira. Ich erlebte auf S. Miguel ein paar, die aber meist
in einigen wenigen sehr heftigen Donnerschlägen sich erschöpften.
Der letzte Sommer 1886 war übrigens, wie es schien,
auf den flämischen Inseln ganz besonders trocken, die
Zeitungen klagten darüber, und auf Fayal versicherte man,
daß es seit zwei Monaten nicht geregnet habe — Heu-
schreckenwetter.
Terceira wird wegen seines guten Wassers gerühmt.
Ich verfolgte die breite gemauerte Leitung eine Strecke weit,
man wusch und bleichte, und kleine Wassermühlen waren
eingeschaltet. Leider erlangte ich keinen Einblick in die zum
Theil sehr merkwürdigen natürlichen Kanäle. Sie werden
durch Ströme von Lava gebildet, die in besonders flüssigem
Zustande ausgequollen sein müssen; die äußere Kruste er-
starrte, während das Innere völlig ausfloß, so daß das hohle
Rohr übrig blieb, innen mit Kanten und Zacken, eine Tropf-
steinhöhle in Schwarz. Auch Ponta Delgada hat derartige
Galerien, die theilweise ins Meer sich öffnen, ein will-
kommenes Versteck den Schmugglern.
Endlich züchtet die Insel gute Esel und Rinder, und
wir luden sehr schöne Schlachtochsen ein, noch langhörniger
als die von S. Miguel. Zwei Gurte um den Bauch, ein
Seil um den Kopf, der seitlich zurückgebogen wird, so hob sie
der Krähn aus dem Boote hoch in die Lust, um sie im
Schiffsbaue!) verschwinden zu lassen, wo sie sogleich behaglich
an den Krippen Platz nahmen. Sie erinnerten an die
Kriegslist, die von den Insulanern einst gegen die landenden
Spanier gebraucht wurde. Wie Hannibal ans dem Engpaß
entkam mit Hilfe der Ochsen, so wurde den anstürmenden
Spaniern eine Ochsenheerde entgegengeschickt, die sie in Ver-
wirrung brachte, so daß den Terceirensern ein leichter Sieg
zufiel. Man könnte eine Beziehung finden wollen; nach
der einen Tradition sind die Azoren von Algarve aus be-
siedelt worden, Algarbier dienten aber bereits in Hannibal's
Heer (s. von Maltzan, Reise durch Algarve). Uebrigens ver-
suchten es die guten Azoreaner noch ein zweites Mal; die
Spanier aber wichen ans einander, ließen die Rinder durch
und hatten leichten Sieg. Hannibal soll seine List bloß
einmal gebraucht haben; der Insulaner ist schwerfälliger.
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
299
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
4. Die Schamane n.
(Zweite Hälfte.)
Weiter werden die Gefäße in geweihtem Wasfer abge-
spült, dabei zaubern am frühen Morgen alle Schamanen,
rufen die Göttter an und verspritzen Branntwein zu deren
Ehren; damit die Angelegenheit schneller erledigt werde,
opfern verschiedene Schamanen gleichzeitig verschiedenen
Gottheiten.
Der junge Schamane wiederholt die ihm vorgesagten
Worte des Gebets; bisweilen klettert er auch an der Birke
bis an das Dach der Jurte und ruft hier die Gottheiten an.
Nun gehen alle hinaus auf die Straße; vier Schamanensöhne
tragen an den vier Zipfeln eine Filzdecke mit dem Hand-
werkszeug der Schamanen; dabei singen sie laut und schreien.
An der Thür der Jurte machen sie ein Feuer und zünden
Fackeln an, um die herausgetragenen Sachen gleichsam zu
reinigen.
Voran schreitet der Schamanen-Vatcr, hinter ihm der
junge Schamane und die neun Söhne, dann folgt die
Verwandtschaft und die Gäste; sie gehen einen bestimmten
vorher abgesteckten Weg. An einer bestimmten Stelle,
woselbst eine der gefällten Birken aufgerichtet ist, wird Halt
gemacht; alle setzen sich feierlich nieder um ihren Kessel, in
dem Wasser gekocht wird. Ein Ziegenbock wird herbeigeführt,
erstochen und mit dem Blute, das herausquillt, dem jungen
Schamanen, der ohne Hemd dasitzt, Kopf, Augen und Ohren
bestrichen, während ein anderer Schamane unterdessen auf
der Maultrommel spielt; die neun Söhne tauchen ihre
Besen in das Wasser, schlagen damit auf den entblößten
Rücken des jungen Schamanen, zaubern immerfort und thun
allerlei Fragen.
Damit ist die eigentliche Weihe des jungen Schamanen
beendigt. Es werden dann noch unter fortgesetzter Zauberei
neun Opferthiere mindestens, mitunter auch viel mehr, bis
60 Thiere, gctödtet, wobei der junge Schamane nun schon
ganz in die Rechte der Alten eintritt und in gleicher Weise
die Gottheiten anruft.
Bei den Burjäten von Balagansk wird der Schamane
erst neunmal ans einer Filzdecke um die Birke getragen;
dann muß er ans jede der neun Birken hinauf klettern, dabei
aber während des Kletterns neun Kreise machen; oben muß
er dann immerfort zaubern. Dabei wird natürlich auch
unter bestimmten Ceremonien gegessen und getrunken: alle
Schamanen stellen sich in einer Reihe auf, in den Händen
halten sie ihre Schale mit Fleischbrühe und Fleischstücken;
sie rufen die Gottheiten an, werfen das Fleisch in die Höhe,
gießen die Brühe ins Feuer — nun kostet der Schamane
von den zubereiteten Braten der verschiedenen Thiere und
giebt dadurch das Zeichen zum allgemeinen Schmause.
Dabei wird gehörig getrunken. Der Schamane begiebt sich
mit seinen neun Söhnen endlich in die Jurte, und das
versammelte Volk geht zu allerlei Spielen über, welche mit-
unter einen religiösen Charakter tragen.
Am anderen und dem nachfolgenden Tage werden dann
noch einige nachträgliche Sonderopfer speciellen Gottheiten
dargebracht.
Die Bestattung eines Schamanen und die Gebräuche
bei Bestattung eines gewöhnlichen Burjäten sind sehr ver-
schieden. Der erkrankte Schamane ruft die Götter an —
fühlt er, daß er sterben wird, so sagt er seinen Tod voraus
und verkündigt sein späteres Schicksal, wohin er gelangen
wird, daß er selbst ein Gott werden wird. Aber ein Scha-
mane, der sich irgend eines Vergehens schuldig weiß, erhält
seinen Lohn: er wird nach dem Tode in das Gefängniß
Erlen-Tama, unter Aufsicht der Erju-Chara-noen gesperrt
und in Ketten gelegt. Einzelne Schamanen geben auch
Vorschriften für ihre Bestattung.
Die Leiche des Schamanen wird mit Wasser, dem Riech-
stoffe beigemengt sind, gewaschen, dann bekleidet; zuerst mit
einem langen Gewände, dann mit einem Pelz, beides oft
aus Seide. Ueber den Pelz wird der Orgoi, eine Art
Obergewand, gezogen; gewöhnlich besteht dasselbe aus blauem
Seidenzeug, so bei den schwarzen Schamanen, während die
weißen Schamanen ein Obergewand aus weißem Calicot
bekommen, vielleicht auch aus weißer Seide; dazu kommt
ein Gürtel aus rother Seide. Alles, auch das Anfertigen
der Gewänder, besorgen die Männer; die Weiber werden
dabei nicht zugelassen. Die so bekleidete Leiche wird ans
einen Tisch gelegt, die Zeichen der Würde, die Ausrüstung
daneben; drei Lichte stehen zu Häupten und zu Füßen.
Oder man setzt die Leiche mit untergeschlagenen Beinen hin
und stellt ein Licht davor. So bleibt sie drei Tage, während
neun junge Burjäten Beerdigungsliedcr singen, in welchen
das Leben und die Thaten des Verstorbenen gepriesen
werden.
Zur Beerdigungsfeierlichkeit eines Schamanen kommen
viele Menschen und viele Schamanen zusammen: vor allem
alle seine Klienten, d. h. alle diejenigen Personen, bei denen
er gezaubert hat; sie bringen alles das zurück, was er ihnen
geschenkt hat, und binden es an die Pferdestöcke; ferner
bringen sie Opferthiere und Geld, um damit die Unkosten
der Feierlichkeit zu decken.
Die erschienenen Schamanen rufen die Gottheiten an,
zeigen die Stelle, wo die Leiche begraben werde, und geben
an, was für ein Pferd hergerichtet werden soll. Drei Tage
lang, während die Leiche im Uluß (Dorf) liegt, wird stark
mit Thymian, Roßmarin und Fichtenrinde geräuchert,
während die Alten des Dorfes mit Glocken läuten und die
Trommeln schlagen. Am Ende des dritten Tages wird
Tarassun (Milchbranntmein) bereitet, Schafe werden gelobtet;
das Fleisch gekocht und in Säcke verpackt, um an den Ort
der Verbrennung der Leiche gebracht zu werden.
Das Pferd, welches die Leiche tragen soll, wird auch
möglichst geschmückt; oft sind Sattel und Zügel versilbert,
am Halse hängen Glocken, ein viereckiges Stück Zeug (weißer
Calicot oder blaue Seide) mit Glocken verziert bedeckt fast
das ganze Pferd. Drei Tage nach erfolgtem Tode wird die
Leiche auf das geschmückte Pferd gesetzt, hinter ihr sitzt ein
alter Mann, während ein anderer das Pferd am Zügel
führt. Immerfort erschallen dabei die Glocken und Trommeln.
Dreimal wird die Leiche um das versammelte Volk herum-
geführt, dann geht der Zug hinaus aus dem Dorfe.
Ein Burjäte eröffnet den Zug; er hält in den Händen
eine kleine Birke, welche mit Thierfellen behängt ist; dann
folgt das Pferd mit der Leiche des Schamanen, umgeben
von den neun Schamanensöhnen, und schließlich der zahlreich
38*
300
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
berittene Haufe der Begleiter. So oft der Zug au eine
Stelle gelaugt, au welcher — wie man meint — die todten
Schamanen oder ihre Seelen während ihrer Wanderschaft
stille halten, hält er gleichfalls eine Weile an. Eine solche
Stelle ist an den drei daselbst aufgerichteten Säulen kenntlich.
An die Säulen werden Thierhäute gebunden, dann wird
gegessen und getrunken und nun geht es weiter. Jetzt wird
wieder gehalten, um eine neue Station (Barsa) für den
eben gestorbenen Schamanen zu errichten; eine Säule wird
gesetzt und mit Häuten und Glocken behängt; und wieder
wird gegessen und getrunken und den Gottheiten Brannt-
wein gespritzt.
Endlich ist der Hain erreicht, wo die feierliche Ver-
brennung der Leiche stattfinden soll. Man nimmt die Leiche
voni Pferde und bettet sie auf Filz, damit sie nicht durch
Berührung mit der Erde unrein werde; das Gesicht wird
dabei nach Süden gewandt. Die neun Schamanensöhne
gehen singend um die Leiche; unterdessen werden alle mit-
gebrachten Vorräthe und Sachen aufgestellt.
Nun wird ein großer Scheiterhaufen aus frisch ge-
schlagenen Kieferstämmen hergestellt; obenauf werden
Kieserzwcige gelegt und mit einer Filzdecke bedeckt, dann
wird die Pferdedecke darauf gethan und zuletzt die Leiche
des Schamanen; unter den Kopf legt man den Sattel,
dazu die Zügel, einen Bogen und einen Köcher mit acht
Pfeilen; weiter thut man noch einige Scheite Holz darauf
und nun wird der Haufen angezündet. Die Zeichen der
schamanischen Würde aber und die Ausrüstungsgegenstünde
werden rings herum an die Bäume gehängt.
Ist das Alles beendigt, so wird mit Branntwein und Fleisch
geopfert, gegessen und getrunken. Dann werden dem Pferde,
welches die Leiche trug, ein paar Einschnitte an dem Kopf
und am Rücken gemacht, dasselbe durch einen Messerstich
zwischen die Halswirbel getödtet und ihm der Bauch auf-
geschlitzt. Dann wird es entweder an einem anderen Orte
verscharrt oder einfach liegen gelassen.
Jetzt machen sich alle fertig zur Rückkehr — auf dem
Wege aber darf sich Niemand umsehen, sonst nimmt der
Schamane den Neugierigen sofort zu sich in den Himmel.
In der Hütte, welche der Schamane bewohnte, bleiben
die neun Söhne drei Tage und drei Nächte und singen
immerfort Grablieder, wobei sie um einen Tisch gehen, ans
welchem ein Licht brennt. Nach Ablauf dieser drei Tage
kommen alle Schamanen, die Verwandten des Verstorbenen
und die Miteinwohner des Dorfes noch einmal zusammen;
es wird abermals eine große Menge Schafe, auch ein Pferd
getödtet, das Fleisch gekocht, dann geht es hinaus ans den
Verbrennungsplatz, um hier in ähnlicher Weise zu verfahren,
wie früher: cs wird gegessen, getrunken, es werden die Götter
angerufen, darunter auch der eben Verstorbene, denn nun ist
er ein Gott.
Die nächsten Verwandten des verstorbenen Schamanen
sammeln die Knochen der verbrannten Leiche, zuerst den
Schädel, dann die übrigen Knochen, und stecken sie in einen
Sack aus blauer Seide oder aus weißem Calicot, je nachdem
der Verstorbene ein schwarzer oder ein weißer Schamane war;
der Sack mit Knochen wird in die eigens dazu gemachte
Höhlung eines unversehrten Kieferstammes gelegt und die
Höhlung sorgfältig verschlossen; der Baum heißt dannBegi-
Kiefer, d. h. die Kiefer des Schamanen, und man meint,
nun wohne der Verstorbene in dem Baume. Derselbe gilt
als heilig und unantastbar; wer ihn fällt, geht mit seiner-
ganzen Familie zu Grunde.
Daß zum Schluß viel gegessen und getrunken wird, ist
vorauszusehen.
Die Sch amanen-H aine, die Stellen, wo Schamanen-
leichen verbrannt und bestattet wurden, sind leicht erkennbar:
inmitten einer vollkommen waldlosen Ebene erheben sich
einzelne Baumgruppen, welche daher schon von weitem sicht-
bar sind; oft stehen sie auf kleinen Erhöhungen. Jedes
Dorf hat seinen eigenen Hain („Aicha"); der Ort ist heilig,
kein Baum darf dort gefällt werden; die Rache, der Tod
bleibt sonst nicht aus. Eigentlich soll in jedem Haine unr-
ein Schamane bestattet werden, aber dieses Verfahren wird
nicht streng eingehalten.
Nach der Ueberzeugung der Burjäten erhebt sich die
Seele des verstorbenen Schamanen mit dem Ranch des
Scheiterhaufens in den Himmel nnd beginnt dort ein an-
genehmes Leben wie die Götter zu führen, das dem irdischen
Leben völlig gleich ist. Doch ist der Verstorbene besorgt
um seine auf der Erde zurückgebliebenen Verwandten, ver-
theidigt sie gegen die bösen Geister, beschirmt und beschützt
namentlich einen Knaben aus seinen Verwandten, der einst
auch Schamane werden soll. Bisweilen aber vergißt der
Verstorbene die Seinen, infolge der Freuden des Himmels
oder weil seine Fürsprache umsonst ist — dann muß durch
erneute Opfer seine Aufmerksamkeit wieder rege gemacht werden.
Bemerkenswerth ist, daß alle Sachen und Gegenstände
des Verstorbenen mit ihm verbrannt werden; daran knüpft
sich die Vorstellung, daß auch jene Sachen mit dem Ver-
storbenen im Jenseits ein neues Leben beginnen — ein
ewiges Leben, in welchem sich nichts verändert. Hiernach
scheint es, als ob die Burjäten nicht allein dem Menschen,
sondern auch allen Gegenständen eine Seele zuerkennen.
Nach anderen Mittheilungen ist der Aufenthalt der
Schamanenseelen nach dem Tode ein etwas beschränkter; die
Seelen sind den großen Gottheiten einfach untergeordnet,
bald den guten, bald den bösen.
Statt der Verbrennung der Schamanenleichen und der
Einschließung der Knochen in einen lebenden Baum wird auch
noch ein anderes Verfahren beliebt, nämlich die Leiche ans ein
„Aranga" gestellt. Ein vom Blitz Getödteter wird einem
Schamanen gleich geachtet, man bestattet ihn wie eineScha-
nianenleiche. An der Stelle, wo das Unglück stattfand, er-
richtet man ein Zelt, die Leiche wird ans Bretter gelegt und
mit Wasser begossen, weil man annimmt, dann kehre das
Leben zurück. Ist das Wasser ohne Wirkung, so kleidet
man die Leiche wie die eines Schamanen; drei Tage und
Nächte singen die neun Schamanensöhne Grablieder, dann
wird die Leiche in den Wald geführt, nicht nach Hause.
Nachdem nun Alles hergerichtet ist, setzt man die Leiche nach
drei Tagen auf ein Pferd und bringt sie unter denselben
Ceremonien, wie die eines Schamanen, in den heiligen Hain.
Hier wird eine besondere Vorrichtung gemacht: Man wählt
eine Anzahl dicht bei einander stehender Bäume aus und
vereinigt sie in einer Höhe von 2 bis 4 Sashen (4 bis 8 m)
von der Erde durch Balken, so daß eine Art Gerüst zu
Stande kommt. Dieses heißt eben „Aranga" ; auf dasselbe
legt man die in einen Sarg eingeschlossene Leiche des Ver-
storbenen.
Auf eben solches Gerüst legt man auch die Leichen der
vom Blitz getödteten Thiere, doch nicht im Schamanen-
haine, sondern an der Stelle, wo sie umkamen.
Jetzt werden nur die Leichen der Schamanen verscharrt,
in früherer Zeit geschah dies aber mit allen Burjäten. Die
Leichen wurden gut gekleidet, mit Lebensmitteln und Wasser-
ausgerüstet, in gleicher Weise, wie jetzt die Schamanenleichen,
ans einen Scheiterhaufen gelegt und verbrannt. Mitunter
verscharrt man auch das Pferd des Verstorbenen. Nach
drei Tagen kehrten die Angehörigen zur Brandstelle zurück,
sammelten die Knochen, legten sie in ein Gefäß aus Birken-
rinde und vergruben die einfache Urne in die Erde.
Die Anwendung dieses einfachen Birkengefttßes ist wohl
erklärlich aus der besonderen Achtung, welche die Burjäten
Aus allen Erdtheilen.
301
der Birke als einem heiligen Baume bezeugen; vielleicht
besaßen sie früher auch keine irdene Töpfe. Wohl werden
noch heute im Gebiete der Burjaten irdene mit Brandknochen
gefüllte Töpfe gefunden, aber diese gehören unbedingt einem
anderen Volksstamme an, welcher auf einer höheren Stufe
der Kultur stand, als die heutigen Burjaten. Die Ver-
treter dieses untergegangenen Volkes wurden von den Russen
als „Mungalen“ von den Burjaten als Chinesen oder Cha-
ramongolen bezeichnet.
Jetzt werden die Leichen aller Burjaten begraben.
Die Leiche wird gewaschen und in die besten Gewänder gehüllt;
in die Taschen steckt man silberne Münzen, Pfeife und Tabak,
daneben stellt man Lebensmittel, Brot und Milch; Messer,
Bogen und Pfeil fehlen nicht. Man legt die Leiche in
einen Sarg, doch nicht immer. Bringt man sie ohne Sarg
in das Grab, so wird zuerst eine Filzdecke untergebreitet
und ein Sattel daneben gelegt. Hat die Leiche aber einen
Sarg, so wird die Filzdecke, der Sarg und das getödtete
Pferd zusammen auf einem Scheiterhaufen verbrannt.
Auf die zugeschüttete Grube stellt man eine zerschlagene
„Arb a", einen zweiräderigen einfachen Wagen, dessen Räder
ausgebrochen sind; man verbindet damit dieselben Vor-
stellungen, wie bei Verbrennung oder Vernichtung anderer
Gegenstände; die Sachen werden hier zerstört, wie der
Mensch starb, um jenseits aufzuleben, wo der Mensch weiter
fortlebt.
An den zerbrochenen Rädern, welche hier und da aus
der Erde vorragen, sind die Grabstätten der Burjaten leicht
zu erkennen; sie liegen in Einsenkungen der Gegend oder
an den Abhängen in Erhebungen nahe den Schamanen-
hainen.
Drei Tage nach der Bestattung trauern die Angehörigen,
nehmen keine Arbeit vor, machen keine Reise — es sind
Trauertage, schwarze Tage (Chaura-boro); während
dieser Zeit eilt die Seele des Verstorbenen um das Hans
herum und besucht die Verwandten. Ist die Zeit der Trauer
vorüber, so halten die Angehörigen eine Art Trauermahl
zum Gedächtniß an den Todten: Schafe werden geschlachtet,
Milchbranntwein bereitet und alle Bekannten werden be-
wirthet.
Aus allen
Europa.
— Im September ist die durch ihre ausgedehnten See-
reisen und populären Reiseschildcrnngen bekannte Lady Annie
Brasset) an Bord ihrer Pacht „Sunbeam" ans der Fahrt
von Port Darwin nach Mauritius in Folge von Malaria-
Fieber gestorben und auf offener See bestattet worden. Von
ihren Büchern, die weite Verbreitung fanden und auch ins
Deutsche übersetzt wurden, nennen wir „A Voyage in the
Eothen“ (1872); „Voyage in the Sunbeam“ (1878),
eine Reise um die Welt, und „Sunshine anck Storm in
the East; or Cruises to Cyprus and Constantinople“
(1880). Die letzte Reise des „Sunbeam" wurde im No-
vember 1886 angetreten und führte über Ostindien nach
verschiedenen Häfen Hinterindieus und Australiens; auf der
Heimfahrt starb die Lady.
— In St. Petersburg leben, wie kürzlich angestellte
Erhebungen dargethan haben, gegen 38 000 Juden; sie
betreiben nur vortheilhafte Erwerbszweige und Handels-
operationen; mit Journalistik beschäftigen sich gegen 300.
(Nowoje Wrjemä.)
— Professor Dr. Palmen und Dr. Kilmann, welche
während des verflossenen Sommers die Halbinsel Kola
naturwissenschaftlich erforscht haben, sind kürzlich nach Helsing-
fors heimgekehrt und haben in einer Sitzung der dortigen
naturforsch enden Gesellschaft bereits einen Reisebericht abge-
stattet. — Auch Professor Aspel in ist von seiner Reise zu
dem Quellgebiet des Jenissei heimgekehrt; er hatte sich
im Auftrage der archäologischen Gesellschaft dahin begeben,
um archäologische Untersuchungen anzustellen.
— N. I. Kusnezew ist vor Kurzem nach St. Peters-
burg zurückgekehrt, nachdem er im Laufe des letzten Jahres
an der „Nord-Expedition" Theil genommen und nament-
lich einige Lokalitäten am nordöstlichen Abhänge der nörd-
lichen Urals untersucht. Die Nord-Expedition, welche von
der russischen Regierung zu mineralogischen Forschungen im
Ural ausgesendet ist, ist bereits seit einigen Jahren thätig.
— Die Petschora-Expedition ist auf dem Landwege
über Mesen Ende Juli heimgekehrt. Die acht Mitglieder
Erdtheilen.
derselben rückten von Tschadyn (gelegen an einem links in
die Kama mündenden Nebenfluß) auf zwei großen Booten
aus; sie erreichten glücklich die Wasserscheide zwischen dem
Stromgebiet der Kama und der Petschora, mußten 30 Kilo-
meter weit die Boote durch Pferde schleppen lassen und
konnten dann wieder die Petschora stromabwärts fahren.
Nach den Mittheilungen einiger Mitglieder der Expedition
ist eine Verbindung der beiden Bassins der Kaum und der
Petschora durch eine Handelsstraße sehr leicht möglich. Der
Boden im Gebiet der Wasserscheide ist fest, Berge sind nicht
vorhanden und Material zum Straßenbau giebt es genug.
Im Petschora-Bassin leben gegen 40 000 Menschen, welche
aus dem Kamagebiet Brot, Eisen, Manufaktur-Waaren u. s. w.
beziehen. Aus dem Petschora-Gebiete werden ausgeführt:
Fische, Felle, Wild, Cedernüsse und Thran. Die Erzählungen
in Betreff der mineralogischen Reichthümer der Gebiete sind
übertrieben. Die Ortschaften Jshma, Pustooserje und Ustzilma
sind recht wohnlich; im Allgemeinen aber lebt die Bevölkerung
in Armuth und Schmutz. Die Viehzucht ist lvenig ent-
wickelt, trotzdem daß Wiesen in Menge vorhanden sind. Die
Renthierzucht geht allulählich aus den Händen der Samojeden
in die der russischen Bauern über, und es kommt nicht selten
vor, daß die früheren Renthierbesitzer bei den Bauern als
Hirten sich vermiethen. Mau zählt in: ganzen Gebiete gegen
250 000 Reuthiere, so daß in einigen Tundren kein Raum
mehr vorhanden ist; viele Thiere gehen in Folge der sibirischen
Pest zn Grunde. Die Samojeden gelten als geschickte Hirten;
eine aus fünf Gliedern bestehende Familie hütet 1000 Ren-
thiere für einen Lohn von 40 bis 50 Rubel (80 bis 100 Mark)
jährlich. (Kronstädter Bote.)
Asie n.
— Der gelehrte Reisende und Kaukasnsforscher N. I.
D i n n i k hat einige Jahre hindurch Reisen in: west-
lichen Kaukasus gemacht um naturwissenschaftlicher For-
schungen willen; in der letzten Zeit hat er sich insonder-
heit mit der Untersuchung der Gletscher beschäftigt. —
302
Aus allen Erdtheilen.
Ein anderer Reisender, K. N. Rossiko w, der gleich-
falls sich der Erforschung des Kaukasus gewidmet hat, hat
in letzter Zeit die Gebirgsgegenden, welche östlich von der
grusinischen Militärstraße lagen, untersucht, und hat ferner
die gebirgige Gegend der Tschetschna und das westliche
Dagestan bereist und bedeutende Resultate erzielt. — Ueber
diese Untersuchungen wird der kaukasischen Abtheilung der
K. R. Geogr. Gesellschaft nächstens ein ausführlicher Bericht
zugehen.
— Die Mitglieder der vom ostsibirischcn Generalgouver-
ueur Graf Jgnatjew nach der Mongolei abgefertigten Expe-
dition, Generalstabsoberst Bobyr, der Astronome und Geologe
Makaro w und einige Topographen, werden in diesen Tagen
in St. Petersburg erwartet. Ihre Aufgabe war, das Sa-
janische Gebirge in der Umgebung von Munku-Sardyk und
am Kossogol geologisch und geographisch zu untersuchen.
— Die Mitglieder der Expedition, welche im Aufträge
der russischen Regierung vorläufige Untersuchungen über die
Richtung der projektirten sibirischen Eisenbahn an-
stellen sollen, sind schon in Tomsk eingetroffen und haben
ihre Arbeiten begonnen. Zuerst soll die Strecke von Tomsk
bis Atschinsk (Gonv. Jeuisseisk) in Ostsibirien untersucht
werden; inan hofft, daß das noch vor Eintritt des Winters
geschehen wird. Im nächsten Jahre soll dann mit den eigent-
lichen Bahnarbeiten begonnen werden.
— In Rangun ist ein Bericht von Herrn Jones,
Hilfs-Superintendent der geologischen Untersuchungen in
Indien, über Kale, ein Kohlenfeld am Flusse Tschindwin
in Oberbirma, veröffentlicht worden. Das Terrain ist
nur ein kleiner Theil von dem, was ein viel größeres Kohlen-
feld zu sein verspricht, denn Kohlen werden an sänuntlichen
Flüssen gefunden, die sich am rechten Ufer in den Tschindwin
ergießen. Die Kohlen sind von ziemlich guter Qualität, und
die Lage ist wegen der Wasserstraße der Ausbeutung günstig.
Obwohl die Kohle noch nicht chemisch untersucht ist, so hat
sie doch beim Gebrauch ans den Flnßdampfern befriedigt.
Ihr großer Fehler ist, daß sie sich sehr leicht entzündet, da
sie kleine Adern von fossilem Harz enthält. Gegenwärtig
scheint es, als ob die vorhandenen Arbeitskräfte den An-
fordernngen genügen werden, aber zum Beginn müßte eine
Anzahl gelernter Bergleute aus Indien importirt werden,
um die Eingeborenen in der Arbeit zu unterrichten. Die
Bewohner in der Umgegend der Kohlenfelder werden als
freundlich und zuvorkommend geschildert, und es scheint auch
kein früheres Recht ans die Kohlengruben zu existiren.
Afrika.
— Der Jahresbericht der Deutschen Kolonial-
gesellsch aft für Süd Westafrika konstatirt von neuem,
daß die Gesellschaft vorläufig selbständige Unternehmungen
zur Ausnutzung ihres Landes nicht beabsichtigt. Dagegen
hat die Gesellschaft einige Namengebungen vorgenommen:
die Bucht Angra Pequena hat zrnn Andenken an den ver-
schollenen Adolf Lüderitz den Namen „Lüd er itzb nch t" erhalten.
Um ihr Besitzthnm geographisch zu bezeichnen und es von
dem gleichfalls unter deutschem Schutze stehenden, aber selb-
ständigen Hinterlande (Groß-Nama- und Damara-Laud) zu
unterscheiden, hat sie für den südlichen Theil vom Oranje-
bis zum Swakop-Fluß den Namen „Deutsch-Nama-Land"
und für den nördlichen Theil bis zur portugiesischen Grenze
den Namen „D e u t s ch -D a m a r a-L a n d" angenommen. Er-
wähnenswert!) ist ferner, daß der Gesellschaft demnächst
Hoheitsrechte verliehen werden dürften, und daß sie fünf au-
stralischen Goldgräbern Erlaubniß ertheilt hat, in einem be-
stimmten Bezirke auf Edelmetalle und Edelsteine zu schürfen.
— Pechuöl-Lösche, Congoland. I. Amtliche Be-
richte und Denkschriften über das belgische Congo-Unter-
nehmen. II. Unterguinea und Cougostaat als Handels- und
Wirthschaftsgebiet, nebst einer Liste der Faktoreien bis zum
Jahre 1887. (Jena, Costenoble, 1887. 80. XXXX und
S. 521.)
Unsere schnelllebige Zeit hat den Streit Pechuel- Lösche
contra Stanley, der so viel Aufsehen erregte, schon wieder
beinahe vergessen, aber die von Pechuel-Lösche vertretene An-
sicht über den Congostaat und seine Aussichten sind mittler-
weile ziemlich allgemein die herrschenden geworden, und mit
Ausnahme der zunächst dabei Betheiligten, die wohl oder übel
bei dem Unternehmen ausharren müssen, und es darum auch
noch preisen und loben, glaubt kein Mensch mehr recht an die
großen Schätze, die im Congogebiete nur des Abholens harren.
In dem Streite hatte die Leitung der belgischen Association
angebliche Berichte Pechuel-Lösche's veröffentlicht, die seinen
späteren Erklärungen direkt widersprachen. Er erklärte da-
mals sofort, daß diese Berichte theils tendenziös aus dem
Zusammenhange gerissen, theils geradezu gefälscht seien, und
daß er zu seiner Rechtfertigung die Berichte unverkürzt zum
Abdruck bringen werde. Das geschieht in dem vorliegenden
Buche, aber der Autor hat sich glücklicher Weise damit nicht
begnügt, sondern giebt in einem, den ersten an Umfang über-
treffenden zweiten Theile einen erschöpfenden Bericht über den
Congostaat und seine Bewohner, über die wirthschaftlicheu
und commerciellen Verhältnisse daselbst und über die Entwicke-
lung, welche das Unternehmen seither unter der belgischen
Leitung genommen. So ist das Buch zu einer sehr werth-
vollen Bereicherung der afrikanischen Litteratur geworden und
Niemand, der sich ernstlich mit den Zuständen Innernfrikas
beschäftigt, wird es entbehren können.
Als Einleitung ist eine Geschichte des Congostaates vor-
ausgeschickt; sie beginnt mit der internationalen Konferenz in
Brüssel am 12. bis 14. September 1876 und den Ver-
handlungen, die mit Stanley im November 1878 eingeleitet
wurden und zur Bildung des Comité d’Etudes du Haut
Congo führten. , Daß Herr Stanley dabei nicht immer
glimpflich behandelt wird, kann nicht wundernehmen, aber
auch rvenn man die Animosität des Verfassers gegen ihn in
Betracht zieht, bleibt immer noch genug übrig, um zu beweisen,
daß man ein kühner Reisender und Entdecker sein und doch
gleichzeitig nicht das mindeste Talent für eine geordnete Ver-
waltung haben kann. Noch viel schlimmer kommen freilich
die Herren weg, welche die eigentlichen Faiseure des ganzen
Unternehmens sind und es verstanden haben, den König von
Belgien nach rmd nach zur Hergäbe von 15 Millionen Franken
— so viel kostet das Unternehmen bis jetzt — ju bewegen,
ohne so viel zu erreichen, wie z. B. die Baptistenmissionare
mit kaum einem Hundertstel dieser Summe.
Doch der „Globus" hat mit dieser Polemik eigentlich
nichts zu thun. In der zweiten Abtheilung hat dagegen der
Autor eine Anzahl von ihm gehaltener Vorträge in zeitgemäßer
Uinarbeitnng und Vervollständigung zum Abdruck gebracht,
welche zum Theil noch gar nicht, zum Theil nicht in ihrem
ganzen Umfange veröffentlicht worden sind. Sie behandeln:
Handel und Produkte Unterguineas; — das Gebiet des
Kuiln-Nyadi; —den Gebirgslauf des Congo;— die Geologie
des westlichen Congogcbietes und besonders den Laterit; —
die Vegetation. Von besonderem Interesse sind die Schluß-
betrachtungen über das innere Congoland, in welchen der
Antor die Resultate der neuesten Forschungsreisenden und
ihre Aeußerungen über das Land zusammenstellt. Das da-
durch entstehende Bild ist nicht sonderlich tröstlich. Wo die
Reisenden, welche die Flüsse befuhren, üppigen Urwald und
unerschöpfliche Fruchtbarkeit zu erkennen glaubten, dehnt sich
in geringer Entfernung vom Ufer schon der Laterit mit seiner
Aus allen Erdtheilen.
303
Stcppcnvegetation aus; wirklich fruchtbare Gebiete haben die
zu Lande reisenden Forscher nur im fernen Südosten, im
Scengebiete, gefunden; die schmale Zone längs der Flußufer
wird vielfach durch Sümpfe unbewohnbar gemacht. Der
Behauptung, daß das Innere gesünder sei, als das Küsten-
land, fehlt bis jetzt jede Begründung; von den Beamten der
Stationen am Congo hat noch keiner seine drei Jahre in
voller Gesundheit ausgehalten. Wirkliche ausgedehnte Wälder,
mit Ausscheidung der Wasserwälder, welche die oberirdischen
und unterirdischen Wasserläufe begleiten, finden sich außer im
Sumpfgebiete des Südostens höchstens an zwei Stellen, am
Zusammenstusse des Lnbi und des Lubilasch und an dem des
Lulua und Kassai; Wißmaun's entgegenstehende Behauptungen
werden theilweise ans seinen eigenen Reiseberichten, sonst aus
den Berichten anderer als unbegründet nachgewiesen, ebenso
seine Angaben über die allgemeine Verbreitung des wilden
Kaffcebanmes, den kein anderer gesehen hat. Treffend ist die
Bemerkung, daß, wenn von der Zukunft des Congostaates die
Rede ist, nicht Indien oder gar das Mississippibecken zum
Vergleich herangezogen werden dürfen, sondern viel eher Süd-
amerika. Wenn dort am Amazonas und Orinoko trotz gün-
stigerer Verhältnisse und ungehinderter Verbindung mit dem
Meere immer noch kein zweites Indien hat entstehen wollen,
wie soll das am Congo entstehen, dem erst mit riesigen Kosten
eine immer kostspielig bleibende Eisenbahnverbindung zum
Meere geschaffen werden müßte, und von dessen Produkten
nur das rasch an Menge abnehmende Elfenbein höhere
Transportspesen verträgt? Auch ist der Congo den amerika-
nischen Strömen als Handelsweg durchaus nicht vergleichbar,
er gestattet nur kleinen Schiffen von ganz geringem Tief-
gänge freie Fahrt durch das ganze Jahr, und auch diesen nur
bei größter Vorsicht. Für die Hauptstapelartikel, Sesam,
Palmöl, Palmkerne und Erdnüsse, würde sich die Eisenbahn-
fracht selbst beim allerbilligsten Frachtsätze allein schon höher
belaufen, als ihr gegenwärtiger Werth an der Küste; an ein
Steigen der Preise ist aber nicht entfernt zu denken, jede
Erhöhung der Produktion muß dagegen die Preise noch weiter
herabdrücken. Als Frachtartikel können nur Elfenbein,
Gummi und Kopal erster Sorte in Betracht kommen, und
die würden in absehbarer Zeit kaum genügen, um wöchentlich
einen Zug der Congoeisenbahn zu befrachten.
Es wird eben ein neuer Versuch gemacht, dem belgischen
Congounternehmen durch eine Anleihe wieder ans die Beine,
vielleicht richtiger den seitherigen Faiseuren aus der Klemme
zu helfen; die für die Anleihe gewählte Form schließt sie
glücklicherweise von Deutschland ans, aber in anderen Ländern
wäre ein eingehendes Studium des vorliegenden Werkes
sehr zu wünschen; es könnte manchen vor Schaden bewahren.
— Kapitän Van Gè le hat seinen Versuch, vom Jtim-
biri aus zum Nelle vorzudringen (s. oben S. 255), bald
aufgeben müssen; er gelangte bei den Lubi-Füllen in eine
vollständige Einöde, wo an eine Vcrproviantirnng nicht zu
denken war. Er ist in Folge dessen nach dem unteren Congo
zurückgekehrt, um neue Verhaltungsmaßregeln einzuholen.
Vielleicht wird er Ende September im Dampfer „En Avant"
einen neuen Versuch machen.
— Das französische Marincministerium veröffentlicht eine
Depesche, wonach das Kanonenboot „Niger", Kommandant
Schiffslicnt. Caron, Kabara, den Hafen von Timbuktu
erreicht hat (vergl. oben S. 64) und dann nach Bammaku
zurückgekehrt ist.
Australien.
— Die Zahl der Chinesen, welche zur Zeit in Queens-
land leben, beläuft sich bei einer Bevölkerung (ohne die
Eingeborenen) von 350 500 ans rund 9000. Die allgemeine
Erbitterung gegen sie, die bei ihrer einfachen und schmutzigen
Lebensweise viel billiger arbeiten können als Europäer, und
gewisse Handwerke, wie die Tischlerei, fast ganz in ihre Hände
gebracht haben, ist im Steigen. Bisher mußte jeder die
Kolonie betretende Chinese eine Kopfsteuer von 30 Pfd. St.
entrichten, jetzt aber wird ans öffentlichen, stark besuchten
Meetings stürmisch verlangt, daß dieselbe ans 100 Pfd. St.
gesteigert werde und daß außerdem jeder Chinese zur Zah-
lung einer jährlichen Aufenthaltsstener verpflichtet sein solle.
Jedenfalls wird das Parlament eine Erhöhung eintreten
lassen.
— Daß in Australien auch Edelsteine cxistiren, ist
bekannt, in der Kolonie Neu-Süd-Wales werden Diamanten,
Rubine, Saphire, Granaten u. s. w. gefunden. David
Lind sah brachte von seiner letzten Forschungsreise in
Centralaustralien auch Rubine und Granaten, welche ans
der Umgebung der McDonnell Ranges (in 23° 30' südl.
Br. und 133° 30' östlich von Gr.) stammten, zurück und
ließ sich dann von der südaustralischen Regierung einen
Mineral Licence, welcher ihn zur alleinigen Ausbeutung des
Fundortes berechtigt, ausstellen. Ans diese Nachricht hin
unternahm dann Dir. R. Pearson auf Kameelen eine Reise
in jene Gegend, um weitere Nachforschungen zu machen. Er
traf gegen Ende Juli dieses Jahres wieder in Adelaide ein
und hat vom Barrow Creek, nördlich von den McDonnell
Ranges, ein Kästchen mit Rubinen und Granaten zurück-
gebracht, welche in geringer Tiefe des Alluviums in 14
Tagen gefunden wurden. Die Steine variiren in der Farbe
von dunkel- bis hellglänzend und in der Größe von der eines
Nadelknopfes bis zu der einer Erbse und Weinbeere, und
sollen einen Werth von mehreren tausend Pfund Sterling —
ein großer Rubin darunter sogar den von 8000 Pfd. St. —
haben. Es hat sich sofort ein Syndikat von Geldmännern
gebildet, welches jene Gegend in bergmännischen Betrieb
nehmen will. Außerdem ist eine große Anzahl von Abenteu-
rern auf der Reise dahin, um nach Edelsteinen zu suchen.
Nach dem in der Kolonie Südaustralien geltenden Berggesetze
umfaßt das Areal (Kronland), welches einer Person gegen
eine geringe jährliche Rente zur bergmännischen Ausnutzung
auf Edelsteine überwiesen werden kann, eine englische Quadrat-
meile oder 2,59 qkm.
— Wir haben in Band 49, S. 255 über eine Forschungs-
reise Bericht erstattet, welche David Liudsay im Jahre 1886
von Port Augnsta aus, an der Spitze des Spencer-Golfes
in Südaustralien, durch Centralaustralien unternahm.
Unser Bericht mußte sich damals ans den ersten Theil dieser
Expedition bis Lake Nash, in ungefähr 210 südl. Br. und
9 V2 km von der Grenze der Kolonie Queensland, be-
schränken. Air. Lindsay ist inzwischen nach Adelaide zurück-
gekehrt und hielt am 28. Juni dieses Jahres vor der dortigen
geographischen Gesellschaft einen interessanten Vortrag über
seine Reise, so daß wir jetzt auch über den zweiten Theil
derselben, von Lake Nash bis zur Telegraphenstation
Powell's Creek in 18« 5' südl. Br. und 133« 38'
östlich von Gr., wo sie endete, eine gedrängte Uebersicht geben
können. Lindsay hielt sich auf diesem großen Gebiete sechs
Monate lang auf. Es ist ein hohes Tafelland im Umfange
von 25 000 englischen oder 1176 deutschen Quadratmeilen,
wird nach Süden von sandigen Gegenden begrenzt und reicht
nach Norden bis an das Küstengcbirge. Die herrlichsten
Hochebenen und Niederungen sind mit den besten nahrhaften
und saftigen Gräsern (Mitchell grass, Astrebla elymoides,
Kangaroo grass, Anthistiria ciliata, Flinders grass etc.),
sowie mit vom Vieh gern gefressenem Gesträuch (Bluebusk,
Kochia sedifolia etc.) dicht bewachsen. Kalkstein, Sand-
stein, Eisenstein und auch Gips durchbrechen hier mtb
304
Aus allen Erdtheilen.
dort die Oberfläche. Flüsse, wie der Playford und der
Buchanon, und zahlreiche Creeks mit westlichem Laufe durch-
fließen in der Regenzeit das Gebiet, verlieren sich aber dann
auf der ausgedehnten Polygonum- und Blucbnsh-Niederung,
welche sich östlich von den Ashburtou Ranges in 18° südl. Br.
und 1330 40' östlich von Gr. ausbreitet. Die jährliche
Regenmenge beträgt 18 bis 20 englische Zoll oder 457 bis
508 mm. Durch Graben läßt sich ohne Schwierigkeit überall
gutes Wasser erhalten. ' Brauchbares Nutzholz, welches meist
nur die Wasserläufe einsäumt, iommt nicht viel vor, reicht
aber für den Bedarf hin. Die Eingeborenen zerfallen in
sechs Stämme, die zwar verschiedene Dialekte sprechen, in
ihren Sitten und Gebräuchen jedoch nicht von einander ab-
weichen. Sie sind von schönem Bau und Wuchs, messen
bis über sechs Fuß und zeigen sich den Weißen gegenüber
freundlich. Lindsay ist überzeugt, daß auf diesem Tafellande
in nicht zu ferner Zeit einer der vorzüglichsten, Wolle pro-
dncirenden Weidedistrikte Australiens entstehen werde.
Inseln des Stillen Oceans.
— Anfangs April d. I. hat die Ncn-Guinea-
K 0 m P a g u i e am Ausflusse des Bub ui in die
Langemak-Bucht (nördlich vom Huou-Golf) eine neue
Station durch ihre Beamten Schollenbruch und v. Puttkamer
errichten lassen. Dieselben haben auch den Unterlauf des
Bubui näher untersucht. — Landeshauptmann v. Schleinitz
hat auf einer Fahrt mit dem Dampfer „Psabel" im Mai
sowohl in Kaiser Wilhelmsland, wie auch in Neu-Ponnnern
mehrere gute Häfen und eine Anzahl Flüsse ihrer Lage nach
bestimmt und zum Theil genauer untersucht, namentlich aber
auf Nen-Pommern eine etwa 4000 qkm große, fruchtbare
Tiefebene mit schiffbaren Strömen aufgefunden. Dieselbe
liegt zwischen den vulkanischen Bergen der Westspitze und
des Centrums und reicht von der Nordküste der Insel bis
zu deren Südküste. — Dr. Hollrung hat die Umgebung
von Hatzfeldt-Hafen, Dr. Schneider diejenige von Kon-
stantin-Hafen näher untersucht. Dem Berichte des letzteren
entnehmen wir Folgendes: „Die Eingeborenen sind freundlich.
Ihre Bewaffnung sind Bogen mit Bambussehne und Pfeil.
Die Lanzen mit Blntrinne scheinen den Bergbewohnern nur
zur Ausführung des Todesstoßes zu dienen. Der Friede
unter einander scheint mehr gefährdet, als derjenige mit den
Weißen. So sagte man mir, von Jadabi nach Jengellam
ginge kein Weg, weil die Männer des einen Dorfes in dem
anderen getödtet würden. Bon Medicinmitteln spielt die
etwas geheim gehaltene Muju-Rinde (in Finschhafen musica,
nach Herrn Dr. Hollrung gaosatrao) eine Rolle. Einmal
dient ihr Ranch als Fiebermittel, sodann kaut man sie bei
Anstrengungen und speit dem Ermüdeten den Saft auf
Schenkel, Brust und Kreuz. Die Hütten, an der Küste mit
Gras gedeckt, haben auf den Bergen Matten- oder Laubdächer.
Bretter werden im Gegensatze zu Finschhafen nicht verwendet,
ebenso wenig ist das Bauen von Pfahlhäusern hier bekannt.
In Kollykn zählte ich auf einem Hause 600 Matten. Die
Dörfer sind meist sauber. Am größten ist Bokadjo, dann
Bongn mit rund 150 und 100 Hütten. Male schützte ich
Inhalt: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa. I. (Mit
fahrt von Insel zu Insel. I. — Das Schamancnthum unter-
allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Australien
Redaktion anr 19. Oktober 1887.)
auf 70, die anderen Dörfer haben: Gumba ca. 40, Cor-
rendu 19, Burrahm 30, Jagadamu 11, Manniga 27,
Djindjam 22, Jadabi 41 und Ssongum 73 Hütten. Das
ergiebt für das ganze Gebiet rund 600 Hütten. Wenn man
nun bedenkt, daß jede verheirathete Frau ihre eigene Hütte
hat, daß Vielweiberei häufig (bis drei Frauen) und eine vier
übersteigende Kinderzahl des Mannes selten ist, so kann man
die Kopfzahl der Bevölkerung auf höchstens 1500 abschätzen,
wovon über die Hälfte auf die Küste kommt."
Vermischtes.
— Von F. Ratzel's „Völkerkunde" (Leipzig, Biblio-
graphisches Institut), von welcher bereits zwei Bände erschienen
sind, wird jetzt eine Airsgabe in 42 Lieferungen veranstaltet,
auf welche wir unsere Leser aufmerksam machen möchten.
— Friedrich von Hellwald, Jllustrirte Kultur-
geschichte. Bd. 1, Haus und Hof. Mit vielen Illustra-
tionen. (Leipzig, Schmidt und Günther.) Von diesem
neuen Werke Hellwald's liegen uns gegenwärtig sieben Liefe-
rungen vor, während das Ganze auf 15 bis 20 Lieferungen
berechnet ist. In der bekannten gewandten Darstellung giebt
uns der Verfasser eine Uebersicht der Entwickelung von Haus
und Hof, von den Höhlenwohnungen der Troglodyten der
Diluvialperiode an, durch alle Kulturstadien bis in die neueste
Zeit, und zwar nur von Haus und Hof in engerem Sinne
mit Ausschluß der Prunkgebände und der zu religiösen
Zwecken dienenden. Die Ausstattung ist eine sehr reiche;
jede Wohnungsart ist durch wenigstens einen Holzschnitt
illustrirt und jede Lieferung bringt ein ausgezeichnet aus-
geführtes Vollbild. Bis jetzt kamen in denselben zur Dar-
stellung: Japanischer Thorbogen; Wanddekorationen aus
Pompeji; Inneres eines altrömischcn Hauses; Eingang zier
Löwengrotte in Elephante; Löwenthor in Mykenä; Troja-
nische Alterthümer; die Mündung der Cloaca maxima in
Rom. Die Lieferungen erscheinen in ziemlich rascher Folge
und der ganze Band wird wohl 1888 zum Abschluß gelangen.
Der im Verhältniß zur Ausstattung sehr mäßige Preis
(50 Pf.) für die Lieferung sichert dem schönen Werke eine
weite Verbreitung; wir wünschen nur, daß der Verfasser
seinen Plan, in weiteren Bänden noch andere Abtheilungen
der Kulturgeschichte in derselben Weise zu bearbeiten, bald
zur Ausführnug bringt. Ko.
— Die beiden neu eingelaufenen Lieferungen (Nr. 6
und 7) von H. Ploß, Das Weib in der Natur und
Völkerkunde, enthalten ein unendlich reiches Material über
die Niederkunft und die bei derselben herrschenden Gebräuche,
welche leider bei weitaus den meisten Stämmen als schwere
Mißbräuche bezeichnet werden, welche die Schmerzen und
Gefahren der Wöchnerin eher zu vermehren als zu vermindern
geeignet sind. Von ganz besonderem Interesse ist das Kapitel
über die allmählige Organisation des Hebammenwesens in
Deutschland vom 15. Jahrhundert ab. Die erste Instruk-
tion ist die würtembergische von 1480, aber eine abge-
druckte Miniatur vom Anfange des 15. Jahrhunderts beweist,
daß schon damals Unterricht in der Geburtshilfe ertheilt
wurde.
vier Abbildungen.) — Dr. Heinrich Simroth: Eine Azoren-
den Burjaten. 4. Die Schamanen. (Zweite Hälfte.) — Aus
l. — Inseln des Stillen Oceans. — Vermischtes. (Schluß der
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QQ1^
«OI u IUI | ll| II tiy rum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
Dieulafoy^s Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dienlafvy.
II.
(Die Abbildungen nach Photographien der Expedition DieulafoyZ
Der Dampfer „Karun", auf welchem sich die Expedition
am 10. Februar eingeschifft hatte, fuhr von Felsieh aus
den Schalt-el-Arab ein Stück hinab, bog daun nach links
um, fuhr dicht bei Mohammereh vorbei und lief in die
Mündung des ans den Gebirgen im Südosten von Jspahan
herabkommenden Karun ein. Zu seinem Unterlaufe be-
wässert dieser schöne Fluß eine sich nach Osten und Westen
anscheinend endlos erstreckende Ebene, weiche im Norden
von einer langen, wellenförmigen Bergkette begrenzt ist.
Man befindet sich dort an der Spitze eines Deltas, welches
sich ungemein rasch in den Persischen Meerbusen vorschiebt,
feit Beginn des laufenden Jahrhunderts um eine englische
Meile in je 70 Jahren. Die geringe Tiefe des Golfes,
seine unbedeutende Breite, das Fehlen einer starken Strömung
und die große Masse des vom Euphrat und Tigris herab-
geführten Schlammes sind die Hauptursachen dieses auf-
fallend raschen Wachsthums. Der von der Fluth zurück-
getriebene Schlamm bildet Untiefen, wie die Barre von Fan
an der Mündung des Schütt-el-Arab, und solche Hinder-
nisse zwingen wiederum den Fluß, seine Gewässer fächerartig
über das ganze Aestuarium auszubreiten und dort die
mitgeführten erdigen und sandigen Theile fallen zu lassen.
Oberhalb Mohammereh ändert sich die Landschaft und
an die Stelle der ruhigen schattigen Palmenwälder treten
unbewohnte, flache, mit Salzefslorescenzen bedeckte Ufer.
Allmählich zeigen sich Objekte, welche den Reisenden von
ihrer früheren Fahrt auf dem Flusse bekannt waren, die
Kuppel des Jmamzade (Heiligengrabes) Ali Ben Hussein
Globus LII. Nr. 20.
mit einigen Bäumen, das Lager von Salnnich, die Palmen
von Sabah, welche mehrere Stunden, bevor man sie erreicht,
sichtbar werden und unaufhörlich in einer anderen Richtung
erscheinen, so gewunden ist der Lauf des Karun. Bon dem
kleinen Dorfe Jsmai'liah an ist die Ebene ganz grün von
lauter Kornfeldern, welche alle dem Herrn von Felieh, dein
Scheich Moses, gehören. Dicht am Flusse stehen die
braunen Zelte von Nomaden, und dazwischen weiden zahl-
lose Heerden von Kameelen, Schafen und Kühen, welche
Abends nur mühsam ihre runden vollgefressenen Leiber in
die Zeltlager schleppen. Die Tamarisken werden schöner,
die mit rothen Beeren beladenen dunklen Konarbäume sind
über die ganze Ebene zerstreut. An das Wasser steigen
Weiber in langen rothen Kattunhemden herab, um den
Kopf einen dunkelfarbigen Turban, Haupt und Oberleib
von einer braunen Abbaje bedeckt. Alle tragen die Haare
vorn kurz geschnitten, Zöpfe an den Schläfen und Metall-
knöpfe oder Silberringe in den Nasenflügeln. Scheu
scheinen sie nicht zu sein, denn sie lassen ohne ein Zeichen
von Mißvergnügen ihre grob geschnittenen Züge betrachten.
Mit Einbruch der Nacht erreichte der Dampfer den
auf einem den Fluß durchsetzenden Felsriegel erbauten
Damm von A h w a z, ein für ihn unüberschreitbares Hinder-
niß. Die Reisenden verließen ihn also und übernachteten
in dem Dorfe, an dessen Stelle, nach den Ruinen süulen-
getragener Bauwerke und den in den Fels gehöhlten antiken
Gräbern zu schließen, einst ein bedeutenderer Ort gelegen hat.
Anderen Tages ging es auf dem östlichen Flnßufer zu
39
BOG
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susen
Pferde weiter nach Kut Wais und Kalai Bandi Kir, wo
die bei Schuster sich trennenden beiden Arme des Karun
sich wieder vereinigen und von rechts her den Ab-i-Diz
aufnehmen. Hier setzte die Karawane über den Fluß, um
eineu weiten Umweg nach Osten zu vermeiden und quer
durch die von den beiden erwähnten Armen eingeschlossene
Insel nach Schuster zu gelangen. Bandi Kir ist zu allen
Zeiten eine der wichtigsten strategischen Positionen gewesen;
oberhalb desselben hat die Schlacht stattgefunden, in welcher
Eumenes und Antigonus um den Orient und den Schatz
von Susa kämpften. Die heutigen Bewohner des Ortes
zeichnen sich durch ihren klassisch schönen Wuchs aus; die
Frauen tragen über ihrem rothen Hemde große indigoblaue
Schleier und schmücken sich mit silbernen Ringen, Hals-
User des Karun bei Mohammereh.
ketten und Armbändern von Bernstein oder Korallen; an
dem Turban von dunkelblauer Wolle hangt eine Schnur
bunter Steine, die mit einem Maria-Theresia-Thaler schließt.
Die Männer, welche nur eine Art Schurz um die Lenden
tragen, sind kräftig und schlank gebaut. Die Reisenden
hatten Gelegenheit genug, dies zu beobachten, denn trotz
des strömenden Regens wurde die Thür des Stalles, in
welchem sie Zuflucht gefunden hatten, nicht frei von neu-
gierig hineinstarrenden Männern und Weibern.
Am folgenden Tage verzögerte eine ergebnißlose Jagd
Heiligengrab Neizan bei Schuster.
auf Wildschweine den Marsch der Karawane, so daß man
bei Sonnenuntergang noch nichts von Schuster bemerkte
und bei Nomaden die Nacht verbringen mußte. Mit Tages-
anbruch stieg mau am 14. Februar wieder zu Pferde und
erreichte um Mittag das Heiligengrab Neizan, welches
in der Vorstadt von Schuster liegt, eine halbe Stunde später
ein zweites, welches sich an die Mauern der ersten Häuser
anlehnt. Die Straßen der Stadt boten diesmal einen fast
(Nach einer Zeichnung Dieulafoy's.)
noch verwahrlosteren Anblick als früher; Störche, welche
auf den Badgirs oder Windfängern nisteten, schienen die
einzigen lebenden Wesen zu sein; manche Quartiere waren
derart verfallen, daß die Straßen nichGzu passiren waren.
Quartier war den Reisenden bei dem erst kürzlich zum
Gouverneur der Stadt ernannten Seid Assadullah Chan
bereitet wordender Hakcm, d. h. der mit der Verwaltung
| der Provinzen Luristan und Arabistau betraute Statthalter,
Frauen von Schuster
Die Nasse wird schwächlicher, die Frauen sind unfruchtbar
und die Blattern richten unter den Säuglingen große Ver-
heerungen au. Die Bevölkerung nimmt von Jahr zu Jahr
ab; von zwölf Frauen, die um Mme. Dieulasoy herum
saßen, haben vier überhaupt keine Kinder gehabt, sechs andere
dieselben verloren, und nur zwei haben dieser köpfereichen
Familie zusammen fünf mehr oder weniger schwächliche
Kinder geschenkt. Und in derselben Lage befinden sich alle
Einwohner, ja bei den meisten kommt noch zu solchem Un-
glücke die Armuth!
Darauf besuchte das Ehepaar den Hadschi Seid Hussein,
den vom Volke hoch verehrten achtzigjährigen Beschützer der
Armen und Niedrigen gegen die Staatsbeamten; schwer an
Asthma leidend, klagte er den Reisenden seine Leiden, verlor
aber für alles Interesse, sobald er ein linderndes Recept
erhalten hatte. Sein ältester Sohn aber, ein Mann von
40 Jahren, einen riesigen blauen Turban ans dem Kopfe
und in der Hand einen langen Stock, wie ihn schon die
Achämenidenkönige trugen und wie er bis heute ein Abzeichen
der hohen schiitischcn Würdenträger geblieben ist, gab Herrn
308
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Dieulafoy die Versicherung, daß er sich Uber die Geistlichkeit
in Dizful und Umgegend nicht zu beklagen haben würde;
ein Brief an den dortigen Scheich Taher solle die Aufregung
beseitigen, welche etwa durch den Aufenthalt der Franzosen
im Grabe Daniel's entstehen könnte.
Am 18. Februar fand der Aufbruch von Schuster statt,
wie gewöhnlich im Orient nach schier endlosen Verzögerungen
und viel später, als bestimmt worden war. Schließlich
aber wurde die winkelige Brücke über den Karun überschritten.
Die Aussicht nach vorn begrenzt ein felsiger Kamm, nach
dessen Passirung man eine unbebaute Ebene betrat. Hier
erhob sich zur Linken ein von einer Terrasse gekrönter
würfelförmiger Bau, welcher ein äbambar, eine Cisterne,
umschloß; auf der Terrasse zeigten sich nachlässig ausgestreckte,
menschliche Gestalten, welche beim Nahen der Karawane
von ihrem Beobachtungsposten herabstiegen. Einer der
Männer trat auf Dieulafoy zu und übergab ihm einen
französisch abgefaßten Brief des Mozaffcr el-Molk, des
Statthalters von Luristan und Arabistan, worin derselbe
feine bevorstehende Abreise von Dizful und seine Ankunft
in Schuster meldete und die Expedition bat, ihn in letzterer
Stadt zu erwarten. Umkehren wollte man aber nicht, und
so wurde beschlossen, den Marsch möglichst zu beschleunigen,
um den Statthalter noch in Dizful zu treffen.
Der Ueberbringer des Briefes war Mirza Abdul-
Kaim, welcher bei den bevorstehenden Ausgrabungen noch
ferner eine Rolle spielen sollte; er hatte ein feines, intelligentes
Gesicht, kleine lebhafte Augen, gerade Nase, regelmäßiges
Stute aus dein Hedschaz.
Profil und einen gut proportionirten Körper. Haar und
Bart hatten die schöne Mahagonifarbe, welche das Henna
verleiht. Trotz seines Alters, welches durch dies Färben
sich verrieth, bewegte sich der Mirza in jugendlicher Weise
und trug ein persisches Kostüm von raffinirter Eleganz.
Er ist weniger alt als gealtert. Früher hatte er in Ruß-
land als Gesandtschaftssekretär gelebt und dort etwas Civili-
sation kennen gelernt, mußte aber dann zu seinem Schinerz
nach Persien zurückkehren und seine Oberstenuniform wieder
anziehen. Aber auch jetzt noch ist seine Beschäftigung mehr-
diplomatisch als kriegerisch; denn sie besteht darin, zwischen
den Nomadenhänptlingen eine leidliche Eintracht aufrecht zu
erhalten oder sich bei allzu säumigen Steuerzahlern als
Exekutor ins Quartier zu legen. Sein Herz geht auf bei
dem Gedanken, während der Ausgrabungen in Susa bei
den Franzosen leben zu können.
Am selben Abend erreichte die Karawane das hübsche
Dorf Konah, halbwegs zwischen Schuster und Dizful;
aber es war schon zu spät, um noch den dortigen, in dieser
Jahreszeit ziemlich reißenden Fluß passiren zu können, so
daß man in dem Tschapar-chane (Posthaus), dem es schon
seit Jahren an Postreitern und Pferden gebrach, übernachten
mußte. Um Mitternacht weckte lautes Geräusch am Thore
die Schlafenden, und erst nach längeren Verhandlungen
ließ man den Ankömmling ein. Wieder war es ein Bote
des Mozaffer el-Molk, welcher den Befehl brachte, das
Tschapar-chane zu reinigen und den nöthigen Proviant für
das Gefolge Seiner Excellenz bereit zu halten. Auf diese
Nachricht hin beschloß Dieulafoy, auf dem besten der vier
Pferde bei Tagesanbruch nach Dizful voranszureitcn, um
den Statthalter noch vor seiner Abreise dort zn treffen und
von ihm die Ermächtigung zu erhalten, Gelder beim Banquier
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
309
des Zelle Sultan zu erheben und Arbeiter anzuwerben;
die übrige Gesellschaft sollte einige Stunden später den
Fluß überschreiten und langsam nachrücken.
Am 20. Februar ging cs also durch die verschiedenen
Arme des Flusses von Konah, welche durch Kiesbünke von
einander getrennt sind, auf denen die Pferde, erschöpft von
dem Ankämpfen gegen die Strömung, Athem holen können;
fenscits liegt ein hübsches Wäldchen, überragt von dem
Heiligengrabe Dschundi Schapur der Weisen, das in der
Sassanidenzcit gegründet und nach der arabischen Er-
oberung verlassen worden
ist. Solche Gräber entstan-
den oft auf den Trümmern
zerstörter Städte und wur-
den zu Mittelpunkten unver-
letzlicher Begräbnißplätze,
unter deren Schutze die
Reste des Alterthums un-
gestört einer besseren Zeit
entgegen fchlununern. Hier
waren schon im Schatten
der Bäume Männer emsig
damit beschäftigt, für den
Statthalter ein mit blauen
und grünen Mustern ver-
ziertes Zelt von rother
Seide, das mit wasser-
dichtem Zwillich überzogen
war, auszurichten. Nicht
weit davon begegnete unsere
Karawane einer zahlreichen
Abtheilung Fußsoldaten.
Mit grauen, roth besetz-
ten Lumpen bekleidet, die
Lammfellmntze mit dem
persischen Wappen auf dem
Kopfe, trieben diese Helden
schwer beladene Esel vor sich
her, welche Zelte, Mehl,
Datteln, Schaffelle, aller-
lei den Bauern weggenom-
menes Geräth und selbst
die Waffen ihrer Herren
schleppen mußten. Dann
folgten Derwische zu Fuß
und zu Pferde, Reiter und
Leute mit Feldzeichen, näm-
lich einer Fahne im Leder-
futteral und einer Stange,
auf welcher eine blecherne
Hand mit einem rothen
Striche um das Gelenk
befestigt war. Weiter eine
Compagnie in leidlicher
Ordnung, zwei Feldgeschütze
mit je vier Pferden bespannt, dann ein langer Zwischenraum,
darauf eine endlose Schaar Reiter auf schönen arabischen
Rossen und zahlreiche Diener auf gepäckbelasteten Eseln,
dazwischen arme halbnackte Bauern, die ohne Entgelt
gepreßt waren, die Habseligkeiten der Officiere und Soldaten
zu schleppen. Trübselig und rcsignirt lassen sie ihr un-
vermeidliches Geschick über sich ergehen. Endlich zieht ein-
sam des Weges daher ein rothgekleideter Mann mit dummem
Gesicht und einem riesigen schwarzen, bis an die Ohren
reichenden Schnurrbart: der Scharfrichter. In einem Sacke
führt er sein Handwerkszeug, drei oder vier haarscharfe
Messer, bei sich. Sein Herr kann nun nicht mehr fern sein.
Es folgt eine neue Abtheilung Reiter, noch besser beritten
als die früheren, dann, von Stallknechten geführt, sechs
prächtige Pferde, voran eine herrliche Stnte aus dem Hed-
schatz, weiß von Farbe, mit feurigem Auge und lebhaften
Bewegungen. Ein mit Goldschnppen bedeckter Zügel
schmückt den Kopf, ein hoher Sattel, mit einem sammet-
weichen Teppich bedeckt, wird von einem schwarzseidencn
Bauchgurt und einem cdelsteinbesetzten Brustriemen gehalten.
Gleich darauf folgt ein Apfelschimmel, der an Feinheit und
Eleganz seine Vorgängerin noch übertrifft; sein Geschirr
besteht aus silbergestickter,
rother Seide. Prachtvolle
Thiere!
Nun endlich erscheinen
drei Reiter, in der Mitte
D i e u l af o y, rechts von ihm
der Statthalter und links
dessen Leibarzt. Dienla-
foy war ihm begegnet, als
er gerade aus der Stadt
herausritt, und begleitete
ihn nun bis zu dem Hci-
ligen,grabe zurück, um un-
terwegs die Geschäfte zu
erledigen, was im Laufe
des Tages bestens gelang.
Denn er erhielt von dem
Würdenträger drei Briefe:
der erste ermächtigte ihn,
Geld zu erheben, der zweite,
Arbeiter zu mieten und
der dritte, das Bad des
Dizfuler Palastes heizen zu
lassen. Somit war alles
in Ordnung.
Uebrigens war der Gou-
verneur nicht der letzte im
Zuge, denn Reiter, Manl-
thiertreiber, Soldaten, Die-
ner, Maulthiere und Esel
bedeckten die Straße bis
Dizfnl hin. So schwer cs
auch ist, solch' ungeordnet
einherziehende Masse zu
schätzen, so glauben die Rei-
senden doch, die Zahl des
Gefolges ans mindestens
3000 bis 4000 Menschen
veranschlagen zu müssen.
