lobus.
Liy. Band.
i
♦
Glob»
Illujtrirte
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer Derrick sicktigung der Etimologie, der KutturderKÄtmsse
und des Wettkandels.
Begründet von Aart Kndree.
In Verbindung mit Fachmännern
herausgegeben von
Di-. Jinis Aeckert.
V i e r n » d f ü N f z i g st c r Bind.
Lraunschweig)
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1 8 8 8.
Jnhaltsverzeichniß
Europa.
Die Färöer. Von Dr. H. Sch unke 49.
65. 65. 101. Die Moränen Veneziens.
Von Dr. O. Gumprecht 177. Vallom-
brosa. Von Dr. Oskar Schneider
209. Der Bronzefund von Nanzdiez-
weiler in der Pfalz. Von Dr. C. Mehlis
250. Festgebräuche der transfylvanifchen
Zelt-Zigeuner. Von Dr. Heinrich von
Wlislocki 346.
A s i e n.
Bericht über eine Reife nach Kwang-si.
Von H. Schroeter 1. 26. 33. 58. 71.
106. 377. Der Kuku-Nor. Von Dr.
Emil Deckert^17. A. Diculafoy's Aus-
grabungen in Sufa. Nach dem Franzö-
sifchen der Madame Jane Dieulafoy
134. 147. 166. James' Reife in die
Mantschurei. Von H. Seidel 156. Die
Landwirthfchaft in China. Von Dr.
Jofeph Grunze! 161. 193. 252. Der
mittlere Kuen-lun nach N. v. Prshe-
walski's Forschungen. Von F. Marthe
203. Ein Neujahrstag in Pedo. Von
Joh. Uhrlaub 227. Nepal. Von
Emil Schlagintweit 272. 289.
Maskat 292. Kalksteinhöhlen in Südost-
Borneo. Von F. Grabvwsky 326.
Natur und Bewohner der Ostabdachung
des Nord-Ural. Von F. Marthe 329.
Das heutige Japan 353.
2. Kürzere
Europa.
Die Forstflächen der europäischen Staats-
gebiete 46. Prof. I. «Depp über die
vordeutfchen Alpenbewvhner 319.
Deutsches Reich. Die wirthschastliche
Entwickelung des Deutschen Reiches 126.
Handel und Schiffahrt Hamburgs 223.
Oesterreich-Ungarn. Die kritische
Lage der Teplitzer Quellen 62. Prof.
Al. Holl'8 anthropologische Unter-
suchungen in Vorarlberg 79. Ein Bronze-
fund in Böhmen 383.
Schw eiz. Die Waldfläche der Schweiz 287.
Die Auswanderung aus der Schweiz 333.
Belgien. Belgiens Einwohnerzahl 93.
Frankreich.^ Dr. Fritz Frech über die
Gebirge Südfrankreichs 44. Oberst
Bouille's Nivellement Frankreichs 303.
Die Zahl der Fremden in Frankreich 303.
Die Zahl der Geburten und der Todes-
fälle in Frankreich 333.
Großbritannien. Projektirte englische
Seeschiflahrtskanäle 176. Irlands Wirth-
fchaftszweige 238.
Dänemark und Island. Th. Thorodd-
fen's Forschungen auf Island 336. Das
Projekt eines Nordfee-Kattegat-Kanales
352.
Schweden und Norwegen. Erdbeben in
Norwegen 126. H. Meyner's d'Estrey's
Afrika.
Camille Douls' Erlebnisse unter den No-
maden der westlichen Sahara 4. 21. 36.
Erzählungen der Suaheli - Neger in
Zanstbar. Von Olga Toeppen 60.
Die Britisch-Afrikanische Gesellschaft und
die Afrika-Forschung von 1788 bis 1888.
Von H. Seidel 108. Deutsch-Witü-
Land. Von Lieutenant A. R. Schmidt
129. 144. 173. 188. Ein Tag aus einer
westasrikanischen Faktorei. Von Hein-
rich Hartert 204. Victor Giraud's
Reise nach den innerasrikanischen Seen245.
259. 276. Togoland und Kamerun 316.
Nordamerika.
Die Mythologie der nordwest-amerikani-
schen Küstenvölker. Von Dr. F. Boas
10. 141. 216. 298. Südkalisornien im
Jahre 1887. Von Theodor Kirch-
hofs 265. 361.
Südamerika.
Die Aufhebung der Sklaverei in Brasilien.
Von Dr. W. Breitenbach 42. Der
Verfall des Staates Magdalena. Von
Dr. W. Sievcrs 76. Wanderungen
durch das außertropische Südamerika 61.
115. 182. 196. 311. Die Insel Trinidad.
Von I. v. Goerne 234. Dr. Karl
von den Steinen ikber seine zweite Xingu-
Expedition 282.
Mittheilungen nn
Forschungsreise in die Gebirge Skandina-
viens 126. Spuren von Höhlenbewoh-
nern aus der Karls-Insel 352.
Rußland. Das Ssolowiezki-Kloster und
seine Bedeutung für Nordrußland 15.
Die Untersuchungen Netschajef's im Kama-
Gebiete 46. Niedere Frühlingstempera-
turcn in St. Petersburg 46. Das Kohlen-
lager im Donez-Becken 62. Die Reise
Franz Toula's nach der Krim 93. Die
deutsche Kolonisation in Rußland 126.
Die Schneckensauna des Kaspischen Meeres
176. Nossilos's Forschungen aus Nowaja
Semlja 191. Mineralsunde in der Krim
und am Kuban 223. Quecksilbcrerz-
Lagerstätten im Donez-Gebiete 319.
Grum-Grshimailo im Ural 319. M.
K. Nossilos's Arbeiten über Nowaja-
Semlja 319. Die Verbreitung des Flug-
sandes in Rußland 333. Der Flachs-
bau in Rußland 367. Herr Ostrowski
über die Lappen 367. Die Volkszahl
der russischen Hauptstadt 383.
Rumänien. Rumäniens Steinsalzpro-
duktion 286.
Bulgarien. Bulgariens Bevölkerungs-
zahl 352.
Griechenland. Die Arbeiten am Kanäle
von Korinth 223. Der Peloponnes 382.
Italien. Vittore Brocca's Projekt eines
intermarinen italienischen Kanales 93.
S p a n i e n u n d P o r t u g a l. I. S. Glen- >
Australien und Polynesien.
Erwerb und Besitz bei den Papua in
Neu-Guinea. Von Dr. A. Oppel 121.
Der Bergbau in Australien. Von Dr.
v. Lendenseld 225. 257. Das deutsche
Schutzgebiet in der Südsee. Von Dr.
M. Hollrung 305. 321. 337. Der
Krater von Littleton. Von Dr. R. v.
Lendenseld 369. Dr.O.Finsch's Typen
aus der Steinzeit Neuguineas 375.
P o l a r r c g i o n e n.
Die antarktischen Regionen. Von Arthur
Silva White 96. 113.
Allgemeines.
Die kulturgeographische Bedeutung der
Flüsse 240. Ueber die Schwankungen
des Wasserstandes im Kaspischen Meere,
im Schwarzen Meere und in der Ostsee
in ihrer Beziehung zur Witterung. Von
I. v. Goerne 55.
Deutsche Schntzgebiete.
Deutsch-Witu-Land. Von A. R. Schmidt
129. 144. 173. 188. Togo-Land und
Kamerun 316. Das deutsche Schutzge-
biet in der Stidsee. Von Dr. M. Holl-
rung 305. 321. 337.
) A o t i z e n.
nin über die alte iberische Kultur 207.
Die Kohlenschätze Portugals 333.
Asie n.
Asiatische Türkei. Eine Eisenbahn
von Jaffa nach Jerusalem 31. Eduard
Glaser's dritte Reise nach Arabien 47.
C. B. Conder über die alten Völker
Westasiens 207.
Asiatisches Rußland. Bobyr's Unter-
suchungen im Sajanischen Gebirge 30.
I. Makeros's Forschungen im àjani-
schen Gebirge 30. Podgajezki über die
Tawda als Schiffahrtsstraße 31. Die
Wirkungen der transkaspischen Eisenbahn
31. 303. Rjessin über kamtschatkische Zu-
stände 47. Die Temperaturen von Wer-
chojansk 94. Nikolski's Forschungen am
Balkasch-See 94. A. F. Mummery's
Besteigung des Koschtan-tau 159. Clinton
Dent's Reise nach dem Kaukasus 159.
Preyn's pflanzengeographische Unter-
suchung des Angara-Gebietes 176.
Dr.Stelling's erdmagnetische Beobachtun-
gen in Sibirien 176. Voruntersuchungen
zur sibirischen Transkontinentalbahn 176.
Makeros's Forschungen am Amur 191.
Die Forschungen Clemens' u. Elenew's
am Kan und an der Birussa 207. Graf
A. Bobrirski's Ausgrabungen im Kau-
kasus 238. Baron Ungern Sternberg's
Besteigung des Elbrus 236. Rosenzucht
VI
im Kaukasus 239. Die Verschiffung
von kaukasischem Naphta nach Ostasien
256. Chinesische Agenten in Sibirien
256. Kaukasien als Wein exp ortland 287.
Deportation nach Sibirien 287. Jac-
zewski's Bericht über das Sajanische
Gebirge 303. Wiggins' gescheiterte Reise
durch die Karische See 303. Projekt
einer Eisenbahn zum unteren Ob 303.
W. Wassiljef über chinesische Einwande-
rung in Sibirien 319. Der Landhandel
Rußlands mit China 367.
Centralasiatische Khanate. Lidsky's
Reise in Ost-Buchara u. Karateghin 126.
Grombtschewski's Forschungen in Cen-
tralasien 319.
Persien. Die erste persische Eisenbahn
31. Die Eröffnung des Karun-Flusses
für die freie Schiffahrt 333.
Britisch-Indien. Die Expedition S.
I. Michell's und I. F. Needham's nach
dem Hukong-Thale 15. E. I. Jones
über die Kohlen- und Erzlager Ober-
birmahs 30. Die topographische Auf-
nahme Oberbirmahs 31. P. Ramathan
über die „Moors" von Ceylon 94.
Fortschritte der britischen Schutzstaaten
auf der Halbinsel Malakka 191. Leonardo
Fea's Reisen in Tenasserim 191. Die
Theekultur von Assam 223. Die Sterb-
lichkeit in den indischen Städten 239.
Die Bodennutzung in Britisch - Indien
271. Das territoriale Wachsthum von
Britisch-Jndien 286. Wilde Thiere und
Schlangen in Britisch-Jndien 287. M.
E. Grant Duff über Süd-Indien 319.
Die Eisenbahnen in Britisch-Jndien 334.
Robert Wallace über die Hautfarbe der
indischen Hausthiere 368.
Britisch-Borneo. I. Whitehead's Rück-
kehr von Borneo 111. Die Fortschritte
Nord-Borneos 127. Britisch-Nord-Borneo
334.
Siam. W. I. Archer über Nord-Siam
111. Graf Anrep - Elmpt's Tod 271.
(S. auch Französisch-Hinterindien.)
Französisch - Hinterindien. Pavie's
Reisen von Luang-Prabang nach Tong-
king 62. Das Schiffahrtsstraßennetz
in Cochinchina und Kambodscha nach
Louis Blanchet 79. Die Reise des
Grafen Anrep-Elmpt in Hinterindien 223.
Niederländisch-Indien. Eine Posi-
tionsliste von Plätzen in Niederländisch-
Jndien 47. Korotnew über die Gegend
von Krakatau 127 (dazu Berichtigung
S. 160). Die Lage in Atjeh 127.
Dr. A. Wichmann's und Dr. M. Weber's
Reise nach den Kleinen Sunda-Jnseln
159. Die Expedition nach den Kei-
Jnseln 159. I. B. Neumann's Charak-
teristik des Bata-Landes 191. Prof.
Martin über die Geologie der Insel
Ceram 191. Niederländische Politik in
den Bata-Ländern 239. Die Entwicke-
lung des Deli-Distriktes auf Sumatra
271. I. A. Jacobson's Reise tm süd-
ostafrikanischen Archipel 286. Geogra-
phische Arbeiten aus der Insel Flores
333. Die Expedition nach den Kei-
Jnseln 333. A. G. Valette über Klei-
dungsstücke von Baumrinde in Djambi
334. Dr. Cl. Plaster über Sumatra 367.
Philippinen. A. Everett's Rückkehr von
Borneo und den Philippinen 111. Vulkan-
ausbrüche auf den Philippinen 238. Die
Salanganen-Höhlen von Guimaras 238.
Eisenbahnbau auf den Philippinen 384.
China. Das indisch-chinesische Eisenbahn-
projekt nach Bourne 16. Der Thian-
schan 29. Vom Jangtse-Fluß 45. Ar-
mand David über den Boden der Stadt
Peking 47. E. L. Oxenham über die
Stromlauf-Aenderung des Hoangho 126.
Das Mißlingen der Hoangho-Regulirung
191. Der Lamaismus in der Mongolei
Jnhaltsverzeichniß.
206. Die Hasenstatistik von Hongkong
207. Der chinesische Außenhandel 1887
207. N. v. Prshewalski's fünfte Reise nach
Asien 207. Die Zahl der chinesischen Emi-
granten 239. Das Grab Dschingiskhan's
239. Chinesische Handelsgenossenschaften
254. Europäische Neuerungen in For-
mosa 255. Die einzige chinesische Eisen-
bahn 271. Dr. Max Buchner's Reise
nach Ostasien 271. F. E. Pounghus-
band's Durchquerung Centralasiens 271.
Die Bevölkerung des Bezirkes Tarba-
gatai 334.
Korea. Kalinowsky's und Delatkewitsch's
Reisen in Korea 144.
Japan. I. Edkins über persische Elemente
in den japanischen Volkssagen 31. Vul-
kan-Eruptionen in Japan 110. Der
Vulkan-Ausbruch des Bandai-san auf
Nipón 206. Die Besiedelung der Insel
Jeso 286. Das Christenthum in Japan
286. Der Außenhandel Japans 334.
Afrika.
A e g y p t e n. Prof. Schweinfurt über seine
Forschungen in Aegypten 287. Die
Kultursläche Aegyptens 384.
Algerien u. Tunesien. Ein Kohlen-
lager in Algerien 31. Die wirthschast-
liche Lage in Algerien nach Sabatier und
Grant Allen 95. M. G. Rolland über
die algerische Sahara 159. Die Schwamm-
fischerei Tunesiens 208. M. Quedenselds
Reise nach Nordafrika 334.
Marokko. Joseph Thomson's Reise in
Marokko 31. R. G. Haliburton über
eine Zwergrasse in Nordafrika 31. H.
de la Martiniöres archäolog. Forschungen
in Marokko 63. Camille Doul's neuer
Reiseplan 63. Joseph Thomson's Reise
in Marokko 127.239. Joseph Thomson's
Rückkehr aus Marokko 320.
Senegambien u. Oberguinea. Die
Expedition Plat's nach Futa-Djallon
127. Gründung des Forts Seguiri
127. Die französische Schutzherrschast
über Abeokuta 127. Charles Söller über
die Insel Arguin 128. Ausdehnung und
Bevölkerung des französischen Sudan.
159. Der Tod A. M. Nesting's 208.
Lieutenant Winger's Reise nach Kong 320.
Treich-Laplöne's Expedition nach Kong
320. Lethridge's Expedition nach Kongo
384. (S. auch „Deutsche Schutzgebiete".)
Kongo-Staat und Centralasrika.
Stanley's Expedition nach Wadelai 16.
31. Nachrichten über Major Barttelot
79. Lieutenant Wißmann überden Kongo
80. Van Göle's Fahrt nach dem Aru-
wimi 80. Van Kerckhoven's Reise nach
Stanley - Falls 80. Straßenbau und
Gasthossanlagen am Kongo 94. Der
Tod des Lieutenants Deane 112. Per-
sonal-Veränderungen im Kongo-Staate
112. Barttelvt's Expedition 112. 176.
Camille Coquilhat über den oberen
Kongo 127. Die Wiederbesetzung von
Stanley-Falls durch Van Göle 176.
H. v. Schwerin's Reise im Kongo-Ge-
biete 191. Die Resultate der Cambier'-
schen Kongobahn - Ausnahme 192. Die
Ermordung des Major Barttelot 208.
Der Tod Jameson's 208. Hauptmann
Becker's Kongo-Expedition 208. Major
Barttelot über Tippoo Tib 224. Lieute-
nant Wißmann über Stanley und die
Sklavenhändlerbewegung 287. Lieutenant
Baert's Reise mit Tippoo Tib 288.
Nachrichten von Stanley 304. 384.
Portugiesische Besitzungen. Briefe
P. I. van der Kcllen's aus Amboölla-
Land 176. Eröffnung der Eisenbahn
von Loanda nach Ambaca 320. Qui-
limane 335. Mozambique 365.
Südafrika. Aus dem Matebele-Lande
30. Aus Südafrika 62. F. C. Selous
Reise nach dem Zambesi 63.
Ostafrika und Länder am weißen
Nil. Italiens kolonialpolitische Pläne
in Ostasrika 31. Der Dschuba-Fluß 32.
Nachrichten von Emin-Pascha 63. Nach-
richten von Lupton - Pascha 80. Plan
einer französischen Emin-Pascha-Expe-
dition 80. Jules Borelli's Reise in Ost-
afrika 94. Die Araber-Bewegung am
Nyassa-See 94. Gras S. Teleky's Reise
in Ostasrika 94. 287. Der „weiße Pascha"
am Bahr - el - Ghasal 95. Missionär
Denoit über das Königreich Uganda 95.
Missionär Arnot in Urua 112. Nach-
richt von Casati 112. Das Schicksal der
in den Händen des Mahdi befindlichen
Europäer 112. Die Lage inUnyora und
Uganda 112. Projektirte Emin-Pascha-
Expeditionen 144. G. Angelvy's Reise
nach dem Nyassa-See 176. 'Nachrichten
über Emin-Pascha u. Stanley 192. Die
projektirte deutsche Emin-Pascha - Expe-
dition 208. Das Scheitern von Dr. Hans
Meyer's ostasrikanischer Expedition 224.
287. Samuel W. Baker über die ge-
plante deutsche Emin-Pascha-Expedition
236. V. L. Cameron über eine Sta-
tionskette in Ostasrika 239. Baley Bal-
sour über die Pflanzenwelt Sokotras
239. Die Besitznahme der zansibarischen
Küstenplätze durch die englische Ost-
afrikanische Gesellschaft 287. Die an-
gebliche Ermordung Casati's in Unyoro
287. Die Wege zu Emin - Pascha 302.
Das britisch - ostasrikanische Küstenland
303. Joseph Thomson's projektirte Reise
nach Ostasrika 320. Lieutenant Swaine's
Reise in Britisch - Ostafrika 335. Der
Sklavenhandel in Uganda 35!. L. B.
Robecchi in Harrar 367. Lieutenant
Wißmann's Emin - Pascha - Expedition
368. Das Klima Massauas 368. Joseph
Thomson über den ostasrikanischen Skla-
venhandel 368. (S. auch „Deutsche
Schutzgebiete".)
Nord- u. Mittelamerika.
Kanada. Die Aufnahme der kanadischen
Binnenlands-Gewässer 47. A. H. Mark-
ham über die Hudsonsstraße und die Hud-
sonsbay als Verkehrsweg 47. W. S.
Green's und H. Swanzy's Reise nach
den Selkirk-Muntains 63.
Vereinigte Staaten. Die Regu-
lirung der nordamerikanischen Felsen-
gebirgsströme 14. 335. Die amerika-
nische Folk-Lore-Gesellschaft und das
„Journal of American Folk-lore“ 32.
352. Vorhistorische Menschenspuren in
Kalifornien 48. G. F. Grodsellow's und
C. E. Duttons' Untersuchungen über die
großen amerikanischen Erdbeben von
1887 95. Bannister und Hektoen über
die Beziehungen zwischen Wahnsinn und
Rasse in Amerika 95. Pros. I. Koll-
monn über die ältesten amerikanischen
Schädel 160. L. M. Turner's For-
schungen in Alaska 208. Die Mineral-
produktion der Nordamerikanischen Union
208. Die Entstehung der Muschelhügel
am Mexikanischen Golfe 240. Das Eisen-
bahnnetz der Nordamerikanischen Union
272. Die Wollproduktion der Ver-
einigten Staaten 288. Die höchsten
meteorologischen Stationen in Nord-
amerika 335. Die Ausbeutung der Mine-
ralschätze in den nordamerikanischen Süd-
staaten 335. Eine Bill zum Schutze der
Mounds 352.
M i t t e l a m e r i k a und W e st i n d i e n.
Die Bevölkerung von Costarica 48. Das
Nicaragua-Kanal-Projekt 208. 272. Der
Jnhaltsverzeichniß.
VII
Wodu-Kultus aus den Antillen 95. Die
Insel Grenada 175. Zerstörung der
Insel Pollax 240. Santa Lucia 384.
Südamerika.
Marcel Monnier's Reise quer durch Süd-
amerika 128. Thouar's Rückkehr aus
Südamerika 160.
Venezuela. Die Republik Venezuela im
Jahre 1886 48. Der Grenzstreit zwi-
schen Britisch - Guyana und Venezuela
110. Der Roraima 237.
Guyana. H. A. Coudreau's Bericht aus
Ober-Guyana 63. Die Goldselder von
Niederländisch-Guyana 160. H. Cou-
dreau's Reisen in Französisch-Guyana
192.
Brasilien. Der Madeira-Strom als
Wasserweg 63. Das Projekt einer
Madeira-Mamore-Bahn 63. Dr. Karl
von den Steinen über die Kultur der
Xingu-Jndianer 221. Eine brasilianische
Expedition im Paratinga-Gebiete 272.
Argentinien. Reise der Prosessoren
Kurtz und Bodenbender in den Anden
16. Pros. Brackebusch in Sän Juan 16.
L. Arnaud im nordwestlichen Argen-
tinien 32. Die argentinischen Pampas
240. Die argentinische Einwanderung 288.
Paraguay. Die Ackerbau-Kolonie Neu-
Germania in Paraguay 32.
Chile. Die Eisenbahnen Chiles 32. Der
Fleischkonsum von Santiago. Von Dr.
R. A. Philippi 190. Der Außen-
handel Chiles 240. Annexion der Oster-
insel an Chile 320.
Peru. Die Begründung einer geographi-
schen Gesellschaft in Lima 16.
Columbia. Die Galapagos-Jnscln 253.
Australien und Polynesien.
Festland. Eine Eisenbahn in Nord-
australien 48. Eine Expedition in West-
australien 128. Lieutenant Israels Reise
in Westaustralien 128. Die australische
Bevölkerungsstatistik 160. Goldentdeckun-
gen in Australien 288. Die Zahl der
Chinesen in Australien 336. DerThee-
Joh. von Asboth, Bosnien und die
Herzegowina 384. Dr. H. Baum-
gartner, Tausend Höhen-Angaben 224.
Deutschlands Großindustrie und Groß-
handel (8. C. Beck, Thüringen) 352.
Fr. Bahr, Neue Karte von Australien
160. Ina von Binzer, Leid und
und Freud einer Erzieherin in Brasilien
112. I. Duclout, Mapa de la Re-
pública Argentina 96. W. v. Fr ce-
den, Reise und Jagdbilder aus Afrika
16. G. v. Gabelcntz, Konfucius und
seine Lehre 256. Paul Gassarel,
Res colonies françaises 256. Spiri-
diru Gvpcevic, Serbien und die Ser-
ben 48. Dr. Wilh. Götz, die Ver-
kehrswege im Dienste des Welthandels
96. A. Greg g, Ueberseeische Reisen
336. I. Hann, Die Vertheilung des
Europa.
Die Färöer.
Naturbrücke aus Sandöe 51.
Der Trclle Nypen 52.
Tindholm 53.
Festungsanlagen von Thorshavn 54.
konsum Australiens 336. Jardines Gold-
entdeckung aus der Port-Halbinsel 384.
9t eu guinea. E.C. Strode Hall's Unter-
suchung des Baxterflusscs 320. (S. auch
„Deutsche Schutzgebiete".)
Salomons-Jnseln. Woodward's For-
schungen aus den Salomons-Jnseln 48.
Eine Legende der Salomons-Jnsulaner
366.
Fidschi-Inseln. Suva auf Viti-Levu
285.
Neuseeland. Die Moa-Frage 92.
Hawaii. Die wirthschastliche Entwickelung
Hawaiis 96.
Andere polynesische Inseln. Fran-
zösische Annexionspläne in dem Stillen
Ozeane 80. Die Pitcairn-Insel 128.
Annexion der Hervey-Jnseln durch die
Engländer 288. Dr. Francois' Reise
nach Tahiti 335. Der Cook-Archipel 383.
Polargebiete.
Die Wanderung Frithjof Nansen's über
das grönländische Inland-Eis 256. 336.
Die meteorologischen Beobachtungen der
deutschen Polarstationen 28^ Das Pro-
jekt einer deutschen Expedition nach den
antarktischen Gegenden 320. Dänische
Grönlnndsorschungen 336.
Ozeane und ozeanischeJnseln.
Jules Guernc über die Landsauna der
Azoren 30. Die Kultur der Malediven-
Jnsulaner 92. Dr. Guppy's Korallenriff-
Forschungen im ostindischen Jnselmeere
94. Die Annexion von Christmas-Jsland
an England 94. Tieslothungen und
Wassertemperatur-Bestimmungen im In-
dischen Ozeane 318. Tiefleelothungen
im Süd-Pazifischen Ozeane 320. Die
Insel Diego Garcia 332.
Allgemeines.
Der, internationale Geologen-Kongrcß 48.
Eine schnelle Fahrt zwischen Liverpool
und New Pork 63. Ein Riesenglobus
aus der Pariser Weltausstellung 63. Die
3. I ii ch e r s ch a u.
Luftdruckes über Mittel- und Südeuropa
96. Dr. Herrische! und Dr. Märkel,
Umschau in Heimath und Fremde 336.
Dr. Alfred H e t t n e r, Reisen in
den kolumbianischen Anden 272. Dr.
Alfred Hettner, Gebirgsbau und
Oberflächengestalt der Sächsischen Schweiz
16. Dr. M. Höfler, Volksmedizin
und Aberglaube in Oberbayern 64.
I. L. Lanessan, Ra Tunisie 160.
Emil v. Laveleye, Die Balkanländer
208. Dr. Ferd. Löwl, Siedelungs-
arten in den Hochalpen 336. Dr.
C. Mehlis, Studien zur ältesten Ge-
schichte der Rheinlandc 48. Dr. E.
Mehneri, Ueber Glacialerscheinungen
iiu Elbsandsteingebict 16. Dr. G. Reu-
ma her, Anleitung zu wissenschaftlichen
Beobachtungen auf Reisen 304. Dr.
4. Illustratio n e n.
Dorf Eide nebst Fjord 54.
Hammelschlachten 66.
Färöer-Insulaner 67.
Messer zum Delphin-Tödten 67.
Delphin-Fischerei 68.
Delphin-Schlächterei 69.
Häusliches Leben der Insulaner 70.
Londoner Geogr. Gesellschaft 64. Pro-
gramm des siebenten Internationalen
Amerikanisten - Kongresses 80. Die
Schnelligkeit englischer Eisenbahnzüge 93.
Die geographische Ausstellung zu Paris
im Jahre 1889 96. Die Ausrottung
der Seekuh 125. Ein kanadisch-austra-
lisches Kabelprojekt 192. Der Deutsche
Anthropologen-Kongreß zu Bonn 192.
Professor Schweinfurt's Reise nach Jemen
223. Der internationale Geologen-Kon-
greß zu London 224. H. Carrington
Bolties Circular 224. Professor Rudolf
Credner über das Seebär-Phänomen
238. Schnellste Fahrt zwischen Kapstadt
und Plymouth 240. Cl. Markham über
die ältesten englischen Globen 240. Pros.
Virchow über künstliche Verunstaltungen
des menschlichen Körpers 288. Dr. Weis-
mann über die Vererbung erworbener
Verletzungen 288. Tod des Generals
N. v. Prshewalski 303. Der inter-
nationale Erdmessungsverein 352. Der
internationale Amerikanisten - Kongreß
368. Die französischen Kolonien 368.
G. Daubés über Anomalien der mensch-
lichen Finger 368. Professor Bonnet
über die Vererbung von Verstümmelun-
gen 384.
Deutsche Schutzgebiete.
L. Delavaud über die deutsche Kolonial-
politik 264. Rundschau über die deutschen
Schutzgebiete 268. Dr.Wolsf's Expedition
im Togo-Lande 16. Curi von Francois'
Expedition im Togo-Lande 112. Dr.
Wolfs's Expedition im Hinterlande von
Klein-Popo 176. Die Kund'sche Batanga-
Expedition 16. G. Waldau und F.
Knutson's Forschungen in Kamerun 31.
Lieutenant Tappenbeck's Rückkehr nach
Kamerun 80. Stationsgründung in
Kamerun 176. Die Vorgänge in Deutsch-
Ostasrika 269, 335. Die deutsche Neu-
guinea-Expedition 128. Dampserverbin-
dungen von Kaiser-Wilhelmsland 128.
Heirathsgebräuche aus dem Bismarck-
Archipel 285. Die von Deutschland an-
nektirte Pleasant-Jnsel 160.
Albrecht Penck, Die Bildung der
Durchbruchthäler 64. G. vom Rath,
Pennsylvanien 192. Dr.EmilSchmidt,
Anthropologische Methoden 240. L. von
Schrveder, Die Hochzeitsgebräuche der
Esten 192. Dr. W. Sie Vers, Die
Cordillère von Merida 224. Dr. W.
Sie vers, Venezuela 224. Dr. I.
Singer, Ueber soziale Verhältnisse Ost-
asiens 240. G. Stutzer, Das Jtajahy-
Thal und die Kolonie Blumenau 128.
Alexander Supan, Oesterreich-Ungarn
32. Iwan von Tschudi, Der Turisi
in der Schweiz 64 ; Europäische Wander-
bilder 288; Die hygienischen Verhältnisse
der größeren Garnisonsorte der Oester-
reichisch-Ungarischen Monarchie I. II. 336;
Uebersichtskarte der deutschen Kolonien;
Karte von Emin-Pascha's Gebiet 256.
Eine Mühle 86.
Dorf am Kalsösjord 86.
Nestausnchmen bei der Trollhoved-Klippe
87.
Haus des Statthalters 101.
Thorshavn 102.
Straße in Thorshavn 103.
vili
Inhaltsverzeichnis
Haus des Bischofs 103.
Kirche und Lateinschule in Thorshavn 104.
Haus eines Großhändlers 104.
Dorf Kirkebö 105.
Italien.
Gesauuntansicht von Vallombrosa 210.
Das Hauptgebäude nebst dem Paradisino
212.
Albergo und Straße nach Vallombrosa 213.
Das Paradisino bei Vallombrosa 214.
Deutschland.
Fußring und Halsring von Nanzdiez-
weiler 251.
A s i e n.
C h i n a.
Ansicht des Kuku-Nor 18.
Andere Ansicht des Sees 20.
Landschaft im Inneren der mongolischen
Wüste 342.
Eine Flugsandgegend 342.
Die Prinzen Sia und Hyghen von Ala-
schan 343.
Uroten-Mongolen 344.
Persien.
Arabischer Fischer 135.
Zeltlager des Scheikhs Mentschet 136.
Arabische Gefangene 137.
Tscharwadar 138.
Susa 139.
Gondstein 150.
ApadLna Artaxerxes 151.
Ausgegrabene Säulen 152.
Bibi-Msauda 153.
Durchstochener Hügel 154.
Tscharwadar 167.
Unterwegs nach dem Karun 168.
Transport des Gepäckes 169.
Am Karun 170.
Jap an.
Japanesische Mädchen 227.
Begrüßung Vornehmer 228.
Eine japanesische Dame in der Dschinri-
kischa 229.
Damen in Sommer-Straßenkleidern 230.
Soldat in alter Tracht u. Bewaffnung 231.
Küche in einem japanischen Theehause 322.
Der Tokaido unterhalb Hatta 355.
Waarentransport in Japan 356.
Typus eines japanesischen Kleinhändlers
351.
Straße in Yokohama 358.
5.
Uebersichtskarte der Färöer 50.
Die Südpolar-Regionen 99.
Mita
Dr. Franz Boas 10. 141. 216. 298.
Dr. W. Breitenbach 42.
Dr. Emil Deckert 17. 341.
I. v. Goerne 55. 234.
Fritz Grabowsky 326.
H. Greffrath 383.
Dr. Joseph Grunzel 161. 193. 252.
Dr. O. Gumprecht 177.
Heinrich Hartert 204.
A rabie n.
Die Citadelle von Maskat 292.
Die Stadt Maskat 293.
Ein arabischer Kaufmann 294.
Der Eingang in den Palast des Imam 295.
Frau nebst Kind in Maskat 296.
Ein Garten bei Maskat 297.
Brunnen zu Maskat 298.
Borneo.
Liang-hadangan-Höhle 327.
Batu Lampan-Felsen 328.
Afrika.
Can arie n.
Las Palmas auf Gran Canaria 5.
Arrecife de Lanzerote 6.
Sahara.
Die Dromedare und ihr fliehender Hüter 6.
Landung an der Küste der Sahara 7.
Maurisches Weib 7.
Abendgebet. 9.
Lagerleben der maurischenWüstenstämme22.
Lager des Scheikh Mel-Aynin 23.
Wüstenbrunnen 23.
Maurische Tänzerjn 24.
Das Sagiat EI-Hamra 37.
Schlucht zwischen dem Sagiat El-Hamra
und^den Wad-Draa 37.
Ankunft in Tenduf 38.
Ksar-El-Abiar 39.
Auf der Grenze zwischen Sus und Wad
Nun 40.
Glimim 40.
Oase im Ait-Bu-Amram 41.
O st a f r i k a.
Ankunft Wadi Combo's 246.
Abfahrt von Karema 246.
Katogoro 247.
Mp ala 248.
Schuppen für Kähne in Mpala 249.
Zwischen den Wasserpflanzen von Jen-
dus 260.
Mambus 261.
Rückkunft der Krieger in Muipuria 261.
Wajiji-Neger und ihre Kähne 262.
Benzas 263.
Livingstonia 264.
Der Schire 276.
Blantyre 277.
Das Grabmal Tschepetula's 277.
Tschekussa und seine Umgebung 278.
Lewiathan und Tricolour 279.
Karten und flklä
I Deutsch-Witu-Land 132.
I Die Moränegegend bei Udine 179.
rbeiter-tlerzei
(Soweit sich dieselben genannt haben.)
Dr. M. Hollrung 305. 321. 337.
Theodor Kirchhofs 265. 361.
Dr. R. v. Lendenfeld 225. 257. 369.
Professor Dr. F. Marthe 203. 329.
Dr. C. Mehlis 250.
Dr. A. Oppel 121. 373.
Professor Dr. R. A. Philippi 190.
Emil Schlagintweit 272. 289.
Lieutenant A. R. Schmidt 129.144.173.188.
Portugiesische Flotille 280.
Quilimane 281.
N o r d a tu c 11 f a.
Rassel 218.
Tsonoqoa 219.
Süd amerika.
Die Stadt Parana 82.
Im Delta des Parana 83.
Landhaus von Parana 83.
Naturflöße auf dem unteren Parana 84.
La Recoleta in Buenos-Ayres 116.
Die Avenue des Elften September in
Buenos-Ayres 116.
Die Sarmiento-Avenue 117.
Begründung der Stadt Laplata 118.
Der Gouvernementspalast in Laplata 119
Die Hypothekenbank in Laplata 119.
Der Kanal von Laplata 120.
Eifenbahnbau bei Porto-Alcgre 183.
Araucarienwald 183.
Die Jguassu-Fälle 184.
Allgemeine Uebersicht der Jguassu-Fälle 185.
L>ao Leopoldo bei Hochwasser 186.
Kolonistenwohnung in Germania 186.
Hauptstraße in Germania 187.
Waldvegetation in Espirito Sauto 198.
L-traße in Santa Cruz 198.
Deutsche Kolonisten im Urwalde von
Espirito Santo 199.
Die deutsche Schule in Santa Cruz 200.
Im Urwalde von Espirito Santo 201.
Deutsche Kolonistenwohnung bei Santa
Cruz 202.
Santa Leopoldina 312.
Zweite Ansicht 313.
Dritte Ansicht 314.
Plantagen von Santa Leopoldina 314.
Australien und Polynesien.
Hatzfeldth äsen 306.
Finschhafen 307.
Das Dorf Siu 322.
Ein Segelboot von Bili-Bili 323.
Das Landeshauptmannshaus in Finsch-
hafen 338.
Dorf Suam mit dem Götzen 239.
Lteingeräth von Neuguinea 370.
Hausgeräth von Neuguinea 372.
Der Krater von Littleton. (Südaussicht
von Mount Pleasant) 374. 375.
Der Krater von Littleton. (Nordaussicht
von den Knobs) 376.
e.
Die Moränegegend am Gardasee 180.
Kaiser-Wilhelmsland 309.
ch n i ß.
Dr. Oskar Schneider 209.
H. Schrocter 1. 26. 33. 58. 71. 106. 377.
Dr. H. Schunke 49. 65. 85. 101.
H. Seidel 108. 156.
Dr. W. Sievers 76.
O. Toeppen 60. 382.
Joh. Uhrlaub 227.
Arthur Silva White 96. 113.
Dr. H. v. Wlislocki 346. 359.
«r
Band LIV.
3®it btsondrrer Herürklsrchtrgung drr Gthnologre, der Kultnrderhllltnrsse
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Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Bon H. Schrocter.
Von Canton nach Wu-tschou-Fu.
Im Herbste des Jahres 1886 machte ich im Auftrage
meiner Principale, der Herren S. & Co., von Canton aus
eine Reise nach dem Weststusse, nach einigen Distrikten
Klvang-sis, welche nnr selten, theilweise noch nie von
Europäern besucht worden sind. Die von mir unterwegs
gesammelten Notizen hielt ich bisher nicht für interesse-
weckend genug, um sie in der einen oder anderen Form
veröffentlichen zu können, da wichtige Ereignisse oder Aben-
teuer nicht darin verzeichnet stehen. Seit aber neuerdings
wieder über die Frage diskutirt wird, ob die Eröffnung des
Westflnsses für die Europäer von Bedeutung sei, und man
in verschiedenen Kreisen schon davon spricht, daß ein oder
mehrere Häfen der großen Wasserstraße den Fremden dem-
nächst geöffnet werden sollen, benutze ich den gegenwärtigen
Zeitpunkt, ein Scherflein zur Kenntniß des großen Stromes
beizutragen, und den freundlichen Leser, welcher an dem
Hinterlande des Riesenflnsses einmal Interesse gewonnen
hat, einen freilich nur kleinen Theil dieses Nährvaters des
reichen Canton-Deltas vor Augen zu führen.
Ueber die Veranlassung zu dieser Reise schicke ich er-
läuternd voraus, daß im Laufe des vergangenen Sommers
die Herren S. & Co. große Quantitäten von Cassia-Lignea,
nicht wie üblich, in Canton selbst, sondern im Produtkions-
Lande, in Kwang-si, gekauft hatten. Nach langwierigen
Belästigungen aller Art von Seiten der chinesischen Beamten
Globus LIV. Nr. 1.
hatte die Waare ihren Weg schließlich wohl nach Canton
gefunden, aber dafür waren die mit dem Sammeln beauf-
tragt gewesenen Chinesen nachträglich unerhört chicanirt
worden, indem z. B. ihre Häuser versiegelt, sie in das Ge-
fängniß geworfen, und erst wieder freigegeben wurden, nach-
dem man ihnen große Summen Geldes abgepreßt hatte.
Um den Beamten an Ort und Stelle die nöthigen Vor-
stellungen machen und dem deutschen Konsulate einen
authentischen Bericht über die Sachlage geben zu können,
unternahm ich die Reise. Meine Hauptaufgabe war somit,
die Cassia-Märkte Tai-Wo (in Ping-nam-shin gelegen),
sowie Pnng, die Kreisstadt des gleichnamigen „Shien"
(d. h. Distriktes) zu erreichen.
Um den chinesischen Beamten, welchen meine Reife ganz
und gar unlieb sein mußte, keinerlei Vorwand zu geben, mir
Hindernisse in den Weg zu legen, mußte ich die Fahrt leider
ganz ohne Begleitung einer Dampfpinasse in einem der be-
kannten, von chinesischen Mandarinen häufig benutzten Reise-
boote, „Hortaue" benannt, unternehmen. Solche Fahrzeuge
sind bequem und geräumig genug, aber von großer Schwere
und Langsamkeit. Ich werde versuchen, das von mir ge-
gemiethete Boot zu beschreiben.
Das Hortau, welches ich benutzte, ist ein schönes, ge-
räumiges und fast neues Fahrzeug, das eigentliche Schiff
flach gebaut, 51 Fuß lang, 8 Fnß breit und von nicht ganz
2 Fuß Tiefgang. Von der etwa 8 Fuß langen Plattform
am Bug, für die Schiffsmannschaft, gelangt man direct in
die 6 i/a Fuß hohe, wohnliche Kajüte, mit drei auf einander
‘2
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
folgenden, durch große Schiebefenster reichlich erleuchteten
Passagier-Zimmerchen. Das mittlere diente mir alsWohn-
zimmer und war, da ich nicht mit Raum zn sparen brauchte,
mit jeglichem Komfort, wie mit gepolstertem Sopha und
bequemem Schreibtische, sowie mit einer reichen Anzahl von
Büchern und Bildern ausgestattet. Im dritten, Hinteren
Zimmer war für mich eine durch Moskito-Gardinen ge-
schürzte, bequeme Lagerstätte aufgeschlagen.
Diesem Gemache folgte im Achtertheile die Küche, zu-
gleich Wohn- und Schlafraum für den größeren Theil
meiner 18 Mann starken Bemannung. Ueber dem Steuer-
ruder, etwa 8 Fuß über der Wasserfläche gelegen, ist für
den Kapitän und Besitzer des Bootes noch eine Art Privat-
Kajüte, wenn man einen 3 Fuß hohen Verschlag, in welchem
zwei oder drei Personen eben Platz genug zum Liegen haben,
so nennen kann. Hier pflegt die Frau des Kapitäns mit
den Kindern zn wohnen; zum Glück hatte ich Gelegenheit
gehabt, die Gattin des mehligen, zwei schreiende Unholde
auf dem Arme tragend, rechtzeitig kennen zn lernen, so daß
ich durch eine Bedingung im Miethcontracte diese weder sehr
junge, noch mit besonderen Reizen bedachte Dame sammt
ihren Prinzen in Canton zurückhalten konnte. "
Ein 15 Zoll über dem Schiffskörper ausladendes Gang-
brett führt an den Längsseiten desselben entlang, die Communi-
cation der Mannschaft ermöglichend, welche auch von diesem
ans mit gegen die nackte Brust gestemmten Stangen das Schiff
vorwärts bewegt, wo diese Art zu fahren geboten ist.
Der etwas mürrische, aber brave und fleißig mit Hand
anlegende Kapitän brachte also nur seinen 15 jährigen Sohn
mit, von mir Fritz benamst, welchen von den Chinesen in
„Falitzi" umgewandelten Namen er noch heute führen soll.
Die Mannschaft bestand aus zwei Matrosen, deren älterer,
der „starke August", unterwegs eine ausgesprochene Lieb-
haberei für meine Getränke und Cigarren bekundete, ferner
ans acht für die Reise vom Kapitän angeworbenen, kräftig
gebauten Miethsknechten, welche das von mir nachträglich
„Pinguin" getaufte Fahrzeug an einem langen, von der
Spitze des Mastes auskaufenden Schlepptau vom Ufer aus
den Strom hinaufzuziehen, oder wie erwähnt, mit Bambus-
stangen vorwärts zn schieben hatten, wenn nicht ein günstiger
Wind sie dieser überaus anstrengenden Arbeiten enthob, und
sie beim Richten und Wenden des kolossalen Mattensegels
behülflich sein mußten.
Ich möchte auch noch meine näheren Begleiter, welche
ich in dem dem Bug zu liegenden Zimmer untergebracht hatte,
vorführen: Für mich die wichtigste Persönlichkeit war Afook,
der Lagermeister und Markthelfer der Herren S. & Co., ein
geriebener Chinese, welcher mir trotz seines schlechten „Pidjin"-
Englisch vortreffliche Dienste als Dolmetscher erwies, trotzdem
er nur wenig Mandarinen-Chinesisch versteht. Ferner be-
gleiteten mich drei „Hong-Cooties" meiner Cassia-Freunde,
welche bereits einmal die Reise gemacht hatten, und ein chinesi-
scher Koch, welcher zugleich als Factotum diente, da ich es für-
richtig befunden hatte, meinen „Boy", welcher mir während
einer Tour, wie ich sie vorhatte, nur im Wege gestanden
hätte, in Canton zu belassen. Von sämmtlichen Chi-
nesen war nur der genannte Afook der englischen Sprache,
oder wenigstens des für meinen Zweck ganz ausreichenden
Pidjin-Englisch einigermaßen mächtig. Er war die einzige
„fühlende Brust", mit welcher ich mich auf meiner 35 Tage
dauernden Reise außer mit meinen Büchern unterhalten
konnte, und ich muß diesem Chinesen, welcher noch vor nicht
gar vielen Jahren die „Punkah" zog, das Zeugniß ausstellen,
daß er für mich unterwegs ein ebenso guter Gesellschafter,
als Diener gewesen ist, und stets, wie es die Verhältnisse
gerade erforderten, mit richtigem Takt die ihm zukommende
Stellung einzunehmen wußte.
Am 8. September vorigen Jahres spät am Abend mar-
es, als wir bei herrlichem Mondschein in den Canton gegen-
über liegenden Fati-Kanal fuhren, um, umgeben von einem
ganzen Walde von Masten aller möglichen Fahrzeuge, in der
gleichnamigen, volkreichen Fabrikstadt gar bald wieder vor
Anker zu gehen, damit die Bootsknechte sich für die An-
strengungen des folgenden Tages durch Schlaf stärken
konnten.
Aus letzterem weckte sie anderen Tages schon um
4^/2 Uhr Morgens das um uns erwachende Leben der
Wassernomaden, und bei Aufgang der Sonne befand sich
der „Pinguin" in einem breiten Kanäle auf dem Wege nach
dem „Birmingham" Sück-Chinas, nach Fat-schan, dieser
gewaltigen, 400 000 Einwohner beherbergenden Stadt, in
welcher die Rohprodukte des Canton-Hinterlandes für den
Export verarbeitet, und von wo aus hauptsächlich die direct
von Hongkong, und nur zum verschwindend" kleinen Theil via
Canton, kommenden europäischen oder einheimischen Import-
Artikel in die umliegenden, außerordentlich reichen Distrikte
und weiter nach dem Jnlande vertheilt werden. Es nahm
meinen Leuten fast zwei Stunden, uns durch die unzähligen
Boote des Hafens hindurchzuarbeiten, und erst gegen Mittag
passirten wir das bekannte große Gildengebäude der Kwangsi-
Holzhändler, sowie die letzten Schiffswerften und die un-
geheuren Holzlager, welche am West-Eingänge des Hafens
die Wasserfläche bedecken.
Meine Coolis verlassen jetzt das Schiff, um es vom
Ufer aus an unermeßlichen Maulbeerfeldern entlang zn
ziehen, welche, so weit das Auge reicht, fast die alleinige
Kultur der weiten Ebene bilden. Es werden diese Maulbeer-
sträucher sechs bis sieben Mal im Jahre von oben bis unten
ihrer Blätter beraubt, und es machen gerade leergepflückte
Felder wohl einen originellen, aber zugleich auch einen kalt
winterlichen Eindruck in der sonst so prangenden Herbst-
landschaft. Die frischen Blätter werden direct vom Felde in
kleine, schlank gebaute, etwa 25 Piculs tragende Boote geladen
und gelangen nach wenigen Stunden geschwinder Fahrt ben
reißend schnell fließenden Strom hinab nach den zwischen
Canton und Macao gelegenen Seiden-Distrikten, z. B. nach
Laclou und Schuntak, um von den dortigen Seidenraupen-
züchtern aufgekauft zu werden.
Im Laufe des Nachmittages erreichen wir, die Sai-tschiu-
Berge im Südwesten allmählich ans den Angen verlierend,
die Ortschaft Sa-hou, woselbst der vermuthlich schon vor
Jahrtausenden gegrabene Kanal in einen größeren Flußarm
mündet. Leider ist der Fat-schan-Kanal bei niedrigem
Wasser im Durchschnitt kaum zwei bis drei Fuß tief. Vor
seinem Ausgange bei Sa-hon macht eine weit in das Fahr-
wasser beider Flußarme sich erstreckende Sandbank seine
Ein- und Ausfahrt selbst für ganz kleine Fahrzeuge bei
niedrigem Stande der Ebbe unmöglich, so daß vorläufig
noch kein Gedanke sein kann an ein Befahren dieses Kanales
mittelst europäischer Dampfer. Es ist dies aber ein
Uebelstand, welchem im Laufe der Zeit, wenn letztere auch
den Chinesen Geld geworden ist, und wenn sich dieselben, um
einen directen Wasserweg von Canton nach Sam-fchui zu
haben, zum Ausbaggern ihrer ursprünglich nur für flach
gebaute Dschunken durch den weichen Ackerboden gegrabenen
Kanäle bequemen, ohne Zweifel gelöst werden wird.
Gegen 5 Uhr nachmittags passiren wir Li-tschi-yuen und
machen das Schiff gegen 7 Uhr am Eingang des Holz-
marktes Schui-kong, in der Nachbarschaft einiger Dschun-
ken, für die Nacht fest.
Am 10. September sind meine Chinesen schon vor
Sonnenaufgang damit beschäftigt, das Boot mit ihren
Bambusrohren durch die uns umgebenden Floße zu bringen;
am andern Ende der Stadt springe ich in den hier noch
3
H. Schroeter: Bericht über eme Reise nach Kwang-si.
klaren Fluß, um ein Bad zu nehmen. Ich überrasche die
Bewohner des kleinen Ortes nicht wenig dadurch, daß ich
vom Strom wider meinen Willen den Häusern zugetrieben
werde, und daß ein dort nur selten gesehener „fremder Teufel"
mitten zwischen die an den Fluß zum Wasscrschöpfen ge-
kommenen, oder Wäsche reinigend im flachen Wasser des
Ufers stehenden Mägdelein geräth. Ich bin schon im Begriff,
der mir am nächsten stehenden, freilich weder schnecweiß-
armigen, noch besonders königlich dreinschauenden Jungfrau
die Kniee zu umschlingen, und mit schmeichlerisch süßen
Worten um ein „Chemise" zu bitten, da mir nicht, wie
weiland dem göttlichen Dulder, das schützende belaubte Ge-
sproß zur Seite wächst, als Afook mir mit Handtuch,
Schuhen, Pajamas und Vogclslinte im kleinen Sampan
folgt und den guten Rath giebt, lieber möglichst weit von
den vielleicht etwas prosaisch angelegten Brüdern oder
Bettern bewußter Nausikaa in den nahen Reis-und Gemüse-
feldern ans Schnepfen zu fahnden. Ich folge also meinem
Famulus in das offene Feld hinaus, mit der Flinte am
Ufer entlang schlendernd, ohne indessen auch nur einen jagd-
baren Böget zu sehen.
Der größere Theil des Bodens ist noch immer von etwa
4 bis 6 Fuß hohen Maulbeerstauden bewachsen, über welchen
mit eigenthümlichem Gesumme unzählige Cantharidcn
schwärmen — diese kleinen, unseren Cantón-Droguen-
Händlern so wohl bekannten Küfer. Ich erreiche bald ein
großes, schönes „Schui-tou" (Wasserthor), von hübschen
Tempeln und einer auf hohem Damm stehenden Pagode
umgeben, wo ich aus der Böget-Perspective ein außer-
ordentlich anschauliches Bild des chinesischen Bericseluugs-
systems mit allen seinen Details gewinne, welches jedem
Fremden Achtung vor der hohen Stufe des chinesischen
Ackerbaues abzwingen muß. Die ans wolkenlosem Himmel
niederstrahlende Sonne treibt mich aber bald wieder unter
das schützende Dach meines langsam folgenden Hortaus
zurück.
Gegen Mittag erreiche ich Hsi-nam, eine wenig genannte,
aber nicht unbedeutende Stadt. Sic ist jedenfalls viel wich-
tiger, als das 3 engl. Bteilen weiter westlich gelegene, in
Cantón jedermann bekannte Sam-schui, und erfreut sich, da
ihren Hafen passirende Schiffe nicht die bei letzterem Platz
erst anfangenden „Likins" zu bezahlen haben, noch ähnlicher
Vortheile, wie sie die übrigen sich von Hongkong ans mit
europäischen Waaren versehenden Städte des Canton-Deltas
genießen. Ein lebhafter Dschunkenverkehr ist der beste Be-
weis hierfür. Namentlich rohe Baumwolle wird in Hsinam
importirt und zu Klcidnngsgcgcuständen verarbeitet.
Sam-schui dagegen, die „Dreiwasserstadt", von den
Chinesen so benannt, weil hier der West- und Nordfluß
zusammenströmen, um mit Ausläufern des Ostflusscs ver-
eint dem Meere zuzueilen, ist trotz seiner vortrefflichen Lage
ein ganz und gar öder Platz, da in ihm die ersten Linkin-
Ab,gaben erhoben werden. Die eigentliche Stadt liegt nicht
eunnal am Wasser, sondern, von einer zerbröckelnden Mauer
umgeben etwa 12 Meilen landeinwärts. Die Linkin-Station,
aus einem Komplex von Mattenhäusern und aus auf großen
Booten leicht aufgeführten Geschäftsräumen und Wohnun-
gen bestehend, macht höchstens insofern einen gewissermaßen
iluponircnden Eindruck, als sie stets von einer Unzahl von
aus allen Richtungen kommenden Fahrzeugen umgeben ist,
^kche ans die Untersuchung der darin angebrachten Waaren
häufig Tage lang warten müssen. Es sammelt sich dadurch
Deicht eine große Anzahl von Schiffen aller Art, welche
,m stur von Zollbeamten bewohnten Ort das Gepräge
Liner Handelsstadt geben.
Auch mein Boot würde dem langwierigen Prozeß so
gut wie jedes andere dort vorbeipassircnde chinesische
Passagierfahrzeug unterworfen gewesen sein, wenn der an
meinen „Pinguin" heranführende Hafenbeamte sich nicht
höflich beim Erblicken eines Europäers, mit einer meiner
chinesischen Visitenkarten beglückt, wieder empfohlen hätte.
Bei dieser Gelegenheit will ich bemerken, das ich nicht von
einer einzigen der vielen, später noch von mir passirten
Likin-Stationen auch nur gebeten worden bin, mein Fahrzeug
untersuchen zu lassen. Es wäre mir, wenn ich gewollt
hätte, somit ein Leichtes gewesen, mehrere Tonnen Ladung
mit den Fluß hinaus zu nehmen, und auf diese Weise, wie
mir meine Chinesen nahe genug ans Herz legten, ein hüb-
sches Geschäft zu machen. Da ich aber, wie bereits erwähnt,
mit einer den Likin-Stationen im höchsten Grade unliebsamen
Absicht die Reise unternahm, hatte ich allen meinen Be-
gleitern untersagt, irgend welche Handelsartikel mitzunehmen.
Um ihnen die Gelegenheit zu rauben, das Schiff ohne mein
Wissen mit Kaufmannsgütern vollzustopfen, und um so jeder
Möglichkeit, unterwegs aufgehalten und chicanirt zu werden,
vorzubeugen, hatte ich dasselbe definitiv erst kurz vor meiner
Abfahrt gemiethet, so daß meine Schiffsmannschaft keine Zeit
hatte, die nöthigen Einkäufe und sonstigen Vorbereitungen
zum Schmuggel zu treffen. Es mag hier von Interesse
sein, zu erwähnen, daß ein recht beträchtliches Quantum
europäischer Import-Artikel in Booten, wie dem mcinigen,
— hauptsächlich von Mandarinen, die eine Durchsuchung
ihres Gepäcks nicht zu befürchten haben — den Fluß hinauf
seinen Weg findet, und daß ein chinesischer Beamter z.B. eine
Fahrt, für welche ich 130 Dollar zu zahlen hatte, ganz um-
sonst dadurch zu haben pflegt, daß er dem Kapitän seines
Hortau stillschweigend erlaubt, den nicht für sein eigenes
Gepäck benutzten Raum mit verzollbaren Gütern zu füllen.
Jenseits Sam-schuis, an der Halbinsel Tsching-ki entlang
fahrend, erreichen wir das gelbe Gewässer des aus dem
Schao-king-hap strömenden eigentlichen Westflusses, passiren
ein altes, aber noch gut erhaltenes Fort, welches in früheren
Rebellionen von den Kaiserlichen besetzt war, und in dessen
Nähe nach den Taiping-Nebellioneu eine große Anzahl von
Aufrührern enthauptet wurde. Heute ist jene Gegend reich
an Briganden, und hart am Ufer fand ich ans langen Bambus-
stäben, in einem Holzgitter steckend, die Köpfe mehrerer
Räuber ausgestellt. Auch noch weiterhin auf meiner Fahrt
bemerkte ich die von Raben grausig zerfleischten, frisch ab-
geschlagenen Häupter verschiedener ihrer Spießgesellen in
ähnlich erhabener Stellung! Mein vorsichtiger Schifssführer
war daher trotz meines Hinweises ans meine eigenen Ge-
wehre und die dem Hortau freilich mehr zur Ausstaffirung,
als zum Schutz dienenden, vorsündfluthlichcn Donnerbüchsen,
sowie die im Leutezimmer gegen eventuelle Anfalle von
Piraten bereitliegenden Stinktöpfe nicht zu bewegen, nach
Untergang der Sonne weiterzusegeln, als wir gerade Ge-
legenheit fanden, in der Nachbarschaft und unter dem Schutze
einiger Handels-Dschunken für die Nacht fest zu machen.
Am folgenden Morgen fuhren wir um die südliche Hälfte
der reichen Insel Kwong-li herum, nicht den nördlichen
Arm benutzend, wie Lieutenant Bullock, welcher im Auf-
träge der englischen Regierung den Fluß von Sam-schui
aus bis nach Wn-tschonJn int Jahre 1859 aufnahm, und
ivelcher den von mir passirten Theil des Flusses durch eine
Sandbank verbarrikadirt fand. Heute ist dieselbe nach Ver-
sicherung meiner Bootsleute von den vielen Hochwassern
wieder fortgeschwemmt. Der Fluß hat hier die majestätische
Breite von fast einer Meile angenommen. Den dicht-
bewaldeten Tin-uschan-Klosterberg, die denselben im Norden
und Osten umschließenden Höhenzüge und die immer deut-
licher am Horizont sich abzeichnenden Berge des Schao-king-
hap machen einen gar imposanten Eindruck. Wir nähern
uns den Stromengen, an deren Eingang, den Westfluß
1*
4
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
prächtig beherrschend, fcty^e zweite Zoll - Barriöre, Hon-lik,
liegt, ganz und gar wie diejenige Sam-schuis eingerichtet, wo
ich wiederum nach Abgabe meiner Karte unbelästigt vorbei-
passire. Die Stromengen sind von einer wenig oder gar
nicht bewaldeten, jetzt eben nach der Regenzeit aber mit
prächtigen grünen Matten bedeckten, einige Meilen mit dem
Fluß ganz parallel laufenden Bergreihe gebildet, deren
höchste Gipfel ich auf 2000 bis 2500 Fuß schätzen möchte.
Die Berge werden hier von dem bis auf den sechsten Theil
seiner gewöhnlichen Breite eingeengten Flusse durchbrochen,
welchem ich aber den ihm beigelegten Namen „Perlfluß"
nicht zugestehen möchte. Denn in Folge der in diesem
Jahre freilich außergewöhnlich früh, aber doch erst vor
einigen Wochen beendigten Regenzeit trägt das Wasser
von Sam-schui an bis nach Ping-nam-schien eine abscheuliche,
nicht gerade schmutzige, aber häßliche, lehmgelbe Farbe. Fast
während der ganzen Reise veranlaßte mich dieselbe, mein
tägliches Flußbad anstatt am Morgen erst am Abend zu
nehmen. Im Winter ist übrigens der ganze Si-kiang
rheingrün, was ich während einer kurzen, inzwischen bis
nach Schao-king-fu unternommenen Vergnügungstonr be-
stätigt gefunden habe.
Die wildzerklüfteten Hügel, welche theilweise jäh dem
Wasser zu abfallen, gewähren einen wirklich großartigen
Anblick, zumal sie jetzt noch ihr grünes, sommerliches Ge-
wand tragen. Colguhoun vergleicht in seinem Werke
„Across Chryse“ diese Berglandschaft mit den „Lochs"
des schottischen Hochlandes. Bei den Canton-Chinesen
genießt sie eines ähnlichen Rufs, wie ihn etwa in Deutsch-
land der Brocken besitzt.
Auf dem Gipfel eines der Berge am rechten Ufer fesselt
die Aufmerksamkeit des Reisenden ein merkwürdiges Stein-
gebilde, das der Laune der Natur die Gestalt eines weiblichen
Wesens verdankt. Während mein Schiff, von ausnahms-
weise günstigem Winde getrieben, mitten durch die an ihrer
engsten Stelle noch immer 600 Schritte breite Stromenge
fährt, verdolmetscht Afook mir einen langen „Parn" des
„starken August", nach welchem in jenem schönen Zeitalter, als
die fünf Genien vom Himmel stiegen, um an der Stelle, wo
heute Canton steht, Kornähren in den Boden zu pflanzen,
eine minnigliche Kwangtung-Maid ihren ans dem nahen
Kwangsi stammenden Anbeter eines schönen Tages schmählich
verlor. Derselbe hatte sich, seine Traute ohne Abschied
verlassend, urplötzlich wieder nach seinen heimathlichen Ber-
gen aufgemacht. Während dem Don Inan die arme Ver-
lassene thränenden Auges von dem höchsten Punkt des
Hügels nachblickte, war sie derartig vom Kummer überwältigt
worden, daß die Genien sich ihrer erbarmend und ihr das
jähe Ende einer Zeitgenossin ersparend, sie gnädig in Stein
verwandelten. Den ihren liebenden Armen treulos Ent-
flohenen metamorphosirten sie gleichfalls in eine Steinsäule,
welche einige hundert Meilen den Fluß weiter aufwärts,
in seiner Heimath Kwang-si, wohin ihm die strafende Gott-
heit unter Donner und Blitz gefolgt war, noch heute zu
sehen sein soll.
Diese rührende Legende wird jedem dort vorbeipassirenden
Reisenden mit einigen Variationen erzählt. Während ich
im Schatten des straffgespannten Mattensegels auf dein
Verdeck meines Fahrzeuges lag, von meinem Schisfsvolk
umlagert, welches behaglich rauchte und sich Mordgeschichtcn
erzählte, und während ich den sich durch die Berge windenden
Fluß mit seinen hohen Ufern bewunderte, erschien mir der
verwitterte Fels als Loreley, wie sie, eben dem Bad entstiegen,
auf üppig schwellendem Moosbett den schlanken Nixenleib
ausruht.
„Den Schiffer im kleinen Schisse
Ergreift es mit wildem Weh,
Er schaut nicht die Felsenriffe
Er schaut nur hinauf in die Höh."
Deutlich erkenne ich, wie die sinnend ins Thal schauende
Jungfrau ihr goldenes Haar tnit blitzendem Geschmeide
durchsticht, und leise summt mir jene wundersame Melodei
im Ohre, als mich in den Bergen dnmps wiederhallendes
Gedonner ans meinen Träumen weckt.
„Ich glaube die Wellen verschlingen
Am Ende noch Schiffer und Kahn."
Doch sind es nur Kanonen- oder Böllerschüsse, von Wacht-
schisfetl der chinesischen Regierung abgefeuert, welche, am
Ufer vor Anker liegend, plötzlich ein ganzes Flaggenmeer
nach chinesischer Manier entwickeln, und mich meinem
schönen Boote nach für irgend einen, wer weiß welch hohen
Vorgesetzten haltend, mit Gebühr salutiren. Ich kann
zu meinem großen Bedauern nicht entsprechend antworten,
denn die zur Vertheidigung des Bootes dienenden, dein
Kapitän gehörigen Mordgewehre sind in einer solchen,
geradezu strafwürdigen Verfassung, daß ich ihnen lieber als
Scheibe, denn als Schütze gedient hätte. Meine Coolies
müssen sich daher angenehm damit beschäftigen, die alten,
im siebenjährigen Kriege fabricirten Dinger, — welche von
den Europäern in so großen Quantitäten den Chinesen
aufgehängt werden — gründlich einmal von Rost und Schmutz
zu reinigen. (Fortsetzung folgt.)
Camille Douls^ Erlebnisse unter den Nomaden
der westlichen Sahara.
i.
(Mit sechs Abbildungen.)
Die Schicksale der von Dr. R. Jannasch geführten
deutschen Handelsexpedition an der ungastlichen Küste der
westlichen Sahara sind noch in unser Aller frischem Ge-
dächtniß, und die dadurch eingeleiteten Beziehungen zwischen
unserem Lande und Marokko versprechen eine so hohe Bedeutung
zu gewinnen, daß uns jede Forschungsreise nach diesen Gebieten
auf das lebhafteste interessiren muß. Bei der von Camille
Donks unternommenen (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 95)
ist dies aber wohl um so mehr der Fall, als diese Fahrt
nach der westlichen Sahara offenbar durch die weit an-
gelegten wirthschaftspolitischen Bestrebungen unseres wcst-
tichen Nachbarvolkes veranlaßt worden ist, als sich dieselbe
durch ihre Kühnheit und Abenteuerlichkeit vor allen anderen
neueren Reisen auszeichnet, und als sie auch zugleich zu
Las Palmas auf Gran Canaria.
6
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
einer sehr intimen Bekanntschaft des Reisenden mit den
Verhältnissen des südlichen Marokko und seiner Nachbar-
schaft führte. Zum Theil sind es dieselben Wüstenstämme,
mit denen es auch Dr. Iannasch und seine Gefährten zu
thun hatten, und die Fährlichkeiten.und Qualen, die unsere
wackeren Landsleute zu bestehen hatten, bevor sie durch den
Kaid Dachman von Glimim erlöst wurden, erhalten deshalb
durch den Douls'schen Bericht eine nachträgliche gute
. Arrecife de Lanzarote.
Die Dromedare und ihr fliehender Hüter.
Illustration ft. Wir geben ans demselben das Folgende
wieder:
Die ersten Monate des Jahres 1886 waren in Marokko
i) Vergl. „Tour du Monde“, 1888, Nr. 1420 sf.
durch ctit großes historisches Ereigniß bezeichnet: nach zwei
denkwürdigen Expeditionen war es dem Sultan gelungen,
die Landschaften Sus und Wad Nun seiner Botmäßigkeit
zu unterstellen. Seine neue Errungenschaft argwöhnisch
hütend, war Muley Hassan aber eifrig darauf bedacht, den
7
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
Europäern das Betreten der betreffenden Gebiete systematisch
zu vermehren, und seine Statthalter erhielten deshalb strenge
Weisungen, jeden Fremden, dessen sie habhaft würden, als
Gefangenen zn behandeln *).
Nach einem früheren Aufenthalte in Marokko,^bei Ge-
legenheit dessen ich mich mit der Sprache und Sitte des
Landes vertraut gemacht hatte, beschloß ich nichtsdestoweniger
in das Sus, das man wegen seines Reichthums und seiner
Schönheit als einen wahren Garten der Hesperiden pries,
einzudringen. Die einzige Möglichkeit, dies zn thun, schien
mir darin gegeben, daß ich mich als Muselmann verkleidete
und mich als fremder Glaubensgenosse bei den Eingeborenen
einführte, und als die bequemste Eingangspforte in das Land
erschien mir die Nachbarschaft von Kap Bojador, das von den
Kanarischen Inseln ans mit Hilfe eines kleinen Fahrzeuges
verhältnißmäßig leicht, zu erreichen war. Bon dem Mini-
sterium des Aeußeren mit Empfehlungsbriefen an die Ver-
treter Frankreichs in Marokko versehen, schiffte ich mich
Landung an der Küste der Sahara.
daher in Havre ein, und kam am 20. December 1886
glncklich in Santa Cruz de Tenerifa, und am 2. Januar
1887 in LaS Palmas auf Gran Canaria an. In der
Aus betn Berichte des Dr. Jannasch („Die deutsche
Handelsexpedition 1866", Berlin 1887) geht hervor, daß der
Argwohn des Sultans sich namentlich gegen die Franzosen
richtet, während die „Prussi“ sich eines gewissen Wohlwollens
von seiner Seite, sowie von Seiten seiner Beamten zu erfreuen
liatti-,,
Hauptstadt des Archipels (S. Abbild. 1) bot sich aber keinerlei
Gelegenheit, an die südmarokkanische Küste zu gelangen, und
überall wurden nur Warnungen und Unglücksprophezeihnngen
laut. Endlich gelang es auf Lanzerote, den Kapitän eines
Fischerfahrzeuges für den Plan zu gewinnen. Es wurden
die letzten Vorbereitungen beendet, und als mohammedani-
scher Händler gekleidet, sowie mit zwei kleinen Kisten, in
denen sich die zu verkaufenden Waaren befanden, schiffte
ich mich noch in den ersten Tagen des Januar nach der
8
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
afrikanischen Küste ein und sagte der europäischen Civilisa-
tion bis auf weiteres Lebewahl. Das kleine Schiffchen,
das nur 35 Tonnen hielt, das aber in seinen beiden Kabinen
33 Fischer beherbergte, legte die Fahrt nach dem Kap
Bojador bei günstigem Winde in etwa 24 Stunden zurück.
In Sicht des Vorgebirges angekommen, verhinderte es aber
die starke Luftströmung vom Lande her längere Zeit, der
Küste zu nahen, und das Schiff trieb deshalb südwärts bis
nach Kap Garnet. Dort endlich war es möglich, bis auf ein
paar Kabellängen an die
Falaiscn heran zukommen;
es wurde Anker geworfen,
das Boot wurde ausgesetzt,
und wenige Minuten später
befand ich mich am Fuße
der Granitfelsen, die sich
etwa 10 nr hoch senkrecht
aus dem Meere erhoben.
Zwei von den Leuten, die
das Boot gerudert hatten,
erklommen die steile Wand,
zogen mit Hilfe eines Sei-
les die beiden Kisten hinauf,
und als dies geschehen war,
ebenso mich selbst, sowie
einen Korb mit Lebens-
mitteln (S. Abbildung 4).
Dann nahmen wir Ab-
schied von einander, und sie
kehrten nach ihrem Schiffe
zurück. Ich befand mich nun
allein auf afrikanischer Erde,
angesichts der ungeheuren
Wüste, und gegenüber einer-
wilden und fanatischen Be-
völkerung, die Alles, was
Christ heißt, niederzu-
metzeln pflegt. Nichtsdesto-
weniger war es nicht Furcht,
die mich beseelte. Ich ver-
traute meinem guten Sterne,
setzte mich auf einen Felsen,
der das Meer überragt, und
träumte eine Weile über die
beiden ungeheuren Natur-
objekte, die da vor meinen
Augen ausgebreitet lagen
— das Meer und die Wüste,
die den Mcnschengcist auf
das gewaltigste zu ergreifen
vermögen —, sowie über
den seltsamen Wechsel von
gestern und heute. Bis
vor wenigen Stunden hatte
ich ein ruhiges und ange-
nehmes Leben geführt, wie
es die Civilisation er-
möglicht, jetzt befand ich
mich inmitten einer Wildnis;, und cs standen mancherlei
Gefahren und Abenteuer unter Barbaren bevor. Ich sah
das Schifflein, das mich an diese Stelle getragen hatte, ich
wußte, daß ich nur ein Zeichen zu geben brauchte, und
meine braven Freunde wären zurückgekommen und hätten
mich wieder herabgeholt von der unwirthlichcn Klippe. Aber
ich dachte nicht im entferntesten daran, es zu thun, ich
heftete meinen Blick auf das Segel und ließ es ruhig
kleiner und kleiner werden, bis ich es endlich nicht mehr
sehen konnte. Dann raffte ich mich auf aus meinen Träumen,
um meine Umgebung näher zu prüfen. Aus dem stein-
bedeckten Felsboden, auf dem ich mich befand, sproßte hie
und da etwas dürres Gestrüpp heraus, und im Osten
wurde der Horizont durch eine lange Reihe von Hügeln
begrenzt. Im Norden aber sah ich eine Heerde von
Dromedaren dahin ziehen. Ihr beschloß ich niich zu nähern,
und nachdem ich meine Kisten und meinen Korb hinter einem
großen Steine verborgen, und meinen Revolver sowie meinen
Dolch zu mir gesteckt
hatte, machte ich auch mich
ohne Zögern auf den Weg.
Der einzige Mensch, den
ich bei den Thieren fand,
war ein Negerknabe. Ich
rief ihn auf Arabisch an, er-
schien aber niemals einen
Menschen von meinem
Schlage gesehen zu haben,
und suchte unter Angstge-
schrei das Weite (S. Ab-
bildung 3). Aehnlich wie
ihr Hüter, verhielten sich
auch die Kameelc. — Bei
zwei anderen Heerden, denen
ich danach begegnete, indem
ich immer weiter vorwärts
ging, war mein Erfolg kein
besserer. Die Sklaven,
welche die Dromedare be-
wachten, flohen ebenso —
wie ich später erkannte, weil
ich einen weißen Burnus
trug, während sich die Be-
wohner der Gegend aus-
nahmslos in dunkle baum-
wollene Gewänder hüllen.
— Halb verschmachtet von
meiner langen Wanderung
unter der brennenden Wü-
stensonne wollte ich mich
schon auf den Boden werfen,
um neue Kräfte zu sammeln,
da gewahrte ich in der
Ferne vier Mauren. Auf
sie ging ich zu. Es waren
zwei jüngere imd zwei ältere
Männer, deren Haar lang
auf die Schultern herabhing,
und deren Körper mit
Fellen bekleidet war. In
der Hand trugen sie Flin-
ten , und an der Seite
Dolche. Als sie mich er-
blickten , zeigten sie sich
stark aufgeregt. Ich streckte
meine Hand gegen den
aus, der mir der älteste zu
sein schien, und wünschte ihm auf Arabisch den „Frieden
Gottes". Er ergriff sie aber nicht, sondern wich vor mir
zurück, wie vor einem wilden Thiere, musterte mich mit
wildfunkelndem Auge und erhob seine Waffe. Ohne mich
irre machen zu lassen, wiederholte ich meinen Gruß. „Wer
bist Du?" fragte mich derjenige, an den ich mich gewendet
hatte, barsch. „Ein Knecht Allahs, und ein algerischer
Kaufmann, der nach dem Rathschlusse des Herrn an diese
Küste geworfen worden ist", war meine Antwort. In
9
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
diesem Augenblicke hatte der jüngste der vier Mauren meinen
mohammedanischen Rosenkranz bemerkt, er nahm ihn mir
ab, und sagte, indem er damit fort sprang: „Wie schön
Dein Rosenkranz ist! Laß ihn mich ansehen." Ebenso hatte
einer von den anderen die Spuren meines Revolvers an
meinem Burnus wahrgenommen, und indem er ihn ans seinem
Verstecke hervorzog, fragte er mich nach dem Gebrauche. Ich
versuchte die Waffe dem Räuber wieder zu entreißen. Das war
das Signal zum Angriffe auf mich. Ich wurde von den vieren
zu Boden geworfen und mit Faustschlügen ins Gesicht miß-
handelt; meine Kleider wurden mir vom Leibe gerissen, und
als man den Ledergurt bemerkte, den ich unter den Kleidern
trug, und in dem ich meine Baarschaft verwahrte, da zer-
schnitt man denselben mit dem Dolche, so daß die blanke
Münze in den Sand rollte. Eine maurische Frau, die
gerade vorüber ging, wollte auch einen Antheil an der Beute
haben, und als darob lauter Streit und Zank entstand, er-
schien auch noch ihr Mann, Namens Ibrahim nld Mohammed.
Während die vier ersten Räuber nun, um das mir entrissene
Gut für sich behalten zu können, die Absicht aussprachen,
mich in das Meer zu werfen, so war Ibrahim der Meinung,
daß es vorthcilhaster sei, mich als Sklaven zu verkaufen,
und seine Stimme drang schließlich durch. Er führte mich
also in sein nahes Zelt, und er bewirkte es zugleich auch,
daß man mir wenigstens mein Heind und meine zerfetzten
Beinkleider zurück gab.
Die aus Kameelhaar gewebten Zelte der maurischen
Nomaden sind dunkelfarbig und aus der Ferne kaum von
Abendgebet.
dem Boden zu unterscheiden. Durch einen niedrigen Ein-
gang gelangte ich in dasjenige Jbrahim's und sank sofort
erschöpft auf die Binsenmatte, die darin ausgebreitet war.
Meine Lippen brannten, und ich verlangte zu trinken.
»Gieb dem Christen zu trinken, Eliasisc!" gebot der Herr
des Zeltes, und ein zwölfjähriges Mädchen reichte mir einen
hölzernen Napf mit schmutzigem, brakigem Wasser, von dem
ich gierig trank.
Die Nachricht von meiner Ankunft hatte sich wie ein
Lauffeuer im Lager verbreitet, und cs kamen alsbald eine
gwße Anzahl Mauren herbei, um mich zu sehen. Man
bildete einen Kreis um mich, und richtete eine ganze Reihl
don Fragen au mich. „Wer bist Du?" — „Ein algerischer
Moslim." — „Aber ein Moslim kommt nicht vom Meere
her, nur Christen, nur Ungläubige reisen auf dem Wasser."
Globus LIV. Nr. 1.
— „Ich bin ent Knecht Allah's, Allah ist der Weiseste, und
ich wandele nach seinem Willen." — „Bekenne Allah, und
daß Mohammed sein Prophet ist." — Ich bete die Formel
her. Nach jedem meiner Worte aber geht leises Geflüster
von Ohr zu Ohr. Die ältesten von den Mauren halten
cs für möglich, daß ich ein Gläubiger sei; die Mehrzahl
aber hält an der Ueberzeugung fest, daß ich ein Christ sei,
einfach, weil ich von der Seeseite her ans Land gekommen
bin. Unterdessen setzen ein paar Weiber das Werk der
Plünderung au mir fort, indem sie mir die Knöpfe von den
Kleidern, die mir geblieben sind, abreißen, um sie als Haar-
schmuck zu verwenden.
Plötzlich stürmen mehrere junge Leute herein in das Zelt
und verlangen mit Ungestüm gleiche Theilung der Beute
unter die Mitglieder des ganzen Stammes. Da ihre For-
2
*
10
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
derung von Seiten der Zuerstgekommenen nicht erfüllt wird,
bemächtigen sie sich meiner, in der offen erklärten Absicht,
mich als die Ursache des Streites zu massakriren. Ibrahim
uld Mohammed wehrt ihnen aber mit Erfolg, und meine
neuen Angreifer entfernen sich unter lauten Verwünschungen.
Ich höre dann noch Geschrei und Flintenschüsse in der Ferne,
endlich aber herrscht tiefes Schweigen um mich herum, und
ich befinde mich mit dem Mädchen, das mir zu trinken ge-
geben hat, allein in dem Zelte. Dasselbe nähert sich mir, und
indem sie ihre Hand auf meine Schulter legt, fragt sie mich:
„Wie heißt Du?" — „Abd-el-Malek." — „Warum bist Du
ein'Christ?" — Ich erhebe den Kopf und sage: „Weißt Du,
daß die Menschen in Deinem Lande sehr böse sind? Warum
haben sie mich beraubt und mißhandelt? Ich bin ein treuer
Knecht Allah's, ich habe niemand Unrecht gethan, und siehe,
wie mich Deine Brüder zugerichtet haben." — „Aber, warum
bist Du denn über das Meer gekommen? Nur Ungläubige
kommen ja von dort. — Habe übrigens keine Furcht. Mein
Vater Ibrahim uld Mohammed ist gnt, Du wirst in unserem
Zelte bleiben, und niemand wird Dir ein Leid zufügen.
Den bösen Leuten in unserem „rhiam" (Lager) wirst Du
nur immer sagen müssen, daß Du ein guter Moslim bist.
Ich selbst werde jedermann dasselbe sagen."
Bald kamen andere Weiber herbei, um den Christen zu
sehen. In ein Stück blaues Baumwollenzeug gekleidet, das
sie geschickt um die eine Schulter schlingen, während sie den
andern Arm sowie auch die andere Brust entblößt lassen,
nehmen sie sich außerordentlich stattlich und malerisch aus.
Es sind im allgemeinen schöne Frauen (S. Abbildung 5),
ihre großen verwunderten Augen vergleichen die arabischen
Dichter nicht mit Unrecht mit den Augen der Gazelle, und
ihre Bezahnung ist vorzüglich. Mich Fremdling mustern
und betasten sie neugierig genug, und eine von ihnen warnt
mich auch zugleich, das Zelt zn verlassen, da man mich er-
würgen wolle.
Gegen vier Uhr nachmittags kam mein Wirth zurück
und kündigte mir an, daß man mich so lange als Gefangenen
behandeln werde, bis es sich herausgestellt haben werde, ob ich
Christ oder Mohammedaner sei.
Da es Winter war, kam bald danach die Stunde des
Abendgebets, und ich folgte Ibrahim zur Verrichtung des-
selben nach einem Platze in der Mitte des Lagers. Die
vorgeschriebene Abwaschung vollzog man in Folge des
Wassermangels mit Sand. Dann ertönte das „Allah ist
der Größte! Preis sei Allah!" aus dem Munde des
Imam, das „Fatiha" (das erste Koran-Kapitel) wurde
recitirt, die Umstehenden murmelten die Worte nach, und
endlich warfen sie sich nieder auf den Boden und riefen alle:
„Allah ist der Höchste! Allah allein ist groß!"
Das ganze Schauspiel hatte etwas überaus Erhabenes:
diese wilden Gestalten mit Begeisterung betend und Gott
verehrend, und diese Wüstennatur, in der am fernen Horizonte
purpurne Wolken mit fahlen Sandhügeln verschmelzen (S.
Abbildung 6).
Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
Von Dr. F. Boas in New Aork.
IV.
Wir haben im vorigen Abschnitte eine Reihe von Sagen
kennen gelernt, die von der Sonne als Gottheit und von
der Gottheit im Himmel handeln. Bei den Bil^ula knüpft
sich an dieselben die eigenthümliche Nasmasalani^-Sage,
weiche in den früheren Abschnitten schon mehrfach erwähnt
wurde. Nach Angabe der Bil^ula soll Masmasalani%
(oder Yulatimöt) und der Rabe identisch sein, doch ist es
mir nicht gelungen, zn einer klaren Einsicht dieser Vor-
stellungen zn gelangen. Ich lasse hier diese Sage, welche
die wichtigste Stelle unter den BU^ulasagen einnimmt,
folgen.
Nachdem der Rabe die Sonne erschaffen hatte, stiegen
vier Männer, Yulatimöt, Nasmasalani^, Natlapalitsocp
und Natlap86^o6<p vom Himmel herab und erschufen die
Lachse, gaben den Menschen ihre Erfindungen und machten
die Erde bewohnbar. Sie schnitzten den Lachs aus einem
Stück Holz und warfen ihn ins Wasser, indem sie ihn
hießen fortzuschwimmen. Da sprach Nasmasalaui^ zum
Raben: „Gehe und hole den Hinterhauptknochen des
Lachses." Der Rabe flog aus, um denselben zu holen. Er
gelaugte zum Häuptlinge der Lachse und fand dort den
Knochen. Als er aber eben damit fortfliegen wollte, be-
merkte der Häuptling, daß jener etwas im Munde hatte und
nahm ihm den Knochen wieder fort. (Auf irgend eine
Weise, die mir aber nicht erzählt wurde, gelang es dem
Raben doch, den Knochen zu erlangen.) Als derselbe dem
Lachse eingesetzt war, konnte er geradeaus schwimmen.
Zn jener Zeit gab es noch keine Lachse im Flusse Boülat
bei XutYI. Da der Rabe dieselben aber in jenem Flusse
zn haben wünschte, sprach Yulatimöt zu ihm: „Gehe hin
zum Häuptlinge der Lachse und hole dir die Fische!" Da
schob der Rabe sein Boot Tupánkchtl ins Wasser und fuhr
mit feinen vier Schwestern Tsuaastelkchs, Steuak^chtelchs,
Chil% und Askyániqs zu den Lachsen. Als sie nicht mehr-
weit von dem Hause des Häuptlings der Lachse waren,
landete der Rabe und ließ seine Schwestern sich im Walde
verbergen. Abends, als es dunkel war, schlichen sie sich
heimlich in das Dorf des Häuptlings und bohrten Löcher in den
Kahn desselben. Dann gingen sie zu der Stelle zurück, wo
sie ihr Boot gelassen hatten und fuhren am folgenden
Morgen zum Dorfe, als feien sie eben erst angekommen.
Der Häuptling ließ sie einladen, ins Haus zu kommen und
bewirthete sie reichlich. Als sie nun wieder fortfuhren,
versah der Häuptling seine Gäste mit Reiseproviant. Der
Rabe bat ihn: „Laß deine Tochter die Vorräthe in mein
Boot tragen, ich werde sie dort wegstauen." Dann bestiegen
sie zusammen das Boot, und als des Lachshänptlings Tochter
im Boote war, rief der Rabe seinen Schwestern zu, so rasch
als möglich fortzurudern. Der Häuptling wollte sie ver-
folgen, als aber sein Boot ins Wasser geschoben war, ging
es unter, da der Boden ja vom Raben durchbohrt war.
So gelangte dieser mit der Tochter des Häuptlings der
Lachse nach Nut’el. Dort warfen sie das Mädchen ins
Wasser, und seither sind viele Lachse in dem Flusse.
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
11
Dieselben konnten aber nicht den Fluß hinaufsteigen, da
eme gewaltige Felsmasse seinen Lauf durchsetzte. Zu jener
Zeit sandte Sex den Nöakila zur Erde herab. Dieser traf
unterwegs Nasrnasalauix, der ihm ein Boot gab, in welchem
er den Fluß Kchlat herabfuhr, bis er zu dem Felsriegel
kam. Zu gleicher Zeit sandte 8ux den Aerntsroa in Ge-
stalt eines Adlers vom Himmel herab. Auf seinem Wege
zur Erde traf auch er Masmasalamx, welcher ihm den
Olachcn (Thaleichtys pacificus) gab. Er gelangte nach
Kimskuitx und wanderte den Fjord hinauf, bis er nach
dlnt'tzl kam. Auch er fand seinen Weg durch den Felsen
versperrt, Uber welchen das Wasser in einem kleinen Rinnsal
floß-. Da rief Nöakila, welcher oben stand, Xemtsioa zu:
'Haß uns den Felsen zerbrechen, damit die Lachse den Fluß
hinaufsteigen können." Es kamen Masmasalänix, Yula-
tmiot, Matlapalitseq und MaÜapee^oeq, um zu versuchen,
den Fels zu zerbrechen. Es gelang ihnen nicht. Darauf
nef Nöakila den Kranich, welcher vergeblich mit seinem
langen Schnabel an dem Felsen pickt. Ebensowenig gelang es
dem Donnervogel 8alötl, den Fels zu zertrümmern. Nun
Wandte Nöakila einen seiner Leute nach Atlkö (einem Dorfe
^cr Heiltsuk), wo ein mächtiger Schamane, Anöyastaich
mit Namen, wohnte. Dieser bestieg sein Boot und fuhr
nach Nut’él. Er stieß mit seiner Lanze gegen den Fels,
welcher sofort zerbrach. Nun lief der See ab, das Wasser
strömte ins Meer hinab und die Lachse konnten fortan den
Fluß hinaufschwimmen.
Zu derselben Zeit, als Xemtsloa vom Himmel herabstieg,
sandte 8n£ vier Männer und zwei Frauen nach 8ät8iq
t)erab, wo ste Häuser am Flusse Nuts’qoätl bauten. Ihre
Namen waren Ot'oalöstimöt, Yäelöstimöt, Tsïtstsip,
Isyüyöt und dessen Schwestern Kulaiyü und S%imäna.
^te trugen das Reibefeuerzeug, den braunen Bären und
den Grizzly-Bären, lind Yäelöstimöt heirathete Isyiiyot’s
tod)VDeftef Kulaiyü. Als Xörntsroa hörte, daß die Menschen
in Sätsq Feuer hatten, sandte er seine Schwester, um Feuer
nach Nut’él zu holen, und ebenso sandten die Häuptlinge von
Nu^alkch und Taleömch ihre Schwestern, welche von
Yäelöstimöt das Feuer erhielten.
Masmasalänix wollte alle Vögel bunt und schön machen.
Als er auch den Raben bunt bemalte, war dieser nicht zu-
frieden, so oft es Masmasalänix auch versuchte und so
schön er ihn machte. Da sprach Yulätirnöt zu IVIasmasa-
lánsA' „Beinale ihn ganz niit schwarzer Farbe." Masmasa-
nahm eine Hand voll Ruß und bestrich den Raben
über und über damit. Da flog dieser davon und rief:
»Q^x, Qa^!“ Und Masmasaläuix machte die Möve weiß;
ev 9^b dem Vogel Aichoaxone seinen Gesang dem K’chitl-
Bpèkyan (= einöhrig) den seinen, und machte, daß die
Böget im Herbst gen Süden fliegen, im Frühjahr aber
zurückkehren, um zu brüten.
Masmasalänix band die Erde mit einem Seile ans
Eedcrnbast an den Himmel. Einst streckte er das Seil, und
öle Erde versank im Ocean; als er cs wieder verkürzte,
tauchte sie wieder auf. Damals kamen viele Menschen
ums Leben. Viele, die sich in ihren Booten gerettet hatten,
wurden verschlagen. Diejenigen, welche früher im Westen
gewohnt hatten, wurden ostwärts getrieben. Andere wurden
Hsvl Ost gen Westen, von Norden gen Süden oder von
bilden gen Norden getrieben. Als die Wasser sich wieder
verliefen, landeten dieselben, und so entstanden alle Völker
und Stämme.
Masmasalänix tritt in einigen anderen Sagen handelnd
auf und zwar stets als der weise Rathgeber, welcher auf
dem Wege von der Erde zum Himmel wohnt. Der Be-
schreibung nach trügt er einen großen Hut.
In den obigen Sagen ist der Umstand bemerkenswerth,
daß der Name des Häuptlings Nöakila nicht der Uil^ula,
sondern der Kwäkiütl - Sprache angehört. Die Thatsache
läßt auf eine enge Verbindung der beiden Völker schließen.
In der That findet sich die Nasuiasaläuix-Sage auch bei
den Stämmen, welche den Heiltsuk - Dialekt der Kwä-
kiütl sprechen. Ich hörte dieselbe von den Wik’enoq in
folgender Form.
Noaqaua und Masmasalänix.
Nachdem der Rabe die Sonne befreit hatte, stiegen
Noaqaua und Masmasalänix vom Himmel herab, um
alles schön und gut zu machen.
Noaqaua dachte: „£), wenn doch Masmasalänix das
Land und das Wasser schiede"; und Masmasalänix schied
das Land vom Wasser. Und weiter dachte Noaqaua: „O,
wenn doch Masmasalänix den Olachcn schüfe"; und
Nasrnasalauix schuf den fettreichen Fisch. Dann dachte
Noaqaua: „O, machte Masmasalänix doch einen Weg, der
auf jenen Berg hinaufführte"; und Nasrnasalauix that
also. Und weiter dachte Noaqaua: „O, machte Masmasa-
länix eine Höhle in diesem Berge und schüfe er viele Beeren
auf dem Gipfel. O, schnitzte er Menschen aus Cedernholz,
Männer und Frauen, und machte er ihnen Kahn und
Ruder." Und Nasrnasalauix führte alle Gedanken Noa-
qaua’s aus. Weiter dachte Noaqaua: „O, machte doch
Nasrnasalauix einen Kasten mit vier Fächern für die Tanz-
flöten." Und Nasrnasalauix that also. Er machte einen
vierfächerigen Kasten. In das Fach vorn links legte er
die Flöte des Hämat’sa, rechts vorn die Tsäeqa oder
Tloqoäla-Flöten, links hinten die des Tanzes Tlöoläx und
rechts hinten die Nitla - Flöten. Dann dachte Noaqaua:
„O, machte Nasrnasalauix eine fünfstimmige Flöte", und
Nasrnasalauix machte eine Flöte mit den Stimmen des
qöitsa, t’eixtlala, kuäiiqa (Enten), axaxöne und der
Maus. Und weiter dachte Noaqaua: „O, machte Mas-
masalänix den Tanzstab; 0, ginge er in den Wald und
suchte die Ceder; 0, machte er die Steinaxt, um die Ccder
zu füllen; machte er doch die Kiste, um getrocknete Lachse zu
bewahren. O, machte er das Reibefeuerzeug, damit die
Menschen Feuer haben, unb suchte er gelbes Cedernholz, das
lange im Wasser gelegen hat, um es durch Reiben zu ent-
zünden; 0, machte er den Bastklopfer und schlüge den Eedern-
bast weich, um Zunder zu machen." Und alle Gedanken
Noaqaua’s fübrte Nasrnasalauix aus. Weiter dachte
Noaqaua: „O, machte Nasmasaläuix ein Netz, in dem die
Menschen Fische fangen könnten." Nasrnasalauix ver-
suchte es, doch es gelang ihm nicht. Deshalb ging er zur
Spinne, und bat sie, für ihn ein Netz zu machen. Sie
erfüllte seine Bitte. Ebenso machte sie den Halsring aus
rothem Cedernbast für den Wintertanz, und den Korb, und
lehrte Nasrnasalauix die Cedern abzuschälen. Und Noaqaua
dachte: „O, schärfte Nasrnasalauix doch einen Knochen,
und gäbe ihn der Spinne, um den Bast damit zu spalten."
Und Nasrnasalauix schürfte den Knochen und die Spinne
machte Bastfäden. Dann dachte Noaqaua: „O, machte Nas-
masaläuix die eßbaren Wurzeln, Häuser, Malereien, Schnitze-
reien und Masken"; und Nasrnasalauix that also. Als alles
vollendet war, machten Noaqaua und Nasrnasalauix einen
großen Lärm am Himmel und die Menschen wurden
lebendig. Dann hieß Noaqaua die Menschen heirathen
und sprach zu ihnen: „Wenn ihr keine Beeren mehr am
Fuße des Berges findet, so benutzet den Weg, den wir ge-
macht haben; steigt hinauf, droben werdet ihr viele Beeren
12
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
finden." Die Menschen gehorchten. Viele junge Männer
hatten keine Frauen bekommen. Diese hieß iYoaqana durch
die Höhle den Berg hinaufgehen und droben die beeren-
suchenden Frauen rauben. Die jungen Leute liefen nun
durch die Höhle den Berg hinauf. Dieselbe war aber an
vielen Stellen so niedrig, daß die, welche gar zu ungestüm
liefen, sich die Köpfe an der Decke einstießen und so ums
Leben kamen. Die übrigen erschienen plötzlich oben auf
dem Berge, raubten die Beeren suchenden Frauen, und eilten
dann durch die Höhle zurück. Wer nicht rasch genug ent-
floh, wurde von den Männern, die ihre Frauen vertheidigten,
erschlagen.
Dann dachteNoaqaua: „0, lehrte doch Nasina8aIanH
die Menschen Fallen machen, in denen sie den Waschbären
fangen können." Und NamnasakanH lehrte sie Bären
fangen und Mäntel aus deren Felle machen. Er sandte
vier Männer in den Wald, welche die ersten waren, die
Bären fingen.
Und weiter dachte Noaqaua: „0, wenn doch Mas-
masaläni# einen Wal aus Holz machte und ihn mit Harz
bestriche"; und NasmasatanH that also. Auf einem
fernen Berge lebte nämlich der Vogel Qan'isltsua, welcher
die Menschen zu rauben pflegte. Diesen wollte Noaqaua
fangen. Er ließ alle Menschen in den Wal hineingehen,
Masmasaläni;j' verschloß dann den Wal und ließ ihn ins
Wasser. Er schwamm zum Hause (^anislbsna's. Dieser
sandte der Reihe nach seine drei Söhne Noiusnsqaiuonqoa,
Maimasemenqoa und Yaiut%semenqoa aus, den Wal
zu heben, aber alle klebten an dem Harze fest; der Wal
war ihnen zu schwer und zog sie herab. Da sandte Qanisltsua
seinen jüngsten Sohn Äamosqainonqoax) aus. Dieser
freute sich, er legte seine Adlerkleider an und flog hinab,
den Wal zu fangen. Doch auch er klebte daran fest, der
Wal zog ihn herab und er lag mit gebrochenen Flügeln auf
dem Wasser. Ebenso kam endlich Qanisltua ums Leben.
Und Noaqaua dachte: „Wenn wir alt geworden sind,
wollen wir sterben." Aber Na8ma8alaui^ wollte immer
ane Leben bleiben. Der kleine Vogel tPoo^a wünschte
aber sehr, daß Noaqaua und Masmasaläni% sterben möchten.
Er sagte: „Wo soll ich wohnen, wenn ihr ewig am Leben
bleibt? Ich will in eurem Grabe mein Nest bauen und
mich wärmen." Noaqaua wußte nicht, was er thun sollte
und sagte zum Vogel: „Gut, wir wollen sterben, aber nach
vier Tagen wieder auferstehen." Der Vogel aber war hier-
mit nicht zufrieden, er wollte, daß sie ganz sterben sollten.
Da beschlossen Noaqaua und Na8ma8a1ani^ zu sterben
und dann als Kinder zurückzukehren. Sie starben und
stiegen hinauf in den Himmel, um zu sehen, ob die Leute
sie betrauerten. Sie sahen dort, daß alle Menschen weh-
klagten und da verwandelten sie sich in Bluttröpfchen, die
mir dem Winde zur Erde herabwehten. Im Schlafe
athmeten die Frauen dieselben ein, und in Folge dessen
gebaren alle Kinder. So kehrten Noaqaua und Masmasa-
läm% zur Erde zurück.