Die Straßen von Diz-
ful unterscheiden sich in
Bezug aus Reinlichkeit zu
ihrem Vortheile von denen
des traurigen trnmmerhaf-
ten Schuster; die dortigen
Backsteinhäuser stehen fast lothrecht, die Straßen sind passir-
bar, wenn auch etwas gefährlich wegen der in der Mitte
angelegten Wasserleitungen, und in der Hauptstraße drängte
sich eine thätige zahlreiche Bevölkerung. Die Expedition
fand in dein Palaste, der übrigens nicht von irgend welchen
Gartcnanlagen oder Bäumen, sondern von felsigem, mit
Schutt- und Steinhaufen bedecktem Unlande umgeben war,
leidliche Unterkunft; die Honneurs machte ihr der Najeb-el-
huknmet oder Unterstatthalter von Dizfnl.
Ein Besuch bei dem einflußreichen Scheich Mohammed
Taher, welcher den Reisenden mit Wohlwollen aufnahm,
mar alles, was in Dizfnl zu erledigen war; dann wurde am
Der Unterstatthalter von Dizfnl.
310
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa^
26. Februar — es war der 71. Tag, seitdem man Frank- Buschir, Schuster und Dizfnl abgesehen, beständig sich vor-
reich verlassen und, von kurzen Ausenthalten in Aden, wärts bewegt hatte— bei wolkenbedecktem Himmel die Reise
Das Grab Daniel's und die Bnrg von Susa.
Verfallenes Heiligengrab bei Susa.
fortgesetzt. Rings um die Stadt herum dehnen sich Gärten, Felder, und schließlich bedecken nur Gräser und Tamarisken
Getreidefelder, Ackerland für Indigo und Wassermelonen den jungfräulichen Boden. Allmählich beginnt es zu regnen,
ans; je weiter man aber reitet, desto seltener werden die i schwere Tropfen fallen, aber trotz des hereinbrechenden Un-
Dr. Heinrich (Si mro tí): Eine Azorenfahrt von Insel zn Insel.
311
weiters und der Dunkelheit kann mau nicht Halt machen,
sondern muß einen Arm des Flusses von Dizful durch-
führten. Jenseits desselben kam man zu einem riesigen
Konarbaum, der mit als Weihgeschenken dargebrachten
Lappen über und über behängt war. „Wir sind auf dem
richtigen Wege", versicherte einer der Führer; „ich kenne
diesen geweihten Baum. Aber bis zum Ziel ist es noch
ein weites Stück Weg. Anstatt bei solchem Wetter umher-
zuirren, wäre es besser, die Zelte aufzuschlagen." Aber
während man noch über diesen Vorschlag berathschlagt,
zerreißt ein Windstoß die Wolken; am Horizonte zucken
Blitze und ein heftiges Gewitter bricht los. Plötzlich zeigt
sich beim Scheine der elektrischen Entladungen eine kolossale
braune Masse, um gleich darauf wieder in der Dunkelheit zu
verschwinden. „Schusch, Schusch!“ schrieen da die Maulthier-
treiber. Es war in der That die Festung von Susa, und
in der Nähe derselben befand sich ja das Grab Daniel's,
das für die naßkalte Nacht eine leidliche Unterkunft ver-
hieß, so daß alle ihre Schritte beschleunigten. Eine halbe
Stunde später zog die Karawane bei einem verfallenen
Jmamzade vorbei, dann an einer künstlichen Böschung ent-
lang und betrat endlich durch ein Thor die rechteckige
Umfassungsmauer des Daniel-Grabes, wo ihr der Wächter
mürrisch eine an die Mauer sich anlehnende Bogenhalle
zum Nachtquartier anwies.
Als die Reisenden am 27. Februar bei strahlendem Son-
nenscheine erwachten, erblickten sie über die Mauer hinweg
eine hohe, mit Grün bedeckte Masse, einem von Schluchten
durchfurchten Bergabhange ähnlich, den Burghügel von Susa;
unverändert stand er da, wie sie ihn bei ihrer ersten Reise
gesehen hatten. Die Winter scheinen über ihn hingezogen
zu sein, ohne eine einzige Furche in ihn gerissen zu haben;
dieselben Ziegen klettern noch ans denselben steilen Pfaden
umher und weiden das Gras ab. Noch immer wälzt der
Schawur sein schlammiges Wasser bei den Mauern des
Grabes vorbei und bildet dann ausgedehnte Sümpfe, ehe er
seinen gewundenen Laus zum Flusse von Dizful fortsetzt. Die
Zeit scheint hier wie ein Traum vorüberzugehen.
Die steigende Sonne brachte die Fliegen in Bewegung
und diese wieder weckten die Mitglieder der Karawane.
Alle fühlten sich zerschlagen, steif und hungrig, aber dennoch
begaben sie sich alsbald nach den Ruinenhügeln, um einen
Platz für das Lager auszusuchen. Auch nur einen Tag
länger im Heiligengrabe, wo sie nur wegen des nächtlichen
Unwetters hatten Zuflucht suchen müssen, zu bleiben, wäre
eine große Unklugheit gewesen.
Eine Azoren fahrt von Insel zu Insel.
Von Dr. Heinrich Simroth.
II. (Schluß.)
Gegen Abend ging ich an Bord. Wir hatten eine
Militärabtheilung zur Ablösung für die anderen Inseln und
einige Pfaffen als Passagiere bekommen. Letztere gaben
sofort zur allgemeinen Prophezeiung schlechten Wetters Ver-
anlassung. Die Subalternofficiere, die ihr kümmerliches
Französisch an den Mann bringen wollten, fingen eine
heitere Unterhaltung mit mir an, zogen sich aber später-
ängstlich zurück, als sie erfuhren, daß ich Allemao und Doutor
sei. Hier sind eben die Brillen Seltenheiten. Um Mitter-
nacht lichteten wir die Anker. Da ich einen Schlafkameraden
bekommen hatte, blieb ich an Deck, denn das nächtliche
Spucken und die Seekrankheit war entsetzlich, sie hielt selbst
in ungeschwächter Stärke an, als wir die Nacht darauf ruhig
im Hafen von Velas lagen. Als ich um 5 Uhr aufstand,
fuhren wir zwischen Graciosa und der kleinen an ihrer
Nordostseite vorgelagerten Jnselklippe hindurch. Letztere
erhebt sich allmählich von Osten unter einem scheinbaren
Winkel von 160, während sie im Westen unter mehr als
50° abstürzt, sich hier noch in eine Anzahl vom Meere halb
bedeckter Felsen fortsetzend und so die Hanptrichtung der
erodirenden Welle verrathend. Die Sonne ging bei schönstem
Wetter als rother Ball ans dem Ocean auf, aber nur
scheinbar, denn in Wahrheit lagerte trotz aller Himmels-
klarheit eine undurchdringliche Dunstschicht von etwa 1° über
dem Horizont. Seefahrten geben einem, dem das Schaukeln
nichts anhat, natürlich Muße zn unausgesetzten Luftstudien,
die aber wohl nur bei genauerer Analyse Interesse haben.
Bloß eines Falles möchte ich gedenken, nämlich einer Cirrus-
schicht, die noch unter drei oder vier anderen Wolkenlagen
stand, also sehr tief, dunkelgrau zwar, aber durchaus von
dem fein federstreifigen Aussehen, das sonst nur den Eis-
nadelmassen in den obersten Regionen zukommt.
Graciös a bot einen freundlichen Anblick, wenn auch
die Haine und Blüthenmassen, denen es den Namen ver-
dankt, der Kultur weichen mußten. Jetzt sahen wir Stoppel-
felder und spärliche Häuschen, aber die Abhänge waren noch
grün, und der Wechsel der Berge, der Caldeiren und kleineren
Hügel bot hübsche Ansichten. Wir legten auf der Hin- und
Rückreise an verschiedenen Punkten an, bei Santa Cruz
und Praya, das eine ein freundlicher Ort, mit Gürten
und Windmühlen, das anbevc nur wenige Häuser, die aus
ödem, klippigcm Strande ziemlich trist dalagen. Nachdem
das officielle Flaggenboot den Reigen eröffnet, begann ein
reger Verkehr bunter Kähne, die hauptsächlich Getreide
brachten, doch immer nur für wenige Stunden, zu kurz, um
ans Land zu gehen und der von Hartung gemalten und
durch ihn berühmt gewordenen Höhle, die durch einen kolos-
salen und jedenfalls lange während der Lavenerstarrnng
andauernden Gasausbruch entstand, einen Besuch abzustatten.
So zeichnete ich die Klippen ab (Fig. 1 und 2), gegen deren
Schwärze die Brandung grell weiß abstach, eigenthümlich
zerrissene, zackige Formen, und wie es scheint, nur in dem
Gürtel, der den Hochfluthen zugänglich ist. Sie sind wohl
auf die chemische Zersetzung und Lösung des gesteinzerfressen-
den Seewassers zurückzuführen, also als eine Art Karst-
oder Karrenbildung zu deuten. Alt genug sind die Laven
jedenfalls, denn seit der Entdeckung ist die Insel von keiner
Eruption wieder betroffen.
Von Graciosa ging's in einigen Stunden nach S. Jorge.
Da sich der Himmel bedeckte und die wenigen über den
Kannn sich erhebenden Spitzen in den Wolken verborgen
blieben, so stand die Insel wie eine ungeheure Felsenmauer
im Meere, entschieden großartig, wie ja der Nebel die Ver-
hältnisse vergrößert; und als wir um das Westende bogen,
312
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
machte die sreistehende Klippe, die wie eine Kirche gesonnt
ist mit nadelförmig zugespitztem Thurm, einen gewaltigen
Eindruck. Man erkannte eigentlich nur am oberen Rande
einiges Grün. Hier und da klebte ein Weinberg an der
Höhe (der Wein soll früher am besten gewesen sein), und
man sagte, daß der Besitzer nur auf Leitern vom Kahne
aus zu seinem Eigenthume gelangen könnte. Dann wandten
wir uns zur Südseite und warfen vor der Hauptstadt Belas
oder Bellas (siehe die dritte Abbildung) Anker. Um das
Bild zu verstehen, denke man sich rechts als Fortsetzung die
höher ansteigende Gebirgswand. Der kleine Ort ist gegen
die Westwinde gut geschützt durch ein Vorgebirge, das wie
ein riesiges Schwarzwälder Bauernhaus dahinter liegt. In
der Lücke treten Tuffwände hervor, die völlig den Eindruck
einer Festung machen, für die ich sie zuerst nahm. Die
Küste besteht wieder aus steil zerrissenen Lavaklippen, wie
sie auch ringsum vorragen, als Wellenbrecher das Meer
belebend. Von der Höhe des Berges winkt charakteristisch
eine jener kleinen portugiesischen Windmühlen, wie sie dem
Reisenden bei der Einfahrt in den Tejo in so großer Zahl
als Wahrzeichen von Lissabon entgegentreten. Die Flügel
sind so konstruirt, daß zwei Holzkreuze sich unter Winkeln
von 450 schneiden. Ein Tau verbindet die Enden in: Achteck,
und dazwischen werden so viel dreieckige Segel gespannt, als
der Windstärke angemessen sind. Sie haben ein sehr zier-
liches Aussehen. Da es bei dem regnerischen Wetter bald
dämmerig wurde, blieb ich an Bord und sah dem Getriebe
der Kähne zu. Wir hatten ein edles Pferd mitgebracht,
das in zitternder Unruhe in seinem Kasten hinausschwebte
und dann ans dem Kahne im fernen Nebel verschwand.
Was wird sein Geschick sein? Die englischen Rosse, die
man gelegentlich einführt, sollen theils in Folge ungeeigneter
Behandlung, theils durch das Klima bald Lungenkrankheiten
erliegen. Die Boote brachten uns meist Käse, das Haupt-
erzeugniß der Insel, weit berühnlt, nicht nur auf allen
Azoren, sondern auch in Portugal. Es sind vorwiegend
bloß die drei Inseln S. Jorge, Terceira und Pieo, die Käse
erzeugen. Walker erwähnt noch einen Ziegenkäse von Furnas,
der, noch weiß, eine Delikatesse sein soll. Zufällig habe ich
ihn nicht gekostet, wohl aber jene anderen zur Genüge, die
je nach der Herkunft eine besondere Form und einen anderen
Geschmack haben. Der von Terceira erinnerte am meisten
an holländischen Käse, und das erweckte den Gedanken, daß
diese nur auf den flämischen Inseln heimische Fabrikation
in der That von den Flamländern mitgebracht sein mag,
denn die Portugiesen sind in der Milchwirthschaft merkwürdig
zurück. Es lohnte sich wohl, der Sache nähere Aufmerksam-
keit zu schenken.
Die Nacht erst machte dem regen Treiben der Kähne ein
Ende; der Regen rieselte langsam nieder, und die Wellen
schlugen träumerisch gegen das Schiff. Um so greller erklang
noch von den Felsen das Geschrei der Seevögel, die in ihren
Lavaklippen au der Küste von Graciosa.
Kolonien noch keine Ruhe finden konnten. Am Tage
sahen wir auch genug Felsentauben (Columba livia), die
Vorfahren unserer Haustaube. In S. Miguel bilden sie
ein beliebtes Wild, das ich aber deshalb früher überging,
weil seine Reinheit fast durchweg durch verwilderten Nach-
schub getrübt wurde. — Bei der Rückfahrt ging ich ans
Land und sah mir die Stadt an, freundlich, sauber, klein,
ohne Besonderheiten. Höchstens fielen die Calabassen auf,
die als Milchflaschen dienen, da sonst der Flaschenkürbis ans
den Azoren wenig gebraucht wird. Alt und Jung ging in
die Häuser und labte sich an Milch, eine Reiseerquickung,
die selbst die Ofsiciere eifrig mitmachten; ich traf unterwegs
keinen, der für blasirt gelten konnte, die Verhältnisse sind
hier noch zu harmlos.
Sonntag früh um 5 Uhr ging's hinüber nach Pico,
das gelegentlich ans Nebel und Wolken auftauchte, Nach
anderthalb Stunden waren wir bereits an seiner Nordseite.
Wieder war es ein langgestreckter Berg, der sich links, östlich,
ins Meer verflachte. Nach rechts erhob er sich zwar, aber
die Spitzen verschwanden bald bei dem trüben Wetter, und
namentlich der Pik, die Westspitze, war nur in den untersten
Partien sichtbar, so daß von der Majestät des Eilandes
zunächst nichts zu bemerken war. Bon Zeit zu Zeit ertönte
die Dampfpfeife, um den Leuten im kleinen Stranddörfchen
die Ankunft zu signalisiren; aber entweder schliefen sie noch,
oder die Brandung, die allerdings sehr hoch sich aufbäumte,
verhinderte sie an der Abfahrt. Wir mußten lange warten
und machten mehrere Schwenkungen, bis ein Boot kam.
In der Zwischenzeit hatten wir ein hübsches Schauspiel,
springende Fische in ungeheuren Schwärmen. Die Thiere
schleuderten sich aus dem Wasser heraus, um gleich wieder
zu versinken und das Manöver im nächsten Augenblicke zu
wiederholen; einer hinter dem anderen, in schnurgeraden
Linien; aber Massen solcher Linien zugleich, einander parallel;
das ganze Meer tanzte. Sie kamen schräg von der Küste
auf uns zu und theilten sich in zwei Hauptkolonnen, die
das Schiss zwischen sich nahmen. Ich sah's schon einmal
bei S. Miguel, aber im kleineren Maßstabe. Waren es
Thunfische oder die verwandten Boniten (Thymius pelamys),
die den fliegenden Fischen nachstellen? Von letzteren erspähte
ich ans der ganzen Reise nur zwei, auch an den Azoren, wo
sie auf etwa doppelte Schiffslünge in flachem Bogen über
das Wasser schnellten. Erst weiter südlich beginnt ihre
Häufigkeit.
Am Lande war nicht viel zu sehen, überall kleine Wein-
gärten mit Obstbäumen, sehr wenig Häuser. Mit dem
Wein hat es nur noch wenig auf sich, aber es stehen dort
überall noch die ganz kleinen Mauerquadrate, auf denen er
gezogen wird. Die Aprikosen dagegen sind berühmt und
bilden neben dem Käse das Haupterzeugniß. Es kam nur
ein Boot, die Post abzuholen. Der Export vollzieht sich
wohl über Horta, und er ist unbedeutend. Pico ist am
dünnsten bevölkert, nur 63 Einwohner ans das Quadrat-
j kilometer gegen 77 auf Terceira, 145 auf Fayal, 163 auf
Dr. Heinrich Sirnroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
318
S. Miguel und 289 auf Graciosa; nur Santa Maria
bleibt noch hinter Pico zurück mit 58 (s. Elisée Reclus,
Nouvelle géographie universelle, die neuesten Lie-
ferungen).
So dampften wir über die fchinale Meerenge nach
Hort a zu, dem Stolz der Insulaner. „Lindissima vista!“
klang's wiederholt. In der That, das kleine atlantische
Neapel liegt reizend, und daß der Vulkan jenseits des
Meeres sich erhebt, erhöht die Schönheit. Ich ging für
drei Tage an Land und ließ Flores und Corvo mit seinen
zierlichen Zwergrindern und mit der landschaftlichen Wieder-
holung aller Inselmerkwürdigkeiten in seiner Caldeira —
nach Ansicht der Insulaner — im Stich. Horta, Fayals
Hauptstadt, hat für uns Deutsche Interesse, denn zu ihren
ersten Einwohnern gehörte ja der bekannte Nürnberger Tuch-
macher und Kosmograph, Martin Beh a im, der als
Schwiegersohn des niederländischen Kolonisators, Jobst van
Hurter, nach dem die Stadt heißt, 1486 auf einige Jahre hier-
her zog. Sonst hat die Stadt allerdings wenig Deutsches.
Sie ist diejenige, die sich am allergleichmäßigsten ans Weiß
und Grün sehr blank ausbaut, war doch selbst die Kirche
in der Nähe des Hafens bis zur Dachspitze hinauf weiß
getüncht mit grünen Fensterläden. Die Lage kann kaum
symmetrischer sein; eine kleine Bai, die zu beiden Seiten durch
je einen dem Meere entstiegenen und durch schmalen Isthmus
mit dem Lande zusammenhängenden Berg, Monte Quei-
mado und Guia, ab-
geschlossen und ge-
schützt wird; dahinter
erhebt sich sanft an-
steigend das Gebirge
der kegelförmigen
Insel und gerade
gegenüber, außeror-
dentlich regelmäßig,
auf breiter Basis
immer steiler und
steiler aufstrebend,
der Pico do Pico,
dem man von hier
aus nicht ansieht,
daß er nur den Vorposten eines langgestreckten Eilandes
darstellt; man würde es für durchaus kreisförmig halten.
In Wahrheit bilden Pico und Fayal nur ein Gcbirgs-
system auf gemeinsamer untermeerischer Grundlage, und
die Meerenge mit dem Magdalenenfelsen ist so seicht
als schmal. Ich nahm in dem einen der beiden Hotels
ein Zimmer möglichst hoch, und genoß von hier aus die
prachtvollste Aussicht. Im Hafen lagen wohl ein Dutzend
Schiffe und ein altes Wrack; der Verkehr ist beträchtlich.
Man schützt ihn neuerdings durch einen ähnlichen Damm,
wie den von Ponta Delgada; doch macht der Ban weniger
Schwierigkeiten. Nichtsdestoweniger muß die Gemalt der
Wellen, trotz dem Schutz, den Pico gewährt, im Winter-
enorm sein, denn die breite, aus riesigen Quadern aufge-
führte Hafenmaner, auf der wohl vier Personen neben ein-
ander gehen können, lag auf eine Strecke weit in Trümmern.
Der Tag wurde klar, und das Meer wunderbar blau. Der
Fuß des Piks war mit den kleinen Landhäusern der reichen
Fayalenser freundlich übersäet, die Spitze, die nur selten frei
wird, verbarg er mir leider während meines ganzen Auf-
enthaltes. Aber die Wolken, die sie einhüllten, nahmen
fortdauernd eine gleichmäßige Form an, wie ein riesiger
Pilzhut, zu dem der Berg den Stiel bildete, als wären sie
eifersüchtig, das Heiligthnm profanen Blicken preiszugeben.
Hier würden die Griechen ihren götlerbevölkcrten Olymp
gesunden haben. Doch die moderne Erklärung steht an
Globus vH. Nr. 20.
Lavaklippcn an der Küste von Graciosa.
Großartigkeit nicht nach, jene Wolken bezeichnen die Grenze
des Passates und Gegenpassates, hier wird ein gut Theil
vom Wetter Europas gebraut. Zur Linken begrenzte die
ferne Felsenwand von S. Jorge den Horizont, mit nur
kleiner Lücke, rechts der unendliche Ocean. — Abends lag
der Mond gerade auf der Meerenge, ans Gewölk blendend
hervorbrechend, im Kontrast mit der rothen Lampe des
Leuchtthurms auf dem Hafendamme.
Wenn auch der Pik seine Spitze mit der leichten Rauch-
wolke verhüllte, man erkannte den Vulkan doch ans den
ersten Blick an den zahlreichen zierlichen Flankenkratern, die,
fast bis zum Fuß reichend, oft wiederholte seitliche Ans-
brüche bezeugten. Ich zählte vom Fenster aus vierzehn.
In historischer Zeit ist die Spitze nicht wieder thätig ge-
wesen. und auch der enorm helle Ausbruch von 1572, dessen
Schein die Wasser bei S. Miguel erleuchtete, erfolgte seit-
lich. Der Berg wird nicht selten und ohne allzu große
Mühe erstiegen, allerdings für einen Tag eine sehr an-
strengende Tour. Den Abhang bedeckt das übliche Gebüsch,
die Heimath unserer Ringeltaube (Columba palumbus),
nach oben hält unsere Lailuna vulgaris am weitesten ans.
Zn Wasseransammlungen, Sumpfbildungen und Sphagnum-
polstern kommt es nicht, ja der Regen verschwindet in
Spalten oder lockeren Tuffen, so daß die Einwohner der Insel
gezwungen sind, sich in Cisternen Vorrath aufzubewahren.
Im Hotel herrschte, wie immer bei der Ankunft des
Dampfers, reges Le-
ben. Sr. Eduardo
und seine stattliche
Ehehälfte standen mit
vieler Würde ihren
Pflichten vor, er
oben, sie unten am
Tisch. Es wurde
nach englischer Sitte
gespeist, vielleicht
nicht ohne Berech-
nung, denn mancher
der portugiesischen
Gäste, der sonst or-
dentlich zugegriffen
hätte, wurde bei der Frage, ob der Hausherr Roastbeef und
Huhn vorlegen sollte, verlegen und dankte; er mußte sich
hinterher an sweet méats und Früchten schadlos halten.
Uebrigens waren die Wirthslente Insulaner, die sonst nur
portugiesisch sprachen. Es waren selbst einige Sommer-
frischler, wie es schien, zugegen, eine kurzhaarige Miß wohl
am längsten. Der Oberkellner erschien durchaus modern
sonntäglich elegant, der zweite Junge ebenso, aber barfuß.
Es ging ziemlich steif zu in dem eingebildeten Englisch;
ein einfacher Kapitän, den ich englisch anredete, entschuldigte
sich verlegen, er verstehe nicht portugiesisch, sowie mir in
Ponta Delgada ein Arbeiter, den ich portugiesisch nach dem
Wege fragte, erwiderte, er verstehe nicht englisch. Frei-
lich gebrauchte ich beide Sprachen nur stümperhaft; aber
die Verlegenheit that die Hauptsache; wie mir denn die
Wirthin, als ich im Garten eine schöne Akazie bewunderte,
eine Hülse herabpslückte mit der Erklärung, wenn ich die
Samenkörner in die Erde thäte, würden's wieder Akazien.
Sonst war ich im Hotel sehr gut aufgehoben. Die Wirthin
verkaufte die Jndnstrieerzeugnisse der Fayalenser Mädchen,
die schwarze Spitzentücher geschickt und geschmackvoll mit
gemeinem Stroh durchflechten. Eine Probe, die ich mit-
nahm, findet allgemeinen Beifall. Auch sonst verfertigen
sie allerlei Zierrath ans Muschelchen und Tang, wovon ich
leider nichts sah. Das Sargassomeer entsendet häufig große
Tangmassen an diese Küsten, die aber nicht gehörig ans-
40
314
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zn Insel.
genutzt werden, weder als Dünger, noch zur Pottasche- und
Jodgewinnung. Während des Sommers scheinen die An-
schwemmungen seltener zn sein, wiewohl sie andererseits
auch an keine Jahreszeit ausschließlich gebunden sein dürften.
Ich erkundigte mich häufig danach, um Studien an der
eigenthümlichen Tangfauna zn machen, aber man verwies
mich immer mehr oder weniger auf günstigen Zufall.
In der Stadt sieht man genug englische, oder besser
amerikanische Firmen, die Kaufleute berechnen nach Dollar
und Cent; der Handel ist eben am stärksten nach Amerika,
namentlich sind es Wallsischfahrer, die hierher kommen, um
ihre Jagdbeute hier niederzulegen, die dann von anderen
Schissen abgeholt wird. Sie selbst gehen mit neuer Aus-
rüstung wieder ihrem Gewerbe nach, oft ans lange Zeit.
Dabei werden mit Vorliebe Insulaner als Matrosen ange-
heuert, die wegen ihrer Seetüchtigkeit ebenso geschätzt sind
als wegen der Anspruchslosigkeit, Nüchternheit und beschei-
deneren Löhnung. Wir verkehrten in Ponta Delgada mit
den Osficieren eines Walers, der bereits drittehalb Jahre
von der Heimath, New Port, abwesend war. Er hatte als
Matrosen meist Neger von den Cap Verden, die uns durch
ihre Tänze erfreuten. Die längere Hafenruhe machte sie
übermüthig, und als eines Sonntags Nachmittags der erste
Officier vom Lande gerufen wurde, weil Streit ausgebrochen
war, verwundete ihn ein Neger durch Messerstiche, sprang
über Bord, um zn entkommen, wurde durch nachgesandte
Revolverschüsse am Bein verwundet, dingfest gemacht und
ins Gefängniß abgeführt — um nach vierzehn Tagen
wieder eine Stelle an Bord einzunehmen, wohl auch ein
Einfluß der milden Landes-Justiz, der er freilich nicht direkt
unterstand, und der Mann wurde zudem gebraucht. Die
lange Seefahrt hatte unter der Mannschaft manches Talent
ausgebildet, der eine schnitzte vorzügliche Elfenbeinsachen
und gravirte Bilder in Delphinkieser, ein anderer dichtete,
Folgen der abgeschlossenen Muße. Uebrigens ist das Azoren-
meer reich namentlich an großen Zahnwalen, und diese
Industrie gehört recht eigentlich den Inseln. Häufig soll
man ganzen Heerden der Kolosse begegnen, ich sah nur zwei
in der Ferne ihre pinienartigen Dampfsäulen auspusten.
Die Umgebung von Horta ist freundlich, aber durchaus
kultivirt. An der Südseite geht eine gute Fahrstraße am
Strande entlang, fortlaufend von blanker Mauer begleitet;
überall Garten- und Feldbau, mit Rohr- oder Tamarisken-
hecken; die Landhäuschen sauber und, wie es scheint, wohl-
Belas ans
habend. Der Strand mit den schwarzen zerfressenen Klippen,
zwischen denen man seine Ernte hält an kleinem Gethier; hier
und da ein guter Einblick in den Hergang beim Ausbruch.
So häuften sich an einer Klippe die Littorinen in ovalen
Höhlungen, die in einer horizontalen Linie die Felsen mar-
kirten, Gasblasen, in der noch teigigen Masse gestreckt und
gerichtet, und dergleichen. Der Hafen hat die Seltenheit der
Sandküste, aber der Sand war außerordentlich arm an
Conchylien. — Fayal gilt für das bestbebaute Eiland. Bon
der ursprünglichen Bedeckung mit der Myrica faya ist nichts
mehr zu sehen, von einem dichten Wald ist nirgends die
Rede mehr. Doch ich wage auch hier die Vermuthung, daß
die anfängliche Bewaldung überschätzt worden ist. Walker
citirt alte Berichte, wonach Terceira reich war an Cedern,
wahrscheinlich ckuniporus oxyceckruZ; es wurden Tischler-
waaren für die spanischen Schiffe daraus gemacht, sa man
holte auch die Stämme von S. Jorge herbei; letzterer Um-
stand scheint schon eine Einschränkung des Ueberflusses zu
enthalten. Ferner werden die alten Taxus von Pico und
Flores (,461x0“) gerühmt, sie sind vollkommen verschwunden.
Auch sie können nur in beschränkter Menge vorhanden ge-
wesen sein, da sie bald monopolisirt wurden für die könig-
liche Hofhaltung. Daß Taxus jetzt nicht mehr aufkommt,
S. Jorge.
liegt in seinem langsamen Wachsthum; vorher stand ihm
unbegrenzte Zeit zn Gebote. Die Flora überschaut man
am besten beim Aufstieg zur Caldeira, auf dem Gipfel der
Insel. Ich miethete einen sehr kräftigen Esel und schmucken
Führer. Der Weg steigt ziemlich sanft auf, zuerst zwischen
Gärten und Landhäusern (es fehlen zwar die Parks von
Ponta Delgada, aber auch die beengenden Mauern treten
mehr zurück), dann folgen Hohlwege, ein Kiefernholz, Azoren-
haide, Wachholder, Bnchsbanm in hohen Büschen, mit ordent-
lichen Stämmen, aber sehr trocken. In dieser ganzen
Region vom User war, bei der Schmetterlingsarmuth der
Azoren recht auffällig, ein großer rothbrauner Tagfalter
mit schwarzen und weißen Punkten und Streifen (vanais
archippus) gemein, einer der wenigen amerikanischen Ein-
wanderer, die trotz der herrschenden westlichen Winde sich
nicht mehren wollen. Drouet und Morelet fanden ihn noch
nicht, Godman trieb nur zwei Exemplare auf, die 1864
auf Fayal und Flores erbeutet waren; jetzt war er auf Fayal
die gewöhnlichste Erscheinung, und vereinzelte Falter flogen
bereits auf S. Miguel, die Etappen lassen sich gut ver-
folgen. Sonst hat Südamerika drei Käfer geliefert, d. h.
noch nicht 1,5 Proc., ein schöner goldgrüner Bockkäfer
(Taeniotes scalaris) ist am hervorragendsten als das größte
Dr. Heinrich Simroth: Eine Azorenfahrt von Insel zu Insel.
315
Azorencoleopter nicht nur, sondern als ein Schädling der
Feigenbäume, die auf Fayal mit denen Algarbiens an Höhe
und Umfang der Stämme wetteifern.
Oberhalb geht das Gebüsch mehr in Adlerfarn über
und weiter in innner kleinere Formen, und es folgte eine
weite Haidelandschaft, mit unserer Calluna vulgaris, die
noch hier und da eine verspätete Blüthe zeigte, sonst aber
dürr und trocken dastand. Häufig ein Wafserlauf, aber
ziemlich flach, keine Schlucht, wohl weil wir über härteren
Grund wanderten, statt über Tuffe; gelegentlich lagen Fels-
blöcke da. An den Wasserrändern Hecken von Erica azorica
und Juniperus, quer hindurch stundenweit ein herrlich
blaues Hortensienband als Grenze der Weidebezirke; in kleinen
Trupps bis zum Gipfel Schafe, mehr schwarze als weiße,
ausgezeichnet genährt und tadellos rein; Staub scheint un-
bekannt zu sein. Sie weiden ohne Hirten, in fünf Stunden
trafen wir keinen Menschen. Je höher wir kamen, um so
feuchter wurde der Boden, um so mehr wurde das Haide-
kraut durch Grasbüschel und hier und da durch Sphagnum-
polster ersetzt; wir traten in die Region ein, die ich erwähnte,
wo die beständige Grenze der beiden Windschichten regel-
mäßige Niederschlüge und Nebel erzeugt, von 3000 Fuß
etwa an. Alle die einzelnen Grasbüschel, etwa von einem
bis zu mehreren Fuß Durchmesser, waren nicht rund, sondern
kammartig zusammengedrückt, und offenbar nicht vorüber-
gehend, sondern in fester Form. Ich habe leider versäumt,
die Richtung der Kämme genau zu notiren, aus allgemeiner
Orientirung aber, die durch den Pik sehr erleichtert wird,
entsinne ich mich, daß sie Südwest — Nordost war, ein
Beweis, auch ohne ständiges Observatorium, daß in dieser
Höhe der Pafsatwind oder seine Gegenströmung bei weitem
vorherrschen.
Jetzt pfiff ein kalter Nordwind, der häufig Regenschauer
brachte, und man mußte die Pansen benutzen. Immer
großartiger wurden die Rückblicke, immer besser und weiter
die Umrisse der Insel, drüben der Pik und das ferne
S. Jorge; kräftige Wolken um den Berg. Die Sonne
pustete ordentlich Lichter hindurch, dann wieder warf sie
Strahlenbündel aufs Meer, grellweiß auf deu dunkelgrauen
Ocean, in so scharfen Kreisen und Schlangenlinien, daß
man jeden Augenblick wieder getäuscht wurde und die
schwarzen Flecke für Inseln nahm, zur Seite von Pico,
und die weißen Streifen für Kanäle. Am imposantesten
war es oben; wir standen in der bis zum Pik reichenden
Wolkendecke, die uns die einzelnen Wolken, die Ursache der
wunderlichen Beleuchtung, verhüllte, hier wurde die Täu-
schung auf dem Meere vollkommen. Und nun den Blick
vom Gipfel nach der anderen Seite in die Caldeira, die
vor uns gähnt! Man denke sich einen Koch- oder Wasch-
kefsel in den gewöhnlichen Proportionen, ganz normal, aber
400 in tief; der obere Rand, natürlich in Bergspitzen etwas
gezackt, nur durch einen schmalen Pfad bezeichnet. Die
Wände grün, ein wenig unregelmäßig, hier und da ein
paar Felsen, unten grüne Vorsprünge, durch Abschwem-
mung erzeugt, auf dem Boden ein niedlicher kleiner Krater
und ein unregelmäßiger Teich. Der Sturm blies Nebel
und Wolken umher, hier und da ein Sonnenblick auf einen
Theil des Kessels, hier und da tief dunkel beschattete Wände
mit frei sichtbarem Umriß, hier und da die Wolken über
den Rand hineingepeitscht und den Kessel halb mit eilen-
dem Nebel füllend; wir selbst oft genug ganz in Wolken.
Zeichnung und Photographie dürften hier leider unmöglich
fein, nirgends kann man genügend zurücktreten, um den
ganzen Umriß aufzunehmen. Mir waren die Hände zum
Versuch zu starr, mein Bursche in seiner leichten Leinwand-
kleidung fror bedenklich. Doch gelang es mir, noch ein
paar vereinzelte Thierchen aufzutreiben, vor allem die
Plutonia, die bisher nur von S. Miguel bekannt war, ein
Beweis mehr für die enge faunistische Zusammengehörigkeit
der verschiedenen Inseln.
Zum Diner waren wir bereits wieder nuten. Abends
ging's an Bord, nicht ohne Schwierigkeit wegen des See-
gangs; in der Nacht begann die Rückfahrt. Der west-
lichste Punkt war der erhabenste gewesen. Das Wetter
wechselte fortwährend. Als wir an S. Jorge vorbei
waren, blies ein tüchtiger West gerade von der stolzen
Nadelklippe her; die Sturmvögel folgten uns, „alma do
mestre“ (Seele des Herrn). In einem anderen Theil des
Oceans mußte ein starker Sturm gewüthet haben: wir
hatten die langen, hohen, parallelen Wellen, mit denen sich
das große Wasserbecken allmählich beruhigt. Wir steuerten
gerade hindurch; welcher Hochgenuß, sich am Hintersteven
anzuklammern, wenn das Vordertheil jetzt sich aufrichtet,
um im nächsten Augenblick schlank hinabzugleiten und sich
in den heranrückenden Wellenberg einzubohren. Der schönste
Moment höchsten Aufsteigens endete mit großer Sturzwelle.
Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, wie wichtig
und wechselnd die Winde sind, nicht nur für die Inseln,
sondern, von ihnen abhängig, für Europa. Hier ist die
Zone, wo der Nordostpassat entsteht und die südwestliche
Gegenströmung sich herabsenkt, eine eigentliche Wetterscheide,
natürlich nicht konstant, sondern bald nach Nord, bald nach
Süd sich verschiebend. Diese Verschiebungen rechtzeitig
kennen zu lernen, müßte einer der vortheilhaftesten Fak-
Tabclle der Windrichtungen nach Beobachtungen um 91i Vormittag, Mittag, 3 1i und 9 Ir Nachmittag.
A. P onta D elg ad a.
ft o ft ft o ft o ft o o OSO o o 02 88 W j| AVSAV £ 'S ft iS ft iS ft ft G
Frühling 29,3 45,2 36,5 4,7 5,6 17,5 14,9 17,9 30,8 17,3 27,9 12,2 32,3 31,9 26,2 12,7 5,1 367,9
Sommer 21,6 73,2 58,6 7,1 4,0 11,9 17,7 12,6 17,1 15,9 33,5 9,9 28,4 22,7 5,7 6,0 20,3 366,2
Herbst 28,9 58,4 43,7 8,9 4,7 11,7 14,6 19,0 28,0 15,8 30,8 12,3 25,5 23,9 11,5 15,0 10,8 363,8
Winter 25,4 32,9 34,9 7,3 8,1 14,5 10,5 11,0 27,4 29,6 43,4 18,9 27,8 29,8 20,3 12,2 7,5 361,1
Jahr 105,2 209,7 173,7 28,0 22,4 55,6 57,7 60,5 103,3 78,6 135,6 53,3 114,0 108,3 63,7 45,9 43,7 1459,0
B. A n g r a d o H e r c t s 11t 0.
Frühling 13,6 13,0 15,1 14,5 11,2 13,8 15,5 8,4 11,4 16,4 27,7 23,6 62,3 33,2 21,0 20,3 5,8 327,0
Sommer 11,3 16,6 20,3 16,5 16,8 15,4 20,4 11,6 9,0 10,5 24,8 20,2 83,1 19,8 15,8 9,1 8,6 329,0
Herbst 15,0 14,9 15,3 21,0 20,5 13,8 11,3 8,5 10,8 20,7 24,2 23,4 60,1 24,4 23,6 15,2 4,9 327,3
Winter 14,0 12,4 15,8 17,3 15,0 13,0 7,9 7,0 8,7 17,0 34,1 26,9 56,6 35,9 23,9 12,3 5,8 324,4
Jahr 53,9 56,9 66,5 69,3 63,5 56,0 55,1 35,5 39,9 64,6 110,8 94,1 262,1 113,3 84,3 56,9 25,1 1307,6
40*
316
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
toreu seht für die Wetterprognose in ganz Europa. Die
Meteorologie und zuletzt Roelns (I. o.) haben betont, was
wir in dieser Hinsicht von einem bald nach den Azoren zu
legenden Kabel zu erwarten haben. Ich erwähnte bereits
die großen Verschiedenheiten im Klima der einzelnen Inseln
und ihre muthmaßliche Abhängigkeit von den Differenzen
der Luftströmungen. Wie bedeutend diese sein können, zeigt
die vorstehende Tabelle, deren Beobachtnngsmaterial inner-
halb desselben Zeitraums von sieben oder acht Jahren ge-
sammelt wurde. Beide Stationen, Angra wie Ponta
Delgada, haben eine annähernd gleiche Lage, beide nehmen
eine nach Suden geöffnete Bucht an der Südseite ihrer
Eilande ein, ein Unterschied kann höchstens im Hinterland
gesucht werden, insofern als Angra direkt das hohe, doch
nur mäßig steile Gebirge, Ponta Delgada aber wenigstens
gegen Nordost nur einen niedrigeren Landrücken hinter sich
hat. — Zunächst ist es ausfallend, wie in Angra die West-,
in Ponta Delgada die Nordnordost- und Nordostwinde zu-
mal im Sommer prävaliren. Gewöhnlich werden die West-
winde als die vorherrschenden betrachtet; auch sind sie der
Natur der Sache nach, als von den tropischen Calmen
stammend, die feuchteren; ja die Nord- und Nordostströ-
mungen werden geradezu als trocken bezeichnet, natürlich
nur relativ, denn jeder Wind, der so weit über die See
streicht, muß sich wohl einigermaßen mit Wasferdamps sätti-
gen. Der Südwind, relativ zurücktretend, ist doch in Ponta
Delgada zu allen Zeiten doppelt so stark und stärker als
in Angra, gerade entgegengesetzt dem Westwind. Auch
sonst lassen sich eine Menge Differenzen aus der Tabelle
ableiten, was ich indeß einer berufeneren Feder überlasse.
So viel scheint wenigstens ans den Daten hervorzugehen,
daß die klimatischen Unterschiede zwischen S. Miguel und
Terceira, die sich in den Gegensätzen der Jahreszeiten, der
Bewölkung und Niederschlagsmenge ausprägen (s. o.), ihren
Grund in der Verschiedenheit der Luftströmungen haben.
Noch ein paar Worte über die letzte, östlichste Insel,
Santa Maria. Ich sah sie Anfangs Oktober bei der
Heimreise über Madeira. Sie erhob sich ziemlich trocken
ans der See; die Villa do porto lag hoch ans steilem
Gestade; die Abhänge in der Nähe waren graslos, dafür
aber dicht mit jungen Agave- und Kaktuspslanzen bedeckt,
deren erstere auf diesem am meisten entwaldeten und daher am
stärksten der Trockenheit und Denudation ausgesetzten Eilande
im Winter als Viehfutter benutzt werden, wie in Algarve.
Die Insel ist am dünnsten bevölkert und produeirt haupt-
sächlich Getreide. Wir verließen sie nach wenigen Stunden,
um den nächsten Aufenthalt im Hafen von Madeira zu
nehmen, mit dessen reinem Kobaltblau sich das großartige,
wildbrandende Azorenmeer an Farbe doch niemals voll
messen konnte.
Das Schamanenthum unter den Burjaten.
5. Die Ideen der Burjaten über die Seele und über das Leben nach dem Tode.
(Schluß.)
Der Glauben eines burjätischen Schamanen ist eng ver-
bunden mit den Anschauungen über die ihn umgebende
Natur, mit den Ansichten über das Wesen und die Eigen-
schaften der menschlichen Seele. Dem Burjäten ist die
Seele ein vollkommenes vom Körper abtrennbares Wesen; sie
kann den Körper zeitweilig oder ans immer verlassen. Ver-
läßt die Seele den Körper auf immer, so tritt der Tod ein.
Krankheit und Schlaf unterscheiden sich nur quantitativ vom
Tode, d. h. während einer Krankheit und des Schlafes trennt
sich die Seele zeitweilig vom Körper. Der Traum wird
folgendermaßen erklärt: Die Seele hat den Körper verlassen,
wandert über die Erde und besucht die Geister; alles, was
sie auf ihrer Wanderung erlebt, bewahrt sie im Gedächtniß,
auch nach der Rückkehr in den Körper; die Erinnerung an
alles das, was ihr begegnet, ist der Traum. Es ist begreif-
lich, daß die Burjäten ihren Träumen eine gewisse reale
Bedeutung beilegen. Aber die Seele ist nicht allein ein
reelles, sondern sie ist auch ein materielles Etwas, sie kann
von anderen Menschen gesehen und gespürt werden. Ge-
wöhnlich nimmt sie das Aussehen einer Biene an; diese
Vorstellung der Seele unter der Gestalt einer Biene ist den
Mongolen eigenthümlich, so wie die Slaven und Russen sich
dieselbe in der Gestalt eines Schmetterlings denken. In
der bekannten mongolischen Legende von den Thaten Bogda-
Gesser-Chans will der Lama Tchoridong den Chan tobten;
dazu nimmt seine Seele die Gestalt einer Wespe an, wird
aber vom Chan gefangen; jedesmal sobald der Chan die
Wespe mit der Hand drückt, verliert der Lama das Bewußt-
sein, sobald der Druck nachläßt, kehrt das Bewußtsein zurück.
Folgende Erzählung wird das Gesagte in Betreff der Be-
ziehung der Seele zum Körper erklären: Zwei Burjäten
wohnen in ein und derselben Jurte (Filzhütte); einst schläft
der eine am Tage ein, der andere nicht; dieser sieht nun,
wie aus der Nähe des schlafenden Kameraden eine Biene
(oder Wespe) herausfliegt, in der Jurte herumschwärmt und
zuletzt in das Freie gelangt. Er will wissen, was die Biene
machen wird und folgt ihr. Die Biene flattert um die
Jurte, fliegt weiter, kommt zu einer Grube und verweilt
hier eine Zeit lang; dann kehrt sie wieder heim in die Jurte;
hier klettert sie am Rande eines mit Wasser gefüllten Ge-
fäßes, herum und fällt ins Wasser, aus dem sie mit Mühe
sich rettet, endlich begiebt sie sich wieder in die Nähe des
schlafenden Kameraden.
Als dieser aufwacht , so erzählt er seinen Traum: Ich
ging hinaus aus die Straße, fand eine große mit Silber
gefüllte Grube, dann wanderte ich am Ufer des Meeres
und stürzte vom steilen Ufer herab; fast wäre ich ertrunken,
nur mühsam rettete ich mich — da erwachte ich. Unterdeß
ging der Kamerad, der sich die Grube gemerkt hatte, in
welche die Biene — die Seele des Schlafenden — hinein-
geflogen war, zur Grube und fand wirklich viel Silber
darin. Die Vorstellung, daß die Seele als Biene (oder
Wespe) leben kann, erklärt den Umstand, daß Bienen, welche
in die Jurte stiegen, niemals von dem Burjäten getödtet
werden: er fürchtet, eine Seele zn vernichten.
So hält der Burjäte die Traumgebilde für wirkliche
Thatsachen, welche er entweder danach beurtheilt oder sinn-
bildlich erklärt. Für gute Träume gelten: das Reiten ans
einem Stier oder das Baden; denn der Stier ist das Sinn-
bild des Bucha-noin, das Wasser weist auf Uchan-chat —
• Das Schamanenthum unter den Burjaten.
317
beide sind wohlwollende Götter. Im Gegensatz dazu bedeutet
das Eingesperrtsein in irgend einem Raum oder das Heraus-
nehmen eines Pfeiles'.ans einem Köcher Unheil und Tod;
der Pfeil bedeutet die Seele eines Mannes. So wie im
Schlafe, so trennt sich auch während einer Krankheit die
Seele vom Körper; allein die Trennung erfolgt nicht frei-
willig, sondern gewaltsam. Die Seele wird auf den Wunsch
einer Gottheit mit Gewalt entfuhrt, am häufigsten als Strafe
dafür, daß kein Opfer gebracht wurde. Um nun zu erfahren,
durch wen die Krankheit herbeigeführt, wer die Seele geraubt
hat, oder wer von den Göttern ein Opfer forderte, wird der
Schamane gerufen; er ist verpflichtet, aus den Rissen und
Sprüngen des verbrannten Schulterblattes eines Schafes
den Namen der Gottheit zu ermitteln. Wenn der Schamane
den Namen der Gottheit nicht erfahren, oder wenn die
Gottheit nicht gnädig gestimmt werden kann, so stirbt der
Kranke. So stirbt der Mensch — sobald seine Seele ge-
raubt und in dem Gefängniß Erlen-Chans eingesperrt
worden ist.
Aber der Mensch kann dem Tode entgehen, wenn seine
Seele sich unter den Schutz anderer Gottheiten flüchten kann.
Als solche Gottheiten gelten: der westliche Chat, Uchan-Chat,
das Herdfeuer, d. h. der Besitzer, der Herr des Herdes,
welcher den Verfolgern Feuerfunken nachwirft; die On-
gone u. s. w. Allein die Seele kann sich nicht nur bei den
Göttern, sondern auch an bestimmten Orten verbergen, z. B.
in der Mähne eines geweihten Pferdes, in den Häusern der
Nachbarn, bei einem guten Hunde u. f. w.
Während die Seele von den Abgesandten der bösen
Geister verfolgt wird, kann sie die Gestalt von Thieren,
von Vögeln annehmen; so verwandelt sich die Seele einer
Frau in eine Elster. Eine eingefangene Seele fängt an zu
weinen, und dies Weinen wird oft von den Menschen ver-
nommen.
Die Abgesandten Erlen-Chans oder die anderen bösen
Geister benutzen, um die Seele der Lebenden zu fangen,
verschiedene Mittel: z. B. sie reizen den Menschen während
des Schlafes znm Niesen; beim Niesen springt die Seele
des Schlafenden heraus und, wenn sie sich nicht sofort ver-
bergen kann, wird sie gefangen.
Oder der böse Geist fährt in einem schwarzen Wagen zur
Jurte des Kranken; seine Aermel sind zurückgestreift und
die Hände voller Blut; er schneidet dem Kranken ein Loch
in die Brust, dringt mit der Hand hinein und drückt die
großen Blutadern zusammen; dann tritt der Tod ein. —
Ucbrigcns wird dies Verfahren jedesmal bei der Tödtung
von Opferthieren ausgeübt. Das Einfängen der Seele eines
Menschen wird dadurch erleichtert, wenn vorher die Seele
seines Pferdes gefangen ist, denn die Seele des Menschen
kann auf einem Pferde sich leichter der Verfolgung ent-
ziehen. Aber auch die Seele des Pferdes kann sich bei den
Chatcn verbergen.
Die Seele eines kranken Menschen, wenn sie auch schon
von Erlen-Chan ergriffen ist, kann unter Beihilfe eines
guten Schamanen wieder in den Körper zurückgeführt werden.
Mau erzählt folgende Sage: Ein guter Schamane
wurde zu einem schwer Erkrankten gerufen; er lehnte ab, zu
kommen, weil er wußte, daß die Seele des Kranken im
Gefängniß Erlen-Chans eingesperrt sei; er wurde zum
zweiten Mal gerufen, aber vergeblich, und erschien endlich
auf den dritten Ruf. Der dritten Ladung muß der Scha-
mane nämlich Folge leisten, sonst wird er zur Rechen-
schaft gezogen. Der Schamane kam, rief dcn Sajan (Gott-
heit) an und erklärte, daß die Seele des Kranken nur um
den Preis seiner eigenen Seele befreit werden könne; er
erklärte sich auch bereit zu sterben, sobald der Kranke ihm
zur Beerdigung ein Pferd und eine gute Kleidung geben
werde. Der Kranke willigte ein — der Schamane ver-
weilte während der Verzuckung bei Erlen-Chan und erhielt
die Erlaubniß, feine Seele an die Stelle der mit Ketten
belasteten Seele des Kranken zu setzen. Die Ketten wurden
der Seele des Schamanen angelegt, in Folge dessen er, nach
Hause zurückgekehrt, erkrankte. Als er fühlte, daß er
sterben müsse, schickte er zu seinem geretteten Patienten und
bat um das Pferd und die Kleidung; dem Abgesandten
wurde nichts als Beleidigungen zu Theil. Der sterbende
Schamaue wies seine Verwandten an, ihn nicht vor neun
Tagen zu beerdigen, innerhalb dieser Frist werde er zum
Leben zurückkehren; aber die Verwandten begruben dennoch
den Leichnam auf dem Berge Tarjätün Ondor.
Der Schamane aber verklagte den betrügerischen Burjäten;
die Seele desselben wurde abermals ergriffen, in Fesseln gelegt
und der Burjäte starb. Die Seele des Schamanen erhielt
das Recht, heimzukehren, aber die heimgekehrte Seele fand
ihren Körper halb verfault, angefüllt mit Würmern, Angen
und Nase waren abgelöst. Nur mit Mühe gelangte die
Seele in den Körper; der Schamaue stand auf, schüttelte die
Würmer ab und setzte Nase und Augen an ihren richtigen
Platz. So begab er sich auf den Weg nach Hause, bedachte
sich aber unterwegs, kehrte zu seinem Grabe zurück und starb
zum zweiten Mal: seine Seele ging in das Land der Geister.
Später wurde dieser Schamane zu einem Sajan (gute Gott-
heit); er wird oft angerufen und erzählt sein Schicksal.
Meist alle Seelen kommen in das Gefängniß Erlen-
Chans; die Seelen guter Handwerker kommen in besondere
Werkstätten, wo sie ihr Handwerk weiter führen; die Seelen
der Schriftkundigcn beschäftigen sich mit Schreiben; die
Seelen der guten Näherinnen kommen in ein Gebäude,
welches Uleuschi heißt, um hier zu nähen.
Die Burjäteu glauben, daß kluge Leute, geschickte Hand-
werker und Schriftkundige nicht lange leben, weil man sie in
jener Welt braucht; deshalb rauben Erlen-Chan und andere
Gottheiten die Seelen jener.
Das Leben nach dem Tode kennt nach der Meinung
der Burjäten nicht die Qualen des Kerkers, nicht stete
Arbeit, sondern nur volles Vergnügen. Die Ideen einer
Vergeltung nach dem Tode sind den Anhängern des
Schamanismus fremd; wenn man hier und da solche
Ideen in einzelnen Erzählungen antrifft, so darf man an-
nehmen, daß dieselben dem Buddhismus entlehnt sind. Für
den Schamanisten ist charakteristisch, daß er sich das Leben
der Seele nach dem Tode nur als eine Fortsetzung des
irdischen Lebenswandels denkt: die Seelen essen und trinken
wie auf der Erde, machen Hochzeiten und Abendfeste mit;
tragen gute oder schlechte Kleidung, je nachdem, wie sie bei
der Bestattung gekleidet waren; sie gehen zu Fuß, fahren
oder reiten, je nachdem sie Roß und Wagen hatten oder
nicht. Diese Anschauungen spiegeln sich sehr lebhaft in den
Bestattungsgebräuchen ab.
Aber abgesehen von dieser Fortsetzung des gewöhnlichen
Lebens nach dem Tode erlangt die zu einem Geist gewordene
Seele doch einige neue Eigenschaften. Die Seelen der
Verstorbenen können von den Lebenden gesehen werden,
aber hinterlassen dennoch in der Herdasche keine Spur; beim
Wandern durch den Wald zerbrechen sie die dürren Zweige
nicht und setzen die Blätter der Bäume nicht in Bewegung.
Die Seelen der Verstorbenen — die Geister können er-
schlagen werden und danach wieder erwachen oder nicht
erwachen; sie können sich in einen Beckenknochen verwandeln;
sie spüren Schmerzen und fürchten sich vor dem Mehldorn
und der Heckenrose. Deshalb werden in den Jurten Mehl-
dorn und Heckenrose gehalten, insonderheit wenn ein Neu-
geborenes vorhanden ist.
Als Beispiel mag folgende Erzählung angeführt werden:
318
Aus allen Erdtheilen.
Einst wandert durch die Nacht ein Mann, der hat die
Fähigkeit, die Geister zu sehen und mit ihnen zu sprechen.
Er trifft drei Geister und gesellt sich zu ihnen. Aus dem
Wege erführt er von ihnen, daß sie die Seele des Sohnes
eines reichen Mannes holen wollen; der Burjate bittet nun,
die Geister mögen ihm gestatten, an der Jagd ans die Seele
Theil zu nehmen. Die Geister willigen ein. Beim Marsche
fragen die Geister, warum ihr Begleiter, der lebende Mann,
so wandere, daß das Gras zerdrückt werde, und daß unter
seinen Tritten die trockenen Blätter rascheln. Der Burjäte
antwortet, das käme daher, daß er erst vor Kurzem gestorben
sei und nicht zu gehen verstände. Die Geister schenken
ihm Glauben. So gelangen sie nun zum reichen Manne:
der eine Geist stellt sich an die Thür, der zweite an den
Rauchfang, der dritte geht in die Jurte und bringt den
kranken Sohn zum Niesen. Da springt die Seele desselben
heraus und will entfliehen, aber der Geist an der Thür
fängt sie und läßt sie nicht los, trotzdem daß sie klagt. Auf
dem Rückmärsche fragt der Burjäte die Geister, was sic
am meisten auf der Welt fürchten. Sie antworten, die
Heckenrose und den Mehldorn. „Aber was hast du während
des Lebens am meisten gefürchtet", fragen die Geister. „Ich
fürchtete ruich vor fettem Fleisch", entgegnet der findige
Burjäte. Die Geister glauben ihm abermals. Sie wandern
weiter. Da spricht der Burjäte zu den Geistern: „Gebt
mir die Seele, ich will sie tragen, ihr seid müde." Die
Geister gaben ihm die gefangene Seele. Als der Burjäte
auf dem Wege Mehldorn und Heckenrosen antrifft, so springt
er mit der Seele hinein und verbirgt sich inmitten der
dornigen Sträucher. Die Geister können nicht nahe heran-
treten und versuchen vorsichtig den Burjüten herauszujagen —
endlich glauben sie ein Mittel gefunden zu haben; sie werfen
fettes Fleisch in das Gesträuch. Der Burjäte ruft: „Ich
fürchte mich; ich fürchte mich", aber verspeist das Fleisch.
Die Geister sehen schließlich ein, daß sie überlistet sind und
gehen ab; der Burjäte kommt aus dem Busche hervor, bringt
dem Kranken seine Seele zurück und empfängt dafür eine
Belohnung.
Sobald ein Mensch gestorben ist, so irrt die Seele drei
Tage und Nächte um das Haus. Die früher verstorbenen
Verwandten und Nachbarn erwarten den neuen Ankömmling
im Reiche der Geister mit Freuden; sie bereiten ein Mahl;
aber die Seele hält sich noch nicht für abgelöst vom Körper
und bleibt bei ihm. Nach drei Tagen überzeugen die Geister
die Seele davon, daß der Tod eingetreten, indem sie sie
einen Versuch machen lassen; die Seele muß in die Asche
des Herdes im eigenen Hause oder bei Verwandten und
Freunden hineintreten, es bleiben keine Spuren davon, jetzt
ist die Seele überzeugt, daß sie todt ist.
Uebrigeus zeigt die mitgetheilte Erzählung, welche ge-
ringe Meinung die Burjäten von ihren Geistern (den todten
Seelen) haben; diese Seelen sind, wie der Teufel in dem
russischen Märchen, dümmer als dumm.
Eine andere Geschichte lautet: Ein Mann, welcher die
Fähigkeit besaß, Geister sehen zu können, hatte einen Sohn
und zwei Rennpferde, von denen das eine flinker war als
das andere. Als der Sohn starb, so wurde ihm das beste
Pferd mitgegeben, d. h. es wurde bei der Bestattung ge-
tödtet. — In einer leeren Jurte versammelten sich beständig
die Geister und hielten daselbst Abendgesellschaften ab. Der
Mann wollte zusehen und zuhören; er stellte sich auf die
Wache. Die Geister versammelten sich, dann kam ihr An-
führer; sie liefen hinaus auf die Straße, ihm entgegen und
führten ihn an der Hand in die Jurte. Der Anführer
war groß und dick und hatte auf der Stirn ein Auge; er
saß auf dem Ehrenplätze und gab Befehl, die Seele des N.N.
zu holen; jedesmal gingen einige Geister hinaus, um dem
Befehle nachzukommen. Der Mann zielte und schoß dem
Einäugigen gerade in die Stirn; er fiel um, schrie, daß
man ihn erschlagen hätte und verwandelte sich in einen nackten
Beckenknochen. Die Geister jagten zu Pferde dem Menschen
nach; alle Geister wurden müde, ausgenommen der Sohn,
dessen Pferd besser als das des Vaters war. Als der
Sohn den Vater erkannt, so läßt er von der Verfolgung
ab und erzählt den Geistern, daß er den Mann nicht habe
ergreifen können, weil derselbe in das Haus gelaufen sei.
Der erschlagene Geist, welcher sich in einen Beckenknochen
verwandelt hatte, ward innerhalb dreier Tage wieder zu
einem Geiste; um diese Verwandlung zu verhindern, muß
man den Beckenknochen im Feuer verbrennen. Andere
Leute aber erzählen, daß der Geist sich nicht in einen Becken-
knochen verwandelt, sondern, sobald er erschlagen ist, spurlos
verschwindet.
Bei ihrem Abendkränzchen machen die Geister in leeren
Jurten Feuer an; doch sind diese Feuer weiß und bläulich;
man kann ihnen das Feuer stehlen; derjenige, der das voll-
bringt, wird zu einem reichen Manne. Die Geister sitzen
oder tanzen um das Feuer, aber bilden dabei nie einen
vollen Kreis, wie die Menschen. Die Geister können, wie
bemerkt, von den Menschen gesehen werden; wenn der Mensch
die Geister früher sieht, so bemerken die Geister den Menschen
nicht; begegnen die Geister einem Menschen, so erschrecken
sie sich. Die Geister singen auf ihren Märschen Lieder und
diesen Gesang können die Leute hören.
Aus allen
Europa.
— Der vor 5 Jahren von einer Anzahl von Fach-
männern begonnene „Physikalisch-statistische Hand-
atlas von Oesterreich-Ungarn" (Wieu, E. Hölzel) ist
soeben mit dem Erscheinen der letzten vier Karten vollendet,
und damit in Wien ein stattliches Seitenstück zu dem
Andres-Peschel'schen gleich betitelten Atlas des deutschen
Reiches geschaffen worden, in welchem die Meteorologie,
Geologie, physische Geographie, Ethnographie, Bevölkerungs-
statistik u. s. w. eine übersichtliche kartographische Darstellung
und textliche Erläuterung gefunden haben. Die erste der
E r d t h e i l e n.
vorliegenden Karten behandelt die Bevölkerungsdichtigkeit
(von F. von Le Monnier) und zeigt auf den ersten Blick,
daß Böhmen, Mähren und Galizien, also der Norden, die
dichtest, Ungarn, Kroatien und Slavonien die schwächst be-
völkerten Theile der Monarchie sind. Am dichtesten (über
150 Einwohner auf den Quadratkilometer) ist, abgesehen
von den großen Städten, das nördliche Böhmen, am schwächsten
(unter 10 Menschen auf den Quatratkilometer) die Bezirke
von Mittersill und Windisch-Matrei bewohnt. Dr. Anton
üon Kerner hat eine Florenkarte von Oesterreich-Ungarn
beigesteuert, Lieutenant Hrubnnt eine solche über Abgrenzung
Aus allen Erdtheilen.
319
und Eintheilung der Militär-Territorial-Bezirke; Tafel 7
bringt außer einer Karte der Vertheilnng der Hagelfälle im
Jahresmittel noch solche der Vertheilnng der Ortschaften auf
die Fläche und der Vertheilnng der Schweine in Oesterreich,
sowie eine Karte der Analphabeten, auf welcher die deutschen
Gebiete sich durch ihre Bildung leuchtend aus den slavischen
(Böhmen ausgenommen) und magyarischen hervorheben.
— Mit Rücksicht darauf, daß viele der fremden, nicht
russischen Völkerschaften im russischen Reiche
mit großer Schnelligkeit zum Theil rnssificirt werden, zum
Theil anssterben, hat die k. k. geographische Gesellschaft be-
schlossen, in allernächster Zeit specielle Programme aufzustellen,
nach denen unter jenen Völkerschaften ethnographische
Forschungen vorgenommen werden sollen.
— Nach den Mittheilungen der „Nowoje Wrjema" ist der
Ethnograph E. A. Wolter von seiner lithauischen Reise
in St. Petersburg eingetroffen. Er ist nicht zum ersten
Male in Lithauen, hat die Gegend wiederholt besucht, so im
vorigen Sommer; jetzt hat er sich während der drei Sommer-
monate dort aufgehalten, um das Volk zu stndiren. In einer
der nächsten Sitzungen der k. k. geographischen Gesellschaft
wird er die Resultate seiner Forschungsreise veröffentlichen.
— Im Verlaufe dieses Jahres ist in St. Petersburg in
der Druckerei der Akademie der Wissenschaften eine Ausgabe
des neuen Testaments in kalmückischer Sprache
hergestellt worden. Es ist das geschehen auf Anregung und
ans Kosten der großbritannischen und ausländischen Bibel-
Gesellschaft. Die Uebersetzung lieferte der Professor der
mongolischen und kalmückischen Sprachen an der St. Peters-
burger Universität, A. M. Posdnejew. Gegen 200
Exemplare sind bereits in Astrachan an getaufte Kalmücken
verkauft worden. Der größte Theil der Auflage ist von
Petersburg nach England versandt worden, um in Asien durch
europäische Missionare zur Verbreitung zu gelangen.
— Wie „Helsiugfors Dagblad" berichtet, ist die in diesem
Frühjahr zur Erforschung des Inneren der Halbinsel
Kola ausgesandte finländischc Expedition (s. o. S. 301)
zurückgekehrt. Die Expedition hatte sich in zwei Abtheilungen
getheilt, wovon die eine längs des Ponojflnsses vordrang und
die andere ihren Weg über die Tundras nach Jakouza und
Ponoj nahm. Nach einer sehr beschwerlichen Reise kamen
alle Mitglieder der Expedition Mitte September in Ponoj
an, von wo Professor Freiherr Palmen und einige Mit-
glieder der Expedition nach kurzem Aufenthalt mit einem
Boot nach Archangel segelten. Auf der Reise wurden zoolo-
gische, botanische, meteorologische und astronomische Studien
und Untersuchnngen vorgenommen, sowie auch die geographische
Lage der Halbinsel genau bestimmt und kartirt. — Eine
andere von dem finländischen Alterthums-Verein in diesem
Sommer nach dem oberen Laufe des Jenisej aus-
gerüstete Expedition unter der Leitung des Professors
Aspel in ist gleichfalls kürzlich zurückgekehrt. Das Resultat
war über Erwarten groß. Von einer Klippe und nenn
Bautasteinen wurden Abzeichnungen der darauf befindlichen,
bisher noch nicht entzifferten Inschriften genommen, gleich-
falls von verschiedenen „hällristningar", und beinahe 30 Stein-
statuen u. s. w. Einige Gräberfunde gaben reiche Ausbeute
und in den Dörfern und Ulnssen wurden einige hundert
Gegenstände gekauft, welche meistens dem sibirischen Bronze-
alter angehören, ans dem sich nach der Ansicht mehrerer
Alterthumsforscher das finisch-ugrische Eisenalter entwickelt
haben soll.
— Die von Seiten der St. Petersburger geographischen
Gesellschaft nach Nowaja Semlja abgesandte Expedition
hat jetzt ihre Arbeit beendet. Zweck derselben war, die
Frage nach der Gestalt der Erde durch Beobachtung in
Pendelschwingungen zu fördern; nach dieser Richtung hin
sind gute Resultate erzielt worden. Ein Mitglied der
Expedition, der Naturforscher A. W. Grigorjew, ist schon
nach St. Petersburg zurückgekehrt. Der Chef der Expedition,
Marine-Lieutenant A. I. Wilkizki, ist noch unterwegs.
Der ihm vom Marineministerium gewordene Auftrag, die
Bucht von Chaipudyr zn untersuchen, hat nicht so ausgeführt
werden können, wie inan es erwartet hatte, weil der Schoner
„Bakon" nicht die zweckentsprechende Einrichtung besaß.
A s i e n.
— Im südlichen Theile von Transkaspieu nahe der
russisch-afghanischen Grenze, wo sich eine die Oase P end eh
begrenzende Hügelreihe befindet, sind kürzlich gegen 12 alte
Höhlen entdeckt worden. Die Zugänge derselben sind mit
Felsstücken und Sand verschüttet. Zwei Höhlen sind schon
ganz, die dritte theilweise aufgegraben. Die eine besteht aus
zwei über einander gelegenen Reihen von Zimmern, welche
durch Wendeltreppen mit einander im Zusammenhange stehen.
Viele Zimmer haben Nebenräume, in denen zwei bis drei
Sashen (4 bis 6 m) tiefe Schächte (ausgetrocknete Brunnen?)
sich befinden. Die Decken der Zimmer sind gewölbt, die
Wände und Thüren mit Nischen und Gesimsen verziert.