Die hier erzählte Schöpfnngssage ist höchst interessant,
da sic scheinbar so ganz ans dem Nahmen der Mythen der
Nachbarstämme herausfällt. Die Sage als solche ist eine
der schönsten, die mir mit diesen Stämmen bekannt ge-
worden sind. Einen direkten Zusammenhang zwischen beut
Sonnencyclus und der YkasmasatanH-Sage kann ich bis-
lang nicht nachweisen, obwohl offenbar gewisse Züge der
Sage von den Nachbarstämmen entlehnt sind. Wie hier
i) Die Namen bedeuten: der Einen, Zwei, Drei, Vier
heben Könnende.
Masmasaläni;£ und seine Genossen den Menschen die
Künste lehren und ihnen ihre Sitten und Gebräuche vor-
schreiben, so thut es bei den südlichen Stämmen Qanikila,
der Gottessohn. Die Sage von deni Vogel Qanisltsua
ist direkt von den südlichen Stämmen entlehnt, bei denen
der Rabe auf solche Weise den Donnervogel Kunkun-
^ulikya tödtet. In gewissen Zügen schließt sich der Sagen-
kreis des Lil^nla imb Wik’enoq an den der viel südlicheren
Qauitscbin an, mit denen die Bil^ula sprachlich eng ver-
wandt sind, und ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich die
Eigenthümlichkeiten ihrer Sagen ans einer Vermischung
der selischen Sagen mit Tsimpschian und KwäkiuiB
elementen erkläre.
An die hier besprochenen Sagenkreise schließen sich die
Ueberlieferungen vom Monde, welcher ebenfalls eine wichtige
Rolle bei den Völkern der Nordwestküste Amerikas spielt.
Wir hörten früher von dem Ursprung der neuen Sonne
und des neuen Blondes bei den Qatlölt^. Es ist von
Wichtigkeit, daß bei ihnen Mond und Sonne sprachlich nicht
differenzirt ist, sondern daß sie Tag- und Nacht-Sonne ge-
nannt werden. Bei den K w akiutk S tarn men ist dies nicht
der Fall. Bei ihnen giebt es einen unabhängigen Sagen-
kreis, der sich um den Mond concentrirt. Ich lasse eine
Reihe dieser Sagen folgen.
Der Mann im Mond. (Bilxula.)
Ein Mann sandte seine Frau jeden Tag in den Wald,
Beeren zu sammeln. Eines Tages sah sie daselbst der
Mann im Monde, der Sohn 8n^s. Er fand Gefallen an
ihr und stieg vom Himmel herab, um bei ihr zu bleiben.
Dann kehrte er nach dem Himmel zurück. Die Frau ging
nach Hause, hatte aber keine Beeren, da sie statt zu sammeln,
mit dem Mondmann zusammen gewesen war. Als sie nun
alltäglich ohne Beeren nach Hanse kam, obwohl viele im
Walde wuchsen, ward ihr Mann mißtrauisch und beschloß,
sie zu belauschen. Da fand er sie mit ihrem Liebhaber bei-
sammen. Er schlich unbemerkt nach Hause zurück, beschloß
aber, sich zu rächen. Am folgenden Tage sprach er zu seiner
Frau: „Du findest ja nie Beeren, ich will jetzt selbst
einmal gehen und sehen, ob es keine giebt." Er setzte
sich nun seiner Frau Hut ans, hing ihren Mantel um,
unter dem er ein Messer verbarg und ging zu dem Platze,
wo jene einander zu treffen pflegten. Es währte nicht lange,
da kam der Mondmann. Als derselbe ihn umfangen wollte,
schnitt er mit dem Messer ihm den Kopf ab. Er trug
denselben nach Hanse, und als seine Frau ihn erblickte,
erschrak sie sehr und sing an zu weinen. Er wollte wissen,
wer jener sei, und rief alle Leute zusammen, den Kopf zu
sehen, Niemand aber kannte ihn.
8n^ stieg nun zur Erde herab, um seinen Sohn zu
suchen. Endlich kam er auch zu dem Manne, welcher jenen
erschlagen hatte. Er frug: „Hast du meinen Sohn nicht
gesehen?" Jener antwortete: „Nein, ich kenne ihn nicht
und habe ihn nicht gesehen." Da erblickte Su% den Kopf
seines Sohnes, welcher über dem Feuer hing. Er ward
sehr zornig und machte ein großes Feuer auf der Erde, so
daß alle Menschen umkamen. Nur die Geliebte des Mond-
mannes blieb verschont. Sie nahm einen Eimer voll
Wasser aus deni Flusse, ehe derselbe austrocknete und fing
mit den: Wasser viele kleine Fische (tutöq). Als alles
ausgebrannt, und die Flüsse vertrocknet waren, schüttete sie
das Wasser in den Fluß, der nun wieder zu laufen be-
gann. Die Fische schwammen darin umher und vermehrten
sich rasch.
Dr.
F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
13
Der Mond (Wik’enoq).
Kyälöyaqame lebte bei feinem SBater Q’ömchq’ömkila.
Eines Tages beschloß er in seinem Boote auszufahren. Er
sstiob das Boot ins Wasser und fahr hinaus in die weite
^ee. Dort begegnete er Qömöqoa, welcher versuchte, das
Boot und den Schiffer zu fangen. Da befahl Kyälöyaqame
dein Boote, in die Höhe zu steigen, und siehe, es flog davon,
wie ein Böget. Es stieg höher und höher und stieß endlich
an den Himmel an. Dort fand Kyälöyaqame ein Loch,
steckte seinen Kopf hindurch und frug: „Wohnen hier oben
keine Menschen?" Da hörte er Jemand antworten: „Ja,
wir wohnen hier, die Wä^sqem, aber wir sind nicht glück-
lich, denn wir haben unseren Mund im Nacken." Da sprach
Kyälöyaqame: „Wenn ich dereinst ein Kind haben werde, so
soll es heißen wie ihr." Und er fuhr weiter in seinem Boote.
Nach einiger Zeit sah er unter sich ein Hans. Das Boot
kreiste anfänglich über demselben, und ließ sich dann tiefer
und tiefer herab, bis es endlich vor dem Hanse landete. In
dem Haufe aber wohnte Tläqoakila (der Kupferplatten
Machende). Seine Frau wiegte ihr Kind, das beständig
schrie. Um cs ruhig zu machen, sprach sic: „Weine nicht,
sonst wird dich Kyälöyaqame holen." Das Kind schlief
ein, die Frau legte sich and) nieder, und als alle schliefen,
schlich sich Kyälöyaqame ins Hans und stahl das Kind
aus der Wiege. Nach einiger Zeit erwachte die Frau und,
als sie fortfuhr, das Kind zu wiegen, merkte sie, daß die
Wiege leer war. Da rief sie: „Tläqoakila! Jemand
hat unser Kind geraubt" und weinte sehr. Aber sogleich
trat Kyälöyaqame herein und sagte zu ihnen: „Hört ans
zu weinen, hier ist euer Kind, ich wollte nur feinen Namen
wissen." Da freute sich der Vater und sprach: „Er heißt
Tlatlaqoasila (der Kupfer Zählende). Wenn deine Schwester-
Kinder bekommt, so laß sie ihrem ältesten Sohn diesen
Namen geben. Das zweite Kind, ein Mädchen, soll Tlaqoa-
kilaiöqoa (die Kupfer Bemalende), das dritte, ein Knabe,
Sekyöqoäla (das tönende Kupfer), und das letzte, ein Mädchen,
Tläqoltl (ganz voll Kupferplatten) heißen. Nun fahre weiter
zu Aichts’umkila (der Haliotis - Schalen Bearbeitende)."
Kyälöyaqame stieg in sein Boot und flog weiter. Bald
fand er Aielrtknmkila's Hans; wieder kreiste das Boot über
demselben und ließ sich langsam herab. Dann stahl Kyä-
löyaqame auch ihm das Kiud aus der Wiege, um seinen
Namen zu erfahren. Als er es zurückbrachte, sprach Aichts’-
umkila: „Wenn deine Schwester Kinder bekommt, so soll sie
das älteste, einen Knaben, nach unserem Sohne Aiclits’um-
q’äna% (der Muscheln Reinigende) nennen. Das nächste, ein
Mädchen, soll Aichts’umqa (Armring aus Haliotisschalen)
heißen; das driite, ein Knabe, soll Ai^ts’umalitl (voller
Haliotisschalen) und das süngste, ein Mädchen, Aichts’um-
qanlitl (Kiste voll Haliotisschalen) heißen." Kyälöyaqame
kehrte dann zur Erde zurück und erzählte feinen Schwestern,
was er erlebt hatte. Dann stieg er in den Himmel und
ward der Mond.
Ein funges Mädchen wartete ihren Bruder, während die
Mutter ausgegangen war, Olachen zu fangen. Da der
Knabe unaufhörlich schrie, schlug sie ihn in ihren Mantel
ein und trug ihn auf der Straße umher und gab ihm einen
kleinen Eimer zum Spielen. Da er gar nicht still sein
wollte, drohte sie ihm, der Mond werde ihn holen. Und
als er noch nicht aufhören wollte, drohte sie ihm zum
zweiten, dritten und vierten Male. Da hörte sie der Mond.
Er stieg zur Erde herunter, und indem er herabkam, ward
er riesengroß. Er nahm den Jungen mit sich hinauf zum
Mond. Noch heute kann man den Knaben mit dem Eimer
in der Hand im Monde sehen.
Der Besuch beim Monde (Wik’enoq).
Ein junger Mann, Namens Milla, ging in einem Jahre
zehnmal hinauf zum Himmel. Beim ersten Male fand er
droben eine Möve und brachte sie mit herunter. Als er
zum zweiten Male hinaufstieg, fand er einen Vogel mit
rothem Schnabel, beim dritten Male die Salmonberries,
daun den Taucber und den Vogel Aé^ë^ë. Beim sechsten
Male brachte er den Vogel Atemkuli mit herab. Als er
aber zum zehnten Atale hinaufstieg, fand er den Mond
Nüsnuselis und kehrte nun nicht wieder. Da weinten und
klagten seine Mutter Tleelaiuqs und sein Vater Q’öm%-
tóis. Endlich schliefen sie ein. Im Traume sah die
Mutter ein schönes Haus vor sich und als sie erwachte,
erkannte sie, daß es kein Traumgebilde war, sondern wirklich
nahe vor ihr stand. Sie sah ihren Sohn Milla vor dem
Hause spielen und weckte ihren Mann, damit er ihn auch
sehen solle. Als der Vater erwachte, sah auch er das
Haus und den Knaben und rief: „Da ist ja unser ver-
lorener Sohn!" Sie sprangen auf und liefen auf das
Haus zu. Dieses schien aber vor ihnen zurückzuweichen
und endlich erkannten sie, daß es in Wahrheit weit fort,
droben am Himmel war. Da fetzten sie sich nieder und
weinten und sangen: „O, unser Sohn spielt droben bei
Nüsnuselis. Er weilt im fremden Lande und kehrt nicht
mehr zu uns zurück." Als sic so sangen, ging ihre Nichte
vorüber, und sie erzählten ihr, daß sie Nútla im Himmel
droben hatten spielen sehen. Da sprach jene: „Laßt uns
euren Sohn im Tanze wieder erscheinen lassen." Die
Eltern waren damit einverstanden. Sie ließen ihre Nichte,
die (Töqömötsernqa hieß, in der Gestalt des Milla tanzen
und gaben ihr seinen Namen.
Der Mond (Tatlasiqoäla).
Kyälöyaqame, der Mond, stieg zur Erde herab und
wohnte auf der Insel Kayäla. Er fing sich Adler, aus
deren Schnäbeln er sich eine Rassel machte. Ihre Unter-
kiefer verarbeitete er zu einem Tanzhute. Da wurde er-
stark und muthig. Da er ganz allein auf der Insel wohnte,
verwandelte er die Möven, die am Strande saßen, in
Menschen. Diese bauten ihm ein großes vierstufiges Haus,
und verrichteten alle Arten Arbeit für ihren Häuptling. Einst
stand Kyälöyaqame an einer kleinen Landspitze; da öffnete
sich plötzlich das Meer, wie ein Rachen, und ein Boot kam
aus der Spalte hervor, in dem ein Mann Namens Waäyekila
saß. Dieser trug Kopf und Halsringe ans rothem Eedern-
bast. Er fuhr auf Kyälöyaqame zu und gab ihm einen
großen Stein, der auf dem Boden des Bootes lag. Dann
kehrte er zurück und das Mtier schloß sich wieder hinter ihm.
Kyälöyaqame trug den Stein nach Hause. Derselbe war
aber so schwer, daß zehn feiner Sklaven mit vereinten
Kräften denselben nicht heben konnten.
Kyälöyaqame sprach nun zu seinen Sklaven: „Laßt
uns zum See hinaufgehen hinter unserem Hause. Dort
wohnt Wä^aos, der ebenfalls einen großen Stein hat.
Wir wollen sehen, wer von uns der Stärkste ist. Siegingen
den Fluß hinauf und als sie bei Wä^aos angekommen waren,
forderte Kyälöyaqame ihn zum Wettkampfe auf. Er frug:
„Kannst du meinen Stein heben?" Wä^aos erwiderte:
„Ja, ich kann es, aber kannst du den meinen heben?" Auch
Kyälöyaqame glaubte dazu im Stande zu fein. Auf
Wä^aos’ Verlangen brachte er seinen Stein herbei und
dieser hob ihn mit Leichtigkeit. Er selbst aber konnte
Wä^aos’Stein nicht heben. Da sprach er zu diesem: „Ich
sehe nun, daß du stärker bist als ich. Fortan sollst du mein
Bruder sein." Und sie wohnten von nun an gemein-
schaftlich in einem Hanse und fingen Lachse im Flusse.
14
Kürzere Mittheilungen.
Der Mond raubt eine Frau (Tlatlamqoála).
Eine Frau, Namens Tspilqoláqa, und deren Tochter
Tlaluakoakyilakasö lebten zusammen in Tlamnos; die
Tochter mar sehr schön und darum beschloß der Mondmann,
sie zu rauben. Er stieg vom Himmel herab und bat
Tspilqoláqa um etwas Wasser. Bereitwillig schickte diese
ihre Tochter zum Brunnen, um frisches Wasser zu holen.
Kaum hatte diese aber den Fuß aus der Thür gesetzt, so
ergriff sie der Mondmann und nahm sie mit zum Himmel
hinauf. Da ward T8pilqoláqa traurig und zog nach
Xauoto. Nach einiger Zeit kam der Mondmann wieder
herab und bat eine Frau um Wasser. Als Tspilqoláqa
ihn kommen hörte, warnte sie fene, nicht hinauszugehen, denn
sonst würde der Mondmann sie mitnehmen. Jene hörte
aber nicht auf den Rath und als sie vor die Thür trat,
entführte sie der Mondmann. Das Mädchen mit dem
Eimer kann man noch heute im Monde sehen.
Der Mondmann (Lekuilto%).
Einst herrschte in einem Dorfe eine Hungersnoth und
alle Vorräthe waren aufgezehrt bis auf eine Kiste voll ge-
trockneter Fischeier. Die Leute lebten von Farnwurzeln,
die sie mühselig im Walde suchten und von denen sie sich
kümmerlich nährten. Ein Mann und eine Frau hatten zwei
Söhne, welche sie zu Hause ließen, wenn sie in den Wald
gingen. Sie hatten ihnen aufs Strengste verboten, die Fisch-
eier zu berühren.
Eines Tages, als die Eltern ausgegangen waren, trat
ein Mann ins Haus und sagte zu den Knaben: „Weshalb
eßt ihr denn keine Fischeier, da steht ja eine ganze Kiste
voll." Die Knaben antworteten: „Nein, wir dürfen nicht
davon nehmen, unsere Eltern haben es uns verboten." „Ach
was", sagte der Mann, „nehmt euch nur so viel ihr wollt."
Der eine der Knaben war nun halb Willens zu thun, was
der Fremde gesagt hatte, aber der andere warnte ihn und
sprach: „Mutter wird uns schlagen, wenn sie zurückkommt
und sieht, daß wir ihre Fischeier genommen haben." Da gab
der Fremde sich ihnen als der Mondmann zu erkennen und
sprach: „Wenn ihr künftighin zu essen haben wollt, so bittet
mich nur darum. Ich werde euch hundertfach die Fischeier
zurückerstatten, die ihr jetzt euren Eltern nehmt." Da aßen
die Knaben alle Fischeier aus, und der Fremde ging von
dannen.
Nach kurzer Zeit kamen die Eltern zurück, und als die
Mutter entdeckte, daß die Fischeicr fort waren, schlug sie die
Kinder. Diese sagten nichts; aber um Mitternacht, als
alle Leute schliefen, gingen sie hinaus zum Ufer und
sprachen: „O, mache uns glücklich, du hast es uns ver-
sprochen." Als sie viermal so den Mondmann angerufen
hallten, kamen zahllose Häringe angeschwommen und alle
Arten von Lachsen. Sie fingen dieselben, füllten ihre
Mäntel mit Fischen und trugen sie zum Hause ihrer Eltern.
Dort warfen sie die Fische zu Füßen ihrer Mutter nieder
und sprachen: „Siehe, du zürntest uns und straftest uns,
weil wir deine Fischeier gegessen hatten. So vergelten wir
dir!" Da freute sich jene, und ließ sich erzählen, wie sie
die Fische bekommen hätten, und bald wußten alle Leute, daß
jene reich waren. Sie kamen von allen Seiten herbei und
kauften Fische für Boote, Mäntel und Felle. So wurde
der Vater der Knaben ein großer Häuptling.
Kürzere Mi
Die Rcgttlirnng der nordamerikanischen Felsen-
gebirgsströme.
Die Amerikaner von der Union geben den Franzosen hin-
sichtlich der Kühnheit großer Entwürfe, durch die unwillkomme-
nen geographischen Naturverhältnissen Abhülfe geschaffen werden
soll, nicht das geringste nach, und es läßt sich auch nicht leugnen,
daß sie auf diese Weise manchen schönen Erfolg erzielt haben.
Wir denken hierbei vor allen Dingen an die künstliche Oeff-
nung der Mündung des Mississippi für den größten Ocean-
dampfer sowie an die Schöpfung des complicirten Reservoir-
Systemes zur Abschwächnng der Hochstutheu int Oberlause
dieses Stromes. Nach den verheerenden Ueberschwemmungen,
die der Ohio im Jahre 1883 anrichtete, faßte man sofort
den Entschluß, das letztere System auch auf diesen Tributär-
fluß des Mississippi auszudehnen. Man wollte auch ihn in
seinem Quell-Laufe durch Dammbauten zu künstlichen Seen
stauen und sozusagen in Fesseln schlagen. Indem man der
Sache näher trat, mußte man aber doch erkennen, daß die
natürlichen Voraussetzungen für dergleichen Anlagen in den
Alleghanies wesentlich andere sind, wie in Minnesota. Der
kühne Entwurf blieb also bis auf den heutigen Tag — ein
kühner Entwurf. — Neuerdings taucht nun ein ähnlicher
Plan, wie man ihn bezüglich des oberen Mississippi erfolgreich
ins Werk gesetzt, und wie man ihn bezüglich des Ohio wenig-
stens diskutirt hat, auch bezüglich der Felsengebirgsströme, die
dem nordamerikanischen Riesenstrome zufließen, auf (Vergl.
Leioncm, vol. XI, p. 236 f.). So wie die Dinge gegenwärtig
t h e i l u n g e n.
liegen, eilt das Wasser dieser Ströme im Frühjahre in wildem
Laufe thalab, keinerlei Nutzen stiftend, wohl aber die Uferland-
schaften an tausend Punkten bedrohend und oft genug furchtbar
verwüstend. Der Missouri vor allen Dingen zeigte sich vielfach
als ein ähnlicher menschenfeindlicher Unhold wie der chinesische
Hoangho. Und was hätten die Felsengebirgsströme in der west-
lichen Wüste für Segen stiften können, wenn sie sanfter geartet
gewesen wären! Diese Wüste nimmt einen Raum von
3^/z Mill. Quadratkilometern eiu — den sechsfachen Flächen-
raum des Deutschen Reiches, und mehr als das Drittel des
Uuionsgebietes. Was für ein Gewinn für die Nation wäre
es also, wenn die wilden Gewässer, die aus den Schluchten
der Rocky Mountains hervorbrechen, auch nur den zehnten Theil
von dieser Fläche in fruchtbares Gefilde umwandeln hülfen!
Der in Frage stehende amerikanische Plan zielt nun eben
darauf ab, die ungestümen Wildlinge zu bändigen, und sie zu
zwingen, der Nation den angegebenen Dienst zu leisten. Man
will in allen (!) Felscngebirgs-Canons Querdämme errichten,
die hoch und stark genug sind, um die durch die plötzlichen
Schneeschmelzen und durch die wolkenbruchartigen Regen ver-
ursachten Hochwasser zurückzustauen, und man will dann den
künstlich zurückgehaltenen reichen Vorrath je nach Bedarf
abfließen lassen, damit er zur Irrigation der tiefer liegenden
Thalebenen benutzt werden kann. Die Autorität, die für den
Plan eintritt, und die ihn für ausführbar erklärt, ist keine
geringere als die des Chefs der nordamerikanischen geologi-
schen Landesuntersuchung, des wohlbekannten Major I. W.
Powell, der den nordamerikanischen Westen ohne Zweifel
15
Aus allen Erdtheilen.
eifriger und umfassender studirt hat wie jeder andere. — Wir
selbst haben an Ort und Stelle einen viel flüchtigeren Ein-
blick in die Verhältnisse und in die Kräfte gewonnen, die in
den Canons der westlichen Ströme walten. Nichtsdesto-
weniger können wir auf Grund desselben nicht umhin, unsere
Skepsis gegenüber dem gewaltigen Entwürfe zu äußern. Die
stiatnr des nordamerikanischen Westens ist uns als eine so
ungeheure erschienen, daß wir nicht daran glauben können,
sie werde sich durch Menschenwerk so vollkommen überwinden
lassen. Etwas mag man ja an besonders günstig gelegenen
Orten durch geschicktes Vorgehen erreichen, aber alles in
allem fürchten wir, daß der kreißende Berg eine Maus, und
nicht einen Elephanten gebären wird. Man halte dies in
Amerika der deutschen Vorsicht zu gute. — Um eingehendere
Vorstudien zu dem beabsichtigten Werke zu ermöglichen, ist
der Kongreß der Vereinigten Staaten um die Gewährung
von einer Viertelmillion Dollars angegangen worden. Wenn
er diese Summe thatsächlich auswerfen sollte, so würden auch
lvir dies mit Freuden begrüßen, denn eine Reihe von kost-
baren wissenschaftlichen Resultaten würden damit sicherlich
erzielt werden können. — Würde der Plan in seinem ganzen
Umfange ausgeführt, so würde damit nach unserer Meinung eine
der staunenswerthesten Großthaten geschehen sein, deren sich
der menschliche Erfindungsgcist und die menschliche Technik
überhaupt fähig gezeigt hat. Der große Erfolg würde die
Amerikaner dann auch dazu ermnthigcn, das oben erwähnte
Ohio-Regulirungs-Projekt wieder aufzunehmen, und dann
wäre auch der untere Mississippi — dessen alljährlichen Ueber-
schwemmungen kaum weniger berüchtigt sind wie die des Ohio,
des Missouri, des Arkansas re. — vollkommen unter die Bot-
mäßigkcit des Menschengeistes gestellt. Wie gesagt, befürchten
wir aber, daß es damit tut allgemeinen gute Weile haben tvird.
E. D.
Das Ssol owiezki- Kloster und seine Bedeutung für
Nordrußland.
Auf einsamer Insel im Weißen Meere liegt jenes in der
älteren russischen Geschichte als Verbannungsplatz oft erwähnte
Ssolowiezki-Kloster, das noch heutigcntages, wie einst im
Mittelalter, ein Ansehen genießt und eine wirthschaftliche Be-
deittnng für weite Striche des russischen Nordens besitzt, daß
eine neuerliche Darstellung dieser Verhältnisse selbst in Ruß-
land Aufsehen erregte. Verfasser derselben war Dr. P. Fedorof,
der seit längerer Zeit den Norden Rußlands zum Gegen-
stände seiner Studien und Reisen namentlich in ethnographischer
Beziehung ansersehen hat, und der kürzlich in der geo-
graphischen Gesellschaft zu St. Petersburg darüber einen Vor-
lag hielt. Hiernach lassen sich in der gegenwärtigen Kloster-
bevölkerung fünf Gruppen unterscheiden: die Mönche, die
umsonst arbeitenden Pilger, die Pilger schlechtweg,
die bezahlten Arbeitsleute, und die Verbannten resp.
Arrestanten. Von der zweiten Kategorie, den unentgelt-
liche Arbeit liefernden Pilgern, treffen jährlich ettva 600 im
Kloster ein, wo auf längere Zeit, zuweilen für immer, 1 bis
5 Proc. des überhaupt zugewanderten Volkes zu verbleiben
pflegen. Je länger der Aufenthalt int Kloster dauert, um so
schwerer wird meistens der Entschluß, dasselbe zu verlassen
tmd draußen den Kampf mit dem rauhen, nördlichen Leben
wieder aufzunehmen. Eigentliche Mönche giebt es jetzt dort
228, unter denen 137 ans dem Stande der Bauern, 43 aus
dem der Kleinbürger, 18 aus dem der Weltgeistlichkeit, die
übrigen ans dem der Soldaten, der Kaufmannschaft, des
Adels, der Bedienten rc. hervorgegangen sind. Die meisten
(86 Proc.) pflegen zwischen dem 25. und 36. Lebensjahre
ins Kloster zu treten, tind die Gesammtzahl der Insassen
desselben erhält sich ziemlich constant. Die freiwilligen
Pilger-Arbeiter, die von jeher den Hauptstamm der Kloster-
bevölkerung bildeten, hat entweder ein Gelübde, den heiligen
Wnnderthätern von Ssolowiezki, dem St. Sossim und
St. Sawwatij, zu dienen, dahin geführt, oder einfach die
Noth, so daß sie um der vom Kloster gebotenen Wohnung,
Kleidung und Nahrung willen ihre Arbeit darbringen. Die
meisten solcher „Freiwilligen" liefert das Gouvernement
Archangel (jährlich etwa 190), sodann Wologda (131),
Olonezk u. s. w., und die Leute dieser Kategorie pflegen oft
ein bis drei Jahre im Kloster festzusitzen. Dazu kommt
dann die Masse der bezahlten Arbeiter resp. Handwerker, die
jährlich im Frühling zum Kloster strömen, tutd für welche
dieses bei seinem großen und mannigfaltigen Arbeitsbedarfe
immer Verwendung ztt finden weiß — eine nie versagende
Gelegenheit des Erwerbes, die im armen Norden unschätzbar
ist. Wenn das Kloster in früheren Zeiten ein Asyl für
Flüchtlinge, selbst Räuber und Mörder, gewesen ist, so hat
das jetzt aufgehört, da jedermann dort zu längerem Aufent-
halte Heimathspapiere beizubringen hat. Wohl aber sind
die Pforten desselben heutzutage geöffnet für Kinder, denen
es aus irgend welchem Grunde an ordentlicher Unterkunft
draußen gebricht. Es sind Knaben im Alter von 12 bis
14 Jahren, die man so aufnimmt, mtb deren in den letzten
Jahren stets etlva 200 vorhanden waren. Dieselben
werden nicht verzärtelt, sondern zu ernster Arbeit ange-
halten, so daß das Kloster in ihnen eine Schaar jugendlicher
Hülfskräfte besitzt, die täglich 11 Stunden lang beschäftigt
werden. Indessen geht die Ausnutzung derselben nicht, wie
der böse Leuinund in Rußland öfter behauptet hat, über das
Maß ihrer Kräfte hinaus; so erklärt ausdrücklich unser
Gewährsmann. Wie es sich für ein Kloster schickt, ver-
halten sich die Leute bei ihren dortigen Arbeiten still und
friedlich, erweisen sich auch ehrerbietig und gehorsam, aber
dem Beobachter entging es nicht, daß der unverkennbare
gitte Wille und Eifer, der die neu eingetretenen Arbeiter be-
seelt, allmählich zu erlöschen pflegt, ja daß die älteren Genossen
sich über den Eifer der jüngeren gern lustig machen. So
vergleicht er schließlich die Arbeiter des Klosters mit Leib-
eigenen auf Zeit! . E. M.
Aus allen Erdtheilen.
A s i e n.
— Ueber die Expedition S. I. Michell's und
I. F. Needham's nach dem Hukong-Thale bringen die
»Proceedings“ der Londoner Geographischen Gesellschaft
(vol. X, p. 377 f.) einige weitere Angaben, die wir zur
Vervollständigung unseres früheren Berichtes („Globus",
Bd. 53, S. 143 ff.) mittheilen. Große Schwierigkeiten
> bereitete den Reisenden der Dschungel-Gürtel zwischen der
letzten britischen Station in Assam und dem Patkoi- Gebirge,
besonders weil die engagirten Träger ihre Dienste versagten,
und weil der Dihing-Fluß einen sehr niedrigen Wasserstand
hatte und die Bootfahrt nur langsam von statten ging. In
Nimrong waren sodann die Elephanten nicht eingetroffen,
die die Expedition weiter bringen sollten, so daß Herr Michell
16
Aus allen Erdtheilen.
nur mit einer kleinen Abtheilung in dem Gebirge vorwärts
dringen konnte, während Herr Needham mit den Uebrigen
zurückbleiben mußte. Der Aufstieg zum Patkoi-Passe (1260 na)
würde leicht gewesen sein, wenn nicht der dichte Buschwald ge-
wesen wäre, wenn es nicht zugleich sehr anhaltend geregnet hätte,
und wenn man des rechten Weges kundig gewesen wäre. In
Khatnng stießen die beiden Abtheilungen wieder zusammen,
aber cs war daselbst unmöglich, genügenden Proviant für die
Fortsetzung des Marsches zu erhalten. Trotz aller erduldeten
Mühseligkeiten sprechen sich die Reisenden günstig über das
assamisch-obcrbirmahnische Eisenbahnprojekt aus. Von Makum,
dem gegenwärtigen Eisenbahn-Terminus im Bramapntra-
Thale, soll die etwa 300 engl. Meilen lauge Bahn nach dem
Ningonng-See, und von dort quer über den oberen Chindwiu-
Flnß nach dem Jrawaddi geführt werden. Dem Topographen
Ogle, der die Expedition begleitete, gelang cs, trotz der
widrigen Umstände, etwa 2000 engl. O-uadratmeilen karto-
graphisch festzulegen.
— Das indisch-chinesische Eisenbahn-Projekt,
von dem wir wiederholt gehandelt haben, hat in dem englischen
Konsular-Agenten Bonrne, der längere Zeit in Tschung-
king gelebt hat, einen Gegner gefunden. Derselbe behauptet
in seinem „Import“ über die chinesische ProvinzSz-tschwan,
daß der Bau einer Eisenbahn von Birmah oder Tongking
quer durch Mnnan jedem, der dieses Land aus eigener An-
schauung kenne, als wenig rathsam erscheinen müsse. Die
thatsächliche Handelsströmung bewege sich nicht zwischen
Sz-tschwan und Mnnan, sondern zwischen Sz-tschwan und
der Jangtsekiang - Ebene, ebenso wie der genannte Fluß.
Ans die Beseitigung der natürlichen und willkürlichen Hinder-
nisse der Jangtse-kiang-Schiffahrt müsse also hingearbeitet wer-
den. Wir sind der Meinung, daß man das eine thun kann,
ohne das andere zu lassen. Um die eine mehr oder minder
starke künstliche Ablenkung einer Verkehrsströmnng handelt
es sich ja bei dem Bane einer Schienenstraße immer.
Afrika.
— Nach den von Dr.v. Danckelmann herausgegebenen
„Mittheilungen aus den deutschen Schutzgebieten",
von denen uns das erste Heft vorliegt, ist Dr. L. Wolf mit
seinen Begleitern am 28. Februar glücklich in Klein-Popo
gelandet, und sodann am 29. März nach dem Binnenlaude
aufgebrochen. — Außerdem enthält die genannte neue Zeit-
schrift, die sich die Aufgabe gestellt hat, die Kunde von den
deutschen Kolonien zu pflegen, einen eingehenden Bericht
über den Verlauf und die Ergebnisse der Kund'schen Ba-
tanga-Expedition. (Bergt. „Globus", Bd. 53, S. 319.)
— Ueber die Stanley'sche Expedition nach
Wadelai hat H. Ward, der Gefährte Barttelots, am 5. Mai
die ersten positiven Nachrichten nach Boma (am unteren
Kongo) gebracht, die nicht günstig lauten, deren weitere Be-
stätigung man aber abwarten muß. Ihnen zufolge haben
zurückgekommene Deserteure über Staikley erzählt, daß der-
selbe bei seinem Marsche ans große Schwierigkeiten gestoßen
sei, zahlreiche Leute verloren habe, und nebst Nelson ver-
wundet worden sei. Herr Ward legte den Weg von dem
Aruwimi nach Boma in 30 Tagen zurück. Barttelot und
Ward besuchten übrigens wiederholt Tippoo Tip in Stanley
Falls, um denselben zu veranlassen, Hülfstrnppen nachzu-
senden, wie es aber scheint, ohne wirklichen Erfolg.
Südamerika.
— Vor kurzem ist in Lima, der Hauptstadt von Peru,
eine geographische Gesellschaft begründet worden, die
sich in dankenswerther Weise die Aufgabe gestellt hat, vor
allen Dingen die Kunde des eigenen Landes zu fördern.
Sie will zu diesem Zwecke sowohl besondere Expeditionen aus-
rüsten, als auch eine Zeitschrift herausgeben, in der iibcr die
Reisen unb Forschungen im Lande eingehend berichtet wird.
— Ueber die Reise der Professoren Kurtz und
Bodeubender nach den Anden enthalten die „Geo-
graphischen Mittheilungen" (Bd. 34, S. 192) einen ersten
kurzen Bericht aus der Feder des Pros. Dr. O. Doering,
dem wir Folgendes entnehmen: Die „Travesia" zwischen
Mendoza und San Rafael, die vier Tagesritte in Anspruch
nahm, hatte oft auf Strecken von 36 bis 78 km kein Wasser,
bei Tage stieg das Thermometer ans 25 bis 29" C., und
bei Nacht fiel es ans 3°. Der vulkanische Bergzug der
Sierra Pintada bot mineralogisch und botanisch viel Inter-
essantes. An den Flüssen südlich von Mendoza herrschte auch
reges wirthschaftliches Leben im Bergbau wie im Ackerbau
und in der Viehzucht, und nur die Eisenbahnverbindung mit
Chile wurde schwer vermißt. Südlich von San Rafael
wurde der Cerro Nevado (3300 m) bestiegen, dann ging es
nordwestlich nach dem Rio Atuöl und nach Colonia Beltran,
von wo aus verschiedene Streifzüge in das Hochgebirge nnter-
nommen wurden (nach dem Balle Hermoso, dem Rio San-
tiago rc.). Am 6. Februar waren die Reisenden im Be-
griffe, sich weiter südlich zu begeben.
Büchersch a u.
— Dr. Alfred Hcttner, Gebirgsbau und Ober-
flächengestalt der sächsischen Schweiz. Stuttgart
1887. I. Engelhorn. —
Dr. E. Mehnert, Ueber Glacialerscheinnngen
im Elbsaudsteingebiet. Pirna 1888. —
Es sind dies zwei sehr gründliche, geologisch-geographische
Arbeiten, die einander in vortrefflicher Weise ergänzen. Die
erste zeigt eingehend, wie die Oberflächengestalt des Elb-
sandsteingebirges ans das engste mit der inneren Tektonik
zusammenhängt, die zweite, wie die dereinstige Vergletscherung
des Gebietes viel weiter südwärts reichte, als man bisher
annahm (bis Tetscheu!), und wie die Schmelzwässer der alten
Gletscher ganz wesentlich an der Gestaltung der canouartigen
„Gründe" sowie auch des Elbthales betheiligt waren.
— W. von Frecden, Reise- und Jagdbilder aus
Afrika. Leipzig 1888. F. A. Brockhaus. — Dem
mit der geographischen Rciseliteratur Vertrauten sagt der
Verfasser dieses Buches nicht viel Neues. Da aber die be-
sagte Literatur mehr und mehr zu gewaltigen Bergen ange-
wachsen ist, die selbst der Fachmann kaum noch bemeistern
kann, so muß seine Zusammenstellung nichtsdestoweniger
dankbar entgegengenommen werden. Der Auswahl und An-
ordnung der Reise- und Jagdbilder ist Geschick, der Sprache
Flüssigkeit und Lebendigkeit nachzurühmen. Gerade für den
Sportsmann Hütte es sich nur vielleicht gelohnt, die fran-
zösischen Reisenden in einem ähnlichen Maße neben den
deutschen in Betracht zu ziehen, wie die englischen.
Inhalt: H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. — Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der
westlichen Sahara. I. (Mit sechs Abbildungen.) — Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
IV. —Kürzere Mittheilungen: Die Regulirung der nordamerikanischen Felsengebirgsströmc. — Das Ssolowiezki- Kloster und
seine Bedeutung für Nordrußland. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. — Südamerika. — Bücherschau. (Schluß der
Redaktion am 19. Juni 1888.)
Redakteur: Dr. E. Dcckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrick Vicweg und Sohn in Braunschwcig.
ffiüi besonderer Berücksichtigung der Ethnologie, der Kulturderhültnisse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr-. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde L 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Der K u k u - N o r.
Von Dr. Emil Deckert.
(M i t zwei Abbildungen.)
Zu den interessantesten Räthseln, die die geographische
Forschung in dem centralen Asien noch zu lösen hat, gehört
auch die Eigenart und die Bildnngsgeschichte der stehenden
Gewässer, die das Land in so beträchtlicher Zahl bedecken.
Bon den meisten kannten wir bisher kaum viel mehr als
die Nanien, und wenn es hoch kam, so wußten wir außer-
dem noch, ob das Wasser, das sie enthielten, salzig oder süß
war — eine Thatsache, die sich übrigens in der Regel auch
ganz von selbst verstand. Wie groß der Salzgehalt war,
welche Tiefe sie hatten, welchen periodischen Schwankungen
ihr Spiegel etwa unterworfen war, welche Fauna sie in
ihrer Fluth bargen, in welchen entwickclungsgcschichtlichen
Beziehungen sie zu den benachbarten Stromgebieten standen rc.,
darüber gab es keinerlei Nachricht. War es ja doch bei
der Mehrzahl nur ein einziger Europäer — N. von Prshe-
walski —, der sie geschaut hatte, oder der wenigstens mit
seiner Karawane in ihrer Nähe vorbei gezogen war.
Verhältnißmüßig viel bessere Kunde als von den anderen
centralasiatischcn Seen besitzen wir von dem Kukn-Nor —
Dank in erster Linie demselben russischen Forscher, und
Dank in zweiter Linie der Szechenyi'schen Expedition, von
der wir die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse
freilich erst demnächst zu gewärtigen haben. Es sei uns des-
halb gestattet, mit Hinweis auf diese Quellen und auf unsere
Abbildungen eine Charakteristik dieses Sees zu versuchen.
Daß auch bei dem Kuku-Nor die gewonnene Erkenntniß noch
lückenhaft genug ist, mag sich dabei immerhin herausstellen.
Globus LIV. Nr. 2.
Der mongolische Name des Sees bedeutet so viel wie
„blauer See". Die Chinesen nennen ihn Tsin-hai, die
Tanguten Tsok-gumbum. Wie groß die Fläche ist, die der
See einnimmt, ist aber bereits eine offene Frage, wie wir
denn auch bislang nur ein ganz ungefähres Kartenbild von
ihm besitzen. Prshewalski giebt seine größte Längserstreckung
auf 106 bin und seine größte Breitenerstreckung (zwischen
der Galdyn-char-Mündung an seinem Süduser und der
Ulan-choschun-Mündung an seinem Nordnfer) ans 64 bin
an, so daß man sein Areal zu etwa 4500 qkm annehmen
könnte. Der See würde also nahezu achtmal so groß
sein als der Genfer See, und nahezu siebenmal so klein
als der Baikalsee.
Die Tiefe des Kuku-Nor, die die Umwohner unermeßlich
nennen — wie die Slowaken die Meeraugen der Karpaten, und
aus leicht ersichtlichen Gründen —, ist in Wirklichkeit eine sehr
geringfügige. Vor der Mündung des bereits erwähnten Gal-
dyn-char ■—• also an der Südseite — lothete Prshewalski in
dem Uferabstande von 1 km nur 9,5 m, in dem Abstande von
2 km nur 15,6 m, und in dem Abstande von 3 km nur
17,7 m. Daß die Tiefe in der Mitte 50 m erreichen oder
übersteigen werde, ist daher kaum anzunehmen, und von dem
Wasservolumen, welches der See enthält, darf es als ziemlich
sicher gelten, daß es viel geringfügiger sei, wie bei dem
ungeheuer tiefen Genfer See. So weit man aus der all-
gemeinen Konfiguration der Gebirgsumrandung einen Schluß
ziehen darf, so ist es übrigens wahrscheinlich, daß seine
3
18
Dr. Emil Deckert: Der Kuku-Nor.
größte Tiefe näher dem Südufer als dem Nordufer liegt,
wenn auch natürlich in der größten Weitung, also gegen
Westen hin. Aus dieser westlichen Weitung des Sees ragen
augenscheinlich aus etwas erheblicherer Tiefe auch zwei steil-
wandige Felseneilaude auf, von denen das größte Tfchagan
heißt und ein von zehn Lamas bewohntes Kloster trügt,
während das andere unbewohnt ist und als Sitz eines bösen
Geistes bei den abergläubischen Mongolen und Tanguten in
einem sehr üblen Rufe steht. Aus der engeren Osthülfte ragen
drei Inseln hervor, die aber eigentlich nichts anderes sind, als
hohe Kiesbänke, und Alles in Allem scheint es, daß die Ost-
hülste des Sees in rapider Auffüllung mit Sand und Ge-
röll begriffen ist. Zum Theil ist auch dies in der Gestaltung
der nächsten Umgebung begründet, zum Theil in dem größeren
Niederschlagsreichthume der ganzen Gegend im Osten,
und zum Theil in der Richtung der Sandstürme, die
vom Westen her über die Seefläche hinweg brausen. Die
slachwellige und kiesige Beschaffenheit des Landes östlich
von dem See deutet an, daß wir es daselbst nur
mit einer bereits ausgefüllten Verlängerung des Sees zu
thun haben, und der kleine Nachbarsee Chara-Nor hing
offenbar noch vor relativ kurzer Zeit mit dem Kuku-Nor
zusammen. Wie insbesondere die Sand- und Staubstürme
zur Ausfüllung des Sees beitragen, davon konnte sich
Prshewalski auf seiner dritten Reise prächtig überzeugen,
indem er die Eisdecke, die ihn noch gegen Ende Februar-
bedeckte, mit einer dicken Schmutzlage überzogen fand. Wenn
sich im Laufe eines einzigen Winters eine solche Sand- und
Ansicht des
Staublage auf dem See aufhäufen kann, die bei dem
Schmelzen des Eises auf den Grund hinab sinkt, so versteht
es sich von selbst, daß im Laufe eines Jahrhunderts oder
eines Jahrtausends eine Lage von sehr bedeutender Mächtigkeit
zum Absätze kommen muß. Daß die centralasiatischen Stürme
auch Steine und groben Kies durch die Lüfte zu wirbeln
vermögen, hat Prshewalski bei verschiedenen Gelegenheiten
ebenfalls erfahren (Bergt. „Globus", Bd. 53, S. 197). Die
Wildströme, die von den Gebirgen Herabkommen, haben
wilde Schluchten in diese letzteren hincingerissen, und obzwar
sic im Winter und Frühjahr beinahe leer sind, so ist ihr
Wasser- und Sedimentreichthum doch zur Zeit des feuchten
Sommermonsuns ein sehr gewaltiger — wie wir bereits
hervorgehoben haben, besonders im Osten. Der Hauptzufluß
des Sees — der Buchain-gol — führt in der Sommerzeit,
Kuku - Nor.
wenn auf dem Nan-schan die Gletscherenden abschmelzen,
auch eine sgroße Menge von Wasser und von Siukstoffen,
derselbe lagert aber die letzteren zu einem großen Theile
unterwegs — aus dem Plateau, über das er dahinströmt — ab,
und auf diese Weise trägt er verhältnißmäßig viel weniger
dazu bei, den See auszufüllen.
Was die Gebirgsumgebung betrifft, von der der See
rings umgürtet ist, so tritt dieselbe am unmittelbarsten an
seine Ufer vom Süden her — im Kuku-Nor-Gebirge, das in
der Gegend des Sees zu 4500 m hohen Gipfeln aufsteigt,
aber infolge der centralasiatischen Lufttrockenheit nirgends
mit ewigem Schnee bedeckt ist. Da der Spiegel des Sees
nach Prshewalski etwa 3200 m über dem Meere gelegen
ist, so erhebt sich das genannte Gebirge in feinen höchsten
Gipfeln ungefähr 1300 m über den See, während seine
Dr. Emil Deckert: Der Kuku-Nor.
19
bekannten Paßhöhen zunächst dem Sec nur 250 bis
700 m höher liegen. Der viel gewaltigere Nan-schan, im
Norden des Sees, berührt die Wasserfläche desselben nur
unt seinen Vorkctten und Ausläufern ziemlich unmittelbar, so
das; man seine schnee- und gletscherbedeckten Hochgipfel, die
zum Theil an die 6000 m messen sollen, von dem See-
user nirgends erblickt. Das Landschaftsbild, welches der
See dein Beschauer gewährt, athmet infolgedessen feierlichen
Ernst, wie die Landschaftsbilder der centralasiatischen Ge-
birge beinahe alle, und dieser Ernst wird durch den steppen-
haftcn Charakter, den alle Niederungen sowie auch alle
der Südsonne exponirten Hänge tragen, noch sehr bedeutend
erhöht, Nur das Kuku-Nor-Gebirge wendet dem See seine
vegetationsreiche, d. h. mit zerstreutem Gebüsch bestandene
Seite zu. Eine flache Kieszone, die im wesentlichen nur
mtt harten Steppengräsern („Moto-schirik") bewachsen ist,
schiebt sich infolge der oben erwähnten starken Sedimentation,
bse sich an dem See vollzieht, allerwärts zwischen den
Gebirgsfnß und die Wasserftäche hinein, am breitesten
und ausgedehntesten ist dieselbe aber im Osten.
Wer den Kuku-Nor deswegen, weil er von allen Seiten
her, namentlich aber vom Osten her, beständig mit Gebirgs-
schutt ausgefüllt wird, einfach in die Reihe der aussterben-
den Seen stellen wollte, der würde nach unserer Meinung
doch vielleicht einen voreiligen Schluß ziehen. So lange
ihm auf allen Seiten durch einen hohen Gebirgswall der
Abfluß verwehrt wird, und so lange von diesen Gebirgen
eine Wassermenge herabfließt, die nicht vollkommen durch
die Verdunstung wieder aufgezehrt wird, so lange kann dies
unmöglich geschehen. Mit dem Boden des Sees wird sich
immer zugleich auch sein Spiegel heben, und wenn seine
Fläche irgendwo durch junge Uferbildungen mehr und mehr-
eingeengt wird, so wird er sich anderweit durch ein all-
mähliches Steigen des Spiegels entweder erweitern oder
vertiefen. Jahreszeitlich und vielleicht auch in längeren Pe-
rioden mag das Wasservolumen starken Schwankungen unter-
worfen sein — wir wissen auch darüber nichts Näheres—, int
allgemeinen wird sich dasselbe aber gleich bleiben, so lange das
centralasiatische Klima sich gleich bleibt. Seen mit Abfluß haben
in Gegenden starker Sedimentation nur eine ephemere geo-
logische Existenz, und man darf sie mit Oskar Peschel's geist-
reichem Worte gar wohl als „Jugendreize im Angesichte des
alternden Planeten“ bezeichnen, von Seen ohne Abfluß aber
gilt dies nicht, sie haben ein viel längeres Leben, sobald ihre
Abgrenzung gegen die benachbarten Entwässerungsgebiete
eine strenge ist.' Die Zeit, in welcher der Genfer See und
der Bodensee vom Erdboden verschwunden sein werden, läßt
sich leicht berechnen, die Zeit, in welcher dasselbe mit dem
Kuku-Nor der Fall sein wird, kaum. Es ist ja dabei auch
zu berücksichtigen, daß der Damm, welcher den See umgiebt,
gerade dort, wo er am niedrigsten ist — int Südosten —
durch die Sandstürme ebenso beständig erhöht wird, wie der
Seeboden. Was wir nach diesen Erwägungen behaupten
dürften, wäre vielleicht: daß der Kuku-Nor eine aus-
gesprochene Tendenz verrathe, in dem muldenförmigen Längs-
thale zwischen dem Kuku-Nor-Gebirge und dem Nan-schan,
dessen Ostwinkel er einnimmt, weiter westwärts zu rücken.
einer zukünftigen geologischen Zeit, die sich freilich nicht
absehen läßt, würde er also nahe dem Quelllaufe des Buchain-
gol und am Fuße des Rittergebirges zu liegen kommen. Es
liegt hierin eine merkwürdige Analogie zu dem bekannten
Thalaufwärtsrücken der Wasserfälle, nur daß man es bei
letzteren mit viel kleineren Zeiträumen zu thun hat. Ist unser
Schluß richtig, so versteht es sich von selbst, daß die Salinität
des Wassers im Kuku-Nor sich mehr und mehr steigern
wird, bis sie vielleicht dereinst diejenige des Todten Meeres
in Palästina erreicht.