In den Wänden, etwa 2 Arschin (1,4 m) vom Fußboden, sind
kleine Vertiefungen, welche offenbar zur Aufnahme von Lampen
dienten, denn sie sind berußt. Ein Zimmer scheint besonders
ausgezeichnet; der Hintere Theil ist vom vorderen durch eine
Barriere und einen Bogen geschieden; in den Seitenwänden
befinden sich vier Nischen mit Bögen. An der Wand einer
Gallerte sind zwei tatarische Inschriften zu sehen; beim Ein-
gänge zahlreiche Abbildungen von Hörnern und ein grobes
kreuzähnliches Zeichen. Die zweite Höhle liegt einige Meter-
tiefer und besteht nur aus einem langen, durch eine Barriere
getheilten Zimmer, im hinteren Theile ein altarähnlicher
Vorsprung mit zwei Stufen. Die Einwohner von Pendel)
behaupten, daß irgend ein mohammedanischer Heiliger in der
Höhle Zuflucht gesucht hat; andere erzählen, daß die Araber-
oder Perser die Höhlen hergestellt haben; am wahrscheinlichsten
ist aber, daß sie den alten Christen zum Zufluchtsorte gedient
haben. („Nowoje Wrjema" 1887, Nr. 4152.)
— Der Bischof von Jakutsk hat der St. Petersburger-
Synode mitgetheilt, daß nach statistischen Ausweisen im Ge-
biete des Jakutsker Sprengels gegen 250 000 getaufte
Jakuten leben, daß aber etwa nur der achte Theil derselben
russisch versteht. Wegen der herrschenden Unkcnutniß der
Sprache und der christlichen Lehren ist viel Aberglauben und
Schamanenthnnl unter den Jakuten im Gange.
— Grum-Grfhimailo ist von seiner Forschungsreise
nach St. Petersburg heimgekehrt; er hat während des Sommers
im Auftrage der entomologischen Gesellschaft die iranische
Hochebene besucht.
— In dem englisch - chinesischen Vertrage von Tschi-fn
(Chefoo) ist die Bestimmung enthalten, daß, falls es Dampfern
glücken sollte, den Jang-tze-kiang bis Tschung-king hin-
auf zu fahren, die chinesische Regierung Anstalten und Einrich-
tungen in Hinsicht auf die Eröffnung britischer Handels-
etablissements daselbst treffen würde. Nun hat ein Mr. Little
den Westen der volkreichen Provinz Sze-tshwan und speciell den
oberen Jang-tze-kiang mit Rücksicht auf diese Frage bereist,
fand dann in England Unterstützung und die Mittel für einen
Dampfer, welcher kürzlich in zerlegtem Zustande in Schang-Hai
angelangt ist, und erbat durch Vermittelung des englischen Ge-
sandten die Erlaubniß der chinesischen Regierung zu jener
Fahrt. Natürlich machte dieselbe zunächst allerhand Ausflüchte
und Umschweife, schilderte die Gefahren der Schiffahrt ans
dem Jang-tze oberhalb J-tschang n. s. w., konnte aber doch
320
Aus allen Erdtheilen.
nicht umhin, im Princip die Fahrt zn gestatten; sie erwartet
nur noch die Auskunft der Statthalter von Hupeh und Sze-
tshwan darüber, ob der Dampfer die Fahrt unternehmen
kann, und will dann die Behörden mit Verhaltungsmaßregeln
versehen. — Uebrigens hat Mr. Little ein Buch über seine
bisherigen Reisen unter der Presse.
Afrika.
— Unter Hauptmann van de Velde verlaßt, wie der
„Allg. Z." aus Brüssel geschrieben wird, eine neue große
Expedition Europa, zunächst um die Station bei den
Stanley-Fallen den arabischen Sklavenhändlern wieder zn
entreißen, dann aber, um den ganzen Osten des auf den
Karten als zum Cougostaat gehörig bezeichneten Gebietes bis
zum Tanganika - See hin unter die staatliche Autorität zu
bringen und eine große Handelsstraße vom Congo nach Zan-
zibar zn schaffen. Ein riesiges Projekt, an dessen baldiger
Durchführung wohl noch leise Zweifel gestattet sind.
— Der unseren Lesern durch eine Anzahl von interessanten
Beiträgen im laufenden und im vorigen Bande bekannte
Züricher Zoologe Dr. Konrad Keller hat die Berichte,
welche er von seinen beiden afrikanischen Reisen an die
„Neue Züricher Zeitung" geschrieben, zusammen mit späteren
Studien und u. a. auch mit seinen Beiträgen zum „Globus"
zn einem Buche unter dem Titel „Reisebilder ans Ost-
afrika und Madagaskar" (mit 43 Holzschnitten.
Leipzig; C. F. Winter) vereinigt, das wir namentlich wegen
einiger hochinteressanter naturwissenschaftlicher Abschnitte warm
empfehlen. Wir rechnen dahin die thiergeographischen Er-
gebnisse im Suez-Kanal (Kap. 2), die Kap. 13 und 15 über
die Flora und Fauna von Madagaskar und besonders Kap.
14, Ergebnisse über Hnmusbildung und natürliche Boden-
kultur in den Tropen. Im letzteren behandelt Keller seine
Beobachtungen über die Bedeutung der Regenwürmer für die
Hnmusbildung, welche bekanntlich Darwin zuerst dargelegt
hat; dessen Ansichten hat Keller in Madagaskar durchaus
bestätigt gefunden. Die Regenwürmer, welche ans jener
Insel durch ganz besonders große Arten vertreten sind,
fressen große Mengen von Erde, treiben sie durch ihren
Darm und werfen sie an der Oberfläche des Bodens wieder
aus, von wo sie durch den niederfallenden Regen fort-
geschwemmt werden. Den Würmern konunt also insofern
eine geologische Bedeutung zn, als sie die Denudation der Erd-
oberfläche befördern. Keller fand, daß die Arbeit dieser
Thiere in den Tropen dreimal so bedeutend ist, als sie Darwin
in England beobachtete; es wird dort innerhalb fünfzig Jahren
eine Erdschicht von 1 m Dicke durch Regenwürmer an die
Oberfläche geschafft. Von Interesse ist folgende Berechnung
Keller's (S. 254 f.). „Die Insel (Madagaskar) zeigt das
Maximum der Vegetation im Urwalde, welcher einen zusammen-
hängenden Gürtel in einiger Entfernung von der Küste bildet.
Der Gürtel hat mindestens eine Länge von 3000 km und
eine Breite von 20 bis 25 km. Müßig gerechnet hat
Madagaskar eine Waldfläche von 70 Milliarden Quadrat-
meter. Die durch Regenwürmer herausgeworfene Erde würde
jährlich in runder Summe ll/2 Milliarden Kubikmeter aus-
machen. Vergleichen wir diese Arbeit mit der Leistungs-
fähigkeit des Menschen. Ein Erdarbeiter leistet täglich eine
Erdbewegung von 5 cbm, im Jahre also etwa 1500 cbm.
Die Arbeit, welche demnach die Regenwürmer im llrwalde
pro Jahr verrichten, entspräche der Arbeit von einer Million
Erdarbeitern. Nehmen wir madagassische Arbeiter, deren
Löhnung 1 Franken pro Tag wäre, und welche an der Stelle
der Regenwürmer dieses Umackern im Gebiete des Urwaldes
zu besorgen hätten, so würde die erwachsene männliche Be-
völkerung von ganz Madagaskar eben hinreichen, um diese
Arbeit auszuführen, und müßte täglich mit einer Million
Franken gelöhnt werden! Hierbei ist aber nur das Urwald-
gebiet gerechnet, die Erdbewegung in den übrigen Gebieten
des Landes ist ganz außer Betracht gelassen." Uebrigens
wirken an der Humusbildung außer Regenwürmern noch
Ameisen, Schnurasseln, ans Korallenriffen Sandkrabben und
Eremitenkrebse mit. — Keller's Ansichten über die Be-
völkerung Madagaskars sind unseren Lesern bekannt; in
zoologischer Hinsicht weist er Sclater's Hypothese von
der einstigen Existenz eines .Kontinents Lemurien, welcher
sich im Süden von Asien bis nach Madagaskar und Afrika
hin ausdehnte, nicht von der Hand; nur, meint er, darf man
nicht so weit gehen, in demselben die Wiege des Menschen-
geschlechtes zu erblicken. Lemurien war längst zerfallen oder
doch sehr redncirt, als der Mensch den Schauplatz der
Schöpfung betrat.
Nordamerika.
— Wie die „Montreal Gazette“ meldet, sind von
Dr. G.M. Dawson, welcher an der Spitze einer geologischen
Expedition den Ankon-Distrikt erforscht, Briefe eingelaufen,
aus denen Folgendes -zu entnehmen ist. Die Expedition
baute am Dease-See zwei Boote, verließ denselben am 3. Juni
und fuhr den Dease-River hinab bis zn dessen Vereinigung
mit dem Liard. Hier trennten sich die Theilnehmer, indem
Mac Connell mit zwei Mann den Liard hinabfnhr, während
der Rest mit fünf Indianern den nördlichen Qnellflnß des
Liard hinauffuhr bis zum Francis-See, hier die Boote zurück-
ließ und nach dem Ueberschreiten eines 60 engl. Meilen
langen Tragcplatzes den Pelly-River in der Nähe des früheren
Hudson-Bai-Postens „Pelly Banks" am 29. Juli erreichte.
Hier wurden die Indianer zurückgesandt, und, nachdem
Dr. Dawson mit Mac Evoy und zwei Weißen ein Boot
erbaut hatte, fuhren dieselben den Pelly-River hinab bis zu
seiner Mündung in den Ankon-River. Das Land nördlich
vom Dease-See zeigte einen granitischen Kern mit paläozoi-
schen, von der cambrischen bis zur Kohlen-Formation reichen-
den Massen an den Rändern, sowie darüber lagernde Tertiär-
schichten. Der alte Trageplatz wurde in gänzlich unbenutztem
Zustande gefunden, so daß sich die Theilnehmer der Expedition
mit Mühe durch das Gestrüpp hindurcharbeiten mußten, oft
knietief in den Morast sinkend. Das Land wird weiter als
gut bewaldet geschildert, auch wurde eine große Anzahl den
östlichen Territorien eigenthümlicher Pflanzen in Blüthe ge-
sehen neben mehreren westlichen und nördlichen Fremdlingen.
Nur der reiche Wuchs der Sphagncn, sowie der Ueberfluß
an Renthiermoos gab der Landschaft ein anderes Aussehen
als der von Britisch - Columbia. Indianer kamen nicht zu
Gesicht. Obgleich die Jahreszeit schon weiter vorgerückt war,
als Dr. Dawson hoffte, so glaubte er doch vor dem Zufrieren
der Flüsse die Küste erreichen zu können.
Inhalt: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa. II. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr. H einrich Simroth: Eine
Azorenfahrt von Insel zu Insel. II. (Schluß.) (Mit drei Abbildungen.) — Das Schamanenthum unter den Burjaten.
5. Die Ideen der Burjaten über die Seele und über das Leben nach dem Tode. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa.
— Asien. — Afrika. — Nordamerika. (Schluß der Redaktion am 25. November 1867.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Liudenstraße 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herüebsichtrgung der Antbropologie und Ethnologie.
B e g r ü u d e t von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
D i e u I a f o lj ’ 8 Ausgrabungen i n Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dicnlafoy.
III.
sDie Abbildungen nach Photographien der Expedition Dieulafoy.s
Die Ruinenhügel von Susa zerfallen in drei Theile,
welche von verschiedener Zusammensetzung und ungleicher
Höhe sind. Der höchste Punkt, der Kaleh Schusch (Festung
Susa) liegt im Südwesten gerade über dem Danielsgrabe,
36 m über dem mittleren Wasserspiegel des Schawur. Als
im Jahre 1851 Sir Kennet Loftus zuerst in den Hügeln
grub, schlug er dort sein Lager auf; von dort genoß er eine
weite Aussicht, und dorthin dringen weder die Nebel des
Flusses, noch die Miasmen der von ihm gebildeten Sümpfe.
Die französische Expedition aber, welche nicht über viele
Geldmittel verfügte, mußte einen begueiner zu erreichenden
Platz wählen, wohin der Transport des Wassers und der
größeren Fundstücke nicht so schwierig und theuer war, und
entschied sich für den nördlichen Hügel, welcher auf dem
umstehenden Plane als Tumulus Nr. 1 bezeichnet ist; der-
selbe erhebt sich nur zu 20 m Höhe über den Schawur, hat
sanfte Abhänge und beherrscht sowohl den Weg nach Dizful,
als auch das Danielgrab und die Senkung zwischen den drei
Ruinenhügeln. Dort wurden die Zelte aufgeschlagen.
Als die Reisenden am nächsten Morgen erwachten,
bedeckte dicker Nebel das ganze Land, so daß man kaum das
zweite, kaum 10 m entfernte Zelt erkennen konnte. Erst
gegen 7 Uhr wird er durchsichtiger und beginnt sich in
leichte Wolken aufzulösen. Zuerst zeigte sich der Halbmond,
dann der weiße Spitzthurm des Danielgrabes, noch ein
paar Minuten, und im hellen Scheine der Morgensonne
lag die Ebene, das Bachtijarengebirge, der Lauf des Schawur
und der Wald an den fernen Ufern der Kerka da, ein
Globus Ul. Nr. 21.
prächtiges Bild, doch ohne Leben: kein Gezwitscher, keine
Thierstimme läßt sich vernehmen, alles ist still und todt.
Während die Reisenden noch ihre steifen Glieder in der
Sonne wärmten, zeigte sich eiu zahlreicher Trupp Reiter
und schickte sich an, die sanften Abhänge des Tumulus zu
erklettern. Araber, die Kuffije und die Schnur aus Kameels-
haar auf dem Kopse, ein Hemd mit rundlich langen spitzen
Aermeln und eine wollene Abba (Mantel) am Leibe und
mit Steinschloßgewehren bewaffnet, eröffneten den Zug;
Reiter nüt langen Lanzen folgten ihnen. Dann kam auf
einer schönen weißen Stute ein älterer Mann mit roth-
braun gefärbtem Barte, Scheich Ali, der angesehene Häupt-
ling eines Stammes, dessen Lagerfeuer man am vorher-
gehenden Abend in der Ferne hatte leuchten sehen. Ein
Teppich wurde auf der Erde ausgebreitet, auf welchem der
Scheich und ihm gegenüber die Reisenden sich niederließcn;
ein persischer Diener machte den Dolmetsch. Der Scheich
war zwar geneigt, den Fremden Butter, Schafe, Hühner
und Eier zu verkaufen, weigerte sich aber, ihnen Arbeiter
für ihre Ausgrabungen zu stellen; er schien solche Arbeit
für zu niedrig für seine Leute zu halten. Uebrigens war
die Begrüßung der Franzosen nicht der einzige Zweck seines
Kommens gewesen. Im Besitze einer englischen Jagd-
flinte hielt er sich für den König des Landes. Nun hatten
die Franzosen am vorhergehenden Abend ihre Karabiner
im Wettschießen probirt, und es hatte nicht lange gedauert,
daß die Noinaden davon Kunde erhalten hatten, worauf sie
sich aus den Weg gemacht hatten, um den Werth der Flinten
41
322
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
kennen zn lernen. Die Herren der Expedition ließen sich
nicht lange bitten, die Wirkung ihrer Waffen zu zeigen und
damit den Arabern einen heilsamen Respekt einzuflößen.
Scheich Ali und einige feiner Verwandten und Begleiter
versuchten vergebens, es den Fremden im Treffen gleich
zu thun, und selbst Madame Dienlafoy, von den Arabern
zum Schießen gedrängt, zeigte sich als besserer Schütze als
jene. So viel war sicher, daß die Araber so bald keinen
Angriff auf das Lager der Expedition machen würden.
Schließlich stieg Scheich Ali zn Pferde und ritt davon,
während die Seinigen um ihn hernmfprengten und ein
wüthendes Flintenfeuer unterhielten.
Der Nachmittag wurde dazu verwendet, durch die Schutt-
hügel und die tiefen Schluchten, welche deren Abhänge
zerreißen, zu wandern, ohne daß man einen Punkt hätte
ausfindig machen können, an welchem man lieber als auders-
bittriasay.&l ... ,
Vorläufiger Plan der Tumuli von Susa. (Die Doppellinien bezeichnen die in den Gräben entdeckten Mauern.)
wo den Spaten angesetzt hätte. Kalch Schusch glich einem
verschlossenen Buch, dessen Entzifferung zu beginnen, schwer
genug erschien. Indessen glaubte Dienlafoy, daß der
Eingang zn der Halle, deren Säulenbasen Loftus auf-
gedeckt hat, gegen Süden unter noch unberührter Erde liege,
und daß vor dem Eingang ein Pylon, wie der Porticns
Visadaju in Persepolis, sich befinden müsse. Er zweifelte
nicht, daß der Haupteingang des Palastes der Burg gegen-
über gelegen hatte. Er hatte also ziemlich entfernt von den
englischen Ausgrabungen nach den Thoren und Treppen zn
suchen und beschloß, zu diesem Zwecke einen Graben von
4 m Breite und 6 in Länge schräg zur Südfa^adc des
Palastes und zu der Stelle, wo der vermuthete Pylon liegen
sollte, auszuwerfen. Leider aber fehlte cs an Arbeitern;
obwohl man Boten in die umliegenden Nomadenlager geschickt
hatte, hatte doch Niemand der Aufforderung Folge geleistet.
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa. .823
324
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Arabischer Reiter mit seinen Kindern.
Dafür aber erschien auf der Straße von Dizsul Her-
Mirza Abdul Karin, welchen man nicht so bald erwartet
hatte, in Begleitung eines Said — wenn man wenigstens
von seiner riesigen blauen Kopfbedeckung aus seinen Rang
schließen durfte — und etwa eines Dutzend Mollahs mit
nicht weniger umfangreichen Turbans. Alle begaben sich
in das Grab Daniel's, kamen dann zum Lager, erkundigten
sich nach der Ursache, warum die Fremden so rasch das
Danielgrab verlassen hätten und entfernten sich wieder, als
Dieulafoy entgegnete, daß die Ausgrabungen seine bestän-
dige Anwesenheit auf den Ruinenhügeln erforderten. Abends
bemerkte man den Said mit dem blauen Turban eiligst
auf der Straße nach Dizful reiten.
Am 1. März nahmen die Ausgrabungen auch wirklich
ihren Anfang; aber die ganze Arbciterschaar bestand nur
aus einem alten Araber, der sich in Ermangelung von
etwas Besserem von jungen Diesteln nährte, einem Ein-
äugigen, dem halb verhungerten Sohne einer Wittwe, zwei
Soldaten des Mirza Abdul-Kaim, und zuletzt den Dienern
und Mitgliedern der Expedition. Zunächst wollte man an
einigen Stellen recognosciren und nahm darum eine Ziegel-
mauer, die unweit der Zelte aus einem Schutthaufen
hervorragte, in Angriff. Bis Mittag war die Mauer 2 m
tief bloßgelegt, aber da nichts zum Vorschein kam, gab man
die Arbeit ans und wandte sich den früher von den Eng-
ländern aufgedeckten Säulenbasen zu, welche zu der südöst-
lichen Ecke des Achämenidenpalastes gehören. Trotzdem die
Arbeiter den für dortige Verhältnisse reichlichen Tagelohn
von 15 Schahis (ca. l/2 Mark) erhielten, lockte doch diese
Freigebigkeit keine Nachfolger an, und die Arbeiten nahmen
in Folge dessen in den nächsten Tagen nur einen geringen
Fortgang. Am 5. März jedoch stellte sich ein unbeschäf-
tigter Maurer ein, den schon sein Turban als einen Dizfuler
erkennen ließ, Usta Hassan mit Namen, und versprach Erd-
arbeiter heranzuschaffen; Dieulafoy verhieß 15 Schahis Lohn
für jeden Mann, ihm als Aufseher aber täglich einen Kran
und außerdem 2 Schahis für jeden von ihm gestellten Mann,
nahm auch sofort seinen Begleiter Dor Ali in Dienst, einen
früheren Soldaten, der sein Handwerk hatte aufgeben müssen,
weil er weder seinen Lohn, noch Pulver für seine Flinte,
noch auch einen Rock erhalten hatte. Schon von diesen
Leuten erfuhr man, daß in Dizful wegen der französischen
Ausgrabungen große Aufregung herrsche und auf dem
Bazar tolle Märchen über die Europäer umliefen; einer
derselben solle sich kopfüber in den Schawur gestürzt haben
in der Hoffnung, auf diesem Wege in die sonst unzugängliche
Grabkammcr Daniel's zu gelangen. Seit vier Tagen sei
er noch nicht wieder emporgekommen, tränke Flnßwasser
und verzehre dazu rohe Fische. Um dies Wunder zu sehen,
hatten sich die beiden ans den Weg gemacht und waren nun
sehr enttäuscht, daß sich die Fabelgeschichte als erfunden
herausstellte. Schließlich kehrten beide nach Dizful zurück,
mit dem Versprechen, wiederzukommen und graben zu
wollen, wenn es der Scheich Daher, der Imam Dschuma
und der Untergouverneur erlauben würden. Am folgenden
Tage zogen einige Soldaten auf ihrem Wege von Dizful
nach Hawize vorüber, von denen sich vier anwerben ließen,
als sie erfuhren, daß zwei ihrer Kameraden bereits be-
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
schäftigt seien und nahezu Oberstcngchalt bezögen; da die
Leute ihre einzigen militärischen Abzeichen, die Kupfer-
beschlüge an Kopfbedeckung und Gürtel, iiicht an sich trugen,
so konnte Dieulafoy sie ohne Bedenken in seine Dienste
nehmen. Am 7. März wurde die Basis der Ecksäule des
Thronsaalcs freigelegt; dieselbe ruht auf einer riesigen vier-
eckigen Platte, welche wie alle ihre Nachbaren in einer-
dicken Kiesschicht eingebettet war. Die ganzen Palastruinen
waren von Dorngestrüpp überwuchert und fast unzugänglich
gemacht; Dieulafoy ließ wenigstens die vier Jnschriftbasen
freilegen. Kein einziger der in persischer, medischer und
babylonischer Keilschrift abgefaßten Texte ist unverletzt; alle
sind durch den Sturz der benachbarten Säulen und Kapitäle
beschädigt worden. Nach Oppert's Ucbersetzung der von
Loftns gemachten Abschrift besagt die Inschrift Folgendes.
„Es spricht der König Artaxerxes, der Großkönig, der König
der Könige, der König der Länder, der König dieser Erde,
Sohn des Königs Darius, Sohnes des Königs Artaxerxes,
des Sohnes des Königs Xerxes, des Sohnes des K önigs Darius,
des Sohnes des Hystaspes, der Achämenide. Diesen Palast
(apadäna) baute Darius, mein Urgroßvater; später, zur
Zeit des Artaxerxes, meines Großvaters, wurde er vom
Feuer verbrannt. Durch die Gnade des Ormazd, der
Anahit und des Mithra befahl ich, diesen Palast wieder-
aufzubauen. Mögen Ormazd, Anahit und Mithra mich
gegen jedes Unheil beschützen, mich und was ich gemacht
habe; mögen sie es nicht angreifen, mögen sic es nicht zer-
stören!^ Es ist aber anders gekommen.
Am 8. März nahmen die Dinge eine Wendung zum
Besseren; der brave Maurer Usta Hassan hatte die Zn-
fchlnchten in den Seiten eines Tumulus von Susa.
stimmung der geistlichen und weltlichen Machthaber von
Dizful erhalten und traf mit 40 Erdarbeitern ein. Nun
gab man es vorläufig auf, die Sünlenbasen des Palastes
weiter freizulegen, und nahm den projektirten großen Graben,
welcher auf dem Plane mit C bezeichnet ist, mit ganzer
Kraft in Angriff. Derselbe war gleich zu Beginn der
Arbeiten abgesteckt worden und wurde nun in Loose zu je
10 m Länge getheilt, von denen diejenigen mit ungerader
Nummer zuerst in Arbeit genommen wurden. Falls sich
eine Spur finden sollte, wollte man derselben folgen, ohne
sich weiter um die geraden Loose zu kümmern, im entgegen-
gesetzten Falle aber an letzteren graben. Die Soldaten
rückten zu. Aufsehern vor, und bei jedem Loose wurden drei
Leute mit Hacken und neun mit Schaufeln angestellt,
während vier mit der Aufsicht über das Lager, mit Brot-
backen und Wasserholen betraut wurden. Die Arbeit be-
gann täglich um 5Hz Uhr, sobald es anfing, Tag zu werden,
und dauerte mit einer kurzen Unterbrechung, welche die
Leute zum Verzehren eines Kuchens ans Gerstenmehl be-
nutzten, bis 4 Uhr Nachmittags, wenn aus dem Zelte der
Zins „tcmmm“ (Ende) ertönte und von den Arbeitern ver-
gnügt wiederholt wurde. Dann stellten Usta Hassan und
Dor Ali mit M. Babin, Dieulafoy's einem Begleiter,
die Rechnung auf, nahmen das Geld in Empfang und ver-
theilten es an die Leute, welche von da an freie Zeit hatten.
Die Dizfuler begaben sich dann nach dem Heiligengrabe,
einige Luren zogen sich in die Schilfhüttcn zurück, welche sie
sich unweit der Zelte errichtet hatten, M. Babin brachte
seine Bücher in Ordnung, M. Houssay, der andere
Begleiter, sammelte Insekten und das Dieulafoy'sehe
326
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Ehepaar nahm eine genaue Untersuchung der Ausgrabuugs-
ftcttte vor.
Nicht selten wurden sie dabei Zeuge des mannigfaltigen
Thierlebens, welches in diesen Einöden sich ungestört ent-
falten kann. Wildschweine, Geparden und selbst Löwen
finden in dem Dickicht zwischen Schawur und Kerka sicheren
Unterschlupf; letztere holen sich allnächtlich ihren Tribut von
den Heerdcn der Nomaden, welche in der Umgebung des
Danielgrabes zelten. In Massen kommen dort kleine Reb-
hühner mit braunem Fleische vor; auf den Wiesen wandeln
dunkelfarbige Dorradsch, die in ihrer Gestalt an die Fran-
kolinhühner erinnern, und in den Sümpfen schnattern wilde
Enten, stolziren Störche und tummeln sich Häher. Leider
aber verfügten unsere Reisenden nur über Militärgewehre,
da ihre Jclgdflinten verloren gegangen waren, und befanden
sich außer Stande, durch die Jagd ihrer einförmigen Küche,
in welcher zuletzt sogar das Hammelfleisch ausgegangen
war, eine kleine Abwechselung zu verleihen.
Am 12. März traf unerwartet ein Brief des Gouver-
neurs Mozasfer el-Molk ein, worin die Reisenden auf-
gefordert wurden, ihre Arbeiten einzustellen, ihr Gepäck in
Dizful unterzubringen und selbst nach Schuster sich zurück-
zuziehen. Die Bevölkerung von Dizful war nämlich durch
das Gerücht, die Franzosen wollten den Leib Daniel's ent-
führen, erregt worden und einige Hundert, mit schlechten
Flinten, Pistolen, Lanzen und den weit gefährlicheren
Schleudern bewaffnet, hatten sich unter Anrufung Ali's
und seiner beiden Söhne heulend, schreiend und tanzend auf
den Weg nach Susa gemacht, um die Fremden anzugreifen.
Nur 20 km vor den Ruinenhügeln war es zwei Söhnen
Karpfen aus
des Scheich Mohammed Taher gelungen, die Rotte zur
Umkehr zu bewegen, aber nur gegen das Versprechen, daß
eine Abordnung von Sei'ds und Mollahs untersuchen sollte,
ob die Franzosen, wie mau glaubte, das Dauielsgrab ver-
letzt hätten oder nicht. In Folge dessen hatten sich bald
nach ihrer Ankunft in Susa die Träger der blauen und
weißen Turbane nebst Abdul Kann bei ihnen eingefunden
lind die Lage der Dinge untersucht. Damit hing auch
die Schwierigkeit, Leute zu erhalten, das Zögern Usta
Hassan's und die Furcht Dor Ali's zusammen. Aber trotz
der beruhigenden Nachrichten zeigte sich das Dizfuler Volk
erregt über die Anwesenheit der Christen in der Nähe des
Danielgrabes, und das hatte den Gouverneur zur Absendung
seines Briefes bewogen. Dieulafoy aber schlug das An-
sinnen rund ab, verlangte vom Gouverneur Schutzmaß-
dem Schawur.
regeln und sandte Usta Hassan nach Dizful, um sofort
möglichst viele Arbeiter für die bisher nur schwach betrie-
benen Ausgrabungen anzuwerben.
Die nächsten beiden Tage brachten einige kleinere Funde,
eine Urne mitGebeinen, welche Dieulafop der parthischen
Epoche zuschreibt, einen emaillirten Ziegel, ein Armband
aus emaillirtem Glase und ein Bruchstück einer Keilinschrift;
daun aber machte sintfluthartiger Regen zwei Tage laug
jedes Arbeiten unmöglich, und als derselbe am 19. März
aufhörte und man den Graben 0 besuchte, zeigten dessen
Wände so viel Risse und drohten so sehr den Einsturz, daß
man einen ganz neuen Graben, B des Planes, der senk-
recht zur Südfront des Palastes stand, in Angriff nahm.
Falls die Thore nicht völlig zerstört waren, mußte dieser
Graben Aufschlüsse über deren Lage, Gestalt und Aus-
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
327
schmückung geben. Die oberste Erdschicht war mit Skor-
pionen wie vollgestopft; wie die Natur selbst, schienen die-
selben aus ihrem Winterschlaf zu erwachen und krochen in
Masse auf den grünen Nasen hinaus. Da gab es große
und kleine, lange und kurze, weiße, schwarze, grüne, gelbe,
und in der Blechbüchse, in welche sie M. Houssay setzte,
lieferten sie sich erbitterte Kämpfe. Einer der Arbeiter
wurde von einem Skorpion gestochen, aber den oft schweren
Folgen solcher Verletzung wurde alsbald durch einen Schnitt
mit dem Messer und Anwendung von Phensäure vorge-
beugt. Als die Leute ihren Kameraden zwei Stunden
später gesund umhergehen sahen, war ihre Ucberraschung
und Freude keine geringe. Ueberhaupt erwarb sich die
Expedition durch die Praxis des M. Houssay und die reich-
lich vertheilten Arzneien die Achtung der Umwohner, welche
sich schließlich nicht damit begnügten, wegen ihrer eigenen
Krankheiten zu konsultiren, sondern um die Wiederherstel-
lung zerbrochener Uhren, Flinten, Spieldosen u. dergl.
baten und Wunder was zu thun vermeinten, wenn sie dafür
ein Honorar von 10 Schahis (32 Pf.) anboten.
Am 19. März Morgens erschienen zwei arabische Fischer
im Lager, welche, in ein Stück Zeug aus Ziegenhaar ein-
gewickelt, ein wahres Seeungethüm herbeischleppten, das sie
mit dem Dreizack in dem schlammigen Wasser des Schawur
erbeutet hatten. Es war ein riesiger Karpfen, uralt und
ungeschlacht, mit einer Haut wie von Leder bedeckt. Die
10 Finger hohen Rückenstücke wanderten in die Küche, das
Skelett des Thieres wurde sorgsam eingegraben, mn später
nach Frankreich mitgenommen zu werden. Wenn man
die Größe des Thieres bedenkt und sich daran erinnert,
daß man hundertjährige Hummern und Langusten verspeist,
so ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß dieser Fischkoloß
unter der Herrschaft des Chosroes oder Schapur das Licht
der Welt erblickte; über gewisse Geschöpfe ziehen die Jahre spur-
los dahin, und ein stumpfsinniges Thier widersteht denl Zahne
der Zeit, welchem der Mensch und seine Werke unterliegen.
A il s H » d st ber Istrien.
Von Dr. Karl Lechner in Krem si er.
I.
Die folgende Studie mag wohl um so eher berechtigt
erscheinen, als man über diese Provinz des österreichi-
schen Kaiscrstaates verhältnißmäßig wenig in deutschen
Werken findet. Und doch ist dieselbe in mannigfacher Hin-
sicht unserer Beachtung werth. Wir stützen uns hierbei
auf die verläßlichsten Hilfsmittel und zum Theil auch auf
eigene Anschauung, soweit wenigstens das Gebiet der ehe-
maligen Grafschaft Mitterburg in den Bereich unserer
Betrachtung füllt. Allerdings können wir im engen Rahmen
einer Zeitschrift keineswegs so weit ausholen, um eine ge-
naue Kenntniß von Land und Leuten zu vermitteln, geben
uns aber trotzdem der Hoffnung hin, einiges für die Ver-
breitung der Kenntniß dieses höchst interessanten Landes
durch die vorliegende Studie beitragen zu können. Wer
übrigens der Anschauung leben sollte, daß dies Ländchen
keine landeskundliche Litteratur auszuweisen habe, wäre in
einem argen Irrthum befangen, denn der 1884 verstorbene
Capodistrianer Carlo Combi hat schon im Jahre 1864
einen „Saggio di bibliografia istriana“ zusammengestellt,
der 3060 Nummern aufweist; darunter finden sich höchst
werthvolle Publikationen verzeichnet I.
Die Begrenzung des Landes, das keilförmig sich ins
Meer hinausschiebt, ist verschieden, je nachdem man die nn-
I Die vorliegende Arbeit stützt sich ganz besonders auf
nachstehend verzeichnete Werke:
Dr. Bcnussi, Manuale di Geografia dell’ Istria, Trieste
1877.
Derselbe: Manuale di Storia e Statistica del Litorale,
Pola 1885.
Derselbe: l’Istria sino ad Augusto, Trieste 1883.
Dr. Torquato Taramelli, Descrizione geognostica del
Margraviato d’Istria, Milano 1878, sammt dazu ge-
höriger, separat ausgegebener Karte.
Istrien. Historische, geographische und statistische Darstellung
der Jstrischen Halbinsel nebst den Quarnerischen Inseln,
Triest 1863; ein Buch, das längst eine neue Auflage
wünschenswert^ erscheinen läßt, da es mit großer Gründ-
lichkeit und Sachkenntnis; ausgearbeitet wurde.
Kotizie storiche di Montona del Dr. Pietro Kandier,
Trieste 1875.
veränderlichen geographischen Verhältnisse oder die politische
Administration ins Auge faßt. Die natürliche Grenze
läuft längs des Jstrianer Karstes, also etwa von Duino
angefangen über das Bergland von Sesaua nach Herpelje-
Cosina, wo an Stelle einer alten Römerstraße heute die
Triester Straße über das Hochplateau nach Fiume führt;
von da weiter herab über die Höhen, die unter dem Namen
Tschitschenboden bekannt sind, bis zum Meere. Die poli-
tische Grenze beginnt weiter südwärts bei der Bucht von
Muggia und führt nach Osten fast bis an den Fuß des
krainischen Schneeberges und von da südwärts gegen Fiume
hin. Politisch grenzt Istrien also an das Gebiet von Triest,
Görz, Krain, Kroatien und das ungarische Litorale. Die
größte Breite der Halbinsel bis hinüber zum Schneeberge
mißt 76 bin, die größte Länge ungefähr 100 bin, während
die Küstenerstreckung etwa 365 km erreicht. Der Flächen-
raum dieses Gebietes beträgt rund 4000 qbm, mit Hinzu-
rechnung der politisch zu Istrien gehörigen Inseln 4954 qbm,
oder nach dem neuen Kataster 860 820 Quadratjoch.
Die Westküste weist von Triest bis Salvore breite
und tiefe Buchten ans, von da bis zur Punta di Promontore
jedoch nur mehr Baien und Hasenplätze. Da das Land
orographisch nach Südwesten zu abfällt, ist diese Küste natur-
gemäß die belebtere und für den Seeverkehr wichtigere. Sie
bietet auch dem Reisenden mit ihrem bunten Wechsel von
rebenumkrünzten Hügelreihen und Olivenhainen, aus denen
verstohlen Weiler und Dörfer hervorgucken, und trockenen,
oft schroffen Felsgehängen, die von irgend einem rotten
borougb malerisch gekrönt sind, mehr Abwechslung und
Anregung, als die meist steil und unvermittelt ins Meer
abstürzende Ostküste, die arm an Buchten und Häfen ist.
Notizie storiche di Pola, Parenzo 1876.
Pola, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine Studie.
Mit 4 Tafeln, enthaltend Ansichten und Pläne. Wien,
Gerold, 1886.
Materiali per la 8tatistica dell’ Istria di Dr. Francesco
Vidulich, Parenzo 1886.
Carlo de Franceschi,!/ Istria. Kote storielle. Parenzo !879.
328
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
Hier trifft der Blick nur an den südöstlichen Gehangen des
Karstgebirges auf einen Fleck Erde von reizender Schönheit:
es ist die Gegend von Lovrana bis Voloska. Als die be-
deutendsten Einschnitte auf der Westküste führen wir an die
Bucht von Muggia (5 km breit), von Capodistria (7 km
breit), von Pirano, die Bucht der Dragogna mit der Punta
di Salvare, der westlichsten Spitze von Istrien mit einem
36 m hohen Leuchtthurme, den Porto Quieto (2 km breit),
den Kanal vonLemme, der 1km breit und beiläufig 12 km
lang ist. Er hat bei seiner geringen Breite und feinen
steilen, bis 150m sich erhebenden Gehängen um so mehr
einen ffordartigen Charakter, als seine Tiefe nicht selten
70 m erreicht. Dann stoßen wir auf die Bucht von Ro-
vigno, weiter auf den Kanal von Fafana, der feine ursprüng-
liche Breite von 4 km mehr und mehr verengert, je näher
man gegen den Eingang des Hafens von Pola kommt.
Dieser durch die brionischen Inseln und das gegenüber-
liegende Festland gebildete Kanal hat eine große Bedeutung
für die Küstenvertheidigung. Die Zufahrt zum Hafen von
Pola zwischen der Punta Cristo und dem Capo Compare
beträgt an der engsten Stelle kaum viel über 150 m Breite.
Im äußersten Süden ragt weit ins Meer hinaus die Halb-
insel Promoutore, von deren südlichstem Ende der Scoglio
Porer mit einem 34 m hohen Leuchtthurme nur 2 km ent-
fernt ist. Seltener find die Einbuchtungen auf der Ostküste;
hier haben wir außer einigen ganz offenen und überdies
kleinen Hafenplätzen zunächst den Golf von Medolino, den
15 km langen Kanal der Arfa und die schmale Bucht von
Fianona. Bon da bis Bolosca ist die Küste fast gar nicht
gegliedert, da sie von dem Massiv des Monte Maggiore
sehr jäh in den Quarnero abfällt und die steilen Böschungen
nur durch zahlreiche, gewaltige Erofionsschluchteu durchfurcht
werden. Politisch und zum Theil auch orographisch und
geologisch gehören zu Istrien noch neben mehreren Ei-
landeil einige größere Inseln. Da ist zunächst Cherso zu
nennen mit einem Flächeninhalte von 417 qkm. Bei einer
Länge von 66 km hat diesö Insel doch nur 13 km größte
Breite, die tut nördlichen Theil sich sogar auf 2 km reducirt.
Sie ist wegen der Steilheit der Küsten schwer zugänglich
und wird stark voil den im Quarnero heimischen Winden
Bora und Scirocco heimgesucht. Als eine südwestlich be-
ginucude Verlängerung setzt sich nach Südost die Insel
Lttssin fort. Sie hat bei einer Länge von 31km au vielen
Stellen kaum mehr als 100 m Breite, ihr Flächeninhalt
beträgt 72,5 qkm. Endlich gehört zu Istrien noch die fast
dreieckige Insel Veglia mit einer Größe von 428 qkm.
Die Adria, welche die Gestade Istriens bespült, bildet
ein weites, hinabgesunkenes Thalbecken, das von Norden
nach Süden au Tiefe zunimmt und in der Breite von Pro-
montore eine solche von gegen 50 m erreicht. Zwischen
Cattaro und Barletta betrügt dieselbe schon an die 1200 m.
Diese unterseeische Thalung verflacht sich allmählich gegen
die italienische Küste zu. Auf der 106 km langen Strecke
zwischen Chioggia und Roviguo finden wir die größte Tiefe
24 km westlich der Küste von Istrien. Der Salzgehalt
der Adria ist wegen der großen Verdunstung und der ge-
ringen Menge des zugeführtcn Süßwassers größer als in
den nördlichen Meeren, denn er beträgt 38,08 pro Mille.
An der Oberfläche steigt die Temperatur bis zu 25 bis
300 uitd sinkt im Winter auf 8 bis 120(§. herab. Der
Unterschied der Gezeiten betrügt beiläufig 1 m, selten 1,5 m
und hängt außer von den siderischen Verhältnissen von
lokalen und von den herrschenden Winden ab. Die größte
Ebbe tritt gewöhnlich im Februar ein (Vorherrschen der Bora),
die größte Fluth im September (Vorherrschen des Scirocco).
In oro graphisch er Hinsicht gehört Istrien zum
Karstgebiete, das durch die Senke, welche längs der Laibach
nach Oberlaibach (281 m Seehöhe), Loitsch (474 m), Planina
(466 m) und dem Paß von Adelsberg (540 m) und Prewald
(566 m) ins Thal der Wippach führt, von den Julischen
Alpen geschieden wird. Von der thalartigen Senke, welche
die Eisenbahn von Adelsberg über St. Peter nach Fiume
durchschneidet, nach Osten zu liegt die Piuka Planina,
welche im Schneeberge mit 1796 m kulminirt. Nur ein
geringer Theil Istriens reicht noch in dieses Gebiet. Der
ganze westlich gelegene Theil von der Furche von Fianona
bis zum Jsonzo gehört einem Erhebungssysteme an, das in
einem mehr oder minder stark gekrümmten Bogen verlaufend
den Namen Jstrianer Karst trägt. Wie dies auch ander-
wärts zutrifft, ist dieser generelle Name bei den Ein-
geborenen nicht gebräuchlich. Diese bezeichnen vielmehr im
Allgemeinen als Karst jedes gebirgige, steinige und vegeta-
tionsarme Terrain. Vom Nanos bis gegen Fiume (Tar-
saticum, heute Schloß Tersatto oberhalb Fiume) lief eine
83 km lange und an 2 m breite wallartige Mauer, zur
römischen Kaiserzeit mit Thürmen und Kastellen wohl be-
wehrt, zum Schutze Italiens gegen die Barbaren. Ihre
Trümmer heißen heute uoch die „Heidenmauer". Bei den
Alten hieß die ganze Gebirgskette Ocra; sie zerfällt in
mehrere Theile. Von der angegebenen Furche bis zum
Straßenübergang (950 m) am Monte Maggiore, der mit
1396 m die Kulmination bildet, beißt die Kette Caldiera
bei den Italienern, liefet bei den Slaven; ihre mittlere Er-
hebung beträgt etwas über 600 m.
Von da ab bis gegen S. Giovanni bei Duino streicht
die Venakette, die wieder in zwei orographisch verschiedene
Gruppen zerfällt: den Tschitschenboden oder die Tschitscherei
(Cicceria) bis zur Senke bei Herpelje-Cosina, und den
Triestiner Karst. Die mittlere Erhebung des ersteren betrügt
etwa 550 m Höhe und kulminirt im Planck mit 1273 m,
jene des letzteren nur mehr bei 475 m mit dem Terstel
(639 m) als höchstem Gipfel. Außer den zwei genanuleu
Pässen ist keiner mehr von Belang, Fußsteige führen jedoch
häufig über das Gebirge, an dessen Südwestseite der ganzen
Länge nach im Mittelalter eine Reihe fester Burgen das
innere Land gegen die östlichen Gebiete schützte. Ich nenne
nur Cosliach-Waxenstein, Vragna-Goldsburg, Lupoglava-
Mahrenfels, Popecchio, Covedo, Grad, Ospo, S. Servólo,
Piuguente und auf der Höhe Rozzo, lange Zeit die wichtigste
Hochwacht der Venetianer. Eine Linie von der Rhede von
Pirano über Buje und Canfanaro zur Mündung der Arsa
weist im Anschlüsse an die Hauptkette ein stark gegliedertes
Berglaud (regione pedemontana) mit 300 bis 500 m
hohen Erhebungen auf. Daran schließt sich gegen das
Meer eine vielfach wellenförmige Hügellaudschaft (regione
marittima). Die Gebirge auf den Inseln des Quarnero
sind nur eine Fortsetzung jener des Festlandes von Istrien.
Der Charakter des Karstsystems ist seiner Wesenheit nach
der gleiche wie jener der Kalkalpen, nur treten hier die un-
günstigen Faktoren besonders in den Vordergrund. Der
Boden ist häufig von tiefen Furchen und Schlünden zerrissen
oder weist trichterförmige Senkungen auf. Das Regen-
wasser versickert in dem Boden sehr rasch und sammelt sich
dann in unterirdischen Höhlen. Es fehlt in Istrien gänzlich
eine Thalung, die als Pulsader für die Communication
gelten könnte. Das Land ist arm an fließenden Gewässern
auf der Oberfläche, hingegen reich an unterirdischen Wasser-
adern. Man kann, den bekannten Schiller'scheu Vers
travestirend, sagen: „Aus den Höhlen kommt es, in die
Höhlen stürzt es." Zur trockenen Jahreszeit versiegen fast
alle Bäche, steigen aber nach lang anhaltendem Regen ganz
außerordentlich rasch. Was wir au Flüssen haben, ist sehr
wenig. Lassen wir den Timavo mit seinem noch immer
nicht völlig enträtselten Laufe bei Seite, so haben wir zuerst
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
329
den Sturzbach Lusandra, der in die Lucht von Mnggia
fällt; der nächste Bach ist der ziemlich gleichmäßig wasser-
reiche Risano mit einer Länge von 19 Irin, der bei Capo-
distria mündet. Die nicht viel längere Dragogna fließt in
den Golf von Pirano. Der Hanptfluß des Landes ist der
wegen seines geringen Gefälles so genannte Quieto. Er
hat seine Qucllbüche Brazzana und Fiumera im Gebiete von
Pinguente und nimmt unterhalb ihrer Bercinigungsstelle links
die Bottonega auf. Bis Montana verhält sich das Gefälle
wie 1:600, von da bis zur Mündung wie 1:1000. Die Ge-
sanuntlänge beträgt 50 km, die größte Thalbreite etwa 1,5 km.
Dieselbe füllte ehedem unfraglich ein Meeresarm aus und
noch zur Römerzeit galt der Fluß als schiffbarer Kanal.
Im Südosten des Landes nimmt unweit des Cepicsces die
Arsa ihren Ursprung, die im gleichnamigen Kanal nach kurzem
Laufe (23 km) mündet. Im Inneren haben wir den Wild-
bach Foiba, der bei Pisino in einer gewaltigen Felsschlucht von
128 rn Tiefe verschwindet. Er bildet den echten Typus istrischer
Gewässer. Bei normalem Wasserstande genügt er nur noth-
dürftig zum Betriebe einiger kleiner Mühlen; sein Bett ist voll
Untiefen und Felsspalten. Nach heftigem Gewitter oder an-
haltender Regenzeit staut sich jedoch in der genannten Schlucht,
da die unterirdische Abflußöffnung, die übrigens auch noch nicht
genügend erforscht ist, das Wasser nicht zu schlucken vermag,
dasselbe bis zu einer Höhe von zehn und mehr Meter auf.
Die Foiba stellt bei Pisino das Maß der Erosionsthätigkeit
des Wassers zwischen der Mergel-- und Sandsteinschichte
einerseits, den härteren Kalken andererseits dar; denn das
Thal von Vermo, das am Beginn der Foibaschlucht seinen
Ursprung nimmt, dann in südlicher Richtung bis Due
Castelli streicht, um von da westwärts sich zum Kanal von
Lemme zu erstrecken, führt nicht umsonst den Namen Draga
(— Thal). Zu einer Zeit, wo die eingelagerte weiche
Sandsteinmasse noch nicht ausgefressen war, floß die Foiba
durch diese heute wasserlose charakteristische Furche ab. Hat
sich doch noch die Erinnerung daran in der Tradition er-
halten , wonach man noch in historischer Zeit bis Due
Castelli herein zu Schiffe gekommen sein solll
Von Seen ist nur der vorerwähnte Cepicsee vorhanden,
der in einer Seehöhe von 32 m liegt und bei circa 4 m
größter Tiefe ein Areal von etwa 860 ha bedeckt. In
trockenen Jahren schrumpft er stark zusammen, ja nach
Balvasor soll er im Jahre 1683 ganz ausgetrocknet sein,
so daß man bei 90 Saumladungeu Aale erhielt. Heute ist
von einer Fischzucht dortselbst kaum die Rede. Auf Cherso
liegt der Vranasee, umgeben von fast 200 m hohen Berg-
wänden; er hat eine Länge von beiläufig 16 km und liegt
14 m unter beut Meeresniveau, seine größte Tiefe reicht
bis zu 40 m unter dasselbe hinab.
In geologischer Hinsicht zerfällt das Land in drei
ziemlich scharf geschiedene Zonen, von denen die orogra-
phischcn und agricnlturcllen Verhältnisse völlig abhängig sind.
Es ist das 1. das nordöstliche Kalkplateau mit der Gruppe
des Monte Maggiore von dem Wildbache Lusandra bis nach
Fianona, znsaunnenfallcnd mit der Axe der orographischen
Erhebungen; 2. die Sandsteinzonc vom Golfe von Triest
bis zum See von Ecpic, und 3. das reine Kalkplatcan von
der Punta di Salvore bis zum Kap von Promontore im
Süden und dem Golf von Fianona im Osten. Der nam-
hafte Archäologe und istrische Geschichtsforscher Dr. Peter
Kandier aus Montana hat hierfür die wissenschaftlich freilich
nicht ganz richtigen, aber für die Bodenverhältnisse treffenden
Ausdrücke eines weißen, gelben und rothen Istriens ein-
geführt. Freilich gehen die einzelnen Zonen mitunter in
einander über. So zeigt sich in der Sandstein- und
Mcrgclgruppe ein Streifen Kalkgcbiet von Buje bis nahe
an Pinguente und Rozzo hin zur Verbindung mit den
Globus LII. Nr. 21.
nordöstlichen Kalkketten, während andererseits in dem Ge-
biete von Buje und Albona die mittlere Zone nur vereinzelt
auftritt. In der ersten Gruppe ist von dem Monte Mag-
giore nordwestwürts vorwiegend ein Kalk, der dem unteren
Eocän angehört, während südwärts davon derselbe der
Kreideperiode zuzuweisen ist. Beide geben unter den
meteorologischen Einflüssen ziemlich denselben Detritus, so
daß der Ackerbau von der verschiedenen Mächtigkeit desselben
abhängig ist, weshalb er mit einigem Erfolg nur im Grunde
der Mulden und kleinen Thalungcn betrieben werden kann.
Mitunter finden sich auch in dieser ersten Zone mergelige
Sandsteinschichten vor, so im obersten Laufe der Lusandra
gegen den Slaunik hin, wodurch dieses Gebiet zu einer
Oase mitten im öden Karste wird; weiter in der Gruppe
des Monte Maggiore, wo au den Rändern der Sandstein-
schichte und Nummulitenkalke reichliche und perennircnde
Quellen ihren Ursprung nehmen. Der Kreidekalk ist hier
feinkörnig, weiß oder gelb und hat eine durchschnittliche
Stärke der einzelnen Schichtungen von 0,4 bis 0,7 rn. Vom
Slaunik und Orliak gegen das Triestiner Karstgebiet zu
stoßen wir auch auf bituminöse Kalke, deren Verwitterungs-
Produkte unfruchtbar sind. Die zweite Zone hat eine etwas
schärfere Umgrenzung. Von Pirano bis über Muggia
hinaus und längs der Lusandra bis gegen Croglie reicht
sie nach Nord und Nordwest; ihre Ostgrenze bildet eine
Linie von S. Servolo bis nach Vragna hin. Die Alln-
vionen der Bogliuncizza und anderer kleinerer Wildbäche
an der Depression des Cepicsecs bilden gegen die Kalk-
gruppe von Pedena hin die Südgrenze. Nach Westen zu
haben wir die Abgrenzung in einer Linie von Mantuani
bei Pedena bis zum Bache Potok bei Buje zu suchen, die
nur durch Kallschichten am Qnietoslusse theilweise unter-
brochen erscheint. Dadurch und durch den Karst von Buje
zerfällt diese Mergel- und Sandsteinzone eigentlich in zwei
Becken, das von Triest und jenes von Pisino. Der land-
schaftliche Charakter derselben ist ein durchwegs gefälliger,
zahlreiche Dörfer liegen an den Gehängen zerstreut, Weiler
und einzelne Häuschen stechen mit ihren grauen Tinten leb-
haft gegen das Grün der herrlichen Vegetation ab. Einer
ganz besonders schönen und günstigen Lage erfreuen sich
Capodistria, Pirano und Montona; allein die Wassernoth
ist hier überall schwer fühlbar, namentlich in den heißen
und trockenen Sommermonaten. Im südöstlichen Theil
senkt sich diese Zone zum Becken des Sees von Cepic ab,
das in landschaftlicher Hinsicht wohl zu den schönsten und
wechselvollsten Theilen der Halbinsel zählt. Die gewaltigen
Alluvionsschichten aus der postglacialen Epoche lassen zur
Evidenz erkennen, daß die Arsa der natürliche Abzugskanal
für den See gewesen ist, ehe der Posersky und andere
Bäche durch ihre Anschwemmungen denselben unterbrachen.
Die unteren Eocänschichten dieses ganzen Gebietes sind
vorwiegend Kalke mit Alveolinen, Nummuliten, Operculinen
und anderen Arten. Darüber lagern vielfach Breccicn-
kalke und vereinzelt Kalkmergel mit Konglomeraten. Der
eigentliche Tassello ist ein blaugrauer oder grünlichgrauer
Thon, der durch die Regengüsse leicht zerfurcht, von der
Sonne stark erhitzt und zersprengt wird; er unterliegt ganz
unglaublich stark der Erosion des Wassers. Wird hier der
Boden nicht durch Steinmauern geschützt, so spült der
Regen alle Dammerde fort. Die unteren Tasselloschichten
haben etwa eine mittlere Mächtigkeit von 30 m, darauf
folgen Konglomerate mit einer solchen von 7 bis 12 m.
Damit wechseln Sandsteinschichtcn, in denen viele Fucoidcn
eingelagert sind, in einer Mächtigkeit von wenigstens
200 rn ab. Die oberen Schichten des Tassello sind stärker
und bilden nicht selten den sogenannten Massegno, einen
festen Sandstein, der von Quarz und Glimmer durchsetzt
42
330
Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
ist. Er spaltet sich wie Basalt in Parallelepipede und
wird von den Bewohnern zur Erbauung ihrer Hauser, zu
Umfassungsmauern und die dünnen Schichten zur Bedachung
benutzt. Südlich vom oberen Quieto ist dessen größte
Mächtigkeit zu suchen. Die Gesammtmächtigkeit der
mittleren Zone mag an 400 m betragen. Die letzte Zone
besteht aus Kalk, der mehr oder minder mit rothen Ver-
witterungsprodukten bedeckt erscheint; sie umfaßt ein weites,
plateauartiges Gebiet, das vom Meere allmählich bis zu
einer Höhe von 350 m ansteigt und sich in die Hochebene
von Buse, Parenzo, Novigno und Pola und von Albona gliedert.
Die wichtigsten Erosionsthäler sind hier das des mittleren
und unteren Quieto, der Kanal von Lemme und das Arsa-
thal. Charakteristisch sind im ganzen Gebiete die zahlreichen
muldenartigen Bodensenkungen, die man gewöhnlich als
Dolinen bezeichnet, obwohl dieser von dem Verfasser eines
geographischen Lehrbuches, F. Klun, einstens eingeführte
Name nicht entsprechend ist, denn bei den Südslaven be-
deutet clol, dolina ein Thal I, während wir es hier doch
ausschließlich nur mit kraterähnlichen Einstürzen zu thun
haben. Ich kaun mich auch nicht erinnern, den Namen
an Ort und Stelle je gehört zu haben, wohl aber den Aus-
druck jama — Grube, Erdloch bei den Slaven, foiba
(wohl zu lateinisch lovea — Grube) bei Italienern. Sie
sind selten kreisrund, meistens oval und von sehr ver-
schiedener Tiefe und Ausdehnung; an vielen zeigen die am
Grunde liegenden Steiublöcke ihre Entstehung deutlich genug
an. Da die fruchtbare Dammerde vom Regen in die Tiefe
gespült wird, ist dieselbe natürlich dem Ackerbau günstig. Das
Plateau von Buse weist Eocüne und Kreidekalke auf. Im
untersten Theile der ersteren stoßen wir häufig aus eine
i) Der Vorschlag Pros. Rutar's (Zeitschr. s. Schulgeo-
graphie VII, 160), dafür ckola oder äol8 zu setzen, scheint mir
um nichts besser zu sein, als die bisherige Bezeichnung.
röthlichweiße Breccie, weiter herauf auf Kalktuffe mit zahl-
reichen Versteinerungen. Die letzteren sind von grauhellem
Farbenton und in den oberen Schichten minder compact.
Mit dem Plateau von Parenzo, wo die erwähnten Jamen
mit der rothen Dammerde besonders häufig auftreten, hat
jenes von Rovigno und Pola das Meiste gemein. Das
ganze Gebiet ist mit Kreidekalk bedeckt, sehr verschieden an
Kolorit und Mächtigkeit. Eine Eigenthümlichkeit des
Bodens dieser Landschaftsgebiete ist der sogenannte Sal-
dame, ein feinkörniger Quarz in winzig kleinen hexagonalen
Doppelpyramiden, der Borsäure und alkalische Stoffe ent-
hält und dem Geiserit, mit dem er gleiche Entstehung haben
dürfte, ähnlich ist. Er wird seit Jahrhunderten um einen
wahren Spottpreis (jetzt etwa 60 Centesimi per Hektoliter)
in die Glasfabriken zu Mnrano bei Venedig geschafft. Der
Karst von Albona bildet gewissermaßen eine Insel zwischen
dem Thal der Arsa und der Furche von Fianona, reich an
orographischen Formen, an fossilen Ueberresten und Braun-
kohlenlagern, besonders bei Carpano; eocäne Kalke sind
hier in weiter Ausdehnung vorhanden und reich an Ver-
steinerungen I. Soweit die „torra rossa“ reicht, ist der
Boden fruchtbar, das ganze Gebiet leidet aber besonders
unter dem Mangel größerer Waldungen. In Unter-Istrien
tritt die tsrra rossa in einer Mächtigkeit von etwa 3 m auf,
erreicht aber bei Salvore gegen 7 m. Die chemische Zu-
sammensetzung derselben ist im ganzen Küstenlande (und in
Friaul) ziemlich gleich; sie enthält neben unbedeutenden
Mengen verschiedener Stoffe 76,9 Proc. Kieselsäure,
12,3 Proc. Eisenoxyd und ist wegen des letzteren fruchtbar,
nur trocknet sie sehr rasch aus. Taramelli hält die terra
rossa für einen submarinen Schlamm von Vulkanen, aus-
geworfen in der miocänen Epoche.
i) Dr. Anton Scampicchio in Albona besitzt eine sehr reich-
haltige Sammlung dieser Art.
Die Bevölkerung der Azoren.
Von Dr. H. Simroth.
I.
Leider muß ich hier eine Warnung und Einschränkung
vorausschicken. Man erwarte nicht, daß ein Reisender, der,
mit anthropologischen und ethnographischen Studien nur
wenig vertraut und speciell zoologische Zwecke verfolgend,
bei einem zweimonatlichen Aufenthalte auf den Inseln das
schwierigste Problem, welches sie bieten, originell und er-
schöpfend löste! Leider ist die Besiedelungsgeschichte, als
Grundlage einer rationellen Erforschung, viel zu wenig
dokumentarisch beglaubigt, als daß man mit Leichtigkeit
sichere Schlüsse daraus ableiten konnte. Dennoch hat die
Beschäftigung mit einer Bevölkerung, die aus sehr verschiedenen
Eleuieuten ursprünglich zusammengewürfelt wurde und
dann durch Jahrhunderte in fast völliger Abgeschlossenheit
sich selbst überlassen blieb, einen hohen Reiz, theils weil
der Gang oder die Hemmung der Rassenverschmelzung sich
verfolgen lassen müssen, theils weil der Ausschluß des kon-
tinentalen Fortschrittes eine Menge alterthümlichcr Sitten
und Züge bewahrte, theils weil die Eigenart sowohl als
die Armuth der umgebenden Natur in bestimmter Weise
das Gemüth der Bewohner beeinflussen mußte. Wenig
genug ist bis jetzt zur Lösung der vielseitigen Aufgabe ge-
schehen. Der Reisende aber, der unter der Einwirkung
fortwährend wechselnder neuer Eindrücke steht, muß sich nur
zu ängstlich hüten, den Werth seiner augenblicklichen sub-
jektiven Wahrnehmungen zu überschätzen. Als ich das erste
Mal in Lissabon landete und so den unvermittelten Gegen-
satz der norddeutschen und portugiesischen Bevölkerung vor
mir sah, hatte ich beim Umherschlendern unter dem gewöhn-
lichen Volke der Plätze und Straßen die Empfindung, daß
kaum das dreißigste Gesicht in Deutschland durchschlüpfen
könnte, ohne für einen Ausländer genommen zu werden, so
stark schien sich die Einwirkung des maurischen und Neger-
blntes geltend zu machen. Die Leute von Ponta Delgada
und S. Miguel erschienen dein gegenüber gewöhnlich und
kaum von mancher deutschen Bauernphysiognomie verschieden.
Als ich dann aber über Madeira wieder zu längerem Auf-
enthalte nach Lissabon zurückkehrte, war jener erste Eindruck
völlig verwischt, und nur noch vereinzelte ausgesprochene
Niggergesichter mochten als fremdartig gelten. So leicht
zerschellte der Maßstab objektiver Beurtheilung an subjektiver
Gewöhnung — bei mir wenigstens — und es dauerte längere
Zeit, bis allmählich wieder eine Klärung der Begriffe ein-
Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
331
trat. Somit muß ich mich für einen wenig kompetenten
Arbeiter halten in diesem Weinberge. Gleichwohl möchte
ich mich auch auf diesem Boden versuchen, hauptsächlich um
andere „Specialisten" zu besserer Ausbeute anzuregen.
Zweifellos drangt die Zeit, denn auch die Azoren haben den
modernen Hebeln des Verkehrs und der Dampfkraft nicht
widerstehen können und sind momentan in ziemlich energi-
schem, wirthschaftlichem und ethnographischem Umschwünge
begriffen. Glücklicher Weise ist bereits einiges geschehen,
was als Vorarbeit gelten kann, der Hauptsache nach von
den Azoreanern selbst. Dr. Ernesto do Canto hat im
schon erwähnten „Archivo dos Açores“ gesammelt, was
er namentlich an historischen Thatsachen, die Inseln be-
treffend, zusammenbringen konnte; in erster Linie aber be-
sitzen wir die Studie von Arruda Fnrtado: Materiales
para o estado anthropologico dos povos açorianos,
observaçoes sobre o povo michaelense, Ponta Delgada
1884. Leider hat ein früher Tod diesen meinen Freund,
den ich in Lissabon kennen lernte, als einen der begabtesten
und gebildetsten Insulaner, einen eifrigen Zoologen, im
letzten Sommer dahingerafft, so daß die Aussicht, eine
Fortsetzung der Arbeit über die anderen Inseln zu erhalten,
vorläufig geschwunden ist. Auch muß Furtado's Abhand-
lung eine gewisse Einseitigkeit nothwendig anhaften; denn
ihm, dem Michaeleuser, der, so viel ich weiß, nie über die
Grenzen Portugals hinausgekommen ist, fehlte die eigene
Anschauung anderer Völker, die er zum Vergleiche heran-
zieht, und so urtheilt er wohl, da ihm die unbekannte Welt
sehr rosig erscheint und er mit großer Gewissenhaftigkeit
an seine Aufgabe herangeht, über sich und seine Landsleute
mit schonungsloser, vielleicht übertriebener Strenge. Die
angegebenen Quellen hat Walker bereits reichlich benutzt,
so gut wie die altere englische Arbeit Bullar's: a winter
in the Azores; man findet viele Einzelheiten in seinem
citirten Buche eingeflochten. Die portugiesischen Bücher,
die das wenige noch vorhandene Material enthalten, findet
man bei Furtado ermähnt, auf den ich hiermit verweise.
Daß die Azoren bei ihrer Wiederentdeckung durch die
Portugiesen unbewohnt waren, ist sicher; fast so bestimmt
ist's auch, daß sie nie zuvor vorübergehend besiedelt wurden.
Humboldt versicherte zwar, um den ältesten möglichen Besuch
vorwegzunehmen, daß 1749 auf Corvo bei einem Sturme,
wo die Wogen einen dolmenartigen Steinbau aufdeckten,
phönizische Münzen gefunden wurden von Gold und Kupfer
in einem Thongefäße, entweder von Carthago oder Cyrene
stammend. Doch ist die Tradition außerordentlich unklar,
und ehe sie zur Untersuchung kamen, waren sie durch ver-
schiedene Hände und Länder gewandert, Gelegenheit genug
zur Verwechselung oder Mythenbildung; der Fund ist durch-
aus in das Gebiet der Legende zu verweisen.
Ganz ähnlich verhält sich's mit jener poetischen Ueber-
lieferung von der Reiterstatue, die aus dem äußersten Ende
von Corvo gestanden haben soll, mit der erhobenen Rechten
nach Westen weisend, ein aufmunterndes Symbol dem
kühnen Seefahrer, nach dem Juselchen den neuen Erdtheil
zu entdecken. Ja am Piédestal stand eine räthselhafte
Inschrift, die kein Zeitgenosse entziffern konnte, wie Da-
miño de Goes, der in der ersten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts schrieb, versichert. Die Sache ist mit solcher
Bestimmtheit vorgetragen (der König Dom Mauocl sandte
einen Mann von Oporto, die Antiquität zu holen, doch
brachte er nur zerbrochene Theile heim — man hat selbst
an die Normnnnenfahrten gedacht —), daß im Anfang
unseres Jahrhunderts der Gouverneur von Terceira von
seiner Regierung Auftrag erhielt zu genauer Nachforschung;
sie hatte keinen Erfolg. Der General Noronha, der später
auf Corvo sich wieder danach umthat, erklärt die Geschichte j
durch eine Luftspiegelung. Walker dagegen sucht eine andere
für die Entdeckuugsgeschichte der Inseln interessante Deutung
plausibel zu machen. Er weist zunächst auf die hohe Un-
wahrscheinlichkeit hin, daß eine ans einem Stein gehauene
Reiterstatue von irgend welchen früheren Besuchern an einem
äußerst unzugänglichen Punkte aufgestellt worden wäre, denn
die Leute, welche die Keilinschrift abnehmen sollten, mußten
nach jener Erzählung an Stricken herabgelassen werden.
Ferner leitet er aus der Beschreibung des Mantels, den die
Statue getragen haben soll, ab, daß sie nur von einem
iberischen oder maurischen Volk stammen konnte. Den Mo-
hammedanern aber verbot ihre Religion, Statuen zu setzen.
Wie entstand aber die Sage?! Gegen die vierte Decade
des zwölften Jahrhunderts scheint der arabische Seefahrer
Sherif Mohammed al Edrisi, der die Cap Verden, die
Canaren und Madeira entdeckte, auch bis zu den Azoren
vorgedrungen zu sein. Aus einem großen Globus von ge-
diegenem Silber soll er alle seine Entdeckungen eingetragen
haben, im Aufträge von Roger II., König von Sicilien.