Gegenwärtig ist der Salzgehalt des Knku-Nor-Wassers
ein sehr geringer, so daß man dasselbe sogar trinken kann, und
wir sind geneigt, diesen llmstand für ein wichtiges Jndicium
bezüglich der Entwickelungsgeschichte, die der See bereits
durchgemacht hat, zu halten a). Vor allen Dingen liegt für
uns in dem schwachen Salzgehalte der erste von den Grün-
den, die uns bestimmen, den Kuku-Nor in seiner gegen-
wärtigen Gestalt für eine verhältnißmüßig junge geologische —
oder vielleicht besser gesagt geographische — Bildung zu
halten. Das Salzigwerden des Wassers begann natürlich
von dem Augenblicke an, als das in Frage stehende Längs-
thal zwischen dem Kuku-Nor-Gebirge und dem Nan-schan
keinen Abfluß mehr hatte; da dasselbe aber heute noch so sehr
wenig vorgeschritten ist, so denken wir, daß der Augenblick,
in dem die Schließung des Thales erfolgte, noch nicht fo
sehr weit hinter uns zurück liegen kann. Den Dabasun-
Nor, der aus der Südseite des Kuku-Nor-Gebirges liegt —
und zwar bemerkensmerther Weise nahe der Westecke eines
ähnlichen Längsthales — und der durch die starke Salinität
seines Wassers eine Haupt-Salzfnndstätte Chinas ist, halten
wir für viel älter.
Fragen wir uns nach dem Orte, wo das Thal des
Buchain-gol vor kurzem noch eine Oeffnnng gehabt haben
kann, so weisen uns alle Verhältnisse — die hypsometrischen
ebenso wie die gcognostischen — aus die Gegend im Südosten.
Während die langgestreckte Mulde nämlich im Westen, Süden
und Norden von alten, hohen und zusammenhängenden
Gebirgswällen aus Gneiß und Schiefer abgeschlossen ist
(von dem Rittergebirge, dem Kuku-Nor-Gebirge und dem
Nan-schan), so sind die viel niedrigeren Sättel, die gegen
den Sinin-gol und Hoangho hin liegen, so weit sie uns be-
kannt sind, zu einem guten Theile aus ähnlichen Kiesmassen
gebildet wie die nächste Umgebung des Sees. Es ist also
durchaus wahrscheinlich, daß sie erst in einer späten geologi-
schen Zeit durch dieselben Sandstürme geschaffen worden
sind, die noch heute im Osten des Sees so gewaltige Kies-
berge aufhäufen, und daß der Buchain-gol vorher zusammen
mit dem Balema-gol und den anderen Strömen, die heute
in den See münden, ein Tributärstrom des Hoangho war.
Zu einem See konnte sich der Buchain-gol natürlich auch
damals stauen lassen, aber es war dies ein Süßwassersee, und
in seiner Gestalt und Ausdehnung wich er sicherlich beträchtlich
von dem heutigen Kuku-Nor ab. Ob diese Zeit mit einer
Periode zusammenfällt, in der Centralasien ein wesentlich
feuchteres Klima besaß, vermögen wir bei dem dermaligen
Stande der geographischen Forschung nicht zu entscheiden.
Es sind aber Anzeichen vorhanden — namentlich in der
früher viel beträchtlicheren Ausdehnung der Thian-schan-
Gletscher —, daß eine solche Periode thatsächlich einst vor-
handen war. Damals konnte sich der Buchain-gol seinen
Weg siegreich durch die Gcbirgspforten dem Hoangho und
dem Meere zu bahnen, als es aber trockener wurde, da
saugte die Luft den größten Theil seines Wassers auf und
beraubte ihn damit zugleich der Kraft, die Hindernisse, die
ihm die mächtiger und mächtiger werdenden Nordweststürme
in den Weg thürmten, dauernd zu überwinden. Sein Ge-
biet wurde von demjenigen des Hoangho abgedämmt, und
0 Nach den Analysen, die der russische Akademiker
K. Schmidt an den von Prshewalski mitgebrachten Proben
vornahm, enthielt das Kuku-Nor-Wasser sin der Gegend des
Südusers) im Spätherbst 1872 1,114 Proc. Mineralsalze, im
Winter 1880 aber 1,399 Proc. ; und zwar in beiden Fällen zur
reichlichen Hälfte Chlornatrium, demnächst Natriumsulfat, Magne-
siumcarbonat, Chlormagnesium, Kaliumsulfat rc. Die Schwankun-
gen des Salzgehaltes dürften wohl mit den jahreszeitlichen
Schwankungen der Wassermenge zusammenhängen (Bergl. das
„Lulletin de l’Académie Impériale des Sciences de St.
Pétersbourg, Yol. 28, p. 1 ff.).
3*
Andere Ansicht.
21
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
er bildet im Verein mit seinen Nebenflüssen den Kuku-Nor.
Dies ist für uns vorläufig die wahrscheinlichste Entstehungs-
geschichte des Sees. Belehren uns dereinst centralasiatische
Forscher, gestützt auf ein umfangreicheres Jnduktionsmaterial
"7 das zunächst noch aussteht —, eines Besseren, so werden wir
dies aber dankbar über uns ergehen lassen. Jede Zeit kann
eben nur das Material in das Gebäude der geographischen
Wissenschaft hineinarbeiten, was ihr herbeizuschaffen mög-
lich war. .
Die tangutische Sage, welche sich an den Sec knüpft,
scheint unsere Theorie insofern bestätigen zu wollen, als
auch sie von einer Zeit redet, in der es den Kuku-Nor nicht
gab. Einst lag er nach dieser Sage im Schoße der Erde
verborgen beiLhassa, und erst zu einer Zeit, in der Menschen
daselbst hausten, brach er an seiner gegenwärtigen Stelle
aus der Tiefe hervor, Tod und Verderben stiftend, Heerden und
Menschen verschlingend, und eine förmliche Sündflnth an-
richtend.
Das Kulturleben, welches an dem Kuku-Nor gedieh, ist
ein geringes. Der See ist zwar ziemlich fischreich, aber
auch das Fischergewerbe wird nur in sehr beschränktem
Umfange an seinen Ufern betrieben. Sich weit auf ihn
hinaus zu wagen, hat kein Anwohner den Muth, denn alle
kennen fein Gewässer als äußerst heimtückisch — durch Kies-
bänke, Untiefen, Felsklippen, Stürme und andere „böse Gei-
ster". So fanden die europäischen Reisenden nicht einen
einzigen Kahn auf ihm vor. Nur wenn ihn um die Mitte
November eine starke Eisdecke überzieht — die gewöhnlich
bis Ende März andauert —, entsteht ein lebhafteres Treiben
auf ihm. Dann schreiten zahlreiche Pilgerzüge über ihn
hinweg, um den Klosterheiligcn der Insel Tschagan ihren
Tribut zu zollen. Der Graswuchs in der Uferumgebung
des Sees ist viel üppiger als weiter im Westen, derselbe
ermöglicht aber ebenfalls nur einer sehr beschränkten Zahl
von Nomaden die Existenz in seiner Nähe. Außerordentlich
reich und bunt ist das Vogelleben aus ihm — die Zahl
der Seeadler, Möven, Gänse rc., die sich direkt oder in-
direkt von feinem Fischreichthnme nähren ').
i) Bcrgl. Prshewalski, Reisen in Tibet (Jena, 1884),
S. 174 ff.; G. Kreitner, Im fernen Osten (Wien, 1881),
S. 716 fs.; L. von Loczy, Die Umgebung von Hsi-ning-fu
(„Glöbusch Bd. 52, S. 166 f.).
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden
der westlichen Sahara.
ir.
(Mit vier Abbildungen.)
Als die Nacht hereinbrach, begaben sich die Mauren
nach ihren Zelten. Die Familie meines Wirthes, die aus
Vater und Mutter sowie ans fünf Kindern und zwei
Sklaven bestand, sammelte sich um das Feuer, das vor dem
Eingänge entzündet wurde, und das einzige Geschäft, das
nach dem Eintreiben der Heerden noch besorgt wurde, war
das Melken der Kamecle (S. Abbild. 1). Dann wurde
jedem eine Schale Milch gereicht, und ans die Matte ge-
lagert, überließen sich alle dem Schlafe.
Am nächsten Morgen rief Ibrahim zum Gebete, und
anch ich mußte mich, obschon ich mich wie zerbrochen fühlte,
erheben, und ihm hinaus vor das Zelt folgen.
Was mich lebhaft beunruhigte, waren meine Kisten,
von denen ich fürchtete, daß sie die Mauren finden würden.
Um dem dadurch drohenden Unheile so viel als möglich
vorzubeugen, beschloß ich nach kurzem Ueberlcgen, mein Ge-
heimniß einfach meinem Wirthe zu enthüllen. Dessen
Sympathie mußte ich mir ja doch vor allen Dingen zu
sichern suchen. Als ich es ihm mitgetheilt hatte, sann er
sine Weile nach, dann sagte er: „Es ist gut!" und ent-
fernte sich. Nach etwa halbstündiger Abwesenheit kehrte er
mit einem gesattelten Dromedare und zehn bewaffneten
Mauren, die ich den Tag vorher gründlich kennen gelernt hatte,
zurück. Die meisten derselben erklärten offen ihr Mißtrauen
in meine Worte: daß sie fürchteten, von mir in einen
Hinterhalt gelockt zu werden, und daß an der betreffenden
Stelle meine christlichen Gefährten hervorbrechen werden.
Denn daß ich ein Christ sei, das schien allen außer Zweifel
Zu stehen. Der älteste von ihnen sagte aber: „Laßt ihn uns
uur nach der Stelle hinführen, damit wir die anderen Un-
gläubigen finden. Sind die Kisten nicht dort, so ist seine
böse Absicht ohne weiteres klar, und wir können ihn dann
erwürgen und ins Meer werfen." Und seine Stimme
drang durch. Um sich meiner ganz zu versichern, wurde ich
aber mit eisernen Ketten an den Füßen und Händen ge-
fesselt und in solcher Weise auf das Kameel gehoben.
Begleitet von mehreren Frauen, die auch etwas von der
Beute haben wollten, gelangte unser Zug an das Meer — wie
ich alsbald erkannte, aber ziemlich weit von der Stelle, wo ich
gelandet war. Als die Mauren nach längerem Marsche
nichts von den Kisten sahen, äußerten sie lebhafter und
lebhafter ihren Zweifel an der Wahrheit meiner Erzählung,
und auch Ibrahim erklärte mir, daß Unheil meiner warte,
wenn ich sie getäuscht hätte. — Konnten die Kisten nicht
bereits von anderen weggetragen worden sein? Man drohte
damit, mich lebendig im Sande zu begraben, wenn ich
gelogen hätte. Meine ganze 'Situation war bereits eine sehr
verzweifelte, da erblickte ich genau an der Stelle, wo ich sie
versteckt hatte > meine beiden Kisten, und ließ ein lautes
„Allah sei gepriesen!" ertönen. Alsbald stürzten sich meine
Begleiter auf die Beute. Ibrahim aber wies sie drohend
in ihre Schranken zurück, und setzte cs durch, daß die
Theilung durch ihn, als dlirch den, welcher das größte Recht
auf sie erworben hatte, geschah. So holte also er alle
Schätze — Halsbänder, Armspangcn, Ohrringe, Parfüme-
rien rc., und was ich sonst zum Verkaufe an die Nomaden
für geeignet gehalten hatte — hervor, und vertheilte sie.
Dreiviertel der Dinge waren den Barbaren vollkommen un-
bekannt, und Seifenstückchen führten sie zum Munde, als
seien es Eßwaaren. Es war ein Schauspiel, das sich dem
Gedächtniß unauslöschlich einprägt: Diese Barbaren, die in
der einen Hand den Dolch und in der anderen den Rosen-
kranz hielten, und die Allah für die Reichthümer priesen,
die er ihnen sandte, indem sie mich beraubten. Den Pro-
22
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara,
visionskorb hatte ich wohlweislich mit nichts füllen lassen,
als mit Brot, Früchten und Wasser, damit ihr Inhalt
meinen muselmännischen Charakter nicht etwa in Frage
stellte. Nur eine Sardinenbüchse hatte sich aus Versehen
mit eingeschlichen. Auf Befragen erklärte ich aber, daß
eine sehr wirkungsvolle Mediein darin enthalten sei. Des-
halb galt sie auch für eine der größten Kostbarkeiten, die ich
herbeigebracht hätte, und als solche fiel sie dem Vertheiler,
Ibrahim, anheim. Die Weiber, die den Zug begleitet
hatten, erhielten, was übrig blieb: Schachteln, Cartons,
Flaschen rc.
Endlich wurde der Rückweg nach dem Lager angetreten.
Ibrahim befand sich, im Gespräch mit ein paar anderen,
ziemlich weit entfernt von mir, und ich sah mich zuletzt nur noch
von vier oder fünf jüngeren Leuten umgeben. Gerade die
jungen Mauren aber hatten Tags vorher auf das ent-
schiedenste meinen Tod verlangt. Ich vernahm, wie sie
jetzt mit einander rathschlagten. Endlich waren sie mit
einander einig. Sie stürzten sich auf mich, verbanden mir
den Mund, und gruben mit ihren Dolchen und mit den
Brettern von meiner Kiste ein Loch in den Sand. Dann
stellten sie mich aufrecht in dasselbe hinein, und schütteten
es wieder zu, bis ich bis an die Schultern im Sande be-
graben war. Da das Tuch vor Mund und Nase mir das
Athmen beinahe unmöglich machte, so glaubte ich mein
Ende nahe. Aber meine Peiniger wollten mich so rasch
nicht sterben lassen, sie lösten das Tuch und ließen mich
wieder athmen, und gleichzeitig hatten sie einen Napf mit
Lagerleben der maurischen Wüstenstämme.
Wasser vor mein Grab gestellt, von dem sie sicher waren,
daß ich ihn niemals aus eigener Kraft erreichen konnte —
nur um mich dadurch noch mehr zu quälen. Nicht sobald
fühlte ich etwas von meiner Kraft zurückkehren, da stieß ich
einen lauten Schrei aus, und auf ihn eilten die anderen
herbei. Ich konnte nun die jungen Mauren mit meinem
Fluche bedrohen, Ibrahim an die Pflichten der Gastfreund-
schaft mahnen, und — obzwar durch den Druck des Sandes
von Erstickungsanfüllen bedroht — das Sterbegcbet ans
dem Koran hersprcchen. Das letztere war meine Rettung.
Man rief bestürzt: „ Unheil über unser Haupt! Das kann kein
Christ sein!" Man grub mich aus, man ließ mich wieder
aus meinem Grabe heraussteigen, man hob mich, nachdem
man mir die Arme entfesselt hatte, wieder auf das Kameel,
und wir gewannen das Lager.
Nahe den Zelten begegneten wir zwei weißen Kameelen,
auf denen zwei verschleierte Mauren in vornehmer Tracht
saßen, die keine Waffen trugen, sondern nur den Rosenkranz
durch die Finger gleiten ließen. Meine Begleiter liefen auf
den jüngeren von ihnen zu und küßten sein Kleid. Kaum war
ich im Zelte angekommen, da traten auch die beiden Fremden
herein, und der jüngere von ihnen streckte mir seine Hand
entgegen und wünschte mir den Frieden Allah's. Dann
betrachtete er mich einige Minuten schweigend, und indem
er wieder anfing zu sprechen, schlug er zugleich auch seinen
Schleier zurück, so daß ich sein Gesicht sehen konnte —
ein stark gebräuntes Gesicht mit schönen, regelmäßigen
Zügen und sanften, melancholischen Augen. Sein Begleiter
nannte ihn Sidi-Achmed-el-Bakkai, woraus ich erkannte,
daß ich es mit dem Sohne eines Groß-Scherifs zu thun
23
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
hatte. „Bist du ein Gläubiger?« fragte er mich, und als
ich die Frage bejahte, hieß er mich bekennen, daß Allah der
Größte und Höchste, und Mohammed sein Prophet sei.
Dann ertönte aus seinem Munde wiederholtes: „Allah ser
gelobt. Darum hat er dich die schwere Prüfung bestehen
lassen und dein Leben bewahrt. Du wirst auch deinen
Vater, deine Mutter, deine Brüder und dein Weib wieder-
sehen.« Und als die Mauren in das Zelt traten und sich
ehrfurchtsvoll hinter ihm aufstellten, da wandte er sich zu
ihnen und sprach: „Meine Brüder, für mich ist dieser
Lager des Scheikh Mel-Aynin.
Mann ein Gläubiger, und ihr habt Unrecht gethan, ihn zu
fesseln und zu berauben. >Aber Allah ist barmherzig.
Mißhandelt ihn nicht weiter.« Daun^ verschleierte er sich
wieder, bestieg sein Kameel, segnete die Umstehenden und
ritt mit seinem Begleiter — der sein „Thaleb« war — davon.
Es war mein erster Freund unter den Mauren.
Wüstenbruttnen.
Am anderen Tage erhielt ich den Besuch eines gewissen
Sidi Mahmud, der Schcrif und Thaleb war, und 'aus
Tafilelt. stammte. Dieser galt bei den Mauren für einen
großen Weisen, weil er etwas mehr als sie selbst von der Welt
gesehen hatte. In das Zelt eintretend, grüßte er mich
kaum, dann musterte er mich lange stillschweigend und mit
seinem Rosenkranzes manipulirend, während sich das Zelt
wieder mit Mauren füllte. Endlich brach er das Schweigen
und fragte mich: „Wie heißt du?« — „Abd-el-Malek.« —
„Aus welchem Laude stammst du?« — „Aus Algerien, im
Norden der Sahara.« — „Was treibst du?« — „Ich bin
Kaufmann.« — „Aber warum kommst du von der See-
24
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
feite?“ — „Ich war auf der Rückreise aus dem Sudan, da
erlitt ich Schiffbruch. Ich pries Gott, daß er mich an eine
Küste geworfen hatte, an der Gläubige wohnten. Aber sie
haben mich als Räuber und Mörder behandelt.“ — Ein all-
gemeines Murmeln erhob sich. Aber der Scherif fuhr fort:
„Ich glaube dir nicht. Ich bin in Mogador gewesen und habe
Christen gesehen. Du siehst aus wie sie. Bist du Sbauiol
(Spanier)?“ — „Nein.“ — „Inglese (Engländer)?“ —
„Nein.“ — „Prussia (Preuße)?“ — „Nein.“—Damit war
der Vorrath au Namen von christlichen Nationen erschöpft, und
nach einigem Besinnen fragte er nur noch, ob ich „Canarie“
(Bon den Kanarischen Inseln) oder „Consul“ sei. — Nun
bot ich meine Beredsamkeit und meine Argumente ans, um
ihn von meiner Rechtgläubigkeit zu überzeugen. — Mit Sidi
Mahmud und den lluterrichteteren schien mir dies auch zu
gelingen, und nur die jungen
wiederholten immer wieder:
„Ein Gläubiger kommt
nicht übers Meer.“ So
mußte der Scherif schließlich
gestehen, daß er die Frage
nicht entscheiden könne, und
daß es in der Wüste nur
einen Mann gäbe, der
Klarheit schaffen könne:
den Scheikh Mel-Aynin.
Nach dein Weggange
Sidi-Mahmud's war ich
allein, und ich begab mich
hinaus ins Freie, lagerte
mich in den Sand und
versank ermüdet in eine
Art Halbschlaf. Da fühlte
ich mich an meiner Schul-
ter berührt, und ich sah
vor mir Eliasise. „Abd-el-
Malek, fühlst du Schmer-
zen?“ fragte sie. — „Ja“,
antwortete ich. „Siehe nur
die Eisen an meinen Füßen,
llnd ich fürchte, daß man
mir noch mehr Schlechtes zu-
fügen wird.“ „Es thut mir
leid“, fuhr sie fort. „Ich
wollte, du wärest einer von
den unfrigen.“ — „Wenn
ich nun ein Christ wäre,
was würdest du von mir
denken?“ — „Ich würde
dich bedauern, weil dich
meine Brüder dann tobten
würden. Ich würde dir aber zur Flucht helfen. Ich würde
ein Feuer an der Küste anzünden und eines von den Zelten
der Christen, die auf dem Meere schwimmen, herbei rufen,
damit es dich aufnähme.“ Diese kindliche Rede und Hin-
gebung rührte mich auf das tiefste. Ich dankte ihr, mußte
aber doch bei meiner Versicherung bleiben, daß ich ein Gläu-
biger fei, und konnte sie nur bitten, ihren Brüdern diese
Ueberzeugung auch beizubringen. Dann wurde sie bei ihrem
Namen gerufen, und wie eine Gazelle war sie verschwunden.
Am anderen Tage traten wir die Reise zu dem Scheikh
Mel-Aynin an — Ibrahim, eilt paar andere und ich. Wir
pasfirten mehrere Zeltlager, in denen Groß und Klein
herbei lief, um den „Christen“ zu sehen. In dem Lager,
in welchem wir am Abend Rast machten, war die Haltung
der Leute eine mir entschieden feindselige. Nach dem öffent-
lichen Gebete, an dem ich wieder lebhaften Antheil nahm,
reichte mir aber eine alte Maurenfrau freundlich eine Schale
mit Milch, indem sie versicherte, daß sie nicht glaube, daß
ich ein Christ fei, weil ich so gut zu Allah gebetet habe.
Am Abend des vierten Tages erreichten wir das Lager
des Scheikh und Groß-Scherif Mel-Aynin — desselben
Mel-Aynin, der ein Jahr vorher seine Sendlinge aus-
geschickt hatte, damit sie die beiden spanischen Reisenden
Quiroga und Cervera, die durch das Adrar gingen, ermorden
sollten. Meine Begleiter hatten mir von ihm versichert,
daß er sehr reich, sehr fromm und sehr heilig fei, daß er
vier legitime Frauen habe (während die Mauren sonst
monogamisch leben), und daß er Wunder thun könne — ohne
freilich von den letzteren mit eigenen Augen etwas gesehen
zu haben.
Das Lager Mel-Aynin's bestand aus einer großen
Zahl eng zusammenge-
drängter Zelte, in deren
Mitte sich ein viel statt-
licheres erhob, das durch
seine kuppelförmige Gestalt,
sowie durch seine weiße
Farbe schon von fern sei-
nen europäischen Ursprung
verrieth. Es herrschte zwi-
schen den Zelten ein bun-
tes Leben, und eine Menge
von Kriegern drängte sich
vor dem Zelte, in welchem
der Scheikh Audienz gab.
Meine Ankunft war ein
Weltereiguiß, und jeder-
mann wollte das wunder-
bare Wesen sehen, das
„von dem Meere“ hergekom-
men war. Alle Typen der
westlichen Sahara waren
vertreten: die Uled-Delim
mit ihren wilden Gesichts-
zügen und ihrem langen
auf die Schultern herab-
hängenden Haupthaar; die
Rcgibat, durch ihre stolze,
aristokratische Haltung ihre
scherisische Abstammung be-
kundend; die Larussiin,
durch ihre vorstehenden
Kieferknochen die Mischung
mit Negerblut verrathend;
die Wad-Nuni; die Filali rc.
Ihren Fanatismus mir ge-
genüber legten viele an den
Tag, und wiederholt bedurfte es aller Energie meiner Begleiter,
damit sie sich nicht meiner bemächtigten. Der Scheikh vertheilte
gerade Religuien und wunderthätige Heilmittel an die No-
maden, und diese erwiesen ihm jede denkbare Verehrung. Er saß
auf einem schönen marokkanischen Teppich, und durch seinen
Schleier hindurch sah man eigentlich nichts von ihm
als seine funkelnden Augen. Von Zeit zu Zeit sielen diese
letzteren auch auf mich, den man vor den Zelteingang postirt,
und endlich gebot er, mich näher zu bringen. Ich küßte
ihm, gleichwie es die Nomaden gethan hatten, die aus-
gestreckte Hand, und er that einige kurze, aber wohlwollende
Fragen an mich. Den Namen Algerien kannte er. Seine
Frage, ob ich die „Fatiha“ kenne, bejahte ich, und auf sein
Verlangen sagte ich sie her. Ebenso schrieb ich meinen
vorgeblichen Namen auf seinen Wunsch mit arabischer
Schrift in den Sand, dabei betonend, daß ich kein Schrift-
25
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
gelehrter oder Thaleb sei, sondern das Schreiben nur so
weit verstehe, als es mein Berns nöthig mache. — Als ich
Ee seine Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte,
wandte er sich mit lauter Stimme an die Versammelten
sind sagte: „Meine Brüder, Ruhm sei Allah! Dieser Mann
ist in Wahrheit ein Gläubiger. Nehmt ihm seine Fesseln
üb, gebt ihm zurück, was Ihr ihm genommen habt, und be-
handelt ihn in Eurem Stamme als Euren Bruder." Das
war sein Urtheil.
Alsbald machten wir uns auf, um die Rückreise anzu-
treten. Meine Begleiter schienen von dem Ergebnisse freilich
nur halb befriedigt, das erkannte ich daraus, das sie mir
die Fesseln nicht sofort abnahmen, wie der Groß-Scherst
besohlen hatte. Ihre Ueberzeugung war in Wirklichkeit
doch nicht gewonnen, sic behielten noch immer das Miß-
trauen, daß ich ein Christ sei, aber am unangenehmsten war
es ihnen offenbar, daß sie mir zurückerstatten sollten, was
sie mir geraubt hatten.
In ihrer Verlegenheit kamen sie auf den Gedanken,
von dem Groß-Scherst Mel-Aynin noch an eine andere
Instanz zu appelliren: an einen Hads Ibrahim ans Tafilelt,
der ob seiner Pilgerfahrten weithin berühmt war. Ilm zu
ihm zu gelangen, bedurfte es nur eines eintägigen Umweges.
Wir fanden einen schlichten, gutmüthigen Alten, der in
eigener Person seine Schafe hütete, und der den Vortrag
meiner Angelegenheit lächelnd anhörte, und dann sa^e: „Das
ist ein Türke! Glicht wahr, du bist ein Türke?" Ich
antwortete selbstredend gern mit Ja! Ich sei aus Algerien,
und also natürlich ein Türke. „Er konnte nichts anderes
sein als ein Türke, er ist ein girier Muselmann! Die Türken
in Alexandrien sehen genau aus wie er", bekräftigte der
Heilige, und meine skeptischen Begleiter mußten sich schließ-
lich auch ihm gegenüber bescheiden. Wir kamen in das
Lager zurück, es wurde eine Versammlung berufen, ich
wurde feierlich zum „Bruder" erklärt, die Ketten wurden
mir abgenommen, ich bekam ein paar Felle und ein paar-
blaue Baumwoüenfetzen zur Bekleidung, wie die andere
Jugend sie trug, und obendrein auch noch eine Flinte und
einen Dolch, ganz wie ein Krieger der Ulcd-Dclim. Von
all den Gegenständen, die man mir genommen hatte, ge-
lang es mir freilich nur einen zurück zu erhalten: meine
Boussole, die mir zur Festlegung meiner Kreuz- und Oner
Züge in der Wüste von höchstem Werthe war.
Zwei Tage später brach unser Lager gegen Südosten
auf, um mit Ennadjem, dem Schwiegervater Jbrahim's, zu-
sammenzustoßen. Dabei gab es reiche Gelegenheit, sich in
bas tägliche Leben und in die Sitten der Nomaden einzu-
weihen. Das erste ist natürlich an jedem Tage das Gebet, das
eine Stunde vor Sonnenaufgang durch Weckrufe seitens der
Familienhäupter ■— uöthigenfalls auch durch Scheltworte
und Schläge — vorbereitet wird. Dann werden die Kameelc
mit dem Gepäck und den Zelten beladen, während die
Schafe und Ziegen voraus getrieben werden, um einen
Vorsprung zu gewinnen. Dann werden die Palankine der
Frauen — große Körbe mit Lederboden — an den Ka-
meclcn befestigt, und endlich setzt sich der Zug in Bewegung.
Anfangs geht es in geschlossener Reihe rüstig vorwärts, all-
mählich beginnen die Thiere sich aber niederzubeugen und
nach den Pflanzen zu haschen, die am Wege wachsen, und
schließlich löst sich der Zug ans, und cs geht langsam vor-
wärts, indem die Thiere nebenbei zugleich weiden.
Lagerplätze angekommen, richten die Frauen
, die Sklaven schleppen dürres Gestrüpp zum
herbei, die Kinder schlagen Funken mit dem
die Männer lassen die Kameele niederknieen
und sorgen für die Heerden. Dann lagert sich Alles um
bw Feuer, eine Stunde nach dem Abendgebete werden die
Globus MV. Nr. 2.
<ut einem
|?le Zelte auf
Feuermachen
Steine, und
Kameele gemolken, und die Milch wird von der Frau des Zelt-
herrn unter die Familienglieder vertheilt. Unter den Kindern
giebt es dabei nicht selten Zank und Streit. Da man die
Milch gern warm trinkt, die Holznüpfe sich aber nicht an
das Feuer setzen lassen, so macht man vielfach Kieselsteine
glühend heiß und wirft sie dann hinein. Dann streckt sich
die Familie dicht zusammengedrängt — um die nächtliche
Kälte besser zu überwinden — auf die Matte, ein langer
Teppich wird über die ganze Gesellschaft hinweg gebreitet,
und alle schlafen. Die Sklaven lagern sich, in ihre Kleider
gehüllt, inmitten der Heerden.
Am folgenden Tage wiederholen sich diese Bilder genau
in derselben Reihenfolge.
Interessant ist cs, die Jugenderziehung der Nomaden zu
beobachten. Man ist erstaunt, Kinder in den Zelten an den
ernstesten Gesprächen theilnehmen zu sehen. Die Kenntniß
der arabischen Schrift ist ganz allgemein verbreitet, und der
Unterricht steht in hohen Ehren. Natürlich handelt es sich
vorwiegend um das Studium und die Interpretation des
Koran. Die vielfache Uebung in theologischen Gesprächen
macht die Leute aber zu wirklichen Rednern. Es giebt
übrigens gewisse Stämme, die aus dem Jugendunterrichte
einen Beruf machen, so vor allem die Filahi. Wenn einer
von diesen „Tolbas" (Schristgelehrten) im Lager erscheint,
so sammelt sich abends, sobald die Zelte aufgeschlagen sind,
die Jugend beiderlei Geschlechts mit großem Eifer um den-
selben herum, um mit Holzkohle auf Brettchen Buchstaben
zu malen und Koranverse zu lernen. So lange der Thaleb
nicht da ist, lehren die Aelteren die Jüngeren.
Es nahm etwa 14 Tage in Anspruch, bis wir zu
Ennadjem kamen. Derselbe war sehr reich, besaß 50 Dro-
medare, 500 bis 600 Schafe und Ziegen und drei Sklaven.
Er empfing uns gut, und freute sich sehr, seine vier Enkel
zu sehen, gegen mich aber konnte er das Mißtrauen des alten
Fanatikers lange nicht überwinden. Als dies aber durch
meine Diplomatie einmal geschehen war, erwies er mir
doppelte Freundlichkeit.
Während wir uns ans der ganzen vierzehntägigen Reise
von der Küste bis nach dem Lager Ennadjem's ausschließlich
von Kameelmilch und Gerstenbrei genährt hatten, bekamen
wir hier auch wieder Fleisch zu essen; denn um unsere
Ankunft zu feiern, schlachtete Ennadjem drei Hammel.
Obwohl ohne Salz und ohne Würze und in sehr barbari-
scher Weise servirt, mundete die lange entbehrte Kost vor-
züglich. Die Knochen, welche Mark enthielten, wurden in
galanter Weise den Frauen dargeboten.
Ans dein Marsche gegen Norden, der nun erfolgte,
herrschte großer Wassermangel, und nur alle zehn Tage
stießen wir auf einen Brunnen. Diese Brunnen sind in
Wirklichkeit zumeist bloße Cisternen, die von den Mauren
an geeigneten Orten gegraben werden, und in denen sich
das Regenwasser sammelt. Man schöpft das letztere mit
Hülfe von ledernen Eimern, und benutzt es außer zum
Tränken der Kameele in der Ziegel auch zum Vornehmen
einer wirklichen Waschung.
In der Gegend von Semur erfolgte die Niederkunft
einer Frau, der Marsch wurde dadurch aber ebenso wenig
aufgehalten als durch das Werfen der Kameele oder der
Ziegen. Am Abend, als die Zelte aufgeschlagen waren,
wurden zur Feier des Ereignisses nur ein paar Flinten-
schüsse abgefeuert, und der Vater hatte die Glückwünsche der
Stammesgenossen entgegenzunehmen. Die Mutter bestreicht
ihr Gesicht nach der Niederkunft' mit einem Knaben immer
über und über mit dem Safte der Henna-Wurzel, wie es
scheint, ans hygienischen Gründen. Bei der Geburt eines Mäd-
chens thut sie es nuv mit der Hälfte des Gesichts. Aehnliches
geschieht bei Mädchen und Frauen übrigens auch allmonatlich.
4
26
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Das Hauptspiel, mit dem sich die sangen Leute be-
lustigen, besteht darin, daß sie einen von sich in die Mitte
nehmen, und ihn durch Zurufe und Schläge aufreizen, bis
es ihm durch Luftsprüuge und Ausfälle gelingt, einem
anderen eine Niederlage beizubringen, und dieser an seine
Stelle treten muß. Es wird dabei ein hohes Maß von
Gewandtheit sowie auch von Wildheit entfaltet.
Von Semur ging der Marsch wieder nordwestlich, gegen
das Kap Bosador hin — durch eine traurige, unfruchtbare
Stein- und Sandwüste, die die Nomaden „Ragg" nennen.
Kameele, Schafe und Ziegen wurden vorher doppelt reich-
lich getränkt, damit sie die nun folgenden Entbehrungen
leichter ertrügen. Ich selbst gerieth von der Hitze der
Gegend schon nach Ablauf des ersten Tages in einen
eigenthümlichen Hallueinationszustand, der auch den Ein-
geborenen wohlbekannt ist, und der von ihnen „ralg“ ge-
nannt wird. Man mußte mich gewaltsam aus demselben
wecken, und man sagte mir, daß er zum Irrsinn führen
könne. Die Thiere litten Unsägliches, und es bedurfte
großer Anstrengungen, um sie vorwärts zu bringen. Die
ausdörrende Wirkung, welche der Ostwind und der von
demselben emporgehobene feine Saud auf Zunge und
Gaumen ausübt, macht es einem auch begreiflich, warum
die Mauren die untere Hälfte ihres Gesichtes verhüllt
tragen.
Endlich erreichten wir die fruchtbaren Steppen in der
Nähe des Kap Bosador, die „kddä“, wie die Mauren sie
nennen —, und dort nahmen wir einen mehrtägigen Auf-
enthalt. Dort war ich Zeuge von einer maurischen Hochzeitsfeier.
Wie bei allen Mohammedanern, so besteht auch bei diesen
Wüstenstämmcn der Brauch, daß der Bräutigam seine Braut
zu kaufen hat. Die letztere gilt fünf, sieben, zehn oder zwölf
Kameele, se nach den Verhältnissen. Dabei ist aber zu
beachten, daß das Wort Kameel nur im fictiven Sinne zu
nehmen ist, und daß der wirkliche Betrag ebenso oft in
Kleinvieh oder in Douros bezahlt wird. Zur Feier des
Tages, an dem die Vermählung des sungen Paares statt-
findet, gehört vor allen Dingen der Tanz einer Bajadere,
die in dem gegebenen Falle ein etwa vierzehnjähriges Mäd-
chen von graziösem Körperbau und mit schmachtenden Augen
war, und deren leidenschaftliche Bewegungen von dem
Klange einer Schalmei und eines Tambourin begleitet
wurden (S. Abbildung 5). Im übrigen wurden Flinten
abgeschossen, Glückwünsche gewechselt, Koranverse hergebetet,
und zu großen Portionen Gerstenbrei, in warme Milch ge-
tauchte Datteln verzehrt.
Bericht über eine R
Bon H. S
I. (Fortsetzung.)
Den Ausgang der Stromenge erreichen wir gegen
12 Uhr Nachmittags und damit wieder das offene, weite
Land, nämlich die fruchtbare Schao-king-su-Ebene, welche
sich von Gebirgen umgeben friedlich vor uns ausbreitet.
Sie ist reich an Pagoden jeglichen Genres, und mehr als
ein Dutzend derselben umgiebt die Stadt.
Bald nachdem wir die Berge verlassen, springe ich mit
Afook und Tsuenschen, einem meiner Cassia-Freunde, am
linken Ufer ans Land, gebe meinem Käpitün Ordre, uns
bei Schao- king-fu zu erwarten und mache mich nach den
Marmorfelsen auf, welche ich nach 2 Stunden langem, sehr
anstrengendem Marsch durch Reis- und Gemüsefelder — an
Fischteichen und unzähligen Gänseheerden, durch welche jene
Gegend besonders berühmt ist, vorbei — erreiche.
Diese in Canton dem Namen nach sehr wohl bekannten,
aber nur von wenigen Fremden besuchten Felsen sind die
letzten Ausläufer eines von Osten nach Westen sich hin-
ziehenden, von der Ting-u-schan-Höhenkette herkommenden,
steinigen Gebirges. Die „sieben Sternberge", wie die
wörtliche Uebersetzung ihres chinesischen Namens heißt, be-
stehen aus sieben theilweise fast senkrecht aus der flachen
Ebene aufsteigenden, in einem Halbkreise zusammenliegenden,
wild zerklüfteten Marmorfelsen von 130 bis 160 Fuß Höhe
und machen so, einsam in der Ebene stehend, einen gar-
seltsamen Eindruck.
Ihr dunkles Gestein ist hie und da von Bäumchen oder
Strauchwerk bewachsen, und an den steilen Wänden wie
Schwalbennester klebend, sind mehrere kleine Tempel an-
gebracht, deren höchstgelegenen ich erklettere. Nach sehr-
anstrengendem Steigen, die künstlich gehauenen Stufen
hinauf, und an massiven, eisernen, von frommen Pilgern
an den Wänden befestigten Ketten mich hinaufziehend, er-
reiche ich schweißtriefend die Spitze, um mich an einer
eise nach Kwang-si.
ch r o e t e r.
prachtvollen Aussicht in das schölle Land zu laben. Ein
freundlicher alter Priester reicht mir einige Schalen er-
frischenden Thees, und nachdem ich auf an der Wand an-
gebrachten, mit religiösen Inschriften bedeckten Schiefer-
tafeln mich und meine Begleiter neben verschiedenen wohl-
bekannten Touristen verewigt habe, klettere ich auf allen
Vieren wieder den Fels hinunter, mit die berühmte Höhle
zu besuchen.
Dieser Marmorfels schließt nämlich eine wildzerklüftete,
bis zu 60 Fuß über den Erdboden aufsteigende, zu einem
chinesischen Tetnpel umgestaltete Grotte ein, welche in solcher
Weise hat ausgebaut werden können, daß z. B. die verschiede-
nen Buddhas und sonstigen Heiligen direct in die marmorne
Wand, oder in die aus dem Boden wachsenden röthlichen
Felsrisse gehauen sind. Die einzelnen Felsenkammern
sind nur matt durch hie und da einfallendes Licht erleuchtet,
welches der ganzen Scene ein romantisches Gepräge giebt.
Ueberall an den Wänden hängen Prächtig geformte, im
Fackellicht meiner Führer magisch erglänzende Tropfstein-
gebilde, und ganz aus denselben bestehend, zieht sich eine
allmählich sich verengernde Höhle in den dem Gebirge zu
aufschwellenden Erdboden hinein, in eine Entfernung von etwa
300 Fuß, geräumig genug, sie ungefährdet passiren zu
können. Ich war leider nicht im Stande, mehr als etwa
die Hälfte der Höhle zu besuchen, da von den Regengüssen
des Sommers nachgebliebene Wasserpfuhle mir ein weiteres
Vordringen unmöglich machten. Ich bemerkte jedoch einige
seltsame Tropfsteinformationen, bei deren erstem Anblick
man wirklich im Unklaren ist, ob die prächtigen Hautrelief-
gebilde antidiluvianische Riesenmenschen, Ichthyosauren und
dergleichen Ueberbleisel einer untergegangenen Welt, oder
Wunderbauten der Natur sind.
Es ist sehr zu bedauern, daß weder der an ihnen vorbei-
fahrende Colquhoun diese Felsen besucht, noch daß ein
H. <5 dito et er: Bericht über eine Reist nach Kwang-si. 2 7
Dünger der Geologie dieselben bis heute sachgemäß unter-
sucht hat.
Das nahegelegene Schao-king-fu erreiche ick) spät am
Abend, und nach entsetzlichem Jrrmarsche durch die Straßen
der in der späten Stn>:de wie ausgestorbenen Stadt finde
uh erst gegen 9 Uhr meinen „Pinguin" glücklich wieder,
welcher neben einer Reihe von auf das Land gezogenen, und
wie weiland in der Phäakenstadt ganze Gassen bildenden
Fahrzeuge ruhig vor Anker liegt.
Schao-king-fn war ehemals die Hauptstadt von Kwang-
tung, welchen Rang es Canton hat abtreten müssen, seit
letzterer Platz durch seinen Handel mit den Barbaren und
durch die im Laufe der Zeit immer lästiger werdenden Frem-
den die besondere Aufmerksamkeit der Beamten auf sich lenkte.
Der Gouverneur von Kwangtung, dem in seiner Eigen-
schaft als Vicekönig von Kwangtung und Kwangsi das der
letzteren Provinz näher liegende Schao-king-fn viel bequemer
als Residenz sein mußte, war daher gezwungen, Canton zu
derselben zu erheben. Seit jener Zeit hat Schao-king-fn
seine ehemalige Bedeutung verloren, zumal zwei am Ein-
und Ausgange des Hafens inzwischen errichtete Likinstationen
uidst gerade dazu beigetragen haben, Handel und Gewerbe
der Stadt zu heben.
Die für von Westen herkommenden Güter bestimmte Sta-
tion Won-kong-tscheong passire ich früh Morgens am 12. Sep-
tember, an welchem Tage meine Coolies mich durch das
Sam-neong-hap bis nach Lnk-pu schleppten.
Mehrere große Pfandhäuser bezeugen, daß dieser Platz
einigen Reichthum besitzt, für den europäischen Handel hat
er aber nur wenig Interesse, obgleich er einigen Canton-
Kanfleuten gut genug durch eine abscheuliche Cassia bekannt ist.
Hinter der theilweise auf hohen Pfählen am Ufer erbauten
^tadt streckt sich eine reizende Hügelkette in das Land hinein,
vom Flusse aus gesehen an das rheinische Siebengebirge
erinnernd. Hier übernachtete icks.
Am Mittag des 13. September erreiche ich den kleinen
Flecken Auet-sching, welcher durch einen sehr schönen
Tempel berühmt ist. Derselbe ist der Mutter des Drachen
geweiht und wenn er auch, was Schönheit oder Reichthum
der Ausstattung anlangt, vor ähnlichen Gebäuden Cantons
nichts voraus hat, so gewährt er doch ein besonderes Inter-
esse durch eine an den Ort sich knüpfende Legende. Sein
Hauptanziehungspunkt besteht nämlich — in der ersten Etage
des inneren Pavillon gelegen — aus einem durch Holzgitter
nur schwach gegen den Andrang des Publieums geschützten
Boudoir. Dasselbe ist mit einem retd) ausgestatteten Frauen-
bett geschmückt und gefüllt mit etwa 20 Exemplaren der ver-
schiedensten Bestandtheile einer vornehmen chinesischen Damen-
toilette, von reichgestickten Beinkleidern und weiten, eleganten
Seiden- und Pelzjacken, bis auf winzige Schühchen und
kostbarsten Haarputz — auch mit wohlbesetzten Frisirtischen,
Spiegelchen und Wasserpfeifen. In diesem Gemach hält
sich einmal im Jahre, am 8. Tage des 5. Mondes, die
Mutter des Drachen auf, freilick) unsichtbar der Mehrzahl
der Menschen, aber von einigen besonders gläubigen An-
dächtigen zeitweise deutlich gesehen. Ueber den Dächern des
Städtchens und den benachbarten Fluren schwebend, gießt
sie im Aufträge der himmlischen Mächte Glück und Segen
auf die von nah und fern an jenem Tage hier zusammen-
strömenden Landeskinder aus, macht Lahme und Kranke ge-
sund und bescheert namentlich andächtig betenden Frauen
bisher versagt gewesenen Kindersegen.
An diesem Tempel fährt keine Dschunke, kein Passagier-
oder Postboot vorbei, ohne daß sämmtliche Insassen, vom
höchsten den Fluß gerade bereisenden Mandarinen bis zum
Schiffsjungen des Hortau zum Tempel wandern. Auch
meine Begleiter besuchen in verschiedenen Abtheilungen
die geräumigen, auf ebener Erde gelegenen Opferstätten,
um zwischen brennende Kerzen eines der Altäre ein ge-
kochtes Huhn, etwas Schweinefleisch, Reis, Fisch, Gemüse
und Salz zu stellen. Sie befeuchten sich die Hände mit
Samschu, besprengen mit demselben, Gebete murmelnd,
and) den Erdboden, und letzteren mit der Stirn nach neun-
fachem Beugen des Oberkörpers ebenso oft berührend, ver-
richten sie den üblichen „Konten" vor den Heiligenbildern.
Hätte mich der Lärm der während dieses Aktes von den
Priestern gesdstagenen Trommeln und Zimbeln md)t
nervös gemacht, wer weiß, ich wäre vielleicht selbst
andächtig mit in die Knie gesunken, wie dies dem streng-
gläubigsten Protestanten ja and) in einer katholischen
Kirche soll zustoßen können. Das gleichgültige Grinsen der
stupiden Bonzengesichter störte mich aber nicht minder in
meiner Andacht, und ick) folgte daher dem freundlichen Abt,
der mir die Sehenswürdigkeiten des Tempels — unter anderen
auch das im Klostergarten gelegene Grab der Drachenmutter,
einen ganz nnsäieinbaren kleinen Steinhügel — zeigte. Diese
mythologische Gestalt war in grauer Vorzeit eine in der
ganzen Nachbarschaft wegen ihrer hohen Weisheit und
Tugend berühmte Jungfrau, welche ihre bejahrten Eltern
bis zu deren Tode mit rührender Liebe gepflegt hatte, um
dann selbst in ungewöhnlich hohem Alter unvermählt zu
sterben und von ihren Nachbarn in jenem Grabe beigesetzt
zu werden. Einige Zeit nad) ihrem Tode erschienen nun
fünf wohlgekleidete, von Niemandem gekannte Jünglinge von
wunderbarer, überirdisd)er Schönheit, welche an dem Grabe
andächtig beteten, wie die Chinesen es nur bei demjenigen
ihrer Mutter zu thun pflegen. Als aber das neugierige
Volk zusammenströmte, verwandelten fick) die jungen
Männer urplötzlid) in Sd)langen oder Drachen, welck)e
zisck)end in dem Erdboden an einer noä) heute dem frommen
Wallfahrer gezeigten Stelle verschwanden. Zum Andenken
an dieses Wunder wurde der Tempel erbaut, und so ent-
wickelte sich allmählich die Drachensage, ans welche ick) nock)
einmal ausführlicher zurückzukommen Gelegenheit haben
werde.
And) das Fremdenbuch ließ ick) mir vorlegen, in welckjes
bemittelte Chinesen, besonders Mandarine, für die Erhaltung
des Tempels gespendete kleine Summen zusammen mit
ihrem Namen zu verzeichnen pflegen. Nachdem ich meinen
Obolus entrichtet, und mit deutschen Bud)staben meinen
Namen zwischen die ck)inesischen Charaktere all' der hohen
Würdenträger eiugesck)rieben habe, nehme ich von dem wohl-
wollend lächelnden und beim Fortgehen mich mit dem blü-
henden Zweige eines im Kloster wack)seuden Akazienbaumes
beschenkenden alten Herrn Abschied. Als auck) die Chinesen
ihr „Joßpidjin" beendigt, und ihre für ein leckeres Mahl
bestimmten Gerichte auf das Hortau zurückgetragen haben,
begeben wir uns wieder aus die große Heerstraße.
Ehe ich jedoch mit meiner Erzählung fortfahre, kann ich
mir md)t versagen, einen kleinen Scherz zu berichten.
In jenes Fremdenbuch trug nämlich auf mein Geheiß
Asook, der Vielgenannte, meinen Namen auck) mit d)inesischen
Charakteren neben meinen deutschen Buchstaben ein. Ich
muß gestehen, ick) hätte damals gern gewußt, welchen Titel
mein Schildträger seinem Herrn gegeben hatte. Als eontraet-
lich verpflick)teten Federführer der Firma S. & Co. konnte
mich der Biedere dock) unmöglich zwischen alle die Männer der
chinesischen Wissensck)aft und die hohen Beamten einzeichnen.
Ick) traute zwar meinem Dolmetsck) Findigkeit genug zu,
den richtigen Ausdruck zu treffen, war aber doch sehr erstaunt,
als der große Sinologe Felix Soachs bei meiner Rückkehr
nack) Canton die in Abschrift heimgetragenen Charaktere
wörtlich mit: „Großer Schriftgelehrter und Handelsherr des
Abendlandes" übersetzte.
4*
28
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Ich hoffe, daß meine hohen Vorgesetzten so wenig, wie
mein alter Schuldirektor das ambrosische Haupt schütteln
werden, wenn sie erfahren, daß nach Füllung seues Buches
die in dasselbe eingetragenen Namen und Titel auf an den
Wänden des Klosters angebrachten Steiutafeln eingemeißelt
und so der Nachwelt aufbewahrt werden.
Durch etwas einförmig gewordene Hügelketten uns am
linken Ufer entlang windend, steuern wir gegen Abend einem
in den Fluß hineinragenden, merkwürdigen Gebilde zu, bei
dessen Anblick man unwillkürlich an die Ruine eines mittel-
alterlichen Nitterschlosses denken muß. Je mehr man sich
aber derselben nähert, desto mehr nimmt der wildzerklüftete,
150 Fuß hoch aus der Wasserfläche ragende Marmorfels
die Gestalt eines gigantischen Hahnenlammes an, welchen
Namen er auch im Volksmunde führt. Der Fels war
früher der Schlupfwinkel eines berüchtigten Räubers, und
meine Bootsleute erzählten sich eine Reihe Gruselgeschichten,
während wir vorbeifuhren. Afook, welcher vonSamschu voll
jenes Geistes war, der, anstatt die Zunge zu begeistern, sie
zu lähmen pflegt, konnte mir dieselben leider nicht ver-
ständlich interpretiren!
Dicht bei dem Felsen steht ein zerfallener Wachtthurm,
eins der den ganzen Fluß in einer Entfernung voll 10 U
sich hinaufziehenden Häuschen, lvelche fast sämmtlich von den
Taiping-Rebellen mehr oder weniger zerschlagen worden sind.
Sie enthielten früher je eine Schaar Soldaten, welche, wenn
Handelsdschunken von Piraten angegriffen wurden, in kleinen
Booten den ersteren zu Hülfe eilten, und durch eine weithin
tönende Glocke die übrigen auf deu. hohen Abhängen der
Ufer gebauten Stationen, sowie die benachbarten Fahrzeuge,
auf die Gefahr aufmersam machten, um gemeinschaftlich auf
die Räuber jagen zu können. An Stelle dieser Häuschen
liegen jetzt, in vielen Fällen unweit der alten Ruine, kleine
scharfbewasfnete Polizeiboote, in deren Nachbarschaft die
Handelsfahrzeuge während der Nacht festmachen, was auch
ich mehrfach zu thun genöthigt war.
Anl 14. September gelangte ich bis zur Stadt Tackhing,
einem zienllich umfangreichen und, wie die Stadtmauern be-
sagen, einen Tscheh-schien, d. h. Kreisrichter, beherbergenden
Platz, der aber einen grausig öden und todten Eindruck
macht. Der Bruderkrieg muß hier schrecklich gehaust haben.
Die halbe Stadt, selbst die Pamens und Tempel, liegen
noch in Trümmern, und auf den Festungswällen jagen sich in
hohem, wildwachsendem Gras erbärmliche kleine Ponies, den
Militär-Mandarinen gehörend, mit verwahrlosten Rangen;
aus dem zerbröckelnden Gestein der Stadtmauer hängen in
großen Gebüschen Wawa- und andere Stauden herab, ganze
Straßen sind unbewohnt, und nur erbärmliche Hökerläden
rcpräsentiren deu Geschüftstheil des halbausgestorbenen
Platzes. So ungefähr, denke ich, müssen manche deutsche
Landstädte nach dem dreißigjährigen Kriege ausgesehen
haben! Tackhiug ist übrigens hübsch gelegen, und die Aus-
sicht vom Boot aus auf die gegenüberliegenden Berge ist im
Strahl der untergehenden Sonne geradezu entzückend.
Am Morgen des 15. September haben meine Leute
eine schwere Arbeit beim Umschiffen eines weit in den
Fluß vorspringenden Ausläufers des uns noch immer auf
beiden Ufern folgenden Gebirges zu bestehen. Bald 150 Fuß
hoch über der Wasserfläche von den Fels-Abhängen herab,
bald in der grellen Sonne ununterbrochen ernt flachen Ufer
entlang das schwere, aus Bambus geflochtene Schleppseil
ziehend, bald kleine in den Fluß mündende Bäche und Kanäle
durchwatend, ja zeitweise durchschwimmend, häufig tief
im weichen Boden versinkend, flößt dem Europäer das
unermüdliche Fortstürmen der halbnackten, braunen Kerle
wirklich Respect ein. Von des Morgens früh 4 oder 6 Uhr
bis nach Sonnenuntergang dauert die Tagesarbeit. Während
der ganzen Reise, in den heißesten fünf Wochen, welche das
vergangene Jahr Cauton beschieden hatte, wurde nur ein
einziges Mal einer meiner Eoolies, von der Tag auf Tag
aus wolkenlosem Himmel auf uns herabstrahlenden Sonne
getroffen, so schwach, daß er sich für einige Zeit der schweren
Arbeit fernhalten mußte. Wir erreichten Tusching, ein
richtiges Kuhbauerndorf, welches sich aber einiges Handels
erfreut. An seinem Eingänge ist eine große, schwimmende
Likinstation für die den Fluß passirenden Waaren erbaut.
Es war bereits nach Sonnenuntergang, als wir tut Schutze
derselben vor Anker gingen. Da wir nur noch zwei Tage
von dem neuerdings so viel genannten Wu-tschou-fn ent-
fernt sind, entschließe ich mich, meinen langsamen „Pinguin"
zurückzulassen, und schon gegen 3 Uhr am folgenden Morgen
befinde ich mich in Begleitung Asook's und eines meiner
Eassia-Freunde in einem für die Fahrt gemietheten, leichten
Fischerkahn auf dem Wege nach genannter Handelsstadt,
während niein Schiff mir langsam folgt.
Die uns von Canton aus am Ufer folgende, heutzutage
bis an die Grenze von Tonkin geführte Telegrapheulinie
zur Rechten lassend, wird mein kleines Boot von seinem
Besitzer zusammen mit der Frau und einigen halbwüchsigen
Kindern, welche wohl alle in dem Boot geboren sind, den
Strom hinaufgeschleppt, von der jüngsten Tochter — einem
sympathischen, etwa 7 Jahre alten Kinde, dessen sanfter
Rehaugen ich mich noch jetzt erinnere — gewissenhaft gesteuert.
Die bisher theilweise dicht an das Ufer kommenden, theil-
weise tief in die Ebene zurücklaufenden Berge zeigen
immer reichlicheren Baumwuchs. Hart am Ufer werden
mächtige Fichten gefällt, um zu großen Flößen zusammen-
gefügt, sich auf den Weg nach dem Canton-Delta zu
machen. In prachtvoller Waldlandschaft passire ich gegen
2,30 Nachmittags die Grenze von Kwangsi, welche von zwei
wie Fingerhüte geformten, etwa 9 Fuß hohen, überkalkten
Steinhaufen, ohne jegliche Inschriften, mit einigen daneben
stehenden Akazien, am rechten Ufer des Flusses näher be-
zeichnet wird.
Im Westen wird bald aus hohem Ufer die erste Pagode
Wu-tschou-fu's sichtbar, wir lassen zwei Jnselchen mit da-
rauf gebauten Tempeln zur Linken, und passiren um 4 Uhr
nachnnttags die erste, auf großen, schweren Kähnen er-
baute Likinstation. Wir winden uns durch unzählige, große
Holzflöße und Ladungsboote jeglichen Genres, sowie durch
große und kleine Dschunken, Passagierfahrzeuge und
Sampans hindurch, an der auf ziemlich hohem Ufer er-
bauten Stadt entlang, und erreichen gegen 43/4 Uhr die am
Eingänge des Fuho gelegene zweite Likinstation. Wir ver-
lassen nun das gelbe Gewässer des Westflusscs, und nachdem
wir noch einige hundert Schritte den krystallklaren Fuho-
Fluß, dessen Mündung gleichfalls einen Theil des Hafens
ausmacht, hinaufgefahren sind, lohne ich meine Fischer-
familie ab, während einer meiner Begleiter es unternimmt,
mein Gepäck in einem Blumenboot, welches mir als Nacht-
quartier dienen muß, unterzubringen. Ich besteige eine
Art „Praja", von dem Schutt der Stadt augenscheinlich
im Laufe der Jahre gebildet, und durch ein Gewirr von
Straßen wandernd, erreiche ich im Dunkeln die hoch auf
einem Bollwerk der Stadtmauer gelegene Telegraphen-
Station, um nach Canton zu telegraphiren, und von dem
Englisch sprechenden, chinesischen Dirigenten derselben be-
gleitet, von meinem Blumenboot Besitz zu nehmen.
Es war dies eines der in Canton so wohl bekannten
Fahrzeuge, welche sich durch eben so große Sauberkeit aus-
zeichnen, wie chinesische Gasthäuser im allgemeinen es durch
Unreinlichkeit thun. Für die Zeit, welche ich ans meinen
„Pinguin" zu warten hatte, wurde es von mir zur Residenz
erhoben, nachdem seine früheren Insassen ausquartiert wor-
29
Kürzere Mittheilungen.
bett waren, und ehe dies geschah, gab ich in dem am besten
mit einem „Cafe chantant" zu vergleichenden Boot dem
Telegraphen-Director, sowie auch meinen Leuten, ein kleines
chinesisches Diner, um mich mit dem aufgeweckten, kaum
20 fahrigen Jünger Stephan's ausführlich über den Handel
der Stadt und Nachbarschaft unterhalten zu können.
Am 17. September erhob ich bereits unt 6 Uhr Morgens
meine von der harten (nach chinesischer Manier nur von
einer Matte belegten) Pritsche wie zerschlagenen Glieder,
um, ehe die Sonne es unmöglich machte, einen schon Tags
zuvor bei meiner Einfahrt in die Fuho- Mündung mir auf-
gefallenen, am rechten Ufer genannten Flusses steil empor-
steigenden Hügel zu erklettern, wo ich von einem alten,
gänzlich zerfallenen Lehm-Fort aus eine wunderschöne Aus-
sicht auf die uns umgebenden Gebirge genoß uub eine
klare Vogelschau ans das zu meinen Füßen sich ausbreitende
Wu-tschou-fn hatte.
l^s ist dies bekanntlich eine der wichtigsten Handels-
städte unserer Nachbar-Provinz Kwangsi. Sie mag etwa
llO 000 Einwohner haben und besteht aus einer umwallten
Altstadt, welche sich einen kleinen Hügel hinaufzieht und
aus geräumigen Vorstädten, nach der Wasserseite zu.
Der gesammte Häuser-Komplex liegt am linken Ufer,
in bcttt vom Fuho und Westsluß gebildeten Winkel, und
der im Halbkreis sich um die Vorstädte ziehende Hafen hat
alle Anzeichen großer Geschäftigkeit in Gestalt unzähliger
aus- und einladender Dschnnken. Dasselbe beweisen mir,
indem ich den etwa 300 Fuß hohen Hügel hinabklettere
und titich nach der Stadt wieder übersetzen lasse, die
Straßen derselben, welche auch ohne die Aufmerksamkeit,
welche ich in meiner europäischen Kleidung natürlich errege,
von wohlgekleideten und von emsig Waaren hin und her
transportirenden Chinesen gefüllt ist. Fast der ganze
Geschäftstheil liegt in einer langen, gut gehaltenen, mit deut
Fuho-Fluß parallel laufenden Straße, welche ich übrigens
durchaus nicht mit der „ Queen's Road" Hongkongs ver-
gleichen möchte, obgleich ich ihr in einem schwachen Augen-
blick diesen Namen in meinem Tagebuche gegeben habe.
Sie rühmt sich etwa 15 offener Ladengeschäfte, in
welchen europäische Import-Artikel verkauft werden.
Diese Etablissements sind kaum von denjenigen Cantons
zu unterscheiden. Man findet eigentlich von allen für den
chinesischen Konsum in Hongkong importirten Artikeln
etwas, wenn auch nur in geringen Quantitäten, vertreten.
Ich werde diesen mir unter den Händen utehr, als ich
anfangs beabsichtigte, anschwellenden Blättern, den Handel
Woo-chotv-foos angehend, noch ein besonderes Kapitel
anfügen.
Sämmtliche Kaufleute sind übrigens Cantonesen, nicht
nur in dieser, sondern in jeder anderen von mir in Kwang-si
besuchten Stadt oder Ortschaft. Ich habe überhaupt ge-
funden, daß alle Handelsbeflissenen in Kwang-si, fei es
nun, daß sie mit europäischen oder mit einheimischen
Waaren handeln, daß sie einem unisangreichen Geschäft oder
einem Hökerladen vorstehen, aus Canton, also so zu sagen
aus deut Anslande, stammen. Bei jeglichem Geschäft und
allen, wenn auch noch so einfachen, industriellen Unter-
nehmungen, bei welchen Intelligenz erforderlich ist, soll es
ebenso schwer sein, mit den Cantonesen zu konkurriren,
wie zum Beispiel im westphälischen Korngeschäst mit den
Israeliten.
Als ich mit verschiedenen Kaufleuten Wu-tschon-fn's
Freundschaft geschlossen und den Tag mit Orientiren über
sein Geschäft verbracht hatte, traf gegen Abend auch der
von den Likinstationen nach Einhändigung meines vom
Canton - Vicekönig ausgestellten Reisepasses ohne Belästi-
gung durchgelassene „Pinguin" ein. Bald lag ich auf
beguemem Rollstuhl, welchen, wie üblich, mein Freund,
der „starke August", in Erwartung eines Glases Fener-
wassers und einer Cigarre auf dem Bug meines Schiffes
aufgestellt hatte. Bei einer Flasche edlen Rebensaftes
und einer kräftigen Manila vergaß ich bald die Strapazen
des 12 Stunden langen Wanderns durch die heißen Straßen
der Stadt.
Kürzere Mittheilungen.
Der Thian-schau.
In einem Vortrage, den Andreas von Kr äsn off
ant 2. Juni d. I. vor der Berliner Geographischen Gesell-
schaft hielt, verbreitete sich derselbe namentlich über die
gegenwärtige und einstige Vergletscherung sowieüber
die Vegetationsverhältnisse des Thian-schan. Gegen-
wärtig liegen vor alten Dingen noch vier kleine Gletscher am
Chan-Tengri, dieselben waren aber, wie aus Moräne -Anf-
hänsnngen, Ruttdhöckern und Gletscher-schliffen mit Sicherheit
zu schließen ist, einst viel ansgedehnter. Aehuliches war auch
der Fall bei den anderen großen Gletscher-gruppen, die das
Gebirge enthält — bei der Gruppe in den Quellgebieten des
Jnpltschek Flusses und des Jirtasch-Flusses sowie bei derjenigen
auf der Höhe des Musart-Passes. Auch am Jssikul zieht sich
eine alte Endinoräne hin. Die Geschiebe der Moränen sind
vielfach durch ein staubartiges Cement, das nichts anderes ist
als äolischer Löß, zu einem Konglomerat verkittet. Die Löß-
ablagerungen finden sich auch im Thian-schan vorwiegend an
den Ostabhängen, die den trockenen Stanbwittdeu ausgesetzt sind,
während die Nordwestwinde Feuchtigkeit herbeibringen. —
Die Pflanzenwelt des Gebirges zeigt namentlich sehr inter-
essante Anpassnngserscheinnngen. Das vergletschert gewesene
Gebiet wird von der Waldvegetation streng gemieden. Die
Südhänge tragen eine dürftige, steppenhafte Kraut- und
Grasvegetation. Im übrigen stimmen 66 Proe. aller ge-
sainmelten Arten mit europäischen Arten überein. Es giebt
Edelweiß, Gentianen, grüne Grasmatten, Carex-Süutpfe, genau
wie in den Alpen; dagegen fehlen vollkommen Torfmoore,
und ebeitso auch Azaleen und Rhododendrons, offenbar weil
sie die starken eentralasiatischen Temperaturschwanknngen nicht
zu ertragen vermögen. Europäische Bauntformen finden sich
nur in geschützten Thälern.
Die Hauptbevölkerung des Thian-schan bilden die Kara-
Kirgisen, die bis zum Mai in den Vorbergen hausen, dann
aber mit ihren Heerden hinaus ziehen auf die Matten des
Hochgebirges, wo sie bis Anfang August verbleiben. In
den Thälern wird etwas Weizen von ihnen gebaut. Am
Jssiknl giebt es acht Dörfer und eine Stadt, die von klein-
rnssischen Bauern, Kosaken und Tataren bewohnt sind , die
aber eher im Begriffe stehen, vollkommen tatarisirt als rnssifieirt
zu tverdeu.
30
Aus allen Erdtheilen.
Aus dem Matebele-Lande.
Voll dem englischen Reisenden und Jagdliebhaber
F. C. Selo ns liegen neuere Nachrichten vor über seine
Strcifzügc im Matebele-Lande. Er weilte zuletzt bei den
Maschunas, zwischen 17° und 19° südl. Br., deren
Land er in Begleitung der Herren I. A. Jameson,
A. C. Fonntaine und F. Cooper nach den verschiedensten
Richtilngen durchreiste. Mit Hülfe eines zuverlässigen Korn-
passes, und gestützt auf die früheren Aufnahmen von Barnes
gelang es ihm auch, eine rohe Uebersichtskarte des Gebietes zu
entwerfen, die gegen die sonstigen Darstellungen einige nicht
unerhebliche Aenderungen aufweist. Namentlich verwirft
Herr Selous mehrere Angaben urrseres Landsmannes
C. Manch, der z. B. Musigaguwas Kraal am oberen
Bembesi, rvo der Fluß den Matschabi-Rücken durchbricht,
und Jndainras Kraal (nach Selous östlich der Matoppo-
Matschabi-Berge belegen) falsch eingetragen haben soll. In-
dessen wechselt hier zu Larrde, wie Lieutenant E. A. Maurrd
in einem englischen Blaubuch-Bericht (0. — 4643, Februar
1886) hervorhebt, die Lage der Niederlassungen sehr oft.
Denn je nací) dem Willen und den Bedürfnissen der Ein-
geborenen werden die Kraals ebenso schnell gegründet wie
verlegt. Als erste Bedingung gilt die Nahe eines für
Mensch und Thier ausreichenden Wassers, dann geräumiger
Weidegrund und ziemlicher Borrath von Holz. Ist letzteres
auf Meilen im Umkreise nicht mehr zu haben, oder fehlt es
den Heerden an Futter, so wird der alte Kraal verbrannt
und ein neuer, meist desselben Namens, irgend wo anders
an geeigneter Stelle erbaut. Unter Umständen kann ein
Kraal bis zehn Jahre ans seinem Platze verbleiben. Der
Jnjati-Kraal liegt heute 50 engl. Meilen von seinem
früheren Standorte entfernt, lind Gnbnluwajo ist 18 engl.
Meilen nördlich von dem Flecke zu suchen, den es sechs Jahre
zuvor einnahm.
Gegen Baiues behauptet Herr Selous die Existenz
zweier Thaba - Jnsimbi - Ketten, die nach seiner Karte nörd-
lich von 19" südl. Br. und östlich von 31° Ost v. Gr. zu
suchen sind. Mit seinem Freunde Fonntaine unternahm
Herr Selous eine Besteigung der Ostspitze des Wedsa-Berges
(unter 320 gstl. L.). Er fand den ganzen Berg aus Massen
eines sehr eiscnreichen Gesteins gebildet, so daß der Kompaß
den Dienst versagte. Neu ist ans Selous' Karte ferner die
Zeichnung des Flußnetzes im Westen der Matoppo - Kette,
wo der Reisende, etwa von 30° östl. L. an, die Wasseradern
ohne Ausnahme zum Gwai oder Gnai, einem südlichen
Tributärströme des Sambesi, verlaufen läßt. Der Rutapi-
oder Utopa-Fluß aber, den Selous 1878 nahe der Quelle
überschritt und znm Gwai rechnete, soll nach den Ermitte-
lungen von David Thomas nicht jenem, sondern dein Sengwe
zugehören.
Eine interessante Entdeckung machte Herr Selous bei
Sinoia, unweit des Angwa-Flusses. Er beobachtete hier
ein mächtiges, kreisrundes Loch von 100 Fuß Tiefe und
mehr, bei 20 Aards Durchmesser. .Den Boden bedeckte ein
klares Wasser von wundervoll kobaltblauer Farbe und von solcher
Reinheit, daß man die Steine des Grundes noch weit hinab
deutlich erkennen konnte. Das Wasser setzte sich unterirdisch
in einer Höhlung gegen 60 Iards weit fort. Bon außen
führte, ungefähr 100 Aards von dem Rande des Kessels
entfernt, ein schräger Stollen oder Tunnel im Winkel von 45"
zum Boden des Loches hinab. Die Eingeborenen benutzen
den Stollen, um bequem an das Wasser zu gelangen. Herr
Selous neigt zu der Ansicht, daß hier die Spuren ehemaliger
Goldgräberei vorliegen, wie er ja schon mehrfach auf seinen
Fahrten Anzeichen früherer Arbeiten nach Gold gesehen hat.
Auch war es ihm vergönnt, östlich vom Mount Ha mp den
ein voraussichtlich sehr ertragreiches Goldfeld
(zwischen 17° und 18° südl. Br. und 310 30' östl. L.) zu
.entdecken. Die Fruchtbarkeit des Bodens uitb seine aus-
kömmliche Bewässerung lassen den Schluß zu, daß dem
Matebele-Lande, wenn sich der Strom der Goldsucher hier-
her wendet, eine blühende Zukunft bevorsteht.
Merkwürdig ist nur, daß Herr Selous in seinem Be-
richte ganz die Tsetsefliege vergißt, von der er auf seinen
jüngsten Fahrten wohl nicht weniger geplagt worden ist, als
auf den früheren. H. Seidel.
Aus all e u
Europa.
— Nach Jules de Guerne („Excursions zoologiques
dans les iles de Fayal et de San Miguel“) hat die
Landfauna der Azoren einen ausgesprochen europäischen
Charakter, und ebenso auch die Süßwasserfauna. Zahlreiche
Species sind aber kosmopolitisch, da sie Mittel zu weiten
Wanderungen über die Oceane besitzen. Die Kraterseen,
welche einen sehr jugendlichen Ursprung haben, konnten sich
erst ganz neuerdings mit Thieren bevölkern; da die Ein-
wanderer aber einen sehr geringfügigen Kampf um die Exi-
stenz mit anderen Arten zu führen hatten, so geschah dies
verhältuißmüßig sehr rasch. Da Europa das zunächst gelegene
Festland ist, so ist es leicht begreiflich, daß von dort ans die
zahlreichsten Arten den Archipel glücklich erreichten. Der
alpine Charakter der Azoreufanna lvird von dem genannten
Forscher bestritten.
Asien.
— Oberst Bobyr, der während des Jahres 1887 mit
der Untersuchung des S a j a n i s ch e n Gebirges
E r d t h e i l e u.
beschäftigt gewesen ist, hat der Geographischen Gesellschaft zu
Irkutsk den ersten Theil seines Berichtes eingeliefert, in
welchem er den Kossogol und seine Umgebung behandelt.
Das Westnfer des genannten Gebirgssees lvird von der steil
abfallenden Tian-Hai-Kette gebildet, das Ostufer zeigt sanftere
Formen. Bewaldet sind die umgebenden Berge infolge des
trockenen Klimas nur in ihren Nordabhängcn. Kassnten,
Darkaten und Urigen bilden die Bevölkerung der Gegend.
— Der Geologe I. Maker o f, der im vergangenen
Jahre auf die Initiative des Generalgouverneurs von Ost-
sibirien, des Grafen Jgnatjef, gleichfalls Forschungsreisen
im Sajattischen Gebirge und in anderen der Mongolei
benachbarten Gegenden gemacht hat, lvird dieselben nächstens
wieder aufnehmen und hat zu diesem Zwecke eine nicht unbe-
trächtliche Reiseunterstütznng voil der Russischen Geographischen
Gesellschaft empfangen.
— Die „Records of the geological survey of India“
(vol. 20, p. 170 ff.) enthalten eine Reihe von Mittheilungen
von E. I. Jones über die Kohlen- und Erzlager-
stätten von Ober-Birmah. Die ausgedehntesten Kohlen-
felder liegen danach in den Thälern des Chindwin und Panlaung,
Aus allen Erdtheilen.
31
sind kretaceischen oder tertiären Alters, und liefern zum Theil
ein gutes Brennmaterial. Leicht zugänglich sind aber nur
die Chindwin-Felder. Silber- und Bleierze finden sich
namentlich bei Bawzain und Kyantat in den Shan- Bergen
südsüdöstlich von Mandalay. — Die topographische
Aufnahme des Landes schreitet ungeachtet des revolutio-
nären Zustandes, in dein sich Oberbirmah noch immer be-
findet, rüstig vorwärts, und nach dem neuesten „Survey
Report“ ist bereits eine Fläche von 15 000 engl. Quadrat-
meilen mit einem Triangulations-Netze überzogen, während
auf 11000 weiteren Quadratmeilen wenigstens eine vor-
läufige Kartiruug erfolgt ist.
— In den „Transactions of tlie Asiatic Society of
Japan“ verbreitet sich I. Edkins über persische Elemente
in den japanischen Volkssagen. Der persischen Mithras-
Sage entspricht eine japanische, wenn hier der Held auch
weiblich erscheint. Wie bei den (alten) Persern, so ist auch
bei den Japanesen dem Holz, dem Wasser, dem Feuer, der
Erde re. ein gottähnlicher Geist bcigegeben. Bei beiden
Völkern sind der Sonnengottheit weiße Rosse geweiht. Die
japanische Schöpfnngssage läßt die verschiedenen Dinge in
ähnlicher Reihenfolge entstehen. In der Shiuto-Religion
wie in der Parsi - Religion giebt es eine dunkle Unterwelt,
in der die abgeschiedenen Seelen wohnen. Nach Edkins
deutet alles dies ebenso wie die linguistische Verwandtschaft ans
einen gemeinsamen Ursprung beider Nationen und Kulturen
hin, der im alten Babylonien zu suchen sein dürfte.
— Die transkaspische Eisenbahn äußert ihre Wir-
kungen unter anderem darin, daß in den bnchnrisch-tnrkistani-
schen Landen ungefähr eine doppelt so große Fläche als früher
mit Baumwolle bestellt worden ist, wobei vielfach amerikanische
Samensorten benutzt wurden.
— Die erste persische Eisenbahn, die etwa 15 km
lang von Teheran nach Schah-Abdul-Asim führt, soll am
20. Juni eröffnet werden in Gegenwart des Schah, für den
ein prächtiger Salonwagen hergerichtet worden ist. Erbauerin
der Bahn ist eine belgische Gesellschaft, an der jedoch russische
Kapitalisten sehr stark betheiligt sind, und dieselbe hofft, sich
dadurch die Konzession für eine Linie vom Kaspischen Meer
zum Persischen Golf, die etwa 1200 km lang sein würde, ge-
winnen zu können. Der Bau war sehr kostspielig (circa
175 000 Mark pro Kilometer), da das Material größten-
theils ans Belgien über den Kaukasus bezogen werden mußte.
— Dem Vernehmen nach soll eine belgische Gesellschaft
voin türkischen Sultan die Genehmigung znm Ban einer
Eisenbahn von Jaffa nach Jerusalem erhalten und
die Schwellen sowie einen Theil des Betriebsmaterials bereits
an Ort und Stelle gesandt haben.
— Die zahlreichen Untersuchungen über naturgegebene
Wege und Verkehrsrichtungen, die jetzt im Anschluß an das
große sibirische Eisenbahnunternehmen in dem großen asiatisch-
rnssischen Waldlande angestellt werden, fördern allerlei un-
erwartete Resultate zu Tage. So hat ein Bergingenieur
Podgajezki in der letzten Sitzung der Russischen Geographi-
schen Gesellschaft 511 St. Petersburg als Frucht eingehender, an
Drt und Stelle vorgenommener Erhebungen die Ansicht aus-
gesprochen, daß die Tura, an welcher die Handelsstadt Tjumen
llegt — und seitlich an einem Nebenflüsse der Meßplatz Jrbit —,
keineswegs die beste und kürzeste Verbiudungsstraße vom
nördlichen Rußland nach Tobolsk darstellt, sondern daß diese
Stellung der Tawda zukommt, die unterhalb der Tura in
den Tobol einläuft. Dieser Fluß ist während der Schiffahrts-
periode auch für große Fahrzeuge zugänglich, die bis 5 Fuß
(1,52 m) Tiefgang, und selbst bei außergewöhnlich niedrigem
Wasserstande noch 31/2 Fuß (1,06 m) haben dürfen. Im
oberen Gebiete desselben sitzen Wogulen, im unteren Tataren,
daneben aber sind in überwiegender Zahl Russen vorhanden,
die sich durch Fleiß, Unternehmungsgeist und Wohlstand
auszeichnen. Die Gesammtbcvölkerung an der Tawda
beträgt in 88 Ansiedelungen 16 500 Seelen, und da sich
unter anderen dort auch eine Tuchfabrik findet, welche einen
jährlichen Umsatz von 150 000 Rubel aufzuweisen hat, so
läßt sich das Gewicht der ans dem Flusse schon jetzt beförderten
Lasten ans etwa 350 000 Pud — 57 326x/2 Metercentner
veranschlagen.
Afrika.
— Die beiden schwedischen Reisenden G. Bald an und
K. Knutsou haben ein Wesentliches zur Erforschung des
deutschen Kamernngebietes beigetragen. Ersterer be-
suchte die von Bamakos dicht bevölkerten Nordhänge des Ka-
merun-Gebirges und erstieg dieselben bis 900 m Höhe, und
letzterer erforschte namentlich den Laus des Memeh - Flusses.
— Joseph Thomson ist nach einem Briefe an Sir
I. D. Hookcr Anfang Mai glücklich in Mogador einge-
troffen, und im Begriffe, sich durch die Provinz Schedano
zunächst nach Safi zu begeben. Bon dort will er nach
Demenat (Tamuat) gehen um den gänzlich unbekannten Atlas
im Osten und Nordostcn der marokkanischen Hauptstadt zu
erforschen. Das Ansehen, dessen sich England in Marokko
erfreut, wird der Sicherheit und den Plänen des Reisenden
ohne Zweifel sehr zu statten kommen. — Der vergangene Winter
ist nach Thomson's Mittheilungen auch in Marokko streng
ititb spät, und von starkem Regen- und Schneefall begleitet
gewesen. Während die durchschnittliche winterliche Nieder-
schlagsmenge nämlich in Mogador nur 18 Zoll beträgt, betrug
sie in diesem Jahre 32 Zoll. (Vergl. Nature, vol. 38, p. 112.)
— Außer den Berichten über Stanley, welche kürzlich
durch Herrn Ward an den unteren Kongo gelangt sind
(Vergl. „Globus", Bd. 54, S. 16), reden auch die Gerüchte,
welche sich in Zansibar verbreitet haben, von dem Untergange
der Stanley'schen Expedition, oder wenigstens von einer
äußerst verzweifelten Lage derselben. Dem gegenüber ver-
lautet neuerdings unter den Arabern in der Gegend von
Suakin, daß „ein weißer Pascha" am Gazellenstnsse an-
gelangt sei und durch seine Eroberungen die Anhänger des
Mahdi in Schrecken setze. Man ist in England geneigt,
diese Nachricht, die gleichzeitig von verschiedenen Ueberläufern
aus dem Lager Osman Digmas nach Suakin gebracht worden
ist, ans Stanley und seine glückliche Ankunft in der Nähe
seines Zieles zu deuten.
— Nach R. G. Halibur ton, der sich zur Zeit in Oran
aufhält, existirt in Nordafrika eine ähnliche Zwergrasse wie
in dem äquatorialen Afrika (S. „Globus", Bd. 53, S. 159).
Dieselbe wird merkwürdiger Weise ebenfalls mit dem Namen
„Akkahs" bezeichnet, inid ihre Körpergröße beträgt nur 4 Fuß.
John Drummond Hay, der ehemalige englische Gesandte in
Marokko, bezeugt die Richtigkeit der Beobachtung. (Vergl.
Nature a. a. O.)
— Zwischen Tiaret und Trenda in Algerien hat man
ein Kohlenlager entdeckt, das sich nahezu über 40 qkm
erstrecken soll. Da die betreffende Gegend zugleich auch Erz-
lagerstätten der verschiedensten Art enthält — besonders solche
von Eisen, Kupfer und Blei — so steht zu erwarten, daß
sich daselbst bald eine beträchtliche Bergbauthätigkeit ent-
falten werde.
— Ungeachtet der Schwierigkeiten, die Italien bei
seinen k 0 l 0 n i a l p 0 l i t i s ch e n Plänen in der Gegend
von Massaua gefunden hat, scheint dasselbe gesonnen zu sein,
auf dem einmal betretenen Wege weiter vorwärts zu gehen.
So hat es sich dem Vernehmen nach von dem verstorbenen
Snltan von Zansibar, Said Bargasch, die zansibarische
Exclave Kismayu abtreten lassen, und es macht Miene, die
dadurch gewonnenen Ansprüche dein widerstrebenden neuen
32
Aus allen Erdtheilen.
Sultan gegenüber nöthigenfalls mit Gewalt durchzusetzen.
Ein höherer Kulturwerth kann dein in Frage stehenden Ge-
biete unbedingt nicht abgesprochen werden. Der Dschnba-
Flnß, an den sich für uns Deutsche von Klaus von der
Decken her traurige Erinnerungen knüpfen, ist zwar in
seiner Eigenschaft als Schiffahrtsstraße noch sehr wenig er-
forscht, und au seiner Mündung durch eine große Barre
gesperrt, cs kaun aber nicht bezweifelt werden, daß ihm ent-
lang einer der besten Naturwege in das Innere der Galla-
Lander sowie nach Kaffa und Südabesfynien führt. Die Bucht
von Kismayu ferner muß als der einzige gute Naturhafen
zwischen der Bucht von Lamn (bei Deutsch - Witnland) und
dem Kap Gnardafui gelten. Daß der Sultan den Forderungen
Italiens, sobald dieselben energisch geltend gemacht werden, ans
eigener Kraft nicht widerstehen kann, versteht sich von selbst,
und Deutschland, das durch sein afrikanisches Schutzgebiet an
dem Ansgange der Angelegenheit lebhaft interessirt ist, hat
unseres Erachtens wenig Grund, der eng befreundeten Macht
durch feine Intervention Schwierigkeiten zu bereiten. Wenn
Italien das Werk der Kultivation in den Gallaländern kräftig
an die Hand nehmen will, und dadurch mittelbar weitere
Erfolge in Bezug auf Abessynien erringt,-so kann uns dies
bei unseren eigenen Bestrebungen nur willkommen sein.
N o r d a m c r i k a.
— Unter dem Namen American „Folk-Lore
Society“ hat sich in Nordamerika eine Gesellschaft zur
Erforschung des Gebietes der „Folk-Lore" im weitesten
Sinne gebildet, au deren Spitze Herr Francis Jaines Child steht,
und welche die besten amerikanischen Arbeiter auf diesem Gebiet
zu Mitgliedern zählt. Sie giebt unter dem Titel „Lire Journal
of American Folk-lore“ cttte hübsch ausgestattete Viertel-
jahrsschrift heraus, deren Redaktion in den Händen der Herren
Franz Boas, T. Frederick Crane, I. Owen Dorsch und
W. W. Newell liegt und deren erstes uns vorliegendes Heft
einen reichen und vielversprechenden Inhalt bietet. Als
Arbeitsfeld sind nach dem Programm ins Auge gefaßt: zu-
nächst die Ucberreste dessen, was die englischen Auswanderer
bei der ersten Ansiedelung mitbrachten, soweit sich unter den
nüchternen und auch in ihrem Aberglauben durchaus mo-
dernen Iankees Traditionen erhalten haben; dann das reiche
und noch kaum in Angriff genommene Gebiet des Neger-
aberglaubens und ihrer Geschichten und Traditionen in den
Südstaaten, von denen neuerdings „Uncle Remns" so inter-
essante Proben ans Licht gebracht hat; endlich natürlich die
immer noch bei weitem nicht genügend erforschten Ueber-
lieferungen der letzten Indianer. Untrennbar von der „Folk-
lore" der englischen Ansiedler sind natürlich die der Einwanderer
anderen Stammes, besonders wenn dieselben in geschlossener
Masse schon länger znsammenwohnen, wie die Franzosen in
Kanada, die Spanier in Mexiko, und vielleicht auch die Deutschen
in West-Virgiuieu. Die Gesellschaft wird auch diesen die ent-
sprechende Aufmerksamkeit schenken. Daß auch die Forschungen
in anderen Erdthcilen sorgsame Beachtung finden werden,
versteht sich von selbst; cs ist schon des vergleichenden Studiums
wegen unumgänglich nöthig und auch in dem Programm
ausdrücklich vorgesehen. Wir begrüßen die Gründung der ameri-
kanischen Gesellschaft mit Freuden und werden unsern Lesern
von den wichtigeren durch sie veröffentlichten Arbeiten regelmäßig
Mittheilung machen. ____________________
Südamerika.
— Professor Dr. Brackebusch von der Universität
Cordoba ist seit Januar d. I. auf einer geologischen For-
schungsreise nach dem Norden der Provinz San
Inan begriffen, und L. Arnaud ist von der argentinischen
Regierung damit beauftragt worden, die Provinzen Tucnman,
Salta und Jnjuy bezüglich ihrer bergmännischen Hülfsquellen
näher zu untersuchen.
— Die Ackerbau-Kolonie „Ncn-Germania" in
Paraguay, die gegenwärtig mehr als 100 deutsche Ansiedler
zählt, prosperirt nach der „Kolonialzeitung" in durchaus
wünschenswerther Weise. Eine Gesellschaft neuer Ankömm-
linge aus Sachsen, die demnächst erwartet wird, wird auch
ein kleines Dampfschiff mitbringen, das den Verkehr zwischen
der Kolonie und Asuncion vermitteln soll.
— Die dem Staate gehörenden Eisenbahnen Chiles
erreichen gegenwärtig die Länge von 1090 km, und die
auf den Ban und Ausstattung derselben mit rollendem Ma-
terial verwendeten Summen haben 51 104 552 Pesos be-
tragen. Die Länge der Privateisenbahnen beträgt 1558km.
Die meisten derselben dienen hauptsächlich dazu, Erze nach
den Hafenplätzen zu schaffen. Die Eisenbahnen, deren Bau
vom Staate jetzt in Angriff genommen ist, und für die
nach dem Beschlusse des Kongresses in dem laufenden
Jahre 1888 die Summe von 3 519 000 Pfd. St. (die
durch eine Anleihe aufgebracht werden soll) bestimmt ist,
werden die Länge von 969 km haben. Diese Eisenbahnen
sind einmal die Verlängerung der langen Eisenbahn, welche
in dem großen Längsthal zwischen der hohen Cordillere und
dem Küstengebirge von Santiago nach dem Süden verläuft,
bis Osorno, und zweitens verschiedene Bahnen, welche von den
Städten im Inneren nach Hafeuplätzen führen werden. An
der wichtigen Eisenbahn, welche den Atlantischen Ocean mit
dem Stillen Meer verbinden soll, wird auf chilenischer
Seite noch nicht gebaut, auf der anderen Seite ist sie aber
bis Mendoza fertig, und cs wird bald der Tunnel durch die
Anden in Angriff genommen werden. A. Ph.
Bücherscha it.
— Alexander Supan, Oesterreich-Ungarn.
(Länderkunde des Erdtheils Europa, Heraus-
gegeben von Alfred Kirchhofs, 2. Theil.) Wien,
Prag und Leipzig 1887. — Gleich dem Penck'schen
„Deutschen Reich" zählt auch dieser zweite Theil der „Länder-
kunde des Erdtheils Europa" zu den hervorragendsten Zierden
der deutschen geographischen Literatur, und man darf bezüg-
lich beider Bände ohne Bedenken sagen, daß sie keiner guten
privaten oder öffentlichen Bibliothek fehlen sollten. Hinsicht-
lich der Ausstattung stehen sie ebenbürtig neben den ent-
sprechenden Theilen der berühmten „Geographie Univer-
selle“ von Elisee Reclus, und hinsichtlich des Inhaltes
übertreffen sie dieses französische Werk noch sehr wesentlich.
Strenger als dieses Werk scheiden sie alles bloße Bädecker-
Wissen von der Behandlung ans, und gründlicher als dieses
suchen sie die verschiedenen Kulturphänomene aus den
Terrain-Verhältnissen heraus zu erklären. Ganz vorzüglich
finden wir in Snpan's „Oesterreich-Ungarn" namentlich die
geographische Bedingtheit der politischen und wirthschaftlichcn
Zustände beleuchtet.
Inhalt: Dr. Emil Deckest: Der Kuku-Nor. (Mit zwei Abbildungen.) — Camille Douls' Erlebnisse unter den
Nomaden der westlichen Sahara. II. (Mit vier Abbildungen.) — H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. I.
(Fortsetzung.) — Kürzere Mittheilungen: Der Thian-schan. — Aus dem Matabele - Lande. — Aus allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 26. Juni 1888.)
Redakteur: Dr. E: Decker t iu Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Vrannschwcig.
ffiit besonderer Herürksrchtrgung der Ethnologie, der KulturberhLlinrsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände h 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Bericht über eine R
Von H. S II.
II.
Nach den Tai-wo-Cassia-Bergen.
Mehr als die Hälfte des folgenden Morgens — des
18. September — ging dadurch verloren, daß mein Koch seine
primitive Küche mit neuen Vorräthen, mit Hühnern, Tauben,
Gemüsen und Eiern, und auch meine Begleiter die ihrige
mit frischen Victualien ausrüsteten, so daß wir uns erst
gegen Mittag durch die kein Eitde nehmenden Dschunken
und Floße des reißenden Stromes arbeiten konnten, um
auf den Weg nach meinem nächsten Ziele, Ping-nam-schien,
zu gelangen.
Glühende Hitze lagert noch immer auf dem durch die
Hügellandschaft sich ergießenden Strom, dessen spiegelglatte
Fläche nur selten von einem Luftzug bewegt wird. Während
meiner ganzen Reise hielt sich mein Thermometer überhaupt
fast beständig zwischen 2Z0 und 26^0 R., stieg sogar einige
Male auf 28" und 29° R. im Schatten. Nur zwischen
3 und 6 Uhr morgens pflegte sich die Luft auf 18° R.
abzukühlen. Kein Tropfen Regen fiel vom Tage meiner
Abreise bis zn dem meiner Rückkehr von dem fast immer
klaren Firmament.
„Nach Westen hin nach Westen
Beflügle dich mein Kiel."
Meine flachbänchige Arche rühmt sich leider keines
solchen, sondern windet sich unter dem eintönigen Gekreisch
meiner, lange Stangen nach rückwärts stoßenden Ruder-
knechte am linken Ufer hinauf. Nach langer, schwerer Arbeit
fahren wir an der 8 Meilen langen, und etwa l1/^ bis 2
Glvbus L1V. Nr. 3.
eise nach Kwang-si.
ch r o e t e r.
Meilen breiten Insel Tscheong-tschon vorbei, die einem einzigen
großen Garten und Park vergleichbar ist, welcher, von präch-
tigem Bambus umgeben, mit seinen wohlgepflegten Frucht-
bäumen, Plantagen rother Datteln, üppigen Reis und Lotus-
feldern, in der Sonne glitzernden Fischteichen, unzähligen
kleinen Gehöften und Dörfern einen unermeßlich reichen
Eindruck macht. Zwischen Tscheong-tschon und einer zweiten,
aber bedeutend kleineren Insel, Sui-wo-tschou, hindurch-
schauend, wird in weiter Ferne eine ziemlich große Stadt
am rechten Ufer sichtbar, Pung-Hue genannt, welche, ihren
hoch die übrigen Dächer überragenden Pfandhäusern nach
zu schließen, nicht ganz unbedeutend sein kann.
Wir passiren ein von hohem Ufer Herabschauendes,
hübsches Joß-Hans, dem Jupiter Tonans oder dem „Groß-
vater des Donnergottes", wie die wörtliche Uebersetznng des
chinesischen Namens lautet, geweiht, und wir erreichen die
Stromschnellen, sowie die in ihnen liegenden Fischerfelsen.
Das Gefälle des Flusses wird hier beträchtlicher, die an-
strengendste und stellenweise sogar gefährlichste Arbeit meiner
Leute fängt jetzt erst an. Das Bett des Stromes ist seiner
ganzen Breite nach felsig geworden, und in rasend schnellem
Laufe schießen die Wassermengen über den flachen Boden
weg, eine gefährliche Stromschnelle nach der andern bildend.
Hier haben die an den Ufern wohnenden Fischer über ein-
zelne aus dem Wasser ragende oder dicht unter der Ober-
fläche liegende Felsen große und kleine Steinblöcke geschafft,
welche im Laufe der Jahre — vielleicht Jahrhunderte — 6 bis
20 Fuß über die Oberfläche gestiegen sind und so einen
ganz eigenthümlichen Eindruck machen. Im Hochsommer,
5
34
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
wahrend der Regenzeit, soll übrigens die Mehrzahl vom
Wasser verdeckt sein. Jetzt gleichen sie, aus der Ferne ge-
sehen, riesigen Finger- oder Zuckerhüten. Der Strom ist
an vielen Stellen so stark, daß die Fische sich in ihm nicht
halten können, sondern gegen den Anprall des Wasserschwalls
geschützt, unterhalb der Felsen zu stehen lieben. Um nun
der sich hart an das Gestein haltenden Fische besser habhaft
zu werden, Pflegen die Fischer von den künstlichen Stein-
bauten aus ihre mit Metallkngeln beschwerten Klebenetze
über die Gründlinge zu werfen und sie so sicher an das
Tageslicht zu ziehen.
Schon in Wu-tschou-fu hat mein Kapitän einen Lootsen
sammt dessen Schüler, beide kräftige, große Menschen,
engagirt, welche uns am Ufer entlang, wo das Wasser bald
2, bald 30 und mehr Fuß tief ist, hinauf führen. Der
Lootse selbst steht vorn auf dem Bug, mit langer Fühl-
stange das Flußbett vor und neben sich sondirend. Hinter
ihm, dicht vor der Kajüte, steht sein Gehülfe, nach dem
Kommando seines Herrn das schwere, 20 Fuß lange, über
den Bug wegragende Steuerruder handhabend, oben ans
dem Verdeck führt der Kapitän das hintere Steuerruder, zwei
oder drei Coolies stoßen das Schiff vom Ufer oder von den im
Wasser liegenden Felsen ab, während die übrige Mannschaft
bald hoch über uns auf den Felsenriffen, bald ganz im
Wasser stehend, das in allen Fugen erzitternde und ächzende
Schiff an langem Schleppseil im Zickzack langsam nach
vorwärts ziehen.
Gegen Abend machen wir im Schutze eines Wachtbootes
für die Nacht fest, am Eingänge des prachtvollen Hung-
tau-hap, eines gewaltigen Felsenthors, in welchem die
Wassermengen ähnlich, wie im Schao-king-hap, zusammen-
gedrängt werden. Der im Westen vor uns lagernde Höhen-
zug, vom Strahl der hinter ihm verschwindenden Sonne
mit magischem Lichte beleuchtet, gewährt einen imposanten
Anblick. Die grotesken Gestalten der auf die Wasserfläche
wie gezauberten, auf dieselbe lange gespenstige Schatten
werfenden Fischerfelsen, das eigenthümliche Geräusch der
an ihnen sich brechenden, verführerisch rauschenden und im
Strom geheimnißvoll fortmnrmelnden Fluthen, die er-
habene, mit einbrechender Nacht auf dem majestätischen
Strome lagernde Ruhe — dies alles muß auch auf den
Blasirtesten einen unvergeßlich großartigen Eindruck machen.
Colgnhoun vergleicht solche Scenen mit Doro'scheu Land-
schaften.
Eine große Anzahl ähnlicher Stromschnellen erstreckt
sich bis nach Ping-nam-schien, und von da weiter nach Nan-
ning-fn.