Leider verschwand der Globus bald, und es blieb nur die
arabische Beschreibung vom Jahre 1153, die 1691 von
Hartmann ins Lateinische übertragen wurde. Hierin werden
neun Inseln, nördlich von den Canaren, erwähnt, darunter
die Insel Raka, d. h. die Vogelinsel. „Ferunt in hac
insula esse genas avium aquilis rubris similium
unguibusque instructarum, quae bellaas marinas ve-
nantur et comedunt. Ab hac insula eas nunquam
recedere affirmant.“ Es liegt gewiß nahe, au die Azoren
oder Habichtsinseln zu denken, hat doch selbst der Bussard,
der der echte A^or ist, mehr Aehulichkeit mit einem Adler
als mit einem Habicht. Leider erlaubt die weitere Schilde-
rung nicht, in diesem alten Bericht die verschiedenen atlan-
tischen Inseln gehörig ans einander zu halten, sie werden
confundirt. Gelegentlich der Canaren aber heißt es: „Ans
jeder Insel stand ein steinernes Standbild, hundert Ellen
hoch, auf jedem saß eine eherne Figur, mit der Hand nach
Westen zeigend; es gab sechs solche Standbilder.“ lind
Jbn al Vardi fügt hinzu: „wie ein Leuchtthurm, um die
Schiffe zu lenken.“ Mit diesen sagenhaften Statuen, die
dem Dzou-el-Qarnayn, dem Herkules der Araber, zuge-
schrieben werden, bringt Walker auch das Standbild von
Corvo in Verbindung. Woher freilich stammt die Sage
von jenen? „Konnten die alten Erzähler davon gehört
haben, wie Plato berichtet, daß die große Statue Poseidon's
auf Atlantis von den hundert kleineren Statuen der Nereiden
umgeben war? Oder hängt die Idee zusammen mit der
phönizischen Astarte, welche, am Vordertheil ihrer Schisse,
stets mit erhobenem Arm den Weg zeigte?“ Wie dem
auch sei, das Wesentlichste ist die Verweisung des Stand-
bildes von Corvo in das Reich der Fabel. — Aehnlich und
noch unklarer verhält sich's mit einer Höhleniuschrift von
S. Miguel.
lind so scheint's in der That, als wenn die Azoren vor
jenen Arabern im zwölften Jahrhundert nie besucht wären;
zum mindesten hat kein Volk, so wenig wie jene, irgend
welche Spuren hinterlassen. Die Wiedereutdeckung aber
und Besiedelung knüpft sich an den Namen Heinrich's des
Seefahrers.
Dieser Prinz dürfte, nachdem er bereits Madeira und
Porto Santo entdeckt, weitere Kunde von den atlantischen
Inseln erhalten haben durch seinen Bruder Pedro, den
irrenden Ritter, der in zwölfjähriger Abwesenheit die meisten
europäischen Höfe, Constantinopel, das heilige Land und
Venedig besuchte. Aus letzterer Stadt brachte er eine Ab-
schrift des Reiseberichts von Marco Polo und eine Karte
heim, ans der die Azoren verzeichnet waren. Das wurde
der Anlaß für Prinz Heinrich, neue Expeditionen aus-
332
Dr. H. Simroth: Dir Bevölkerung der Azoren.
zurüsten, die, consequent geleitet, zum erhofften Erfolge
führten. Für die Besiedelung der Inseln wurde die Ver-
mählung der Schwester des Prinzen, der Infantin Isabel,
mit Philipp dein Guten, dem Herzoge von Burgund und
Grafen von Flandern, ivichtig. Ihr gastlicher Hof, durch
Glanz und Ritterlichkeit berühmt, zog einen großen Theil
des Adels der Niederlande, die damals nach und nach theils
durch gütlichen Vertrag, theils Waffengewalt an Burgund
fielen, an. Viele dieser Flüchtlinge fanden ihren Weg nach
Portugal, und Prinz Heinrich verwandte manche an Bord
feiner Entdecknugsfchiffe, andere als Kolonisten. So erklärt
sich der Antheil, den die Niederländer an der Besiedelung
der Azoren gehabt haben. Sollte sich daraus nicht auch die
Beimischung des französischen Blutes, das, wie wir sehen
werden, Furtado glaubt nachweisen zu können, ohne den
Weg der Einwanderung aufzufinden, herleiten lassen? Die
erste Expedition sandte der Prinz 1431 unter Gontzalo
Velho Cabral von Villa de Sagres in Algarve aus, mit dem
Auftrage, nach Westen zu segeln, bis sie zu einem Eiland
kämen. Nach zehntägiger Fahrt kamen sie zu den Formigas,
jenen Klippen zwischen Santa Maria und S. Miguel, und
kehrten enttäuscht nach Lissabon zurück, da sic von weiteren
Inseln nichts wahrnahmen. Walker sucht den immerhin
auffälligen Umstand, daß die Inseln unsichtbar blieben,
durch ihre dichte Bewaldung und den daraus folgenden
Wolkenmantel zu erklären — wohl möglich, doch sah ich auch
Pico von dem nahen S. Jorge aus verschwinden trotz der
jetzigen Veränderung der Pflanzendecke. Prinz Heinrich
ließ sich nicht irre machen, erblickte vielmehr in dem Funde
eine Bestätigung seiner Vermuthungen und sandte den
Kapitän bereits im nächsten Jahre mit einer besser aus-
gerüsteten Flotille ans, und am 15. August wurde Santa
Maria entdeckt und erhielt den Namen zu Ehren der Heiligen
des Tages. Bei der Rückkehr übertrug ihm der Prinz die
Herrschaft der Insel, sandte zunächst ein Schiff mit Rind-
vieh und anderen Hausthiercu, die ausgesetzt wurden, und
gab Cabral den Auftrag zur Kolonisation, die drei Jahre
später ins Werk gesetzt wurde, unter Betheiligung der vor-
nehmsten Familien des Landes.
In ähnlicher Weise, wie Cabral als eine Art von Vice-
könig mit Santa Maria belehnt wurde, erhielten bald die
übrigen Inseln ihre Herren, und wie die Sache nur zu bald
ausartete, ihre Peiniger. Ein solcher „Capitäno donatorio“,
Schenkungskapitän, hatte nur zu viele Macht in Händen,
alle seine Befehle mußten strikte befolgt werden, ein Zehntel
aller erhobenen Steuern gehörte ihm, er hatte das Monopol
des Salzverkauss und war Eigner aller Mühlen und
Backöfen, für deren Gebrauch die Gemeinde eine Abgabe
zahlen mußte. Nur mit seiner Erlaubniß durften die Kolo-
nisten sich die verwilderten Thiere aneignen; und, was
vielleicht das Schlimmste, er hatte das Recht, das uu-
kultivirte Land zu verschenken au wen er wollte, unter der
Bedingung, daß binnen fünf Jahren der Besitz angetreten
wurde. Die Würde war erblich, ja es war für den Fall,
daß der Donatorio minorenn war, eine Regentschaft vor-
gesehen.
Es leuchtet wohl ein, daß in dieser Einrichtung, die
anfangs eine schnelle und energische Kolonisation bewirkte,
die Quelle gegeben war für Günstlingswesen und Miß-
wirthschaft, die bald überhand nahmen. Namentlich schreiben
sich davon die großen Latifundien her, die noch jetzt bestehen.
Der Grundbesitz befindet sich in wenigen bevorzugten
Händen, und dem kleinen Manne ist es sehr schwer gemacht,
sich emporzuarbeiten. Ein auffallendes Beispiel finden wir
ans Fayal und Pico. Anfangs fürchtete man sich, die
letztere Insel zu betreten, der Vulkan erschien gar zu
drohend. Aber nach wenigen Jahren bereits haben sich die
wohlhabenden Familien von Horta in den Grund und
Boden getheilt, die Armen hatten das Nachsehen.
Ein Verdienst der Spanier ist es, jene verhüngnißvolle
Würde abgeschafft zu haben. Mit ihnen kommt ein neues
ethnographisches Element hinzu, das sicherlich Spuren hinter-
lassen hat.
Von noch größerer Bedeutung aber war jedenfalls die
so bald eintretende Blüthe der Sklaverei, welche die Neger
massenhaft nach den Azoren brachte und eine starke Depravation
der anfangs kräftigen Bevölkerung zur Folge hatte. Jur
Anfange des sechzehnten Jahrhunderts waren in vielen
Ortschaften die Schwarzen zahlreicher, als ihre weißen
Herren. Man fürchtete einen Ausstand, und die unwissende
und rohe Priesterschaft benutzte eine Seuche, die acht Jahre
lang die Einwohnerschaft decimirt hatte, um die Schuld
und Verantwortung auf die Schwarzen zu wälzen. So
entstand ein Rassenkampf, in dessen Verlauf jeder männliche
Neger und Araber massakrirt wurde — eine unedle That, die
immer ein Flecken bleiben wird in der Geschichte dieser
eminent friedlichen Bevölkerung, wie Walker sich ansdrückt.
Uebrigens war damit der Sklavenhandel nicht abgeschafft,
und noch zu Ende des Jahrhunderts verpflichtete sich der
Gouverneur von S. Miguel, nenn Jahre lang je 4240
Afrikaner nach Brasilien einzuführen. Auch derartige
Geschäfte luögcn das Ihre zur Mischuug des Blutes bei-
getragen haben.
Endlich hat auch das Judenthum ein beträchtliches
Kontingent gestellt. Durch die Inquisition aus Portugal
vertrieben, fand es vielfach aus den Inseln eine Freistätte,
freilich auch gelegentlich das Loos der Sklaven theilend.
So wurden einige Hundert, die 1501 nach der Berberei
segelten, nach den Azoren verschlagen, hier gefangen und
vom König dem Vasqueanes Corte-Real zum Geschenk
gemacht, der sie zu ewiger Sklaverei verurtheilte. In neuerer
Zeit spielen sie selbstverständlich eine andere Rolle, und das
größte Handelshaus von Ponta Delgada ist mosaisch; leider
hat es sich, wie es sich im letzten Jahre herausgestellt hat,
enormer Stcuerentziehuugen schuldig gemacht, man spricht
von Millionen, ein harter Schlag für S. Miguel, aber
doch charakteristisch für die Zustünde; denn die Zollwüchter
sind anscheinend Tag und Nacht aus dem Platze; und doch
ist eine derartige Unterschlagung kaum dem Einzelnen möglich,
ohne officielle Mitwisser.
Soweit haben wir ungefähr wohl die Faktoren zusammen,
die, bunt genug, die Gesellschaft der Inseln zusammensetzen.
Bei der immerhin geringen Zahl von Menschen mögen
außerdem zufällige und kürzere Berührungen, wie mau sie
bei einer größeren Nation übergehen würde, nicht ohne Ein-
fluß geblieben sein, so die wiederholten Plünderungszüge
algerischer Corsaren, die u. a. 1679 in Ribeira quente
landeten und bis Furnas räubernd und mordend vordrangen.
Daß sie nicht vereinzelt blieben, zeigt die Anlage der Forts,
die ursprünglich den Seeräubern galten. Auch die Eng-
länder haben sich in früher Zeit schon in größerer Anzahl
eingesunden; 1597 operirte hier eine englische Flotte gegen
die Spanier, schließlich ohne Erfolg wegen eintretenden Un-
wetters, aber doch verschiedentlich und nicht zu flüchtig
landend.
Alle diese Elemente haben in gewisser Weise sich mit
einander verschmolzen, trotzdem noch Unterschiede genug be-
stehen. In der Hauptsache sind alle fremden Bestandtheile
von der vorwiegenden portugiesischen Menge aufgesogen;
ja Furtado verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß der
frischere Zug, den die Bewohner der übrigen Inseln denen
von S. Miguel gegenüber, welche letzteren allein gar keine
flämischen Elemente in sich aufgenommen haben, eben auf
das niederländische Blut zurückgeführt werde, — ob mit
Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
333
Recht, muß ich dahingestellt sein lassen. Längere Zeit
erhielten sie sich rein, jetzt aber erinnert an sie säst nur noch
Dorf und Thal „äos Flamengos“ auf Fayal, in der Nähe
von Horta, und vielleicht, wie ich früher andeutete, die Käse-
bereitung.
Nun enthält aber kaum ein europäisches Land so ver-
schiedenartige Bewohner als Portugal, nicht nur ihrer Ent-
stehung nach durch Zusammenwürfelung von Kelten, Phö-
niziern, Römern, Gothen, Mauren, Negern re., sondern in
der noch fortbestehenden Differenz zwischen Süd und Nord.
Furtado giebt sich viele Mühe, herauszubekommen, woher der
Hauptstrom der ursprünglichen Einwanderung sich ergoß, ohne
sonderlichen Erfolg. Namen und Schicksale der hervorragenden
Familien, die sich betheiligten, sind uus erhalten geblieben;
es existiren einige handschriftliche Kopien einer alten Auf-
zeichnung des Paters Fructuoso, der 1522 auf S. Miguel
geboren wurde, diese Genealogie betreffend. Doch ist da-
mit schwerlich viel anzufangen; auch scheint der Versuch
kaum gemacht. Die Hauptsache liegt wohl im Mangel
einer guten Ethnographie des Mutterlandes selbst. Auf
den Inseln bleibt es auffällig, daß trotz der scheinbar-
völligen Verschmelzung der Nassen doch fast jedes Dorf noch
seine eigenthümlichen Züge, sei es der Physiognomie, sei es
der Sitten, bewahrt. Eine Straße in Horta, die Rua
Velha, halb zerfallen, wird von einer abgeschlossenen Gruppe
armer Fischer bewohnt, die noch jetzt cs verschmähen, aus
ihrer Genossenschaft herauszuheirathen, und sich auch sonst
durch manche Eigenthümlichkeiten auszeichnen. Walker
denkt daran, daß sie der abgetrennten Fischcrbcvölkerung
von Aveiro und Oporto entstammen mögen, die man auf
alte phönizische Kolonisten hat zurückführen wollen, und
deren bunte, mit hohen geschnitzten Schnäbeln geschmückte
Schiffe man in Portugal bewundert; sie fallen einem sofort
in die Augen. Die Schiffe freilich trifft man in Horta
nicht. — Daß die Vatersnamen auf den Azoren wenig ge-
bräuchlich sind, erwähnte ich früher; selbst der Ausländer
wird, wenn er sich ansässig macht, bald nur beim Vor-
namen genannt, wie denn die Honoratioren in Oporto
und in Coimbra selbst die Univcrsitätsprofessoren auf der
Straße nur nach den Vornamen zu erfragen waren. Unter
den Laudleuteu der Inseln sind Spitznamen dafür sehr im
Schwange, der Lange, der Kurze, der Bucklige rc.; eigen-
thümlich aber ist jedenfalls die Sitte, deni Vornamen des
Sohnes stets den der Mutter hinzuzufügen, Iaciutho
Helena, Francisco Albina, Antonio Thereza, Francisco
Joseph«, Josó Guiomar u. a. m., und am wunderlichsten
bleibt es, daß diese absonderliche Art populärer Benennung
sich auf eine einzige Ortschaft beschränkt, Bretanha im
äußersten Nordwesten von S. Miguel, wo auch noch andere
Eigenheiten zum Vorschein kommen. — Auch die Leute von
Agoa de Pao, nicht weit von Ponta Delgada, ursprünglich
vom besten portugiesischen Blute, haben sich abgesondert und
altvaterisch erhalten, und gelegentlich macht sich ihre über-
triebene Sparsamkeit noch in lustiger Weise bemerkbar.
Das Landvolk und die Arbeiter gehen auf den Inseln
durchweg barfuß und gestatten sich Schuhe und Stiefeln
nur an Sonntagen, oder wenn sie in die Stadt zu Markte
gehen; die von Agoa de Pao erlauben sich den gleichen
Luxus, aber sie ziehen nur den einen Schuh an und tragen
den anderen unterm Arm. Neue Kleider ziehen sie zunächst
links an, die Innenseite nach außen, um sie zu schonen.
Sie werden von den Landsleuten geneckt und mit einem
besonderen Sprichwort beehrt, dessen Sinn wohl kaum noch
zu eutrüthseln ist („a porca ja furou o pico“, die Sau
hat schon ein Loch in den Berg gemacht); dafür revanchireu
sic sich mit Redensarten, die zum Theil längst nicht mehr
im modernen Lexikon zu finden sind.
So ließen sich eine Menge Einzelheiten gewiß zu-
sammenbringen, die alter Tradition entstammen. Bis jetzt
ist nur S. Miguel einigermaßen ausgebeutet. Hier giebt
es sogar Alterthümer auszugraben, in Münzen und Ge-
räthen bestehend, in Villa Franca nämlich; und wenn sie
auch nicht in die Bronzezeit zurückragen, sie würden auch
bei uus geschätzt werden, da sie mindestens vom Jahre 1522
herrühren, in dem die Stadt am 21. October durch ein
nächtliches Beben verwüstet wurde. Das Interesse, welches
wir an der Bevölkerung nehmen, gründet sich ja gerade
darauf, daß sie selbst fast eine Antiquität darstellt. Wurde
sie doch in einer Zeit vom Mutterlaude getrennt, als dieses
noch nicht in sein goldenes Zeitalter eingetreten war, in die
Zeit der großen außereuropäischen Entdeckungen und
Kolonisationen, die der Nation eine weltgeschichtliche Be-
deutung verschafften, ihr Reichthum und Verkehr und, was
nicht zu unterschätzen, ihr eine Litteratur brachten. Das
frühere Portugiesisch hat noch viel mehr Aehnlichkeit mit
dem Lateinischen, wenn auch die Aussprache eine andere sein
mochte. Seinen jetzigen Wohllaut verdankt es der Epoche
des Camoes, des nach Art der Heroen im Leben darbenden
und nach dem Tode in den Himmel erhobenen Mannes.
Die Sprache von S. Miguel gilt für rauh, grob und laut,
und selbst meinem ungewohnten Ohr fiel der tiefe Brustton
und die harsche Aussprache einiger Diener auf. Doch soll
das mehr auf Rechnung des Charakters zu setzen sein, als
auf alte Ueberlieferung. In hervorragendem Maße hat
das Volk von Santa Maria, das von Estremadura und
Algarve stammt, den ersten vom Süden Portugals aus-
gehenden Expeditionen entsprechend (s. oben), den eigenthüm-
lich singenden Klang des mittelalterlichen Portugiesisch be-
wahrt, das, nicht ohne einen gewissen Wohllaut, gleichwohl
die Quelle wird für Neckereien von Seiten der übrigen,
mehr vorgeschrittenen Inseln, welche die weichen musika-
lischen Töne nicht mit ihrer eigenen rauheren und häßlicheren
Aussprache in Einklang bringen können. Auch sonst hat
sich auf den einzelnen Eilanden, wo nicht ein besonderer
Dialekt, so doch eine verschiedene Betonung und Sprach-
wcise herausgebildet, die natürlich dem portugiesischen Ohr
am vernehmlichsten ist. So haben die Leute von Bretanha
viele Anklänge an die Nasallaute des Französischen, in
anderer Weise wird auf Terceira genäselt, in wieder anderer
auf S. Jorge, Pico und Fayal gesungen.
Selbstverständlich haben die Natur und die kleinen
Verhältnisse der Inseln das genannte Gebiet der Vor-
stellungen beeinflußt; der Insulaner kennt keinen Fluß,
geschweige denn Strom, keine große Stadt, ein großer
Hund ist ihm ein Monstrum, denn die einheimische Thier-
welt bewegt sich in minimalen Proportionen. Umgekehrt
mußten die oft erneuerten Schrecknisse der Erdbeben und
Eruptionen dem Gemüth eine besondere Richtung geben.
Gleich im ersten Jahre erlebten die ersten Kolonisten von
S. Miguel, einige Freunde und Afrikaner, die Cabral
zurückgelassen hatte, den großen Ansbruch von Sete Cidades,
und waren gezwungen, sich nach den Bergen der Osthälftc
zu flüchten, wo sie Cabral im nächsten Jahre in kümmer-
lichem Zustande traf. Aber noch jetzt wirkt die gleiche
Ursache auf den beschränkten geistigen Horizont in bisweilen
ergötzlicher Weise. Erst vor wenigen Jahren passirte es,
daß die Bauern von Povoa9.no bei einer neuen Regierungsver-
ordnung aufsässig wurden und sic verbrannten. Den
anderen Tag setzte eine Periode von Beben ein, wobei einige
Häuser einstürzten. Und die Folge war, daß dieselben, die
sich eben als Herren gefühlt hatten, auf den Knieen durch
die Straßen rutschten, sich ins Gesicht schlugen und um
Gnade bettelten, eine praktische Unterstützung der Regiernngs-
gcwalt.
334
Ernst Hartert: Skizzen aus dem Haussaland.
Zweifellos hat auch das feuchte Klima und die vor-
herrschende Bewölkung die Konstitution der Azoreauer ver-
ändert. Wenigstens versichert Furtado, daß allen, die ans
den Kontinent gehen, sich ihre Organisation verändert zu
haben scheint, sie suhlen sich beweglicher, vollständig anders,
in Berührung mit der trockenen Luft und im Angesicht des
häufiger klaren und stets tiefer blauen Himmels.
Bevor ich auf weitere Einzelheiten der Sitten, der Lebens-
weise, des Aberglaubens und dergleichen eingehe, mag eine
Schilderung der körperlichen Eigenthümlichkeiten Platz greifen!
Skizzen a u s dem Haussaland.
Von Ernst Hartert.
(Reiseleben. Flußübergünge. Trockenzeit und Regenzeit. Krankheiten. Medicinisches. Fulbe und Haussa.
Industrie. Ehe. Unsittlichkeit. Religion. Aberglaube. Die Kolanuß. Heidnische Stamme. Sklaverei.
Sklavenraub und Krieg. Zerstörte Städte. Veränderungen des Landes. Deutsche Forschung.)
Die eigentlichen Haussaländer, die Sultanate Sokoto
und Gandu, sind reich an Abwechselungen in Bezug auf
Bodenbeschafsenheit und Bevölkerung.
Der lichte Buschwald aber, welcher einen großen Theil
des Landes bedeckt, wirkt seiner Gleichförmigkeit halber auf
den Reisenden sehr ermüdend ein. Um die Scenerie zu
veranschaulichen, will ich einen Marsch durch solche Gegend
beschreiben.
Noch lagen wir nicht selten in der kleinen Lehmhütte,
die uns zum Nachtquartier gedient, in tiefem Schlafe da,
als ein Rascheln und Stimmengewirr uns erweckte. Es
waren die ersten Träger, die ihre Lasten zu holen kamen.
Schnell in die Höhe — die wollenen Decken abgeschüttelt,
eilig Kopf und Arme in den blechernen Becken gewaschen,
rasch den heißen, schwarzen Kaffee aus zinnernen Bechern
getrunken, die Kleidung geordnet, die verschiedenen Kleinig-
keiten in den Decken zusammengeschnürt, kurzen Abschied
von den Gastgebern, die Büchse über die Schulter geworfen
und hinauf auf das gesattelte Roß. Drei, vier Träger
traben schon den Thoren zu, einer setzt sich nach dem anderen
in Bewegung, zuletzt die Träger unserer Schlafdecken, unsere
bewaffneten „boys“ und der gute Sklave Jgalla, der treu-
liche Pfleger der Pferde. Manch' liebender Blick, manch'
freundlicher Zuruf wird noch dem einen oder dem anderen
der fröhlichen Träger zu Theil, bald ist das Thor erreicht,
wo der Reisende die Uhr nachsieht und die erste Richtung
der Tagesroute notirt.
Rechts und links am Wege stehen Felder üppigen
Sorghum- und Penicillaria-Getreides, Erdnüsse oder der-
gleichen. Bald ist das Ende der Felder erreicht, es beginnt
ein lichter Buschwald mit hohem, dichtem Grase, aus dem
zuweilen zwitschernde Singvogelstimmen und der Ruf eines
Frankolinhuhns gehört werden. Stunde für Stunde geht
es durch die Büsche hin, streifen die Bügel durch das hohe,
thaudurchnäßte Gras, höher und höher steigt die Sonne an
dem wolkenlosen, bleiblauen Himmel empor, immer häufiger
machen die Träger Rast, immer schweigsamer werden sie,
wie auch die Natur stiller wird. Der leichte Hauch, der die
Luft am frühen Morgen bewegte, macht sich nicht mehr-
fühlbar, viele Vögel pflegen der Ruhe im dichtesten Schatten,
nur der große Bienenfresser (Merops nubicus) läßt seinen
einförmigen Ruf in hoher Luft ertönen, die Klapperlerche
(Megalophomxs Buckleyi) steigt da und dort noch auf und
bringt mit ihren Flügeln jenes weithin tönende Geräusch
hervor, welches au das sogenannte Meckern der deutschen
Becassine erinnert. So geht es Stunde für Stunde, immer
zeigt sich dasselbe Bild, die Hitze wird größer, es schmerzt
der Kopf, eö flimmert die Luft vor den Augen, die Pferde
ziehen matter ihre Straße, die Diener klagen über schmerzende
Füße. Endlich ändert sich das Bild: holzsnchende Frauen
kriechen in den Büschen herum, Baumstümpfe zeigen sich,
Geier kreisen in hoher Luft, der Weg zieht zwischen Feldern
hin und vor uns liegt, von schlanken Melonenbäumen
(Carica Papaya) überragt, ein Dorf mit spitzdachigen Hütten.
Am Thore harrt der vorausgesandte Quartiermacher, zugleich
Koch und Dolmetsch unserer Expedition, und führt uns zu
einer soeben von den Bewohnern geräumten Lehmhütte, in
der die Träger ihre Lasten niederlegen und die Lagerdecken
ausgebreitet werden; ein bereitstehendes, aus den leichten
Blattrippen der Bambupalme (Raphia vinifei-a, tukkurua
der Haussa) hergestelltes Bettgestell wird aus gesundheitlichen
Rücksichten vorgezogen, ein ahnungsvolles Grauen vor etwa
schon vorhandenen, unsichtbaren Bewohnern im Keime erstickt.
Schon ist der Tag weit vorgerückt, doch harren noch der
Geschäfte mancherlei, erquickliche sowohl als unerquickliche.
Zu den letzteren gehört ohne Zweifel das Besorgen der
Nahrung, welches selbst dann nicht immer fortfällt, wenn
der Wirth reichliches Essen spendet, da wir große Anhänger
der Fleischnahrung sind, und das pfefserscharfe, schwer ver-
dauliche Mahl der Neger unseren Magen weniger zusagt.
Die Notizen müssen vervollständigt, die Tagesroute ver-
glichen, das Mahl — sehr erquicklich — eingenommen und
Erkundigungen über Namen und Bewohner des Ortes ein-
gezogen werden.
Nach Besprechung über den folgenden Tagesmarsch folgt
dann wohl ein Stündchen in kühler Abendluft beim Glanze
des auf der Rundung liegenden türkischen Halbmondes,
träumerischer Gedanken voll von der fernen Heimath, dann
trotz Hitze und Mücken ein stärkender Schlaf, und ein Tag
auf der Reise im Haussalande ist vollendet.
Recht oft geht der Ritt so einförmig, wie er oben ge-
schildert worden, dahin, während er oft auch angenehme
Abwechselungen erfährt und andererseits nicht selten durch
Hindernisse mancherlei Art unterbrochen wird. In den
tieferen Gründen ziehen sich häufig feuchte Streifen üppigen
Urwaldes hin, und es ist ein hoher Genuß, wenn der Weg
sich senkt und man hineintaucht in das kühle Halbdunkel,
und unter den riesigen Wollbäumen und den schlanken
Palmen dahinzieht, wo bunte Bananenfresser ihre rauhen
Stimmen hören lassen und Affenheerden unter zornigem
Blöken das Weite suchen. Gewöhnlich bietet auch ein
frisches Rinnsal Roß und Reiter erquickenden Trunk und
mit neuen Kräften kann die Reise fortgesetzt werden. So
angenehm solche Urwaldstreifen sind, so gefährlich und zeit-
raubend sind die zur Regenzeit oft kaum passirbaren Sümpfe.
Wenn es nicht möglich ist, dieselben zu umgehen, so ist der
Ernst Hart ert: Skizzen aus dem Haussaland.
335
Marsch durch sie eine anstrengende und in Folge der schäd-
lichen Ausdünstungen gefährliche Arbeit. So selten auch
Leute darin umkommen, so oft brechen doch Pferde und
Träger zusammen, Lasten laufen Gefahr verdorben und ver-
loren zu werden. Wieder ein anderes ist es, wenn zwischen
Felsen eingeengt ein reißender Gebirgsbach herabstürzt, oder
in freiem Graslande ein breiter Strom dahinzieht. Da heißt
cs oft mit den Pferden das schäumende Wasser durch-
schwimmen, da stürzen die Träger mit den Lasten, werden
Gewehre und Munition verdorben, Sattelzeug und Kleider
durchnäßt. In bewohnteren Gegenden sind gewöhnlich Vor-
kehrungen zum Uebergange getroffen. Zuweilen sind aus
Lianen und den großen Blattrippen der Bambuspalme mit
Pflanzentauen hergestellte, schwankende Hängebrücken von
einem großen Baume zu einem ebensolchen am anderen Ufer-
gezogen, bald stehen Kanus bereit, bald kleine Flöße zum
Uebersetzen der Lasten — dann aber kann man sicher sein,
daß auch der sariki-n-rua, der „Herr des Wassers"
mit seinen Leuten nicht fehlt, der den Uebergangszoll in
Kaurischnecken oder Tauschwaaren erhebt und es zumal beim
Fremden an unverschämten Forderungen und Schwierig-
keiten selten fehlen läßt.
Da das Uebersetzen oft lange Zeit in Anspruch nimmt,
so findet man an solchen Uebergängen auch gewöhnlich
Frauen mit Eßwaaren zum Verkaufe. In bewohnteren
Strichen begegnet man solchen auch oft unter schattigen
Tamarindenbäumen an einer Theilung des Weges und
anderen günstigen Plätzen. Namentlich ist es nemo, d. i.
saure Milch, frisches Wasser, furrah, d. s. halbgekochte Mehl-
breikugeln, geröstete Grnndnüsse (Araobis hypogaea),
summa, d. i. flüssiger Honig, rogo, d. s. Cassawa-Wurzeln
und dergleichen mehr, was da angeboten wird und von den
leichtlebigen und genußsüchtigen Trägern gern gekauft wird.
deicht immer war es möglich, am Abend einen Ort zu
erreichen, was der Verpflegung der Karawane halber immer
erwünscht ist, während andererseits in den bevölkerten
Gegenden oft eine ganze Anzahl kleiner Dörfer und größerer,
ummauerter Städte an einem Tage passirt wurden, so be-
sonders zwischen Sarin und Kano, zwischen Dangoga
und Sokoto, Sokoto und Gandu.
Während namentlich in den trockeneren Gegenden des
Nordens, zumal bei Kano und Wurnu, die Gegend zur
dürren Winterszeit einen überaus öden Eindruck macht,
gewähren die grünen Felder gerade dort in der Regenzeit
einen freundlichen Anblick. Wo in der ersteren Wirbel-
winde die dürren Stengel nmherschlendern und über den
Boden hineilende Sandhosen sich erheben, da grünt dann
üppig Sorghum, Pennisetum und Arackis und dehnen
sich oft jene weiten Lachen und Sümpfe aus, dem Reisenden
Gefahr beim Passiren, Verderben durch die schädlichen Aus-
dünstungen bringend.
Tag für Tag sendet in der trockenen Zeit die Sonne
ihre glühenden Strahlen unverhüllt zur Erde herab; im Osten
geht sie ans und wandert über den Scheitel hin gen Westen,
alltäglich in derselben unverhüllten Gestalt, wo sie dann
allabendlich in derselben Weise am dunstigen Horizont ver-
schwindet. Die Hitze steigt bis zu den höchsten Tempera-
turen (wir beobachteten bis zu 44, 45 und einmal sogar
ein Maximum von 48° C.), während die Rächte, besonders
im December und Januar, wenn der kalte Harmattan aus
der Sahara hcrabbrauft, empfindlich kalt waren. Mitte
December 1885 beobachteten wir nahe bei Maska in der
Provinz Kadschena um 5 Uhr Morgens kurz vor Sonnen-
aufgang eine Minimaltemperatur von -f- 6° (I. Es ist
nicht zu leugnen, daß diese kalten Nächte sehr erfrischend
wirken und viel wohlthätiger sind, als die heißen Nächte vor-
der Regenzeit, in denen der Körper in Folge der fort- !
I währenden Transpiration nicht trocken wird und statt stär-
kenden Schlafes eine große Erschlaffung eintritt. Anderer-
seits wieder sind diese großen Temperaturunterschiede die
Ursachen der häufig eintretenden, schmerzhaften Muskel-
rheumatismen und bei den Negern auch katarrhalischer Er-
krankungen.
In der Regenzeit ist es ganz anders; da brausen heftige
Gewitterstürme mit furchtbaren Regengüssen oft Wochen
lang Abend für Abend und Nacht für Nacht mit großer
Negelmäßigkeit hernieder, während auch nicht selten mehrere
Tage, ja selbst eine ganze Woche ohne Regen vergehen
kann; die Ströme überfluthen das flache Land und die
Verdunstung des vielen Wassers erfüllt die Luft mit Miasmen
der schlimmsten Art. Die Fieber treten im Inneren in
feuchten, tiefliegenden Gegenden mit derselben Heftigkeit
ans, wie an der Küste, der mangelnde frische Seewind,
fehlende Hilfe, fehlende Bequemlichkeit machen ihren Verlauf
wo möglich noch bösartiger. Außer den Fiebern treten
Dysenterien häufig auf, doch gelang es uns jedesmal sehr
bald, bei uns auftretende Anfälle zu bekämpfen. Diät und
Eingeben von pulvis Doweri oder ähnlichen haltbaren
Mischungen mit den Hanptbestandthcilen Ipecacuanha
und Opium halte ich für ganz vorzügliche Heilmittel gegen
diese Krankheit. Ich glaube, daß gewöhnlich die schlechte
Beschaffenheit des Trinkwassers die Dysenterie hervorbringt
und daß sorgsames Abkochen und Filtriren desselben ein
gutes Schutzmittel gegen diese Krankheit ist. Gegen das
Fieber kenne ich keinen anderen Schutz, als sich unter eine
luftdichte Glasglocke zu setzen, da es ohne Zweifel durch in
der Luft schwebende Gifte erzeugt wird und weder durch
Früchte oder schlechtes Wasser, noch durch Sonnenhitze
hervorgebracht wird, wohl aber durch dergleichen zum Aus-
bruche kommen oder verschlimmert werden kann. Die
Muskelrheumatismcn pflegen zwar schmerzhaft, aber doch
ohne bleibende Folgen aufzutreten, dagegen können sich
Schmerzen in cariösen Zähnen oft bis zur Unerträglichkeit
steigern und heftige Zahngeschwüre entstehen. An Haut-
krankheiten leiden manche Naturen, zumal Neuangekommene,
sehr stark, während andere ganz davon verschont bleiben.
Magcnschwache Leute können unter keinen Umständen daran
denken, im tropischen Afrika zu reisen. Wie an sich schon
die Unregelmäßigkeiten des Reiselcbcns nicht wohlthätig auf
den Magen wirken, so kann die Art der Ernährung, scharf-
gewürzte Negcrkost oder Konserven, das schwer verdauliche
Rindfleisch und Palmöl, Wasser, Früchte überhaupt nur
einem kräftigen und gesunden Manne zugcmuthet werden.
Die von uns von der Küste mitgeführten Neger erkrankten
im Inneren alle am Fieber, das jedoch nach Chinin meist
rasch verschwand, klagten auch nicht selten über Diarrhöen
und Verstopfungen, bei denen sie theils Negermedicinen,
theils unsere Mittel mit Erfolg anwandten. Sehr häufig
zeigten sich Schwellungen der Beine und Leistengegend bei
unseren Leuten, die ich anfangs auf die ungewohnten weiten
Märsche zurückführte, die sich später aber auch bei ruhigem
Aufenthalte einstellten, so daß deren Natur mir unbekannt
geblieben ist. Die Araber haben sehr oft schlechte Zähne,
während wir sie bei den Negern meist, wenn auch nicht
immer, bewundernswert!) fanden. Während der Europäer,
der gewohnt ist, in großen Städten bei größter Külte in der
offenen Droschke oder der Pferdebahn mit ihrem kalten
Fußboden zu fahren, oder bei tiefem Schnee Tage lang
Treibjagden mitzumachen, von Erkältungen wenig befallen
wird, leiden die Neger viel an Halskrankheiten, und nament-
lich hört man die Kinder oft Nächte lang in erschreckender
Weise wie bei einem Keuchhusten bellen. Die Syphilis ist
stellenweise häufig, im Allgemeinen aber selten. Es ist ein
sehr verbreiteter Glaube, daß diese Krankheit durch Europäer
336
Aus allen Erdtheilen.
eingeführt sei, eine Annahme, die stellenweise ohne Zweifel
zutrifft, eine allgemeine Gültigkeit aber nicht hat. So
findet man die Syphilis am unteren Niger an Orten, die
auch heute noch kein Weißer betritt, so im Hinterlande von
Onitscha und tief im Inneren der Congoländer, wo noch
nie ein Europäer gewesen ist. Krankheiten der Augen,
Staar und Entzündungen, sind nicht selten und treten in
einzelnen Orten besonders häufig auf. An Verstopfung
leiden die meisten Männer sehr oft, so daß ein kräftiges
Abführmittel zu den größten Wohlthaten gehört, die man
ihnen erweisen kann. Hämorrhoiden kommen bei alten
Leuten vor, sowie auch ganz wunderbare Leiden im Anus,
ans deren wirren Beschreibungen wir nichts entnehmen
konnten. Elephantiasis der Genitalien scheint in
manchen heißen Ländern (so in Braß an der Nigermündung
und in Liberia) vorzukommen; an den Füßen, zumal bei
Frauen, ist dieselbe nicht selten. Diese dicken Füße sehen
recht unangenehm aus und die damit Behafteten bilden mit
den Blinden einen Theil der Bettler, die in den Straßen
der großen Städte Ekel erregen.
Es ist sehr unrecht, zu glauben, daß die schwarzen
Mädchen insgesammt unseren Augen nicht wohl gefielen:
unter den Hanssa giebt es viele schöne Mädchen von üppigen
Formen, kleinem Mund und zierlichen Händen und Füßen.
Bei den Fnlbe findet man mehr schlanke, hagere Gestalten,
oft sehr charaktervolle, scharfgcschnittene, stark jüdische und
zuweilen ganz kaukasische Formen. Im Gegensatze zu dem
entgegenkommenden und nicht selten aufdringlichen Benehmen
der Hanssafrauen ist ihr Wesen zurückhaltend, bescheiden und
furchtsam, nicht selten auch stolz und vornehm, ihr Anstand
oft beinahe königlich. Wenn ich absehe von den verweich-
lichten Herrscherfamilien, in deren Adern das Blut nicht
nur der Fnlbe und Haussa, sondern auch vieler anderen
Stämme, deren Frauen in den Harems leben, fließt, und
in denen die Sittenverderbniß oft nicht gering zu sein scheint,
so machten auf mich die Fnlbe einen entschieden sym-
pathischeren Eindruck als die Hanssa. Schon vom Beginn
unserer Reise an offenbarte unser unvergeßlicher Flegel
eine große Voreingenommenheit für die Haussa, und schon
im Anfange äußerte ich wiederholt andere Auffassungen des
Verhaltens der Haussa, bei denen Flegel stets die besten
Absichten voraussetzte, während er sich den an den Niger- !
ufern wohnenden Stämmen gegenüber außerordentlich miß- !
iranisch und zurückhaltend verhielt. Ich hatte gehofft, noch
manche Besprechung des Charakters der verschiedenen
Stämme mit ihm zu halten, wofern ich gesund zurückkehrte, !
aber ein trauriges Geschick raffte ihn dahin, während
ich gesund zurückkehren konnte. Eine große Vorliebe für !
die Haussa zeigt sich auch in Flegel's interessanter Charakter-
schilderung derselben aus S. 30 seiner „Losen Blätter".
Vollkommen stimme ich mit Flegel überein, wenn er die
religiöse Toleranz der Haussa lobend hervorhebt, und theile
seine Ansicht, daß die Haussa für Annahme einer höheren
Kultur viel empfänglicher sind als die Fulbe. Den von
Flegel hervorgehobenen Muth und männlichen Stolz konnte
ich nur sehr vereinzelt entdecken, im Allgemeinen trat uns
eine widerwärtige Feigheit entgegen. Von den Fulbe
wissen wir, daß sie bei jenem großen Eroberungskriege im
Anfange dieses Jahrhunderts, vom Glaubensfanatismus
entflammt, mit unübertrefflicher Tapferkeit und Todesver-
achtung kämpften, während man ihnen sonst auch nicht selten
Feigheit vorwirft. Die Haussa sind ganz vorzügliche Kauf-
leute und leisten an Schlauheit im Handeln und Ueber-
vortheilen das Möglichste.
Die Industrie der Hanssa ist bekanntlich eine sehr
ausgebildete. Die von Flegel und unserer Expedition mit-
gebrachten, haltbaren und geschmackvollen Stoffe, die wunder-
vollen, roth, braun, gelb und hellgrün gefärbten Lederartikel
und Flechtwaarcn erregen uugetheilte Bewunderung. Die
runden, gefütterten Kissen, welche Nachtigal in „Sahara
und Sudan" als Haussakissen abbildet, sind nicht ursprüng-
lich haussanisch; wir sahen sie nur bei Arabern und den
Fürsten des Nordens und sie wurden als to Ealldao, d. i.
vom Osten kommend, be-
zeichnet. Wahrscheinlich
stammen sie von Kuka,
oder wie ich es stets
nennen hörte, Knkaua
(über diesen Namen
bitte Barth II, 364
und Nachtigal I, 586
zu vergleichen). Von fei-
neren Arbeiten erlaube
ich mir auf einen aus
einem einzigen Maria-
Theresien - Thaler her-
gestellten Silberschmuck
hinzuweisen, deren unser
Wirth in Saria, der
sariki-n-makirä (d. i.
Herr der Schmiede, Me-
tallarbeiter), eine große
Anzahl für die Frauen des Sultans von Sokoto anfertigte,
und von denen einer durch uns in das Museum für Völker-
kunde zu Berlin gelangt ist. Obenstehende Zeichnung mag
den Schmuck veranschaulichen.
Silberschmnck in natürlicher
Größe.
A n s allen Erdtheilen.
Inseln des Stillen Oceans.
— Frankreich und Großbritannien haben im Oktober
ein Uebereiukounuen getroffen, worin die in den Jahren 1878
und 1883 protokollarisch gegebene Zusage, daß beide Mächte
die Unabhängigkeit der Neuen Hebriden achten werden,
vertragsmäßig formulirt ist, mit dem Zusätze, daß dort
französische und englische Kriegsschiffe gemeinsam die Polizei
ausüben werden. Die zwei französischen Militärposten,
welche im Jahre 1886 daselbst errichtet wurden, werden in
Folge dessen geräumt werden. — In einem anderen Ucber-
einkommen wird die Londoner Convention vom 19. Juni
1847 aufgehoben und für die Inseln unter dem
Winde im Tahiti- oder Societüts - Archipel (Bellings-
hausen, Scilly, Lord Howe, Manpiti, Tubai, Borabora,
Tahaä, Raiatea und Hu ah ine) die Sonverüuetät Frankreichs
anerkannt.
Inhalt: Dieulasoy's Ausgrabungen in Susa. III. (Mit einem Plan und vier Abbildungen.) — Dr. Karl Lechner:
Aus und über Istrien. I. — Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren. I. — Ernst Hartert: Skizzen aus dem
Haussaland. I. — Aus allen Erdtheilen: Inseln des Stillen Oceans. (Schluß der Redaktion am 1. November 1887.)
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin. S. W. Lindenstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herürkslchtlgung der Anthropologie und Gthnologre.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 QÖ7
•orClUllIUJIPtig zum Preise von 12 Mark xro Band zu beziehen.
Dienlaf 0 y' s Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dienlafoy.
IV.
sDie Abbildungen nach Photographien der Expedition Dienlafoy.s
Erpressungen, welche Mirza Abdul-Kai'in, der „Com- ^
missar" des Statthalters, den Arbeitern gegenüber ins
Werk setzte, und über welche letztere sich beklagten, hätten
den Ausgrabungen säst ein Ende bereitet oder dieselben
doch auf einige Zeit unterbrochen. Festzustellen war nichts; >
denn mit dem Obersten, der alles leugnete, confrontirt,
wagten die Arbeiter nicht, ihre früheren Beschuldigungen
zu wiederholen. Entlassen konnte sie Dicnlafoy auch nicht,
da die Wcgräumung des Schuttes von Tag zu Tag
schwieriger wurde. Man war aus Neste arabischer oder
sassanidischer Häuser gestoßen und darunter auf Lagen festen
Thones, welche aber keine zusammenhängende Schicht
bildeten, sondern scharf begrenzte Zonen einnahmen. In
Folge dessen machten die einzelnen Gräben unregelmäßige
Fortschritte; stellenweise erreichte der GrabenO 1,40 m;
in B, wo man an manchen Punkten bis 2,30 m vorgedrun-
gen war, entdeckte man große Ziegelsteine, die auf einer
sehr dicken Schicht von Kieseln lagen, eine Art Bettung,
welche in gleichmäßiger Weise unter dem ganzen Palaste
und seinen Nebengebäuden hergestellt war. Das Ziegel-
pflaster aber reicht genau bis zur oberen Kante der gewal-
tigen Steinplatten, auf welchen die Säulenbasen der achä-
menidischen Thronhalle stehen. Abgesehen von diesem
Fußboden, der fast in der ganzen Länge des Grabens B
bloßgelegt worden war, hatte man keine Spur von den
Umfassungsmauern oder Thoren gefunden, welche M. Dieu-
lafoy in der Achse des Palastes aufzudecken gehofft hatte.
Die Enttäuschung war groß, denn die noch wegzuschaffende
Globus vH. Nr. 22.
Erdmasse war zu gering, um noch irgend welche baulichen
Reste von Bedeutung zu bedecken; man beschloß, diesen
Graben zu verlassen und die frei werdenden Arbeiter ans
den Graben 0, der inzwischen schon etwa 2 m Tiefe erreicht
hatte, zu concentriren. Die Nachgrabungen bei A nahmen
den besten Fortgang; man war auf Trümmer von Doppel-
stieren gestoßen, welche einst Sänlenkapitäle bildeten, und
hatte dieselben mit Hilfe von Winden gehoben. Beim An-
blicke dieser Maschinen machten die Dizfuler ganz verdutzte
Gesichter; so etwas war ihnen anscheinend noch nicht vor-
gekommen, denn sie schienen dabei vollkommen den Begriff
der Schwere zu verlernen und hätten sich ohne die sorg-
fältigste Vorsicht und eine beständige Ueberwachnng zer-
malmen lassen. Die Neste waren zahlreich genug, um
wenigstens im Geiste das Riesenthier reconstruircn zu
können; dasselbe ruhte auf zwei Gruppen von acht Voluten,
welche eine Säule von 20 m Höhe krönten. Deutlich
konnte man den mit lockigen Haaren bedeckten Bauch des
Thieres, feine plumpen Knie und den Hals erkennen, der
mit einer Kette von Tausendschön und einer Lotusblume
als Gehänge verziert war. Neben einer Säulenbasis lag
der Kopf des Stieres, ähnlich denjenigen, welche die Kapi-
täle in Persepolis krönten, und deren Bild auf der Säulen-
fatzade der achämcnidischen Hypogäen wiederkehrt; nur die
Spitze der Schnauze, die Hörner und die Ohren, welche
durch Zapfenlöcher angedeutet waren, fehlten noch.
Diese Skulpturen waren in einem schwarzen, sehr-
feinkörnigen Kalkstein ansgeführt und gaben Zeugniß von
43
338
Dimlafoy's Ausgrabungen in Susa.
einer kraftvollen dekorativen Kunst und einer vorgeschrittenen
Technik. Mit Geschick angebrachte verschiedenartige Ein-
schnitte lassen einzelne Muskeln im Relief hervortreten,
lassen andere wieder verschwinden und verleihen dem Steine
eine wechselnde Abtönung, welche der Masse der Kolosse
jede Einförmigkeit nehmen.
Als der Palast in Staub sank, zerbrachen diese Un-
geheuer von hartem Steine in hundert Stücke, aber unter
ihnen, von hoch herabstürzenden Trümmern kamen Vasen
von gebranntem Thone zum Vorschein, welche noch unver-
letzt waren.
So erfreut Dieulafoy über diesen Fund war, so wurde
er durch denselben doch zugleich beunruhigt. Ein Kubik-
meter Kalkstein wiegt nämlich an drei Tonnen, während
die dortigen Kameele höchstens eine in zwei Packen ver-
theilte Last von 250 schleppen können; Karren sind
dort aber kaum dem Namen nach bekannt, während der
Lauf des Schawur durch Dämme für etwa zu benutzende
Boote untauglich gemacht wird. Und woher sollte man
sich Boote oder Keleks (Flöße) verschaffen und wie die
Stromschnellen des Flusses von Dizful überwinden? Ein
schwieriges Problem für schlecht ausgerüstete Leute! —
Die Besorgniß, die schwerwiegenden Fundstücke im laufen-
den Jahre nicht fortschaffen zu können, hinderte Dieulafoy
daran, alle Erdarbeiter, welche nach und nach im Graben 0
frei wurden, sobald man das Pflaster erreicht hatte, bei der
Freilegung der Thronhalle zu verwenden und neue Arbeiter,
welche in großer Zahl herzuströmten, in Dienst zu nehmen.
Es wurden also zwei neue Gräben, L im Tumulus
Nr. 2 und I auf der Burg, ausgesteckt; ersterer, wie ein
Bajonett sich umbiegend, geht von dem zwischen den
drei Tumult gelegenen Thale aus und nimmt die Richtung
aus eine Art Senkung oder Krater, der in den südlichen
Theil des Tumulus Nr. 2 eingesenkt ist^ (vergl. den Plan
Stierfragmente.
auf S. 322). Bei der Auswahl dieser Richtung wurde
übrigens nicht willkürlich zu Werke gegangen, sondern
Dieulafoy ließ sich dabei von den Unregelmäßigkeiten der
Tnmnlnsoberfläche leiten, welche offenbar nicht auf Zufall
beruhten. Bevor man diesen Entschluß faßte, hatte man
versucht, längs des ganzen Umfanges des Hügels Reste der
Umfassungsmauern zu finden, um dann, allmählich fort-
schreitend, ein Thor aufzudecken und so ins Innere des
Palastes einzudringen. Aber diese Hoffnung war ver-
gebens; denn beim sorgfältigsten Nachforschen entdeckte man
keine Spur, keinen Fingerzeig. Man mußte sich also in
die Erde graben, um auf irgend eine Mauer oder ein
Pflaster zu stoßen und so einen Faden, der in das Laby-
rinth führen konnte, zu entdecken; denn Dieulafoy beab-
sichtigte durchaus nicht, aufs Gerathewohl Löcher zu machen
und (nach Schaustücken für das Museum zu suchen, sondern
methodisch zu graben, ein Verfahren, das allein wissenschaft-
liche Resultate versprach.
An den verschiedenen Stellen waren jetzt im Ganzen
290 Arbeiter beschäftigt. Dieselben gehörten drei ver-
schiedenen Rassen des Landes an und waren in drei Gruppen
getheilt, welche bei Tage abgesondert von einander arbeiteten
und auch in der Nacht keine Berührung mit einander
hatten.
Die zuerst gekommenen, die Leute aus Dizful, gruben am
Throusaal und zogen sich bei Einbruch der Nacht in das
Grab Daniel's zurück. Sie sind klein, schmächtig, kränklich,
schlecht gebaut, mit Eiterbeulen behaftet, mit Pflastern und
Binden bedeckt, von schlechtem Aussehen, von hell chokolade-
farbener Haut und tragen die Hauptmerkmale s gewisser
schwarzen Völker an sich. Die Stirn ist nur zwei Finger
hoch, der Schädel klein, die Lippen wulstig, die Backen vor-
springend. Vorliebe oder Sitte veranlaßt sie, Städte oder
Dörfer als Wohnsitze aufzusuchen. Ob man in ihnen
mit Dieulafoy Nachkommen der alten semitischen Susianer
erkennen darf, bleibe dahingestellt. Obwohl der Ausschuß der
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
339
Bevölkerung cngagirt war, so entbehrten doch die meisten
dieser Stadtbewohner weder der Intelligenz, noch der Ge-
schicklichkeit. Aber ihr sehr entwickeltes religiöses Gefühl
steht im schärfsten Gegensatze zu ihrer außerordentlichen
Kleinmüthigkeit und ihrer verderbten Moral. Beim An-
blick eines Soldaten fangen sic an zu zittern, kriechen vor-
dem geringsten Angestellten der Regierung und fürchten sich
vor den Nomaden so sehr, daß sie nur in geschlossenen
Hansen die kurze Strecke bis zum Danielsgrabe zurück-
zulegen sich getrauen. Unter hundert finden sich etwa sechs,
die fließend lesen, und zwei, welche schlecht schreiben können.
Alle sprechen ein schleppendes Patois, welches mit nur dort
gebräuchlichen Worten, die weder dem Persischen, noch dem
Arabischen, noch dem Türkischen angehören, gemischt ist.
Ihre abgenutzten Kleider legen Zeugniß ab von ihrer außer-
ordentlichen Dürftigkeit, welche zum Theil ihre moralische
Stierkopf.
und körperliche Schwäche erklärt und entschuldigt. Die
elegantesten tragen zwei Koledschas (Röcke) ans hellfarbigem
Banmwollzeuge, die aus der Brust kreuzweise Uber einander
gehen und von einem Gürtel zusammengehalten werden,
darunter eine weite Hose von blauem Banmwollzeuge und
aus dem Kopfe eine weiße Kappe mit blauem Turban,
während die sungen Leute eine schwarze oder braune Filz-
mütze vorziehen.
Das schöne Geschlecht war nur durch einige mehr oder-
weniger legitime Frauen von Arbeitern und drei bis vier-
schwärzliche wilde Mädchen vertreten, allesammt von ab-
schreckender Häßlichkeit, dazu über alle Begriffe faul und
so diebisch, daß ihnen bald der Zutritt zum Lager unter-
sagt wurde. Eine solche Ehe, worin nur der Mann arbeitet
und einige Schahis verdient, kann unmöglich zu Wohlstand
führen, und so müssen sich die Dizfuler, die meist un-
43*
Lurische Arbeiter beim Ausgraben.
340 Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
341
beschäftigt sind und für geleistete Arbeit oft nur mit Schimpf-
worten bezahlt werden, zeitlebens mit Brot und schlam-
migem Wasser begnügen. Aber keiner würde seiner Frllu
zumuthen, zu arbeiten und zu kochen.
Die meisten Dizsuler erbaten sich gelegentlich einen
Urlaub, um „aus Furcht vor den Arabern" ihre Ersparnisse
in die Stadt zu bringen; aber wenn sie zurückkehrten, waren
sie neu gekleidet, patent wie Fürsten, und hatten Haare und
Nägel mit Henna gefärbt, ein Beweis, daß sie sich in
Dizfnl den Freuden des
Bades und der Liebe hin-
gegeben hatten. Fast alle
brachten ihren französischen
Herren ein paar süße Citro-
nen oder Kuchen mit, die
sie mit schönen Redensarten
begleiteten, wie „das Gold,
welches der Reiche ceutner-
weise aus seinen Küsten
nimmt, hat nicht so viel
Werth, als der Heller, den
der Arbeiter giebt" oder
„Jeder mißt die Last nach
seinen Kräften; ein Heu-
schreckenfuß ist für eine
Ameise schwer". Aber
trotz dieser Zeichen von Ehr-
erbietung, bringen sie aus
der Stadt auch böse Ein-
flüsterungen mit; denn dort
wurde der sintfluthartige
Ziegen der letzten Zeit, wel-
cher verschiedenen Schaden
angerichtet hatte, als Strafe
Allah's für die Anwesenheit
der unreinen Franken an-
gesehen.
Ganz anders geartet sind
die Luren, Ackerbauer
und Hirten zugleich; stark,
kräftig, von fester Bauart,
mit nie geschorenen Bärten.
Nie entfernen sie sich weit
von ihren Feldern und Wei-
den, die ihnen Scheich Ali
angewiesen hat. Alle ge-
hören zum Stamme Kerim
Chan's, der damals an dem
Ufer der Kercha lagerte.
Ihr dolichocephaler Schä-
del, ihr glattes schwarzes
Haar, die feine Nase, die
breit geschlitzten, oft blauen
Augen erinnern durchaus
an die Perser Farsistans.
Bon den Dizfulern hielten
sie sich scharf getrennt; mit Knabe aus
Hilfe von Aesten, Strauch-
werk und Schilf bauten sie sich in der Nähe der Zelte Hütten,
die den Regen besser abhielten als jene. Auch nährten sie sich
besser als die Dizfuler; täglich wurde der übliche Pilaw
bereitet und ans dem Lager ihres Stammes wurden ihnen
Eier, Hühner und Lämmer geschickt. Gekleidet waren sie
nach Dizfuler Art, aber in dunkle Stoffe: eine braune
Filzmütze, ein kurzes langärmeliges Hemd, zwei Röcke, eine
blaue oder grüne Hose und dazu ein mächtiger ungenühter
Mantel von brauner Wolle, der sie vollständig gegen Nässe
und Kälte schützt. Aber auch ohne letzteres Unterscheidungs-
zeichen erkennt man die Luren an ihrem edleren, stolzeren
Benehmen. Sie sind tapfer ohne unnütze Prahlerei, stehlen
gern Büffel und Schafe, fürchten die Regierung und sind
entsetzlich unwissend; um die Religion kümmern sie sich nicht
viel. So schwächlich die Dizfuler sind, so sind sie doch bei
der Arbeit besser zu brauchen, als die kräftigen, aber un-
geschickten Laren, die beim Anfassen alles zerbrechen und
die werthvollsten Spuren ohne Ueberlegung vernichten.
Als drittes Volk sind
die Araber zu nennen,
welche auf dem Tumulus
Nr. 2 arbeiten. Sie sind
ernst, muthig, so hitzig, daß
vor ihren rollenden Augen
die Dizfuler die Flucht er-
greifen, mehr an einer Per-
son als an einem Princip
hängend, noch weniger in-
telligent als die Luren,
aber lügnerisch, diebisch,
jedoch mit Anstand; mit
jedem ihrer Vorzüge schie-
nen sie den entgegengesetzten
Fehler verbinden zu können.
In ihrem Herzen, ihrem
Geiste vermischen sich, ohne
einander auszuschließen, die
verschiedenartigsten Gefühle
und Leidenschaften: Begierde
zu plündern und Achtung
für den Gast, Naubsucht
und Freigebigkeit, kalte
Grausamkeit und ritter-
licher Edelmuth. Von Geist
and Körper unabhängig,
kehren sie allabendlich in
ihr Lager zurück, ohne sich
um wilde Thiere, Räuber-
oder böse Geister, die in der
Steppe Hausen, viel zu
kümmern. Dabei sind sie
noch mäßiger, als die Diz-
fuler, bringen sich nicht ein-
mal Brot mit, sondern
nähren sich von wenigen
Datteln und den jungen
Diesteln der Thalschluchten.
Um Wissenschaft, um Litte-
ratur, um Bücher kümmern
sie sich nicht; nur beim
Lagerfeuer werden Geschich-
ren erzählt, die sich aus
die Thaten und die Genea-
logie der Vorfahren bezie-
hen , und zuweilen stellen
Dizfnl. sich Possenreißer ein, die
wegen der Abwechslung,
welche sie bringen, mit Jubel begrüßt werden. So er-
schien einmal im Danielgrabe eine Truppe von Tänzern
unter Leitung eines hartherzig aussehenden Unternehmers
und gaben dort Vorstellungen, ehe sie zu den Zelten
Scheich Ali's weiterzogen. Bald hallten die heiligen Mauern
wieder von dem Geschrei der Musiker, dem Dröhnen
der Trommeln und dem Kreischen der einsaitigen Geigen.
Junge Männer mit langen Haaren, in Weiberkleider ge-
hüllt, metallene Castagnetten in der Hand, führen dort
Arabische Tänzer
Dr. Heinrich Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
343
üppige Tänze ans, untermischt mit höchst unerwarteten
Pirouetten. Die langen Aermel der Hemden fegen bald
ans dem Boden hin, bald schweben sie wie weiße Flügel
über dem Kopfe des Tänzers, dem die losen Haare wild
ums Gesicht fliegen; hinter den aufwirbelnden Staub-
wolken verschwinden seine Züge so sehr, daß ihn die Zu-
schauer mit etwas gutem Willen leicht für ein Mädchen
halten können. Die Bewegungen sind wenig graciös, die
Musik einförmig und unmelodisch, aber der rothe Tarbusch,
die silbernen Halbmonde, welche auf die schwarzen Haare
herabhängen, die schimmernden Verzierungen des Gürtels,
das alles giebt ein prächtiges Bild, zu welchem die zu-
schauenden Araber mit ihrer braunen Haut und den braunen
Mänteln den passendsten Hintergrund abgeben.
Araber sitzen noch nicht seit sehr langer Zeit im Flach-
lande von Susiana; der Stamm des Scheich Ali soll erst
vor etwa 250 Jahren aus Nedschd in das Land zwischen
Karun und Kercha eingewandert sein, wo er sich von Seiten
Fath Ali Schah's großen Entgegenkommens erfreute und
einen weiten Strich Landes angewiesen erhielt. Allmählich
aber wurden die Geschenke seltener und kleiner, Mohammed
Schah forderte von ihnen sogar einen kleinen Tribut und
Nasr-ed-din läßt denselben ohne Unterlaß anwachsen. Die
Nomaden aber in ihrem Unabhängigkeitssinne antworteten auf
diese Plackereien damit, daß sie nach türkischem Gebiet aus-
wandern, wo sie der ohnmächtigen Regierung gegenüber die
Herren spielen. 1850 gab es zwischen dem Tigris und dem
Bachtijaren-Gebirge 15 000 arabische Zelte, heute sollen es
westlich der Kercha nur noch 6000 bis 7000 Familien sein.
Dauert diese Bewegung an, so wird Susiana vor Ende dieses
Jahrhunderts» eine menschenleere Einöde sein. Um die
Auswanderung zu bekämpfen, beauftragte der Schah vor
einigen Jahren den mächtigen Häuptling Scheich Ali mit
der Erhebung der Steuern, von denen er einen bestimmten
Satz abzuliefern hat. Doch scheint dessen ernstes, nach-
denkliches Gesicht darauf hinzudeuten, daß seine Pflichten
ihm sauer ankommen, und daß es ihm schwer fällt, die
Nomaden halbwegs im Zaume zu halten.
Die Bevölkerung der Azoren.
Von Dr. Heinrich Simroth.
II.
B nllar meint, daß die Rasse der Azoreaner, wiewohl sie
sich Portugiesen nennen, doch durch die Kreuzung mit dem
maurischen Blut während der spanischen Herrschaft ver-
bessert wurde. Sie sind schöner und graciöser als die
Portugiesen. Auch Wyville Thomson, der mit dem
„Challenger" die Inseln besuchte, findet Anklänge an den
spanischen Typus. Die Weiber seien zwar im Allgemeinen j
von einer untergeordneteren Erscheinung als die Männer,
aber manche Mädchen waren doch schön und von zartem
Aussehen und mehr von spanischem als portugiesischem
Typus. Walker findet, daß die Mädchen von Furnas sich
an Wuchs den Griechinnen vergleichen können, nament-
lich wenn sic, das antike Wassergesäß frei aus dem Kopfe
balancirend, stattlich und leicht einherschreiten, ein ver-
führerischer Anblick für die jungen Lions der Badesaison,
die eine Zeit lang den Sport entwickelten, mit dem Alp-
stock das Gefäß herunter zu stoßen und den feinen Witz
mit einem Dollar (Milreis) zu bezahlen. Das sind ver-
einzelte Eindrücke, die wohl im Allgemeinen mehr an Aus-
nahmen gewonnen sind, als an der Regel. Die Bilder der
beiden Bauern, die im ersten Aufsatze (s. oben S. 185)
gegeben wurden und die ein recht verdutztes Photographier-
gesicht machen, können recht wohl für typisch gelten, für
die ländliche Bevölkerung ebenso das dralle Mädchen und
der Diener oder Hansirer, die umstehend folgen, letzterer offen-
bar mit einem starken Antheil hebräischen Blutes in seinen
Adern. Diese paar Figuren zeigen aber schon physio-
gnomische Unterschiede genug. Der Hausbnrsche, den Zervas
im Dienst hatte, erinnerte, wenn ich mich nicht sehr täusche,
trotz der hellen Hautfarbe an den Neger, und ich entsinne
mich, daß von zwei bäuerlichen Dirnen, die ich ans dem
Lande traf, die eine mehr das derbe, gedrungene Gesicht
der Abgebildeten hatte, während das der anderen, einer
Blondine, schmal und fein geschnitten war. Derartige ge-
hörten allerdings zu den Seltenheiten. Der feinere Kenner
entdeckt fast in jedem Dorfe charakteristische Züge. Fur-
tado hat eine Anzahl Photographien zusammengestellt, auf
die ich verweise. Die Männer mögen alle einigermaßen
mit jenen Bauern übereinstimmen, während die sieben
Weiber durchweg etwas besser weggekommen sind, als die
umstehende Krugträgerin.
Wichtiger sind die genauen anthropologischen Unter-
suchungen, die Fnrtado angestellt hat, als Grundlage einer
physischen Beschreibung der Leute von S. Miguel, die von
denen der übrigen Inseln, wie früher bereits gesagt wurde,
charakteristisch sich unterscheiden und von flämischem Blute
frei sind. Er unterwarf zunächst hundert Rekruten und
Bauernburschen den üblichen Messungen, fügte Beobach-
tungen an Bäuerinnen wie an Personen der besseren Stände
hinzu und brachte so ein leidliches Material zusammen, das
durch die Vergleichung mit entsprechenden Daten von Fest-
landsportugiesen noch werthvoller wird.
Die Körperhöhe stellt sich danach bei den Bauern von
S. Miguel im Mittel aus 164 cm, indem sie nur selten auf
148 cm herabsinkt und ans 181 cm steigt.
Nach der Schädelform mit einem mittleren Index von
78,50 vertheilen sich (nach der Nomenklatur von Broca)
jene 100 Personen folgendermaßen:
Dolichocephale . . . . . . 12
Subdolichoccphalc . . . . . 32
Mesaticephale . . .
Subbrcichycephale . . . . . 21
Brachycephate . . . . . . 4
100
Der mittlere Schädelumfang betrügt 55 cm, 59 cm in
maximo und 52 cm in minimo, der mittlere Schädel-
durchmesser in antero-posteriorer Richtung 18,7 (20 und
17 in max. und min.), der in transversaler Richtung
14,7 cm (16 und 13,5 in max. und min.).
344
Dr. Heinrich Simroth: Tie Bevölkerung der Azoren.
Das Gesicht ist meist mehr oder weniger verlängert
(81 Proc.), seltener gerundet (19 Proc.). Die mehr oder
weniger senkrechte Stirn (43 Proc.) sieht der schräg zurück-
tretenden (57 Proc.) wenig nach.
Die Nase ist im Allgemeinen gerade (70 Proc.), weniger
häufig konvex (23 Proc.) und am seltensten konkav ein-
gedrückt (7 Proc.). Wenn auch stark konvexe-und große
Nasen nicht eben selten sind, so scheinen eigentliche Adler-
nasen ganz zu fehlen. Die Nasenwurzel ist fast nie ganz
glatt, viel häufiger tief eingedrückt (24 Proc.).