Meine Reise nach ersterem Platz nahm von Wu-tschou-fu
aus fast fünf Tage in Anspruch. Regelmäßige Spazier-
gänge, welche ich früh am Morgen und gegen Abend zu
machen pflegte, abgerechnet, habe ich keine Veranlassung
gehabt, an das Land zu gehen, um die unbedeutenden Ort-
schaften am Ufer zu besichtigen. Ich passirte aber drei große
Likinstationen — Tang-schien, Mnng-kong und Pakma. An
vielen Stellen sind noch die Spuren der großen Ueber-
schwemmung des Jahres 1885 sichtbar, welche ganze Ort-
schaften fortspülte, und die Felder meilenweit ihres Humus
beraubte oder mit Sand überdeckte! Wo die Natur nicht selbst
ausreichenden Schutz gegen die im Sommer anschwellenden
Wasser geschaffen hat, haben die fleißigen Chinesen hohe
Deiche auf beiden Seiten des Flusses gebaut, welch letzterer
während der großen Ueberschwemmungen 40 bis 50 Fuß Uber
sein gewöhnliches Winterniveau gestiegen sein muß, um die
Dämme überspülen zu können. Die vielen neuen Häuser
sind aber ein deutlicher Beweis, daß das Volk sich schnell von
dem großen Unglück erholt hat; in diesem Jahre bedroht
sie auch schon wieder ein neues, denn die Regenzeit ist gar
zu schnell zu Ende gegangen, und wohin ich auch komme,
klagen die Landleute über die große, ihre Felder verderbende
Dürre.
Die Berge treten zeitweise ganz in weite Ferne zurück. In
der Ebene gedeihen, vorläufig noch nicht merklich von der
Trockenheit leidend, Reis, Gerste, alle möglichen Garten-
früchte und Mais, besonders aber Grundnüsse, welche ent-
weder geröstet gegessen werden, oder zur-Fabrikation von
allerlei süßem Gebäck benutzt werden, oder — zum überwiegend
großen Theil — zur Gewinnung des bekannten Grunduuß-
Oeles dienen, während die ausgepreßte Frucht ein geschätztes
Düngemittel liefert. Ganze Haine schwerbeladener und
mit ihren Zweigen bis auf den Erdboden sich senkender
Pumelo-Büume umschließen allerorts die Gehöfte, dagegen
sind Bananen, Orangen, Lychee und dergleichen Früchte
nur äußerst spärlich vertreten.
Die Bewohner sind kräftige, gesunde Leute, von dem
Bauernstande Kwangtungs wenig verschieden, — die mir
überall auffallende Häßlichkeit des weiblichen Geschlechts
vielleichtausgenommen. Dieselbe scheint dadurch zu erklären
zu sein, daß die Frauen der Arbeiter überall auf dem Felde
tüchtig mit Hand anlegen müssen, und nicht, wie in der
Nähe Cantons, im Hause sitzen, um sich mit Seidehaspeln
und dergleichen häuslichen Arbeiten zu beschäftigen. Selbst
wohlhabende Bauerfrauen verkrüppeln sich nicht die Füße;
diese abscheuliche Manier, den Körper zu verunstalten und
zu schwächen, habe ich überhaupt nur ganz ausnahmsweise
in Kwangsi beobachtet. Die kleinen Dorfschaften und
Städte enthalten mit Ausnahme von Wu-tschon-fu keine
Häuser und Straßen, welche mit denjenigen Cantons an
Größe sich nur annähernd messen könnten. Alle mensch-
lichen Wohnungen sind einfach, ja dürftig gebaut, und auch
im Innern nicht besser eingerichtet.
Die ungewöhnlich große Armuth, welche man Kwangsi
zuschreibt, habe ich aber nur stellenweise vorgefunden. Die
Menschen kennen eben nur wenig Bedürfnisse, welche sich
aber schnell genug steigern werden, wenn erst die Schiffahrt
das Inland dem Meere und der Kultur näher gerückt hat.
Am 5. Tage nach meiner Abreise von Wu-tschou-fu
erreiche ich den Pingnam-Distrikt, in welchen! der berühmte
Cassia-Markt Taiwo liegt. Gegen 2 Uhr nachmittags
am 22. September passire ich den Hafen desselben, Molam.
Hier landen meine Cassia-Freunde, um sich über die Lage
des Geschäftes, das uns zu der weiten Reise veranlaßt hat,
zu orientiren. Von einem in Molam ansässigen Freunde
begleitet, kehren sie aber, auch mich an kalt zu setzen, bald nach
meinem Hortau zurück, der gegen 5 Uhr nachmittags die
Kreisstadt erreicht. Ping-nam-schien liegt am linken User
des Westslusses, welcher hier noch die doppelte Breite des
Rheins bei Köln hat. Gleich allen andern am Ufer des
Stromes gebauten Städten sind seine dem Wasser zu ge-
legenen Häuser auf langen Pfählen gebaut, und die ganze
Stadt besteht aus zwei oder drei in einer Linie mit dem
Wasser laufenden Straßen. Ihr Handel ist absolut un-
bedeutend. Sie beherbergt in ihren von der Taiping-Rebellion
her noch in Schutt und Trümmern liegenden Mauern den
Tscheh-schien, sagen wir „Landrath," des Taiwo-Cassia-Di-
striktes, dem ich mich gleich nach meiner Ankunft durch Ein-
sendung meines Reisepasses, eines Briefes von meinem
Canton-Kousul und meiner chinesischen Visitenkarte meldete.
Am folgenden Tage, am 23. September, ließ mich der-
selbe von sechs Polizeisoldaten, unter Anführung seines im
langen, seidenen Rock kommenden Polizeiobersten abholen,
und nach kurzem Gang durch das in den engen Straßen
vor Neugierde mich schier erdrücken wollende Volk, erreichte
ich das halbzerfallene Hamen dieses Beamten. Der-
selbe, ein freundlicher, schon ganz weißer, alter Herr,
H, Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
35
ungefähr wie ein deutscher Oberförster aussehend, empfing
mich auf das höflichste. Ich unterhielt mich mit Hülfe
meines Afook, welcher in seine feinsten Seidenjacken gekleidet,
einen eleganten Fächer ebenso geschickt, wie in Canton die
Maßrnthe bewegte, ungefähr IV2 Stunden lang mit
diesem fließend Cantonesisch sprechenden Beamten über die
wich zn ihm führende Angelegenheit. Ich will mit derselben
den Leser nicht aufhalten, da es sich nur um die Firma
S. & Co. näher interessirende Geschäfte handelte, die mit dem
Transitpaß-System in Verbindung stehen, welches in unseren
zwei Provinzen ja leider heute noch nicht zn den Vollkommen-
heiten dieser Welt gehört.
Der prächtige alte Herr — welcher übrigens, wie ich in-
zwischen aus seinem Bericht über meine Reife an den
Canton-Vicekönig auszufinden Gelegenheit gehabt habe, bei
all' seiner offenbaren Biederkeit eine Art chinesischer Jesuit
muß — gab mir darauf seinen Polizeiminister (das übliche
Ehrengeleite) sowie einen Brief an den Tai-wo-si, d. h. den
Bürgermeister von Tai-wo mit, und nach nochmaligem Gang
durch die miserable Stadt war ich in Begleitung meiner
sieben „Beschützer" bereits gegen 12 Uhr wieder in meinem
„Pinguin", um den Fluß hinunter, Molam noch an dem-
selben Nachmittage zu erreichen.
Sehr hatte ich zu bedauern, gegen die mir freilich auf-
gezwungene Schutzmannschaft nicht erfolgreich protestirt zn
haben. Bisher war ich, wo ich auch erschien, ganz uner-
wartet gekommen. Trotzdem ich stets in europäischen Klei-
dern ging, hatte das Publikum keine Zeit gehabt, sich von
seinem Erstaunen zu erholen, und ich war gewöhnlich seinem
Gesichtskreis entrückt, oder in dem schützenden Hinterstübchen
eines der mich überall freundlich empfangenden cantonesischen
Kaufleute verschwunden, ehe sich um meine Person eine allzu
lästige Menschenmenge sammeln konnte. Bisher trug ich
meine Haut für eigene Rechnung und Gefahr zu Markte,
seit ich aber officiell unter dem Schutze der Mandarinen
stand, dieselben also für mein persönliches Wohl verantwort-
lich waren, änderte sich die Sachlage gewaltig. Es war
mein Rciseprogramm gewesen, in Tai-wo mit Hülfe der
Beamten Tragstühle zu engagiren und über Land durch die
Cassia- Distrikte bis nach ^ung-schien zu reisen. Dieser
Plan wurde aber gänzlich vereitelt.
Früh am Morgen des 24. September hatte sich näm-
lich die gesammte Einwohnerschaft Molams, einer etwa
1300 Köpfe zählenden Ortschaft, um mein Boot versammelt,
auf mein Erscheinen gespannt wartend. Das Gedränge
war, als ich landete, so groß, daß ich das Städtchen zn Fuß
passiven mußte. Am Ende desselben erwarteten mich nun Afook
und meine Cafsia-Freunde, welche von einer Anzahl primi-
tiver Tragstühle begleitet waren. Dieselben bestanden aus
zwei Bambusrohren mit einem dazwischen hängenden Sitz-
brettchen und wurden von je zwei Coolies getragen, welche
uns der während der Nacht von meinem Kommen unter-
richtete Tai-wo-si mit neun Soldaten entgegen gesandt
hatte. Die letzteren bildeten, zusammen mit meinen
Pingnam-Polizisten und meinen eigenen Leuten, eine ganz
ansehnliche Schaar, welche sich unter Führung des auf
einer kreischenden Schiebkarre von einem Cyoli sich voran-
fahren lassenden Polizcilieutenant langsam der Stadt Tai-wo
zu bewegte.
Dieselbe liegt an einem nach der Regenzeit fast ganz
austrocknenden, bei Molam mündenden Flüßchen, inmitten
einer reichen, meilenweit sich ausdehnenden Ebene. Der
Platz beherbergt etwa 4000 Einwohner und ist ein regel-
niäßiger Markt für dahin zum Austausch gebrachte Landes-
produkte; auch hat er kleinen Detailhandel mit europäischen
Waaren. Für die Fremden ist er hauptsächlich dadurch
von Interesse, daß hier die von den Bauern aufgekaufte
Cassia-Barke gesammelt und über Molam nach Cantón
verschifft wird.
Nach .einer kurzen, kaum dreiviertel Stunden währenden
Fahrt auf schmalem Wege, durch die sorgfältig wie ein
großer Garten gebauten Felder, erreiche ich das oben er-
wähnte, nur noch wenig Wasser führende Flüßchen, welches
von einer noch ganz neuen, wirklich elegant gebauten Brücke
in kühnem Bogen überspannt ist.
Hier erwartet mich die von dem Kommen des „roth-
borstigen Barbaren" durch die Soldaten unterrichtete halbe
Einwohnerschaft der Stadt, welche im Jahre 1870 zum
ersten und letzten Male von einem Bleichgesichte besucht
worden war. Meine Stuhlträger sind kaum im Stande,
sich durch die Menschenmenge nach dem Namen des Tai-
wo-si den Weg zu bahnen und die Thore vor den nach-
drängenden Gaffern zn schließen. Ich werde in den zum
Empfang der Gäste dienenden, auf den Vorhof hinaus-
sehenden, nach zwei Seiten offenen, aber sehr verlotterten
Empfaugspavillon geführt, aus welchem der einen Bückling
nach dem anderen machende, in voller Staatsuniform mich
begrüßende Beamte, ein noch ganz junger Mensch, mir
entgegenkommt. Er selbst reicht mir und meinen Begleitern
Thee, beim Niedersetzen jeder Tasse eine tiefe Reverenz
machend, er behandelt meine Begleiter, denen er doch die
verkleideten Coolies ansehen mußte, wie seinesgleichen,
beugt bei jeder Frage und Antwort das Haupt, kurz er ist
von einer geradezu unheimlichen Höflichkeit. Der aufgeregte
Pöbel hat inzwischen die Namen-Thüren aufgebrochen und
den ganzen Vorhof angefüllt, so daß die Hühner im Hofe
auf die Dächer fliegen müssen. Ein ähnliches Pandämonium
habe ich nie gesehen. Dicht gedrängt, Kopf an Kopf, steht
die gaffende Volksmenge um uns. Die Soldaten treiben
sie einmal nach dem anderen bis auf die Straße zurück,
aber nach einigen Augenblicken haben die Chinesen ihren
Weg zurückgefunden. Der Mandarin läßt einige der
Hauptschreicr festnehmen und abführen, aber die Volksmenge
nimmt eine so drohende Haltung an, daß die Leute von
den Soldaten wieder freigegeben werden müssen. Nie hatte
ich einen schlagenderen Beweis, wie machtlos der chinesische
Beamte auf dem Lande, wo er keine Truppcnmassen zur
Seite hat, einem aufgeregten Volke gegenüber ist. Dem
Bürgermeister perlt der Angstschweiß von der Stirn,
während ich die Scene sehr scherzhaft oder wenigstens
interessant gefunden haben würde, wenn der Beamte unter
Hinweis aus die johlende Menschenmenge nicht alle mög-
lichen Argumente angewandt hätte, mir die Reise nach den
Cassia-Bergen auszureden. Er jagt meinen Begleitern
Schrecken durch Erzählungen über in der Nachbarschaft
Tai-wos hausende Räuber und Mörder ein; und daß ich in
dieser einmal aufgeregten Stadt unmöglich die für eine
mehrere Tage währende Ueberland-Reise nach Nuug-schien
nöthigen Vorbereitungen treffen konnte, niußte ich bald ein-
sehen. Ich merkte, daß der Beamte von seinem Ping-nam-
schien-Vorgesetzten geheime Instruktionen hatte, mich nicht
aus den Augen zu lassen, und mich möglichst bald auf den
Rückweg nach Canton, wenigstens aus dem Bereiche seines
Distriktes, in welchem er für meine Sicherheit haftete, zu schaffen.
Meine Versicherung, daß das freundlich grinsende und
jeder meiner Bewegungen aufgerissenen Auges folgende
Volk wohl neugierig, aber harmloser als der Pöbel mancher
Gegenden in Europa sei, half auch nichts. Der Chinese
war nicht dazu zu bewegen, mir die für die beabsichtigte
Reise nöthigen Coolies zn verschaffen! Afook geht auf
meinen Befehl selbst in die Stadt, um Führer und Stuhl-
träger zu miethen, er kehrt aber mit der Nachricht zurück,
daß cs allen Chinesen untersagt worden ist, mir irgend welche
Dienste zn leisten.
36
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
Inzwischen geht kostbare Zeit verloren, und ich muß
dem Chinesen daher erklären, nach meinem in Molam auf
mich wartenden Boote zurückkehren, vorher aber die Stadt
ansehen zu wollen. Letzteres konnte der Herr natürlich
nicht verhindern. Um mich aber nicht in irgend eine Gefahr-
laufen zu lassen, entschloß sich der in fieberhafte Aufregung
gerathene, wohl schon an Verbannung nach Sibirien denkende
Beamte, mich selbst zu begleiten. Nie habe ich etwas
Komischeres erlebt: der vor Wuth wie ein Puter roth
gewordene Mandarin muß mir und meinen vor Bosheit
lachenden chinesischen Begleitern wie ein Bärenführer im
Triumphzuge zu Fuß von einer Straße in die andere
folgen.
Ich besuche die zum Lagern der S. & Co.'schen Cassia
benutzt gewesenen, jetzt ganz und gar leer dastehenden Lager-
räume, während die hinter uns lärmende Bevölkerung uns
alle nicht im Komplimentirbnch verzeichneten, von mir nur
theilweisc verstandenen Phrasen nachruft. Nachdem ich die
großen, geräumigen Markthallen der sehr wohlhabenden
Stadt, in welcher die Landbevölkerung sechsmal per Monat
ihre Produkte austauscht, besichtigt habe, nehme ich von
meinem Bürgermeister Abschied. Als ich in Begleitung
meiner bewaffneten Schaar wieder auf dem Wege zum
Boote war, hat der brave Beamte sich vermuthlich ebenso
degoutirt auf die Opiumbank gestreckt, wie ich ungerechter
Weise den armen Afook dafür verspottet habe, die „Reise
nach den Cassia-Bergen" so schön arrangirt zu haben.
(Fortsetzung folgt.)
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden
der westlichen Sahara.
in.
(Mit sieben
Von Kap Bojador wandten wir uns gegen Norden.
Einer der ersten Tagemärsche war durch den Ueberfall einer
Karawane bezeichnet, bei dem die Uled-Delim, denen ich an-
gehörte, ihre ganze Wildheit entfalteten. Die dargebotene
Gelegenheit, zu morden und zu plündern, läßt sich ja gerade
dieser Wüstenstamm niemals gern entgehen. Das Erscheinen
einer Anzahl beladener Kaineele am Horizonte deutete nicht
so bald auf eine vorüberziehende Hanoelskarawane, als
ein paar Späher ausgesandt wurden, um das Nähere über
dieselbe zu erforschen. „Es ist eine Karawane, die von Ten-
dnf kommt und mit Datteln beladen nach Tyris zieht" hieß
es; „sic besteht aus 48 Kameelen, 30 Männern, 10 Wei-
bern und mehreren Kindern, die dem Stamme der Uled-
Tyderarin angehören." Sofort wurde der Angriff beschlossen.
Man lud die Kameele ab, man brachte die Frauen und
Kinder in einer Terrainfalte in Sicherheit, man griff zu
den Flinten und Dolchen, man schwang sich auf die Reit-
thiere, und in der Stärke von 80 Kriegern ging es dem Opfer
entgegen. In der Entfernung von 200 bis 300 Metern stieß
Ibrahim, der die Expedition führte, ein lautes „Bismillah!"
aus, dabei sein Gewehr in die Luft abfeuernd, und der
Schrecken dcö Namens der Uled-Delim that das übrige.
Die Kaufmannskarawane dachte kaum an Vertheidigung,
sie versuchte zu fliehen, nur fünfen gelang dies aber that-
sächlich, die 25 anderen wurden von der Uebermacht ihrer
Verfolger ereilt und erbarmungslos niedergemetzelt. Dann
wurde die Beute vertheilt, die Frauen und Kinder wurden
als Gefangene mitgenommen, und der Marsch ging weiter,
als sei nicht das geringste geschehen. Ich hatte das gräß-
liche Schauspiel in der Nachhut, die nur im kritischen Falle
einzugreifen hatte, mit anzusehen.
Der Zug ging nun längere Zeit der Küste entlang, immer
durch eine trostlose Sand- und Steiugegend, in der nur hie
und da eigenthümliche Tnmuli („brurj") zu bemerken
waren — Gräber von schiffbrüchigen und von den Mauren
ermordeten Europäern, wie man sagte.
Abbildungen.)
Als wir bei dem Sagiat-el-Hamra ankamen, trat ein
Ereigniß ein, das für meine Beziehungen zu den Mauren
entscheidend genannt werden muß. Ibrahim hatte mich
nämlich allmählich sehr lieb gewonnen, und er ließ mir
durch zwei junge Leute kundgeben, das er mich zu seinem
Schwiegersöhne ansersehen habe, und mir seine Tochter
Eliasise zum Weibe geben wolle. Nach vielfachen Verhand-
lungen wurden wir auch mit einander eins, und es wurde
ausgemacht, daß ich die Braut für sieben Kameele heim-
führen solle. Woher sollte ich aber die sieben Kameele
nehmen? Ich beschloß, diese Schwierigkeit zu benutzen, um
mich von den Uled-Delim zu trennen. Ich ging also zu
Ibrahim und sagte ihm, daß ich ihm die Mitgift nur ein-
händigen könnte, wenn er sich dazu verstünde, mich nach
dem Wad-Nun zu dem Kaid Uld-Beyruk zu führen, und
wenn er mich daun durch das Sus und durch Marokko nach
meiner Heimath ziehen ließe. Einige Monate später würde
ich zu ihm zurückkehren und ihm das Verlangte und
mehr bringen — „inch Allah“ („wenn es Gott gefällt").
Ibrahim nahm meinen Vorschlag auch thatsächlich an, und
er willigte ein, in einigen Tagen mit mir den Marsch nach
Süd-Marokko zu unternehmen.
Zuvor aber wollte mein Wirth noch eine Partie Schaf-
und Ziegenfelle verkaufen, und das konnte nicht gut anders
geschehen als in Teuduf. Ich bat ihn, mich auch dahin
mitzunehmen, da ich eine vorzügliche Gelegenheit darin er-
blickte, eine weitere völlig unbekannte Gegend kennen zu
lernen. Ibrahim gewährte mir auch diesen Wunsch, und
mit nnr noch einem Begleiter, sowie mit drei Reitkameelen
und zwei Lastkameelen, machten wir uns auf, als ganzen
Proviant nur ein paar Hände voll Gerste und einen Schlauch
Wasser mit uns führend. Der Marsch ging aufwärts im
Sagiat-el-Hamra (S. Abbild. 1 und 2) und war außer-
ordentlich strapaziös. Wenn wir am Abend gerade ein
Zeltlager erreichten, so nahmen wir die Gastfreundschaft
des betreffenden Stammes in Anspruch, und dieselbe wurde
Camille Donls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
lms m einer sehr methodischen und diskreten Weise gewährt.
Man sorgte für unsere Thiere, man führte uns in das Zelt
des Reichsten, man wies uns daselbst den Ehrenplatz
an, man reichte uns die erste Schale Milch, und man be-
Schlucht zwischen dem Sagiat El-Hamra und dein Wad-Dran.
deckte uns in der Nacht mit der wärmsten Decke. — Einige
Male traf cs sich, daß nur Franen in den Zelten anwesend
waren. Dann durften wir uns denselben der allgemeinen
Sitte gemäß nur bis auf etwa 20 Schritte nähern, die
Frau des Zeltherrn kam aber dann heraus, hieß uns will-
kommen und lud uns ein abzusteigen und uns in der Nähe
Das Sagiat El-Hamra.
38
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara<
zu lagern, uns dabei ein Feuer anzündend, Decken herbei-
bringend, und ein Abendmahl bereitend. — Auf der Hälfte
der zehn Tage, die wir nach Tenduf auf dem Wege waren,
trafen wir freilich keine Zelte, und in diesem Falle hatten
wir uns ohne Matten und ohne Milch und Gerstenkuchen zu
behelfen. Wir litten dann insbesondere auch sehr von der
Kälte der Nächte.
Nachdem wir zuletzt noch das Plateau El Hamada
überschritten hatten, kamen wir in Tenduf an — einem
Flecken, den die Verhältnisse der städtelosen Sahara zur
weithin berühmten Hauptstadt erhoben haben. Mir ging
cs beim ersten Anblicke des Ortes eigentlich nicht anders
wie den Nomaden. Die kleine Häusergruppe und das
von Palmen umgebene Minaret, welches ich am Fuße der
Hügelkette erblickte, entlockte mir laute Jubelrnfe. Vier-
Monate war ich in der Wüste herumgeirrt, ohne das kleinste
massive Bauwerk und ohne einen Palmbaum zu erblicken —
so hatte Tenduf auch für mich überwältigend großartige
Dimensionen. Am letzten Tage unserer Reise hatten wir
uns noch einer Karawane anschließen können, die demselben
Ziele wie wir zustrebte. Sobald wir, mit ihr am östlichen
Abhange angekommen, Tenduf erblickten, warfen wir uns
alle zu Boden nieder und recitirten die „Fatiha“, und dann
erschallte aus aller Munde ein mächtiges „Preis sei Allah!"
Für die meisten Mitglieder der Karawane waren wohl
Jahre vergangen, ohne daß sie irgend welche Stadt zu sehen
bekommen hatten.
Erst im Jahre 1857 von dem Marabut Bel-Hamedj
Ankunft in Tenduf.
begründet, hat Tenduf in Wirklichkeit einen beträchtlichen
Aufschwung genommen und eine hohe commercielle Be-
deutung erlangt. Seine Häuser sind ans lufttrockenen Zie-
geln gebaut, und sein einziges Monument besteht in einer
Moschee und dem dazu gehörigen weithin sichtbaren Minaret,
aber sein Brunnen hat auffallend frisches Wasser, seine
Gürten bringen einige Früchte hervor, und eine ganze Reihe
von natürlichen Karawanenstraßen von dem Sudan Her-
strahlen in ihm zusammen. Besonders ist sein Sklavcn-
markt dadurch bedeutend, und der große „akubar“ des
Jahres 1887 brachte über 500 Neger herbei, die von hier-
nach allen Theilen Nordafrikas verhandelt und vertrieben
wurden. Außerdem spielen Giraffenselle sowie Kameel- und
Ziegenhaare eine Hauptrolle unter den Handelsartikeln des
Platzes. Was die herbeigeführten Sklaven betrifft, so
schienen sich dieselben sammt und sonders einer ausgezeich-
neten Gesundheit zu erfreuen. Auf die Bevölkerung des
Ortes scheint übrigens das Herbeiströmen des Negerelementcs
bereits setzt einen ganz entschiedenen Einfluß ausgeübt zu
haben, denn dieselbe ist viel dunkler als die übrige Sahara-
bevölkerung, von der sie sich sonst in Sitte und Tracht nicht
unterscheidet.
Wir blieben drei Tage in Tenduf und wohnten bei
einem Kaufmanne aus Wad-Nun, der Handel in Fellen
und Datteln trieb, und bei dem wir auch unsere Ladung an
den Mann brachten. Die Rückreise, die wir danach antraten,
ähnelte in allen Stücken der Hinreise, nur daß wir den Weg
dabei etwas weiter nördlich nahmen, und Tekna passirten.
Als wir in unser Lager zurückkamen, fanden wir dasselbe
in Trauer versetzt. Zwei junge Leute waren mit einander
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
39
in Streit gerathen, hatten zu den Waffen gegriffen, und
einer war tödtlich verwundet worden, während der andere
die Flucht ergriffen hatte. Die Frauen klagten, und ein
Paar Mauren hielten, mit dem Gewehre in der Hand Koran-
verse betend, die Todtcnwache. Das Begräbniß war nicht
weniger einfach, als das Leben im Lager ist. In feine
Kleider gehüllt, wurde der Leichnam ans ein Kameel ge-
laden, in einer kleinen Entfernung von den Zelten wurde
ein Grab gegraben, und in dieses wurde der Todte hinein-
gesenkt, das Gesicht gegen Osten gewandt. Dann wurde
Sand über ihn hinweggeschüttet, und ein einziger Stein am
Kopfende diente ihm als Denkmal. Die ihm das Geleite
gaben, recitirten auf dem ganzen Wege die entsprechenden
Koranverse.
Einige Tage später rief Ibrahim seine Stammes-
penosseli zusammen, um meine Verlobung mit Eliasise zu
feiern. Er lies» vier Hammel schlachten, man sang, man
tanzte, und ein Thaleb pries mich in einer langen Rede
glücklich, daß es mir nach so vielen ilberstandenen Gefahren
vergönnt sein sollte, mein übriges Leben zwischen der reizen-
den Eliasise und den Kameelheerden zu verbringen.
Am nächsten Morgen wurde dann endlich der Marsch gegen
Wad-Nun angetreten. Begleitet wurden wir von einer
Anzahl Stammesgenossen, die in Glimim junge Kamcele
verkaufen wollten, so daß unsere Karawane alles in allem
aus 20 Leuten und 35 Kameelen bestand.
Das Land zwischen dem Sagiat-el-Hamra und dem
Wad-Draa zeichnet sich vor anderen Gegenden der Sahara
dadurch aus, daß es von vulkanischen Bildungen durchsetzt
ist, und es erhält dadurch einen ganz eigenthümlichen
Charakter.
Nachdem wir den Wad-Drna erreicht und durchführtet
hatten — den ersten Sahara-Fluß unter denen, die ich zu
sehen bekam, der wirklich Wasser enthielt — kamen wir nach
Ksar-El-Abiar.
dem ersten südmarokkanischen Dorfe, Namens Ksar-el-Abiar
Mit welcher Freude ich diese kleine Häusergruppe begrüßte
vermag ich nicht zu sagen. Das Land umher war sreilicl
immer noch unwirthlich und ödö genug, und der ganze Banen
wuchs, den ich erblickte, bestand aus ein paar Berber-
feigen. Nichtsdestoweniger glaubte ich einen Vorgeschmack de
Eivilisation zu empfinden, und der Wüste und ihrem wilde,
Nomadenleben glaubte ich hier Valet sagen zu dürfen. I,
der Ferne zwischen den Bergen winkten mir nun die frucht
baren Thäler und die zahlreichen Dörfer des gesegneten Sus
Gleich nach unserer Ankunft in Glimim geleitete niid
Ibrahim zu dem Kaid Dagman-Uld-Bcyruk, stellte mick
ihm als Moslim vor, und setzte ihm die Gründe ausein
ander, die mich veranlaßten, in meine Heimath zurückzukehren
Kaid Dagman hegte nicht das, geringste Mißtrauen gegei
mich, sondern behandelte mich mit großer Gastfreundschaft
und ich nahm also in seiner Stadt von Ibrahim und meiner
anderen Begleitern Abschied.
In Glimim durfte ich allenthalben frei umhergehen.
Die Stadt liegt an einem Hügelhange, inmitten frischen
Gartengrüns, und seine Doppelmaucr besitzt fünf Thore.
Die Inden bewohnen wie in allen anderen mohammedanischen
Städten ein besonderes Stadtviertel, aber sie scheinen sich
hier einer besseren Achtung zu erfreuen als anderweit in
Marokko. Jedes Jahr wird eine große Messe in Glimim
abgehalten, zu der die Sahara-Nomaden herbeiströmen, um
ihre Einkäufe zu machen.
Man kann überhaupt sagen, daß die Bewohner des
Wad-Nun in jeder Beziehung die Vermittler zwischen den
Berbern des Sus und den Nomaden bilden. Sic sprechen
dieselbe Sprache wie die letzteren und kleiden sich auch in die-
selbe Tracht. Die Landschaft untersteht seit langer Zeit der
Familie Uld-Beyruk's, und sie bewahrte früher dem Sultanat
Marokko gegenüber erfolgreich ihre Unabhängigkeit, bis sich
der Kaid im Jahre 1886 vollkommen Muley-el-Hassan
unterwarf, und seine Hauptstadt eine starke marokkanische
Auf der Grenze zwischen Sus und Wad-Nun.
40 Camille Tonls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
Besatzung erhielt. Die Regierung Uld-Dagman's ist eine zu ihm, täglich giebt er unter dem Vordache seines Hauses
rein patriarchalische, der geringste Wad-Nuni hat freien Zutritt Audienz, und er waltet sowohl über die häuslichen Bedürfnisse
Glimim, die Hauptstadt von Wad-Nun.
als auch über die Staatsangelegenheiten persönlich. Ich sah sönlich leiten. In seinen Lebensgcwohnheiten ist er so einfach
ihn z. B. den Hufbcschlag seiner Maulthiere und Esel per- als nur denkbar, obgleich er für sehr reich gelten muß.
Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der westlichen Sahara.
41
Nach einigen Ruhetagen in der Stadt Uld-Beyruk's gab
lch ihm meine Absicht, weiter zu reisen, zu erkennen, und
ungesäumt sandte er mir ein Reitthier nebst einem Soldaten,
der mir als Führer dienen sollte. Ebenso gab er mir eine
»gilabia“ — ein langes, weißwollenes Gewand —, damit
ich dieselbe statt meiner Fellkleidung anlegte, und er empfahl
wir an, seinen Bruder Abidin anfzusuchen, der sich gerade
bei dem Sultan befand.
Zwei Stunden von Glimim erreichten wir Ait-bu-
Amram und damit zugleich die ostwestlich streichende Berg-
kette, die Wad-Nun von dem Sus trennt. Es war eine
herrliche kleine Oase, die dem Wasserlaufe des Wad-Om-
Elaxaer ihr üppiges Palmcngrün verdankt. Ich stieß da-
selbst auf eine Anzahl Berber, unter denen einige Arabisch
sprachen, so daß ich mich mit ihnen unterhalten konnte. Sie
äußerten offen ihre Unzufriedenheit mit der Annexion ihres
Landes an Marokko, schienen auch nicht sehr fanatisch zu
sein und durchaus keine Abneigung gegen die Europäer zu
hegen. Sie sagten mir, daß sie wohl ganz gern auch nach
Algerien gehen würden, und ich bin überzeugt, daß sie es
mit großem Gleichmnth aufgenommen haben würden, wenn
ich ihnen offenbart hätte, daß ich ein Christ sei. Bis zum
Jahre 1886 hatte das Sus eine förmliche Republik ge-
bildet, indem jede Kabyle sich ihren Scheikh wählte, wie sie
wollte, und indem sie weder Zehnten noch sonstige Abgaben
zahlten. Jetzt war das aber alles ganz anders geworden.
Nun ging es durch die Gebirgsgegend von Ai't-bu-
Amram, die den reichsten und wichtigsten Theil des Sus
Oase im Ait-Bu-Amrain,
bildet, und wo der Sultan angeblich bei Erckschisch ein
Silberbergwerk betreiben läßt. Es giebt daselbst allerwärts
Quellen und Bäche, die Felder tragen gute Ernten, und
bie Dörfer liegen dicht bei einander und sind von fleißigen
Menschen bewohnt.
Von Agln und Massa an führte mein Weg nahe an
der Küste hin, dann durchquerte ich das herrliche Thal des
Wad Sus, und so kam ich nach Agadir, das am Fuße des
^lllas und an einem prächtigen Naturhafen liegt. Beiin
Kap Ghir umging ich hierauf das Atlas-Gebirge, um an
dessen Fuße durch die Provinzen Haha und Uled-bu-Sba
nach der marokkanischen Hauptstadt Marakesch zu gelangen.
Hler suchte ich alsbald den Scheikh Abidin aus.
Gleichzeitig mit mir war unter der Führung von Sir
elrby Green eine englische Gesandtschaft in Marakesch
Globus uv. Nr. 3.
eingetroffen und der Zufall wollte es, daß einer von den
englischen Herren — ein Herr Ferguson — im Hause
Abidin's erschien, indem ich mit diesem letzteren im Gespräch
begriffen war. Ich war aufs höchste überrascht, als ich
den jungen Europäer sah, und konnte meine Bewegung so
schlecht verbergen, daß dieser sofort den Christen in mir
erkannte und mich als solchen ansprach. Nicht befürchtend,
daß mir angesichts von Europäern noch irgend welche
ernstliche Gefahr drohen könnte, offenbarte ich jetzt mein
Geheimniß, und ich erfuhr dagegen, daß man mich in
Europa todt oder gefangen glaubte, und daß der französische
Konsul Lacosta einen eingeborenen Boten abzusenden im
Begriffe war, um über meine Auslösung zu verhandeln.
Auf die Einladung des Herrn Ferguson (der die Gesandtschaft
zu seinem Vergnügen begleitete) begab ich mich sodann mit
6
42
Dr. W. Breitenbach: Die Aufhebung der Sklaverei in Brasilien.
nach dessen Wohnung, die aus einem Zelte inmitten eines
schönen Gartens bestand, und dort plauderten wir bei einer
Tasse Thee noch lange über die Abenteuer meiner Reise
und die Neuigkeiten aus Europa. Dann schlug mir mein
neuer Freund vor, mich bei der englischen Gesandtschaft
einzuführen, und als ich auf den schlechten Zustand meiner
arabischen Kleidung hinwies, lieh er mir sein eigenes
marokkanisches Gewand, dessen Weichheit mir ganz wunder-
bar vorkam. So ritten wir zusammen nach dem Palaste
der sogenannten „Mamunia", der den europäischen Gesandten
zur Wohnung zu dienen pflegt.
Herr Kirby Green empfing mich sehr herzlich, denn
er hatte viel von mir sprechen hören, auch Lady Green
hieß mich willkommen, und ich verbrachte einige sehr schöne
Stunden auf der englischen Gesandtschaft. Vor dem Ab-
schiednehmen sagte mir der Gesandte noch, daß ich mich in
Marakesch nicht in Sicherheit glauben dürfe, und daß ich
besser thäte, die Gastfreundschaft, die mir seine Gattin anbiete,
anzunehmen. Ich dankte aber und erklärte, daß ich es vor-
ziehen müsse, meine Rolle als Muselmann bis an die Küste
zu spielen.
So kehrte ich also zu meinem Wirth Abidin zurück.
Derselbe empfing mich mit einem Lächeln der Verachtung
und antwortete aus meine Begrüßung nichts weiter als
„Christ!" Und als ich ihn erstaunt ansah, sagte er: „Ja,
du bist ein Christ und hast uns betrogen. Ein Moslim
nimmt keine Geschenke von den Ungläubigen, er besucht sie
nicht in ihren Häusern, und er trinkt keinen Thee aus ihren
Gläsern. Du bist ein Ungläubiger." Auf meine Ein-
wendungen antwortete er kein Wort weiter, als ich mich
aber anschickte, sein Haus zu verlassen, vertraten mir aus
seinen Wink zwei Sklaven den Weg. Es waren zwei
riesige Sudanneger, mit starken Muskeln und bestialischen
Gesichtern. Angesichts ihrer blieb mir nichts übrig, als
mich zurück zu wenden zu Abidin und ihm die Verwünschung
zuzurufen, die ich oft genug gehört hatte: „Verflucht sei der
Tag, an dem du geboren wurdest!"
Die Nacht, die nun folgte, wurde mir ziemlich lang,
ich wiegte mich aber in meinen Träumen von Europa und
der Rückkehr in die Hcimath und schlummerte schließlich ein.
Plötzlich wurde ich unsanft geweckt, und vor mir standen
fünf Neger, mit Säbeln an der Seite. Ich erhob mich
und mußte wohl oder übel folgen. Der Marsch ging
hinter einem Fackelträger her, durch eine Reihe von krummen
und finsteren Straßen, in denen wir wiederholt über
schlafende Bettler stolperten; endlich kamen wir bei dem
Dar-el-Maghsen in einer Dependenz der Wohnung des
Kaids der Kasbah an. Durch einen Gang hindurch und
über mehrere Höfe hinweg brachte man mich hier in einen
niedrigen und feuchten Raum des Erdgeschosses, dessen
ganzes Ameublement in einer alten Binsenmatte und einem
Wasserkruge bestand. Hier erwarteten mich beim spärlichen
Scheine einer Oellampe zwei Kerle, bei deren Anblick ich
zitterte. Sie hielten in ihrer Hand einen Hammer und
schwere Eisenketten, und nachdem man mich gezwungen
hatte, mich niederzulegen, schmiedete man mir zum zweiten
Male unzerreißbare Fesseln an die Füße. Dann verließ
mich die Häscherbande, die schwere Thür schloß sich, und ich
glaubte mich in meinem Grabe zu befinden. Alle die
schönen Träume von der Hcimath waren wieder dahin. Ich
begriff da, wie das Haar eines Menschen in wenigen Stun-
den ergrauen kann.
Als cs Morgen wurde, weckte mich das Rasseln der
Schlüssel an meiner Kerkerthür ans meinem dumpfen
Brüten, und es traten drei Menschen herein: zwei Soldaten
und ein Mann mit europäischem Gesicht. „Wer seid ihr?"
fragte mich der letztere in gutem Französisch. „Man hat
mir gesagt, ein Franzose." „Das ist richtig", antwortete
ich, „und ihr, seid ihr nicht ein Landsmann von mir?"
„Beinahe, denn ich stamme aus Belgisch-Luxemburg. —
Warum hat man euch in Fesseln gelegt?" sagte er. „Der
Sultan Pflegt dies mit Europäern nur im äußersten Falle
geschehen zu lassen. Habt ihr irgend ein Verbrechen be-
gangen?" — Ich erzählte ihm, daß ich Süd-Marokko als
Reisender besucht habe, und daß der Sultan vielleicht fürchte,
daß ich ein Spion sei. Das letztere bestätigte der Mann,
und zugleich erklärte er mir, daß er gekommen sei, um mir so
viel als möglich nützlich zu sein. Er sei Waffenschnlied und
Deserteur aus der algerischen Fremdenlegion, und nach man-
cherlei Abenteuern und Strapazen sei er durch das Rif nach
Fez und Marakesch und in das Lager des Sultans ge-
kommen, in deiner sein Metier ausübe und ziemlich heimisch
geworden sei. Er erklärte sich bereit, mir zur Flucht zu
verhelfen. Ich sah aber einen einfacheren Weg in der
Intervention des englischen Gesandten, und bat deshalb den
.Mann, zu Sir Kirby Green zu gehen, und diesen über
meine Lage zu unterrichten.
Das übrige ist einfach: Sir Kirby Green begab sich
sofort zum Sultan, verlangte von diesem meine Freigebnng,
und seine Schritte waren auch von einem augenblicklichen
Erfolge begleitet. Mit den Herren von der englischen Ge-
sandtschaft und dem belgischen Renegaten, dem ich Repa-
triation auswirkte, gelangte ich dann nach Mogador, wo mir
unser Konsul Lacoste jede weitere Förderung zu Theil werden
ließ, und über Safi und Masagan kehrte ich nach Europa
zurück.
Die Aufhebung der Sklaverei in Brasilien.
Von Dr. W. Breitenbach.
Aus Brasilien kam in der ersten Hälfte des Monats
Mai die frohe Botschaft von der sofortigen, bedingungs-
losen Aufhebung der Sklaverei. Das Mitte März dieses
Jahres ans Ruder gekommene Uebergangs-Ministerium
Alfreds hatte dem Parlament einen diesbezüglichen Gesetz-
Entwurf vorgelegt; derselbe wurde am 9. Mai von der
Deputirten-Kammer und am 14. Mai vom Senat ange-
nommen. Noch an demselben Tage gab die Regentin Dona
Jsabella als Stellvertreterin des noch immer in Europa
weilenden schwer kranken Kaisers Don Pedro II. durch ihre
Unterschrift dem Gesetz ihre Sanction. Die Bevölke-
rung der stolzen und schönen Kaiserstadt Rio de Janeiro
begrüßte mit lautem Jubel diese große menschenfreundliche
That des Parlamentes, und dieser Jubel pflanzte sich fort
in alle Provinzen des weiten Kaiserreiches und fand seinen
Wiederhall in der ganzen gebildeten Welt. Die sofortige,
Dr. W. Breitenbach: Die Aushebung der Sklaverei in Brasilien.
43
bedingungslose Aufhebung der Sklaverei in Brasilien im
Mai 1888 ist eine That, welche mit goldenen Lettern ins
Buch der Geschichte eingetragen zu werden verdient. In
Nord-Amerika konnte die Befreiung der Schwarzen vom
Joche der Sklaverei nur durch einen blutigen Bürgerkrieg
und unter den größten Opfern an Gut und Menschenleben
bewirkt werden. In dem in Europa, namentlich auch in
Deutschland so sehr verrufenen und vielfach verkannten Bra-
silien wird das gleiche hohe Ziel erreicht ans friedlichem.
Wege, ohne Revolutionen und Bürgerkrieg, ohne Blut-
vergießen, vielmehr durch einen wohlüberlegten Beschluß des
Parlamentes und in voller Uebereinstimmung mit dem
Willen und Wunsche der großen Mehrheit des Volkes.
Ein solcher friedlicher Sieg aber steht uns höher als blutige.
Errungenschaften; die Civilisation, die Kultur der Mensch-
heit nehmen sich besser aus im Zeichen des Friedens denn
im Zeichen des Krieges, des Blutes. Daß ein solches
Gesetz im brasilianischen Parlamente schnell und mit großer
Majorität Zustimmung finden konnte, beweist, daß die Ver-
treter des brasilianischen Volkes in Deputaten-Kammer
und Senat wohl im Staude sind, große und schwierige
sociale und wirthschastlichc Aufgaben im Geiste unserer Zeit
zu lösen.
Das jetzige Sklaven-Befreiungs-Gesetz ist die letzte
Etappe eines laugen, mühsamen Weges, auf den cs sich
verlohnt, einen flüchtigen Blick zu werfen. Die Sklaverei
in Brasilien ist alt. Bereits unter der portugiesischen
Kolonialherrschaft fand eine massenhafte Einfuhr von Neger-
sklaven aus Afrika statt und diese wurde uoch größer, nach-
dem durch ein Gesetz vom 6. Juni 1755 den Eingeborenen
des Landes mit Ausnahme einiger besonders wilder Stämme
(z> B. Botokudcn) die Befreiung von der Sklaverei zuge-
sichert worden war. Die Botokuden wurden erst im Jahre
1831 für frei erklärt. Der Handel mit Negersklaven
nahm naturgemäß immer größere Dimensionen an, denn
auf den nach und nach an Zahl zunehnienden Plantagen,
in den wachsenden Städten rc. wurden immer mehr Arbeits-
kräfte gebraucht. Mit List oder Gewalt holte man die armen
Menschen ans Afrika oder kaufte sie für wenig Geld von
den Negerhäuptlingen. Niemand weiß zu sagen, wie viel
Neger im Laufe der Jahre nach Brasilien geführt worden
sind, wie viele in den Sklavenschiffen eines elenden Todes
gestorben, wie viele an Gewaltthätigkeiten ihrer Herren und
Aufseher, durch Hunger oder durch die furchtbaren Blut-
hunde zu Grunde gegangen sind. Schwer drückte die
Sklavenkette die Neger auch in Brasilien, wenn auch im
allgemeinen die Behandlung derselben hier eine ungleich
humanere gewesen ist, wie z. B. in Nord-Amerika oder in
den spanischen Ländern.
Der afrikanisch-brasilianische Negerhandcl dauerte
bis zum Jahre 1831. Dank dem energischen Vorgehen
Englands wurde in dem genannten Jahre dieser Handel
untersagt. Natürlich lebte er trotz dieses Verbotes noch
eine Zeit lang fort, noch manches Sklavenschiff wurde auch
nach 1831 noch von englischen Kreuzern abgefangen und ver-
nichtet. Allmählich aber hörte er doch gänzlich auf, dagegen
blühte der Sklavenhandel im Inneren des Landes ruhig
weiter, bis in die letzten Jahre hinein, wo eine hohe Steuer
auf den An- und Verkauf von Sklaven, sowie auf den Handel
urit solchen von Provinz zu Provinz gelegt wurde.
Da die Kinder der Sklavinnen in Brasilien ohne Aus-
nahme dem Stande der Mutter zu folgen hatten, so nahm
nach 1831 die Sklaverei trotz des Aufhörens der Einfuhr
neuer Sklaven auf dem Wege natürlicher Vermehrung
immer noch zu. Infolge der vielfachen Blutmischungen
aller Abstufungen zwischen Schwarzen und Weißen gab es
ulcht nur schwarze Sklaven, sondern auch braune, gelbe,
fast weiße, bei denen man kaum die Abstammung von
Negern erkennen konnte.
Ein großer Schritt vorwärts auf dem Wege zur Ab-
schaffung der Sklaverei geschah im Jahre 1871 kurz vor
der Reise des Kaisers nach Europa. Das liberale Bcini-
st eri um Rio Branco legte dem Parlament ein soge-
nanntes Abolitions-Gesetz vor. Nach demselben sollten
vom Tage der Annahme des Gesetzes an alle von Sklaven
geborenen Kinder frei sein; bis zu ihrer Großjährigkeit
sollten die Kinder bei der Mutter, resp. dem Herrn der-
selben bleiben, nachher könnten sie thun und lassen, was
ihnen beliebte. Außerdem sollte ein staatlicher Eman -
cipations-Fonds gegründet werden, aus dessen Mitteln
nach bestimmten Grundsätzen Sklaven losgekauft werden
sollten. Am 28. September 1871 nahm die Kammer
dieses sehr weise Gesetz Rio Branco's unter dem endlosen
Jubel der Bevölkerung von Rio de Janeiro an. In der
Hauptstadt wurden großartige Festlichkeiten veranstaltet, die
viele Millionen gekostet haben; in allen Städten und Ort-
schaften des Reiches wiederholten sich dieselben in mehr oder
minder großartiger Weise.
Das September-Gesetz vom Jahre 1871 hatte die Wir-
kung, daß ein allmähliches Aussterben der Sklaverei
stattfand. Abgesehen von der Beihülfe des gleich näher zu
besprechenden Emancipations- Fonds konnte man ziemlich
sicher annehmen, daß Brasilien beim Beginn des kommenden
Jahrhunderts sklavensrei sei, und zwar sklavenfrei geworden
durch einen klugen gesetzlichen Act, ohne daß ein Bürger-
krieg ausgebrochen wäre, ohne Verluste an Gut und
Menschenleben, und ohne eigentliche Schädigung selbst der
Sklavenhalter. Diese allmähliche Beseitigung der Sklaverei
sollte nach dem Willen der Regierung und der Volksver-
tretung noch unterstützt und beschleunigt werden durch den
Emancipations-Fonds. Dieser Fonds entstand aus den
Erträgnissen einer jetzt eingeführten Sklaventaxe, aus den
Einkünften von Staatslottcricn und einer Steuer auf den
Verkauf von Sklaven. Bis zum Jahre 1882 sollen aus
diesem Fonds etwa 15 000 Sklaven mit einem Kosten-
aufwand von fast 30 Millionen Mark freigekauft worden
sein. So verschwindend klein die Zahl der freigekauften
Sklaven erscheint, so groß ist die für dieselben gezahlte
Summe. Für den mit brasilianischen Verhältnissen auch
nur oberflächlich Bekannten ist das leicht erklärlich. Es
handelte sich um die Verwendung öffentlichen Geldes, und
da ist in Brasilien die größte Mißwirthschaft an der Tages-
ordnung. Für alte, unbrauchbare, vollkommen arbeits-
unfähige Sklaven, die nur einen Werth von wenigen Mark
hatten, wurden Tausende bezahlt. Die Besitzer solcher Un-
glücklichen hatten die beste Gelegenheit, die ihnen zur Last
fallenden Schwarzen los zu werden und sich selbst dabei auf
Kosten des Staates zu bereichern. Mochten die armen uu-
glücklichen, arbeitsunfähigen Neger sehen, wie sie fertig
wurden! Aus dieser Verschleuderung der Gelder des Eman-
cipations-Fonds wird das massenhafte Umherlungern alter
Neger und Negerinnen in den brasilianischen Städten er-
klärlich.
In dem ganzen Zeitraum von 1871 bis 1882 hat sich
die Zahl der Sklaven von 1 542 130 auf 1 346 648 vcr-
nlindert; davon entfallen nach den officiellen Angaben
132 777 auf Todesfälle, so daß die Zahl der in 10 Jahren
freigekauften und freiwillig freigelassenen 142 805 beträgt.
Diese letztere Zahl, in der die oben erwähnten 15000 durch
den Emaucipations-Fonds losgekauften enthalten sind, wirft
ein Helles Licht auf die öffentliche Wohlthätigkeit in Bra-
silien, deren Bethätigung vom nächsten Jahre ab eine
geradezu staunenswerthe wird. Vom Jahre 1883 ab
kommt nämlich ein ganz neuer Zug in die Bewegung;
6*
44
Kürzere Mittheilungen.
den Anstoß dazu gab die kleine Provinz Cearä. Hier
war es gelungen, durch die von Vereinen und Privatper-
sonen gesammelten und hergegebenen Gelder die Thätigkeit
des Gesetzes von 1871 und die freiwillige Freilassung von
Sklaven so zu unterstützen, daß am 2 5. März genannten
Jahres dem letzten Sklaven der Provinz die
Freiheit geschenkt werden konnte! Die Nachricht
hiervon breitete sich schnell aus und fachte eine allgemeine
Abolitionsbewegung an, deren schließliches Resultat das Ge-
setz vom Mai dieses Jahres ist. Alle Provinzen wollten
das Beispiel Cearas nachahmen. Junge, ehrgeizige Schrift-
steller und Redner, die sich schnell und mühelos Namen
und Stellung erwerben wollten, priesen in Wort und
Schrift die Abschaffung der Sklaverei als ein höchst ver-
dienstvolles Werk, Zeitungen eröffneten Sammellisten zur
Begründung von Emancipationsfonds, besondere Emanci-
pationsvereine sammelten Geld zum Loskauf von Sklaven,
Konzerte und Theatervorstellungen wurden zu gleichem Zweck
veranstaltet. Auf den Gegenstand bezügliche Schauspiele
wurden verfaßt und aufgeführt, in denen auf der Bühne
einem Sklaven unter dem brausenden Znjäuchzen der Zu-
schauer der Freibrief übergeben wurde. Kein Tag verging,
an dem man nicht in den Zeitungen las, Herr So und so
habe bei Gelegenheit seines Geburtstages oder der Hochzeit
seiner Tochter einigen seiner Sklaven die Freiheit geschenkt.
Die Redaktion lobte den Herrn als sehr menschenfreundlich
und forderte zur Nachahmung auf.
Freilich wurde auch in dieser begeisterten Zeit viel
Unfug getrieben. Leute, die sich einen Namen machen
wollten, schenkten armen, alten, arbeitsunfähigen Sklaven
die Freiheit, um sie nicht mehr unterhalten zu müssen, die
vermeintlichen Menschenfreunde entpuppten sich bei näherem
Zusehen nur zu oft als elende Schurken. Auch wurden
die gesammelten Gelder vielfach ebenso verschleudert wie die
des staatlichen Eniancipationsfonds. Ist es doch vor-
gekommen, daß Sklaven mehrere Male freigekauft worden
sind! Wir wollen auf diesen Schwindel, der in Brasilien
nichts Auffallendes ist, nicht weiter eingehen. Jedenfalls
wurde in den nächsten Jahren viel erreicht. Mit Riesen-
schritten nahm die Sklaverei ab, so daß am 30. März
1887 nur noch 723 419 vorhanden waren, d. i. in fünf
Jahren eine Abnahme um 623 229. Durch das neue
Gesetz werden also wohl etwa 600 000 Sklaven frei ge-
worden sein.
Seit 1883 stand die Aufhebung der Sklaverei in der
ersten Reihe der innerpolitischen Fragen Brasiliens, die
öffentliche Meinung forderte dieselbe, und kein Ministerium
konnte umhin, zu dieser Angelegenheit Stellung zu nehmen.
Die Ministerien der letzten Jahre (Uantas, Saraiva, Cote-
gipe) haben sich — oft contre coeur — mit derselben be-
fassen müssen, konnten aber für ihre Vorlagen keine Majo-
rität erlangen, da sie nicht die sofortige und bedingungslose
Abschaffung der Sklaverei forderten, sondern dieselbe erst im
Jahre 1890 resp. 1895 beseitigt wissen wollten, und auch
dann nur unter dem Vorbehalt, daß die Sklaven vor ihrer
endgültigen Freilassung noch drei bis fünf Jahre gegen Lohn bei
ihren bisherigen Herren zu arbeiten gezwungen sein sollten.
Die Forderung der Aufhebung der Sklaverei ist eine
liberale. Es ist bezeichnend, daß die letzten Ministerien,
die sämmtlich konservativ waren, doch dieser Angelegenheit
sich widmen mußten und die Frage sogar unter einem kon-
servativen Ministerium zum Austrag gebracht wurde. So
mächtig überwog der Bolkswille die konservativen Partei-
forderungen und die Wünsche der Sklavenhalter in den Kaffee-
Provinzen des Kaiserreiches. So unbedeutend der jetzige
Ministerpräsident Joño Alfredo auch sein mag, sein Name wird
in der Geschichte Brasiliens und der Civilisation unvergessen
bleiben, neben dem Rio Branco's, der den ersten energischen
Anstoß zur Aufhebung der Sklaverei gab. Derjenige
Mann aber, der beide Male seinen ganzen Einfluß zu
Gunsten der Erleichterung des Looses der Sklaven in die
Wagschale geworfen hat und so zur Erreichung des von
ihm unentwegt im Auge behaltenen großen Zieles wesentlich
beigetragen hat, das ist der Kaiser Don Pedro II., dem
daher der Maibeschluß seines Parlamentes zur ganz beson-
dern Genugthuung gereichen muß. Wir aber können das
brasilianische Volk zu der großen That seines Parlamentes
nur aus vollem Herzen beglückwünschen und wir freuen uns,
daß es gelungen ist, die Sklaverei, diesen Schandfleck unseres
Jahrhunderts, auf dem Wege ruhiger, friedlicher Entwicke-
lung zu beseitigen. Möge der Beschluß des brasilianischen
Parlamentes der Anstoß zu einem neuen wirtschaftlichen
Aufschwünge des großen, reichen, südamerikanischen Kaiser-
staates sein!
Kürzere Mittheilung e n.
Die Gebirge Südfrankrcichs.
In der Berliner Geographischen Gesellschaft entwarf
Dr. Fritz Frech am 2. Juni ein Charakterbild von den
Gebirgen Südfrankreichs. Wie die Bewohner Südfrauk-
reichs in allen ihren Eigenthümlichkeiten zu denjenigen Nord-
frankreichs in einem scharf ausgesprochenen Gegensatze stehen,
so ist dies auch der Fall mit der geographisch - geologischen
Natur des Landes. Man kann daselbst drei Haupt-Aus-
bildungsformen der Landschaften unterscheiden: diejenigen
des Alpen-Hochgebirges und seiner Vorberge, diejenigen
des sogenannten Centralplateaus und diejenigen der Tief-
ebene. Letztere bestehen vorherrschend aus marinen Sedi-
menten, und nur tu betn Rhonebecken nehmen junge fluviatile
Bildungen einen größeren Raum ein, wie denn an der
Rhonemündung noch heutigen Tages alljährlich ein Land-
streifen von 57 in Breite durch die Strornablagerungen neu
geschaffen wird. Wo künstliche Bewässerung durch Kanäle
möglich ist, da ist die Rhoneebene reich bebaut und dicht be-
völkert, anderwärts aber ist sie eine halbe Wüste. — Während
die südfranzösischen Alpen ihre geologische Jugend schon durch
ihre schroffen Formen verrathen, so thut sich das hohe geo-
logische Alter des Centralplateaus durch die starke Ab-
geschliffenheit desselben kund. In der Karbonzeit war auch
das Centralplatean alpin in seinem Charakter, seither haben
aber die Atmosphärilien das Gebirge so durchgreifend um-
gestaltet, daß davon so gut wie nichts mehr übrig geblieben
ist. Die von Südsüdwest nach Norduordost streichenden
Züge sind heute stark verebnet, und der Wechsel der Formen
MW
Kürzere Mittheilungen.
45
ist nur durch die Erosion und durch jüngere Vulkanaus-
brüche bedingt, sowie hier und da durch nachträgliche Ver-
senkungen. Urgestein — Geiß, Granit und alte Schiefer —
setzen das Gebirge im wesentlichen zusammen. Die aus-
gedehnte Kalkzone, die sich daran anlehnt, zeigt sich sehr
vegetationsfeindlich, sie besitzt Quellen nur in ihren canon-
artig eingeschnittenen Thälern, die das Gesammt-Plateau in
eine große Zahl von Einzelplateaus gliedern. Der Südhang
der Kalkzoue ist durch einen geologischen Abbruch steil, der
Nordhang dagegen sauft. Auf der Höhe des Plateaus sucht
man den Wassermangel durch Cisternen in wenig erfolg-
reicher Weise zu bekämpfen. — Die Vulkankegel sind als eine
junge Verzierung der alten Gegend anzusehen, sie sind
besonders zahlreich in der Auvergne und gehen dort Hand
in Hand mit kohlensäurehaltigen Quellen, übrigens finden
sich aber vulkanische Kegel und Decken bis an die Küste hin,
und bei Agda wurde dadurch Veranlassung zu einer Nehrung
gegeben. — In den südfranzösischen Alpen zeigt sich die un-
gleiche Denudation in ihrer ganzen Gewalt. Vor kleinen
Rinnsalen lagern ähnlich wie im Vintschgau ungeheure
Schuttkegel, und ausgedehnte Muren bedecken mit ihrem
lockeren Gebirgsschntte blühende Kulturen. Zum Theil liegt
die Wurzel dieses Uebels in der schlechten Forstkultur, an
der Südfrankreich so lange gekrankt hat. In den süd-
französischen Alpen hat die Kulturfläche ebenso wie die Be-
völkerungszahl erschreckend abgenommen — die letztere in den
Jahren 1836 bis 1866 um 25 000 Köpfe. Erst in neuerer
Zeit hat man den Kampf mit den Wildwässern in systemati-
scher Weise aufgenommen, indem man Thalsperrcn in den-
selben angebracht und die Aufforstung der Gebirgshänge
begonnen hat. Die Thalsperren im großen Maßstabe haben
sich nicht bewährt, wohl aber die kleinen Sperren, die hoch
oben in der Nähe der Quellen beginnen, und dann in großer
Zahl hinab steigen, um den ganzen Abfluß zu verlangsamen.
Der Waldbanm, welcher mit dem besten Erfolge angepflanzt
wird, ist die Eiche. — Die Bcrgzüge der Provence sind in
geologischer Beziehung sehr eigenartig, im wesentlichen stellen
sie aber ein Urgebirge dar, das sich gleichzeitig mit den Alpen
gebildet hat.
Vom Aang-tse-Fluß *).
Für denjenigen, welcher die Zustände des östlichen Asiens
zum Gegenstände seiner Studien gemacht, bringt ein neues
Buch über diesen Gegenstand häufig eine gewisse Enttäuschung.
So groß die Zahl der Bücher ist, welche sich mit denselben
beschäftigen, so bleiben sic meistens doch in schon betretenen
Bahnen. Nicht so das Buch von Little. Englischer Gewohn-
heit gemäß hat der Verfasser seinen Stoff nicht geordnet, er
will nur die in seinem Tagebuch in flüchtigen Zügen nieder-
gelegten Eindrücke etwas dauernder gestalten; er schreibt
angenehm, erhebt sich weit über den gewöhnlichen „globe
trotter“ und weiß seinen Aufzeichnungen auch einen wissen-
schaftlichen Werth zu geben; er ist auf mehr als einem Ge-
biete zu Hanse und spricht über manches seine Ansicht offener
aus, als man dies erwarten sollte; so beispielsweise über die
Verbreitung des alten neben dem neuen Testament unter ben
Chinesen, über die Opiumfrage und anderes. Wir wollen
hier weder ein Jnhaltsverzeichniß noch einen Auszug aus
seinem Werke geben, sondern dasselbe nur in einer Hinsicht
ins Auge fassen, nämlich kurz andeuten, wie er über den
Handel und die Entwickelung Chinas denkt.
Er beginnt seine Betrachtung mit einer Uebersicht über
bie Zustände des Landes, dessen Bewohner so lange gekämpft
, x) Through the Yang-tse Gorges; or Trade and
li'avel in Western - China by Archibald John Little.
London, Sampson Low und Co., 1888.
haben, um sich vor der Vermischung mit den Fremden zu be-
wahren, und die trotz ihrer ungeheuren Menge die Aufgabe
einer größeren Anzahl Menschen, int Allgemeinen glückliche
Zustände zu bewahren, wenigstens annähernd gelöst haben.
China ist, trotz mancher Uebelstände, iticht schlecht regiert; der
Kontrast zwischen der bittersten Armuth und dem Protzeuthum,
in Europa so gewöhnlich, ist hier eine Ausnahme; das Volk
ist ruhig, hat Achtung vor dem Gesetz, der Unterricht ist gut,
die Kosten der Verwaltung gering, sie werden nur auf zwei
Mark per Kopf veranschlagt. Man kann also ihrem Streben,
sich gegen die ans dem Westen und ans dem Osten kommenden
Fremdlinge abzuschließen, eine getvisse Berechtigung nicht ab-
sprechen.
Die Fremden, die in China ant zahlreichsten sind — die
Missionäre und die Kaufleute — haben daher unwilligen Ohren
zu predigen, und beide haben zur Gewalt ihre Zuflucht ge-
nommen, sind aber auch mit einander uneins; trotzdem aber
muß auf deut eingeschlagenen Wege fortgefahren werden, um
die bis jetzt erzielten, immerhin verhültnißmäßig unbedeutenden
Erfolge zu vergrößern.
Daß die englische Einfuhr verhültnißmäßig nur unbedeutend
ist, braucht nicht durch Zahlen nachgewiesen zu werden, und
die Umstände, welche den Handel verhindern, die mögliche
Entwickelung zu erreichen, sind etwa folgendermaßen zu-
sammenzufassen: der schlechte Zustand der Verkehrswege, die
Vernachlässigung des Bergbaues, die zahlreichen inländischen
Zollstationcn. Fassen wir diese drei Punkte etwas näher
ins Auge, so ergiebt sich, daß der Mangel an guten Verkehrs-
mitteln den nachtheiligsten Einfluß übt.
Als die Fahrt auf dem großen Fluß 600 (engl.) Meilen
weit bis Han-kou freigegeben wurde, vervierfachte sich der Handel
von Shanghai in kurzer Zeit; als späterhin die 400 Meilen
lange Strecke bis J-tschang dem Handel eröffnet wurde pflückte
man bald die Früchte, trotzdem J-tschang eine arme Bergstadt
ist und nur als Zugang zu Szechuen Bedeutung besitzt. Und
gerade dieser Zugang ist durch die Umstände erschwert; die
Chinesen können sich nicht entschließen, Tschung-king frei zu
geben, und die englische Regierung, sagt Little, behandelt sie zu
zärtlich. Der Grund, der vorgebracht tvird, um die Bedin-
gungen des Vertrages von Tschi-fu unausgeführt zu lassen, daß
nämlich die Dschunkenführer ihren Erwerb verlieren würden,
obtvohl an sich richtig, ist nicht stichhaltig, da die Erfahrung,
die man an andern Stellen gemacht hat, deutlich beweist,
daß durch Vermehrung des Verkehrs ans den Hauptadern,
wenn derselbe auch in fremde Hände übergeht, doch auch die
einheimische Schiffahrt in solchem Maße gewinnt, daß schließ-
lich auf den Seitenlinien mehr Leute beschäftigt sind, als
vorher je auf der Hauptlinie der Fall war.
Um jedoch einen vollständigen Utltschwung herbeizuführen,
wäre es nöthig, dem Volke den freien Gebrauch der Mineral-
schütze zu gestatten; gerade in dem Widerstand, ben die
Obrigkeit hinsichtlich dieses Punktes zeigt, liegt eine Haupt-
ursache, weshalb der Handel sich nicht entwickeln kann. Es
ist einfach eine Schande, wenn in dem 1000 Meilen vom
Meere gelegenen J-tschang die Dampfer importirte japanische
Steinkohlen brennen müssen, während die Stadt, wie voit Richt-
hofen zeigt, am Rande eines der reichsten Kohlenlager der
Welt liegt. Wenn man diese Lager, das Eisen, die kostbaren
Metalle und die Petroleumquellen richtig exploitiren würde,
so würde der Handel eine nie geahnte Entwickelung erfahren.
Die chinesische Regierung ist von traditionellem Mißtrauen
gegen Privatunternehntungeu erfüllt; die bestehende chinesische
Dampfschiff-Gesellschaft und die Gesellschaft zur Ausnutzung
der Kaiping-Kohlenwerke arbeiten beide unter den Auspicien
der Regierung und die Leiter derselben sind hochstehende
Mandarinen. Das Kapital allerdings ist großentheils durch
den Handelsstand beschafft, und die Theilnehmer beklagen
40
Aus allen Erdtheilen.
sich bitter über das Ausbleiben der Rechnungslegung und die
mageren Dividenden, welche ausbezahlt werden. Mail ist denn
auch so mißtrauisch gegen derartige Unternehmungen geworden,
daß der Handelsstand der Aufforderung der Regierung, das
Kapital für den Bau der Eisenbahn von Tientsin nach Takn
zu beschaffen, durchaus nicht nachgekommen worden ist, so
daß man schließlich doch zu der von europäischen Syndikaten
gebotenen Hülfe wird greifen nliissen.
Dadurch wird jedoch nichts an der Thatsache geändert,
daß die hohen chinesischen Beamten allen Handelsunter-
nehmungen feindlich gegenüberstehen, und wenn es ihnen nicht
glückt, Eisenbahnen und Bergwerke nach ihrem eigenen System
nnd mit Hülfe einiger untergeordneter Ausländer anzulegen,
so wird das Feld, welches, wie man gehofft hatte, sich fremdem
Unternehmungsgeist in China öffnen würde, ein sehr be-
schränktes bleiben, und die Centralisation der Verwaltung,
welche in den letzten Jahren mehr und mehr fortgeschritten
ist, endlich zu einer organischen Aenderung der Regierung
des Kaiserreiches führen, deren Resultat man nicht vorher-
sehen kann.
Wenn keine gewaltsame Umwälzung eintritt, muß nach
und nach der Wohlstand des Volkes und damit seine Kauf-
fähigkeit zunehmen; wenn wir aber die Zahlen, welche Little
mittheilt, betrachten, sehen ivir, wie unbedeutend der euro-
päische Handel int Westen, und wie stationär er überhaupt
noch ist. Es betrug
die Einfichr aus 1879 1886
allen Ländern Pfd. St. 20 557 0O0 21 870 00O
die Ausfuhr nach
allen Ländern Pfd. St. 18 07O 000 19 3O0 000
JnsgesammtPfd.St. 38 627 O00 41 170 OOO
Die Einfuhr in Shanghai betrug 12 876 000, die Ein-
fuhr in J-tschang nur 347 100 (1886), die Ausfuhr von
J-tschang 500 100 Pfund Sterling.
Von den 18 Provinzen Chinas empfangen 12 mit
234 Millionen Einwohnern ihren Bedarf von Shanghai,
ebenso die 3 im Westen gelegenen mit 90^ Millionen Be-
wohnern, während andere 3 Provinzen mit 60^ Millionen
zur Deckung ihres Bedarfes ans Hongkong angewiesen sind.
Dem Werthe nach empfing das westliche China 9 Proc.
der über Shanghai kommenden Waaren, während die Be-
völkerung 27,9 Proc. derjenigen des ganzen auf genannten
Hafen angewiesenen Gebietes ausmacht.
Das dritte Hinderniß endlich für die Entwickelung des
Handels sind die zahlreichen Zollstatioueu im Binnenlande.
Bis nach J-tschang, 1000 Meilen von Shanghai, geht die
Waare, wenn der Einfuhrzoll einmal bezahlt ist, ohne weitere
Abgabe; ans den weiteren 4OO Meilen bis Ttschuug-kin'g zählt
man aber etwa 12 Zollstationen.
Allerdings befreit die nochmalige' Bezahlung des halben
Eingangszolls die Waare von jeder weiteren Abgabe, nicht
aber von den Vexationen und dem Zeitverlust, denen man
durch die häufigen Untersuchungen bloßgestellt ist; ohnedies
wäre mit Rücksicht auf den Reichthum des Landes eine baldige
Erhöhung der Kauffähigkeit zu erwarten.
Alle, welche an der Ausdehnung des Handels ein Interesse
haben, sollten dahin zu wirken suchen, das angegebene Ziel zu
erreichen. Man darf den Handel nicht wie • in europäischen
Ländern, sich selbst überlassen. Wie gehässig es scheinen möge,
wir müssen zugeben, daß der erreichte Fortschritt einzig dem
Zwang zu danken ist, und dieser Zwang muß fortdauern. Die
Handelskammern sollten das Publikum anregen nnd die
Ministerien bewegen, tüchtige Beamte nach China zu schicken,
wo die Persönlichkeit derselben in Handelssachen eine viel
größere Bedeutung besitzt, als sie in Europa je erlangen könnte.
Ohne angetrieben zu werden, sind die Chinesen kaum ge-
neigt, selbst viel zu thun. —
Auf andere Abschnitte des interessanten Werkes kommen
wir vielleicht noch zurück. ■ E. M.
Aiis allen
Europa.
— Die Untersuchungen Netschajcf's im Kama-
Gebiete scheinen zu erweisen, daß der Kaspische See sich
noch in der postpliocänen Periode bis gegen Tschistopol ans-
dehnte. Die gelbbraunen, sandigen Lehme enthalten eine
ganze Reihe von Fossilien, die mit der aralo-kaspischen Fauna
vollkommen übereinstimmen, so namentlich: Dreyssena poly-
morpha, Pisidium fontinale, Paludina achatina, P.
impura, Limnaeus fuscus, Helix pulchella, Hydrobia
caspia. Jetzt liegt die betreffende Gegend etwa 70 m über
dem Spiegel des Kaspischen Sees.
— In Petersburg ist, seitdem daselbst meteorologische
Beobachtungen angestellt werden (d. i. seit dem Jahre 1743),
die mittlere Temperatur des 15./27. Mai niemals eine so
niedrige gewesen, wie im Jahre 1888, sie betrug nämlich
nur 2,5" C. Ursache dieser Erscheinung war das Einsetzen
einer nordöstlichen, polaren Luftströmung, welche vom 24.
bis 27. Mai anhielt und am 26. und 27. auch Schnee mit
sich brachte. Nur zweimal im 19. Jahrhundert ereigneten
sich in der 2. Hälfte des Mai noch stärkere Kälterückfälle,
nämlich am 19./31. Mai 1810 (1,2° C.) und am 17./29. Mai
1815 (1,80 C.).
E r d t h e i l e ii.
— Das französische Ackerbau-Ministerium hat eine stati-
stische Zusammenstellung über die Forstflächen in den
verschiedenen Staatsgebieten Europas veranlaßt.
Danach betrügt die gesammte europäische Forstfläche — ab-
gesehen von der Türkei sowie von Bulgarien, von Bosnien
und von der Herzegowina, von welchen Ländern keine zuver-
läßige Daten Vorlagen — 286 989 Millionen Hektar, d. i.
etwa 18,7 Proc. von der Gesammtvberfläche des Wclttheils.
Großbritannien nnd Irland ist der waldürmste Staat Europas,
da nur 4 Proc. seiner Oberfläche waldbedeckt sind, nnd da
nur 0,036 ha Wald ans jeden Einwohner entfallen. In Däne-
mark sind 4,8 Proc. der Landfläche von Forsten eingenommen
(0,09 ha auf den Einwohner); in Portugal 5 Proc. (0,11ha
auf jeden Einwohner);, in Holland 7 Proc. (0,05 ha auf
jeden Einwohner). Am waldreichsten sind Rußland nnd
Schweden, ersteres mit 200 000 Mill. Hektar oder mit
37 Proc. seiner gesammten Landfläche (mit 3,37 ha auf
jeden Einwohner), nnd letzteres sogar mit 39 Proc. seiner
Landfläche (mit 3,84 ha auf jeden Einwohner). Norwegen
besitzt nur die größte Forstfläche, wenn man dieselbe auf
die Bevölkerungszahl bezieht (nur 29 Proc. der Landfläche,
aber 4,32 ha pro Kopf). Frankreichs Waldflüche wird auf
9,888 Mill. Hektar angegeben, also auf 17,7 Proc. der ge-
Aus allen Erdtheilen. 47
sammten Landflächc (0,25 ha pro Kopf). Man vergleiche
mit dieser Zusammenstellung diejenige von Otto Krümmel in
Andrae-Peschel's physikalischem Atlas des Deutschen Reichs.
Asien.
— Eduard Glaser hat das Ziel, welches er sich ans
seiner dritten Reise nach Arabien gesteckt hatte, glücklich
erreicht, und das Gebiet des alten Sabüischcn Reiches nach
allen möglichen Richtungen hin gründlich durchforscht. Vor
allen Dingen ist es ihm auch gelungen, nach Märib — der
Hauptstadt des Sabär- Reiches — vorzudringen. Die Zahl
der Inschriften, welche er dort und anderweit gesammelt hat,
beläuft sich auf nicht weniger als 840, und das von ihm
untersuchte Gebiet umfaßt nunmehr reichlich zwei Dritttheile
der arabischen Halbinsel.
— Nach einem Aufsatze von Armand David in den
„Missions Catholiques14 (20ème année, p. 260s.) erhebt sich
der Boden der Stadt Peking gleich demjenigen anderer
chinesischer Städte, die ein höheres Alter besitzen, sehr merklich
über das Niveau der umgebenden Landschaft, und derselbe
besteht in der Hauptsache aus Asche und Schlacken, die von
dein Verbrennen von Steinkohlen und dainit vermischter
Thonerde herrühren. In der Trockenzeit, die acht bis zehn
Monate anhält, sieht man nun öfters Leute eifrig damit be-
schäftigt, den von den Karren-Rädern fein geriebenen Straßen-
staub mit einer Schwinge zu bearbeiten. Sie suchen und
finden dabei angeblich in beträchtlicher Menge kleine Dia-
manten, die zur Herstellung von Porcellanbohrern verwendet
werden. Daß die Chinesen kleine Quarzkrystalle mit Dia-
manten verwechseln, ist nicht anzunehmen.
— Der letzte russische Reisende — Herr Rjessin — der im
Jahre 1887, vom Baron Korff, dem Gencralgonvernenr des
Amurgebietes, beanftragt, die Ostküste Kamtshatkas bereist
hat, bestätigte in einem jüngst vor der Petersburger Geo-
graphischen Gesellschaft gehaltenen Vortrage die auch ander-
wärts bezeugte Thatsache, daß dort durch die zahlreich ver-
kehrenden amerikanischen Walfisch- und Robbcnfänger die
Kenntniß der englischen. Sprache namentlich unter den
Tshnktschen weil verbreitet ist; er habe selbst Kinder bei diesem
Volke Englisch sprechen hören, während unter den Kamtschadalen
der Russificirnngsproceß unverkennbare Fortschritte mache.
Auch die Klagen über den rücksichtslosen Vernichtungskrieg,
den die Amerikaner gegen die Seethiere führen, sind nicht neu,
ebensowenig wie diejenigen über den zn Lande wüthenden und
von den Eingeborenen selbst ins Werk gesetzten gegen die Pelz-
thiere, der namentlich den Zobelbestand arg gemindert hat.
— Die „Annalen der Hydrographie und maritimen
Meteorologie" bringen in dem vierten Heft des laufenden
Jahrgangs eine ausgedehnte Positionsliste von Plätzen
sn Niederländisch-Indien, so daß wir einen be-
sonderen Hinweis ans dies reichhaltige Vcrzeichniß für ge-
boten erachten. Unter vierzehn Titeln geordnet finden sich
hier nicht weniger als 206 geographische Ortsbestimmungen
eingetragen, die nach Länge und Breite meist bis ans Zehntel-
Sekunden genau berechnet sind. Als Ouelle hat eine 1887
erschienene Schrift gedient „Geographische Ligging van
verschillende Plaatsen in Nederlandsch -Indie“. Den
Sängen ist die zu oberst gesetzte Länge des Observatoriums
von Batavia (106" 48' 25,5" östl. v. Greenwich bei
0" 40,1" südl. Br.) zu Grunde gelegt, wonach die Orts-
längen ans Java — bis auf acht — telegraphisch er-
nuttelt wurden, während alle anderen durch Chronometer-
Uebertragungen aus einer der erstbestimmten Positionen
llwe Ableitung fanden. Für die Insel Java sind im
Ganzen 40 Positionen gegeben, für den Rhio (Rianw)-
Archipel (zwischen Singapore und dem Aequator) 16 —
Tut' Sumatra (Ost - und Westküste) 22 — für die Inseln
an der Westküste Sumatras 12 — für die Inseln Banka
und Billiton (im Osten und Westen der Gaspar-Straße)
je 7 und 5 — für die Westküste Borneos 15 — Südküste
8 — Ostküste 10 — für die Makassar - Straße und Ce-
lebes 46 — für die Molukken 22. Rechnet man hierzu
noch die Position für das englische Singapore (Flaggenmast
ans dem Hügel 1« 17' 36" nördl. Br. und 1030 50' 41"
östl. v. Gr.) und für zwei kleine Inseln in der Java-See,
so kommt die vorher bezeichnete Summe heraus.
Nordamerika.
— Der Commodore A. H. Markham ließ am 11. Juni
vor der Londoner Geographischen Gesellschaft einen Vortrag
über die Hndsonsbay und Hudsonsstraßc in ihrer
Bedeutung als Verkehrsweg verlesen. Die Ausdehnung
des Golfes beziffert sich danach aus 500000 engl. Quadrat-
meilen (circa 1 300 000 qkm) und die Tiefe im Durch-
schnitt ans 70 Faden. Stürme sind im Hochsommer weder
häufig noch furchtbar, das Meer ist vollkommen frei von
Klippen und treibenden Eisbergen, und selbst die Nebel sind
selten und von kurzer Dauer. Die Hudsonsstraße ist int
Minimum 45 Meilen (70 km) breit, 150 bis 300 Faden
tief, und ebenfalls gänzlich frei von Klippen und Untiefen.
Der Schiffahrt stehen ans diese Weise namentlich während
des August keinerlei natürliche Hindernisse entgegen, und der
Etablirnng einer Dampferlinie nach Fort Churchill mit
einer daran angeschlossenen Eisenbahn nach Winnipeg bieten
sich die besten Aussichten. Die Segelschiffahrt im allgemeinen,
und namentlich diejenige früherer Zeiten war vielmehr von
Wind und Wetter abhängig als die Dampfschiffahrt, aber
auch sie hatte in den fraglichen Gewässern von jeher unr-
einen sehr geringfügigen Procentsatz von Verlusten zn ver-
zeichnen. — Die bisherigen Vorstellungen von dem nördlichen
amerikanischen „Mittelmeere" waren bekanntlich wesentlich
andere. A. H. Markham darf sich übrigens bei seinen
Darlegungen ans die Erfahrungen und Anschauungen berufen,
die er im Jahre 1886 am Bord des „Alert" an Ort und
Stelle sammeln konnte.
— Die Aufnahme der kanadischen Binnenlands-
Gewässer, an der bereits seit fünf Jahren gearbeitet wird,
ist gegenwärtig etwa zur Hälfte vollendet. Augenblicklich ist
Commander Boulton mit der Untersuchung der Georgian
Bay beschäftigt, die durch die Gefahren, welche sie der
Schiffahrt bietet, sehr berüchtigt ist. Dann soll der Obere
See an die Reihe kommen. Vergl. „Nature“, vol. 38, p. 132.
— Aus Kalifornien kommen neue Berichte über das
Auffinden von Menschenspnrcn in Schichten, welche seither
unbestritten für tertiär gehalten wurden. Im Gebiete des
Sacramento-Flusses liegen ausgedehnte weiße Quarzsande,
welche ihres Goldgehaltes wegen unter Anwendung kolossaler
hydraulischer Maschinen abgebaut werden; dieselben haben an
der Aufrichtung der Sierra Nevada theilgenommen und sind
stellenweise bis zu 6000 Fuß über den Meeresspiegel er-
hoben, absolut unabhängig von dem heutigen Flußsysteme,
welches gegen 4000 Fuß tief in sie hineinschneidet; eine
ausgedehnte Basaltdecke hat sie früher überlagert, ist aber
nur an wenigen Stellen erhalten. In einem Seitenthale
des Sacramento, dem Spring Valley, hat man schon seit
mehreren Jahren in diesen Kiesschichten ausgehöhlte Steine
gefunden, welche offenbar von Menschenhand geformt waren
und als Mörser gedient hatten. Anfangs legte man dem
Vorkommen wenig Gewicht bei, aber seit durch die Entdeckung
des Talaveras-Schädels die Aufmerksamkeit der Kalifornier
ans die Reste des Tertiürmenschen gelenkt wurde, hat man
sie sorgsam gesammelt und bis jetzt schon gegen 300 zu-
sammengebracht. Diese Zahl schließt jeden Zufall ans; die
Mörser sind aus trachytischem Gestein gemacht, das sich sonst
48
Aus allen Erdtheilen.
in dem Kieslager nicht findet; sie find überhaupt die einzigen
größeren Steine im Kies. Einzelne hat man in situ noch
mit dem Stößer darin gefunden. Auch in natürlichen Fluß-
einschnitten kommen solche mitunter zum Vorschein, und diese
waren den früheren Bewohnern der Gegend, den Digger-
Indianern, wohl bekannt, wurden aber von ihnen mit aber-
gläubischer Scheu betrachtet und um keinen Preis berührt;
sie selbst bedienten sich überhaupt keiner Mörser, sondern
enthülsten die Eicheln, ihr Hauptnahrnngsmittcl, in Passenden
Felslöchern. — Seither hat man die weißen goldfiihrcndcn
Schichten des Sacrameuto-Thales, welche nmnittelbar auf zer-
setzten Kreideschichten auflagern, unbestritten für pliocänen
Alters gehalten. Ein genügender Beweis dafür ist allerdings
nicht erbracht, denn sie enthalten von Versteinerungen nur
schlecht konservirte Blattabdrücke, die Professor Ward nicht
einmal der Gattung nach sicher zu bestimmen wagte; die
Lava-Decke stammt aus Lassens Peak und wird gewöhnlich an
den Schluß der Pliocanzeit gestellt. Herr Skertchly, der
den Fundort neuerdings untersuchte und dem Londoner
„ Anthropological Institute“ darüber berichtete, möchte
die Kiese allerdings für ein Aeqnivalent der Eiszeitformation,
welche in Kalifornien fehlt, halten, aber er hat dafür keinen
anderen Beweis, als das Vorkommen der Mörser, die als
Menschemverk unter allen Umstünden dem Diluvium an-
gehören sollen.
— Die Bevölkerung der Republik Costarica —
der blühendsten unter den centralamerikanischen Republiken —
beläuft sich nach dem neuesten Census auf 193 144, was
gegen das vorhergehende Censusjahr (1883) eine Zunahme
von 11071 ergiebt.
Südamerika.
— Dem neuesten statistischen Jahrbuche der „Ver-
einigten Staaten von Venezuela" (1887) zufolge ist
diese Republik in einem rüstigen kulturellen und wirthschaft-
lichen Fortschritte begriffen. Ihre Einwohnerzahl bezifferte
sich am 1. Januar 1886 ans 2 198 320, die der Hauptstadt
Caracas ans rund 70 000, die von Valencia ans 36 000
und die von Maracaibo auf 32 000. — Der Außenhandel
belief sich im Jahre 1885 bis 1886 in der Einfuhr auf
47Vc Mill. Bolivars (circa 38 Mill. Mark), und in der
Ausfuhr ans 82*/z Mill. Bolivars (66,6 Mill. Mark).
An der Einfuhr waren betheiligt: die Nordamerikanische
Union mit reichlich 30Proc., England mit ziemlich 21 Proc.,
Frankreich und Deutschland je mit circa 19 Proc. Kaffee,
Gold, Kakao, Häute, Nutzhölzer und Toukabohnen waren die
Haupt-Ausfuhrartikel.
Australien und Polynesien.
— Die „Proceedings“ der Londoner Geographischen
Gesellschaft enthalten in ihrem Juni-Heft (p. 351 ff.) einen
ausführlichen Bericht über die Forschungen C. M. Wood-
ward's ans den Salomons-Jnseln. Dem Vernehmen nach
beabsichtigt der Reisende sich demnächst wieder nach diesem
Archipel zu begeben, um seine Untersuchungen weiter fortzusetzen.
— Indessen die Entwickelung des australischen
Schienenstraßennetzes in Victoria, Neu-Süd-Wales,
Queensland und Südaustralicn rapide Fortschritte macht, ist
vor Kurzem auch in Nordausträlien eine erste Strecke —
die zwischen Palmerston und Pine Creek — in Betrieb gesetzt
worden. Dieselbe verdient um so mehr Beachtung, als damit
der große transkontinentale Schienenweg auch von Norden
her in Angriff genommen worden ist.
Allgemeines.
— Die Vorbereitungen für den Internationalen
Geologen-Kongrcß, der sich am 17. September in
London versammeln wird, schreiten rüstig vorwärts. Dis-
kntirt soll besonders werden: die geologische Karte von
Europa; die Klassifikation der cambrischen und silnrischen
Formation sowie auch des Tertiär; das Wesen der krystallini-
schen Schiefer re. Mit dem Kongreß wird eine Ausstellung
von Karten, Büchern, Gesteinen rc. verbunden werden, und
außerdem sind auch verschiedene kleinere und größere Exkur-
sionen in Aussicht genommen.
Bnchcrscha u.
— Spiridion Gopöevio, Serbien und die Serben.
1. Band. Das Land. Leipzig 1888. B. Elischer. —
Die Aspirationen des Verfassers bei der Abfnssnng dieses
Werkes waren keine geringen, denn derselbe ging gemäß
seiner ausdrücklichen Erklärung darauf aus, ein „streng
wissenschaftliches, monumental angelegtes Werk" über Land
und Leute von Serbien zu schreiben. Im deutschen Schul-
sinne entspricht nun der uns vorliegende Baud den Anforde-
rungen, die man an ein solches Werk stellt, nicht. Dazn ist
es im ersten Kapitel zu elementar und skizzenhaft und in den
darauf folgenden bis zum siebenten zu journalistisch-touristisch
und zu snbjectiv. Nichtsdestoweniger halten mir das Buch
für ein außerordentlich verdienstvolles, und wir sind der
Meinung, daß cs thatsächlich eine schwer empfundene Lücke in
der staatenknndlichen Literatur ausfüllt. Die Kapitel acht bis
vierundzwanzig behandeln nicht, wie der Titel des Bandes
sagt, das „Land", wohl aber in sehr eingehender Weise das
serbische Wirthschafts- und Staatsleben, und sie stützen sich
dabei ans die besten vorhandenen Quellen. Die Ausstattung
des Werkes mit Abbildungeil und Tafeln ist eine prächtige,
und auch die beigegebene Karte verdient hohes Lob.
— Mehlis, Dr. C., Studien zur ältesten Ge-
schichte der Rheinlande. Zehnte Abtheilung. Mit vier
lithographirten Tafeln. Leipzig 1888. Dunker und Humblot.
Der bekannte pfälzische Altcrthumsforscher und Mit-
arbeiter unseres Blattes hat in dieser zehnten Abtheilung
seiner Studien eine Anzahl von in den verschiedensten Blättern
veröffentlichten Aufsätzen vereinigt, welche sich sämmtlich mit
den ältesten Befestigungsanlagen der Rhcinpfalz, von den
Ringwällen bis zu den ältesten Burgbauten mit Thürmen
und Bossenquadern beziehen. Der Autor verficht mit eben-
soviel Geschick als Glück die Ansicht, daß die Ringwälle,
wenn sie auch zum Theil schon aus der jüngeren Steinzeit
stammen, doch auch in den späteren Völkerstürmen — in der
Völkerwanderung, und aln Rhein selbst noch zur Zeit der
Normannen- und Hunneneinfälle — als Zufluchtsstätten gedient
haben, und daß aus ihnen direct unter dem Einfluß roma-
nischer Baumeister die ältesten Bnrganlagen hervorgegangen
sind. Die Sanunlung der zerstreuten und theilweise schwer
zugänglichen Aufsätze wird jedem Freunde der deutschen
Alterthnmsforschung sehr willkommen sein. Ko.
Inhalt: H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. — Camille Douls' Erlebnisse unter den Nomaden der
westlichen Sahara. III. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr. W. Breitenbach: Die Aufhebung der Sklaverei in Brasilien. —
Kürzere Mittheilungen: Die Gebirge Südfrankreichs. — Vom Pang-tse-Fluß. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. —
Nordamerika. — Südamerika. — Australien und Polynesien. — Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am
3. Juli 1888.)
Redakteur: Dr. E. Dcckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Braunschweig.
Wrt Drsonderer Herürüslchtrgung der Gthnologre, der Kulturber^ältrrrsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalteu
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die Färöer.
Von Dr. H. Sch unke.
I.
(Mit einer Karte und fünf Abbildungen.)
: Wo der Atlantische Ocean durch die Annäherung Grön-
lands an das nordwestliche Europa zu einem engen Kanäle
zusammengeschnürt wird, erhebt sich der Meeresboden aus
großen Tiefen und bildet eine unterseeische Bank, die nur
an wenigen Stellen die Tiefe von 250 Faden übersteigt.
Diese unterseeische Bodenschwelle verläuft von Schottland
nach Island und begründet die geographische Zugehörigkeit
Islands zu Europa und somit auch die der Färöer. Diese
kleine Inselgruppe erweckt in mehr als einer Hinsicht unser
besonderes Interesse. Alle Eigenthümlichkeiten des nordwest-
lichen Europa sind ja auf diesem engen Raume ausgeprägt.
Berücksichtigt man den geologischen Bau dieser Inseln, ihre
Fjorde und Küstenbildungen, ihr gleichmäßiges, feuchtes
Klima, ihre Erzeugnisse, ihre Bevölkerung, deren Lebens-
weise und Beschäftigungen, so kann man getrost die Be-
hauptung aussprechen: Die Färöer sind eine nordische Welt
i m Kleinen.
Von der nächsten Festlandsküste, der norwegischen,' ist
die Inselgruppe 600 km, von den Shctlandinseln 300 km
and von der isländischen Küste 450 irrn entfernt. . Sie be-
steht aus 26 größeren und kleineren Inseln, von welchen
jedoch nur 17 bewohnt sind. Durch einen breiteren Mceres-
arm, den Sudcröcfjord, werden die Inseln in zwei Gruppen
getheilt, in eine nördliche, von welcher die namhaftesten
Faglöe, Svinöe, Wideröe, Bordöe, Kunöe, Kalsöe, Oesteröe,
Globus UV. Nr. 4.
Stromöe, Waagöe, Myggenaes, Kolter, Hestöe, Naalsöe,
Sandöe, Skuöe, Store und Lilla Dimon sind, und in eine
südliche mit Suderöe und einigen kleineren. Die ganze
Inselgruppe liegt zwischen 61° 26' und 62° 24' nördl. Br.
und 6° 11' und 7° 35' westl. L. von Greenwich; die
äußersten Punkte sind auf der bcigegcbcncn Karte ein-
getragen. Verbindet man den südlichsten, östlichsten und
westlichsten Punkt durch Linien, so erhält man ein Dreieck,
dessen Westseite 93 km, dessen Nordseite 72,5 km und dessen
Südostseite 112 km lang ist; der Rauminhalt dieses Dreiecks
beträgt 3354 qkm und würde — auf norddeutsche Gebiete
übertragen — die Fläche zwischen Berlin, Neu-Strelitz und
Stettin bedecken. Der thatsächliche Flächenraum der Inseln
aber beträgt nur 1333 qkm — so viel als der des Herzog-
thums Sachsen-Altenburg — und davon kommen auf
Stromöe 385, auf Oesteröe 270, auf Suderöe 149 qkm.
Fast alle Eilande haben eine langgestreckte Gestalt und
streichen von Nordnordwest nach Südsüdost. Dieselbe Rich-
tung haben auch die meisten der schmalen Sunde und offenen
Fjorde, welche den nördlichen Theil der Gruppe trennen und
gliedern, sowie auch die breiteren Meerestheile im Süden —
der Suderöefjord, der Sknöefjord und der Skaapenfjord.
Manche Fjorde sind durch schmale Oncrdämme an ihrer
Mündung abgeschnürt und geschlossen. Offene wie geschlossene
Fjorde zeigen nur geringe Tiefen und setzen sich landein-
7
50
Dr. H. Schunke: Die Färöer.
wärts als tiefe Thäler fort. Keiner der geschlossenen er-
reicht an Tiefe die skandinavischen Seen oder die schottischen
Lochs, der tiefste hält 65 Faden. Unter den offenen ist der
nach Oesteröe tief einschneidende Skaalefsord mit 40 bis
50 Faden der tiefste. Nach Südwesten und Nordosten hin
fällt der Meeresboden steil ab; die Hundert-Fadenlinie ver-
läuft 30 bis 40 km von der Küste entfernt.
Der weitaus größte Theil der Inseln ist steil und hoch;
manche derselben bestehen nur ans schmalen Gebirgsgraten,
welche jählings aus einer oder auf beiden Seiten zum Meere
abstürzen. Die größeren Inseln, wie Stromöe, Oesteröe,
Suderöe u. a., zeigen wohl einige Mannigfaltigkeit im
Oberflächenban, doch besitzen auch sie durchweg gebirgigen
Charakter und nur wenig ebenes Land. Die äußere Ge-
stalt der Hügel- und Gebirgslandschaft zeigt unregelmäßige,
flach zugespitzte Massen, scharfe Grate, jähe, steile Abhänge —
mit einer Neigung von 25 bis 30° — einen ausgeprägten
Stufencharakter und Anhäufung von herabgestürzten Blöcken
und Trümmern auf den einzelnen Absätzen. Die höchsten
Erhebungen sind der Slattaretind auf Oesteröe, 970 m hoch,
und das Skiellingcfjeld auf Stromöe, 800 m hoch; zahlreiche
andere Gipfel bleiben nur 50 oder 100 m hinter diesen
höchsten zurück, so daß die durchschnittliche Erhebung dieser
beiden Inseln 300 m beträgt. Die übrigen Inseln sind
ebenfalls alle hoch und gebirgig; auf Waagöe erhebt sich der
Stojatind über 600 m; von gleicher Höhe ist der höchste
Gipfel auf Kuröe; 550 m der im Nordosten von Kalsöe;
380 m der auf Naalsöe, Thorshavn gegenüber; und der
höchste Punkt auf Suderöe, das Kvannafjeld, ist 540 m hoch.
Eine ganz charakteristische Erscheinung für die Färöer
sind die zahlreichen und sehr schön ausgebildeten Thäler.
Sie sind nur Fortsetzungen der Fjordenbctten und im Ber-
3
52
Dr. H. Schunke: Die Färöer
hältniß zu ihrer geringen Länge recht breit. Ein solches
Thal zieht sich vom Fjorde aus 3 bis 5 km weit von hohen
Felsenwänden eingeschlossen dahin und erweitert sich plötzlich
zu einem amphitheaterartigen Thalkessel — zu einem Circus-
thale, welches ringsum von terrassenartigen Felsenwällen
umrahmt wird. Die Circnsthäler sind eine Eigenthümlich-
keit der Färöer. Die Thalsohle erhebt sich 40 bis 50, ja
100 m, das Thal setzt sich ans dieser Stufe weiter fort und
wiederholt die Circnsbildung zwei, drei oder mehrere Male,
um dann auf der Hochfläche in ein anderes Thal unter den-
selben Erscheinungen abzufallen oder mit einem steilen Ab-
sturze zum Meere zu endigen. Die Wasserscheide zwischen
zwei solchen Thälern ist so wenig ausgeprägt und so un-
deutlich, daß es oft schwer fällt, dieselbe genau festzustellen.