Die Haare sind meist glatt und oft, was uns Deutschen
besonders ausfällt, außerordentlich voll und dicht, so daß sie,
kurz geschoren, wie die dichteste Bürste cmporstarrcn; ge-
lockte oder gewellte bringen es nur aus 6 Proc. und krause
sind noch seltener. Die blonden und schwarzen kommen am
wenigsten vor, die hell- und dunkelkastanienbrauncu wiegen
vor, auch sind rothe neben Sommersprossen bei Männern
und Weibern nicht ausgeschlossen. Auch die Bärte sind
meist dunkelbraun, seltener schwarz. Die Augen sind gleich-
falls dunkel- oder hellkastanienbraun, doch kommen grüne
und hellbraune, worunter wohl graubraune zu verstehen sind
(„pardo“ gegenüber „castanho“), häufiger vor als die
dunkeln; rein blaue dagegen sollen durchaus fehlen; auch
ich entsinne mich nicht, welche gesehen zu haben. Betreffs
des dunklen Kastanienbraun möchte ich kaum Bedenken tragen,
dafür Schwarz zu setzen, mir erschienen die meisten schwarz-
haarig; der Südländer ist wohl an eine stärkere Dosis
von Schwarz gewöhnt und unterscheidet deshalb feiner
unter den dunklen Tönen. Furtado hätte auch die Kin-
der berücksichtigen und zufügen können, daß man Blond-
und selbst Flachsköpfen in den Dörfern und Vorstädten
gar nicht selten begegnet, und zwar in der für uns so
reizvollen Zusammenstellung mit dunkelbraunen Augen.
Unter den Erwachsenen kommen natürlich die hellbraunen
Haare meist mit helleren Augen kombinirt vor, die Kon-
traste sind selten, doch ließen sich auch ganz hellgrüne Augen
Criado von San Miguel. (Nach einer
Photographie.)
neben ebcnholzschwarzen Haaren bei Bauer und Bäuerin
beobachten.
Die grünen und hellkastanicnbraunen Augen finden sich
unterschiedslos bald mit geraden, bald mit konvexen Nasen
vereinigt; verwunderlicher aber ist es, daß die graubraunen
zu geraden, die ganz dunklen Augen aber zu mehr oder
weniger konvexen Nasen mit Vorliebe sich gesellen.
Die Physiognomie ist im Allgemeinen ziemlich grob, die
Umrisse sind hart, der Mund groß, die Lippen dick (Neger-
blut?), die Stirn namentlich bei Weibern schmal, ich fand
sie nicht häßlich und überhaupt das weibliche Gesicht
nicht unschön, wenn man Mund und Nase, die fast durch-
weg wenig ansprechen, zudeckt. Doch altern die Frauen
früh und sind mit 30, die Männer mit 40 Jahren ver-
blüht und greisenhaft. Die Entfernung der Jochbeine
übertrifft häufig den Qucrdurchmesser des Schädels, was
das Gesicht eckig macht. Erwähnt mag noch die große
Ungleichheit werden, die häufig die vorderen oberen Theile
Mädchen, Wasser holend. (Nach einer
Photographie.)
des Schädels rechts und links auszeichnet, jene Ungleichheit,
die Hasse ja neuerdings selbst an der Venus von Milo
nachgewiesen hat.
Interessant ist der Vergleich des Schädelnmfanges als
des besten Maßes für die geistige Capacitüt bei Bauern,
Bäuerinnen und Gebildeten von S. Miguel unter einander
und mit den einiger anderen fremden Gruppen in gra-
phischer Darstellung, worin sich Furtado an Le Bon
anlehnt. Die niedrigste Kurve, die von 49 cm bald ans
51 und nachher allmählich bis 55 ansteigt, nehmen die
Bäuerinnen von S. Miguel ein, dann folgen die galizischen
Bauern aus der Nachbarschaft der Tatra (50 bis 57 und
selbst 58 cm), dann die Bauern von S. Miguel (51 bis
57 und vereinzelt ebenfalls bis 58 ein), dann die besseren
Stünde von dort (54 bis 59 ein in direkter Steigung),
dann die Bürger von Paris (wenige von 52 bis 55 cm,
weiter gleichmäßig bis 59 und 61 cm zunehmend), und
endlich die Gelehrten, zwar auch mit 53 einsetzend, nachher
Dr. Heinrich Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
345
aber bald die Pariser überragend und schließlich mit ihnen
wieder im größten Umfange, 61 am, sich treffend. Es ist
klar, daß dieser Faktor nur in gewissem Sinne als Maß-
stab für die Intelligenz genommen werden kann, insofern
als der Schädelnmsang zur Körpergröße in einem Ab-
hängigkeitsverhältniß steht. Dies zeigt sich sehr klar an
einer Reihe von Messungen eben bei den Michaelenser
Bauern:
Schädelumfang 35 Individuen von 148 bis 162 cm 35 Individuen von 163 bis 167cm 30 Individuen von 168 bis 181 cm
56 bis 59 cm 9 26 37
54 bis 56 „ 40 45 57
51 bis 54 „ 51 29 6
100 100 100
Die parallele Zunahme beider Faktoren leuchtet auf den
ersten Blick ein, womit zugleich gesagt ist, daß sich unter
den Gemessenen kein Beispiel hervorragender Kopfstärke
befindet, ein Resultat, das ebenso klar aus der folgenden
Vergleichung bloß kleinerer Leute unter einander hervor-
geht :
Schadelumfang icvcn Größe von 156 cm
55 bis 59 cm 27
52 bis 55 „ 68
49 bis 52 „ 5
100 100
Das oben angegebene Verhältniß zwischen Brachycephalen
und Dolichocephalcn ändert sich nicht unerheblich, wenn
man die Gebildeten dazu nimmt, unter denen die erstere
Kopfform viel seltener auftritt oder ganz fehlt, der folgenden
Tabelle entsprechend:
17 Bauern von 153 cm
Körpergröße im Mittel
65
35
Dolichocephale Subdolichocephale Mesaticephale Subbrachycephalc Brachycephale Bauern lì " 31 21) 2° Bäuerinnen Lj « 17 Lj Gebildete 26j 46 20 J 40 48 4 6
100 100 100
In dieser Hinsicht zeigt Fnrtado weiter, daß der Ver-
kürzung des antero- posterioren Schädelburchmcssers keines-
wegs eine gleichwerthige Verlängerung des transversalen
parallel geht:
Omerdurchmesser Dolicho. Mesati. Bracht).
15 bis 16 cm 7 19 28
14 bis 15 „ 73 78 72
13 bis 14 „ 20___________3________—
100 " 100 100
Es folgt daraus ein ungünstiger Betrag des Schädel-
umfanges bei den Brachycephalen:
Schädelumfang Dolicho. Mesati. Bracht).
57 bis 59 cm 7 9 —
53 bis 57 „ 89 85 68
51 bis 53 „ 4 6 32
100 "" 100 100
Ebenso ergiebt sich für die Brachycephalen ein geringeres
Körpermaß:
Dolicho. Mesati. Bracht).
Unter 160 cm 14 16 52
Ueber 160 „ 86 84 48
100 ” 100 100
Endlich werden die Gruppen betreffs der Kombination von
Augen und Haaren in eine Tabelle geordnet:
Augen und Haare
vom gleichen Ton
Augen heller als
die Haare
Augen dunkler als
die Haare
Augen
(graubraun
grün
hellbraun
dunkelbraun
hellbraun
grün
graubraun
grün
l dunkelbraun
ihellbraun
Haare
blond
hellbraun
dunkelbraun
dunkelbraun
schwarz
hellbraun
dunkelbraun
hellbraun
dunkelbraun
schwarz
hellbraun
blond
Dolicho.
Mesati.
Bracht).
4
8
4
16
441
41561
20) s 84
100
Während nach diesem allem die Dolicho- und Mesati-
cephalen in ihren anthropologischen Merkmalen gut har-
moniren, stehen die Subbrachycephalen in deren Kombination
durchweg merklich abseits und sie erinnern darin auffällig
an den keltischen Typus der Bretagne und Auvergne, und
die Uebereinstimmung mit einer bezüglichen Tabelle aus
Topinard's Manuel ist allerdings in die Augen springend,
daher auch sie hier noch Platz finden mag:
Haare Augen
blond braun blau braun
^ . . ^sknmnerischeDep. 55 Proc. 44 Proc. 56 Proc. 41 Proc.
Frankreich ^Mschx „ 21„ 78 „ 50 „ 50 „
blond und dunkelbr. graubraun hell und
hellbraun u. schwarz und grün dunkelbr.
Bauern sDolicho. 59 Proc. 41 Proc. 38 Proc. 62 Proc.
von Mesati. 52 „ 48 „ 29 71 „
S. MiguelsBrachy. 28 „ 72 „ 40 60 „
Mir scheint, die Zahlen sprechen beredt genug. Fur-
tado hält auch dieses Resultat selbst für das eigenthümlichste,
ohne sich scdoch auf eine Hypothese, ob diese Brachycephalen
mit helleren Augen und dunklerem Haar aus Frankreich
stammen, weiter einzulassen. Vielmehr liegt es näher, sich
nach den keltischen Merkmalen bei den Festlandsportugiesen
Globus LH. Nr. 22.
umzusehen, die ja viel keltisches Blnt in den Adern haben.
Furtado hat sich Mühe gegeben, hinreichendes Material
dafür zu sammeln, doch ist solches nur für die Bewohner
von Nord- und Centralportugal (Minho und die Gegend
von Aveiro) erreichbar gewesen, ein Fingerzeig für künftige
Untersuchungen. Für uns macht es nicht viel ans, da
im Süden vermuthlich der maurische Einfluß überwiegen
würde. Der Raum gestattet nicht, die ganze Tabelle auf-
zunehmen. Begnügen wir uns mit den mittleren Maßen:
Bauern vom Minho von Aveiro
Mittlere Körpergröße............ 163,5 164,7
Mittlerer Schädelindex .... 76,24 75,49
Antero-posteriorer l Schädel- . . 18,9 19
Transversaler j durchmesser . 14,4 14,3
Mittlerer Schädelumfang . . . 55,9 55,8
Die Unterschiede zwischen beiden sind nicht beträchtlich,
auch tritt das Verhältniß zwischen Portugiesen und Michac-
lensern erst klar aus der Gesammtübersicht hervor. Es
stellt sich für die letzteren hauptsächlich wie folgt:
Die Körperhöhe ist kaum geringer.
Der antero-posteriore Schädeldurchmesser ist beträchtlich
vermindert, daraus ergiebt sich eine viel allgemeinere Sub-
brachycephalie und eine große Differenz zum mindesten in
44
der Anzahl der reinen Dolichocephalen (12 Proc. auf
S. Miguel gegen 54,5 Proc. in Portugal).
Der Schädelumfang ist viel kleiner.
Blaue Augen, auf welche in Portugal 16 Proc. fallen,
fehlen gänzlich, und die grünen wiegen bei weitem vor.
Die Hellen Haare sind viel häufiger, ebenso die konvexen
Nasen.
Ist nun jenes keltische Element ans S. Miguel auf
Einwanderung, von der wir nichts Sicheres wissen, zurück-
zuführen? oder ist's als Rückschlag zu denken? die Zukunft
mag's lehren.
Entsprechend dem unfeinen Gesichte ist der Körper der
Landlente von der Insel derb und knochig, der Rumpf wie
aus einem Stück, also mit wenig Taille; dafür ist die
physische Stärke bedeutend und größer als bei den übrigen
Azoreanern. Die Weiber, so wenig graciös von Gestalt,
gehen kerzengrade mit schnellem und strammem Schritt,
große und unbequeme Lasten (etwa eine Matratze und
Hansrath darauf) weithin auf dem Kopfe tragend. Bei
den Feldarbeiten übernehmen sie den härtesten Antheil; ohne
Zügel sitzen sie zu Pferde und reiten mit kaltem Blute auf
den unwegsamsten Steilpfaden.
Ans dem allem ergiebt sich eine gesunde Konstitution.
Ihr entspricht ein reicher Kindersegen. Die Statistik von
1881 weist auf
800 Verheirathungen (0,6 Proc. auf die Bevölkerung)
4700 Geburten ( 4 „ „ „ „ )
3000 Todesfälle (2,5 „ „ „ „ )
Das bedeutet die beträchtliche Zunahme von 15 Proc. in
10 Jahren. Solch starkes Wachsthum hängt gewiß mit
dem Klima zusammen, dessen gleichmäßige Milde die Kinder-
sterblichkeit vermindert. Was jung wird, wird alt, trotzdem
daß häufig die Kleinen, kaum mit dem Hemdchen bekleidet,
im feuchten Winde liegen, oder noch etwa sechsjährige Buben
auf der Straße sich herumtreiben, die lediglich eine Jacke
an- und einen Hut aufhaben, in paradiesischer, oft nur
zu schmutziger Ungeniertheit. Auf die Weise wird allerdings
die natürliche Auslese ausgeschlossen, und die Schwächlinge
wachsen mit den Kräftigen heran. Ist das die Ursache,
warum man so viele Krüppel, oft in den häßlichsten Zu-
ständen, und selbst Idioten trifft? Letztere scheinen auch
in den besseren Ständen, die von jeher eine stattliche Menge
tüchtiger Leute, Staatsmänner, Reisender und Gelehrten
geliefert haben, ziemlich hünfig'zu sein; und bei ihnen zum
mindesten möchte man geneigt sein, an einen anderen
Causalnexus zu denken, an die seit Jahrhunderten geübte
enge Zwischenheirath, an die Inzucht. Hier ist natürlich
alles verwandt mit einander. Es wäre gewiß hier ein
guter Boden, das Problem weiter zu verfolgen; aber, wie
man sieht, es verquickt sich gleich wieder mit anderen Um-
ständen, und das Urtheil muß vorsichtig sein. Uebrigens
entspricht der (Summe des Elendes reichlich die öffentliche
und private Mildthätigkeit, und das Hospital gehört in den
portugiesischen Mittelstädten immer zu den vornehmsten
Gebäuden. Daß die vorherrschenden Krankheiten Rheuma-
tismus und Dyspepsie sind, wurde früher angeführt. Sollte
wohl letzterer die meist ausfallende Blässe der Bevölkerung
zuzuschreiben sein? Rothe Backen sind entschieden weniger
häufig als bei uns; sonst ist wohl der Teint nicht zu dunkel;
die Mannschaft eines brasilianischen Kriegsschiffes, das
längere Zeit im vorigen Sommer in Ponta Delgada vor
Anker lag, stach ganz bedeutend durch die gedunkelte Haut-
farbe von den Einheimischen ab. Nach Furtado sind
gastrische und typhoide Fieber und Blattern die häufigsten
epidemischen Krankheiten unter der Landbevölkerung, sie
treten jährlich in drei oder vier Dörfern ans und wandern
das nächste Jahr, sich nur selten in derselben Ortschaft
wiederholend. Mir sielen noch die häufigen Augenerkran-
knngen, Hornhautgeschwüre rc. auf, die so leicht abstoßen.
Auch in Lissabon wird man sie bemerken, wie denn hier
das größte Reklameschild das eines Augenarztes war; hier
könnte man sie dem blendenden Lichte, das oft schwarze
Schutzbrillen nöthig macht, zuzuschreiben geneigt sein —
aber auf dein trüben S. Miguel? sollte der Schmutz der
meisten Hütten und Nachtlager in Frage kommen?
Aus und über Istrien.
Von Dr. Karl Lechner in Kremsier.
II.
Was die meteorologischen Verhältnisse des Landes
betrifft, muß vor allem bemerkt werden, daß nur vereinzelte
Daten vorliegen. Für derartige Messungen scheint kein
rechtes Interesse und volles Verständniß in weiteren Kreisen
vorhanden zu sein. Zwar werden an vielen Orten von
Privaten Temperaturmessungen ziemlich regelmäßig vor-
genommen, aber wer nicht an Ort und Stelle lebt, erfährt
davon nichts. Es ist eben ein charakteristischer Zug des
Volkes, sich selbst zu genügen und dem Fremden gegenüber
hinter dem Berge zu halten. Daher kommt es auch, daß
sich nur in Triest, Pola, Porer, Pisino und Abbazia und
in Lnssin piccolo meteorologische Stationen befinden, von
denen Pisino und Abbazia nur kurze Zeit bestehen. Wir
geben im Folgenden eine Tabelle nach der ersten Autorität
in Oesterreich, Direktor Hann *).
J) Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wissenschaften,
math. naturw. Klasse, Bd. 92, 1. Hest.
Seehöhe tu m Minima Maxima Jahrestem- peratur in °S Beobacb- tungsdaner
Pola 20 5,7 24,6 14,8 io Jahre
32 5,3 23,6 14,0 13 ,,
Porer 7 7,4 23,7 15,2 12 V3
Trieft 26 4,7 24,4 14,1 30
26 4,7 24,1 14,0 20
Lussin piccolo . 14 7,2 24,4 15,3 4 Vs „
Abbazia 16 5,6 23,4 14,0 1
Pisino 262 1,9 20,7 10,8 % ,,
In dieser Tabelle fehlen die meisten bedeutenderen
Küstenorte, jene im Inneren des Landes, mit einer einzigen
Ausnahme, ganz. Die Messungen zu Pisino besorgt ein
Gymnasiallehrer; allein da das dortige Gymnasium auf-
gelöst und nach Pola übertragen wird, hören dieselben in
einigen Jahren von selbst auf und über die Temperatur-
verhältnisse im Inneren erfahren wir dann nichts mehr. In
Rovigno, das ein sogenanntes Seehospiz für kranke Kinder
erhalten hat, dürfte wohl ohne besondere Mühe eine Station
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
347
ins Leben gerufen werden können. Vignano, zur Zeit der
Venetianerherrschast wegen der salubrità,“ der Luft hoch
gerühmt, besitzt feit Langem ein Marinespital, aber meteoro-
logische Daten werden der Centralstelle in Wien nicht ge-
liefert. Die Staatsbahn durchzieht von Pola bis gegen
Lupoglava das mittlere Bergland, von dort bis zur Ein-
nlüudung in die Südbahn bei Divaca die Gehänge der
Hauptkette und die angrenzende Hochebene, also ein meteoro-
logisch ganz besonders interessantes Gebiet. Ohne große
Kosten und Mühe könnten an den einzelnen Stationen
durch die Beamten Beobachtungen besorgt werden. Man
hätte es hier mit einem intelligenten Beobachtermaterial
zu thun und die Herren würden darin keineswegs eine
besondere Belastung ihrer Amtsthätigkeit erblicken, da sie
an manchen Orten vor Langeweile kaum wissen werden,
wie sie die Zeit verbringen sollen. Denn der Lokalverkehr
ans dieser specifischen Militärbahn ist nur gering und in
manchen Stationen steigt Tage lang kein Passagier ein.
Wir zweifeln auch nicht, daß viele Psarrherren bereitwillig
derselben Aufgabe sich unterziehen würden, wenn ihnen die
nöthigen Instrumente beigestellt würden.
Im Allgemeinen ist das Klima milde und gesund und
nur im gebirgigen Theile wegen der herrschenden Winde
rauh. An den Küstcnorten lassen sich die Jahreszeiten
wohl unterscheiden, im Inneren tritt nur Winter und
Sommer scharf gesondert auf, da ein allmählicher Uebergang
fast völlig fehlt. Auf den Hochebenen des Karstes sind die
Schwankungen der Temperatur oft ganz unvermittelt und
im Zeitraum von 12 Stunden kann das Thermometer
12 bis 16 und mehr Grade Unterschied aufweisen. Während
man nordwärts der Alpen einen guten Theil der Sommer-
abende leicht gekleidet im Freien sitzen kann, ist dies in
einem großen Theile Istriens selbst nach heißen Tagen nicht
häufig möglich, denn nach 10 Uhr Abends wird es nicht
selten empfindlich kühl. Wie groß die Gegensätze sind, mag
nur ein Beispiel zeigen. Am Charfreitag des Jahres 1883
stand ans der Osiknste Istriens um Bolosca, Abbazia, Lov-
rana rc. die Vegetation in herrlichstem Schmucke und der
Dust der Rosen erfüllte die Luft. In Pisino waren kaum
die Anfänge zur Blüthe gegeben und am Ostermontag
schneite es fast den ganzen Tag; es war dies der erste
Schnee des Winters von 1882/1883. Pisino nndVragna
am Fuße des Monte Maggiore stehen um fast drei Wochen
bezüglich des Eintretens der Blüthezeit aus einander, obwohl
letzterer Ort höher liegt; aber er ist vor Winden mehr ge-
schützt. Schnee fällt aus der südwestlichen Abdachung des
Gebirges wenig, auf der nordöstlichen ist der Winter ziem-
lich lang und schneereich. Istrien liegt im Gebiete der
Frühjahrs- und Herbstregen, die Niederschlagsmenge im
Sommer ist außerordentlich gering. In dieser Vertheilung
liegt für den Ackerbau eine stets drohende Gefahr.
Pola hat im Mittel 940 rum, Triest 1124 mm Regen-
menge. In letzterer Stadt betrug das Maximum 1478 mm
(1876), in Pola 1401 mm (1878), das Minimum
905 mm (1874), bezüglich 754 mm (1874). Die Regen-
menge nimmt also von Norden nach Süden zu ab. Selbst-
verständlich würde die Vertheilung des Regens eine wesent-
liche Aenderung erfahren, wenn das Land mehr bewaldet
und der Wald regelmäßiger vertheilt wäre. Dazu ist aber,
wie wir noch sehen werden, nicht die geringste Aussicht.
Wesentlich beeinflußt wird das Klima von den Winden. Es
sind dies die Bora und der Scirocco, wenn auch im Lande
felbst noch mehrere minder bedeutende Winde unterschieden
werden, wie Tramontana (N.), Libeccio (S. W.), Maestrale
(N. W.) u. a. m. Eine leichte Bora wirkt auf einen ge-
sunden Menschen kräftigend und anregend, für schwache
Personen ist sic zu scharf.
Sie ist im Allgemeinen ein Nordostwind, daher kalt,
weht zwar auch im Sommer, am häufigsten und heftigsten
aber im Winter, wo sie nicht selten mit den Schneewehen
im Gefolge die Communication gänzlich unterbricht. Dies
war z. B. im verflossenen Winter der Fall auf der Bahn-
linie St. Peter-Fiume, Divaca-Pola und auf der Haupt-
strecke der Südbahn, selbst der telegraphische Verkehr hörte
auf. Sie ist im Stande, Waggons aus dem Bahngeleise
zu schleudern, wie dies vor mehreren Jahren auf der Fiumaner
Strecke der Fall war, ja hat sogar in Triest schon Leute
und beladene Wagen ins Meer geworfen. Der Quarnero
und die Hochebenen und Mulden der Tschitscherei werden
von ihr besonders stark heimgesucht. Ihre Geschwindigkeit
beträgt per Stunde nicht selten 60 km, ja am 25. Februar
1879 wurde in Pola dieselbe mit 125 km registrici. Wegen
der plötzlichen Stöße ist sie natürlich auch der Schisfahrt
gefährlich. Dem Scirocco (Südost) geht stets vor dem
eigentlichen Ausbruche eine große Schwüle der Luft voraus,
die erschlaffend und lähmend aus die Körper- und Geistes-
thätigkeit namentlich rüstiger Personen einwirkt und nicht
selten Kopfschmerzen und Schlagslnß verursacht. Regen-
güsse und Springsluthen sind damit meist vereint, weshalb
der Scirocco von den Schiffern mehr als die Bora gefürchtet
wird; er tritt vorwiegend im Herbste ans.
Istrien ist eine ackerbautreibende Provinz, die freilich
lange nicht den eigenen Bedarf zu decken vermag. Aus
verschiedenen Gründen steht es mit dem Ackerbau vielfach
recht traurig. ' Benussi sieht als wichtigsten den Umstand
an, daß der Landmann ohne rationelle Grundsätze und ohne
irgend welchen landwirthschaftlichcn Unterricht denselben
betreibt. Zwar wurde vom I. verfassungsmäßigen Land-
tage Istriens 1863 die Errichtung von Ackerbauschnlen in
Capodìstria und Pisino beschlossen, aber dieser Beschluß ist
bis jetzt noch nicht zur Ausführung gelangt und die 8ooistà
agraria istriana hat sich nach 15 jährigem Bestände 1883
aufgelöst. Allein den Hauptgrund sehen wir darin, daß
in Istrien das Kolonensystem weit verbreitet ist; gewöhnlich
erhält der Kolone den halben Ertrag des von ihm bebauten
Grundes, wovon er in guten Jahren nur nothdürftig leben
kann. Er weiß aber auch ganz gut, daß ihn sein Herr,
der übrigens mit dem Ackerbau auch nur selteu auf einen
grünen Zweig kommt, in schlechten Jahren doch nicht ver-
hungern lassen kann, und dieses Gefühl, unter keinen Um-
ständen seine Lage wesentlich bei den dermaligen Verhältnissen
günstig gestalten zu können, ertödtct jede freie Arbeitslust.
Daher finden auch agrikulturelle Neuerungen so schwer
Eingang und sind die Geräthe von derselben primitiven
Einfachheit wie vor fast zwei Jahrtausenden. Dazu ist die
Bodenzersplitterung wohl in keiner Provinz Oesterreichs so
groß wie in Istrien itnb es fehlen demzufolge dem Klein-
bauern (der weitaus an Zahl überwiegt) die Geldmittel,
seinen Boden rationell zu bearbeiten. Im Jahre 1857
gab es im gesammten Küstenlande 129 539 Grnndbnchs-
blätter, 1883 hingegen schon 227 025, das ist eine Ver-
mehrung der Zersplitterung um 75 Proc. Im Jahre 1854
wies der Kataster für Istrien 1 321 622 Grundparcellen
ans, der neue Kataster, der zufolge des Gesetzes vom
24. Mai 1869 in den cisleithanischen Ländern im Laufe
der Jahre ausgearbeitet wurde, zählt nach der definitiven
Regulirung deren schon 1 476 085. Im Durchschnitt hat
ein Grundbesitzer 8 Quadratjoch 535 Quadratklafter
(1 Joch — 1600 Quadratklafter). Da die Bevölkerung
des Landes 1880 292 007 Seelen betrug, die Gesammt-
area aber 860 820 Quadratjoch umfaßt, entfällt auf den
Kopf ein Grundbesitz von nicht ganz 3 Quadratjoch in einem
Lande, wo von Industrie kaum die Rede ist. Die Grund-
steuer hierfür beträgt 298 896 Gulden ö. W., das ist
348
Dr. Karl Lechner: Aus lind über Istrien.
22,7 Proc. des auf 1316 717 Gulden geschätzten Rein-
ertrages. Ueber die Rentabilität des Bodens giebt die
folgende Tabelle Auskunft.
Cisleithanien Istrien
Mittlerer Reinertrag pro Joch in Gnlden v. W.
5,54 3,08
Wiesen 4,86 2,53
Gärten 10,08 5,92
Weingarten 9,41 4,32
Weiden 0,83 0,26
Alpen 0,29
Waldung 1,23 0,95
Snmpfland . 2,23 0,55
Der Reinertrag beziffert sich somit durchschnittlich in
Cisleithanien aus 3,36 Gulden pro Joch, in Istrien nur
auf 1,58 Gulden. Dabei ist zu bemerken, daß in Cis-
leithanien der Ackerboden gegen 38 Proc., die Waldungen
gegen 35 Proc., Wiesen, Gärten und Weingärten 13 Proc-,
Weiden, Alpen und Sumpfland 14 Proc. des Areals um-
fassen. In Istrien hingegen haben wir über ein Drittel
der Oberfläche Wald, ein Drittel Weiden, und das letzte
Drittel entfällt auf die anderen Kulturarten. Faßt man
den Gefammtertrag ins Auge, so erhalten wir in Cisleithanien
62 Proc. vom Ackerbau, in Istrien hingegen nur 23 Proc.,
dafür jedoch vom Weinbau 27 Proc. Die Vertheilnng
der eiuzelnen Kulturgattungen beträgt in Katastraljoch
Ackerland................ 96 546
Wiesen................... 62181
Gärten.................... 28 086
Weingärten................ 81 777
Weiden................... 276 223
Wald..................... 285 884
Sumpfland.................. i 776
Davon hat den meisten Ackerboden der politische Bezirk
Pola, der Wiesengrund ist im Bezirke von Capodistria und
Volofca am ausgedehntesten, die Gartenkultur in dem von
Capodistria, der Weinbau iu dem von Parenzo, die Weiden
in dem politischen Bezirke Lusfin, der Wald und das Sumpf-
land wieder in dem von Parenzo.
An Cerealien wurden im Jahre 1882 geerntet:
Weizen .... 174190 Hektoliter.
Roggen .... 38540 „
Gerste .... 112800 „
Mais .... 164870 „
Haidekorn ... 4 680 „
Hafer............ 48 290 „
Spelt............ 57 882 „
Im gleichen Jahre producirte Istrien 168 000 Hekto-
liter Wein, überdies Seidencocons, Oel und andere Süd-
früchte. Hierzu mögen einige Bemerkungen gestattet sein.
Die Weinkultur läßt uoch viel zu wünschen übrig. Zwar
sind einige Sorten, wie der Terrano, Risosco u. a., von
vortrefflicher Güte, aber sie halten nicht lange. Der Grund
ist iu dem Umstande zu suchen, daß fast allerwürts die Traube
sammt Stengeln und faulen Beeren gekeltert, der Wein
nicht' rechtzeitig abgezogen wird und die Keller durchweg wegen
des unterlagernden Gesteins sich zu ebener Erde befinden.
Gäbe es im Küstenlande, das etwa 260 000 bis 270 000
Hektoliter Wein erzeugt H, eine tüchtige Wcinbaufchule, dann
müßte bald dieses Bodenprodukt preiswürdig ins Ausland
verkauft werden können. Dermalen steht der Preis hierfür
sehr niedrig und kostet ein leidlicher Tischwein an Ort und
Stelle durchschnittlich 12 bis 15 Gulden, schlechtere Sorten
8 bis 12 Gulden, die besten Sorten 30 bis 50 Gulden
pro Hektoliter, die anderwärts leicht den doppelten Preis
erreichen könnten. Die Seidcncocongewinnuug wird immer
geringer, einerseits wegen der Krankheit der Seidenwürmer,
andererseits wegen des niedrigen Preises. Für den Oelbaum,
U Diese Summe ist streng genonimen nur in schlechteren
Jahren richtig, denn 1872 hatte Istrien allein 248512 Hekto-
liter trotz der Traubenkrankheit erzielt und es gab Jahre, in
denen das Erträgniß sich aus gegen 600000 Hektoliter belief.
der im größten Theile des Landes gedeiht, wird auch nur
wenig gethan, weshalb die Qualität des Produktes eine sehr
geringe ist, dies um so mehr, als in manchen Gemeinden
nicht einmal eine ordentliche Oelpresse vorhanden ist, so daß
die Leute die Frucht einfach iu Bottichen austreten. Da
von einer Raffinade kaum die Rede ist (das meiste Oel
wird unraffinirt ausgeführt), darf man wohl sagen, daß
der Fremde nicht bald irgendwo so schlechtes Olivenöl erhält
als in Istrien. Und doch hat dasselbe hier so ziemlich die
Stelle der Butter und des Riudsschmalzes zu vertreten.
Die Ernte ist äußerst schwankend. So betrug dieselbe z. B.
1721 ungefähr 12 280 metrische Centner, 1791 gar nur
629 im venetianischen Antheil von Istrien, 1870 in ganz
Istrien 37 674, 1871 nur 4763, 1875 etwa 20 800 me-
trische Centner. Noch schlechter steht es im mittleren Istrien
mit der Obstbaumzucht. Hierfür wird so gut wie gar
nichts gethan, obwohl hinlänglich bekannt ist, was dieselbe
in einzelnen Küstenorten und im Görzischen (Wippachthal)
abwirft. Daß man an Wegen und Straßen die besten
Sorten von Aepsel-und Birnbäumen, Kastanien rc. pflanzen
könne, fällt Niemandem bei. Ja ich stelle die Behauptung
auf, daß manches Dorf im Lande nicht so viel Obst erzeugt,
wie ein größerer Bauer im Norden der Alpen, und aus
eigenen Erlebnissen darf ich es keck aussprechen, daß ich das
schlechteste und theuerste Obst in Mittel-Istrien genossen habe.
Obwohl der Wald nominell eine große Fläche ein-
nimmt, ist doch kein Land Oesterreichs außer Dalmatien so
waldarm wie Istrien. Bei dem Umstande, daß ein großer
Theil der Waldungen in kleinen Parcellcn im Privatbesitze
sich befindet, ist dies leicht erklärlich, da sich der Bauer für
den Ausfall an anderen Bodenprodukten am Walde schadlos
hält. Diesem Gebühren des Landmanncs ist sogar im
Landtage das Wort geredet worden. Human ist dasselbe
für das lebende Geschlecht, grausam für die kommenden
Generationen. Von der angeführten Waldfläche ist der
überaus größte Theil nur Niederwald, der trotz der bestehen-
den Gesetze nur sehr unregelmäßig abgetrieben wird. An
sehr bedeutenden Strafansätzen für die leichtsinnige Art des
Abtriebes hat es seit Jahrhunderten nie gefehlt, aber befolgt
wurden dieselben zu allen Zeiten nur nachlässig. Ich will
das traurige Kapitel dieser Mißwirthschaft hier nicht weiter
ausführen; es sei nur bemerkt, daß Forstinspector Scharuaggl
nach den geringsten Ansätzen (150 Kubikfuß pro Familie)
1871 den jährlichen Bedarf für das Küstenland mit
'10 107 510 Kubikfuß bezifferte, welchem ein jährlicher
Holzznwachs von 5 978 259 Kubikfuß gegenübersteht. Da
seither die Bevölkerung nicht unbeträchtlich gestiegen ist,
hat sich das Verhältniß naturgemäß verschlechtert und kann
der Leser die Schlüsse daraus selbst ziehen *). Mit der
Aufforstung steht es aber nicht besonders gut, denn die
Kosten derselben wären so groß, daß ein umfassender Plan
nur mit Reichshilfe zur Ausführung kommen könnte.
Eine Besserung derVerhältnisse dürste sich jedoch schon daun
ergeben, wenn die Holzausfuhr, die nach Venedig noch immer
sehr beträchtlich ist, beschränkt und aus irgend eine Weise
die Bahnen veranlaßt würden, billige Frachtsätze für Kohle
in Anwendung zu bringen. Man sollte meinen, daß bei
der Waldarmuth die einheimische Braunkohle ausschließlich
im Lande verwerthet würde. Dem ist keineswegs so. Denn
von den im Jahre 1881 gewonnenen 673 000 Centnern
wurden 643 000 verfrachtet, aber über die Hälfte davon
ging nach Italien, ein guter Theil nach Fiume und Dalmatien.
Da ein großes Quantum der Weiden fast ausschließlich nur den
0 Es sei erlaubt, hier auf meinen Artikel: „Der Wald-
bestand in Istrien einst und jetzt" („Aus allen Welttheilcn",
XV. Jahrgang, S. 279 bis 284) zu verweisen, wo die ein-
schlägige Litteratur zu finden ist.
Ernst Ha rieri: Skizzen aus dem Haussaland.
349
Schafen zu genügen vermag, die Wiesensläche aber nickst allzu
groß ist, .steht es auch mit der Viehzucht numerisch nicht gut.
In vielen Fällen wurde es sich empfehlen, den Wiesen-
bau ans Kosten des Ackerbaues auszudehnen, da das Er-
trägniß bei rationeller Wirthschaft sich wesentlich steigern
ließe. Allein die Bevölkerung geht von der traditionellen
Wirthschastsmethode nickst ab. Längst hat man erkannt,
daß wegen des Umstandes, daß die Trockenheit zu einer Zeit
beginnt, wo der Mais in Blüthe kommt, es sich weitaus
mehr empfehlen würde, Weizen zu bauen; allein der Jstria-
ner baut trotz alledem konsequent seinen Mais und die noch
leichter mißrathenden Hülsenfrüchte an. So ist's auch mit
den Wiesen. Von einer qualitativen Hebung des Rind-
viehes ist noch weniger die Rede, obwohl gerade diese
wesentlich durch die Nähe der Provinzen Kram, Kärnthen
und Steiermark erleichtert scheinen dürste. Freilich müßte
man dann von der Gewohnheit abgehen, das Vieh das ganze
Jahr hindurch aus die Weide zu treiben, müßte der Klee-
bau, der vor Eintritt der Trockenheit eine sehr reichliche Ernte
abwerfen würde, in größerer Ausdehnung getrieben werden.
Allein das wäre gegen die Ueberlieferung, darf also nicht
geschehen. Aehnlich steht cs mit der Düngerbereitung.
Die nachfolgende Tabelle giebt über den Stand der Vieh-
zucht Auskunft:
Zahlung vom 31. ¡Demut'. 1869 Zählung vom 31. ¡Demut). 1880
Pferde 3 274 3 490
Maultlnere ». Esel 11 928 14 755
Schafe 285 233 255 436
Ziege» 7 345 1 747
Schweine 25 694 27 467
Rinder 46 955 53 652
Bienenstöcke .... 4079 2 979
Zunächst fällt die Abnahme der Ziegen ans, die in
Verboten wegen der Waldschädigung ihren Grund hat,
ebenso wie jene der Schafe. Schweine und Rindvieh haben
sich relativ wenig vermehrt. Die Abnahme der Bienenzucht
kann nur in der Lässigkeit der Bewohner zu suchen sein.
Völlig stationär ist die Pferdezucht geblieben; denn 1857
(die betreffenden Angaben liegen uns nicht genau vor)
betrug die Zahl derselben 2800, obwohl für 7 Bezirke die
Zahl von dem anonymen Verfasser von „Istrien rc."
(Köhler?) nicht angeführt wird. Sie dürfte wohl damals
noch größer gewesen sein als im Jahre 1869.
Die meisten Pferde besitzt der politische Bezirk Parenzo, die
meisten Manlthiere und Esel der von Capodistria; die größte
Zahl Rinder weist Pisino auf, die Schafzucht ist am stärksten auf
Lnssin und im zuletzt genannten Bezirke vertreten, in der
Schweinezucht halten sich Parenzo und Capodistria die Wage.
Neben Ackerbau und Viehzucht bringt auch die See-
fischerei einen nicht unbeträchtlichen Gewinn, wenngleich
auch für sie noch sehr vieles zu thun übrig bleibt. Die
jährliche Menge betrug innerhalb des Quinquenniums 1877
bis 1881 in den Hafenkapitanaten
Meter-Ctr.
Rovigno . . .5454 im Werthe von 132 393 Gulden v. W.
Pola..........4133 „ „ „ 115 562 „ ö. W.
Lujsin .... 3542 „ „ „ 70254 „ ö. W.
Von Belang ist namentlich die Sardellensischerei, die
der Meerbarbe und im Quarnero und seinem Jnselgebiete
der Thunfischsang. In Jsola und Rovigno bestehen Fa-
briken, welche die Bereitung der Sardellen in Oel nach dem
Muster derer von Nantes mit großein Erfolge betreiben.
Im ganzen Küstcnlande werden jährlich weit über eine
Million Blechschachteln verschiedener Größe damit gefüllt.
Es ist bezeichnend, daß die Unternehmungen in den Händen
von Franzosen liegen.
Nicht unerwähnt darf die Gewinnung von Seesalz
bleiben, wenngleich die Erzeugung im Allgemeinen geringer
ist als ehedem, weil die Regierung die Höhe des jährlichen
Erzeugnisses bestimmt. Während man um 1860 noch an
830 000 Wiener Centner erzeugte, betrug die Salzgewinnung
1881 bei einer Arbeiterzahl von 4433 Köpfen 315 000
Metercentner im Handelswerthe von 2153 000 Gulden.
Pirano und Capodistria haben die Secsalzgewinnnng fast
ausschließlich in Händen.
Bergbau wird dermalen in Istrien nur auf Braunkohle
zu Carpano und Vines bei Albona betrieben. Die kohlen-
führenden Schichten wurden um die Mitte des 17. Jahr-
hunderts abzubauen begonnen, kamen 1837 in den Besitz
des Barons Rothschild und gehören seit 1881 der Trifailer
Kohlengewerks-Gesellschaft. Das Erträgniß betrug 1845
nur 42 000 Centner, 1875 schon 330 547, 1881 hin-
gegen schon 673 000 Centner. Schürfungen auf Kohlen
wurden auch bei Gherdoselo in der Nähe von Pisino und
am Monte Maggiore bei Vragna vorgenommen, führten
aber zu keinem günstigen Resultate. Bei Rovigno, Pola,
Rabaz und Albona wird hydraulischer Kalk gewonnen, und
von Belang ist auch hier und da der treffliche Baustein,
von dem namentlich in den uralten Steinbrüchen bei Pola
viel gebrochen wird. Mit diesem Stein bauten nicht nur
die Römer die Stadt Pola aus und um, sondern auch die
Venetianer führten Tausende von Schiffsladungen nach der
Lagunenstadt. Dermalen wird dortselbst der Stein für den
Unterbau der neuen Kaiserburg in Wien beschafft.
An Heilquellen besitzt Istrien die Schwefeltherme
von St. Stephano unweit von Montona mit 320C. Wärme;
wegen Mangel an komfortablen Badeanstalten ist der Besuch
aber nur sehr gering. Der Gedanke, eine solche für die Marine
zu errichten, ist leider bisher nickst zur Ausführung gekommen.
Skizzen aus dem Haussaland.
Von Ernst Hartert.
II. (Schluß.)
Die echten Fulbe lieben noch immer ein ungebundenes,
freies Nomadenleben und leben noch großentheils vom Er-
trage ihrer Heerden. In dem feuchten, fruchtbaren, anOel-
und Fächerpalmen reichen Thäte von Panda trafen wir
zur trockenen Zeit viele Fulbe von edlem und wohlhabendem
Aussehen, welche in der Regenperiode in der Umgegend von
Kauo leben, wo sie guten Absatz für ihre Erzeugnisse finden.
Die Frauen dieser Fulbe waren die schönsten, die ich in
Afrika gesehen habe, aber nur bis zu einem gewissen Alter,
über welches hinaus sie wie die Negerweiber infolge der
vielen, harten Arbeit und des jahrelangen Säugens der
Kinder ungemein rasch verblühen. Die Fulbe sind so ganz
350
Ernst Hartert: Skizzen ans dem Haussaland.
anders, als alle übrigen von mir gesehenen Stämme Afrikas,
daß ich sie mit dem besten Willen nicht zu den Negern
zählen kann. Einige Zweige der Fulbe behaupten von den
Beni Israel oder Juden abzustammen, eine Ansicht, die
in der Gelehrtenwelt mit Recht keinen Anklang gefunden
hat, die aber doch gewiß werth wäre, weiter verfolgt zu
werden. Dieselbe Ansicht vertritt Herr Jose Zweifel,
der bekannte Entdecker der Nigerguellen, welcher die Fulbe
sehr gut kennt, sowohl jene, die unter dem edlen El Had-
schi Futah Dsch allem eroberten, als auch jenen von ihm
sehr gerühmten Stamm, der unter dem tapferen B ub a das
heutige Buba-n-Dschidda gründete, einen weit am
oberen Benne gelegenen Ort, an dem „Milch und Honig
fließen" soll. Die unverfälschten Fulbe sind scheu und zu-
rückhaltend, strenge Mohammedaner, haben mehr Interesse
für Natur und Jagd als die Hanssa, führen ein geordnetes
Familienleben und sind treu und beständig in der Ehe, sollen
auch fast immer nur eine Frau haben. Die Sklaven haben
im Allgemeinen lieber Haussaherren, weil die Fulbe leicht
zur Herrschsucht und Grausamkeit neigen sollen. Die Gast-
freundschaft im Haussalande ist groß, aber eines besonderen,
überschwenglichen Lobes nicht werth. Wir finden Gast-
freundschaft bei so manchen tiefstehenden Völkern, weil eine
gegenseitige Gastfreundschaft in der ganzen Lebensweise be-
gründet ist, und sie kann bei einem Volke, bei welchem Ge-
schäftsreisen an der Tagesordnung sind, nicht überraschen.
Gewöhnlich haben die Reicheren besondere Hütten für Fremde
bereit stehen ; andere gewähren gern Obdach in der Hoffnung
auf reiche Geschenke, die namentlich bei den Weißen erwartet
werden.
Die Lügenhaftigkeit und Betrügerei der Hanssa ist im
Inneren Afrikas sprichwörtlich. Als wir uns über ein kühnes
und noch dazu zweckloses Lügengewebe im höchsten Grade
entrüstet zeigten, da zuckte Dan Tambari, der jüngere
von Flegel's Begleitern in Berlin, der doch selbst ein
Hanssa war, lächelnd die Achseln und sagte: „Wie könnt
ihr euch darüber so wundern? Die Leute sind Hanssa!"
Die Ehe wird unter den Haussa nicht selten gelöst, und
wenn die Frau im Stande ist, die bei der Verheirathung
empfangene Brantgabe zurückzugeben, so kommt es vor,
daß sie ohne triftigen Grund ihren Mann verläßt und nach
einem anderen sucht, eine Gewohnheit, die eine große Locker-
heit der Sitten hervorbringen muß. Auch außerhalb der Ehe
ist der geschlechtliche Umgang bei den Hanssa ein leichter,
bei den Fulbehirten soll es damit strenger gehalten werden.
An den Höfen der Sultane in Saria, Kano, Sokoto,
Wurnu u. a. leben junge Frauen, welche im Gefolge der
Großen, nach Art der Männer reitend, angethan mit bunten
Gewändern und reichem Schmuck, mit Gesang den Zug
unterhielten; doch dienten diese Singfranen auch zur Kurz-
weil im Quartiere, dürfen keine legitime Ehe eingehen und
sind für die Vornehnien, von deren Freigebigkeit sie leben,
reservirt.
Junge Mädchen pflegen bei den Haussa im Allgemeinen
nicht sehr verschämt zu sein; gewisse „Schwerenöther" unter
unseren Trägern von gutem Aussehen und feurigem Blick
fanden fast in jedem Orte Freundinnen, die sich ihnen Hin-
gaben, und wir erlebten mehrfach den Auftritt, daß beim
Ausmarsche junge „Mädchen" einen Träger am Gewände
hielten, weil sie sich nicht genügend belohnt glaubten!
Eine für Einführung europäischer Civilisation nicht zu
unterschätzende Eigenschaft ist die schon erwähnte religiöse
Duldsamkeit der Haussa; denn es unterliegt keinem Zweifel,
daß der strenge Islam jener gegenüber das größte Hinderniß
ist. Es ist die mohammedanische Religion in vielen Gegen-
den durchaus nicht so sehr tief in das Volk der Haussa ein-
gedrungen, da namentlich die weniger Gebildeten selten
mehr davon angenommen haben, als einige Gebete und
Aeußerlichkeiten derselben.
Wenn es schon bekannt genug ist, welch' unerhörter
Aberglaube bei strengen Mohammedanern — ich erinnere
nur an Marokko — grassirt, so kann es nicht Wunder
nehmen, daß solcher auch bei den Haussa einen fruchtbaren
Boden findet. An alles Unerklärte, Ungewöhnliche und
Großartige knüpft der Aberglaube, die Sage, das Märchen
an. Durch Fabeln begründet, mit Legenden nmwebt werden
die auffallenden Formen, die sonderbaren Gewohnheiten der
Thiere, Aberglaube knüpft sich an die Naturerscheinungen,
Sage an die Gestalten bedeutender Männer und tapferer
Krieger. Ganz nach unseren alten Märchen klang es, als
uns berichtet wurde, daß der Räuberfürst Aruna, ein
Freibeuter ans Kano, dessen Schaarcn weithin das Land
verwüsteten, Sklavinnen und Vieh raubten, unverwundbar
sei, daß er zwischen sieben Felsen mit sieben Städten ein-
geschlossen ein ungeheures Feld besitze, ein Feld so groß,
daß eine Belagerung nicht möglich sei, daß er selbst so groß
und dick sei, daß sein Pferd jedes Maß an Größe übersteige
und 100 Sklaven gekostet habe, daß er eine Hand so groß,
wie eine Münnerbrust, einen Arm so dick wie ein Weiber-
schenkel habe, daß er einen Speer ans dem Stamme der
Dattelpalme führe und daß alle seine Stärke daher rühre,
daß er allabendlich ein ganzes Schaf verzehre. Nach den
Erzählungen eines jungen Mannes in Saria hat früher ein
anderer Freibeuter diese Schaaren geführt, welcher ebenfalls
für gewöhnliche Menschen unverwundbar war. Nur ein
Blinder, so war prophezeit worden, könne ihn tobten, und
in der That ging diese Prophezeiung in Erfüllung. Beim
Angriff auf eine feste Stadt ritt er hohnlachend an den
Mauern vorbei, alle Geschosse wichen vor ihm ans, oder
prallten machtlos ab. Da schleppte man einen Blinden
herbei und gab ihm Bogen und Pfeil in die Hand. Ein
schriftgelehrter Königssohn richtete den Pfeil auf den Schreck-
lichen, der Blinde zog den Bogen und ließ fahren — der
Räuber sank machtlos durchs Herz getroffen vom Pferde.
Der Aberglaube beherrscht auch die gesammte Medicin.
Koransprüche in Lederkapseln am Körper getragen oder ver-
schluckt, sind das gebräuchlichste Heilmittel gegen Krank-
heiten, Naturfehler und Gebrechen. Das Fieber wird
besprochen. Die Stirn des Kranken wird bespien, darauf
unter ehrfurchtsvollen Verbeugungen nach Osten hin die
Finger abwechselnd auf den Erdboden gedrückt und zur
Stirn gebracht, welche mit starkem Druck nach den Seiten
hin gestrichen wird, eine Ceremonie, die unter leise gemur-
melten Koransprüchen wohl fünf Minuten anzudauern
pflegt. Die Massage ist nicht unbekannt. Bei rheuma-
lischen und gichtischen Schmerzen lassen sich die Männer
von ihren Sklaven oder Sklavinnen kneten, und behaupten,
gute Erfolge zu erzielen. Abführmittel und stopfende
Speisen sind natürlich wohl bekannt, und ebenso werden
Wunden oft verhältnißmäßig schnell geheilt, ja auch gegen
das Fieber giebt es verschiedene Tränkchen, die augenschein-
lich eine wohlthuende Wirkung ausüben, namentlich wie
die gegen Erkältungen gebrauchten, den Körper in Schweiß
versetzenden. Aus dem unheimlichen Dschuf, dem Leib der
Wüste, kommen durch die Tuaregs runde Kugeln von
großer Kraft gegen den Biß giftiger Schlangen, aus aller-
hand Unsinn zusammengeschmicrt und durch die Berührung
mit einer Schlange recht wirksam gemacht. Aehnliche
dunkle Kugeln wirken gegen den dicken Bauch und über-
mäßiges Essen.
Gegen mancherlei Beschwerden gilt auch die Kolanuß
als heilsam, ohne daß sie wohl gerade für diese Fälle wirk-
sam sein mag. Ueber die Kola- oder Goro-Nuß,
welch' letzteren Namen sie bei den Haussa führt, ist in
Ernst Hartert: Skizzen aus dem Haussaland.
351
letzter Zeit Verschiedenes geschrieben worden und es dürfte
zu erwarten sein, daß in Folge der ans diesen Gegenstand
hingelenkten Aufmerksamkeit einige der ohne Zweifel werth-
vollen Eigenschaften dieser Nuß für uns nutzbar gemacht
werden. Auch im „Globus“ (Bd. 51, S. 283) befand
sich ein lehrreicher und höchst interessanter Artikel über die
Kolanuß, welcher mich, der ich über ein Jahr in den
Gegenden lebte, in welchen sie genossen wird, auf das
Höchste fesselte. Einzelne der in jenem Artikel enthaltenen
Bemerkungen dürften in ihrer Allgemeinheit nicht immer
gültig und z. B. für die Haussaland er nicht zutreffend
fein. Die Angabe, daß die Kolanuß gegen Durchsall
wirksam sei, kam mir sehr überraschend, da mein Reise-
gefährte Staudinger und ich schon nach geringem Genuß
der frischen Nüsse die entgegengesetzte Wirkung zu verspüren
pflegten. Für die Haussagegenden absolut nicht zutreffend
ist die Bemerkung, daß mit der Gabe der weißen Nuß das
Wohlwollen, mit der der rothen ein Uebelwollen oder gar
eine Fcindschaftserklärnng verbunden werde. Beide werden
bei den Haussa je nach dem Vorhandensein und Vermögen
des Gebers als freundschaftliche Gaben gereicht. Daß ein
Esel in Haussa 5000 Kauri kostet, ist nicht als Regel
aufzustellen, denn im Lande selbst schwankt der Preis nach
Gegend und Jahreszeit sehr, ist aber im Allgemeinen viel
höher. Bei der chemischen Analyse am Schlüsse dürste
vergessen sein: Thcobromin 0,23. Sehr viele Europäer
essen ja die Kola sehr gern, doch ist das ebenfalls Ge-
schmackssache; so konnte ich z. B. keinen Genuß darin ent-
decken. Der nachfolgende süße Geschmack machte allerdings
das Wasser sehr süßlich schmeckend. Einiges über eine große,
innen weißgelbe, aus Adamaua gebrachte Art (wahr-
scheinlich Sterculia macrocarpa?), die von den Haussa
liammia genannt wurde, und eine dunkelrothe bis violette
am unteren Niger gedeihende Art, habe ich in Peter-
mann's Geograph. Mitth. 1887, Heft VI, mitgetheilt.
Zahlreich sind die Mittel gegen die leider nur zu oft
geschwächte Manneskrast. Da ist vor allen Dingen gagai,
eine kleine Scitamineenknolle, die, gerieben und in
Wasser gekocht, große Wirkungen hervorbringen soll. Ma-
dngu dan Tambari suchte sehr eifrig nach dieser Knolle
und behauptete vorübergehenden Erfolg gehabt zu haben.
Eine große Rolle in der Medicin spielt der Kimba-
pfefser (Xylopia aetldopica DO.), der sowohl äußerlich
zu Einreibungen, als innerlich gegen Husten und Magen-
schmerzen genommen wird. Von den Schönheitsmitteln
sind namentlich das Färben von Händen und Füßen mit
llenna oder lali, das Färben von Zähnen und Lippen, das
Blanfärben der Augenlider mit pulverisirtem Bleiglanz,
das sehr gewöhnliche Feilen der Zähne, Fetteinreibungen
u. dergl. in Gebrauch; das Tatuiren und Einschnitte im
Gesicht dienen häufiger als Stammes- oder Familien-
abzeichen.
Es ist kein Wunder, daß von den Weißen über-
natürliche Heilmittel erwartet werden. Mehr als einmal
sollten wir Frauen Medicin geben, damit sie Kinder be-
kämen. Unser heidnischer Gastfrcund Dj ato in dem Felsen-
nest Kukui im Gebirge der Korro-Kadarra bat uns, als
er sich nach überreichlichem Genusse eines aus Sorghum
bereiteten Bieres höchst elend fühlte, um eine Medicin gegen
den Tod. Ein junger Mann, der mich auf einer Sammel-
Excursion bei Loko am Benutz begleitete, glaubte fest, ich
sei gegen den Biß giftiger Thiere gefeit. Leider verhält es
sich mit den Mitteln der Europäer nicht so. Gegen das
Fieber, das in allen Gegenden der Haussaländer aufzutreten
scheint, haben wir doch noch immer kein genügendes Mittel.
Dysenterie und Magenerkrankungen sind dort an der
Tagesordnung, die Haut ist mannigfachen Erkrankungen
unterworfen. Trotzdem ich für meine Person nicht die ge-
ringsten nachtheiligen Folgen meines an Komfort und
rationeller Lebensweise doch nicht gerade reichen Aufenthaltes
in den Hausfastaaten verspüre, halte ich doch dafür, daß in
ihnen die Gesundheit auch des kräftigsten Europäers im
Allgemeinen sehr gefährdet ist. Wenn auch in gesunden
Wohnungen, bei guter Verpflegung, ruhigem, arbeitsamem
Leben sich Vieles ertragen läßt, und der Kaufmann, wenn
er nur etwas auf seine Gesundheit achtet, dort Mancherlei
erreichen kann, so kann dort doch niemals ein deutscher
Arbeiter thätig fein, was nicht oft genug betont werden kann.
Nicht die gesammten Reiche von Sokoto und Gandu
sind mohammedanisch. Außer den ununterworfenen Stämmen
des Nordens leben, theils friedlich, theils in selten unter-
brochener Fehde mit den Herren des Landes, viele Heiden
in deren Gebieten. Während wir friedlich mit unserer
Karawane durch die Dörfer der Korro und Kadarra
zogen, führte der Herrscher von Anafsarawa (jener Pro-
vinz, die sich bis über den Benutz erstreckt, und in der
Loko liegt) Krieg mit den heidnischen Koto und Afo,
deren Wohnsitze bis an den Benuö reichen. Die religiösen
Gebräuche und Anschauungen dieser heidnischen Stämme
sind fast gänzlich unbekannt, doch stehen sie ohne Zweifel auf
einer sehr niedrigen Stufe.
Sklaverei ist bei den Mohammedanern und Heiden
üblich. Es ist in neuerer Zeit schon von vielen Seiten
betont worden, daß die Sklaverei bei den Mohammedanern
viel milder gehandhabt wird, als der „humane" Europäer
gewöhnlich glaubt. Wenn dies schon bei dem harten Araber
der Fall ist, so muß es bei dem im Allgemeinen weicheren
Haussamanne erst recht sein. Nicht nur, daß den Sklaven
überhaupt gewisse Rechte zustehen, nehmen sogar die Skla-
vinnen nicht selten angenehmere Stellungen ein, als die von
vornherein frei gewesenen Frauen, was zum Theil darin
begründet ist, daß Sklavinnen stets nur aus Neigung ge-
heirathet werden und daß sie dann ihrem Manne aus
Dankbarkeit, Liebe und begreiflicher Klugheit in fester Treue
anhängen, während die frei gewesenen Frauen, wie wir ge-
sehen haben, nicht selten einen eigensinnigen Kopf haben und
sich nach Veränderung und Verbesserung sehnen, die ihnen
oft auch zu Theil wird, während die entlaufene Sklavin mit
allen Mitteln der Gewalt zurückgebracht werden kann und
harte Strafe verdient hat. Die entlaufene Sklavin kann so
lange zu ihrem früheren Herrn zurückgebracht werden, als
sie nicht von einem anderen Manne, der sie gefunden oder-
gefangen, oder in dessen Schutz sie sich begeben hat, der
Form nach verkauft worden ist. Ist der Kauf aber end-
gültig abgeschlossen, so hat der frühere Herr das Recht ver-
loren. In Haussaland nehmen zuweilen auch Sklaven an
den Höfen der Sultane einflußreiche Stellungen ein, und
selbst der niedrigste Sklave wird selten ohne Grund ge-
schlagen. Wer sich einer grundlosen Grausamkeit gegen
feine Sklaven schuldig macht, kann angeklagt und in Strafe
genommen werden. Andererseits sind die Strafen für-
wirkliche Vergehen hart genug; doch muß in Erwägung ge-
zogen werden, daß dort auch freie Verbrecher zu ganz anderen
Strafen, als zu kostenloser Verpflegung, wie in den hoch-
civilisirten europäischen Staaten, vcrurtheilt werden.
Sehr wenig human wird bei größeren Sklavcntransportcn
verfahren, und die zur Erlangung der Sklaven geführten
Kriege sind voll von empörenden Grausamkeiten. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß viele Kriegszüge gegen heidnische
Unterthanen und Nachbaren in erster Linie unternommen
werden, um Sklaven zu fangen. Die Lehre des Koran,
den Islam mit Feuer und Schwert über die Lande hin
auszubreiten, dient dabei als ein schöner Deckmantel. Trotz-
dem die Ausfuhr von Sklaven nach Europa und Amerika
352
Aus allen Erdtheilen.
.
■
lange aufgehört hat, findet im Inneren des dunklen Kontinents
noch immer ein schwunghafter Handel damit statt und die
Araber führen noch viele nach Norden und Osten hin, wo
sie vielleicht als „Diener" gehalten werden, was man leicht
begreift, wenn man weiß, wie sogar Weiße an den Küsten
nicht nur Sklaven von den befreundeten Häuptlingen als
Geschenke anzunehmen gezwungen sind, sondern auch
zuweilen außer Stande sind, andere Arbeiter zu bekommen,
als gekaufte Sklaven. Hiermit soll gegen Niemanden ein
Tadel ausgesprochen werden, denn es ist sicher, daß es
von dem Weißen oft sehr unklug fein und Feindschaft
und Unhaltbarkeit seiner Stellung zur Folge haben würde,
wenn er ohne Rücksicht mit den bestehenden Gebräuchen des
Landes, das er als Fremder bewohnt, brechen wollte.
Die Kriege, Sklavenverfolgnngcn und die Feindseligkeit
der heidnischen, wenig abhängigen Stämme in den Bergen
und in den Tiefen der Wälder bedingen eine gewisse Un-
sicherheit des Landes, obwohl man tut Allgemeinen sicherer
reist, als man cs bei dem Mangel an obrigkeitlicher Gewalt
erwarten sollte. Der reisende Kaufmann hat in den be-
wohnteren Strichen keinerlei Plünderung oder Belästigung
zu befürchten, wofern nicht gerade beutegierige Schaaren der
unabhängigen Gobirri oder Maradi vom Südrande der
Wüste, einzelne heidnische Gemeinden im Inneren des Landes,
oder die gefürchteten Freibeuterhorden des schon erwähnten
Aruna die Gegend durchstreifen. Es scheint besonders die
trockene Zeit zu sein, in der diese Raubzüge und überhaupt
die meisten Kriege stattfinden, was denn auch wohl sehr
erklärlich wird, wenn man bedenkt, daß in der Regenzeit
vorzugsweise das Land bestellt wird, daß in ihr das Lagern
im Freien beschwerlich und ungesund ist, die späterhin völlig
trockenen Ströme und Büche als reißende Gewässer dem
Uebergange die größten Hindernisse entgegensetzen. Das
Land erfährt durch diese Kriege oder besser gesagt Raub-
züge die mannigfachsten Veränderungen.
Während wohl im Laufe der Jahre auch in den Haussa-
ländern hier und dort neue Dörfer entstehen, andere durch
günstige Bodenverhältnisse oder gute Lage an begangenen
Handelsstraßen sich vergrößern und weiterhin ihre Felder
ausdehnen, andererseits wiederum Brände und Ueberschwem-
mungcn die Orte zerstören, sind doch die bemerkbarsten Ver-
änderungen der Gegend die durch Kriege und Raubzüge
entstandenen. Ueber die Veränderungen der Gegend von Loko
habe ich schon in Petermann's Geograph. Mitth. 1887,
Heft VI, gesprochen. Im Jahre 1886 wurde der Ort Uba
(siehe unseren Bericht in den Mitth. der Afrikanischen Ge-
sellschaft in Deutschland 1887, Band 5) von Heiden aus
dem A b u t s ch a - T c r r i t o r i u m angegriffen und von seinen
Bewohnern verlassen, welche in die Felsen von Jndu
flüchteten. Ein Theil der großen Handelsstadt Keffi
Abd-es-Ssenga wurde vor einer Reihe von Jahren von
Saria wegen Unbotmäßigkeit zerstört; vor Kurzem führte
gegen Keffi sogar der kleine Herrscher von Anassarawa
erfolgreich Krieg und stand auch wieder im Juni 1886 mit
einigen Großen jener Stadt wegen Sklavenstreitigkeiten auf
sehr gespanntem Fuße. Der blühende Ort Kaschia wurde
tut April 1886 zerstört, Gidan Garba (Libere) war ver-
lassen. Mehrfach fanden wir alte Ruinen auf dem Marsche;
von Bamasch«, Dagorga, Gankaro konnten wir noch
die Namen ermitteln und ans unserer Noutenkarte in den
Mittheilungen der Afrikanischen Gesellschaft verzeichnen.
An manchen Städten, am meisten in Ribako, zeigen ver-
fallene, rauchgeschwärzte Häuser oder alte Ringmauern an,
daß sie früher größer waren; selbst bei Saria sind an der
Nordseite noch die Neste der alten Mauer sichtbar, die vor-
dem Einfall der Fulbe die Stadt umzog.
Obgleich die Kriege dort meist nur zerstörende Wirkungen
hinterlassen, entstehen doch durch dieselben auch zuweilen
neue Dörfer und Städte. Oft rasten nämlich die Heere
lange an einem Orte und bauen feste Kriegslager, sansanni
genannt, die dann später weiter bewohnt werden. Die meisten
oder alle mit dem Worte sansanni zusammengesetzten Orts-
namen dürften auf solche Art enstandenen Plätzen angehören.
Aus allen, über unsere Reise veröffentlichten Berichten
dürfte der Leser leicht ersehen, daß im Allgemeinen noch
immer dieselben Verhältnisse bestehen, wie zu Barth's
Zeiten, sowie auch, daß in diesen interessanten Landen noch
unendlich viel des Neuen zu erforschen und zu erkunden ist.
Wie man weiß, daß manche, ja die meisten bedeutsamsten
Forschungen hier von Deutschen gemacht worden sind, so
wird man auch nicht daran zweifeln, daß auch fernerhin
noch viele deutsche Männer bereit sein werden, gleich uns
dort ihr Gut und Leben im Dienste der Wissenschaft und
des Vaterlandes zu wagen — um so mehr ist cs von unserer
Seite zu bedauern, daß einer von Flegel's hauptsächlichsten
Plänen, die Gegend zwischen dem Benne und dem Tsad-See
zu erforschen, nun, wie es den Anschein hat, von Engländern
ausgeführt werden wird, und daß überhaupt augenblicklich
in Deutschland das Interesse für jene Länder in den Hinter-
grund getreten ist; doch darf hierbei auch nicht verkannt
werden, daß von England aus viel beträchtlichere Geldmittel
für dergleichen Zwecke geopfert werden, als sie in der Regel
den deutschen Forschern zu Gebote stehen.
Hoffen wir immerhin, daß auch ferner noch deutscher
Fleiß, deutscher Muth und deutsche Thatkraft zur Erforschung
I dieser Länder beitragen werden.
A ii s allen E r d t h e i l e ii.
Asien.
— Es sind noch kaum fünf Wochen vergangen, daß zwei
Brüder von Quast, der eine Rittmeister, der andere Land-
rath , uns um Instruktionen und Hilfsmittel für eine Reise
im nordwestlichen Kleinasien ersuchten und sich in vollster
Manneskraft, entschlossen, Geographie und Archäologie der
zu durchreisenden Gebiete nach Kräften zu fördern, ver-
abschiedeten. Ihre Vertrautheit mit den topographischen
Aufnahmen, mit Photographiren u. s. w., ihre Ausrüstung
mit Instrumenten ließ ans reiche Ausbeute für die Wissen-
schaft hoffen. Da kommt aus dem durch seinen Meerschaum
berühmten Eskischeher die erschütternde Nachricht, daß
Siegfried von Quast, der Landrath des Kreises Neu-
Ruppin, nach kurzer Krankheit daselbst aut 31. Oktober im
46. Lebensjahre verschieden sei — ein trauriger Ausgang
einer so frisch und schaffensfreudig begonnenen Reise!
Inhalt: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa. IV. (Mit fünf Abbildungen.) — Dr. Heinrich Simroth: Die Be-
völkerung der Azoren. II. (Mit zwei Abbildungen.) — Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien. II. — E r n st Härtest:
Skizzen aus dem Haussaland. II. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Asien. (Schluß der Redaktion am 8. November 1887.)
Hierzu eine Beilage der Berlagshandlnng Gebrüder Partei in Berlin.
Urt besonderer Kerücksichiigung »er Anthropologie und Ethnologie.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände L 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
D i e u l a f o y ' § Ausgrabungen in S u s a.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dienlafoy.
V.
Der 21. März brachte einen interessanten Fnnd, Emaille-
ziegel, die zusammen einen vollständigen Fries von 72 cm
Höhe bildeten, bestehend aus weißen, durch ein gelbes Band ver-
bundenen Palmetten, darüber und darunter gelbe und grüne
Zacken u. s. w. Bei weiterem Nachsuchen entdeckte man
außerdem noch ein werthvolleres Stück: ans blauem Grunde
eine weiße Schnauze, ein gelbes Nasenloch und einen ans
fünf dicken Haaren gebildeten Bart eines phantastischen
wilden Thieres; über der geschickt nachgebildeten und mit
milchfarbenem Email bedeckten Kaumuskel ein rundes Auge,
alle Farben frisch und wohlerhalten. Das Ganze erinnerte
an die steinernen Löwen, welche die Paläste der assyrischen
Herrscher schmückte. Ueber den oberen Zacken des Frieses
bemerkte man ferner eine weiße Tatze in Hantrelicf, die
ans einem grünen und gelben Bande stand und zwei gelbe
Klanen zeigte. Alles aber wurde zunächst wieder dick mit
Erde bedeckt, um erst später wieder freigelegt und gehoben zu
werden. Diese Vorsicht empfahl sich um so mehr, als der
Barometer fiel und mehrere Tage wieder ohne Unterlaß
gewaltiger Regen herabströmte. So sehr derselbe auch die
Ausgrabungen verzögerte und die Verproviantirung des Lagers
erschwerte, so hatte er doch auch sein Gutes; denn im Graben
E des Tumulns Nr. 2 war durch seine Einwirkung das Erd--
reich abgestürzt und hatte die Stirnseite einer aus großen
Lehmziegeln bestehenden, außerordentlich gnt ausgeführten
Mauer bloßgelegt. Um diese durch die Schutthaufen weiter
zu verfolgen, wurden die besten Arbeiter angestellt.
Globus LII. Nr. 23.
Der 25. März brachte unter die Arbeitcrbevölkcrnng
des Lagers eine große Bewegung; unten in der Ebene
zogen schwer bepackte Büffel, Kühe und Kameele entlang:
Kerim Chan veränderte seinen Lagerplatz, weil zwischen
seinen Lnren und Ali Chan, dem Häuptlinge der Segvends,
Krieg ansgebrochen war. Letzterer hatte ans Anlaß der
Hochzeit seiner Tochter mit dem Sohne des Mozaffer el-Molk
das Land zu verwüsten begonnen; seine Reiter plünderten
schonungslos einzelne Reisende, und seine Kameele jagte er
in die Gerstenfelder der Lnren. Nun folgten allerhand
Scharmützel und Reiterkümpfe; Ali Chan's Sohn wurde
dabei verwundet, aber die Luren unter Anführung des
Mohammed, Kerim Chan's Sohn, mußten sich doch vor
den überlegenen Segvends zurückziehen und flüchteten sich
in die Nähe der Nninenhügel, in der Hoffnung, bei den
Franzosen Beistand zu finden, eine Zumuthung, welche
diese von der Hand wiesen, da ein Eingehen darauf eine
Fortsetzung der Ausgrabungen unmöglich gemacht hätte.
Zwei Stunden, nachdem Mohammed mißmuthig über seine
Zurückweisung das Lager Dieulafoy's verlassen hatte, erstieg
ein zahlreicher Hausen Nomaden den Tumulns und drängte
sich in das Zelt, voran eine reinlich gekleidete Frau, gefolgt
von alten, schmutzigen, runzeligen Weibern. Der Stamm
Kerim Chan's zerfällt nämlich in zwei Theile von ungleicher
Bedeutung; der größere steht unter seiner Leitung, der
schwächere unter derjenigen seines Bruders Papi. Und
des letzteren Gemahlin, halb arabisch, halb persisch gekleidet,
45
354
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
war die Besucherin, eine Frau von regelmäßigen Zügen,
lebhaften Augen und intelligenter Physiognomie. Aber auch
ihr Bemühen, die Hilft der Fremden durch Bestechung zu
gewinnen — sie bot der Madame Dieulafoy all ihren
Schmuck und noch viele andere Schütze — blieb ohne
Erfolg. Als die Gäste sich empfohlen hatten, war ein
Paar Pantoffeln mit ihnen verschwunden; dafür aber war
zahlreiches Ungeziefer im Zelte zurückgeblieben.
Am folgenden Tage, und zwar in aller Frühe, wie es
dort die Sitte erheischt, erwiderte Madame Dieulafoy den
Besuch; mehrere Luren holten sie ab und begleiteten sie,
trotzdem beide Lager noch nicht einen Kilometer von einander
entfernt waren. Während sie den Nordabhang des Tumulus
hinabstieg, konnte sie die braunen Behausungen der Nomaden
übersehen und war über-
rascht, wie symmetrisch die-
selben aufgestellt waren.
Auf einem erhabenen Platze
stand, höher wie die übri-
gen, das Zelt des Häupt-
lings, während andere, alle
gleich an Gestalt, Farbe
und Größe, sich zu beiden
Seiten einer Straße regel-
Uläßig an einander reihten;
tiefer, gleichsam als Vor-
posten, ein viereckiges Lager;
zwischen den Reihen ein
weiter Raum, in welchen
des Nachts die Heerden des
Stammes, aber diejenige
eines jeden Besitzers für
sich, eingepfercht werden;
das Ganze bewacht von
großen, gelben Hunden, die
sich kläffend auf die Fremde
stürzen und mit Erdschol-
len zurückgejagt werden
müssen. Eine dicke Frau
— Bibi Msauda, Kernn
Chan's legitime Frau und
Schwägerin der Papi Cha-
num — erhebt sich bei
Madame Dieulafoy's Ein-
tritt in das Zelt schwer-
fällig und bittet sie, sich
neben ihr niederzulassen.
Der Einrichtung eines
Nomadeuhäuptliugs fehlt es
etwas an Komfort. Mauern
mtb Dach seiner Behau-
sung bestehen aus Ziegen-
haar und spannen sich schief
über krumme Aeste aus; immerhin umschließen sie einen großen
Raum, der in einzelne Abtheilungen getheilt ist; natürlich
dienen die leicht verstellbaren und aufzurollenden Scheide-
wände höchstens dazu, den Einblick zu hindern. Dort stehen
hölzerne, bunt bemalte und mit einem plumpen Hängeschloß
versehene Koffer, auf einer Matte das Bettzeug und die
Decken der Familienmitglieder, verzinntes Kupfergeschirr, wie
Näpfe, Töpfe, Teller, Kaffeegerüth, eine Mühle, ein eiserner
Mörser zum Enthülsen des Reis — das war alles. Des
Erzvaters Jakob Wohnung und Einrichtung wird nicht
viel anders ausgesehen haben.
Sämmtliche Frauen, welche die Französin eng umringten
und ihr fast die Luft benahmen, waren mit Ausnahme von
Bibi Msauda und ihrer beiden Schwiegertöchter ganz elend
gekleidet. Sie würden unter ihren Blousen von blauer
Baumwolle, deren ausgefaserteu Saum sie durch jeden
Schmutz und Mist schleifen, frieren, wenn nicht eine dicke
Schmutzschicht, die nur an den Gelenken Risse zeigt, den
Zutritt der umgebenden Luft verhinderte. Niemals
waschen sich diese Weiber, selbst nicht, wenn sie ins Wasser-
fallen oder die großen Flüsse der Ebene schwimmend kreuzen.
Die Kinder, welche unter ihrer Obhut stehen, sind'natürlich
nicht reinlicher, und es kostete der Französin die größte Ueber-
windung, einen Knaben von 20 Monaten, der in seinem
Leben noch niemals gewaschen worden war, und ihr zum
Bewundern und Liebkosen gereicht wurde, zu küssen. Das
Gespräch drehte sich natürlich nur um Kleider und Schmuck
und bot nichts von Interesse.
Indessen fing die Nach-
barschaft des Nomadenla-
gers an, lästig zu werden.
Nachdem schon in der Nacht
des 26. März ein Ver-
such gemacht worden war,
Küchengeräth zu stehlen,
verschwanden in der folgen-
den Nacht die wenigen vor-
handenen Hühner. In der
nächsten Nacht aber mach-
ten berittene Araber einen
Uebersall auf das lurische
Lager und entkamen mit
geraubtem Vieh und Sachen
bis auf einen, den eine Lu-
renkugel vom Pferde holte,
und der anderen Tages
auf ein Maulthier gela-
den und ohne Saug und
Klang in einem Loche beim
Grabe Daniel's verscharrt
wurde. Am nächsten Mor-
gen aber erschien der ganze
Luren - Stamm bei den
Ausgrabungen, vertrieb die
an Zahl viel schwächeren
Araber und Dizfuler, rührte
keinen Finger, aber forderte
vollen Lohn. Dieulafoy
mußte alle Arbeit einstellen
und erklären, er werde kei-
nen Pfennig bezahlen; aber
erst, als Kernn Chan mit
seinem Bruder und seinen
Söhnen erschien, und mit
seinem Stocke aus seine Un-
terthanen losschlug, stieb die
Menge, deren Zahl an 600
betrug, aus einander; um Mittag herrschte wieder vollständige
Ruhe in den Gräben.
Aber die Vertriebenen sannen auf Rache und suchten in der
nächsten dunklen Nacht die aufgefundenen Steinreste dadurch
zu zerstören, daß sie die kleinen Bruchstücke gegen die
größeren warfen. Nur dem Umstande, daß der Stein hart
und die Luren faul waren, war es zu danken, daß der
angerichtete Schaden nicht allzu groß war; immerhin waren
einige Blöcke geplatzt und Inschriften zerstört. Auf Dieu-
lafoy's Beschwerde versprach Kerim Chan, dem ersten seiner
Unterthanen, der sich Nachts bei den Gräben sehen lassen
würde, den Kopf abzuschneiden, auch nächstens sein Lager
abbrechen und mehr in die Nähe von Scheich Ali verlegen
zu wollen. Aber trotz dieser Verheißungen ließ Dieulafoy
Araberin mit einem Schilfbündel. (Nach einer Photographie
der Expedition.)
355
Dieulafoy's Ausgrabungen in Sitsa.
die weniger schweren Steine und eine sehr zierliche Säulen-
basis mit einer dreisprachigen Inschrift des Artaxerxes in
sein Zelt schassen.
Inzwischen ging das Bargeld, welches die Expedition
vom Untergouverneur von Dizful empfangen hatte, auf die
Neige, und man mußte einen Theil der beim- Banquier des
Zelle Sultan eingezahlten Summen flüssig zu machen
suchen. Dieulafoy schrieb also in diesem Sinne einen
höflichen Brief an den Najeb, bat, ihm 200 Toman unter
Eskorte zu senden, und gab
dem Boten eine Quittung
darüber mit. Nach drei
Tagen kehrte derselbe trüb-
selig zurück, ohne Quittung,
aber auch ohne Geld, an
dessen Stelle er — Stock-
schläge erhalten hatte. Nun
besaß zwar Dieulafoy einen
Nothgroschen, der ihn in
den Stand setzte, weiter zu
leben und nöthigenfalls auch
das Land zu verlassen, aber
die Ausgrabungen hätten
eingestellt werden müssen.
Es wurde daher beschlossen,
daß M. Houssay sofort am
nächsten Morgen nach Diz-
ful reiten und von Najeb
die dreifache Summe ver-
langen sollte; Mirza Ab-
dul-Kaun und der eine
Algerier, ein muthiger und
kaltblütiger Mann, sollten
ihn begleiten.
Am Mittag desselben Ta-
ges erschien in Begleitung
zahlreicher Reiter Scheich
Ali, der von dem Verfah-
ren des Najeb gehört hatte,
und bot den Franzosen
6000 Kran an, was zu
seinem größten Erstaunen
dankend abgelehnt wurde.
Seine Achtung vor den
Fremden stieg in Folge dessen
so, daß er ihnen am Abend
einen prächtigen Hammel
als Geschenk schickte, eine
höchst erwünschteGabe. Da
auch die Arbeiter Vertrauen
gefaßt hatten, so setzten sie
die Ausgrabungen auch ohne
sofortige Bezahlung fort;
am 30. März ergaben die-
selben ein Becken von ge-
branntem Thon von ^zier-
licher Form und ein Stück
von einer großen Stele aus
rothem Sandstein, das auf zwei Seiten Keilinschriften trug.
Der Frühling begann nun mit Macht seinen Einzug
zu halten; das Dickicht am Flusse unten fing au zu grünen,
die Schutthügel bedeckten sich mit blauem Iris, rothen
Anemonen, weißen Doldeupslanzen und rosafarbenen Schwer-
teln mit fleischiger Blume. Gleichzeitig traf Mohammed
Taher mit den ersten Pilgern ein, dem Dieulafoy seinen
Besuch abstattete und seine Ausgrabungen zeigte. Voller
Entzücken stürzten sich die Arbeiter auf den verehrten Mann,
um seine Hände, seine Kleider, ja selbst seine Fußspuren
zu küssen. Die hohen Würdenträger der persischen Geist-
lichkeit, welche stets durch Acclamation dazu ernannt werden,
verdanken ihre angesehene Stellnitg dem Umstande, daß sie
allein im ganzen Lande dem Volke etwas Schutz gegen die
Beamten gewähren; auch sind sie, im Besitze der Wakufgüter,
unabhängig gestellt und brauchen nicht, um leben zu können,
zu Erpressungen ihre Zuflucht zu nehmen, wie die welt-
lichen Würdenträger. Der Besuch des Scheich im Lager-
sand zur passenden Stunde
statt; denn gerade wurden
mächtige irdene Todtenur-
nen, die eine sorgfältig
neben der anderen einge-
mauert, aufgedeckt, und
Mohammed Taher konnte
die beunruhigten Gewissen
der Leute mit der Erklärung
beschwichtigen, daß niemals
Anhänger des Islam in
solchen Krügen bestattet
worden wären. Auch den
Wächter des Danielgrabes
ermahnte der Scheich, sich
stets den Franzosen gefällig
zu erweisen, und bot ihnen
gleichfalls zum Schlüsse
seine Geldmittel an. Hätte
sich der Scheich nicht so in
jeder Weise entgegenkom-
mend gezeigt, so wäre wohl
auch eine in der folgenden
Nacht eintretende Mond-
finsterniß für die Fremden
noch unangenehmer verlau-
fen, als es ohnedies schon
der Fall war. Am Nach-
mittage hatte es geregnet,
aber gegen Abend hatte es
sich aufgeklärt. Plötzlich er-
hebt sich beim Daniclsgrabe
ein wirres Gemurmel, das
immer lauter und lauter
tvird; der ganze Haufen der
Arbeiter, durch die Pilger-
verstärkt, stürmt auf das
Lager zu; auf den Gesich-
tern der Einen matte sich
Wuth, auf denen der Ande-
ren grenzenlose, abergläu-
bische Furcht; der Blond
hatte begonnen sich zu ver-
finstern. Dieulafoy schlägt
schnell in der „Oonuais-
sance du temps“ nach;
richtig, uul 8 Uhr war der
Mond in den Schattenkegel
eingetreten, um ihn gegen
liy4 Uhr zu verlassen. Er sucht die Wüthenden zu be-
ruhigen, erklärt ihnen, daß das Gestirn sich ganz ver-
dunkeln, aber noch vor Mitternacht reiner und klarer als
zuvor wieder am Himmel stehen werde. „Wehe Euch,
wenn Ihr uns täuscht!" antwortete der Haufen, aber be-
ruhigte sich allmählich; freilich ließ er den Glauben nicht
fahren, daß die Franken ebenso wie den unaufhörlichen
Regen der letzten Zeit, so auch die Mondfinsteruiß verursacht
hätten, um den Eingeborenen zu schaden.
45*
Araberin vom Stamme des Scheich Ali. (Nach einer
Photographie der Expedition.)
35G
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Am 1. April kehrte M. Houssay triumphirend mit ! betrat, kam ihm dieser mit ausgebreiteten Armen entgegen
4000 Kran, zwei Dritteln der verlangten Summe, von , und begrüßte ihn als lieben Freund. Schroff wies ihn
Dizful zurück. Als er dort das Haus des Unterstatthalters > Houssay zurück, verlangte die 6000 Kran und erklärte, daß
Kerim-Chan's Zelt. (Nach einer Photographie der Expedition.)
Löwensries.
er, falls er dieselben Glicht erhielte, sich nach Burudschied arzt)", war die Antwort; „meine Kasse ist leer; die Araber
begeben und sich dort in telegraphische Verbindung mit lassen nicht mit sich reden; aber ich werde ein paar Tomans
Teheran setzen sollte. „Beruhigt Euch, Hakim-baschi (Ober- leihen."
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
357
Und alsbald wurden mehrere Soldaten ausgeschickt, um
das Geld aufzutreiben, Nachdem so der Friede wieder-
hergestellt war, erschienen Theemaschine und Wasserpfeife
und bis Sonnenuntergang wurde geraucht in Gesellschaft
von etwa 20 Kaufleuten, von denen der eine 500, der
andere 300 Kran und so fort beizusteuern den Befehl er-
hielt. Als die erforderliche Summe zusammengebracht war,
übernahm Mirza Abdul-Kaun die Kontrole und confiscirte
zunächst an 100 Kran als Abschlag auf seinen Lohn, den
ihm M. Houssay für später in Aussicht gestellt hatte; dann
erklärte er, er fühle das Bedürfniß nach einem Bade und
werde mehrere Tage in der Stadt verweilen. Houssay
trat also ohne ihn die Rückreise an; bei Anbruch der Nacht
erblickte er schon die weißen Zelte des Lagers und das
Wahrzeichen der Gegend, den „Baum der Ebene", als ihm
ein halbes Dutzend verdächtig ausschauender, arabischer
Reiter entgegenkam, so daß er schon glaubte, Leben und
Geld gegen sie vertheidigen zu müssen. Aber ohne Händel
Der „Baum der Ebene". (Nach einer Photographie der Expedition.)
zu suchen, ritten sie mit dem üblichen Gruße vorüber. Und so
konnte am Abend desselben Tages die Auszahlung der Arbeiter
tvieder stattfinden; so groß aber war das Vertrauen derselben zu
den Franzosen geworden, daß sie ihr Geld in Empfang nah-
men, ohne auch nur den Versuch zu machen, es nachzuzählen.
In Folge des ewigen Wechsels von Regen und Sonnen-
schein, welcher Ileberschwemmungen der Flüsse, Vernichtung
der Saaten und Hauseiustnrze in Dizfnl zur Folge hatte,
sah sich Dieulafoy gezwungen, die wegen ihrer Tiefe Gefahr
drohenden Gräben L auf dem Tumulus Nr. 2 für deu
Augenblick aufzugeben und zwei neue Grüben F und II,
welche die Richtung ans die Senkung inmitten desselben
Tumulus nahmen, anzufangen. Madame Dieulafoy leitete
die Arbeiten gegenüber der Fa^ade des Palastes, um die
dort gefundenen Emailziegel aufzudecken und zu sammeln.
Nachdem dieselben 36 m weit bloßgelegt worden, wurden
die Arbeiter fortgeschickt und nur sechs der intelligentesten
zurückbehalten, um die nun folgende, besonders mühsame
358
Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
Arbeit zu verrichten. Jeder Stein, der zuweilen in 7 oder
8 Stücke zerbrochen war, wurde mit dem Messer losgelöst,
auf guadrirtes Papier abgezeichnet, nebst einer Nummer in
einen Korb gelegt und daun ins Lager geschafft. Die um-
fangreicheren Friese dagegen wurden unter einer Strohhütte
aufgeschichtet. Während der Regentage fand sich dann Zeit
genug, die Ziegel zu reinigen und sie zusammenzustellen:
es ergab sich daraus ein prachtvoller Löwe in flachem Relief
auf türkisblauem Grunde', vorzüglich modellirt, harmonisch,
wenn auch phantastisch in der Färbung, ein Werk einer
Strick eures emaillirten Frieses.
höchst wirkungsvollen und originellen Kunstübung. Das
Fell ist weiß, die Mähne grün, die Barthaare blau und
gelb, der Bauch mit blauen Haaren verziert; die Muskeln
an der Schulter sind durch blaue Massen angedeutet, die
an der Hinterkeule durch eine bohnenförmige blauumränderte
Figur. Flechsen, Klauen u. s. w. sind gelb, blau oder grün.
Ruhig schreitet das Thier einher, mit geöffnetem Maule,
das Zähne und Zunge sehen läßt und mit stolz zurück-
gebogenem Schweife. Manche Theile des Reliefs waren
doppelt, dreifach und vierfach vorhanden, was darauf hin-
deutet, daß der gefundene Löwe zu einer ganzen Reihe,
welche einen Fries bildete und den oberen Theil einer,
vielleicht neben dem Eingangsthore des Palastes befindlichen
Mauer schmückte, gehört hat.
Die Bevölkerung der Azoren.
Von Dr. H. Simroth.
Fnrtado sucht die Leute von S. Miguel mit den Provin-
zialen des Festlandes zu vergleichen und unterscheidet zu
dem Zwecke die letzteren in folgender prägnanten Weise.
Die Minhoten sind arbeitsam, ausdauernd und thätig,
aber ohne ausgeprägten Charakter und ohne höhere geistige
Regsamkeit. Die Leute von Trazos Montes sind lebhaft,
beweglich, robust, die von Beira sind weniger lebhaft, aber
noch robuster, Menschen von herkulischer Gestalt, doch ver-
schlossen, die äußeren Eindrücke spiegeln sich nicht auf dem
Gesicht wieder; arbeitsam, kühne Banditen. Die Bewohner
des Alcmtejo sind lebhaft, beweglich, von sicherem Auf-
treten, munter und mittheilsam. Die Algarbier sind ein
ganz verschiedener Typus, äußerst lebhaft, immer in Be-
wegung und sprechen unaufhörlich; die Leute von Estre-
madura südlich vom Tejo sollen die stupidesten sein.
Die Azoreaner sollen nun am meisten den Minhoten
gleichen, d. h. sie sind wenig geweckte, gleichgültige Bauern,
schwerfällig und von groben Sitten. Letztere sind indeß,
III.
mit denen mancher deutschen Gegenden verglichen, gewiß
sehr cum grano salis zu nehmen, und unser Landsmann
Hartung fällt ein ganz anderes Urtheil, wenn er die Be-
wohnerin eines Hauses schildert, in dem er Aufnahme fand.
„Die Frau dieses Hauses, welche eine Taille von meergrünem
Krepp, ein weißes Kleid und durchbrochene Strümpfe trug,
entließ soeben einen Besuch mit den folgenden verbindlichen
Worten: ,Senhora Annita, Sie wollen schon fort!? Wie
gütig Sie waren, mich zu besuchen! Kommen Sie sa bald
wieder und haben Sie Dank, vielen Dank? Dann bezog
sie das Bett mit frischen Leinentüchern, die mit einem hand-
breiten, spitzenartig gewebten Rande eingefaßt waren. So
bekundet hier auch die ärmste Klasse bei der ihr eigenthüm-
lichen insularen Natürlichkeit ihre Abstammung aus der
Iberischen Halbinsel durch die angeborene und darum un-
gezwungene Art, mit welcher sie die äußeren Formen hand-
habt." Das klingt freilich, als wenn die Grazien an der
Wiege gestanden hätten. Nun, wie man's nimmt; die An-
Dr. H. Sim roth: Die Bevölkerung der Azoren.
359
muth scheint am meisten da zu fehlen, wo sie sich sonst am
natürlichsten zu offenbaren pflegt, beim Tanzen nämlich.
Es giebt zwar eine ganze Reihe von besonderen Tänzen,
aber der eine weicht nur wenig vom anderen ab, und
auf S. Miguel noch weniger, als auf den anderen
Inseln. Soll ein „balho“ vor sich gehen, so treten ein
halbes Dutzend und mehr Paare zu einem Ringe zusammen
und bewegen sich langsam im Kreise, etwa nach Art der
grande chaîne bei der Française, und die Bewegungen
haben nur geringe Abwechselung; alles nach dem Klange
einer Guitarre, deren Spieler selbst mittanzt, und begleitet
von einer einsacken Melodie, welche die Tänzer singen.
Einen besonderen Reiz hat es nur, wenn zwei junge Leute
beiderlei Geschlechtes sich zu einem „Cantar ao desafio“
herausfordern. Dann erhebt sich manchmal ein leiden-
schaftlicher Wechsclgesang, die improvisirten Entgegnungen
folgen Schlag auf Schlag und voller Satire. Meist aller-
dings bleibt cs bei den gewöhnlichen Plattheiten: „Höre
mein Manuel, was ich dir sagen will", beginnt sie. Er
lobt ihre schwarzen Augen, und sie klagt über die Untreue
des Liebhabers, und so geht es die halbe Nacht durch.
Den Mangel an Intelligenz sucht Furtado durch die
einfache Lebenslage, durch die Leichtigkeit, sich den Unter-
halt zu verdienen, zu erklären. Der Boden giebt allezeit
reichlich, was die äußerste Anspruchslosigkeit fordert, und
verweigert er's, daun steht die Auswanderung offen. Frei-
lich fehlt es außerordentlich an Kapital, um eine kleine
Pachtung zu übernehmen, aber bei leidlicher Bewirthschaftung
eines Ackers giebt derselbe 45 bis 50 Proc. Reingewinn,
d. h. nach Abzug der Pachtsumme, der Tagelöhne, des
Düngers und Saatgutes, gewiß ein sehr glückliches Resul-
tat. Das Tagelohn ist mäßig, der Mann verdient etwa
60 Pfennig bis eine Mark, sein Verdienst steigt auf
2,25 Mark in der Ernte; Frauen und große Jungen er-
halten 45 bis 50 Pfennig. Unter solchen Umständen sollte
mau meinen, müßte die Nachfrage nach Land eine sehr
große sein, zumal da dem Aermsten das Schwein, das im
offenen Hofe gehalten wird, unter dem Feigenbäume oder
der Weinlaube, meist die Miethe deckt. Gleichwohl ist, in
Folge der früher besprochenen der Landwirthschaft keines-
wegs günstigen Umstünde, der Preis für Grund und Boden
augenblicklich in stetigem Rückgänge begriffen; und das
erklärt wohl die fortwährend steigende Lust zum Auswandern,
welche noch durch die große Abneigung zum Militärdienst
erhöht wird, trotz der milden Disciplin. Es ist auch
weniger die Strenge, die der Insulaner fürchtet, als die
Entfernung von der Heimath und noch mehr die Berau-
bung der Hoffnung, sich in jungen Tagen so viel zu er-
werben, um im Alter eine leidlich sorgenfreie Existenz zu
haben. Denn wenn der Azoreaner auswandert, so ist's
doch stets in der Absicht, den Lebensabend in der Heimath
zu beschließen, gewiß ein gutes Zeichen von Anhänglichkeit,
wenn auch sonst der Patriotismus selbst in den besseren
Ständen sehr wenig entwickelt sein soll. Der Strom der
Auswanderung theilt sich meist in dreifacher Richtung, je
nach den Inseln. S. Miguel, Santa Maria und Terceira
senden ihre Kinder nach Brasilien; Fayal, S. Jorge und
Flores nach den Vereinigten Staaten; dazu kommen neuer-
dings die Sandwichinseln, die 1884 9000 Portugiesen
hatten, gegen 436 im Jahre 1879, und diese fast alle von
Madeira und den Azoren. Diese Leute bethätigen ihre
Anhänglichkeit unausgesetzt durch reichliche Sendungen ihrer
Ersparnisse, und Fayal soll in manchen Jahren 400 000
und selbst eine Million Mark von den Seinen in der
Fremde erhalten, eine wahre Quelle wirthschaftlichen Auf-
schwunges für die armen Eilande. Noch bedeutender sind
natürlich die Summen, welche die zurückkehrenden Rentiers
heimbringen, wie sie ebenso zur socialen Umwälzung gewiß
viel beitragen und in Zukunft noch viel mehr beitragen
werden. Man braucht nur die Zahlen reden zu lassen.
Sie stellen sich für S. Miguel folgendermaßen:
Jahre Anzahl der Auswanderer
1872 bis 1874 . 2 460
1875 „ 1877 . 2 232
1878 „ 1880 . 3 834
1881 „ 1882 i . . . . . 6 974
Das giebt in 11 Jahren 15 473 Emigranten,
ein sehr hoher Bruchtheil bei ca. 120 000 Einwohnern.
Der Einfluß, den die Heimkehrenden ausüben, ist sehr ver-
schieden, ja fast entgegengesetzt, je nach dem Laude, in dem
sie ihr Vermögen erwarben. Der „Americano" ist ein
Mann von gekrästigter Gestalt und sympathischem Charakter.
Er ist äußerst fleißig, sein bescheidenes Kapital widmet er
den ehrbaren Geschäften der Industrie und des Handels.
Er hat Verständniß für das Wort „Familie", erzieht seine
Kinder, ist sauber, intelligent und äußerst liberal. Sein
Haus ist elegant, gebadet in Luft und Licht; es besitzt jene
solide aber sparsame Ansstattung, die den amerikanischen
Wohnungen eigen ist. Darin haust die Familie, deren
Glieder einander lieben und thätig sind. Der „Amerjcano"
auf den Azoren ist Patriot. Er ist stolz darauf, in den
Vereinigten Staaten gelebt zu haben, und hegt die Hoff-
nung, daß diese guten und edlen Inseln einst ebenso frei
sein werden, als die große Republik.
Beinahe das Gegentheil davon ist der „Brazileiro".
Sein Charakter erhellt vielleicht noch besser als aus der
Parallelschilderung ans einem Gedicht, das Furtado mit-
theilt, und das, von einem Bauern auf S. Miguel verfaßt,
zugleich ein gutes Beispiel liefert für die ländliche Poesie.
Die Ballade, eine wortgetreue ausführliche Erzählung eines
Vorganges in nicht weniger als 90 Strophen, ist von der-
selben epischen Breite, wie sie unseren Volksdichtungen an-
haftet. Ich gebe kurz den Inhalt und die Ilebersetzung
einiger besonders bezeichnenden Episoden.
Die Geschichte des Jacintho Pedro.
Ein Mensch, der weit gereist
Und manches Werk gethan,
Um wenig mehr als nichts
Mußt' hier sein Leben lan.
Viel Geld gewann er drüben
In jenem fernen Land.
Was er erwarb, nicht spart' er,
Streut' aus mit voller Hand.
Die Zither ließ er klingen
Zu Tänzen und Gelagen,
Die Frauen und die Mädchen,
All' mochten ihm behagen.
Doch das war das Geringste,
Nicht war's der größte Fehler,
Von Allem, was er that,
War er durchaus kein Hehler.
Desgleichen ließ er niemals
Sich eine Müh' verdrießen,
Damit die Eheweiber
Den Mann im Stiche ließen.
So hatt' er eines Tages
Wieder derlei Skandal,
Der Grund war's, ihm zu nehmen
Das Leben mit einem Mal.
Peter Hyacinth der Arme,
Er wohnte in Ribeerchen, lDiminutivum von
Sein Weib beivacht' er grillig sRibeira)
Als wie iin Kraut das Störchen. (0 melro na
[couvinha, die Amsel im Köhlchen.)
Eines Tages erklärt er ihr, daß er in Povoaxno Ge-
schäfte hat, und geht fort. Die Frau sieht zum Fenster
hinaus und ruft den Brazileiro. Es entspinnt sich ein
Dr. H. Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
360
Zwiegespräch, weil dieser vorm Gatten Angst hat. Als er
endlich eingetreten ist, klopft's heftig an die Thür, und der
Mann erscheint.
O Männchen meines Herzens,
Vor Schreck ich sterbe schier,
Besorgend, dos; du krank bist,
Weil du so schlägst die Thür.
Vorsichtig draus der Mann,
Der das Subjekt erkennt:
Laß sein, du Hundedieb,
Ich weiß schon, wo es brennt.
Er sieht den Hut, braust auf, läuft in die Kammer, findet
den Fremden im Bett und stellt ihn zur Rede. Dieser
flieht, und cs gelingt dem Verfolger nicht, ihn am Bein zu
halten. Familienberathung. Die Frau ist zerknirscht.
Sie beschließen, den Brazileiro binnen acht Tagen zu todten.
Sie versetzen ihm, als er unbewaffnet daher kommt, zwei
Stiche in die Brust. Er läuft noch hundert Schritte.
Schon war die Nacht gekonimen,
Er fühlte Sterbensnoth,
Haucht' aus den letzten Seufzer,
Halb neun Uhr war er todt.
Bevor die Glocke tönte,
Erfuhr es das Gericht,
Sogleich ging eine Patrouille,
Zu fahn den Bösewicht.
Zu mitternächt'ger Stunde,
Ging eine Eskorte zu Fuß,
Sie hatte den Thäter gesunden,
Beim ersten Morgengruß.
Sie umstellen das Haus, er betheuert seine Unschuld, wird
aber vor das Tribunal gebracht.
Der Richter sah den Mann an,
Aus der Brust sein Blick gleich ruht.
Sag' an, Senhor Jacintho,
Woher stammt dieses Blut?
Der Mann begann zu zittern,
Doch fehlt die Antwort nicht:
Als ich mich heut' rasirte,
Schnitt ich mich im Gesicht.
Was hast du dort am Arme?
Schnittst du anr Arm dich gar?
Ich ritzte mich am Holze,
Als ich im Stalle war.
Das Verhör geht ausführlich weiter. Der Todte wird
begraben. Ein Freund, der sehr um ihn trauert, wird
arretirt, weil er zur Leiche geeilt war und dort betroffen
ward. Große Trauer um den unschuldigen Mann. Man
erwartet mit Ungeduld den Tag des Urtheils. Jacintho
gesteht, daß er's allein war. Es wird bezweifelt.
Ja Herr, ich war's alleine,
Das Herz gab mir den Rath,
Die Leidenschaft, die half mir,
Und so vollbracht' ich die That.
Das Weib, um sich weiß zu brennen, erhebt laute Klage
um den geliebten Brazileiro. Es kommt der Tag des
Urtheils, Nochmals soll der Mörder seine Complicen
nennen, er erklärt poetisch: es waren drei:
Der Todte war der eine,
Der nun der Sünden frei,
Die andern ich und der Teufel,
Die Schuld, die tragen wir zwei.
Und nach einer weiteren Erörterung über den Teufel folgt
die Sentenz.
So höre deine Strafe,
Der Teufel mach' es schlimmer.
Die Freiheit hast du nie mehr,
Du bist verbannt für immer.
Weil du nicht voll gestandest,
Ist dir dies Maß gegeben:
Die Freiheit hast du nie mehr,
Als Gott dir schenkt das Leben.
So höre sie noch einmal,
Es ist für Recht erkannt,
Das ist Eu'r Gnaden Strafe,
Fürs ganze Leben verbannt. —
Bekanntlich ist der Ersatz für die Todesstrafe in Por-
tugal nicht übermäßig schlimm, um so böser allerdings für
die afrikanischen Besitzungen. Die Degradados werden
meist nach Angola deportirt, wo sie ein ziemlich freies
Leben führen und sich auch leicht und schnell zu Beamten
und Händlern emporschwingen können.
Das Bild aber, was wir vom Brazileiro durch jenes Ge-
dicht erhalten, ist gewiß ebenso uuvortheilhaft, als die Anfor-
derungen, die der Insulaner an die Sittlichkeit stellt, niedrig
bleiben. Zunächst berührt cs den Fremden äußerst angenehm,
die Wände durchweg frei zu finden von jenen primitiven Kunst-
leistungen, die sich bei uns nur zu häufig breit machen, und
man ist geneigt, die günstigsten Schlüsse daraus zu ziehen.
So erfreulich es ist, wenn die Gemeinheit dem Auge sich
nicht aufdrängt, so oberflächlich würde cs sein, dafür eine
tiefere Ursache zu suchen. Vielmehr erwähnt Furtado aus-
drücklich das rohe Zusammenleben der Verlobten in manchen
Dörfern; Concubinat ist unter der ländlichen Bevölkerung
häufig, so wie es leider sicher ist, daß der Brazileiro auch
in den besseren Ständen nicht immer abgewiesen würde.
Jedenfalls gehört eine Geschichte, wie sie sich 1444 in der
maurischen Niederlassung zu Povoapllo zutrug, wo der
Richter bei Ergreifung eines Ehebrechers ausrief: „Hängt
ihn, hängt ihn, und dann macht ihm den Proceß!" nur der
grauen Vergangenheit an. Die Verlobung ist lediglich
Verstandessache, leidenschaftliche Zuneigung kommt selten ins
Spiel. Gleichwohl ist hinterher das Familienleben kein
schlechtes, die Kinder sind den Eltern gehorsam, und die
erwachsenen Söhne liefern, so lange sie zu Hause sind,
getreulich ihr Wochenlohn ab.
Die sonnabendlichen Gelage, „Charambas", wie sie im
Gedichte vorkommen, waren früher auf S. Miguel mehr
im Schwünge, namentlich in einigen Ortschaften auf der
Nordseite der Insel, und Messeraffairen pflegten sie zu
schließen, tödtlicher Ausgang war nicht selten, ein eigen-
thümlicher Gegensatz gegen das friedliche Phlegma, das ge-
wöhnlich zur Schau getragen wird. Die Zeiten aber, wo
man nur bewaffnet den Landhäusern sich nähern durfte,
scheinen längst überall verschwunden zu sein, namentlich
gehört auch Rachsucht und Nachträglichkeit nicht zu den
Charaktereigenschaften der Azoreaner.
Ueber die Hütte, in der das Leben sich abspielt, ist früher
berichtet worden. Hinzugefügt könnte werden, daß der ein-
fache Steinbau meist außen und innen stallähnlich ungetüncht
bleibt. Eine Lade, ein Tisch, eine Bettstelle und zwei
Stühle bilden das übliche Mobiliar. Läden verschließen
die Fensteröffnungen, wie in den Städten das grüne Gitter.
Cook, der 1775 sich einige Tage in Horta aufhielt, bemerkt
expreß: Es giebt keine Glasfenster im Orte, außer in den
Kirchen und in einem Landhause, das früher dem englischen
Konsul gehörte, alle übrigen sind vergittert, was sie einem
Engländer wie Gefängnisse erscheinen läßt. Daß sie bis
in die neueste Zeit ein Gefängniß waren für die Frauen,
beweist u. a. die Geschichte von Peter Hyacinth. Statt ans
Thor zu klopfen, klatscht man allgemein laut in die Hände,
bis man eingelassen wird. Uebrigens sind die Hütten trotz
der einfachen Bauart in manchen Dörfern charakteristisch
abweichend, am Ostende von S. Miguel kommen noch
Lehmbauten vor, hier und da werden die Häuser durch
corridorartige Gange verbunden. Das Gefängnißartige
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
361
(bei einem einzigen Fenster) steigert sich, wenn in gewissen
Ortschaften die niedrige Thür stets aus der Rückseite an-
gebracht ist. Wahrscheinlich liegen hier überall noch un-
vermischte Traditionen der alten Kolonisten vor.
Mit dem einfachen Hausrathe contrastirt die gute
Wäsche, die zierliche Bettdecke, der gestickte Besatz an Hemd
und Rock (man sehe das Mädchen, das in der vorigen
Nummer abgebildet ist). Ueberhaupt sind Frauen und
Mädchen in weiblichen Handarbeiten, Sticken, Spitzen-
bereitcn u. a. äußerst geschickt. Die Stroharbeiten von
Fayal nannte ich schon, feine Federbonqnets waren früher
eine Specialität der Nonnen. Die Wäsche wird mit
möglichst duftigen Blumen und Kräutern parfümirt, wie
denn Blumen von lebhafter Farbe und starkem Dust äußerst
beliebt sind, vor allem die Hortensie und die Rose von
Alexandria. Letztere, wohl eine einfachere Rosensorte (ich
sah sie nicht mehr blühen), ist der erklärte Liebling, der in
der Poesie häufig wiederkehrt.
As vossas magäs do rotos
Como a rosa-Alexandria,
de noute däo tanta luz
Como o proprio claro dia.
A rosa, para ser rosa,
lia de ser alexandrada;
a moga, p’ra ser formosa,
lia de ser alva e rosada.
(Die Aepfel deiner Wangen, wie die Rose von Alexandria,
geben Nachts so viel Licht wie der helle klare Tag. Die
Rose, um Rose zu sein, muß sein von Alexandrien, das
Mädchen, um schön zu sein, muß sein wie Morgenroth und
Rose.)
Wie lebhafte Gerüche, so sind auch scharfe Gewürze
beliebt, der spanische Pfeffer (Capsicum) darf nicht fehlen,
so wenig wie Safflor (Carthamus tinctorius), um die
Speisen zu färben. Die gewöhnliche Azorcnkückpe hält sich
vom Oele der Iberischen Halbinsel rein, dafür ist sie auch
frugal genug. Das Maisbrot ist die Grundlage, und zu
so viel Salzfisch, als er mit dem Nagel abkneift, ißt der
Bauer einen Bissen Brot, so groß er nur in den Mund
geht. Wie wir mit unserem „Salz und Brot macht Wangen
roth", so tröstet er sich mit dem Sprichwort: „Tndo com
psio faz o Kornern sao“ (Alles mit Brot znm Mund macht
den Mann gesund). Früh beim Aufstehen wird eine Brühe
gekocht, um das Brot einzuweichen, aus Zwiebeln, Knob-
lauch, Essig und Schmalz, mit etwas Safflor. Um 8 Uhr
wird auf dem Felde etwas Salzsisch und Brot genossen,
ebenso zu Mittag, und Abends nach der Heimkehr folgt die
Hauptmahlzeit, Brot und Kohl, der mit Speck, Salz und
spanischem Pfeffer gekocht ist. Ein kräftiger Mann ißt
wohl täglich so viel Brot, als sich aus 2 kg Maismehl
herstellen läßt. Thee, das Nationalgetränk, kommt doch
nicht an den armen Insulaner; ja man sagt von einem
unverbesserlichen Grobian sprichwörtlich: Er hat in seiner
Jugend keinen Thee getrunken. Uebrigens haben auch hier
die Standesunterschiede längst ihre Schärfe verloren, und
zum mindesten trifft man manchen Träger eines hochadligen
Titels und Namens im Comptoir beschäftigt.
Ans und über Z st r i e n.
Von Dr. Karl Lechner in Kremsier.
III. (Schluß.)
Auch die Schiffahrt scheint uns nicht auf jener Stufe
zu stehen, die sie einnehmen könnte. Zum Theil mag der
Grund hiervon wohl in dem Mangel an genügendem Betriebs-
kapital liegen. In der nachstehenden Uebersicht ist der Stand
der Schiffe und ber Tonnengehalt Ende 1883 zu ersehen:
Segler Tonnengehalt
Langer Fahrt.... 123 61 184
Großer Küstenfahrt 15 1 757
Kleiner „ 509 8 929
Fischerbarken .... 593 1 640
Summa... 1300 73 510
Von den großen Segelschiffen entfallen allein auf
Lnssinpiccolo 82 mit 43 700 Tonnen, also mehr als75Proc.
des Gesammtgchaltes. Istrien besaß damals nur zwei
kleine Küstendampfer von 89 Tonnen für den Lokalverkehr.
Von Industrie kann kaum die Rede sein, wenn wir
von dem Seearsenal zn Pola absehen. In Pirano befindet
sich eine Pottasche-, Seifen- und Sodafabrik, in Rovigno
eine Glasfabrik und eine Dampfmühle; eine solche ließ ein
in Triest reich gewordener Einwohner aus Pimino in
seinem Heimathorte zn Gunsten der Gemeinde errichten,
doch steht sie den größten Theil des Jahres nicht im Be-
triebe, weil sie nichts zu mahlen hat. Rovigno hat auch
eine k. k. Tabakfabrik mit gegen 800 Arbeitern, die einzige
ini Küstcnlande; doch vermag sie den Bedarf lange nicht
zur Hälfte zu decken, weshalb uns der Vorschlag, eine zweite
in Pola zu errichten, ganz plausibel erscheint. Die Errichtung
einer größeren Baumwollspinnerei und -Weberei erschien
uns um so leichter durchführbar, als das Rohmaterial leicht
zur See bezogen werden könnte.
Globus UI. Nr. 23.
Für den Verkehr zn Lande sorgt die schon erwähnte
Eisenbahn, von der bei Canfanaro ein Zweig nach Rovigno
geht, während andererseits die Linie von Hcrpelje nach
Triest sich anschließt. Mittelpunkt des Netzes der fast
durchweg guten Landstraßen ist Pisino, das ziemlich genau
in der Mitte der Halbinsel liegt. Von hier führt ein Zweig
über Dignano nach Pola, ein anderer über den Sattel am
Monte Maggiore nach Castua und Fiume, ein dritter nach
Fianona und längs der Küste nach Volosca, ein vierter
über Montona nach Capodistria und Triest. Im Thale
des Quieto ist diese Straße zur Regenzeit freilich miserabel.
Im November 1883 z. B. passirte ich die kaum 2 km
lange Strecke nach vieler Mühe in zwei Stunden, da ich
fast bis zu den Knien im Schlamme einsank. An einen
Verkehr zn Wagen ist zn solcher Zeit gar nicht zu denken
und die Leute tragen daher Holz auf dem Rücken mühsam
in die Stadt. Bezüglich der Bevölkerung und deren
Bewegung verweisen wir den Leser auf nachstehende Tabelle:
1857 1869 1880
Politischer Bezirk Capodistria . - . 57 442 62 149 69 997
„ „ Parenzo 36 236 39 460 44 193
„ „ Pola 34 467 43 545 60 240
„ „ Pisino 33 968 36 569 39 964
„ „ Volosca 35 708 37 265 39 690
„ „ Lnssin 32 507 35 917 37 922
Summa.... 230 328 254 905 292 006
Die Zunahme der Volkszahl ist also eine ganz normale;
nur im politischen Bezirke Pola macht sich wegen des großen
Aufschwunges dieses bedeutendsten Kriegshafens derMonar-
46
362
Dr. Karl L echner: Aus und über Istrien.
chie eine unverhältnißmäßige Zunahme bemerkbar. Dieselbe
erfolgte zum großen Theil auf Kosten benachbarter Städte
und Flecken, besonders der Städte Rovigno und Montona.
Erstere zählte 1851 schon 10 209 Einwohner, 1869 nur
noch 9564, 1880 gar nur 9522 Bewohner. Montona
zählte 18Ö9: 1267,' 1880: 1336, aber 1886 schon 1464
Seelen. Promontore hatte 1869 noch 846 Einwohner,
1880 jedoch nur noch 538, Sissano 577 resp. 446.
Nach der Beschäftigung vertheilte sich die Bevölkerung
des Landes zufolge der Zählung von 1880 wie folgt:
Producirende Bevölkerung.
Ackerbau.............................. 98 884
Handwerker und Industriearbeiter ... 13 279
Handel................................. 1975
Berkehr............................... 3 301
Fischerei............................. 1 390
Konsumirende Bevölkerung.
Familienglieder ohne Beschäftigung
(Kinder, Greise rc.)..............151 128
Dienende Personen..................... 4 332
Summa . . , 274 089 ein-
heimische Bewohner.
Wenn wir auf die Nationalität Rücksicht nehmen
wollen, ist es unerläßlich, einen kurzen Einblick in die Ge-
schichte des Landes zu thun, denn heute liegen die Berhält-
nisse vielfach anders wie ehedem. Man nimmt gewöhnlich
an, daß die älteste Bevölkerung thrakischer Herkunft war,
wofür auch die alten Geographen und der Name Istrien
zu sprechen scheinen. Später saßen die Kelten im Lande,
die auch von den Römern unterworfen wurden, welche
Pietas Julia, das heutige Pola, zur Hauptstadt erhoben.
Zu ihrer Zeit war Istrien ein reich gesegnetes Land, das
noch Cassiodorus, der Minister des Ostgothcnkönigs Theodo-
rich, wegen seiner Fruchtbarkeit rühmend erwähnt. An die
Stelle der Römer waren die Gothen getreten, diese wurden
von den Langobarden abgelöst und nach der Unterwerfung
Italiens durch Karl den Großen gehörte auch Istrien zu
dessen Weltreiche.
Seit 791 stand Istrien unter dem Markgrafen Heinrich von
Friaul, der 799 im Walde oberhalb Lovrana von den Slaven
int Kampfe erschlagen wurde. Sein Nachfolger Johann nahm
im östlichen Istrien zuerst Slaven auf, was ihm die Edcln
des Landes in dein Placitum votn Jahre 804, das von den
Sendboten Karl's des Großen im Thäte von Risano im
Gebiete von Capodistria abgehalten wurde, zum schweren
Vorwurf machte». Bon diesem Zeitpunkte ab gewinnt die
slavische Siedelung im Osten und Südosten Istriens mehr
und mehr an Boden. 1199 treffen wir als Herrn von
Barbana einen Pribislaus, in Galignana einen Znpan
Drasic und 1243 finden wir in der Stadt Pola schon
Bürger slavischer Herkunft. Der ganze Westen kam in die
Gewalt der Bcnetiauer, zuletzt (1331) auch Pola, während
das Innere, die spätere Grafschaft Mitterburg-Pisino, den
Markgrafen von Istrien untcrthünig war, unter denen wir
Wittelsbacher, Eppensteiner und Andechser treffen, die nicht
selten in einem Abhängigkeitsvcrhältuiß znm Patriarchen
von Agnilcja standen. Schließlich kam Mittelistrien an
die Grafen von Görz und Tyrol und dann durch Erbverträge
an das Hans Habsburg; um den Besitz desselben hatte
letzteres int Laufe der Zeit vielfache und heftige Kämpfe
mit den Benetiancrn zu bestehen. Während des ganzen
Mittelalters und zum Theil noch in der Neuzeit saßen auf
den Schlössern Jnneristriens deutsche Grundherren, und
langobardisch-deutsche Personennamen begegnen uns noch
int 13. und 14. Jahrhundert. So treffen wir bei-
spielshalber 1243 unter den Bürgern von Pola einen
Almerich, Sigemar, Regenolt, Manfred, Engelprecht,
Grimolf, Almenger rc., und nicht selten stoßen wir auf die
Bezeichnung, daß einer „nations sua“ nach langobardischem
Rechte leben wolle. Es mag wohl nicht ganz ohne Interesse
sein, einige Ortsnamen Istriens hierherzusetzen in der Form,
wie sich der Deutsche dieselben mundgerecht gemacht hatte
und wie sie noch nach 1500 häufig in Urkunden vorkommen,
weil diese Namensformcn unserem Sprachschatze schon ab-
handen gekommen sind. Pedena nannte der Deutsche Pibcn,
Capodistria. früher Capris, hingegen Gafers; für Raspo
kommt durchwegs Raspurch vor, für Corridico Khring, für
Muggia Mugls; Piemonte wird zu Pymuudt, Gherdofelo
zu Gardassl, Bcprinaz heißt bei den Deutschen jener Zeit
Eberstein, Castua wohl mit Anklang an das rumänische
! Wort Castell nur Kestau. Wer sich die Mühe nimmt, daö
Urkundenbuch von Istrien zn durchblättern, wird diese Bei-
spiele leicht verdreifachen können. Auch deutsche Familien-
namen fehlen im Lande nicht, wenngleich ihre Träger, falls
sie dortselbst geboren sind, nur ganz vereinzelte Deutsche
genannt werden können. Manche Namen stammen wohl
von österreichischen Beamten, andere hingegen sind alt. Es
sei gestattet, einige anzuführen.
Schlechter, das echt schwäbische P eschle (vonSebastian),
den italienisch aufgeputzten Namen Gottardis (Sohn des
Gothard), den aus deutschem Pfleger entstandenen Flcgar,
Niederkorn. Ja wir finden sogar einen Namen Godesberg,
dessen-Träger wohl einst an den rebentragenden Hügeln
des Rheines saßen, und in den Ruinen des verfallenen
Schlosses von Racizze hausen kroatisirte Bauern Namens
Walderstein, deren Ahnen als Ne ichs grasen seit dem
15. Jahrhundert dort mit Macht geboten. Unter den Burg-
herren des ausgehenden Mittelalters finden toiv die Grafen
Herberstein, die Räuber, Dürer, Krothendorfer rc. Der
berühmteste Geschichtsforscher des Landes, Peter Kandier,
trägt gleichfalls einen deutschen Namen, wenn er auch Italiener
vom reinsten Schlage war.
Im Lause der Zeit wanderten in das östliche Bergland
die sogenannten Tschitschen ein, ein Hirtenvolk, das dem
Leben und Eigenthum nicht selten gefährlich wurde. So weit
ich sehe, finde ich den ersten als Rebellen im Jahre 1328
in Albona genannt und 1329 einen pasculus Chichio in
Pinguente. Ueber ihre Herkunft ist viel gestritten worden,
doch steht so viel fest, daß sie Slaven sind, obwohl seiner Zeit
ein großer Theil derselben ein rumänisches Idiom sprach
und theilweise dies heute noch der Fall sein soll. In dem
Gebiete zwischen dem Quinto und der Arsa sind von den
Benetiancrn wegen Mangel an Kolonisten in Folge der
Kriege und Pestilenzen, die Istrien oft und stark verheerten,
Uskoken und Morlachen aus Dalmatien, Kroatien, Albanien rc.
angesiedelt worden, was seit etwa 1500 häufiger wurde.
So wurden 1525 Morlachen in dem Gebiete von Rovigno,
Parenzo und wohl auch Montona angesiedelt. 1570 gründeten
sie Sbandati im Gebiete von Parenzo, 1540 kamen 70
Familien aus Nauplia in Griechenland und von den Türken
vertriebene Malvasioten im Gebiete von Pola an, wohin
1562 auch 124 Familien aus dem Territorium von Bologna
übersiedelten. 1581 zählte man im Gebiete von Parenzo
100, von Eittanova 320, von Umago 120 Familien von
Morlachen. Ungefähr aus dieser Zeit stammt auch die
sogenannte griechische, besser montenegrinische Kolonie in
Peroi, die jedoch 1657 neu besiedelt wurde und sich bis auf
den heutigen Tag rein erhalten hat. Bon dieser Zeit an
findet sich'nur selten ein Bericht der venetianischen Prov-
veditorcn, der nichts von neuen Kolonisten zu erzählen wüßte.
Auf diese Weise ist Istrien national so gemischt worden,
wie nur irgend eine Provinz unseres vielsprachigen Staates.
Heute haben wir, da Deutsche fast nur in Pola wohnen,
wenn von einzelnen Beamtenfamilien abgesehen wird, nur
Italiener und Slaven, wobei bemerkt sein mag, daß der
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
365
Familienname keineswegs für die nationale Zugehörigkeit
in Betracht gezogen werden kann. Die ersteren wohnen in
den Küstenstädten und zum Theil in den zugehörigen Land-
strichen, bilden aber auch die Träger der Kultur in den
Landstädtchcn und Flecken im Inneren als Kaufleute, Wirthe,
Gutsbesitzer rc. Die Slaven gliedern sich in Slovenen
und Serbokroaten. Zu den ersteren zählen die Berchinen
(von vrh — Bergspitze); sie bewohnen den nordöstlichsten Theil
des Landes; weiter die Savrinen zwischen der Hauptkette
des Karstes und herein bis zum Flüßchen Dragogna, also
im Gebiete von Triest, Capodistria und Pirano; sie gelten
als die rührigsten und tüchtigsten Ackerbauer. Im Gebiete
von Pinguente finden wir einen Uebergang zwischen Slovenen
und Kroaten in dem Stamme der Fuoki. Zwischen Dra-
gogna und Quieto sitzen Mischlinge von Kroaten, Serben,
Albanesen und Italienern. Die Slaven im Arsathal
stammen ans Dalmatien. Zwischen ihnen und den in der
Tschitschcrei ansässigen Tschitschen stoßen wir auf die sog.
Liburner. Savrincr, Fuvken und die Kroaten um Pisino
heißen wohl auch mit einem Sammelnamen Bestachen oder
Stammler, wohl deshalb, weil ihr Dialekt nicht rein kroatisch
oder slovenisch ist. Auf den Inseln wohnen durchweg
Serbokroaten außer in den Städten, wo ein guter Bruch-
theil Italiener vorhanden ist. Im Gebiete von Pola,
Rovigno, Diguano Hausen die serbischen Morlachen, hin
und wieder mit slavisirten Albanesen gemischt. Nordwcst-
wärts vom Ccpicsee leben noch an 1600 Rumunen, die
jedoch ihren dem Rumänischen ähnlichen Dialekt nur unter
sich gebrauchen *). Da es in Oesterreich bis zur Zählung
vom Jahre 1880 keine Nationalitütsstatistik gab, läßt sich
eine vergleichende Uebersicht über frühere Perioden leider
nicht vorführen. Aber auch die Resultate dieser Zählung
haben nur einen sehr relativen Werth, denn wer da weiß,
wie cs bei ihr und bei den Gemeindewahlen zugeht, kann
unmöglich diesen Resultaten großes Vertrauen entgegen-
bringen. Die Kolonen und abhängigen Leute haben eben
unter allen Umständen die Nationalität ihrer Herren und
diese sind vorwiegend Italiener. Nach meiner im Lande
gewonnenen Erfahrung dürfte daher die wirkliche Zahl der
Italiener geringer sein, als wie sie die nachstehende Tabelle
nach der Zählung vom 31. December 1880 beziffert. Und
Kandler hat sich entschieden einer gewaltigen Täuschung
hingegeben, wenn er seiner Zeit behauptete, daß man nach
50 Jahren nur noch ans den Kanzeln in der Kirche die
slavische Sprache hören werde. Denn wie die Dinge heute
liegen, ist Istrien eher in 50 Jahren ein rein slavisches
Land. Schon heute wird seitens der Italiener vielfach
bereut, daß man den Forestieri, will sagen den Deutschen,
nicht selten schroff und feindlich gegenübertrat.
Italiener Slovenen Serbokroaten Deutsche
114 281 (mit Ein- schluß der Rnmnnen) 42 804 121 607 4780
i» Procenten
40,3 I 15,1 I 42,8 I 1,7
Die meisten Italiener wohnen in den politischen Bezirken
Parcnzo, Capodistria und Pola, die meisten Slovenen in
dem von Capodistria, die Serbokroaten sind am stärksten
vertreten in jenen von Pisino, Volosca und Lussin, Deutsche
sind in Pola am zahlreichsten. In der Umgebung hier und
im Gebiete von Rovigno wird ein eigenthümlicher italienischer
Dialekt mit alten Sprachformen gesprochen, was sich wohl
i) Ueber sie vergleiche man meinen Artikel in Peter-
mann ’ § Muth., 1883, S. 294.
daraus erklärt, daß diese Landschaft am intensivsten von den
Römern kolonisirt worden war. Die physische Beschaffen-
heit der Italiener ist zu bekannt, als daß wir sic hier wieder-
geben sollten, bei den Slaven jedoch können wir dieselbe nicht
übergehen. Der Tschitsche ist groß, kräftig gebaut und
außerordentlich gewandt, von lebhaftem, leicht erregbarem
Sinne. Auf seiner Hochebene fühlt er sich frei und un-
gebunden und daher auch der Widerwille gegen ihm unnütz
scheinende Gesetze und deren Ausführung. So wissen
wir z. B., daß vor nicht allzu vielen Jahren ein k. k. Be-
zirksarzt in der Ausübung seiner Pflicht mit dem Hinab-
werfen über die Felswände bedroht wurde, als er in einem
Dorfe syphilitische Kranke in das Spital zu Triest schicken
zu müssen erklärte. Nebenbei bemerkt, ist diese Seuche bei
ihnen außerordentlich verbreitet. Heimtückisch, wie mau
nicht selten hört, darf man den Tschitschen kaum nennen.
Die Berchinen sind kleiner und minder kräftig gebaut. Zum
Theil gilt dies auch von den Bestachen, unter denen man
aber auch nicht selten wahre Kraftmenschen findet. Die
Morlachen sind weniger stark, nicht selten träge und nur
die Noth treibt sie zu angestrengter Arbeit. Im Rovcria-
distrikte (das Gebiet von Diguano, S. Vincente, Canfanaro
und Valle) waren sie ehedem als Räuber in argem Verrüfe
und manche Schauermähr läuft darüber noch heute im
Volke um. Zur Zeit der Franzosenherrschaft sollen viele
dieser Räuber aufgeknüpft worden sein, ja die Stellen, wo
dies geschehen, kann der Fremde noch leicht erfahren. Von
Zeit zn Zeit giebt cs auch jetzt noch ganz artige Räuber-
stückchen. Bei Jahrmärkten und ähnlichen Gelegenheiten
sind blutige Raufereien in ganz Istrien nicht selten. Eine
beliebte, aber furchtbare Waffe bildet hierbei eine Art Reb-
messer von solcher Größe, daß es der Landmann gewöhnlich
zur Bereitung seines Kleinholzes benutzt. Er trägt dies
für seine Feld- und Waldarbeit unentbehrliche Geräth an
einem starken Haken rückwärts am Ledergürtel oder am
Beinkleide.
Auf die Tracht können wir hier nur in Kürze eingehen,
denn dieselbe genau darzustellen, würde für sich allein einen
großen Raum beanspruchen. Im Allgemeinen scheint die-
selbe ebenso von der Nationalität, wie von der Beschäftigung
abhängig zu sein. Die Slaven um Pinguente tragen eine
weiße Mütze von konischer Form aus Filz, .aber ohne irgend
welche Krempe oder einen Schirm; sie ist groß im Gebiete
von Diguano, äußerst klein bei den Savrinen und Bestachen,
bei welchen sie durchwegs von schwarzem Filze und so klein
ist, daß sie nur mit Noth am Kopfe kleben bleibt. Die
Fischer tragen mehr oder weniger die Tracht ihrer Genossen
im benachbarten Italien. Die Slaven Jnneristricns ölen
die Haare sehr stark ein, so daß sie wegen des ranzigen
Oeles nicht selten einen widerlichen Geruch verbreiten.
Mitunter findet man noch Männer, welche ihr Haar vorn
kurz geschoren haben und dasselbe in zwei langen Locken oder-
gar geflochtenen Zöpfen über den Rücken hängen lassen.
Charakteristisch ist auch, daß sie im rechten Ohre einen
großen massiven Ohrring tragen, während das linke ohne
solche Zier belassen wird. Das selbst gewirkte Hemd hat
einen engen reich durchnähten Stehkragen, Halsbinden sind
meist unbekannt. Der Tschitsche trägt Winter und Sommer-
seine weißwollenen Beinkleider, die au den Waden mit
Haken eng zusammengeschlossen werden, andere wieder-
tragen nur eine wollene oder leinene Kniehose und lauge
Strümpfe. In Westistricn hat der Ackerbauer gewöhnlich
hohe Stiefel, zum Theil wohl zum Schutze gegen die Sand-
viper, in Jnneristrien entweder Opanken, wie dies bei den
Morlachen der Fall ist, oder ganz niedere Lederschuhe.
Trägt er ein langes enges Beinkleid, dann hat er auch ganz
kurze Strümpfe oder eigentlich Fußsocken, die an derJnnen-
46*
364
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien.
seile des Fußes mit Messiugschlicßen zusammengehalten
werden und in der Farbe ihrer Einfassung dem Landes-
kundigen einen Anhaltspunkt bieten, woher der Träger
solcher Fußbekleidung stamme. Weste und Joppe sind
gewöhnlich ans braunem Loden, letztere entweder annähernd
im Schnitte der Aelpler oder aber so, daß über die kurze
Jacke ein langer ärmelloser Nock aus gleichem Stoffe ange-
zogen wird. Die Aufschläge sind bald roth, bald blau. Im
Allgemeinen ist die Kleidung der Landbevölkerung Winter
und Sommer, Werktage und Feiertage ein und dieselbe.
geringste Frequenz schulpflichtiger Kinder hatte der Po-
litische Bezirk Pisino mit 22 Proc. Dahe^ ist auch die
Zahl der Analphabeten so außerordentlich groß. Dieselbe
betrug mit Ausschluß der Kinder bis zum 6. Lebensjahre
im Jahre 1880 69,8 Proc. männlichen, 78,6 weiblichen
Geschlechtes, im Durchschnitt also 73,6 Proc. Zn der-
artiger Höhe steigt diese Zahl wohl in keiner anderen
Provinz als in Dalmatien und Bukowina an. Das Ver-
hältniß der schulbesuchenden zu den schulpflichtigen Kindern ist
sehr ungünstig. So besuchten von 100 schulpflichtigen Kindern
In dem Städtchen ist sie oft geckenhaft modern, ja die Frauen
haben noch immer den altvenctianischen Brauch strikte ein-
gehalten, Lebensmittel nie selbst auf dem Markte einzukaufen,
wozu sich doch die deutsche Hausfrau so gern für verpflichtet
hält. Ueber die Tracht der Weiber wollen wir um so lieber
hinweggehen, als dieselbe mit Ausschluß der Albanesinnen
nur selten kleidsam und malerisch genannt werden kann.
Gehen wir nun über aus die geistige Kultur der Be-
völkerung, so müssen wir zuerst die Schulverhältnisse berühren.
Hierüber mag theilweise die tabellarische Uebersicht Auskunft
geben, welche nach den politischen Bezirken aufgeführt erscheint.
1871 1875 1880
Rovi gno (Stadt) . . . 35,3 51,0 66,7
Capodistria 35,2 36,2 40,0
Parenzo Pola 45,3 30,1 45,3
50,8 52,7 49,9
Pisino 14,8 21,6 20,9
Volosca 24,1 33,4 40,8
Lussin 53,8 74,1 58,4
37,4 42,3 43,3
Politi s ch e r Bezirk Sch 1874 1880 Un ital. terrict slav. ts sprach deutsch 1874 gemischt UN ital. terricht slav. ssprache deutsch 1880 gemischt Eine auf Be 1874 schule vohner 1880
Rovigno (Stadt) 3 3 3 — — — 3 — — 3188 3174
Capodistria. . . 25 33 15 10 15 7 1 2582 2:2i
Parenzo .... 34 44 31 2 1 35 1 8 1209 1005
Pola 18 23 10 6 12 9 2 2134 2205
Pisino 19 18 2 17 11 6 1 1993 2220
Volosca .... 16 23 14 '2 21 2377 1760
Lnssin 30 40 12 18 — 15 24 1 1256 948
Summa 1874 . . 145 184 73 46 26 93 78 2 11 1852 1587
1871 . . 151 — 77 53 2 19 - 1714
die Schule. Die höheren Zahlen des Jahres 1875 erklären
sich aus dem Umstaude, daß man seither mehrere Nothschulcn
zu einer größeren Schule zusammenzog,
um geprüfte Lehrer anstellen zu können.
Es besuchen also nicht einmal die Hälfte
der Kinder die Schule, was um so be-
dauerlicher ist, als gerade das weibliche
Geschlecht besonders darunter zu leiden
hat, denn hier sinkt die bezügliche Ziffer-
für Istrien auf 36,1 herab, im politi-
schen Bezirke von Pisino gar nur auf
12,4. Nach der Nationalität entfielen
von 100 Kindern, die wirklich die
Schule besuchten:
Aus dieser Tabelle ergiebt sich eine beträchtliche Ver-
mehrung der slavischen Schulen, die seitdem noch gestiegen
ist. Es erklärt sich das ans der eigenthümlichen Gemeinde-
gliederung des Landes, da regelmäßig die Einwohnerzahl
einer Landstadt um das Doppelte und Dreifache kleiner ist,
als die der betreffenden Stadtgemeinde. So hatte beispiels-
halber die Stadt Parenzo 1880 3156, die Gemeinde
Parenzo 7368 Einwohner, Pisino 3055, die Gemeinde
Pisino 13 189 Einwohner. Da nun stets die Gemeinde
für das Schulwesen zu sorgen hat, konnten so lange in der-
selben italienische Schulen überwiegen, als die Vertretung
italienisch war, und so konnte es kommen, daß rein slavische
Dörfer italienische Schulen hatten, obwohl die Kinder kein
Wort davon verstanden. Daß sich dies bitter rächen mußte,
ist wohl selbstverständlich. Gefehlt wurde hier auf beiden
Seiten, der slavischen ebenso wie der italienischen. So
kenne ich z. B. ein Pfarrdorf, wo der Pfarrherr slavische
Schule gratis hielt, aber da dies den Italienern nicht
genehm war, wurden die Schulrequisiten einfach eingezogen,
und heute hat dies Dorf gar keine Schule. Nach meiner
Meinung muß der Staat noch Vieles für Volksschulen in
Istrien thun, denn die größere Zahl der Lokalgemeinden ist
sehr arm und die Ansiedelungsverhältnisse sind nicht selten
derartige, daß die wenigen Bauern, die oft vom Pfarrdorfe
über eine Stunde Weges und noch mehr entfernt wohnen,
eine eigene Schule nicht erhalten können. Daraus erklärt
sich zum Theil die für die Größe der Bevölkerung geringe
Zahl der Schulen, denn Istrien zählte:
1850 ........... 102 Schulen.
1865 ........... 147 „
1871............151
1874 ........... 145 „
1880 ........... 184 „
Mit Ausnahme von Dalmatien steht Istrien in dieser
Hinsicht allen Kronländern noch immer weit nach. Die
1871 68,2 auf Italiener, 29,6 aus Slaven, 2,2 aus Deutsche.
1880 53,6 „ 46,3 „ 0,1 „
An Mittelschulen zählt das Land ein Gymnasium zu
Capodistria mit italienischer, ein solches zu Pisino mit
deutscher Unterrichtssprache, beide in der Verwaltung des
Staates stehend. Das letztere wird jetzt successive auf-
gelassen und nach Pola übertragen. Der Boden für eine
deutsche Anstalt fehlte eben in Pisino ganz, die Land-
bevölkerung der Umgebung ist durchweg kroatisch und sehr-
arm, so daß der Staat alljährlich 1200 fl. für arme
Schüler vertheilen ließ; ich hatte selbst Schüler, die auf dem
Bauche liegend auf einer Steinplatte beim Flackern des
Feuers in der Herdgrube ihre Aufgaben schrieben, nachdem
sie vielleicht eine Stunde oder noch mehr Weges hatten
zurücklegen müssen, um vom Schulorte nach Hause zu
kommen. Ein wesentliches Hinderniß für das Gedeihen der
Anstalt ist auch in dem Umstande zu suchen, daß für Unter-
bringung fremder Schüler in der Stadt keineswegs vor-
gesorgt war und beispielsweise die Beamten und Officiere
von Pola ihre Söhne durchweg nach Laibach, Marburg
oder Graz schicken mußten. Wenn aber die Forderung
durchgeht, daß an dem neu zu errichtenden Gymnasium in
Pola italienische und kroatische Parallelabtheilungen errichtet
und nur in dem Obergymnasium deutsch vorgetragen werden
soll, dann läßt sich wohl von einem deutschen Gymnasium
und seinem bildenden Werthe nicht mehr sprechen. Es ist
eben eine bei uns häufige Erscheinung, daß wir sogenannte
deutsche Gymnasien in großer Zahl besitzen, an denen 50,
mitunter 70 bis 80 Proc. Schüler anderssprachig sind.
So hat das Gymnasium von Pisino gewöhnlich 6 bis 7
deutsche Schüler aufzuweisen, alle anderen sind Slaven und
Italiener. Daß bei solchen Verhältnissen die Anforderungen
wesentlich sich herabmindern, ist ganz naturgemäß. Pola
besitzt schon seit längerer Zeit eine Marineunterrealschule.
Dr. Karl Lechner: Aus und über Istrien..
365
In politischer Hinsicht zerfällt Istrien in die oft
erwähnten Bezirke (Bezirkshauptmannschaften), nur die
Stadt Novigno ist autonom. Die sudiciclle Eintheilung
umfaßt 16 Bezirksgerichte, welche dem Kreisgerichte zu
Rovigno als erster Instanz unterstehen. In kirchlicher
Beziehung gehört der ganze Norden, Nordosten und die
Mitte des Landes zum Bisthum Triest -Capodistria (Sitz
in Triest), das im Ganzen 302 279 Katholiken umfaßt,
der übrige Theil des Festlandes zum Bisthum Parenzo-
Pola (Sitz in Parenzo) mit 99 829 Katholiken. Die
Inseln bilden das Bisthum Vcglia mit 42 200 Katholiken.
Sie unterstehen sämmtlich dem Erzbisthum Görz. Der
Klerus ist ziemlich zahlreich, im Allgemeinen aber schlecht
dotirt. Es ist zu beachten, daß in den letzten Jahren der
Eintritt von Slaven in das Priesterseminar weitaus größer
war als von Italienern, was in nationaler Hinsicht von
Belang ist. Man trifft nicht selten wahre Priester von
toleranter Gesinnung und hervorragender Bildung, nicht
selten aber auch das Gegentheil. Wer das platte Land
^durchstreift hat, weiß davon zu erzählen, denn man ist meist
aus die gern gewährte Gastfreundschaft der Geistlichen
angewiesen, da Herberge und Tisch in Dutzenden von Ort-
schaften nicht zu haben sind.
Was nun das Aussehen der Ortschaften anbetrifft, so
fällt zunächst auf, daß die meisten Städte, Flecken, Burgen
auf steil anlaufenden Bergkegcln, vorgeschobenen Hörnern
oder anderen leicht zu vertheidigenden Punkten erbaut sind,
woraus man ja von selbst den Schluß ziehen muß, das die
Vertheidigungsfähigkeit des Platzes das einzig Ausschlag-
gebende bei der Gründung war. Städte und Flecken
präsentiren sich fast überall in der venetianischen Bauart
mit engen Gassen und hohen ungetünchten Häusern. Ebene
Plätze darf man freilich nicht erwarten, wohl aber jäh
ansteigende Straßen oder gar Stiegen, die von den niedrigern
Theilen des Städtchens in die höheren führen. Die Dörfer
weisen die sonst gebräuchliche slavische Anlage in eng ge-
schlossener Häuserreihe keineswegs häufig auf, denn nicht
selten zieht sich um das Haus ein Garten oder ein Stück Feld.
Aus dem Umstande, daß wir mitunter um die Kirchen noch
massives Mauerwerk mit Thurmruinen treffen, ergiebt sich
zur Evidenz, daß sie als letzter Zufluchtsort galten, was
besonders in den Uskokenkriegen des 17. Jahrh, der Fall
war. Viele Häuser, namentlich die vereinzelt stehenden
Gehöfte, haben nur ein Erdgeschoß, die besseren ein erstes
Stockwerk. Gebaut wird durchwegs aus trefflichem Bruch-
stein, das Haus jedoch nur sehr selten von außen mit
Mörtel überkleidet, so daß die Feuchtigkeit leicht eindringt.
Wegen des Umstandes, daß man in Folge der schweren
Beschaffung von Bauholz die Balken thunlichst spart und
die Bedachung in den weitaus meisten Fällen aus oft zwei-
zölligen Steinplatten besteht, ist das Haus fast stets lang,
aber sehr schmal, oft nur 3 bis 4 ru. Thür- und Fenster-
stöcke bestehen fast überall aus gehauenem Stein, die Fenster
werden vor dein Sturme der Bora gewöhnlich mit schweren
Läden geschützt. Treten wir in ein Haus ein, so befinden
wir uns in dem geräumigsten Raume desselben, in der
Küche; an der einen Wand ist ein starker drehbarer Pflock
mit einem Hebel angebracht, an dem der große Kessel aus
Glockenspeise hängt, in dem die Polenta gekocht wird. Er
ist das wichtigste und mitunter auch fast das einzige Küchen-
geräth. In einer kleinen Vertiefung brennt das Herdfeuer,
um das in geringer Entfernung einige Steinblöcke liegen,
die als Sitze dienen, da dies Feuer auch durchweg den
Ofen zu ersetzen hat. An dem Fenster steht ein Tisch mit
einer oder zwei hohen Bänken, eine andere weist eine oder zwei
Schlafstellen auf, die freilich sehr primitiv sind. Steine
dienen als Unterlage, darüber werden einige Stangen oder
Bretter gelegt und darauf kommt ein mit Stroh, Laub oder
Heu gefüllter Sack und, wenn es gut geht, eine Wolldecke.
Regelrechte Bettstellen sind lange nicht überall zu finden,
ebenso wie ein gedielter Küchenboden eine Seltenheit ist.
Ueber der Küche, die den eigentlichen Wohnraum bildet, ist
meist noch eine Kammer mit spärlicher Einrichtung, wo-
runter die Kleidertruhe das wichtigste ist; ein gegenüber-
liegender Raum dient als Keller und Speise- oder Korn-
kammer. Zur Regenzeit oder im Winter sind diese
Wohnungen sehr ungesund, da die unmittelbar auf dem
Gestein aufliegenden Mauern bei geneigtem Boden oft das
Wasser eindringen lassen. Mitunter trifft man sogar
Hütten ohne Ranchfang, in denen der Rauch durch die
geöffnete Thür oder durch die Lücken der Dachsparren seinen
Ausweg suchen kann und die Küche den einzigsten Wohn-
raum darstellt. Der Stall ist häufig neu gebaut, steht
aber auch oft ganz frei hinter dem Hause, oder gar draußen
im Felde; Aborte sind in Bauernhäusern nicht vorhanden
und fehlen auch vielfach in Städten. Statt unserer Zäune
und Planken figuriren überall roh gefügte Steinmauern.
Die Kirchen sind meist klein und ärmlich ausgestattet. An
manchem Glockenthurm sind zwei starke Balken mit quer
darüber genagelten Stangen angelehnt, um zu den Glocken
kommen und diese läuten zu können. Wie die Wohnung,
so ist auch die Nahrung. An der Küste bilden die Fische
das tägliche Gericht. Im Inneren kehrt die Polenta tagtäglich
wieder oder die Minestra, mehr Brei als Suppe, aus Reis,
Bohnen, Gerste rc. Brot wird aus Mais oder Gerste und
Hirse gebacken. Milch, Käse und Eier werden natürlich
auch konsnmirt. Häufig bildet zur Zeit, wo das alte
Getreide schon aufgezehrt und das neue noch nicht geerntet
ist, Gemüse und Brot die einzige Nahrung, und selbst dies
fehlt oft. Denn gar nicht selten treten Mißjahre ein und
dann steht auch der Hunger vor der Thür, besonders im
politischen Bezirke von Pisino und im Gebiete von Pinguente
und dem Tschitschenbodeu. Im Jahre 1879 kamen die
Leute 5 bis 6 Stunden weit nach Pisino-Mitterburg, um
eine Schüssel Minestra und ein Stück Brot zu erhalten.
Das Nationalgetränk bildet der Wein, der aber gerade in
den ärmsten Strichen nur in geringer Quantität oder gar
nicht gedeiht. Für die Küstengebiete und den fruchtbaren
Westen trifft diese Schilderung glücklicherweise nicht zu, da
hier die Nahrung reichlicher und besser ist.
Vieles könnte wesentlich besser sein, wenn der Bildungs-
stand größer, die nationalen Reibungen geringer, die Geld-
mittel ausgiebiger und die gegenseitige Ausnutzung nicht
vorhanden wären. Da der Kleinbauer die Lebensmittel
durch das ganze Jahr nicht selbst erzeugt, muß er zum
Kaufmann gehen, der sie ihm theuer anrechnet. In Geld
kann er sie nicht bezahlen, und daher ist er für die in natura
zu leistende Zahlung rein von der Gnade des Krämers
abhängig, dies um so mehr, als der Export kaum in Betracht
kommt. So kann es sich ereignen, daß der Bauer für
manche Produkte kaum die Hälfte des eigentlichen Markt-
preises erhält. Ich habe nicht selten wegen Steuerrückstand
Wein versteigern sehen, der, weil sich nur die Wirthe und
Händler des Ortes eiufanden, um 5 bis 6 fl. pro Hektoliter
erstanden wurde, während er, wenn das Steueramt ihn auf
eigene Kosten nach Kram oder Kärnthen hätte verfrachten
und dort versteigern lassen, um den dreifachen Preis gern
abgenommen worden wäre. Ein Wagen Knüppelholz, der
unter Brüdern 3 bis 4 fl. werth ist, muß gar häufig dem
Wucherer um 60 bis 80 kr. überlassen werden. Denn zu
einem Wege von 3 bis 4 Stunden hat der Bauer vielleicht
bei den schlechten Dorf- und Waldwegen mit zwei Paar Ochsen
die doppelte Zeit gebraucht und kann doch nicht übernachten
oder seine Ladung wieder nach Hause führen. Es ist gewiß
366
Nus allen Erdtheilen.
charakteristisch, daß sich Juden tut Lande nicht halten können
(nur in Pola leben einige), weil nach einem istrischen
Sprichworte der Einheimische das Wuchergeschäft viel
besser versteht.
Die Lachen und Pfützen, aus denen die Leute für sich
und ihre Hausthiere häufig das Wasser nehmen müssen,
sind entschieden sanitätswidrig, aber trotz dieser Erkenntniß
ist man in vielen Orten noch nicht daran gegangen, eine
angiebige Cisterne herzustellen. Die Wassernoth ist an
einzelnen Punkten sehr groß. Zur Zeit der Trockenheit
machen die Schisser z. B. ein gutes Geschäft, wenn sie in
Tonnen Wasser von der Quietomündung nach Parenzo
liefern. Ja selbst Pola, das eine Garnison von fast 8000
Mann zählt, ist der Wassernoth ausgesetzt. Durch Bohrung
artesischer Brunnen, die freilich, wie die Franzosen in Algier
gethan, auf Staatskosten zu erfolgen hätte, ließen sich viele
Orte mit Wasser ganz entschieden reichlich versorgen und
wären für den Ackerbau die Aussichten weitaus günstiger
zu gestalten. Wenn man bedenkt, was der Kanton Wallis
zur Bewässerung seiner Hochalpen für Geld ausgelegt hat,
muß man sich billig wundern, daß ein großer Staat für
eine ganze Provinz bisher, von Pola abgesehen, so gut wie
nichts gethan hat. Eine Besserung der Verhältnisse läßt
sich zuni Theil von den Fremden erwarten. Den Anstoß
dazu gab der Südbahudircetor v. Schüler durch den Ankauf
der Villa Chorinsky in Abbazia für die Südbahn, die heute
das Kurhaus bildet. Abbazia ist jetzt ein Winteraufenthalts-
ort geworden, der Nizza, Mentone rc. schon fühlbare Con-
currenz macht. Lussin folgt schon nach. Der österreichische
Tonristenklub hat sich um die Erforschung der Höhlen
gekümmert und ist außerordentlich thätig, die Schönheiten
Istriens zu erschließen. Ihm verdankt man auch die
Erbauung der Stephaniehütte auf dem letzten Sattel des
Monte Maggiore, der heute wegen der bequemen Ersteigung
schon stark besucht wird *). Es unterliegt wohl kaum einem
Zweifel, daß die landwirthschaftliche Lage und das Klima
so viel Zugkraft haben werden, manche Orte zu beliebten
Stationen für Herbst, Winter und Frühjahr umzugestalten.
Die Gegend an der Südwcstseite des Monte Maggiore
am Cepwsec bei Chersano, Pedena und Gallignana ist ganz
dazu angethan, in dieser Hinsicht ins Auge gefaßt zu werden.
Von den Einheimischen ist dies freilich nicht zu erwarten.
Giebt cs doch seit Jahren eine „Società degli Alpinisti
Istriani“, die meines Wissens für die Erschließung des
Landes so gut wie nichts gethan hat und ihre Hauptaufgabe
darin erblickte, für die Mitglieder auf Ausflügen eine Unter-
haltung zu bieten.
Wenn ich schließlich noch einen Blick auf die einzelnen
Städte und Flecken werfe, so wäre da zunächst Pola
I Es mag hier gestattet sein, daraus hinzuweisen, daß ich
schon vor vier Jahren gelegentlich der Schilderung einer Be-
steigung desselben in der Triester Zeitung für die Erbauung
eines Unterkunftshauses und einer damit zu verbindenden
Wetterwarte, welche telegraphisch (jetzt telephonisch) mit Fiume
zu erwähnen mit einer Bevölkerung von rund 26 000
Köpfen. Die Zeit wird wohl nicht fern sein, daß diese
politisch, commerciell und strategisch bedeutendste Stadt
wieder die Hauptstadt des Landes werden wird, wie sie cs
ehedem gewesen. Rovigno treibt nicht unbeträchtlichen
Handel, weshalb bisher auch eine Handelskammer dort
ihren Sitz hatte. Die Lage der Stadt mit der sehens-
werthen St. Euphemiakirche ist sehr malerisch, im Inneren
jedoch ist sie düster und leider auch sehr unreinlich. Parenzo
(2825 Bewohner) ist Sitz des Landtages und besitzt ein
reichhaltiges Landesarchiv. Die Domkirche ist eine der
ältesten (ans der Zeit König Theodorich's herrührend) und
schönsten der uns überhaupt erhaltenen. Capodistria (8646
Einwohner) hat den Namen häufig gewechselt, denn ursprüng-
lich hieß sie Acgida, später Capris, dann Justinopolis nach
Kaiser Justinus II. von Byzanz, endlich erhielt sie als
Hauptstadt von Benekianisch-Istrien ihren jetzigen Namen.
Sie hat auch den venetianischen Charakter am reinsten
bewahrt. Unter ihren Bürgern waren zu allen Zeiten
hervorragende Männer der Kunst und Wissenschaft. Eine
große Strafanstalt für das ganze Litorale besteht schon seit
langer Zeit. Pirano (7387 Einwohner) ist die Heimath
des berühmten Musikers Giuseppe Tartini (1692 bis
1770). Umago mag deswegen erwähnt sein, weil sich hier
eine starke säkulare Bodensenkung konstatiren läßt, denn die
Römerbauten stehen längst unter Wasser. Montana ist
eine steil ansteigende alte Stadt, noch immer mit Mauern
wohl versehen, so daß sie ein treffliches Bild einer istrischen
Kleinstadt aus dem Mittelalter zu bieten vermag. Hier
erblickte Andrea Antico das Licht der Welt, der 1517
den Druck von Musiknoten in beweglichen Zeichen erfand.
Pisino (3346 Einwohner) mag als drastisches Beispiel
gelten, daß der wohlgemeinte Versuch des Staates, durch
Cumulirung von Aemtern einzelnen Städtchen aufzuhelfen,
völlig fehlschlug. Da das Militär schon seit längerer Zeit
nach Pola verlegt wurde, mit dem Gymnasium dies bald
der Fall sein wird, ist auch keine Aussicht für materielle
Hebuug der alten Hauptstadt von Oesterreichisch - Istrien
vorhanden. Das wegen seiner vorgeschobenen Lage auf der
Hochebene eine weite Fernsicht darbietende Albona (2249
Bewohner) ist die Heimath des muthigen Streiters der
Reformationsperiode, Flacins Jllyricus (1520 bis
1575), der eigentlich Vlacich-Francovich hieß. Das
Geschlecht seiner Mutter Giacomina Luciani hat sich
bis heute erhalten und dem Lande einen namhaften Gelehrten,
Dr. Tommaso Luciani, gegeben. Lussin Piccolo, Cherso
und Veglia bieten wohl nichts Besonderes.
Wenn diese Skizze Einiges zur Kenutniß des Landes
Istrien in weiteren Kreisen beizutragen geeignet befunden
würde, hätte der Verfasser seinen Zweck vollkommen erreicht.
(jetzt Abbazia) verkehren könnte, Stimmung zu machen versucht
hatte. Die Aussicht vom Monte Maggiore ist wohl eine der
eigenartigsten und schönsten in Europa.
Ans allen
Europa.
— Auf S. 187 ff. des laufenden Bandes waren die drei,
zu Wolfenbüttel und Prag aufbewahrten Handschriften des
„Hans Dernschwam'schen Reisetagebuches", die
uns allein zu Gebote standen, als Abschriften zweiter Hand
bezeichnet worden. Wie uns jetzt Herr Dr. Dobel, Archivar
E r d t h e i l e n.
des fürstl. Fugger'schen Archivs in Augsburg, gefälligst mit-
theilt, ist vor einiger Zeit die unterwegs geführte Original-
niederschrift des Tagebuches aufgefunden worden in der
Bibliothek des Fugger'schen Schlosses Babenhausen au der
Günz (mitten zwischen Augsburg, Ulm itttb Kempten ge-
legen).
Aus allen Erdtheilen.
367
— Manche unserer Leser mag es interessiren zu erfahren,
daß soeben in der Sammlung von „Meyer's Reisebüchern"
eine zweite, neu bearbeitete Auflage von „Türkei und
Griechenland" (Leipzig, Bibliographisches Institut 1888)
erschienen ist, welche auch Reiserouten durch die unteren
Donauländer, eine Anzahl Inseln des Aegäischen Meeres
und Theile des vorderen Kleinasiens (Troas, Lydien rc.) be-
handelt. Das Buch ist durchweg auf Grund eigener An-
schauung der Verfasser, welche theils dauernd im Orient
leben, theils durch längeren Aufenthalt Land und Leute genau
kennen, bearbeitet, ist mit Karten und Plänen gut ausgestattet
und steht, wenigstens was die türkischen Gebiete anlangt,
augenblicklich ohne Rivalen da. Den Glücklichen, welche sieh
zu einer Fahrt nach dem Osten rüsten, sei es bestens empfohlen.
A s i e u.
— Ferdinand H irt's Geographische Bilder-
t äse ln. (Dritter Theil, zweite Abtheilung: Völkerkunde
von Asien und Australien. Mit 27 Tafeln.) Mit wünschens-
werthester Pünktlichkeit ist die zweite Abtheilung des dritten
Bandes der ersten gefolgt und wird für viele Weihnachts-
tische eine erwünschte Gabe sein. Er behandelt die Völker
von Asien und Australien. Die drei ersten Tafeln sind
Sibirien gewidmet, dann folgen Jnuerasien, Kaukasien,
Armenien, Mesopotamien, Kleinasien, Palästina, die Araber,
Iran, Vorderindien und Ceylon, Hochasien, China, Hinter-
indien, Japan mit Korea, die südostasiatischen Inseln, Mela-
nesier, Polynesier und Australier. Die Ausstattung ist die-
selbe vorzügliche, welche wir schon bei der ersten Abtheilung
zu rühmen hatten. — Vom zweiten Theile („Typische Land-
schaften") ist gleichzeitig eine zweite vermehrte und verbesserte
Auflage erschienen. Ko.
— Das britische KoroiZm Office veröffentlicht soeben
einen Bericht aus Erzerum (Annual Series, Nr. 225),
welcher sich mit dem Handel des Wilajet Charput und
dem wachsenden Antheile deutscher Häuser an demselben,
der sich erst seit 1886 bemerkbar macht, beschäftigt. Die
Errichtung deutscher Handlungshäuser in Mosul und Diarbekir
wird beabsichtigt. Die Einfuhr von Wollstoffen hat sehr
abgenommen, die von Wollengarn nimmt dagegen beständig
zu; dasselbe wird, wie durchweg im Orient, an den langen
Winterabenden von den Frauen zu Zeugen versponnen,
welche dem Bedürfnisse und Geschmack der Eingeborenen
mehr entsprechen, als die importirten Stoffe. Von den ein-
geführten Wollstoffen kommen zwei Drittel aus Deutschland,
der Rest aus Frankreich und Oesterreich. Das ganze Wilajet
exportirt für circa 1300 000 Mark, wovon 860 000 Mark
(etwa 70 Proc.) auf Großbritannien entfallen; es importirt
für 2 800 000 Mark, davon für 1 310 000 Mark (circa
40 Proc.) aus Großbritannien. An zweiter Stelle kommt
Frankreich, dann das Deutsche Reich.
— Die wohlseile Ausgabe von „Palästina in Wort
und Bild" (Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlags-
Anstalt) ist mit den Lieferungen 65 bis 84 zum Abschlüsse
gekommen. Auf die mit prächtigen Abbildungen versehene
Schilderung von Petra und Umgebung, womit Guthe's
Arbeit endet, folgt aus Ebers' Feder die Periegese der
zwischen Aegypten und Palästina gelegenen Gebiete, der
Halbinsel Sinai und des Landes Gosen, welche in der Vor-
geschichte der Juden eine so große Rolle spielen. Ebers
folgt mit großer Ausführlichkeit dem Exodus der Juden von
Pithom aus, der unlängst wiedergefundenen Stadt im Wadi
Tumilat, längs der Westküste der Halbinsel, führt uns eine
Reihe der prächtigsten Gebirgsbilder aus jener Steinwüste
vor, sucht den Kampf mit den Amalekitern und den Berg der
Gesetzgebung (im Serbal) zu lokalisiren, schildert das Ein-
siedlerwesen der ersten christlichen Jahrhunderte, als gleich-
falls der Serbal noch für den Berg der Gesetzgebung galt,
erörtert die Erinnerungen an Moses, die auf der Halbinsel
sehr häufig sind, aber erst ans christlicher Zeit datiren, und
verweilt ausführlich bei dem hoch interessanten Katharinen-
kloster. Mit einer Schilderung des so traurig herabge-
kommenen Gosen, der Städte Pithom, Tanis, On u. s. w.
schließt das ebenso schöne als lehrreiche Buch, das als eine
treffliche Gabe für den Weihnachtstisch bezeichnet werden muß.
Afrika.
— Mit Ausgabe von Section 1 und 3 (Marokko und
Aegypten) istjetztdie zweite Auflage von Justus Perthes'
Specialkarte von Afrika vollendet worden. Namentlich
Section 1 hat auf Grund der von uns öfter erwähnten
Lannoy'schen Karte von Afrika und besonders der Reisen des
Vicomte de Foncauld (vergl. „Globus", Bd. 51, S. 255)
eine gründliche Umarbeitung erfahren, so daß es augenblick-
lich — aber bei dem rapiden Vorwärtsschreiten der Ent-
deckungen schwerlich für längere Zeit — den Stand unserer
Kenntniß darstellt. Sehr dankenswerth sind die jeder Section
beigegebenen kritischen Bemerkungen, wenn sie auch an Aus-
führlichkeit die Lannoy'schen „Notices“ nicht erreichen.
— Unter allen von der deutschen afrikanischen Gesell-
schaft ausgeschickten Expeditionen ragte durch Tüchtigkeit ihrer
Mitglieder die ostafrikanische hervor, und unersetzlich, wenig-
stens vorläufig, sind die Verluste, welche die Wissenschaft durch
den Tod zweier von ihnen, des Dr. Kaiser und Dr.
Richard Böhm, erlitten hat. Was dieselben nach Hause
berichteten, kann das nicht wett machen, nur die Trauer über
ihren Untergang neu erwecken. H. Schalow, cm Studien-
genosse des Zoologen R. Böhm, hat unter dem Titel „Von
Sansibar zum Tanganjika" (Leipzig, F. A. Brockhaus)
dessen Briefe gesammelt und mit einer biographischen Skizze
herausgegeben; sie bilden eine freundliche Gabe der Erinnerung,
ohne gerade, vielleicht von einigen ornithologischen Abschnitten
abgesehen, viel Neues zu bieten. Leider beziehen sich die
Briefe nur auf die erste Hälfte der Reise, für die zweite
wird uns erst Reichard's Reisewerk Näheres bringen. Hin-
gewiesen sei als auf Muster landschaftlicher Darstellung auf
die prächtigen Schilderungen des Ugalla-Flusses (S. 63 ff.,
74 und 76 ff.).
— Die allgemeine innerafrikanische Stupidität —
schreibt R. Böhm d. d. Kakoma, 30. Mürz 1881 (siehe
H. Schalow, Von Sansibar zum Tanganjika. Leipzig,
F. A. Brockhaus) — findet sich auch hier unter den Wanjam-
wesi in glänzender Vollkommenheit. Ja, sie sind selbst noch
dümmer, als sie scheinen, was bei passender Gelegenheit in
staunenerregender Weise zum Vorschein kommt. Als einen
der besten Beweise für ihre Geistesgaben möchte ich anführen,
daß sie, ein Volk der exquisitesten Regengegenden, noch nicht
einmal regendichte Dächer über ihren Behausungen anzu-
bringen im Stande oder auch nur geneigt sind. Zn trauen
ist dabei dem Volke gar nicht und es ist merkwürdig, wie bei
ihrer scheinbaren Friedfertigkeit und Feigheit Krieg, Mord,
Verwüstung als etwas ganz Gewöhnliches und Natürliches
gilt. Die in der Umgegend nicht seltenen, von den anwohnen-
dem Räuberfürsten zerstörten Ortsstellen mit ihren melan-
cholischen Trümmcrrestcn einstiger menschlicher Thätigkeit
werden mit einem gewissen Behagen, selbst mit Lachen gezeigt.
Die Kunstfertigkeiten find sehr gering, das Wenige, was man
an hübschen und sinnreich gearbeiteten Geräthschaften sieht,
kommt aus den Nachbarländern. Der Ackerbau, der bei der
tropischen Kraft des Bodens und der entgegenkommenden
Genügsamkeit der Nährpflanzen, welche zum Theil nur in
Stücke gerissen und in den roh gelockerten Boden gesteckt zu
368
Aus allen Erdtheilen.
werden verlangen, um weiter zu treiben, so wie so nur wenig
erfordert, wird auf die primitivste Weise betrieben. Noth und
eigentliches Elend ist natürlich unbekannt, wo die Sorge für
Kleidung und Erwärmung überhaupt fortfällt und die Er-
nährung nur wenig Thätigkeit, sonst nichts, erfordert. Höhere
ethische Begriffe fehlen selbstverständlich. Religiöse Vor-
stellungen scheinen sich ans „Dhaua", die „große Medicin" der
Indianer, wozu die verschiedenartigsten und einfältigsten
Dinge benutzt werden, aus eine ungewisse „Mnnga", wohl
eine Art bösen Geistes, zu beschränken. Ob die Wanjamwesi
an ein Fortleben nach dem Tode glauben, ist mir noch nicht
klar, doch scheint die barbarische Sitte, daß bei dem Tode
einer der Häuptlingsfrauen eine Anzahl Weiber, bei dem des
Häuptlings selbst Männer und junge Mädchen mit dem Todten
gebunden in die Grube gelegt und hier mit Spcerwürfen
getödtet, oder nach Aussagen eines Augenzeugen auch leider
nur halb getödtet und dann mit Erde bedeckt werden, weil es
nicht gut sei, daß die Todten „peke gallo", d. h. allein, aus
der Welt gingen, wenigstens an eine in früheren Zeiten lebendige
Vorstellung von einem Fortleben der Seele hinzudeuten.
— Wie „Le Mouvement Géographique“ vom
20. November d. I. erklärt, sind sämmtliche, in letzter Zeit
vom Rcuter'schen Bureau und verschiedenen Zeitungen ver-
breitete Nachrichten über Stanley's Expedition erfunden.
Die letzte Nachricht ist diejenige, welche Major Bartellot im
Lager von Jambuja am 8. Juli erhielt und worin Stanley,
der 10 Tage vorher von dort aufgebrochen war, meldete, daß
alles gut gehe. Seitdem ist Bartellot ohne jede Kunde von
der Expedition geblieben.
Nordamerika.
— Im Bande 45 des „Globus", S. 8 ff. und 24 ff.,
sind eine Reihe von Gegenständen aus der Jakobsen'schen
Sammlung von der N o r d w e st k ü st e Amerikas ab-
gebildet und beschrieben. Da die Erläuterungen der Figuren
znm Theil nicht ganz zutreffend sind, dürften die folgenden
Bemerkungen von Interesse sein.
S. 8. Eßschale aus Horn. Das Relief stellt den Biber
dar. Die Form der Nasenlöcher, sowie die Nagezähne und
der Schwanz sind charakteristisch. Das in den Schwanz
gravirtc Menscheugesicht findet sich häufig auf Wappeupfählen,
Tanzhüten und Gefäßen. Daß ganze Gefäß ist ein Thier.
Was in der Erläuterung als vorn bezeichnet ist, ist hinten.
Was als ausgestreckte Zunge beschrieben ist, sind die Nage-
ztthne des Bibers. Die vier dreizehigen Arme sind seine
Beine; der Bauch ist die Unterseite des Gefäßes.
S. 9. Die Figuren der drei hier abgebildeten Wappen-
pfähle sind nicht ganz deutlich. Die unterste Figur auf der
mittleren Abbildung ist der Sperber. Die mittlere Figur-
ist ein Tänzer. Der an das Kinn anschließende Vogel-
schnabel ist ein geschnitzter Rabenkopf, der beim Tanze um
den Hals gehängt wird. Die mit Hutaufsätzen geschmückten
Menschenköpfe, welche er in der Hand trügt, sind Rasseln.
Auf den: Wappenpfahl rechts ist der Schwanz der untersten
Figur ebenso behandelt, wie der Biberschwanz auf S. 8, so
daß das Menschcngesicht ein Theil des Schwanzes ist.
S. 10 und S. 26 unten. Die hier abgebildeten Eßschalen
stellen einen Seehund dar. Auf der Unterseite ist der Sperber
gravirt. Die Darstellung des Kopfes desselben in Flach-
relief ist stets gehalten, wie in diesem Falle. Sie findet sich
besonders häufig auf der Unterseite von Rasseln. Die Schale
auf S. 24 wie die auf S. 26 stellt ebenfalls den Sperber
dar, über dessen Kopfe sich ein stilisirtes Enlengesicht erhebt.
S. 24 links ist eine große Eßschale. Dieselbe stellt den
Tsonoqoa, eine der häufigsten Gestalten im Sagenschatze der
Kwakiutl dar. Während alle übrigen Gegenstände offenbar
den Haida oder Tsimpschian angehören, stammt diese Figur so-
wie die auf S. 27 abgebildete offenbar von einem der
Stämme von Queen Charlotte Sound. Bei der oben er-
wähnten Eßschale kann ich zufällig genauer Herkunft und
Bedeutung angeben, da die zugehörige Sage sich unter
meiner Sammlung befindet. Dieselbe stammt von den
Nimkisch, einem der Stämme, welche die Kwakiutl-Sprache
reden, und die folgende Ueberlieferung ist damit verbunden.
Q'o^tlala, der Sohn Nelpe’s, lebte in Xäwakyis.
Eines Tages fuhr er in seinem Boote aus, Seehunde zu
schießen. Vergeblich erwartete Nelpe seine Rückkunft, und
endlich bestieg er sein Boot, um seinen verlorenen Sohn zu
suchen. Nach langem Suchen sah er sein Ruder auf dem
Wasser umhertreiben; und er fand seine Kiste und seinen
Fischspeer, aber er fand seinen Sohn nicht. Fünf, zehn
Tage lang suchte er ihn vergeblich und alle Leute halfen ihm
suchen. Da glaubten sie, er sei todt.
Q’e^tlala aber war in seinem Boote auf den Boden des
Meeres hinabgestieg.en. Dort besuchte er Qoruoqoa, den
Seegeist, und gewann durch ihn übernatürliche Kräfte. Sie
tauschten ihre Boote ans. Der Geist gab ihm einen Speer, um
Seehunde, Seeottern, Seelöwcn und Wale zu fangen und
sprach zu ihm: „Du wirst viele Reichthümer erlangen und ein
mächtiger Häuptling werden. Wenn Du in Deiner Heimath
anlangst, so gieb ein großes Fest und nimm die Namen
Ma^olakilis und Tläqoalatl (abgeleitet von Tläqoa, Kupfer-
platte) an. Er gab ihm viel Kupfer und die Tanzmaske
Tsonoqoa. Ferner gab er ihm drei Holzkessel, welche den
Tsonoqoa, Aqetl und Ts’ekisch darstellten. Er gab ihm
ein Haus mit vielen ringsumher laufenden Stufen und trug
ihm auf, allen Leuten Felle zu schenken und im Winter-
tanze den Ts’aequiutl zu tanzen. Als er zurückkam, glaubte
er, er sei nur zwei Tage fort gewesen. Es waren aber in
Wahrheit zwei Jahre.
Der in der Sage erwähnte Kessel, welcher den Tsonoqoa
darstellt, ist an der erwähnten Stelle abgebildet. Den dritten
Kessel, welcher den Ts’ekisch darstellt, habe ich in Alert
Bay (Elis) am Eingänge der Johnstone Strait gesehen.
Derselbe stellt ein Ungeheuer dar, dessen weit aufgesperrtes
Maul den Kessel bildet.
S. 25. Der Griff des oberen Löffels stellt einen Tänzer
dar, wie der auf dem mittleren Wappenpfahl S. 9. Das
Flachrelief auf dem Rücken des Löffels ist nicht zu sehen,
doch stellt dasselbe wahrscheinlich den Körper des Tänzers
dar. Der Griff des unteren Löffels ist der Rabe im
Häuptlingsschmuck. Das Relief auf dem Rücken des Löffels
sind die Flügel des Raben.
S. 27. Figuren dieser Art werden von den Kwakiutl
auf den Giebeln der Häuser ausgestellt. Dieselben stellen
Sklaven der Ahnen des betreffenden Geschlechtes dar und die
erhobene Hand bedeutet, daß sie für den Häuptling zum
versammelten Volke reden, da es unter der Würde eines
großen Häuptlings ist, mit gewöhnlichen Leuten zu sprechen.
Dr. Franz Boas.
Inhalt: Dieulafoy’s Ausgrabungen in Susa. V. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Heinrich Simrvth: Die Be-
völkerung der Azoren. III. — Dr. Karl Lechuer: Aus und über Istrien. III. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Europa.
— Asien. — Afrika. — Nordamerika. (Schluß der Redaktion am 15. November 1887.)
Hierzu eine Beilage der Berlagshandlung von Otto Weisert in Stuttgart.
Redakteur: Dr. N. Kiepert in Berlin, S. W. Lindcnstraßc 11, III Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Wri besonderer Herüebsrchtigung der Anthropologie und Othnologir.
Begründet von Kart Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Richard Kiepert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1887.
Dieulafoy's Ausgrabungen in S n s a.
Nach dem Französischen der Madame Jane Diculafoy.
Die gewaltigen Regen gegen Ende März hatten im
Graben L des Tumnlns Nr. 2 Einstürze hervorgerufen
und dadurch war eine Erdmaner bloßgelegt worden, die
man weiter verfolgte. Allmählich wurde dann eine Anzahl
von unter einander parallelen oder zu einander senkrecht
stehenden Mauern aufgedeckt, die man als die Krönung
einer sehr verwickelten Verteidigungsanlage erkannte. Die-
selbe befand sich 6 m unter der heutigen Oberfläche des
Tumnlns und mag noch etwa eben so hoch über dem ur-
sprünglichen Fußboden gelegen haben. Dagegen war ans
der Citadelle bis jetzt nichts gefunden worden; dort arbei-
teten schon seit länger als einem Monat die sämmtlichen
Luren an zwei langen, nach Osten gerichteten Grüben,
I und J; wohl fand man hier und da einige Skulpturen
von einem Bau, der der Thronhalle des Artaxerxes Mnemon
ähnlich war, emaillirtc Blöcke, Ziegel mit elamitischcr
Inschrift; aber im Wesentlichen waren diese Nachgrabungen
bis zu einer Tiefe von 4 in ergcbnißlos. Kleinere Gegen-
stände wurden täglich gesunden, z. B. eine elegante Terra-
cotta-Vase, eine bronzene Lampe, ein eigenthümlicher Elsen-
beinkegel mit eingeritzten Kleeblättern und gut charakteri-
sirten Pelikanen und einen Siegelstein, ein Chalcedon,
ans welchem das Königsbild, darüber Anramazda und zu
beiden Seiten zwei Sphinxe mit der oberägyptischen Krone
eingegraben sind; das Siegel muß einem Achämcnidcn-
könige, der über Aegypten gesiegt hat, Xerxes oder Arta-
xerxes I., gehört haben. Am Beginn des Grabens L fand
man 1,80 m unter der Oberfläche die Fundamente des
Hauses eines Töpfers und darin neben Vasen von vcr-
Globus LII. Nr. 24.
VI.
schiedener Form zwei Becher mit einer spiraligen Inschrift
in althebräischen Buchstaben. Becher aus Nummnlitenkalk,
Terracottalampen, eiserne Pfeilspitzen und sehr zerbrechliche
Glasflaschcn lagen überall umher.
Zahlreiche emaillirtc Bruchstücke, welche sich in jedem
Schutthaufen fanden, und die vielen, stets nur aus Lehm-
ziegeln aufgeführten Mauern legten den Gedanken nahe,
daß die Bauten Susas bloß ans Lehm bestanden, wie die-
jenigen Babylons, und ihre Schönheit nur der dauerhaften
Bekleidung mit Emailplatten verdankten, welche sie vor der
Zerstörung schützten und die Basreliefs der assyrischen
Paläste ersetzten. Der früher erwähnte Löwenfries ist ein
Beispiel dieser wunderbaren Ausschmückung. Andere ent-
deckte man am 18. April im Graben L; es waren Bruch-
stücke von lebensgroßen, prächtig gekleideten Personen:
zierliche Lippen, ein bläulicher, mit einem weißen Lütz
umgebener Bart, braune Hände, ein prächtig schwarzer
Hals und zwei weiße Hände, Proben einer entwickelten,
vorgeschrittenen Kunst. Dann wieder fand Madame Dieu-
lafoy dicht bei den Zelten in einer Spalte in drei Lagen
über einander Emailziegel, welche ans grünem Grunde
gelbe und blaue Lotosblumen und darüber weiße Palmetten
zeigten und an ägyptische Grabgemäldc erinnerten. Andere
Stücke mit gelblichem Grunde und quer von einer orange-
farbenen Linie geschnitten, schienen zu einer Treppenwange
gehört zu haben; schließlich kamen große quadratische Platten
zum Vorschein, von 0,36 w Seitenlänge und 0,08 m Dicke,
oben und an den Kanten cmaillirt und mit einer großen
grünen und gelben Rosette verziert. Man hatte es hier
47
370
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
offenbar mit einer, in der Saffanidenzeit ansgebesserten
Brustwehr zu thun, zu welcher Materialien von einer
Rampe aus der Achämenidenzeit benutzt worden waren.
Der Aufenthalt der französischen Expedition auf den
Trümmern Susas trug übrigens viel dazu bei, den frommen
Besuch des Danielgrabes zu erhöhen; in zahlreichen Schaaren
strömten die Pilger herzu, allwöchentlich etwa 200 bis 300
Männer, Frauen und Kinder auf Pferden, Mauleseln und
Eseln, die ärmsten auch zu Fuß. Das gemeine Bolk
quartierte sich im Hofe des Grabes ein, die Vornehmeren
auf den Terrassen, während die zuletzt Gekommenen ihre Zelte
am Fuße der Citadelle auf einem mit baumartigen Malven
bewachsenen Kirchhofe aufschlugen. Alle aber schienen
darauf auszugehen, den Fremden das Leben möglichst un-
erträglich zu machen: von Tagesanbruch an erfüllten Mann
und Weib, Mollahs und Schüler die Gräben, zogen die
Arbeiter von ihrem Geschäft ab und suchten selbst, wenn
auch vergebens, in die Zelte zu dringen. Die Reste des
Stieres, welche der Wuth der Luren entgangen waren,
wurden von ihnen zertrümmert und etwa 50 Todtenurnen,
welche man photographiren wollte, in Stücke zerbrochen.
Wo man ging und stand, hörte man ihre Schleudersteine
durch die Luft sausen und ihre Flinten sich entladen.
Am 22. April erschien der Unterstatthalter von Dizful
in Begleitung einer Anzahl Banquiers; Dieulafoy's Dro-
hungen hatten ihn erschreckt, und so nahm er eine Pilger-
schaft zum Danielgrabe als Vorwand, um die Geld-
angelegenheit zu regeln und dem unbequemen Gaste die
ganze ihm zukommende Summe zu erstatten.
Inzwischen war die grüne Ebene gelb geworden, die
Gebüsche trugen Dornen statt der Blüthen, und das Bach-
tijaren - Gebirge zeigte an Stelle ausgedehnter Schneefelder
rosafarbene Spitzen: noch acht Tage, und die ganze Gegend
gleicht einem Gluthofen. Wenn der letzte Schnee ver-
schwindet, wird Susa unbewohnbar; dann schließt der
Wächter des Danielgrabes das Thor desselben und flüchtet
sich in seinen Dizfnler Serdab (Keller), dann ziehen die
Nomaden in die Nähe der Berge oder lagern an den Ufern
eines Flusses, Raubthiere und Wildschweine werden zu
Amphibien und auf den Ruinenhügeln tummeln sich nur
Kclek außerhalb des Wassers. (Nach einer Photographie der Expedition.)
noch Schlangen, Skorpione und riesige Spinnen. Selbst
die Insekten, namentlich die setzt überaus lästigen Fliegen,
die man nur durch den Rauch von schweelcndem Mist ver-
treiben kann, verschwinden alsdann vor der unerträglichen
Sonnenglnth. Prachtvoll aber sind die sternenklaren Nächte,
während deren der Mensch erleichtert aufathmen kann;
schaut man dann von den Hügeln über die weite Ebene
hin, so sieht man wohl in der Ferne sich eine mächtige,
blutrothe Flamme erheben, die rasch um sich greift und zu
einem Feuermeere anschwillt. Die Nomaden haben das
jetzt unnütze Dorngestrüpp angezündet, mit den Boden mit
der Asche zu düngen; sofort nach dem ersten Regen bedeckt
sich derselbe dann mit üppigen Weiden. Der Brand dauert
mehrere Tage, ist aber nur Nachts sichtbar.
Der Umstand, daß die Reisenden inzwischen das dortige
Patois zu sprechen gelernt hatten, hatte den Wächter des
Danielgrabes, Maschtc Popi, zu ihrem besten Freunde
gemacht. Dies benutzte Dieulafoy, um einen lange ge-
hegten Plan zur Ausführung zu bringen. Usta Hassan ist
ein geschickter Maurer; Ziegel aus den arabischen Fun-
damenten lagen in Masse auf den Tumuli herum, und an
Gestrüpp mangelte cs nicht, so daß alle Erfordernisse für
einen Hausbau vorhanden waren. Ein solcher gewährte
für die nächste Ausgrabungscampagne Schutz gegen Regen
und Hitze und Sicherheit den Nomaden gegenüber. Der
Grabeswächter war diesem Plane nicht abgeneigt, und das
um so weniger, als ihm Dieulafoy einen Kronleuchter ver-
sprach, um das Grab während der Pilgerzeit erleuchten zu
können; er verwies ihn aber an den Scheich Mohammed
Laher als den Verwalter der Wakusgüter des Grabes, der
allein die Erlaubniß zur Erbauung des Hauses geben könnte.
Noch am selben Abend wanderte Usta Hassan nach Dizful,
kehrte nach zwei Tagen mit der Erlaubniß, seinem
Trog und seiner Kelle zurück und machte sich alsbald an
die Arbeit; daS Bauwerk wurde rechteckig angelegt, 10 m
lang, 8 m breit, mit zwei Thüren und vier Fenstern; in
seiner Längsachse stand eine Scheidewand, welche die sehr-
kurzen Dachsparren zu tragen hatte; darüber sollte zum
Schutze gegen Regen und Sonne eine dicke Terrasse zu liegen
kommen. Welche Wohlthat ein solches, wenn auch ein-
fâches Haus sein würde, lernte man sofort erkennen. Es
war Ende April, und von 7 Uhr Morgens an sandte die
Kelek ans dem Wasser. (Nach einer Photographierter Expedition.
372
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susen
aus ihren Poren wieder auszubrechen, die wenige Kraft,
welche sie besaßen, war bald verbraucht, und weder Auf-
munterungen, noch Strafen vermochten etwas gegen ihre
Erschlaffung, zumal auch die Europäer nicht mehr den
ganzen Tag hindurch im Freien auszuhalten vermochten,
sondern nach je zwei Stunden, während welcher sie ab-
wechselnd die Aufsicht geführt, Zuflucht in der Strohhütte
suchen mußten.
Am 25. April langte ein Bote des Mozasfer el-Molk
au, welcher ein Schreiben und zugleich die Abschrift einer
Petition der Mollahs von Dizful an den Statthalter über-
brachte. In einem stark mit Arabisch vermischten, und
darum schwer verständlichen Persisch wurde darin aus-
einandergesetzt, daß die Regengüsse und die Vernichtung der
Ernten ein Werk der Franken sei, und daß noch weiteres
Unglück das Land treffen würde, wenn man die in Susa
vorhandenen Talismane durch die Fremden entführen lasse.
In Folge dessen bat Mozasfer el-Molk, die Campagne zu
schließen; er werde den nächsten Winter in Dizful zubringen
und dann die Arbeiten beschützen. Da schon viele Arbeiter
der Ernte wegen weggegangen waren und die Hitze immer
drückender wurde, so kostete es Dieulafoy keine große
Ueberwindung, in den Wunsch Seiner Excellenz zu willigen.
Nun galt es, Kisten für den Transport der gefundenen
Alterthümer zu beschaffen und Maulthiere zu miethen,
Geschäfte, bei welchen man auf den Widerstand der persischen
Beamten zu stoßen gefaßt war. Um seinen Zweck zu
erreichen, verfiel Dieulafoy auf den guten Gedanken, die
Habgier Mirza Abdnl-Ka'tm's und die unverschämte Neugierde
des Mozasfer el-Molk, von dem er wußte, daß er alle seine
Briefe öffnete, zu benutzen. Er theilte dem Mirza ge-
legentlich mit, daß er nach Frankreich seine bevorstehende
Abreise melden wolle, worauf dieser ihn sofort bat, ihm
den Brief anzuvertrauen, da er in Dizful zu thun habe.
Der Hör. (Nach einer
Das sagte Dieulafoy zu, und bat den Mirza zugleich, in
Dizful für die Herstellung der Kisten und das Miethen der
50 Manlthiere sorgen zu wollen. Lächelnd versprach das
der Mirza, der bei diesem Geschäfte gehörig zu verdienen
hoffte; Dieulafoy aber verfaßte einen Brief an den Mnsenms-
direktor, der nnr dazu bestimmt war, von Mozasfer el-Molk
gelesen zu werden, und den M. de Rouchaud unmöglich
für Ernst nehmen konnte. Das Ergebniß der Ausgrabungen
wurde darin als unbedeutend bezeichnet; nur die Todtcn-
nrnen hätten einen großen archäologischen Werth; außerdem
wurden die Verdienste der persischen Beamten in den
Himmel erhoben und für dieselben Geschenke und Orden
verlangt. Die List gelang, denn einige Tage später erschie-
nen der Mirza und ein Tischler von Dizful mit vier höchst
rohen Probekisten und brachten den gemessenen Befehl Sr.
Excellenz, die Todtenurnen zurückzulassen; die Mitnahme
der ungleich werthvolleren Emailziegel dagegen wurde nicht
beanstandet. Ein neuer, am 28. April gefundener Löwe
Zeichnung Dieulafoy's.)
wurde wieder mit Erde bedeckt, um später seine Wieder-
auferstehung zu feiern, und die Arbeiten endgültig eingestellt.
An das Verpacken der Stierfragmente konnte man aber
ohne Hilfe eines Hebebockes und eines europäischen Tischlers
nicht denken.
Die erste Woche des Mai ging mit dem Verpacken der
Ziegel und sonstigen Fnndstückc hin. Mirza Abdul-Kann,
der so geschmeidig geworden war, wie ein Bedienter kurz
vor Neujahr, besorgte einen Mann vom Stamme der Beni-
Laam, Altar mit Namen, welcher Dank seiner Verwandt-
schaft mit dem Häuptling dieses großen auf türkischem
Gebiete wohnenden Stammes sicher zwischen Dizful und
Amara am Tigris mit Karawanen verkehren konnte. Be-
quemer, weil stets mit Trinkwasser versehen, wäre allerdings
die Straße nach Schuster gewesen, als diese durch die Wüste
und über die persische Grenze; aber Dieulafoy fürchtete sich,
mit den sogenannten „Talismanen des Propheten" persisches
Land zu durchziehen.
374
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Am 11. Mai erschien Attar und übernahm das Gepäck
und am 12. machte sich das Dieulafoy'sche Ehepaar mit
50 Kisten, in denen die werthvollsten Funde enthalten
waren, auf den Weg, nachdem sie zuvor die noch anwesenden
Arbeiter bewirthet und die Wiederaufnahme der Ausgra-
bungen auf den nächsten Herbst festgesetzt halten. Ihre
jungen Begleiter, Babin und Houssay, begaben sich für den
Sommer nach Central-Persien, wo es kühler ist, als in dem
tief gelegenen Susiane. Mit Einbruch der Nacht erreichten
unsere Reisenden die Ufer der Kercha, wo sich schon seit
einer Woche allmählich die Gepäckstücke einer zahlreichen
Karawane aus Dizfnl ansammelten. Nicht.gering war
die Besorgniß Dieulafoy's, als er feine kostbaren Kisten,
je zu vieren, auf ein Kelek, d. h. einen von nenn aufge-
blasenen Schläuchen getragenen Rahmen von Astwerk,
laden sah. Ein Lure, mit einem kurzen, löffelförmigen
Ruder versehen, bestieg dann das Floß und trieb es hinaus
in den Fluß, wo es die Strömung ergriff und rasch
in die Schnellen führte. Geschickt landete der Mann,
angestrengt rudernd, seine werthvolle Fracht an einer
flachen, kahlen Stelle des gegenüberliegenden Ufers, wo
einige Leute das Kelek entluden, auf die Schultern nahmen
und so weit stromaufwärts trugen, daß eS mit der
Strömung bequem wieder an feine Abfahrtsstelle zurück-
gelangen konnte. Das Uebersetzen der Kisten und Leute
an das westliche Ufer nahm volle zwei Tage in An-
spruch — danach konnten sie sich und ihre Schütze in
Sicherheit wähnen, wenn auch das rechte Ufer noch keines-
wegs, wie sie geglaubt zu haben schienen, zum türkischen
Reiche gehörte.
Schart-et-Arab rn Basra. (Nach einer Photographie der Expedition.)
Um Mitternacht des 15. Mai setzte sich die Karawane
in Bewegung und zog fortgesetzt über eine völlig kahle Ebene,
um noch vor Tagesanbruch einen Bach mit Brakwasser zu
erreichen; aber es dauerte bis 10 Uhr Bormittags, ehe sic
am Ziele waren, und längst schon war die Sonne un-
erträglich heiß geworden. Drei Tage dauerte diese an-
strengende Reise, und der letzte Marsch mußte auf 15
Stunden ausgedehnt werden, ehe man an dem ersehnten „bor",
einem Sumpf, den die winterlichen Hochwasser des Tigris
gebildet haben, anlangte. Voller Freude stürzten sich Men-
schen und Thiere in das köstliche Naß, tranken und badeten
sich und bekamen neues Leben, das kaum zwei Stunden
vorher in ihnen zu erlöschen drohte. Zwei Tage mußte
man in der glühenden Sonne und der ungesunden Sumpf-
luft lagern, ehe der ausgesandte Maulthiertreiber mit neun
Booten (belem) zurückkehrte, und dann nahm die Fahrt
zwischen Schilf- und Sumpfpflanzen auf nur den Nomaden
bekannten, pesthauchenden Kanälen volle 15 Stunden in
Anspruch. Erst in der Nacht erreichte man den Tigris,
an dessen Usern man wegen Ermüdung der Ruderer die
Nacht über zu lagern gedachte; aber bald zeigten sich Araber
und benahmen sich so frech und drohend, daß nach ihrem
Abzüge die Fahrt fortgesetzt wurde. Am 22. Mai traf
man in Amarah ein; hier aber legten die türkischen Zoll-
beamten ihre Hände auf die theuer erworbenen Kisten und
verlangten für Durchgangszoll und Bakschisch die Kleinigkeit
von 5000 Francs. Vergeblich lief Dienlafoy zum obersten
Zöllner und zum Richter und. telegraphirte an den fran-
zösischen Konsul in Bagdad; der Wall Takicddin-Pascha,
welcher früher die Metzeleien in Aleppo angestiftet hatte,
Dr. Heinrich Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
375
ging noch über die Prätentionen seiner Untergebenen hinaus
und behauptete, der Inhalt der Kisten stamme von Aus-
grabungen auf türkischem Boden und gehöre in das Museum
von Konstantinopel; doch erlaubte er, die Emailtafeln in
das Zollamt von Basra zu schaffen, wo der Uuterrichts-
rath über ihre Herkunft, ihren Werth und ihr Schicksal
entscheiden sollte. Die Kisten wurden also aus den eng-
lischen Dampfer, welcher den Tigris beführt, geschasst, und
die Reisenden begleiteten sie bis Basra. Dieulafoy hoffte
noch, sie zur Nacht auf einen kleinen französischen Dampfer,
der zur Abfahrt nach Marseille bereit lag, überführen zu
können; aber ein türkisches Kanonenboot umkreiste beständig
das Schiff und hätte jedes Boot, welches die Kisten zu
entführen versucht hätte, in den Grund gefahren. So
wurde jede Kiste verschnürt, von dem französischen Bice-
konsul versiegelt und dann ins Zollhaus geschasst, während
die Reisenden auf dem „Normand" so rasch als möglich
nach Frankreich zurückeilten, um ans diplomatischem Wege
die Herausgabe ihrer Schätze zu betreiben. Doch war es
ihnen gelungen, den krummen Fingern der Zollbeamten drei
Koffer als persönliches Gepäck zu entwinden; dieselben ent-
hielten den Kopf des Löwen, irdene und bronccne Statuetten,
Gläser, Cylinder und alle während der Ausgrabungen
gefundenen kleineren Gegenstände.
Die Bevölkerung der Azoren.
Von Dr. Heinrich Simroth.
IV. (Schluß.)
So unendlich der natürliche Horizont des Insulaners
über den Ocean sich hinausschiebt, so sehr scheint der
geistige sich einzuengen. Die Erziehungsverhältnisse sind
entsprechend. Der Dorfschulmeister erhält wenig und weiß
nicht viel mehr. Es ist noch nicht lange her, daß selbst be-
güterte Familien Lesen und Schrei-
ben bei ihren jüngeren Söhnen für
überflüssig hielten, und Burschen
ans der dienenden Klasse in der
Stadt erklärten uns wohl, daß zum
Lernen nur die Mädchen Zeit hätten.
Die vielen Zeitungen, die in Ponta
Delgada erscheinen, dringen noch
kaum aufs Land, hier wird höch-
stens ein Gebetbuch oder ein Ritter-
roman gelesen, und das selbst selten
genug. So muß wohl der Sinn
auf das Nächste beschränkt und der
Jdeenkreis stabil bleiben. In patri-
archalischer Weise werden noch oft
die einfachen Kontrakte geschlossen,
die Maiskörner werden von den
Kolben gesondert für die strohigen
Zieste, die als Feuernngsmaterial
dienen, ein Weidenkorb wird ge-
flochten für so viel Mais, als er-
fassen kann, die Lupinen werden
ansgedroschen für das Stroh und
was derlei Löhne in Naturalien
mehr sind. Das Dreschen mit dem
Flegel ist schon fast ein Fortschritt
gegen die beliebte Manier, die
Fruchthalme auf der offenen Tenne
auszubreiten und die Ochsen, vor
eine Art von Schlittenkufen gespannt, darüber zu treiben.
Natürlich wird dem Ochsen, der da drischt, das Maul
nicht verbunden. Die Weiber sitzen vor der Thür, wie
in Portugal, mit dem Spinnrocken in der einen und der
Spindel in der anderen Hand, ohne des Rades Vortheil
zu kennen. Hier wird wohl die Entwickelung zur Maschinen-
arbeit gleich einige Jahrhunderte überspringen. Von den
charakteristischen Kopfbedeckungen und Mänteln sprach ich
schon früher. Erwähnenswerth ist es, daß die Bauern-
mütze mit großem Schirm und Nackenschutz „Carapuga“,
Frauenmantel von Fayal. (Nach einer
Photographie.)
lokalem Wechsel unterworfen ist, ebenso wie der Mantel
mit der wunderlichen Kapuze, „Capote e capello“. Das
non plus ultra von Fayal zeigt die nebenstehende Figur.
Wenn vielleicht die Neigung zu Kopfvermummungen auf
maurischen Ursprung und auf die Feuchtigkeit des Klimas
zurückzuführen ist, so hat doch
Walker die Herkunft dieser Tracht
von ganz anderer Seite ausgespürt.
Zur Zeit der Azorenbesiedelung
war in Flandern jene ganz ähn-
liche Hutform Mode mit dem höchst
bezeichnenden Namen „Hennin",
die auch in Paris zu Anfang des
fünfzehnten Jahrhunderts getragen
wurde als „escoffion cornue“.
Freilich war der Stoff dazu eine
leichte Monsseline, die sich erst auf
den Azoren in das schwere Mantel-
zeug verwandelte und, was das
Wichtigste, erhielt. Selbstverständ-
lich ist der Sinn vorwiegend aufs
Praktische gerichtet und auf den
Nahrungserwerb. Einmal erfuhr
ich eine Regung sinnigen Natur-
gefühls, als mein Eseljunge beim
Abschied von Sete Cidadcs dem
herrlichen Thal ein acleos zurief.
Sonst drehte sich die Unterhaltung,
wenn ich in einem Dorfe zeichnend
Halt machte, und eine gaffende
Menge von Weibern und Kindern
mich umstand, regelmäßig um die
Frage, was ich zahlte und unterwegs
auf der Landstraße bot man wieder-
holt dem Fremden Schafe zum Kauf an. Ein hübsches Bei-
spiel praktischer Naivetät ereignete sich vor einigen Jahren
ans Pico. Der Bischof, der in Angra auf Terceira seinen
Sitz hat, kam auf officieller Rundreise dorthin, seine Kinder
zu besuchen. Da blieben zufälliger Weise die vorher in
großen Schaaren an der Küste schwärmenden Sardinen
aus. Natürlich konnte das nur mit der Anwesenheit des
geistlichen Oberhauptes zusammenhängen, und so begab sich
eine Deputation zu ihm, die ihn ersuchte, schleunigst abzu-
reisen. „Zum Essen brauchen wir keinen Bischof, wir
376
Dr. Heinrich Simroth: Tie Bevölkerung der Azoren.
brauchen Sardinen." Das zeigt gewiß, wie sehr das
Volk von fanatischem Eifer frei ist. Zwar bittet die Dorf-
jugend den begegnenden Pater demüthig um den Segen,
aber bei geringem Verdacht irgend welcher Unordnung wird
er von der Gemeinde sogleich beschuldigt. Zu keiner Zeit
scheint religiöse Bigotterie geherrscht zu haben. Sonst
hätte der Gouverneur von S. Maria schwerlich wagen
dürfen, die halbe Schiffsmannschaft des Columbus, die in
Bußprocession ans Land kam, ins Gefängniß zu werfen.
Bei der Rückkehr von Haiti 1493 hatte der Entdecker mitten
auf dem Ocean einen schweren Sturm zu bestehen und
gelobte der Jungfrau im Falle der Rettung eine Procession
zur nächsten Kapelle. Am 17. Februar ankerten sie vor
S. Maria, und Columbus, der von dem geheimen Berhafts-
befehl, weil er in fremde Dienste gegangen, Wind bekommen
zu haben scheint, blieb zwar an Bord, sandte aber die
Hälfte der Mannschaft im bloßen Hemde ans Land, das
Gelübde einzulösen. Kaum waren sie arretirt, als ein
neues Unwetter das Schiss zwang, wieder in See zu stechen.
Erst nach fünf Tagen kehrte Columbus zurück, die Seinen
zu befreien.
In scheinbarem Widerspruch mit solcher Freiheit der
religiösen Anschauung steht eine Reihe von Festen und
abergläubischen Vorstellungen, die noch in hoher Blüthe sich
befinden. Sie sind mehr durch die Zähigkeit zu erklären,
mit der hier das Alte festgehalten wird. In erster Linie
ist das Fest des heiligen Geistes,
„Imperio do Espirito Santo“ oder
„Imperio dos nobres“, zu nennen.
Ursprünglich ein Symbol der Drei-
einigkeit, wurde es im Jahre 1300
von der Königin Jsabclla eingerichtet
in der kleinen Stadt Alemquer in
Estremadura, von wo cs sich bald
durch ganz Portugal verbreitete, wo
es inzwischen wieder erloschen ist.
Die Königin hatte in der Stadt
eine Kirche gebaut und dem heiligen
Geiste gewidmet und richtete hier ein
Fest ein, die Kaiserkrönung. Der
Kaiser saß auf einem Throne unter
einem Baldachin, zu jeder Seite ein König. Drei Pagen
trugen drei Kronen, die auf den Altar gelegt wurden.
Eiir Priester krönte die Monarchen. Dann ging's im
feierlichen Zuge, Edle und Volk mit grünen Zweigen in
der Hand, durch die Straßen nach der Kirche des heili-
gen Franziskus, unter den Klängen des Dudelsacks. Der
Stiftsherr empfing sie und theilte Sträuße an die Edlen
aus, die mit drei auserlesenen, schönen und tugendhaften
Jungfrauen tanzten. Diese erhielten eine anständige Aus-
steuer von der Gemeinde. Eine Speisung der Armen
schloß die Feier. — Auf den Azoren nun hat jedes noch so
kleine Dorf auf dem Hauptplatze ein „Theatro", eine offene
Halle, hier und da, namentlich aus Terceira, ziemlich
luxuriös, unter Umständen aber so unscheinbar, wie ich eins
zeichnete (s. Abbildung), lediglich für dieses Nationalfest,
das freilich viel vom alten Glanze verloren hat. Vorher
schon durchziehen phantastisch aufgeputzte Leute, die „Foliöes"
(Dudelsackpfeifer), unter Musik und näselndem Gesäuge die
Straßen und erbetteln von Haus zu Haus Beiträge für die
Feier. Im Theater wird der Kaiser, ein Junge von acht
bis zwölf Jahren, gekrönt, die Könige sind weggefallen.
Dieser kleine Votivtempel, wie ihn Walker mit Recht
nennt, ist am Trinitatissonutage mit Blumen und Fahnen
prächtig geschmückt, Tische mit Fleisch, Brot und Früchten,
mit Blumensträußen geziert, stehen am Wege davor, die
Straße ist mit stark duftenden Blüthen und Blättern be-
streut. Der Dorfpriester segnet die Gaben, die nun an die
Armen vertheilt werden. Daun wird durch allgemeine
Abstimmung der Kaiser für das nächste Jahr gewühlt
nebst einem Hofstaat, in dem der „mordomo do fogo“,
der Oberfeuerwerker, eine wichtige Rolle spielt, denn ohne
viel Raketengeknatter verläuft hier kein echtes Volksfest.
Gegen Abend geht der Kaiser nach Hause in vollem Staat,
unter den Klängen einer martialischen Musik; die Krone
wird ihm auf silbernem Teller vorangetragen. Vier Foliöes
gehen voraus und tragen das rothe Banner mit der Krone
und einer weißen Taube darüber, Fackelträger folgen. Vor-
der Hütte des Kaisers wird auf hohem Altar die Krone
deponirt, die Fahne wird bei Seite gelegt, es beginnt der
„balho“. Mancherlei lokale Variationen kommen vor, hier
und da gesellt sich eine Kaiserin hinzu, die mit ihren
Ehrendamen zwischen zwei Reihen weißgekleideter Jung-
frauen majestätisch einherschreitet. Das Fest wird in so
hohen Ehren gehalten, daß manche Familie, um nur den
Kaiser mit dem nöthigen Glanz auftreten zu lassen, sich an
den Bettelstab brachte.
Ein anderes Fest alten Ursprungs wird in der Haupt-
kirche von Ponta Dclgada gefeiert, „a f'esta da pombinha“,
das Täubchenfest. Als im März 1672 der auch in Europa
beobachtete Komet aus den Azoren sichtbar wurde, erhob
sich großes Entsetzen, denn man fürchtete schweres Unglück
bei diesem sichtbaren Zeichen des göttlichen Zornes. Das
Verhängniß voll zu machen, brach
ein paar Tage darmlf eine cholera-
artige Epidemie in der Stadt aus,
die so wüthete, daß die Kirchhöfe
nicht mehr zureichten. Viele Pro-
cessionen wurden veranstaltet und eine
religiöse und wohlthätige Brüder-
schaft gegründet, die „irmandade da
misericordia“. Sie begann ihre
Wirksamkeit mit einem feierlichen
Umzuge durch die Vorstädte, unter
den Klängen einer lauten Trommel,
das Fieber auszutreiben. Kaum
hatte die Procession die Kirche ver-
lassen, als — die Krankheit ver-
schwand. Am Ostermontag wurde ein Dankgottesdienst ab-
gehalten, die Kirche war gedrängt voll. Da plötzlich rauschte
eine Taube durch das Gotteshaus und ließ sich auf dem
Hauptaltar nieder. Der Priester war der Situation ge-
wachsen, er segnete sie und pries sie als Zeichen, daß Gottes
Zorn gewichen. Jeden Ostermontag wird seitdem das Fest
gefeiert und — jedesmal erscheint die Taube.
Von Zeit zu Zeit vereinigen sich noch Leute zu einer
Procession um die ganze Insel S. Miguel, um alle Kapellen
der Mutter Gottes zu besuchen (para correr as casinhas
da Nossa Senhora). Das Haupt verhüllt, beten sie eifrig
ihr Ave Maria.
1864 wurde erst eine derartige andere Procession
unterdrückt, das grausamste Ueberbleibsel aus dem Mittel-
alter, „a processäo dos tergeiros“. Sie ging von der
Kapelle von „Nossa Senhora dos Dores“ aus. Voran
trug man die lebensgroßen Figuren des heiligen Francis
in seinen verschiedenen Leiden, es folgten die Büßenden,
„Maroccos“ vom Volke genannt, im groben Büßerhemde,
über den ganzen Kops eine Kappe, nur mit Löchern für
Mund und Augen, auf der Schulter ein schweres Kreuz,
in der Hand die Geißel, um von Zeit zu Zeit Halt zu
machen und den Rücken zu peitschen.
Handelt es sich hier um eine Sitte, die früher in katho-
lischen Ländern sehr verbreitet war, so fehlt cs doch S. Miguel
auch an eigenen Heiligen nicht. Am bekanntesten ist die
Theatro.
Dr. Heinrich Simroth: Die Bevölkerung der Azoren.
377
„8enbora da Lapinha“, mit deren Legende es eigentlich
eine sehr profane Bewandtniß hat. Eine Frau konnte mit
ihrem Manne nicht in Frieden leben und entwich schließlich
in einen Weinberg. Sie blieb verschollen, bis endlich ein
Jäger die zum Skelet gewordene Leiche in einer Grotte
fand. Werkzeuge deuteten daraus hin, daß sie hier ihr
Brot gebacken, also dauernd gehaust habe. Seitdem wird
sic dort verehrt. Vor einigen Jahren brachte sie der Be-
sitzer des Grundstücks in ein geeignetes Häuschen, aber
über Nacht war sie wieder an den alten Ort versetzt, Grund
genug zu erneuerter und erhöhter Heiligkeit.
Von kindlicher Harmlosigkeit zeugt das Marienbild in
Agoa da Pao, das mit dem rothen Bande des Christus-
ordens geschmückt ist. Ein Einwohner, der für seine Helden-
thaten in Indien den Orden erhalten sollte, bat, Nossa
Senhora zu dccoriren, weil sie ihm geholfen habe. Und so
geschah cs.
Die Naivetät, die sich in der Geschichte kund giebt,
steigert sich noch betreffs des größten Wundcrbildes, des
„Santo Christo" in der Kirche der „Esperan^a", ursprünglich
im benachbarten Nonnenkloster. Am fünften Sonntage nach
Ostern wird das Crucifix von Notabilitäten in Proeession
herumgetragen. Anfangs hatte es nur einen mit Edel-
steinen bedeckten Stab in der Hand, allmählich erlangte
seine Wnnderthätigkeit einen solchen Ruf, selbst in Brasilien,
daß es über und über mit Juwelen geschmückt werden konnte,
die einen Werth von beinahe zwei Millionen Mark reprä-
sentiren sollen. Es gelang bei der Säcularisirung der
Klöster 1832, den Schatz vor der Confiscation zu retten,
und das Volk versichert mit großer Ueberzeugung, daß die
Regierung nie wagen werde, das Heiligthum anzutasten,
sollen doch selbst die Mauren ihm ihre Spenden gebracht
haben. Die Gewalt des Bildes muß aber eine sehr große
sein; denn einmal stieg es Nachts von seiner Nische herab
und stemmte sich gegen die Kirchenthür, um das Eindringen
von Dieben zu hindern, ein andermal bediente cs sich einer-
eindringlichen Kolik, um von einer saumseligen Dame den
gelobten silbernen Leuchter einzutreiben.
Verliebten dient der „Santo Christo" znm Orakel.
Wenn ein Mädchen wissen will, was ihr ferner Liebhaber
noch von ihr denkt, dann geht sie, leise betend, in später
Abendstunde nach der Esperan^akirche, wenige Schritte hinter
ihr folgt eine Freundin. Beide lauschen, was sie zufällig
von den Passanten ans der Straße oder aus den offenen
Fenstern erhören können. Zn Hause theilen sie sich dann
die erlauschten Brocken mit und machen sich ihren Vers
daraus, gewiß ein originelles Liebesorakel.
Auch ein Reliquienhandel knüpft sich an das Wunder-
bild. Am meisten begehrt ist die „Medida do Santo
Christo", das Maß des heiligen Christ, ein Band, das fast
alle Familien besitzen und bei schweren Erkrankungen um
den Leidenden knüpfen, um ihn so sicher zu knriren.
Wie wo anders auch, verbindet sich überhaupt mit den
Heilungen mancherlei Aberglauben. Um Erysipclas zu
heilen, wird ein schwarzes Hündchen zur Ader gelassen oder
dcr Kamm einer schwarzen Henne, das Blut wird mit
Kürbisfleisch gemischt und auf die kranke Stelle gelegt;
nachher wird das Stück in den Schornstein gehängt und
nie wieder berücksichtigt. Auch Krampfadern kurirt man
sich mit dem Fleische eines kleinen Kürbisses, das man dann
einem Schweine vorwirft, von dem man aber nicht essen
darf. Hysterie heilt man, indem man Rautenblätter auf
den Leib legt, die aber nur dann wirksam sind, wenn der
Geruch der leidenden Person zuwider ist. Gegen den Husten
hilft ein Aufguß von Jmmortellenblüthen, die in gerader
Anzahl genommen werden müssen (die Species mag ich
übrigens nicht bestimmen).
Globus LII. Nr. 24.
An Besessene glaubt man ziemlich allgemein, und Furtado
erzählt von zwei berühmten Männern, die noch in den letzten
Jahren umherzogen und die Teufel anstrieben, mit Güte
oder Gewalt, durch Segen oder Ohrfeigen.
Noch tanzen Nachts die Hexen, noch werden die Todten
beschworen. Der Teufel läßt sich noch in Figura sehen.
Einer Frau erscheint er, als sie die Thür öffnet, als fein
gekleideter Herr, der ihr viel Geld giebt, aber bittet, daß sie
nicht hinsieht, wie er hinausgeht. Sie ist folgsam, wie sie
aber nach dem Gelde greift, sind's Scherben geworden.
Eine Freundin erklärt ihr die eigenthümliche Bitte, denn
der Teufel hat die Nippen offen und ein Licht dahinter;
das sollte sie nicht sehen. So betet sie denn ein Pater-
noster über den Scherben, und sie verwandeln sich wieder
in Geld. — Eine andere beschwört den Teufel, indem
sie schwarzes Zeug im Ofen verbrennt. Das alles in
jüngster Zeit.
Pilze werden verschuiäht als Tcufelsbrot (päo do diabo).
Ob man mit giftigen schlechte Erfahrungen machte?
Wie in unserem Kalender wohl noch die Nächte zwischen
Weihnachten und Neujahr eine prophetische Bedeutung haben,
so erblickt man auf den Azoren in den letzten 12 December-
tagen das Abbild der Monate des künftigen Jahres. Wäh-
rend aber bei uns die Bauernregel selbst dem Landvolke
wohl allgemein für veraltet gilt, so werden dort mit Mais,
Weizen und Bohnen in der wichtigen Zeit Keimversuche
gemacht, und je nachdem sie ausfallen, regulirt sich die
künftige Ernte. Die praktische Folge beweist nur zu oft
die Wahrheit der Prophezeiung. Denn wenn die Vorzeichen
schlecht waren, geht der Bauer mißmnthig ans Werk und
macht nicht die geringste Anstrengung, etwaiger Witterungs-
ungunst durch zweckentsprechendes Eingreifen entgegenzu-
wirken.
Auf S. Miguel lebt auch eine Art Vinctasage in
anderer Färbung, die Sage nämlich von verzauberten Inseln.
Sie soll den übrigen Azoren fehlen, oder sich doch auf ihnen
nicht erhalten haben. Im Nordosten erscheinen Nachts
einige weiße Inseln, eben die verzauberten. Auf S. Maria
erscheint dafür ein Ritter, weil sie, wie alle weiblichen
Inseln, früher verzaubert war, ihr Zauber aber gelöst
ist. Die weißen Inseln aber hoffen, daß S. Maria
wieder verzaubert werde, um dann auch ihren Zauber zu
brechen.
Mehrere Sagen knüpfen sich an die Johannisnacht,
wie sie auch bei uns, doch mehr märchenhaft, in verschiedenen
Gegenden im Schwünge sind. In dieser Nacht treibt ein
Farnkraut, „o feto de 8. Joao“ (Osmunda regalis),
eine wunderschöne Blume, welche noch Niemand sah, welche
aber dem Glücklichen, der sie zu pflücken vermöchte, große
Schätze verschaffen würde. Wer sie am leichtesten brechen
könnte, wäre ein Priester, der im vollen Ornate, wie zur
Messe, um Mitternacht auf die Suche ginge.
Autoren sind mehr bei einer anderen Johannisblume
interessirt, die überhaupt den allergrößten Ruf wunderbarer
Kräfte genießt und auch in deutschen Sagen wiederkehrt.
Der Baldrian, „a boliana“, ist eine zum Glück unentbehr-
liche Pflanze. Doch dazu liebt sie die Gesellschaft dreier-
anderen Blumen und man muß sie täglich mit folgenden
Versen anreden:
Bons dias, minlia menina! Guten Morgen, meine Kleine,
Como passastes a noite ? Wie brachtet die Nacht du zu?
Nu comigo e eu sem ti, Du mit mir, ich ohne dich,
e tu no coragao d’outro. In meinem Herzen du.
Boliana minlia amiga, Baldrian, meine Freundin,
Verbasco teu companheii-o, Königskerze, ihr gesellt,
bas' pedir ao meu amor Bitte du meine Liebe,
que me de muito dinheiro. Sie schenke mir recht viel Geld.
48
378 Otto Gene st: Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete der Giljakcn und auf der Insel Sachalin.
Wenn man den Baldrian begießt, muß man sagen:
A agua que vexn da serra, Das Wasser, das vom Berge
Vem de regar os craveiros; Es tränkte die Nägelein, s kommt
Barndern te venho aguar, So will ich dich begießen,
Minha nobre cavalheira. Du edle Dame mein.
Man muß sic mit goldenem Faden pflanzen und darf
sie nur durch Kauf oder Diebstahl erwerben (wie wohl auch
bei uns „gestohlene" Senker besser fortkommen). Leute,
die auswandern, nehmen Baldrianblätter mit sich. Der
gelungenste Glaube aber ist der, daß die Pflanze alle sieben
Jahre in der Johannisnacht eine Blüthe treibt, genau von
der Gestalt einer Gänsefeder (zum Schreiben). Um sie zu
pflücken, muß man um Mitternacht ausgehen, mit ver-
bundenen Augen; beim Abschneiden stößt dann die Blume
einen Schrei ans. Schon mancher Schriftsteller soll einer
solchen Feder sein Glück verdanken.
Wenn die Blume welkt, trotzdem daß sie mit den drei
Genossen zusammensteht, dann gefällt ihr der Ort nicht,
denn sie ist wählerisch, als eine verzauberte Königin.
Buhldirnen treten über die Pflanze, drehen sich im
Kreise und singen besondere Weisen; aber singen müssen
sie, sonst wird sie traurig.
So wird in der That der Baldrian eine Art National-
blume. Den Vergleich mit anderen Versionen der Sagen
an anderen Orten mögen Kenner ziehen! Hier genügt
es wohl, darauf hinzuweisen, wie sich ein alter Schatz von
Legenden und Aberglauben in dieses ferne Refugium zurück-
gezogen und dort erhalten hat. Gewiß ließe noch ein
größerer sich heben. — — —
Am Schlüsse meines Azorenberichtes angelangt, habe
ich des Lesers Geduld, die mir etwa bis hierher gefolgt
sein sollte, in mehr als einer Hinsicht um Nachsicht zu
bitten; nur zu oft inußte ich, leider, mit einem „relata
refero“ aufwarten, und wo eigene Ansicht hervortrat,
konnte schwerlich in achtwöchentlichem Aufenthalte ein wissen-
schaftlich gesichertes Urtheil herausspringen, weder wenn
gelegentlich einer Tagestour der einsamen Kraterseen Be-
wohner flüchtig erhascht wurden, noch wenn des Bodens
Beschaffenheit und Reichthum in ungünstigem Lichte er-
schienen, bei trockenster Jahreszeit, noch wenn daraus ein
Schluß auf die volkswirthschaftlichen Verhältnisse zu folgen
schien. Die vorstehenden Aufsätze sind und wollen nichts
anderes sein als — Reiscciudrücke, noch dazu eines Erst-
lingsrciscnden.
Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete der Giljakcn und ans der
Insel Sachalin.
Von Gymnasiallehrer Otto Genest.
I.
An Jakobsen's ersten Aufenthalt im Laude der Golden
(vergl. Nr. 10 des laufenden Bandes dieser Ztschr. S. 153)
schloß sich eine Reise in das Gebiet der Gilsaken an, welches
er passiren mußte, um Nikolajewsk zu erreichen. Zum
zweiten Male berührte er dann dasselbe Gebiet, als er, von
Sachalin zurückgekehrt, Ende Januar 1885 seine Reise
den Amur aufwärts nach dem llssurl und nach Nordkorea
begann. Beide Male hatte er nur wenig Zeit zur Ver-
fügung, denn tut September 1884 mußte er eilen, um
baldmöglichst Nikolajewsk zu erreichen und eine Uebcrfahrts-
gelegenheit nach Sachalin anzutreffen, tut Januar 1885
aber strebte er mit aller Kraft dem Abschlüsse seiner Thätig-
keit zu, weil er in Sachalin, durch die Verhältnisse gezwungen,
sehr viel Zeit verloren hatte und deshalb fürchtete, die Reise
zu lange ausdehnen zu müssen, wenn er sich mit dem ein-
gehenden Studium der Giljakcn noch aufhielte. Es ist daher
erklärlich, daß die von ihm im Giljakengebiete veranstalteten
Sammlungen den im Goldenlande gemachten an Reich-
haltigkeit weit nachstehen, und daß auch die Nachrichten,
welche er aus eigener Anschauung oder durch Erkundigung
über die Giljakcn sammeln konnte, nur ein wenig deutliches
Bild von dem Leben und Treiben dieses Volkes liefern.
Leider hatte er auch nur wenig Gelegenheit, die auf Sachalin
wohnhaften Vertreter des Giljakenvolkes kennen zu lernen
und dadurch die Lücken seines Berichtes auszufüllen. Trotz-
deni bieten die Aufzeichnungen seines Tagebuches auch über
dieses merkwürdige Volk manches Interessante dar, nament-
lich aber ist es von Werth, daß cs ihm vergönnt war, in
dem Giljakendorfe Waide oberhalb Nikolajewsk einem
Bürenfeste beizuwohnen, dessen Verlauf er genau beschrie-
ben hat.
Die Giljakcn, von Rittich I als Hyperboräer oder
Arktiker, von Peschcl^) als Nordasiaten tiou unbestimmter
systematischer Stellung bezeichnet, unterscheiden sich in Be-
ziehung ans die Sprache sicher von den ihnen benachbarten
Golden, während sic im Körperbau nur wenig von ihnen
abweichen. Nach Photographien, welche der Reisende an
Ort und Stelle erworben und mitgebracht hat, scheint der
Bartwuchs der Giljakcn etwas kräftiger entwickelt zu sein
als bei den Golden, ohne doch die Stärke zu erreichen,
welche er bei den Ainos aus Sachalin zeigt. Ursprünglich
haben sie vielleicht die Ufer des Amur bis zum Gorin auf-
wärts innegehabt, während jetzt die Südgrcnze ihrer Ver-
breitung etwa in einer Entfernung von 100 Werst oberhalb
Nikolajewsk liegt und ihr früheres Gebiet von dem in Nr. 10
dieses Bandes mehrfach erwähnten Ucbergangsvolke bewohnt
wird. Von der Insel Sachalin haben sie den nördlichen Theil
inne, doch begegnet man ihnen auch mitten unter den Ainos
im südlicheren Theile des Landes, wohin sie wahrscheinlich
als Arbeiter der Fischfang treibenden Japaner * 3) oder zum
Zwecke der Zobeljagd gelangt sind. Früher waren ihre
Niederlassungen an dem flachen Ufer der Insel gegenüber
der Amurmündung besonders zahlreich vertreten, doch waren
1) Die Ethnographie Rußlands. Ergänzungsheft 64 zu Peter
mann's Mittheilungen S. 13.
2) Peschel-Kirchhofs, Völkerkunde (5. Ausl.) S. 390 und
Anm. 7. Die Beobachtung Wenjukow's, daß die Sprache der
Giljakcn sich von derjenigen der Tungusen wesentlich unter-
scheidet, bestätigt Jakobsen durchaus; daher die Fassung des
Textes.
3) Ueber die auf Sachalin Fischfang treibenden Japaner
wird noch unten zu redeiJsein. Giljakcn traf Jakobsen sogar
am Aniwa-Busen.
Otto ©niest: Kapitän Jakobsen's Reißen im Gebiete der Giljaken und auf der Insel Sachalin. 379
dieselben zu der Zeit, als Jakobsen diese Küstenstrecke
passirte, verschwunden, weil die ehemals dort wohnenden
Giljaken vor den Mißhandlungen der nach Sachalin über-
führten Sträflinge die Flucht ergriffen hatten. Jedenfalls
aber hatten sie in der Nähe ihrer früheren Wohnsitze neue
Ansiedlungen errichtet, denn der Reisende begegnete einer
großen Anzahl von Booten, deren giljakische Insassen im
Sunde dem Fischfänge oblagen I. Ueber die Zahl der
Giljaken läßt sich ebenso wenig eine bestimmte Angabe
machen wie über die der Golden; Rittich schützt sie ans
3000 Köpfe. Am Amur fand Jakobsen eine ziemlich
große Menge von Dörfern; auf Sachalin hingegen waren
sie weil seltener.
Die Giljaken sind wie ihre Nachbaren Fischer und
Jäger; nur hier und da treiben sie auch Handelsgeschäfte,
indem sie unter anderem den Bewohnern von Sachalin für
den Fall, daß unter ihnen Mangel an Lebensmitteln
herrscht — und dieser Fall tritt ziemlich häufig ein —
Fische und Mehl vom» Festlande zuführen. Ihren Haupt-
beschäftigungen gemäß bringen sie den Sommer an den
Flnßnfern zu, während sie im Winter ins Gebirge wandern
und die Wälder durchstreifen. Ob sie auch ähnlich wie die
Golden besondere Sommer- und Winterwohnnngen haben,
vermag ich nicht mit Sicherheit anzugeben, glaube es aber
nach den Andeutungen Jakobsen's annehmen zu dürfen,
welcher im Januar 1885 bei seiner Rückkehr aus Sachalin
in der Nähe der Amurmündung Giljakendörfer fand, welche
aus ganz ähnlichen Häusern bestanden, wie ich sie als
Winterwohnnngen der Golden beschrieben habe. Die für
diese charakteristischen mächtigen Oefen aus Lehmsteinen und
die durch Röhren erwärmten Bänke an den Wänden waren
auch hier vorhanden. Andererseits fand allerdings der
Reisende oberhalb Nikolajewsk im September 1884 auch
eine ganze Reihe von giljakischen Dörfern, welche eine be-
trächtliche Strecke vom Flußufer entfernt lagen, während
die goldischen Sommerniederlassnngen in ihrer Eigenschaft
als Fischerdörfer hart am Strome zu liegen pflegten. Man
könnte daraus vielleicht den Schluß ziehen, daß diese Giljaken-
dörfer eben nicht bloß den Charakter von Fischerdörfern für
den Sommer trugen, sondern während des ganzen Jahres
als Aufenthaltsort dienten, wenn man nicht annehmen will,
daß die Giljaken durch das theilweise versumpfte und daher
ungesunde Ufer zum Zurückweichen aus der nächsten Nähe
des Stromes im Sommer gezwungen worden sind. In
Sachalin übrigens war von größeren Wohnungen der
Giljaken wie den oben erwähnten keine Spur vorhanden,
vielmehr waren die Hütten nur klein und halb unterirdisch,
so daß sie eine gewisse Aehulichkeit mit den Behausungen der
Eskimos in Labrador und Alaska hatten. Sie bieten für-
europäische Reisende einen wenig beneidensmerthen Aufenthalt
dar, denn bei der Enge des Raumes in denselben kann man
einer Annäherung an die Bewohner und der damit ver-
bundenen Gefahr, in Kurzem von einer Menge von Ungeziefer
gequält zu werden, kaum entgehen, andererseits aber ist der
Dunst, der in diesen Hütten in Folge des Beisammenseins
vieler Menschen, des Aufenthaltes der Hunde, der mannig-
fachen zum Trocknen oder Räuchern aufgehängten Vorräthe,
des Rauches, der nur schwer einen Ausweg findet, entsteht,
kaum erträglich. Besser sind die großen Häuser ans dem
Festlande gestellt, doch haben auch sie große Mängel; nament-
lich giebt es in ihnen eine staunenswerthe Menge von Mäusen,
welche fast die Größe von Ratten erreichen und so frech
i) In allen diesen Booten befanden sich auch mehrere
Hunde, welche, wenn neben der starken nordsüdlichen Strömung,
welche im Tatarensunde herrscht, auch der Wind den Fischern
entgegen ist, an das Land gesctst werden, um das Boot vorwärts
zu ziehen.
sind, daß sie die Kleider anfressen, welche die Bewohner auf
dem Leibe tragen, und sogar die Finger der kleinen Kinder
anzunagen Pflegen, wie Jakobsen erzählt wurde.
Die Kleidung der Giljaken männlichen und weiblichen
Geschlechtes gleicht im Allgemeinen der bei den Golden
gebräuchlichen, anch werden dieselben Stosse, nämlich Fisch-
haut, Felle und chinesische oder russische Zeuge, zu ihrer
Herstellung verwendet. Das bei den goldischen Frauen ge-
bräuchliche Gehänge (s. oben Nr. XI, S. 173) findet sich
bei den Giljakinnen nicht, überhaupt scheinen die letzteren
weniger auf Zierlichkeit als auf Dauerhaftigkeit bei ihrer
Kleidung zu sehen. Der eigenthümliche Gürtel, welchen
nicht nur die Golden, sondern auch das früher mehrfach
erwähnte Uebergangsvolk tragen, ist auch bei den Giljaken
im Gebrauche, und zwar mit denselben Anhängseln wiedort;
erwähnt aber mag gleich an dieser Stelle werden, daß neben
Stein und Stahl zum Anzünden des Feuers hier auch schon
Zündhölzer in theils selbstgesertigten, theils von den Russen
überkommenen Dosen im Gebrauche sind. Anch die Be-
waffnung der Giljaken ist dieselbe wie die der Golden.
Bogen und Pfeile, Messer und Lanzen findet man bei ihnen
überall noch im Gebrauche, und die letztgenannte Waffe er-
scheint nicht selten in schön gearbeiteten Exemplaren mit
eingelegten Figuren von Silber oder Kupfer. Zum Fisch-
fänge bedienen sie sich selbstgesertigter Netze, Angelhaken und
harpnneuartiger Instrumente, welche bisweilen drei bis Vier-
Zinken besitzen. Zur Fortbewegung auf denn Wasser dienen
entweder größere Kähne oder kleinere Nachen ans Birken-
rinde, welche den Namen Amerotscha führen; zu Lande aber
reisen sie im Winter mit schmalen Schlitten, vor welche
8 bis 10 Hunde gespannt werden. Daher findet man
ebenso wie in den Dörfern der Golden auch in den Nieder-
lassungen der Giljaken eine Menge von Hunden, welche
höchst bissig und für den Fremden unter Umständen geradezu
gefährlich sind.
Bei dem kurzen Aufenthalte, welchen Jakobsen bei den
Giljaken genommen hat, war es ihm natürlich nicht möglich,
sich ein Urtheil über ihren Charakter zu bilden; immerhin
aber reichen seine Erfahrungen doch aus zur Aufstellung
der Behauptung, daß die Giljaken nicht weniger
abergläubisch sind als ihre Nach bar en. Die
Amnlete *) gegen Krankheiten, welchen man bei den Golden
so häufig begegnet, sind auch hier durchaus im Gebrauche
und stimmen im Großen und Ganzen durchaus mit den
früher besprochenen (Nr. Xlll, S. 207) überein. Ebenso
zeigten sich Giljaken auf Sachalin, in deren Hause Jakobsen
einkehrte, im höchsten Grade entrüstet, wenn er mit brennen-
der Pfeife das Haus verließ oder wenn seine Begleiter das
in der Hütte angezündete Feuer durch Aufgießen von Wasser
löschten, denn nach ihrer Meinung waren derartige Dinge
geeignet, nicht nur über die Bewohner der einen Hütte,
sondern über den ganzen Stamm das Verderben herauf-
zubeschwören. Denselben Erfolg sagten auch die Bewohner
eines Hauses in dem Dorfe Warki unterhalb Nikolajewsk
voraus, als Jakobsen Anstalten machte, behufs der Thee-
bereitung ein Feuer anzuzünden, und zwangen ihn zu warten,
bis die Hausfrau dieses Geschäft besorgte, der es nach ihrer
Meinung allein zustand. Offenbar hat diese Handlungs-
weise in der Heilighaltnng des Feuers ihren Grund, die
i) Bemerkt sei bei dieser Gelegenheit, das; die giljakischen
Jungfrauen Nephritringe als Amulete auf der Brust tragen und
durch kein noch so hohes Angebot zu bewegen sind, dieselben zu
veräußern. Trotzdem hat der Reisende einen solchen von einem
alten Giljaken erworben, der ihn jedenfalls gestohlen hatte,
aber nicht wagte, ihn Jakobsen im Dorfe selbst anzubieten,
sondern diesen auf dem Flusse aufsuchte, um das Geschäft ab-
zuschließen. Der Reisende glaubte in diesem Falle sein Gewissen
zum Schweigen bringen und auf den Handel eingehen zu dürfen.
48*
380 Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete der Giljaken und auf der Insel Sachalin.
zwar bei den Golden und Giljaken nicht mehr bis zur
Personifikation desselben in einen Feucrgott fortschreitet,
aber bei ihnen gewiß ebenso gut einst vorhanden gewesen
ist, wie sie bei den Burjaten noch heute existirt.
Die Götterwelt der Giljaken giebt derjenigen der
Golden an Mannigfaltigkeit nichts oder nur wenig nach,
Menschen- und Thiergestalten dienen tut bunten Wechsel
zur Darstellung überirdischer Wesen. Auch hier ist eine
weitgehende Aehnlichkeit mit den religiösen Vorstellungen
der Golden vorhanden; der bedeutendste Unterschied scheint
mir der schon früher (XIV, S. 223) namhaft gemachte zu
sein, daß die Golden dem Tiger, die Giljaken aber dem
Baren eine eifrige Verehrung zollen. Allerdings wird diese
Verehrung den Bären verhängnißvoll, da es gilt, stets eine
Anzahl dieser Thiere in den in jedem Dorfe vorhandenen
Käfigen gefangen zu halten, um sie, nachdem man sie längere
Zeit vermittels eigens zu diesem Zwecke gefertigter und
mit kunstvoller Schnitzerei verzierter großer hölzerner Löffel
reichlich gefüttert hat, endlich bei einem Bärenfeste zu tödten.
Diese Bärenfeste pflegen im Spätherbst und Winter ab-
gehalten zu werden und sind eine Angelegenheit von aller-
höchster Wichtigkeit für die Feiernden. Die Beschreibung
des Festes, welchem Jakobsen beizuwohnen Gelegenheit hatte,
lasse ich hier folgen.
Am 7. Februar 1885 traf der Reisende am frühen
Morgen in dem etwa 30 Werst oberhalb Nikolajewsk ge-
legenen Giljakendorfe Waide ein, wo, wie man ihn benach-
richtigt hatte, an diesem Tage ein Fest stattfinden sollte.
Von mehreren anderen Dörfern, welche zum Theil ziemlich
weit entfernt lagen, waren schon Gäste in Menge ein-
getroffen, und der ganze Ort war in vollster Bewegung
im Hinblick auf die bevorstehende Feier. Die Ansetzung
eines Bärenfestes liegt in der Hand des Dorfältesten,
welchem auch die Bestimmung darüber zusteht, wie viele
und welche Bären unter Zustimmung ihrer Eigenthümer
getödtet werden sollen, denn nicht das Dorf als solches,
sondern einzelne Einwohner desselben sind Besitzer der ge-
fangenen Thiere. Nachdem die Einigung über diesen Punkt
erzielt ist, werden die zur Schlachtung in Aussicht genomme-
nen Thiere mehrere Wochen vor dem festgesetzten Termine
von Haus ztt Haus geführt und müssen in jedem der
letzteren eine Nacht zubringen, um ihm und feinen Be-
wohnern durch ihren Aufenthalt Glück zu bringen. Während
dieser Zeit erhalten die Thiere nur wenig Futter, am Ende
derselben jedoch werden sie für ihr unfreiwilliges Fasten
dadurch eutschädigt, daß man sic eine Nacht hindurch von
Haus zu Hans führt und mit den besten Leckerbissen be-
wirthet, nämlich mit frischen und getrockneten Fischen, Beeren
und einer aus Hirse bereiteten dicken Grütze.
Während dieses Nundganges durch das Dorf werden
die Bären, welche man entweder als Junge im Walde fängt
oder in schon erwachsenem Zustande von den auch im
Giljakengebiete ziemlich zahlreich vorhandenen Chinesen und
Mandschuren kauft, durch Stiche gereizt und durch eine mit
Lanzen auf sie eröffnete Scheinjagd zur Wuth gebracht.
Natürlich ist man vorsichtig genug, die Thiere so zu fesseln,
daß sie ihren Peinigern nicht leicht beikommen können. Es
wird ihnen nämlich dicht hinter den Vorderbeinen ein Gurt
um den Leib gelegt, an welchem Ringe angebracht sind,
durch die eiserne Ketten laufen. An diesen Ketten wiederum
sind dicke Riemen aus Seehundsleder von ziemlicher Länge
so befestigt, daß die einen nach vorn, die anderen nach hinten
gehen. Indem nun eine Anzahl von Giljaken diese Riemen
fassen, sind sie int Stande, den Bären, je nachdem er vor-
wärts oder rückwärts gewendet auf seine Führer eindringen
will, durch wechselseitiges festes Anziehen völlig zum Still-
stehen zu zwingen.
Außerhalb des Dorfes befindet sich eine Art von Gehege,
welches aus starken Weidenstäben hergestellt ist, und in das
eine Allee, die mit ähnlichen Weidenstäben zu beiden Seiten
eingefaßt ist, hineinführt. Innerhalb dieses Geheges wird
der Bär, nachdem er seinen Ruudgang durch das Dorf
beendigt hat, zwischen zwei Baumstämmen festgebunden und
einige Zeit hiitdurch sich selbst überlassen, während die
Bewohnerschaft des Dorfes sich an einem Huudewettrenncn
belustigt, das bei diesen Festen fast nie zu fehlen pflegt.
Auch in dem von Jakobsen besuchten Dorfe gab es in der
Nähe des Stromes eine eigens zu diesem Zwecke ein-
gerichtete Bahn, welche jedoch nicht sehr lang war. Nach-
dem die Hunde von ihren Eigenthümern an der Leine in die
Bahn geführt und neben einander aufgestellt worden waren,
wurden sie in Zwischenräumen non einigen Sekunden los-
gelassen, trafen aber fast alle gleichzeitig am Ziele ein.
Uebrigens handelt cs sich bei diesem Wettrennen nicht um
die Gewinnung von Prämien, welche überhaupt nicht
existiren, sondern man könnte dasselbe als ein Verkaufsrennen
bezeichnen, denn es dient dazu, die guten Eigenschaften der
Hunde in das rechte Licht zu setzen und die Kauflust zu
erregen. Denselben Zweck hat das Schlittenrennen, welches
bei dieser Gelegenheit ebenfalls abgehalten zu werden pflegt.
Es kommt bei diesem nicht sowohl darauf an, daß die
Zughunde eine hervorragende Schnelligkeit beweisen, wie
sich daraus ergiebt, daß zur Zeit nur immer ein Schlitten
die Bahn durcheilt, sondern vielmehr handelt cs sich um die
Sicherheit, mit welcher das Gespann, und besonders der
Leithund desselben, den vorgeschriebenen Weg verfolgt.
Solche Leithunde, welche sich als besonders zuverlässig er-
weisen, und dazu gehört vor allem, daß sie die Zurufe des
Lenkers genau verstehen und befolgen, sind bei den Giljaken
sehr geschützt und werden mit 30 bis 60 Rubeln bezahlt.
Interessant war cs mit anzusehen, wie sich einige der Giljaken,
welche die Bahn umstanden, auf die an ihnen mit einer
Geschwindigkeit, welche fast derjenigen eines Schnellzuges
gleicht, vorbeifahrenden Schlitten warfen, um die Fahrt
mitzumachen. Einigen gelang der Versuch recht gut,
andere hingegen wurden von dem dahinsausenden Schlitten
eine Strecke fortgeschleudert und erlitten zum Theil heftige
Verletzungen, die sie jedoch trotz ihrer Schmerzen und des
Spottes ihrer glücklicheren Genossen mit dem besten Humor
ertrugen.
Nach Beendigung des Rennens begab sich der ganze
Menschenhaufen, dem sich natürlich der Reisende stets eng
anschloß, in das oben genannte Gehege zurück und machte
den Bären aus seinem Gefängniß los. Dann führte die
gesammte männliche Bevölkerung von Waide, zusammen
mit den fremden Gästen im Ganzen mehr als 100 Personen,
den Bären den Hügel hinab, auf welchem sich das Gehege
befand, nach dem Dorfe zu. Auf diesem Wege zog die
eine Hälfte den Bären an den erwähnten Riemen vorwärts,
da er Miene machte, nicht mehr gutwillig seinen Peinigern
zu folgen, während die klebrigen an den nach hinten gehenden
Riemen gewissermaßen steuerten. Dabei vollführte die
Gesellschaft einett fürchterlichen Lärm. Bald riefen sich die
beiden Parteien Verhaltungsmaßregeln zu, bald stürzte
unter dem Gelächter seiner Genossen der eine oder andere
in den tiefen Schnee und wurde von den Nachfolgenden in
unbarnthcrzigster Weise getreten und gestoßen, ohne daß er
sich doch dadurch die Lauue hätte verderben lassen, bald
wieder machte der Bär den Versuch, einen seiner Peiniger
mit den Zähnen und Tatzen zu packen, und mußte immer
ein schallendes Hohngelächter über sich ergehen lassen, wenn
ihm sein Plan nicht gelang; kurz es war eine im höchsten
Grade bewegte Scene, die sich hier vor den Augen des
Reisenden abspielte. Als man in das Dorf gelangt war,
Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete der Giljaken und auf der Insel Sachalin. 381
wurde zunächst vor dem Hause Halt gemacht, in welchem
der Bär die letzte Mahlzeit am Abend vorher genossen
hatte. Hier war an einem Gestell vor der Thur ein etwa
3 in langer Balken so befestigt, daß er vertikal bis zu einer
Höhe von etwa 1 in über dem Erdboden herab hing.
Neben ihm standen 6 bis 8 Mädchen und Frauen, welche
mit keulenartigen Stöcken versehen waren und im Takte
gegen den Balken schlugen, indem sie auf zwei langsame
immer einen schnellen Schlag folgen ließen, ohne jedoch
diese Thätigkeit mit Gesang zu begleiten. An diesen Frauen
wurde der Bär langsam vorübergeführt, und dann so auf-
gestellt, daß sein Kopf nach dem Hause hingewendet war,
als ob er die Stelle noch einmal recht deutlich ins Auge
fassen sollte, wo er von den Bewohnern des Dorfes die letzte
Nahrung erhalten hatte. Nach ganz kurzem Aufenthalte zog
man ihn dann weiter an das Ufer des Flusses herunter,
und zwang ihn, auf dem Eise bis ungefähr in die Mitte
des Stromes zu gehen. Darauf kehrte die ganze Schaar
in das Dorf zurück und wandte sich zu dem Hause, welches
der bisherige Besitzer des Bären bewohnte. Hier wartete
des Thieres ein ganz ähnlicher Empfang, wie der oben
beschriebene, doch zwang man an dieser Stelle den Bären,
seinen Kopf durch die Thür in das Innere des Hauses
hineinzustecken, und so gewissermaßen von seinem Herrn
und Ernährer Abschied zu nehmen. Dann wurde er von
Neuem in das Gehege geführt und dort wie vorher ge-
fesselt.
Jetzt erst war der Augenblick gekommen, in welchem
der Bär fein Leben lassen mußte. Unter allgemeinem
Stillschweigen, welches zu halten auch dem Reisenden mit
feierlicher Miene geboten wurde, trat ein alter Giljake —
ob der Eigenthümer des Thieres oder nicht, giebt Jakobsen's
Bericht nicht an — aus der Menge hervor und ergriff
Pfeile und Bogen, welche schon für ihn bereit lagen. Dann
zog er langsam seine Unterjacke aus, umwickelte das linke
Handgelenk mit Lederriemen, um es durch das Anschlagen |
der Bogensehne nicht zu verletzen, und wählte mit vieler
Feierlichkeit und Umständlichkeit, die einen etwas komischen
Eindruck machte, einen Pfeil aus, den er aus den Bogen
legte. Zunächst schien cs, als ob er in die Luft schießen
wollte, denn er hob den Bogen, während er ihn spannte,
in die Höhe-, dann aber senkte er ihn wieder ganz langsam,
bis der Pfeil gerade auf das Herz des Büren gerichtet war,
und schoß ihn dann ab. Der Bär stürzte ans der Stelle
zu Boden, wälzte sich, soweit seine Fesseln das zuließen,
einige Male hin und her, und verschied nach einigen kurzen
Zuckungen, indem er damit bewies, eine wie sichere Hand
sich der Schütze trotz seines Alters noch bewahrt hatte.
Während dieses ganzen, ziemlich lange dauernden Vorganges
herrschte bei allen Giljaken, welche das Gehege umstanden,
eine athemlose Stille, welche einen um so feierlicheren Ein-
druck machte, als sie in so schroffem Gegensatze gegen den
vorher herrschenden geradezu ohrenzerreißenden Lärm stand.
Nachdem der Tod des Bären eingetreten war, kam sein
früherer Eigenthümer herbei und umarmte das Thier zärt-
lich wie einen lieben Freund, von dem er Abschied nehmen
wollte. Dann wurde eine Anzahl der Stäbe, welche das
Gehege bildeten, aus der Erde gezogen und ans den Boden
gelegt, um dem todten Bären als Lagerstätte zu dienen.
Später wird dann, wie dem Reisenden erzählt wurde —
denn den Ausgang des Festes abzuwarten, gebrach es ihm
an Zeit — das Thier in das Haus des Eigenthümcrs
geschleppt, dort auf ein Lager von Tannenzweigen wie aus
ein Paradebett niedergelegt und von den Theilnehmcrn des
Festes zum letzten Atale besucht. Nach zwei oder drei
Tagen wird ihm dann die Haut abgezogen und das Fleisch
unter die Gäste vertheilt, welche es sich wohl schmecken
ließen. Es liegt ein seltsamer Widerspruch in diesen
Bärenfesten. Ans der einen Seite verehrt man den Büren
als überirdisches Wesen, wie nicht nur seine Bilder, die als
Götzen und Amúlete dienen, sondern auch die zarten Auf-
merksamkeiten, welche man ihm während der Dauer seiner
Gefangenschaft darbringt, beweisen. Ebenso spricht dafür die
feierliche Art seiner Tödtung sowie das ceremoniöse Verfahren,
welches man bei der Behandlung der Leiche anwendet, und
ebenso der oben noch nicht erwähnte Umstand, daß man dem
Reisenden nicht gestattete, einen der Weidenstäbe, welche das
Gehege zusammensetzten und später dem todten Bären als
Lager dienten, mitzunehmen, was er um so lieber gethan
haben würde, weil sich dieselben auch durch geschmackvolle
Schnitzarbeit auszeichneten. Ans der anderen Seite aber
scheut man sich wiederum nicht, diesem als überirdisches
Wesen verehrten Thiere den Tod zu geben, und noch dazu
einen Tod, der nur der endliche Abschluß einer ziemlich bar-
barischen Quälerei ist. Eigenthümlich ist ferner auch der
Umstand, daß in dem ganzen Verlaufe des Festes, soweit
Jakobsen zu beobachten Gelegenheit hatte, der Schamane,
welcher doch fönst bei allen religiösen Verrichtungen der
Amurvölkcr eine so hervorragende Rolle zu spielen pflegt,
gar nicht sichtbar wurde. Welche Bewandtniß hat cs
weiterhin mit der Hinausführung des Bären auf das Eis
des Stromes? Sollte sich ans derselben etwa der Gedanke
ergeben, daß das Thier dem als Gott verehrten Strome
als Opfer angeboten werden soll? Und wenn wirklich,
welch' seltsame Idee, einen Gott dem anderen als Opfer
darzubringen und ihn dann noch zuletzt zu verzehren. Und
warum tödtet man denn den Bären nicht am Ufer des
Stromes und läßt wenigstens sein Blut in denselben hinab-
laufen, wie ja auch die Fischgötter seinen Fluthen anvertraut
werden? Was soll weiterhin dieses Opfer bewirken; welchen
Charakter trägt es? Haben wir uns unter ihm ein Dank-
opfer vorzustellen, das dem Segen und Nahrung spendenden
Strome dargebracht wird, oder ein Sühnopfer, mit welchem
derselbe freundlich gegen die Anwohner gestimmt werden
soll, weil die letzteren sich ihrer Abhängigkeit von ihm und
seiner Macht, ihnen Schaden zu bringen, wohl bewußt sind?
Im ersteren Falle sollte man voraussetzen, daß die Feier
möglichst dicht auf den Zeitpunkt folgte, in welchem der Fisch-
fang sein Ende erreicht, d. h. etwa in den September oder
Anfang des Oktober, während diese Feste vielmehr erst in
eine spätere Zeit fallen. Zu der zweiten Annahme wiederum
will der Umstand nicht recht passen, daß der Charakter des
Festes ein durchaus freudiger ist, wie die oben gegebene
Beschreibung nach meiner Meinung wenigstens beweist.
Dem widerspricht auch nicht die feierliche Stille, welche
während des tödtlichen Schusses und der Vorbereitungen zu
demselben herrscht, denn man braucht darin keineswegs den
Beweis von Ernst oder gar Trauer zu sehen, sondern es
genügt vollständig die Annahme, daß man es vermeiden
will, den Schützen durch geräuschvolles Benehmen unsicher zu
machen, und ihn so in die Gefahr zu bringen, daß er sein
Ziel verfehlt. Oder sollte etwa die Qual, welche man dem
armen Thiere vor seinem Tode noch auferlegt, ein Sinn-
bild des ernsten Charakters dieses Festes sein? Auch diese
Vorstellung scheint mir unvollziehbar, denn warum sollte
man ein Sühnopfer, das doch in seinem unschuldigen Tode
schon genügend zu leiden hat, noch obenein martern, wie
das hier geschieht; und macht denn nicht außerdem das
ganze grausame Verfahren gegen den Bären vor seinem
Tode den Eindruck, als ob es nur hervorginge aus der
übersprudelnden Festesfreude der Feiernden? Leider hat der
Reisende über die Bedeutung der beschriebenen Ceremonien
keine Andeutungen geben können, weil sie ihm die Giljaken
selbst nicht zu erklären im Stande waren. Sie feierten
382
Kürzere Mittheilungen.
das Fest, wie ihre Väter und Vorväter es gefeiert hatten,
ohne sich um den Sinn der einzelnen Handlungen weiter
den Kopf zn zerbrechen. Ebenso wenig aber waren auch
die Freunde Jakobsen's in Nikolafewsk in der Lage, ihm
über diesen Gegenstand ausreichende Aufklärung zu geben;
es wird also wohl noch häufigerer und eingehenderer Be-
obachtung bedürfen, als sie bisher vorliegen, ehe man hier
klar wird sehen können.
Zum Schlüsse noch eine unter den Giljaken verbreitete
Sage, welche Iakobsen von einem russischen Stations-
vorsteher hörte, der schon lange im Gebiete jener gelebt
hatte. Dieselbe lautet: Vor langer, langer Zeit erschien
von Osten her auf dem Amur ein kleines Schiss mit riesen-
starken Menschen von dunkler Hautfarbe. Dieselben stiegen
an das Land, überfielen die Dörfer, brannten dieselben
nieder, tödteten die Einwohner, deren sie habhaft werden
konnten, ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes und
fraßen sie auf. Ebenso verfuhren sie, den Strom aufwärts
segelnd, auch im Lande der Golden, bis sich endlich die
Ueberfallenen von ihrem Schrecken erholten, sich znsammen-
thaten und in großen Schaaren gegen den grausamen
Feind zn Felde zogen, der denn auch nach hartem Kampfe
besiegt wurde. Alle Kannibalen wurden getödtet und ihr
Schiff zerstört. Seit dieser Zeit, pflegen die Giljaken
hinzuzusetzen, sind keine fremde Menschen mehr von Osten
her an den Amur gekommen bis zu dem Punkte, wo die
Russen an der Mündung des Stromes erschienen, um das
Land in Besitz zu nehmen.
Kürzere Mi
Löß bei Samarkand.
Von Staatsrath Dr. O. Heyfelder.
Nach der Reise durch die Sandwüste Karakal, durch
das immerhin nicht üppige, wenn auch fruchtbare Bochara
und endlich über ein trockenes, ödes Hügelland zwischen
Katty-Knrgan und Samarkand ist der Reisende aufs Freu-
digste überrascht durch die üppige Vegetation und große
Fruchtbarkeit, welche Samarkand und dessen nächste Umgebung
auszeichnet. Schattige Doppelalleen umgeben alle Straßen
in und bei der Stadt, Reis, Tabak, Baumwolle neben Weizen,
Mais, Kartoffeln und Dschnpnra, gefolgt im Verlauf der
mehrfachen Ernten, gefolgt noch im Spätherbst von Gerste,
Rüben, gelben Rüben, Melonen und Wassermelonen, der
prächtige Baumschlag, die Mannigfaltigkeit der Arten von
Strauch und Baum, deren schnelles Wachsthum und
Produktivität lassen an und für sich schon ans einen nicht
gewöhnlich fruchtbaren Boden schließen. Dabei ist in einem
Lande, welches von April bis November eigentlich keinen
Regen kennt, der Wasserreichthum der Flüsse und die
gesetzmäßige Bewässerung von ganz entscheidendem Einfluß.
Durch den Genie-Hauptmann Keltschewsky mit der
Bodenbeschaffenheit näher bekannt gemacht, hatte ich Ge-
legenheit zn folgender interessanten Beobachtung.
Die Chaussee von Samarkand nach Taschkent führt aus
der neuen russischen Stadt durch die ältere sartische und über
die öde Stätte, wo die alte macedonische Stadt gestanden.
Wo sie sich zu einem Flußarm oder Arik, Namens Fseap
herabsenkt, durchschneidet sie ein Hügelland, welches sich eben-
falls gegen das Fscapthal zu verjüngt. Der breite Ein-
schnitt der Chaussee legt hohe massive Wände bloß, welche
aus gleichmäßig gefügtem, gelbbraunem Material bestehen,
dessen feiner Thon sich mit dem Fingernagel ritzen und
zwischen den Fingern wie Mehl zerreiben läßt. Von Fels,
Stein oder Kies keine Spur, aber auch keine Konglomerate
(Löß-Männchen). Auf den Durchschnittsflächen sind 2 Faden
und 6 Faden unterhalb der Oberfläche gleichmäßig geformte
Gräber zu Tage getreten. Deren Durchschnitt bildet eine
Ellipse von 11/2 Arschin Höhe, 1 Arschin Breite, mit lockerem
Erdreich und Gebeinen gefüllt. Die Wände des Grabes
bildet der regelrecht ausgeschnittene Löß, keine Mauer, keine
Spur von einem Holzsarg. Die Form entspricht den läng-
lichen, gewölbten Grabhügeln, wie sie noch heute bei den
Bucharen Sitte sind, und erinnert andererseits an die Gräber,
welche im Kurathal bei Tiflis eröffnet wurden gelegentlich
t h e i l u n g e n.
eines Chausseebaues. Einige hundert Schritt von dem
Chausseeeinschnitt und der monumentalen Steinbrücke über den
Fseap-Arik befinden sich über einer Quelle und unterhalb
des Grabes des langen Heiligen einige charakteristische Höhlen
im Löß, die zum Theil künstlich erweitert scheinen und von
mohammedanischen Einsiedlern bewohnt werden. Den aller-
dings absolut trockenen Boden bedecken Matten, in den
Wänden befinden sich kleine Nischen mit arabisch - gothischen
Spitzbogen zur Aufbewahrung der Oellampe und anderer
Gcräthe.
Noch frappanter aber erweist sich derselbe Charakter eines
an seiner Oberfläche öden Hügellandes, durch welches die
neue Eisenbahn zwischen der ersten russischen Stadt Ketty-
Kurgan und der alten Hauptstadt Tamerlan's mitten hindurch
schneidet und zwar auf einer Strecke von mehreren Stunden.
Etwa 7 Stunden hinter Ketty-Kurgan dringt die Eisenbahn
mit einer Tranchee in die Vorhügel der Lößschicht ein. Hier-
auf in weitem Bogen die Hauptstadt umgehend, windet sie
sich an die Vorhügel hinein und bildet anfangs oberflächliche,
dann aber tiefe, mächtige Einschnitte. An den fast senkrechten
Wänden, an den ausgesparten Richtnngspfeilern, an dem
herausgeschafften Material tritt überall der hartweiche, gleich-
mäßige Charakter des Löß hervor, ununterbrochen von jeglicher
anderen Bodenart und auch an der Oberfläche weder von
Sand noch Humus bedeckt. Wie aus Meerschaum oder
Seife schneiden die Werkzeuge der Arbeiter Stufen, Wände,
Pyramiden aus dein Löß heraus. Hunderte von Eseln
tragen in Tragsäcken das zn entfernende Erdreich aus den
Trancheen herauf, zu welchem Behufe sich zahlreiche, schmale
Steige an den Wänden hinabziehen. Das Material wird
mehr als Schollen, denn als lose Erde zu Tage gefördert
und behält auch, nachdem es ausgeschüttet worden, das Aus-
sehen von frischen Ackerschollen. Die Oberfläche dieses
Hügellandes ist von derselben Farbe wie die Durchschnitts-
wände, nur heller, stark stäubend, mit seltenen Kieselsteiuchen
bestreut und bietet beinahe keine Vegetation. Auf den
trockenen Flächen wachsen nur derbe, härtliche Steppenkräutcr,
an etwas feuchten Senkungen auch Vorlmsonin tuxsus
und eine Steinaster, die ain 14./28. Oktober zum zweiten
Male blühten. Zahlreiche Cisternen geben im ganzen Ver-
lauf durch den Löß hinreichendes gutes, etwas trübes Trink-
wasser. Das Wasser befindet sich durchschnittlich 10 bis
121/2 Faden unter der Erdoberfläche. Wie sich dieser Löß,
wenn auch nur wenig befeuchtet, sehr gut zu Bauten über-
haupt verwerthen läßt, so sind auch die Cisternen mit Schutz-
Aus allen Erdtheilen.
383
mauern und Trögen aus Lehm versehen und sehen einem in
Holz oder Stein gefasiten Ziehbrunnen nicht unähnlich.
Zwischen zwei erhöhten Lehmpflöcken im Hintergründe der
Oeffnung bewegt sich ein hölzernes Rädchen, einer Garn-
winde nicht unähnlich. Ueber dieses Rad hinab zum Wasser-
spiegel im Brunnen wird ein offener Schlauch an einem
Kameelhaar-Seil gelassen. Der Schlauch wird durch zwei
kreuzweise gelegte Stäbchen aus einander gespreizt und offen
erhalten. Wenn er sieh gefüllt hat, so setzt sich ein Bursche
ans das a» dem Seilende vorgespannte Pferd, und reitet
dasselbe, entsprechend der Tiefe des Brunnens, 10 bis 12V-2
Faden weit, wodurch der mit Wasser gefüllte Schlauch bis
zum Brunnenrande erhoben wird. Da ergreift ihn der
Gehilfe und entleert ihn in den Lehmtrog, aus dem die
weidenden Schafe und die Zugthiere getränkt werden, oder
in ein bereit stehendes Faß, welches den Arbeitern längs der
Linie das nothwendige Getränk zuführt.
Es ist denkbar, daß man für die Bahnwärter an solehen
Trancheen im Löß Nischen oder förmliche'Wohnungen anlegt,
die geradezu ans der Wand des Lößgebirges ausgehöhlt
wurden.
Es ist zu hoffen, daß bei fortschreitender Kultur und
wachsender Bevölkerung dies ganze fruchtbare Terrain durch
Wasserzufuhr der Produktion gewonnen wird. Die ersten
Versuche partieller Bewässerung und Bebauung fallen von
selbst den Angestellten der Bahn zu. Der Versuch der Be-
waldung durch die trockene Bepflanzungsmethode ist auf
Anregung des Erbauers der Bahn bereits in Angriff ge-
nommen; ein Versuch, welcher Erfolg verspricht nach Analogie
vorausgegangener trockener Bepflanzung der zum Serafschan
abfallenden Hügel. Dieselben wurden 1885 mit Ailanthus,
Akazien und Reben bepflanzt, welche in gedeihlichem Wachs-
thum stehen, wie ich im Oktober 1887 persönlich beobachten
konnte.
Aus alle»
Europa.
— Im ganzen russischen Reiche giebt es 667
Klöster; davon befinden sich im europäischen Rußland 613,
in Kaukasien 31, im asiatischen Rußland 23; zu bemerken
ist, daß das Amurgebiet, das Küstengebiet und das Steppeu-
Gonvernemcnt sowie Turkestan frei von Klöstern sind.
— Im Mai dieses Jahres hat die St. Petersburger
Naturforscher-Gesellschaft eine Expedition unter Führung
des Herrn F. M. H e r z e n st e i u ausgerüstet, um zoolo-
gische, speciell fauuistische Studien am Ufer des Weißen
Meeres und an der Mnrmanischen Küste zu machen. Die
Studirenden der Naturwissenschaften Semewsky und Fascht-
schenko waren Herrn Herzenstein zur Unterstützung beigeordnet.
Der Professor der Zoologie an der Universität zu St. Peters-
burg, N. I. Wagner, hat sich gleichfalls zum Zweck der
Untersuchung der Meeresfauna nach den Inseln Solo-
wetzk begeben, Herr Polenow zum Flusse Ing, einem
Nebenflüsse de',Snchona. In wie weit alle diese Expeditionen
von Erfolg begleitet gewesen sind, darüber ist noch nichts in
die Oeffentlichkeit gedrungen.
— Ueber die Expedition Kusnezow's zum Ural
bringt „Nowoje Wrjema" (Nr. 4175) folgende Mittheilung.
Kusnezow bestätigt die schnelle Russificirnng der am Ural
lebenden Eingeborenen; besonders auffallend hat er diese
Thatsache an den Bewohnern des südlichen Ural, an den
Wogulen, beobachten können. Nach seinen eigenen Beob-
achtungen schwinden die Wogulen in sehr bemerkbarer Weise,
sie unterliegen leicht dem russischen Einfluß, der russischen
Civilisation. Das gilt insonderheit von den jungen Wogulen,
welche sich schnell alles Neue aneignen. Kusnezow besuchte
die verstecktesten Winkel, die dunklen Wälder und Schlupf-
winkel im östlichen Ural in den Gouvernements Perm und
Tobolsk, dehnte seine Forschungen aber auch über den Ural
hinaus aus, indem er das Petschoraland durchreiste. Die
Grenze der seßhaften Bevölkerung am Ural ist der 61. Grad
nördl. Br.; darüber hinaus nach Normen giebt es nur Wälder
und Wildnisse, welche nie eines Menschen Fuß betreten hat.
Unter den Wogulen und Ostjaken an der Loswa und
Soswa sind einige stark russificirt; im Allgemeinen aber
halten die Soswa-Wogulen ihre alten Eigenthümlichkeiten
fest. Die Wogulen leben halb nomadisch, halb seßhaft in
kleinen, aus wenigen Hütten (Jurten) bestehenden Ortschaften.
E r d t h e i l e n.
An der Loswa leben sie einzeln. Doch ziehen sie sich nicht
vor den Russen zurück, sondern gehen oft zu ihnen, um
Arbeit zu suchen. Im Frühjahr packt der Wogule sein aus
Birkenrinde angefertigtes leichtes Zelt (Tschum genannt) auf
und zieht ins Gebirge. Rauch und Schmutz ist untrennbar
von der Behausung — aber nur hier fühlen die Wogulen sich
wohl. In einer Hütte leben oft zwei oder drei Familien.
Der Wogule stellt sich seine Behausung mittels Birkenrinde
und Holz sehr schnell her. Die Felle der Renthiere und
Elenthiere finden vielfache Verwendung. Kusnezow hat eine
ziemlich große Sammlung sehr verschiedener Gegenstände des
Hausrathes und der Kleidung gesammelt. Die Sommer-
kleidung ist durch bunte Farben ausgezeichnet. Die wogulischen
Frauen lieben allerlei Handarbeit und sticken gern ihre Ge-
wänder mit Perlen. Hände und Füße werden oft tatuirt.
Kusnezow fand unter den Wogulen die Anfänge einer eigen-
thümlichen Zeichenschrift: sie malen besondere Zeichen an die
Bäume und auf Holztäfelchen; einige Proben konnte der
Reisende sich verschaffen. Interessant sind die Feste, welche
bei glücklichen Jagderfolgen — wenn ein Elen oder Ren-
thier erlegt worden ist— gefeiert werden. Dabei wird gegessen,
getrunken und getanzt unter Beobachtung eines bestimmten
Ceremoniells. Bemerkenswerth ist wegen der thierischen
Grausamkeit das sogenannte Pferdefest, bei welchem wilde
Tänze aufgeführt und ein Pferd zu Tode gequält wird.
Später wird das Fleisch verspeist. Im Uralgebirge giebt es
viele den Wogulen heilige Orte, welche eine Frau nicht be-
treten darf. Doch sind alle die wilden und charakteristischen
Eigenschaften der Wogulen keineswegs so stark und wider-
standsfähig, daß sie der Ausbreitung des russischen Einflusses
irgendwie bedeutende Schwierigkeiten bereiten: die Wogulen
werden allmählich russificirt.
A s i e n.
— Das Budget von Ni cd er ländisch-In dien weist
für das nächste Dienstjahr einen Fehlbetrag von 5 092 462
Gulden auf; unter den Ausgaben sind 6 774 340 Gulden
für Eisenbahnen und 1 140 000 Gulden für eine tele-
graphische Verbindung von Java mit Celebes via Bali
ausgeworfen. Das Kabel soll von Situboudo auf Java
nach Boleleng auf Bali und von dort nach Makasser gelegt
Alls allen Erdtheilen.
384
werden. Uebrigens ist das Endcrgebniß der abgelaufenen Dienst-
jahre ein verhältnißmäßig sehr günstiges gewesen: für 1885
hatte man auf ein Deficit von 1 458 808 Gulden gerechnet,
es ergab sich aber eilt Ueberschuß von 2 109 295 Gulden.
1886 crgiebt, soweit bis jetzt bekannt, einen Ueberschnß von
1 100 000 Gulden, und die hohen Kaffeepreise werden auch
bei der Abrechnung von 1887 einen günstigen Abschluß bewirken.
— Wie der Kolonialbericht von N i cd er ländisch -
Indien (Jahrg. 1886/87) mittheilt, wurde 1886 die
Regenmenge auf 183 Stationen beobachtet. Davon
befanden sich 102 Stationen ans Java und Madura, 35 ans
Sumatra, 6 ans Manka, Billiton und Riouw, 9 ans Bor-
neo, 17 ans Celebes, 2 auf Bali und 12 im übrigen
Archipel; die östlichste Station liegt auf den Key-Inseln.
Die größte Regenmenge wurde ans Java zu Madjalengka
(5115 mm), auf Sumatra zu Padang Paudjeng (4689 mm)
beobachtet; dagegen zeigten die Minima (Banjuwangi auf
Java und Belidan ans Deli) nur Regenmengen von 1151
und 1592 mm. Was die anderen Inseln betrifft, so wurde
die größte Regenmenge auf Ambon mit 4678 mm, die ge-
ringste auf Buna mit 912 mm beobachtet.
— Wie wir dem den Generalstaaten kürzlich vorgelegten
Bericht über 1887 entnehmen, wurde die militärisch-
topographische Aufnahme von Java (im All-
gemeinen im Maßstab von 1 : 200 000) vollendet. Das
hierdurch disponible Personal wurde nach der Westküste
von Borneo dirigirt, wo eine flüchtige Aufnahme im
Anschluß an einige astronomisch bestimmte Punkte in Angriff
genommen wurde. Außerdem wurden auf Sumatras West-
küste die Arbeiten fortgesetzt. Die Bergländer (Bovcnlande),
sowie der größte Theil der niedrig gelegenen Gebiete (Beneden-
laude) und ein Theil von Tapanoli waren triangulirt; im
Ganzen waren 344 feste Punkte bestimmt. Die definitive
Berechnung der Triangulirungsarbeiten von Java, an welcher
seit fünf Jahren unter Leitung von Professor Oudcmans
zu Utrecht gearbeitet wird, wurde noch nicht beendet, doch
ist die Einsendung einiger Theile der Berechnung zugesagt,
die für die eine oder andere Aufnahme nützlich sein können.
An den im Interesse der Hydrographie auszuführenden
astronomischen Ortsbestimmungen wurde im vergangenen
Jahre nicht gearbeitet, da der zur Ausführung derselben be-
stimmte Officier erst gegen Ende December in Indien ankam;
die eigentliche Ausnahme war ans der Küste von Java und
ans der von Sumatra thätig.
A u ft r st H nt,
— In einer am 7. September 1887 in Adelaide ab-
gehaltenen Versammlung der Royal Geographical Societies
of Australia wurde von A. C. Mac Donald, dem Se-
kretär der Melbourne-Society, der Antrag gestellt und auch
einstimmig angenommen, daß die Gesellschaften mit vereinten
Kräften eine Expedition zur Erforschung der zmn Theil noch
unb ekannten Th eile des australischen Kontinents
aussenden sollten. Diese liegen hauptsächlich im Northern
Territory und in Westaustralien, theilweise auch in Gipps-
land, dem Südosten der Kolonie Victoria. Man glaubt, daß
die Ausrüstung einer solchen Expedition nicht viel über
1000 Pf. St. kosten werde. Da nun bei den augenblicklichen
schwachen finanziellen Verhältnissen der meisten Kolonien
wohl wenig Unterstützung von dieser Seite zu erwarten steht,
so beschloß man die Bildung eines Geutral Australian
Exploration Fund ans Privatbeiträgen. Letztere sind be-
reits reichlich eingegangen und weiter zugesichert. Der
bekannte australische Reisende Ernest Giles hat sich bereit
erklärt, die Führung der Expedition zu übernehmen. Die
Regierung der Kolonie Südaustralien, zu deren Gebiet be-
kanntlich das Northern Territory gehört, soll um einen die
Expedition begleitenden Geologen und Mineralogen ersucht
werden; man glaubt, daß die zu erforschenden Theile des
Kontinents reich an werthvollcu Mineralien sind.
N o r d a m e r t f st,
— Einen interessanten Bericht über die Zustände in einer
kleinen, .ganz isolirten Europäergemeinde im tropischen Klima
liefert Wesley Mills in der Oktobernummer des „Ameri-
can Naturalist“. Es handelt sich um die Insel Green
Turtle Key, eine der Bahamas. Die Insel ist eine der am
besten bewohnten, da sie hoch genug ist, um malariafrei zu
sein, während das viel größere Abaco schwer unter Sumpffiebern
leidet; auf dem kleinen Raume von etwa einer engl. Meile
Länge und 1/4 Meile Breite wohnen gegen 600 Personen, zur
Hälfte Abkömmlinge englischer Ansiedler, zum Theil Neger.
Ihre Existenz hängt an der Schwammfischerei und der Ananas-
kultur. Die letztere liefert jährlich die Ladung für 15 bis
20 Schiffe und diese machen den ganzen Verkehr der Insel
aus. An Hausthieren werden nur jämmerliche Schweine
und ein paar Hühner gehalten, frisches Rindfleisch kommt nie
auf den Tisch, Konserven sind den Leuten zu theuer, und so
leben sie denn ausschließlich von Bataten, Uams und dem,
was die See bringt. Den meisten Insulanern fehlt aber
die Energie zum Betriebe der Fischerei, die erst in einiger
Entfernung vom Riffe rentabel wird, und so kommen auch
Fische nur selten zum Genuß. Die ganze Bevölkerung be-
findet sich somit in einem Zustande ungenügender Ernährung.
Auch die Wohnungen sind meistens eng und werden oben-
drein noch Nachts, der mitunter ganz plötzlich einbrechenden
Stürme wegen, möglichst fest geschloffen. So ist cs kein
Wunder, daß von einem Gedeihen der Bevölkerung keine
Rede ist. Obschon eine ganz leidliche Schule unterhalten
wird, ist doch den Weißen jede Spur der Energie ihrer eng-
lischen Vorfahren abhanden gekommen, und sie sind auch
körperlich degenerirt. Der Mangel jeder geistigen Anregung,
das gleichmäßig in dem immer gleichmäßig warmen Klima
dahinfließende Leben, das höchstens zur Zeit der Ananasernte
und des Exportes durch geringe Aufregungen unterbrochen
wird, hat den Geist eben so leiden lassen, wie die ungenügende
stickstoffarme Ernährung den Körper, und es ist von Interesse,
daß dieses „geistige Verhungern" bei den Weißen unbeschadet
ihrer Snperiorität mehr hervortritt, als bei den Schwarzen.
Auch der Neger ist ans Green Turtle Key bei weitem nicht
das, was sein Stammesbruder in den Vereinigten Staaten,
aber der Unterschied ist doch nicht annähernd so bedeutend,
wie der zwischen dem Engländer und seinen Nachkommen
ans den Bahamas.
Berichtigung:
S. 185, Sp. 2, Z. 13 von oben lies Dicksonia statt
Woodwardia.
Inhalt: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa. VI. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. Heinrich S im rot h: Die Be-
völkerung der Azoren. IV. (Schluß.) (Mit zwei Abbildungen.) — Otto Genest: Kapitän Jakobsen's Reisen im Gebiete der
Giljaken und aus der Insel Sachalin. I. — Kürzere Mittheilungen: Dr. O. Heyfelder: Löß bei Samarkand. — Aus allen
Erdtheilcn: Europa. — Asien. — Australien. — Nordamerika. — Berichtigung. (Schluß der Redaktion am 25. November 1887.)
Hierzu eine Beilage der Her der Äschen Berlagshandlung in Freiburg.
Redakteur: Dr. R. Kiepert in Berlin, S. W. Lindenstraße 11, 111 Tr.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.