Ein treffliches Beispiel bietet das Kolfaredal, aus dem
Kollefjord nach Leinum, auf Stromöe. Die Scheitelstrecke
dieses Hohlpasses liegt nur etwa 80 m über Meer, wird
aber von 600 m hohen Seitenwänden überragt. Ein ähn-
liches Querthal findet sich auf derselben Insel zwischen
Saxen und Qvalvig; auf Oesteröe verbindet in gleicher
Weise ein langer, ebener, niedriger Paß das Ende des
Fnndingfjordes mit dem des Skaalefjordes, und auf Sandöe
und Suderöe sind ähnliche Erscheinungen zu verzeichnen.
Würde das Meer um 80 oder 100 m steigen, so würden
viele dieser Thäler als Sunde erscheinen; Stromöe würde
drei Inselklippen, Oesteröe zwei, Boröe ebenfalls zwei,
Sudoröe drei Inseln bilden. Zuweilen öffnen sich die
Circnsthäler geradenwegs zum Meere mit steilem Abfall
Der Trelle Nypen.
und stellen alsdann den oberen Theil eines Thales dar,
dessen unteres Ende durch die Abnagung des Meeres weg-
gerissen worden ist. Ein Beispiel eines solchen Falles
findet sich auf Oesteröe, zwischen dem Andafjord und
Fuglefjord; dieser Circus ist 1 km lang und ebenso breit;
und ein anderes in dein schönen Zirkelthale (1 km lang,
20 m breit), welches plötzlich bei dein steilen Felsen Tiödne-
naes ant Südufer des Qvalböefjordes ans Suderöe ab-
geschnitten ist. Auch im Hügel- und Berglande finden sich
bis zu einer Höhe von 400 m vereinzelte Circnsthäler; ihre
Gewässer stürzen sich in zahlreichen Wasserfällen zum Meere
hinab. Die Hochthäler auf Stromöe und Oesteröe liefern
auch hierzu treffliche Beispiele.
Ihrem gebirgigen Charakter entsprechend zeigen die
Inseln durchweg steil abstürzende Küsten. Manche Inseln
haben nur wenige Stellen, wo eine Landung betvirkt werden
kann. So besitzt Store Diinon nur einen Landungsplatz,
und auch dieser ist nur bei ruhigem Wetter zugänglich.
Eine gewöhnliche Besteigung der Insel ist jedoch auch dann
noch der Steilheit der Wände halber unmöglich: es müssen
vielmehr Menschen und Güter an Seilen in die Höhe ge-
zogen werden. Die großartigsten Küstenbildnngen finden
sich auf Stromöe, von Westmanhavn bis Stakken (an der
äußersten Nordspitze). Felsenwände von 600 m Höhe stürzen
hier senkrecht zum Meere ab, und bei Myling, an der
Nordwestspitze von Stromöe, erreichen dieselben sogar die
Höhe von 700 m. An derselben Küste erheben sich
zwischen Saxen und Munlen auch alleinstehende Felsen-
massen und einzelne Basaltsänlen, die sich recht wohl mit
architektonischen Kunstwerken, Orgeln u. bergt, vergleichen
Dr. H. Schunke: Die Färöer
53
lassen. Aehnliche steile Felsen, wenn auch von geringerer
Höhe, finden sich aus Oesteröe, Waagöe und anderen Inseln.
Der Volksglaube schreibt hier, wie auch anderwärts in der
Welt, die Entstehung solcher wilden Felsenwände bösen
Mächten zu und belegt sie mit dem Namen Teufelsmauer,
Hexenküche u. s. w. Unsere Abbildung (2) zeigt die Felsenwand
„Trelle Nypen“ (Hexenfestung) von der äußersten Süd-
spitze von Waagöe. Alle Wände haben eine so frische
Bruchfläche, als ob der Absturz eben erst erfolgt wäre.
Ueberhaupt zeigt sich wohl an wenigen Stellen der Erde
die zerstörende und abnagende Kraft der Meereswogen in
so augenfälliger und großartiger Weise wie an den Färöer.
Selbstverständlich sind die dem offenen Oceane zugekehrten
Westküsten weit mehr der Vernichtung ausgesetzt als die ge-
schützteren Ostküsten. Ueberall ist die Küstenlinie zerklüftet,
unterwühlt und ausgewaschen, so daß bald nur noch einzelne,
bis 150 m hohe Säulen, „Drangar" (Einsiedler) genannt,
stehen geblieben, bald tiefe Höhlen entstanden sind, die an
düsterer Erhabenheit den benachbarten schottischen Küsten-
inseln durchaus nicht nachstehen; bald hat das Meer riesige
Felsenthore durchwaschen, deren Decke 100 m und mehr
Uber dem Meeresspiegel liegt (Siehe die Abbildung der
Sodagjoöbrücke Seite 51) und noch ist das Meer fort-
während thätig, den letzten bestehenden Rest dieser basaltischen
Klippen zu verschlingen, so daß sich für manche kleineren
Eilande die Zeit bestimmen läßt, wenn sie nicht mehr sein
werden. So wurde — um nur ein Beispiel aus der
Neuzeit anzuführen — am 7. November 1885 der Felsen
Munken (Mönch), der südlichste Punkt der Gruppe, der bis
dahin den Seefahrern als Wahrzeichen gedient hatte, vom
Meere verschlungen. Ein anderes lehrreiches Beispiel für
die zerstörende Thätigkeit des Meeres bietet das Jnselchcn
Tindholm im Westen von Waagöe, einer der malerischsten
Felsen der ganzen Inselgruppe (S. Abbildung 3). Offenbar
ist diese Klippe zuerst durch die Bildung des Dragsundes
von der Hauptinsel losgcsprengt worden, alsdann haben die
Wogen einzelne Stellen unterwühlt und Einstürze und eine
weitere Zertrümmerung verursacht, an anderen Stellen aber
Tindholm.
den lockeren Basalt völlig durchwaschen, so daß sich hier das
eigenartige Schauspiel der Bildung von Höhlen und Felsen-
thoren mehrfach wiederholt.
Alle diese sonderbaren Erscheinungen in den Umrissen
und im Oberflächenbau finden ihre Erklärung in dem geo-
rgischen Bau der Färöer und in den Kräften, welche
während der Eiszeit und nach derselben auf den Inseln ihr
Spiel getrieben haben.
Der geologische Bau der Inseln^) ist ein sehr einfacher:
Sie bestehen ans über einander geschichteten Decken basaltischer
Gesteine mit dazwischen geschalteten Lagen von Tuff, und
stuf Myggenacs und Suderöc auch mit Schichten von Lehm,
*) Vergleiche: James Geikie, On tlie Geology of the
aeröe Islands (Transactions of the Royal Society of
Edinburgh. Vol. XXX, Part I, 1880—1881, p. 217); und
Rolland, Om Faeröernes Geologi (Geografisk
mskrift af Kgl. danske geogr. Selskab. 4. Bind. Aar-
j?dng 1880). Beide gelehrte Forscher untersuchten 1879 den
äs? .östchen Bau der Inseln; ihre vortrefflichen Arbeiten decken
cy7 „nu wesentlichen und stellen Alles, was bisher über die
geliefert worden ist, in den Schatten. Siehe ebenda wei-
lte Quellennachweise.
Thon und Kohle. Am Kollefsord und Kalbacksfjord auf
Stromöe lagern zwischen dem Meeresspiegel und 450 m
Höhe zwanzig Decken Basalt, die durch Tussschichten von
einander getrennt sind. Die Gcsammtmächtigkeit der basal-
tischen Formation wird auf den nördlichen Inseln bis zu
3000 m berechnet. Die ältesten Bildungen treten auf
Suderöc und Myggenacs zu Tage, nämlich die kohleführenden
Schichten; unter diesen liegen noch bis zu einer Tiefe von
1200 m eruptive Gesteinsmassen. Die Basaltschichten
streichen und fallen auf den nördlichen Inseln nach Südost,
auf Suderöc ist die Neigung der Schichten eine nördöstliche.
Die petrographischc Zusammensetzung der Basalte auf den
verschiedenen Inseln und in den verschiedenen Lagen zeigt
nur geringe und unwesentliche Abweichungen; sie zeigen die
größte Verwandtschaft mit den schottischen, irischen, isländi-
schen und Nordamerikanischen Basalten H.
Man hält die Färöer für die spärlichen Neste eines
früheren, über weite Strecken sich ausdehnenden Hochlandes,
Z Bergt. Dr. A. Osann: Ueber einige basaltische Gesteine
der Färöer. Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und
Paläontologie. Jahrg. 1884, I. Bd., S. 45'.
auf welchem gewaltige Vulkane, denen die basaltischen Massen
entquollen, standen. Dieses ausgedehnte Hochland ist durch
zerstörende Kräfte aller Art, durch Meereswogen und Ab-
waschung der Oberfläche, vernichtet worden. Ehedem war
man der Ansicht, die Basaltdecken seien das Erzeugniß
unterseeischer vulkanischer Ausbrüche und die dazwischen-
Festuugsanlageu von Thorshavu.
liegenden kohleführenden Schichten seien durch angesammeltes eine unterseeische Bildung der Basaltdecken, weil in den
Treibholz entstanden; in neuerer Zeit bestreitet man jedoch Tuffschichten nirgends Reste von Lebewesen des Meeres
Dorf Eide nebst Fjord.
zu finden seien, die kohleführenden Schichten nur aus Resten
von Landpslanzcn bestünden, und das Verhalten der Basalt-
schichten ganz das von gewöhnlichen Lavaströmen sei.
Zweifelhaft bleibt nur, ob die Massen ans einer großen
Spalte hervorgedrungen sind, oder ob sie mehreren vul-
kanischen Herden entstammen; die letztere Ansicht hat —
I. von ©o et ne: Ueber die Schwankungen des Wnsserstandes im Kaspischen Meere rc.
55
zieht man die petrographische Zusammensetzung in Betracht —
die meiste Wahrscheinlichkeit für sich. Jedenfalls aber hat
der Herd dieser gewaltigen Ausbrüche in größerer Entfer-
nung von den Färöer und gewiß im Westen derselben ge-
legen. Für diese Annahme spricht die durchgängige Nei-
gung der Schichten und Decken nach Osten, sowie auch die
geringe Tiefe des Meeres im Westen der Inseln und nach
Island zu. Die wenig festen Basalte und die noch lockereren
Tuffe setzten dem Anprall der Mcercswogcn nur geringen
Widerstand entgegen, wie wir bereits früher gesehen haben.
Ein weiterer zerstörender Faktor war das Eis. Auch
die Färöer haben ihre Eiszeit gehabt, und man hat auf allen
Inseln und sehr häufig die Spuren der einstigen Ver-
gletscherung nachweisen können. Als solche gelten Gletscher-
schliffe, Ritzen und Schrammen in anstehendem Gestein,
Rundhöcker — felsige Hügel, welche durch das darüber
geglittene Eis auf der Stoßseite glatt polirt worden sind,
auf der Leeseite aber alle ursprünglichen Unebenheiten
bewahrt haben ■— und in den Thalfohlen die Grund-
moräne der einstigen Gletscher, welche den sogenannten Ge-
schiebelehm liefert. Aus der Richtung der Ritzen und
Schrammen kann man mit Leichtigkeit die Richtung der
Eisbewegung erkennen. Es lag die Vermuthung nahe, die
ungeheure Eismasse, welche zur Eiszeit den größten Theil
des nördlichen Europa bedeckte, möchte sich bis zu den Färöer
erstreckt und auch diese mit überzogen haben. Dem ist aber
nicht so *). Die Färöer haben vielmehr eine eigene, völlig
abgesonderte Eisdecke gehabt, welche sich von der Mitte der
Inselgruppe aus strahlenförmig nach allen Richtungen hin
bewegte. Diese Annahme wird nicht bloß durch die Rich-
tung der Gletscherschliffe bestätigt, sondern vornehmlich da-
durch, daß der Geschiebclehm nur die Trümmer einheimischer
Gesteinsartcn enthält, und daß dem Gerölle der Inseln
fremdartige Gesteinsmassen — sogenannte Findlinge —
welche die Eismassen vom Festlande mitgebracht haben
würden, fast völlig fehlen. Die wenigen erratischen Blöcke,
welche sich an der Flachküste von Thorshavn finden, sind
ohne Zweifel durch zufällig angetriebene Eisschollen über-
*) Vergl. James Geikie, krellistoria lüuroxs; ebenda die
anschauliche Karte.
geführt worden. Da sich die Spuren der Vergletscherung
bis in die Höhe von 500m wohl nachweisen lassen, so muß
das Gletschereis eine Mächtigkeit von mindestens 500 bis
600 m gehabt haben. Als daun diese mächtige Eisbe-
deckung zusammenschmolz und schwand, müssen die großen
Massen der Schmelzgewässcr die wenig festen basaltischen
Schichten furchtbar durchwühlt und abgewaschcn haben.
Vielleicht sind dieselben noch in wirksamer Weise von hef-
tigen atmosphärischen Niederschlägen am Ende der Eiszeit
und nach dem Abgänge derselben unterstützt worden. Das
Ergebniß dieser überaus starken Auswaschung ist die jetzige
Oberflächenbeschasfenheit des Landes; ihr verdanken namentlich
die Circusthäler, die engen Schluchten und selbst die Fjorde
ihre Entstehung. Im Verhältniß zu den großartigen Zer-
störungen, welche die Schmelzwässer der Eiszeit auf die
Oberfläche ausgeübt haben, ist der Betrag der heutigen
überaus gering; ans Rechnung dieser sind nur unbedeutende
Einschnitte in den Thalsohlen, in denen sich die heutigen
Flüsse bewegen, zu setzen.
Die heutigen klimatischen Verhältnisse der Inselgruppe
stehen selbstverständlich ganz unter dem Einflüsse des Golf-
stromes. Die mittlere Julitemperatur beträgt 12« C. und
die mittlere des Januar 3° C.; es herrscht also ein sehr
gleichmäßiges Klima. Den Verhältnissen entsprechend ist
der Feuchtigkeitsgehalt der Luft eiu sehr hoher; die häufigen
und dichten Nebel und die große Menge der feuchten
Niederschläge bekunden dies zur Genüge. In Thorshavn
fallen jährlich etwa 2000 mm Niederschläge, die sich auf
267 Regentage vertheilen. Lästig sind die häufigen und
heftigen Stürme, von welchen die Inseln heimgesucht werden,
und die ans den Hochflächen keinen Banmwuchs auskommen
lassen. Starke Winde treiben die Gewässer in die Fjorde
hinein und durch die Sunde hindurch, und erzeugen Strö-
mungen und Strudel, die ebenso berüchtigt sind, wie die
Scylla und Charybdis im Alterthum, und zwar mit viel mehr
Recht, denn es entstehen dadurch sehr heftige Meeresbewe-
gungen, auf welche die Küstenfahrer sorgfältig zu achten
haben. Daneben erzeugen diese Strömungen an der Sohle
der Sunde sowie au den Usern derselben durch Abnagung
sehr beträchtliche Veränderungen.
Ueber die Schwankungen des Wasserstandes im Kaspischen Meere, im
Schwarzen Meere und in der Ostsee in ihrer Beziehung zur Witterung.
Von I. v 0
Mit Recht schreibt man den Winden einen Einfluß auf
den höheren oder niederen Wasserstand der mehr oder minder
von den Oceanen abgeschlossenen Meeresräume zu. Ist dieser
Einfluß aber für Perioden von kurzer Dauer als ein voll-
berechtigter anzusehen, so tritt er doch zurück bei Ermittelung
der Ursachen, welche eine langsam sich vollziehende Aende-
rung der mittleren Wasscrstände eines Mccresranmcs zur
Holge haben.
So zeigen das Kaspische, das Schwarze Meer und die
Tstsee dentlich eine Jahres-Periode, wenn man die mittleren
Wasserstände der verschiedenen Monate einer Vergleichung
unterzieht.
Erst in neuester Zeit scheint cs Dr. E. Brückner in
Hamburg gelungen, eine natürliche und annehmbare Er-
G o c r n e.
klärung des letztgenannten Phänomens zu geben, nachdem
schon seit Jahren durch namhafte Hydrographen Versuche
in dieser Richtung gemacht worden waren.
Die einen wollten die Erklärung der Aenderung des
Wasserspiegels der Ostsee ausschließlich auf Rechnung der
Windverhältnisse gesetzt wissen, so daß nördliche und östliche
Winde, indem sie das Wasser zur Nordsee drängen ein
Sinken, westliche dagegen ein Steigen des Ostseespicgels
hervorrufen. Von der höheren oder niederen Temperatur,
sowie von deut Luftdruck und Niederschlag wurde ganz ab-
gesehen. Dem letzteren räumte man einen besonderen Einfluß
auf die mittleren Wasserstände nicht ein. Nachdem nun aber
Seibt (1885) gezeigt, daß die Bewegung der Wasserslände
in den einzelnen zur Beobachtung gekommenen Jahren durch-
56
I. von Goerne: Ueber die Schwankungen des Wasserstandes im Kaspischen Meere rc.
aus nicht so trefflich mit den Windverhältnissen übereinstimmte,
wie man bisher annahm, so mußte man sich zur Begründung
der gedachten Erscheinung anderen Ansichten zuwenden.
Seibt glaubt dieselbe nun in einer jährlich wieder-
kehrenden, der Deklination der Sonne folgenden Fluthwelle
suchen zu sollen, welche in den Nebenmeeren — hier also der
Ostsee — zur Erscheinung kommt, während sie in den Oceanen
durch die täglichen Ebbe- und Flntherscheinungen völlig ver-
dunkelt wird. Von anderer Seite (v. Maydell) leugnete man
diese Ansicht, fand aber keine andere Erklärung der periodi-
schen Schwankungen der Wasserstände in geschlossenen
Meeren. Es ist dies um so mehr zu verwundern, als gerade
der letztgenannte Forscher zuerst für das Schwarze Meer den
Nachweis beibrachte, daß die Aenderung des Mittelwassers
alljährlich eine Folge der veränderlichen Niederschlagsmengen,
also auch einer verschiedenen Wasserführung der Flüsse sei.
Wie im Folgenden nun des Näheren gezeigt werden
soll, hat Dr. E. Brückner diesen Gedanken aufgenommen
und weiter verfolgt; er führt den Beweis für seine Nichtig-
keit an der Hand von Beobachtungen, welche während einer
langen Reihe von Jahren mit großer Sorgfalt in den oben
genannten drei Meeren ausgeführt worden sind.
Am schlagendsten gelingt der Beweis natürlich für das
Kaspische Meer. Hier stehen zwei Beobachtungsstationen
(Baku, 25 Jahre, und Aschur-Ade, in der Bucht von Astrabad,
17 Jahre) zur Verfügung. Aus den dortigen Beobachtungen
ergiebt sich der niedrigste Wasserstand für den Monat März,
der höchste für den Juli und August. Die Amplitude der
Schwankung beläuft sich auf über 0,3 m, woraus sich auf
eine Volumänderung von etwa 165 cbkm schließen läßt.
Da btcfe Aenderungen des Wasserstandcs alljährlich mit
großer Regelmäßigkeit stattfinden, und die monatlichen
Pcgelhöhen der Wolga zu Astrachan mit denen des Kaspi-
schen Meeres zur Winter- und Sommerzeit gut überein-
stimmen, so dürfte ein Zweifel an dem ursächlichen Zu-
sammenhange zwischen der Wasserzufnhr durch die Wolga
und der Höhe des Meeresspiegels ausgeschlossen sein. Hierbei
ist noch zu bemerken, daß eine sehr erhebliche Verspätung
(11/2 Monat) des höchsten Standes des Meeres gegen den
der Wolga stattfindet. Gerade dieser Umstand spricht
wesentlich für den ursächlichen Zusammenhang beider Phä-
nomene: ist nämlich das eigentliche Hochwasser der Wolga
abgeflossen, so wird der Meeresspiegel so lange steigen, bis
die gegen den Juli und August hin stark zunehmende Ver-
dunstung von der Oberfläche die Wasserzufnhr paralysirt.
So leicht nun, wie beim Kaspischen Meere ist der
ursächliche Zusammenhang beim Schwarzen Meere aller-
dings nicht einzusehen, indessen ist es Dr. Brückner auch
hier an der Hand der vorliegenden Daten gelungen, die
jährliche Schwankung auf die Wasserführung der Zuflüsse
— insbesondere der Donau, des Dnjepr und des Don —
nachzuweisen. Auch hier zeigt sich wie im Kaspischen Meere
eine Verspätung der Epochen, wenngleich dieselbe erheblich ge-
ringer ist: im April und Mai zeigt sich der höchsteStand der
Flüsse, und schon im Mai und Juni der höchste des Meeres-
spiegels. Vielleicht konnte für diese Verschiedenheit die ungleich
schnell vor sich gehende Erwärmung und die damit gleichen
Schritt haltende Geschwindigkeit in der Verdunstung der
Wassermassen beider Meere geltend gemacht werden.
Ein zwar sekundärer, aber doch immerhin beachtens-
werther Factor für die Bildung des sommerlichen Maximums
ist übrigens auch in der Ausdehnung der Wassermassen
durch die Wärme zu erkennen; dieselbe beträgt im Schwarzen
Meere bei der Erwärmung von der Februar- auf die Mai-
temperatur ca. 44 cbkm.
Gehen wir nun zur Betrachtung der jährlichen Schwan-
kungen des Spiegels der Ostsee über, so finden wir hier
naturgemäß ungleich complicirtere Verhältnisse, als sie die
oben genannten Meere darboten.
Zwar findet sich auch hier im Sommer der höchste und
im Frühjahre der niedrigste Wasserstand. Jedoch gestaltete
sich dies bei den einzelnen Beobachtungsstationen allerdings
nicht mit so absoluter Regelmäßigkeit, wenn man statt der
Mittel für die Jahreszeiten die für die einzelnen Monate
nimmt: es ergab sich nämlich für den Beobachtungsort
Swinemünde während der drei Jahrzehnte von 1855 bis
1884, daß außer den schon erwähnten Minimis im Winter
und den Maximis im Sommer der November im ersten jener
drei Decennien ein Minimum, im zweiten ein erhebliches
Maximum und im letzten ein wesentlich geringeres Maximum
aufwies, woraus sich schließen läßt, daß bei der Ostsee noch
andere Faktoren als die hier unwesentlich erscheinenden
Wasserznslüsse thätig sein müssen, um das Niveau derselben
zu heben oder zu senken. Zu letzterer Schlußfolge ist man
um so mehr gedrängt, als für die Oder für eine lange
Reihe von Jahren im August ein Minimum, für die Ostsee
dagegen ein Maximum beobachtet wurde.
Bei den skandinavischen Flüssen (dem Glommen) dagegen
treffen die Maxima mit denen der Ostsee annähernd zu-
sammen. Da hiernach die Flüsse am Steigen und Sinken
des Ostseespiegels nur geringen Antheil zu haben scheinen, so
muß man andere Gründe für den hohen Wasserstand des Som-
mers geltend zu machen suchen. Zu diesen sind einerseits viel-
leicht die direct aus die Meeresfläche niederfallenden Regen-
mengen und andererseits die thermische Ausdehnung des
Wassers zu betrachten. Letztere veranschlagt man auf
30 cbkm, ein Volumen, welches ein Heben des Ostsee-
spiegels um 8 ein darstellt. Freilich wird die letztere Zahl
durch die in der warmen Jahreszeit zunehmende Verdunstung
modificirt.
Ist nun ans allen diesen Daten ersichtlich, daß die Ver-
hältnisse, die in der Ostsee das Niveau beeinflussen, er-
heblich verwickeltere sind, als im Kaspischen und Schwarzen
Meere, so möchte man sich doch der Ansicht zuwenden, daß es
im wesentlichen die Windverhältnisse sind, welche den Ostsee-
spiegel heben und senken. — Glaubt man nun in dieser
Weise einen wahrscheinlichen Grund für die jährliche Periode
des Wasserstandes der Ostsee gefunden zu haben, so harrt
noch eine andere Erscheinung der Erklärung; es betrifft
dies die säkularen Schwankungen des Wasserspiegels.
Schon int Verlaufe weniger Jahre nimmt man wahr, daß
der mittlere Wasserstand jedes geschlossenen Wasserbeckens
ein anderer ist. Welche Gründe hierfür bei den in die Be-
trachtung gezogenen drei Meeren für diese Erscheinung an-
geführt werden können, soll im weiteren erläutert werden.
Im Kaspischen Meere, welches seine Wassermasscn, die
durch Verdunstung verschwinden, nur durch den Regen und
die Zuflüsse wieder ersetzen kann, nahmen wir in längeren
Zeiträumen sehr erhebliche Schwankungen des gesammteu
Wasserspiegels wahr. Die Beobachtungen, in Baku und
Aschur-Ade ausgeführt, sind auf einen gemeinsamen Nnll-
pnnkt bezogen und zeigen, daß in der Zeit von 1851 bis
1865 das Niveau des Kaspischen Meeres ein niedriges
war, und daß von 1866 ein stetiges Steigen (bis um 0,75 m)
stattgefunden hat. Da die Beobachtungen an beiden Orten
in gleicher Deutlichkeit zu Tage traten, so muß die Annahme,
als könnten Fehler vorliegen — veranlaßt etwa durch Boden-
schwankungen, wie dies bei dem naphtareichen Baku immer-
hin denkbar wäre — abgewiesen werden. Für das Schwarze
Meer sind die Beobachtungen noch ein wenig kurz, doch zeigt
sich auch hier, daß bis 1880 ein Ansteigen des Wasser-
spiegels, also wie im Kaspischen Meere, stattgefunden hat.
Auch die Ostsee bietet ein analoges Bild, wenngleich
die Unterschiede im Niveau hier nicht nach Decimetcrn,
I. von Goerne: Ueber die Schwankungen des Wa'serstandes im Kaspischen Meere rc.
57
sondern nur nach Centimetern gemessen werden können;
indessen sind sie auch hier so markant, daß sie nicht wohl
Beobachtnngsfehlern u. s. w. zugeschrieben werden können.
Die beifolgende graphische Darstellung (Figur 1) zeigt
dies überdies so deutlich, daß Zweifel in der That
Ng. 1.
Ostseepegel.
Maßstab der Ordinaten zur Natur 1 : 10.
1846/50 51/55 56/60 61/65 66/70 71/75 76/80
ausgeschlossen erscheinen. Wie man ersieht, verlaust die
Bewegung des Wasserstandes auf den drei dargestellten
Stationen Neufahrmasser, Swinemünde, Travemünde in
demselben Sinne, wobei noch bemerkt werden muß, daß auch
sieben andere Stationen fast den gleichen Verlaus der Kurve
in denselben Jahren ausweisen.
Bei weitem großartiger sind aber die Schwankungen des
Meeresspiegels im Kaspischen Meere, denn sie bringen hier
geradezu Aenderungen der Küstenumrisse hervor: Inseln
werden bald über dem Wasser sichtbar, bald verschwinden sic
wieder, sie werden zu Halbinseln, und zeigen sich wieder als die
ersteren. Ist es da zu verwundern, daß die Menschen schon
frühe diesen Erscheinungen ihre Aufmerksamkeit schenkten? —
So weit nun Beobachtungen über die Ostsee und das Kas-
pische Meer vorliegen, kann man als Resultat derselben mit
Sicherheit den Satz anssprechen: das Kaspische Meer so-
wohl wie die Ostsee zeigen Schwankungen ihres Spiegels,
die in lang andauernden Perioden in beiden Meeren gleich-
zeitig und parallel verlaufen. Die Schwankungen des Ost-
seespiegels besitzen aber die bei weitem geringere Amplitude.
Wie als bekannt vorausgesetzt werden darf, zeigen die
Gletscher Perioden, welche in einem Vorstoßen und Zurück-
weichen derselben bestehen. Bei näherer Betrachtung dieser
Perioden hat sich nun das Resultat ergeben, daß dem Vor-
stoßen der Gletscher ein Steigen, dem Zurückweichen ein
Fig. 2.
Säkulare Schwankung des Wasserstandes der Oder,
Weichsel und des Memel-Flusses.
Maßstab der Ordinaten zur Natur 1 : 100.
Sinken des Kaspischen Meeres entspricht, derart, daß die
letztere Bewegung der der Gletscher voraus ist. Dies hängt
nun, wie eingehende Untersuchungen und Beobachtungen
über die Niederschlagsmengen im Gebiet des Kaspischen
Meeres gezeigt haben, mit diesen zusammen: den Schwan-
kungen des Kaspischen Meeres entsprechen die Schwan-
Globus UV. Nr. 4.
Jungen der Niederschlagsmengen, und diesen wiederum in
langen Perioden sich zeigende Schwankungen der Witterung,
die K l i m a s ch w a n k u n g e n.
Um auch für die Ostsee die Ursachen zu erkennen, welche
die säkularen Schwankungen ihres Wasserstandes be-
dingen, unterziehen wir die Wasserführung ihrer Zuflüsse
einer näheren Betrachtung. Am deutlichsten giebt den Zu-
sammenhang hier die beistehende graphische Darstellung der
wichtigsten Nebenflüsse der Ostsee: der Weichsel, der Oder
und des Memelflusses (Fig. 2) im Vergleich mit Figur 1.
Die Beobachtungszahlen sind so dargestellt, daß einer Aende-
rung des Wasserstandes um 20 ein eine Aenderung der
Ordinate um 2 mm entspricht.
Unzweifelhaft wird klar, daß die Bewegung des Wasser-
standes schon dieser beiden Flüsse mit der Bewegung des
Wasscrstandes von Lustrum zu Lustrum fast parallel geht.
Eine Entscheidung ist nun noch zu fällen: ob nämlich
beiden Erscheinungen eine gemeinsame Ursache zu Grunde
liegt, oder ob eine die Ursache der andern ist.
Denkbar wäre es, die Windverhältnisse als gemeinsame
Ursache beider Erscheinungen anzusehen: die regenbringenden
Westwinde stauen die Ostsee und erhöhen das Flußniveau.
Die trockenen Ostwinde beeinflussen das Sinken beider Spiegel.
Indessen zeigt die Beobachtung von Zahlen einzelner Meeres-
stationen , daß die Bewegung des Wasscrstandes der Ostsee
sich dem der nächstgelegeuen großen Ströme mehr als denen
entfernterer Theile anschließt: die Abhängigkeit des Ostsee-
Niveaus und der Wasserführung der Flüsse ist dargethan.
Da wir nunmehr überzeugt sein dürfen, das die säku-
laren Schwankungen des Kaspischen Meeres, der Ostsee
und auch — auf Grund anderer, freilich eine kürzere Zeitdauer
umfassender Beobachtungen — die des Schwarzen Meeres, sich
auf die Schwankungen des Wasserstandcs der Flüsse und
deren Zufuhr zurückführen, und letztere uns zweifellos auf
säkulare Schwankungen der Niederschläge schließen lassen, so
können wir nunmehr wohl auch, ohne auf Widerspruch zu
stoßen, behaupten, daß die säkularen Schwankungen
der Pegelbeobachtungen in Flüssen und Meeren
auf säkulare Schwankungen des Klimas einen
Schluß gestatten. Da diese Ansicht außer durch die an-
gedeuteten Beobachtungen auch in der von Lang verfaßten Ab-
handlung über die Erklärung der Größenänderung der Glet-
scher der Alpen durch analoge Schwankungen des Niederschlages
uud gleichzeitige der Temperatur eine Stütze findet, so ist das
Gebiet, für welches eine Klimaschwankuug als erwiesen zu er-
achten ist, ein erhebliches zu nennen. Es umfaßt die Gebiete jener
drei zur Beobachtung gekommenen Meere, sowie auch der
Nordsee und der Alpen, so daß mau sagen darf: fast ganz
Europa ist nahezu gleichzeitig gleichsinnigen Klimaschwan-
kungen unterworfen. Fragt man weiter, ob auch andere
weiter entferntere Gebiete — etwa die asiatischen — gleiche
oder ähnliche Phänomene erleben, so kann diese Frage bejaht
werden: auch in Baruaul und Ncrtschinsk gemachte Beobach-
tungen über Niederschlagsmengen lassen eine Theilnahme
jener Gegenden an der Klimaschwankuug erkennen. Ähn-
liches lehren für Nord-Afrika die Schwankungen des Nil-
wafscrs in einzelnen auseinander folgenden Lustren. Auch
in Nord-Amerika zeigt sich Analoges in der Hebung und
Senkung des Spiegels der großen Seen, insbesondere des
Michigan-Sees. Letzterer, der bis gegen 1860 gesunken
war, ist seitdem um 3 m gestiegen.
So ergiebt sich denn das Resultat, daß die Länder der
nördlichen Halbkugel gegenwärtig zu gleicher Zeit säkularen
Klimaschwankungen unterworfen sind, und zwar fand eine
relative Trockenperiode um 1830, eine nasse Periode um
1850, eine abermalige Trockenperiode um 1860 statt, der
wiederum eine zweite nasse Periode zu folgen scheint.
8
58
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Bericht über eine R
Von H. S
II. (Fortsetzung.)
Daß ich nicht nach Canton zurückgehen wollte, ohne
überhaupt Cassia haben wachsen zu sehen, war mein
fester Entschluß. Wir hielten daher am Abend mit dem
frachtsuchend von Wu-tschou-fn nach Molam versegeltcn
Kapitän einer Cassia-Dschunke Kriegsrath, zahlten die
Soldaten unter dem Vorgeben, nach Canton zurückkehren
zu wollen, ab und verließen zum Schein den Hafen, um
bald wieder vor Anker zu gehen.
Am folgenden Morgen, am 25. September, kleidete ich
mich in einen chinesischen Anzug Afook's, setzte einen breit-
randigen Cooli-Hut auf und band bcgueme Stroh-Sandalen
an meine Füße. Schon um 3 Uhr war ich unter Führung
des Cassia-Schiffers mit Afook und einigen Coolies auf
dem Wege zurück nach Tai-wo. Als die Sonne aufging,
lag dasselbe weit hinter uns. Nach dreistündigem Gange
durch das reiche Ackerland überstiegen wir eine vom Regen
nacktgewaschene, 500 bis 600 Fuß hohe Hügelkette, und
nach einer halben Stunde weiteren scharfen Marsches er-
reichten wir einige hübsch bewaldete Anhöhen, auf welchen
die ersten Cassia-Plantagen sichtbar wurden.
Nun auch etwas über Cassia, diese so wohl bekannte
Drogue, von welcher bis zu 80 000 Piculs alljährlich von
Canton und Packhoi nach Europa, Amerika und Indien
verschifft werden! Die chinesische „Cassia - Lignea", in
Deutschland besser als „Zimmet" bekannt, wächst in Kwang-
tung in der Präfektur Loting, in Kwang-si in den von mir
besuchten Tai-wo- und Puug-schien-Distrikten. Im Tai-
wo-Laude bildet ihre Kultur einen wichtigen Erwerbszwcig
der Bergbevölkerung. Um eine Plantage einzurichten, pflanzt
der Bauer auf den Abhängen seiner Berge kleine, aus Samen
gezogene Cassia-Bäumchen, im Alter von ein bis zwei
Jahren, in einer Entfernung von 15 Zoll in den Boden.
Aus den sich schnell und kräftig entwickelnden Wurzeln
derselben pflegen, wenn die Bäume einige Jahre gestanden
haben, weitere Sprößlinge zu wachsen, und nachdem die
kräftigsten Bäume eine Höhe von acht bis neun Fuß, und
am Boden die Dicke eines Zolles oder mehr erreicht haben,
werden sie hart über der Erde abgeschnitten. Im nächsten
Jahre kommt die Reihe an die inzwischen herangewachsenen
Bäumchen, und so geht es weiter, bis der Boden mit
Wurzelwerk gefüllt ist. Aus diesem schießen die übrigens
auch durch Nachpflanzen ergänzten Bäumchen hervor, deren
kräftigste alljährlich dem Hackmesser des Cassia-Bauern zum
Opfer fallen.
Also im März und April, wenn die Frühlingsluft den
Saft in den Bast treibt, werden die eben Blätter schießen-
den, sechs bis acht Jahre alt gewordenen Bäume nach den
zu den Füßen der Hügel liegenden Bauernhäusern geschafft,
und die kleineren Zweige entfernt, worauf der saftige, wohl-
riechende Bast des Stammes in 15 bis 17 Zoll langen
Stücken mittelst primitiver Schälmesser losgetrennt wird.
Der kahle Stamm hat jetzt nur noch als Brennholz Werth.
Von der geschmeidigen, feuchten Borke wird dagegen die der
Luft ausgesetzt gewesene, daher geschmacklose und zähe
äußere Haut — die Epidermis — mit einem hobelartigen
Instrument geschält. So der Sonne ausgesetzt, rollt die
eise nach Kwang-si.
ch r o c t e r.
Borke zusammen, um in ein bis zwei Tagen für den Trans-
port uach dem nächsten Marktflecken und weiter nach Canton
genügend ausgedörrt zu sein. Hier wird sie in die im
Handel bekannten Bündelchen gepackt und so gelangk sie zur
Verschiffung. Die Fremden lassen die Cassia für Europa
in Kisten von 50 Catties und für Amerika in ebenso schwere
Ballen packen, während die für ihre Adoptiv-Heimath
Indien kaufenden Parsis ihre Waare in Kisten von 60 Catties
fortsenden.
In den Konsumländern wird die Cassia von der
Hausfrau in der Küche, oder vom Bäcker und Konditor-
für allerlei Gebäcke und Konfitüren benutzt, in den Ge-
würzmühlen auch häufig zum Aufmischen mit dem von
Ceylon und den Molukken kommenden „echt-ostindischen"
Caneel benutzt. Nach Behauptung von zwei großen Canton-
Cassia-Gclehrten, dient unsere jetzt ja so billig gewordene
Cassia in Europa neuerdings auch zum Gerben feiner Leder,
doch habe ich diese Mittheilung vorläufig nur mit Vorsicht
aufgenommen. Es ist überhaupt bemerkenswerth, daß gerade
hier in Canton die widersprechendsten Meinungen darüber
herrschen, zn welchen Zwecken der größere Theil dieser
hauptsächlich nach London, Hamburg, Triest und New Uork
verschifften Drogue verwandt wird.
Cassia ist ein Artikel, mit welchem die Europäer in
jenem goldenen Zeitalter, in welchem es nur wenige Dampfer
und keinen Telegraphen in China gab, schöne Geschäfte in
Canton gemacht haben. Seit Jahren sind aber die Märkte
zu Haus so überfüllt worden, daß der Werth eines Piculs
Cassia Lignca seit dem Jahre 1871 allmählich von 22 auf
5,80 Dollars gefallen ist. In London und Hamburg hat
sich jetzt ein so großer Vorrath angesammelt, daß man
damit Europa für Jahre versorgen kann. Der niedrige
Preis hat wohl Einiges mit der Qualität der heute unter
dem Namen Cassia Lignea bekannten Waare zu thun,
denn in die Mitte eines jeden Bündels Cassia wird seit
langer Zeit schon ein mit jedem Jahre leider größer werden-
der Prozentsatz von Cassia-Bruch von den chinesischen Händ-
lern gepackt. Diese Mischung kann indessen leicht durch
Anlegen eines Extra-Preises vermieden werden, und reine
Cassia Lignea, wie sie vor 20 oder 30 Jahren verschifft
wurde, ist somit auch heutzutage noch in Canton zu haben,
wird aber nur selten noch bestellt. Die eigentlichen Casfia-
Röhren scheinen während der letzten Jahrzehnte eher besser,
als schlechter geworden, auch nicht minder gut geschält
zu sein, wenn ich ganz alte Muster mit heutiger Waare
vergleiche. Nach Ansicht chinesischer Freunde, welche seit
Jahren kein Interesse mehr am Geschäft haben, ist die
heutzutage vom Julande hier eintreffende Waare auch ebenso
wohlschmeckend und kräftig duftend, also ebenso ölhaltig,
wie sie es vor 25 Jahren war.
Eine junge Cassia-Pflanzung macht von weitem den
Eindruck einer Obstbaumschule. Die Blätter werden 6 bis
10 Zoll lang, 2 bis 31/2 Zoll breit und zeichnen sich durch
ein besonders schönes und frisches Grün aus. Läßt man
den Baum größer werden, was meistens auf den Gipfeln
der Hügel oder dicht um die Gehöfte herum geschieht, so
erreicht er die Dicke und Größe eines mittelgroßen Zwetschen-
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
59
baumes. Im Sommer gedeihen auf ihm in kleinen Büscheln
unzählige Fruchte von der Große einer getrockneten Jo-
hannisbeere die, was Gestalt anlangt, am ehesten mit
Eicheln Achnlichkeit haben. Dieselben werden getrocknet,
ehe sie ganz reis sind und gelangen unter dem nicht ganz
korrekten Namen „Cassia slores" („Cassia Buds“) in den
Handel. Von unsern Hausfrauen werden sie Gewürznelken
genannt.
Der Cassia-Baum hat ein sehr zähes Leben. Man kann
die dickeren Stämme z. B. ringsum in einer Höhe von
12 Zoll ihrer dicken Borke entkleiden, ohne daß sie absterben.
Der Bauer beraubt diese — wohlverstanden ausgewachsenen—
Stämme, um die Cassiafrüchte nicht zu gefährden, ihrer
wohlriechenden, weichen Schale aber nur in Stücken von
Y2 bis 1 Fuß Länge und 1 bis 3 Zoll Breite. Diese
Waare wird meistens von Chinesen zur Bereitung von
Medizinen benutzt. Die feineren Sorten kommen indessen
von Cochin-China, der Hcimath der kostbaren, nur in kleinen
Quantitäten exportirten Saigon-Cassia; es gelangen ein-
zelne Stücke solcher Cassia-Rinde in den chinesischen Handel,
welche ihres besonderen kräftigen Geruchs wegen mit geradezu
fabelhaften Preisen von Chinesen bezahlt werden. Ich habe
z. B. auf dem Canton-Zollhause einzelne Stücke gesehen,
welche je in ein zierliches, reich mit Perlmutter, ja mit Silber
und Gold ausgelegtes Roscnholzkästchcn verpackt waren und
sammt dem letzteren mit 100 Taels Werth deklarirt wurden.
Es ist nämlich unter den abergläubischen Chinesen der
reicheren Klasse Sitte, in Krankheitsfällen sich mit solchen
und ähnlichen kostbaren Medizinen zu beschenken. Ich bin
übrigens geneigt, zu glauben, daß die der Cassia-Rinde zu-
geschriebenen Heilkräfte auf demselben Schwindel beruhen,
welcher dem koreanischen und mongolischen Ginseng zu solch
unglaublichen Preisen verhilft.
Die für die Gewinnung der eigentlichen Cassia-Lignea
bestimmten Bäumchen werden, um gerade wachsen zu können,
den Sommer hindurch gerodet, d. h. ihrer kleineren Aeste
mit den ungemein saftigen Blättern bis zu einem gewissen
Grade entkleidet. Dieselben wandern in mächtigen Bündeln
ins Thal, wo sic in großen Schuppen gekocht werden. Aus
dem so gewonnenen, aromatischen Saft wird vermöge eines
höchst primitiven Distillir-Processes das geschätzte Cassia-Oel
gewonnen. Da die Likin-Stationen auf dem Wege nach
Canton auf dasselbe einen unerschwinglichen Zoll — neben
demjenigen des kaiserlichen Zollamtes — erheben, wird das
Oel in Zinngefäßen über die Berge nach Packhoi geschafft
und von da über Macao nach Hongkong transportirt, anstatt
auf dem ihm von der Natur bestimmten Wasserwege nach
Canton zu gelangen. In Europa gebraucht man das
Cassia-Oel bei der Herstellung von Parfümerien und Seifen
und für allerlei Destillatiouszwecke.
Ich hielt mich während des ganzen Tages in jenen
Bergen auf, welche, 100 bis 500 Fuß hoch, außer mit
Cassia auch vielfach mit Lärchen und Fichten bewachsen sind.
Das Thailand ist überall sorgfältig angebaut, die Bevölkerung
freundlich und gefittig, wie man cs nicht besser wünschen
kann. Von dem Wasser eines rauschenden Bächleins ge-
trieben, bemerkte ich auch zum ersten Mal in China einige
Wassermühlen, je sechs Holzblöcke in Bewegung setzend,
welche Reis aus der Hülse lösten. Der Boden zeigt überall
die Spuren großer Fruchtbarkeit, welche aber außerordent-
lich mit den erbärmlichen Holz- und Lehmhütten kontrastirt,
in denen die sorglosen Bauern leben. Ich kehrte bei einigen
derselben ein, um mir den Prozeß des Pflanzens, Schneidens
und Schälens von Cassia, sowie auch die Oelfabrikation
uä oculos demonstriren zu lassen. Ich kaufte Exemplare
aller bei der Cassia-Ernte benutzten Instrumente und nahm
eine ganze Anzahl von jungen Cassia-Bäumchen mit, welche
jetzt im S. & Co.'schen Garten in Canton stehen und bereits
die ersten Sprößlinge schießen. Unter meinen Reliquien
will ich besonders einige selbstgeschnittene Cassiastöcke er-
wähnen. Den schönsten derselben wandelte sich mir seitdem
in einen wunderschönen Spazierstock mit reich geschnitztem
Griff um.
Während meines Ganges durch die Cassia-Berge jagte
ich einige Rebhühner auf. Dies war das erste und einzige
Mal, daß ich jagdbare Thiere während meiner ganzen
Reise sah — außer gelegentlich hoch über mich wegstreiscn-
der Enten. An diesem einzigen Tage hatte ich natürlich
meine mich auf allen andern Ausflügen begleitende Jagd-
flinte zurückgelassen, weil ich eine gefährliche Expedition zu
unternehmen geglaubt und nur eine schwere Winchester-
Büchse mitgeschleppt hatte.
Wild ist überhaupt selten in Kwang-si, wenigstens in der
Nähe des großen Stromes. Die Provinz ist aber reich an
Tigern, von welchen jeden Sommer einige Exemplare nach
Canton zum Verkauf kommen. Ein von einem hiesigen
Thierfreunde großgezogenes, in Canton s. Z. lammfrommes
und unter dem Namen „Turandot" bekanntes Tigerfräulein
hat vor einigen Jahren in Begleitung seiner Milchbrüder,
zweier chinesischer Pudelhunde, sogar seinen Weg bis nach
dem zoologischen Garten der deutschen Hauptstadt gefunden.
Leider fand ich während meiner Reise keine Gelegenheit,
eines Tigers persönliche Bekanntschaft zu machen. Die
Landbevölkerung wußte aber viel von dem nächtlich in die
Gehöfte brechenden, Schweine und Hunde, zuweilen auch
Kinder fortschleppenden Räuber zu erzählen. Die in Cassia-
nnd anderen Dschunken gelegentlich nach Canton kommenden
Tiger pflegen daselbst Tage lang umhergetragcn und für
ein sinnloses Geld den Europäern angeboten zu werden,
bis sic endlich halbverhungert von chinesischen Apothekern
gekauft werden. Letztere schlachten die Thiere und bereiten
ans den Knochen und Sehnen derselben eine kostbare Me-
dizin. Sie bezahlen häufig einen Dollar per Catty „brutto"
für ein nicht allzu groß gewordenes junges Thier.
Ich unterließ bisher zu erwähnen, daß an diesem für
mich speziell so interessanten Tage in Tai-wo Markt war.
Schon früh am Morgen begegneten mir in langer Reihen-
folge unzählige Menschen beiderlei Geschlechts, welche ihre
Landesprodukte — Cassia, Holzkohle, Reis, Grundnußöl, auch
glattes, schönes Rindvieh, fette Schweine, Hühner und
Enten — in genannter Stadt verkaufen gingen, um entweder
Kleiderstoffe und allerlei Fabrikate (auch europäische Mann-
fakte, oder solche Landesprodukte einzutauschen, welche ihr
eigener Bezirk gerade nicht hervorbrachte. Tai-wo liegt
im Herzen einer außerordentlich fetten Gegend. Aus
seinen Thoren führen nach allen Richtungen der Windrose
auslaufend gutgehalteue Feldwege. Unter der Last ihrer in
jener Gegend überall gebrauchten, ein entsetzliches Geräusch
verursachenden Schiebkarren keuchen die Menschen in un-
absehbarer Reihenfolge wieder ihren Dörfern und Gehöften
zu, als ich mich spät am Nachmittag auf dem Rückwege
Tai-wo wieder nähere. Auf Schritt und Tritt begegnen
mir Männer, Frauen und Mädchen. Letztere zum schönen
Geschlecht zu zählen, würde aber auch hier eine unverdiente
Aufmerksamkeit sein. Eine fixe, adrette Bauerudirne habe
ich nur ganz vereinzelt in Kwang-si gesehen, und ein Haide-
röslein „jung und niorgenschön" hat mir nirgends am
Wege geblüht. Trotz meiner Landesklciduug merkten mir
die Dörfler natürlich sofort den Nicht-Chinesen an, sobald sie
mich voll ins Gesicht faßten. Noch jetzt muß ich lächeln,
wenn ich an all die verblüfften Gesichter denke, welche mir
nachschauten, um über die merkwürdige Vision nachzudenken
und ihre Ansicht auszutauschen. Uebrigens möchte ich hier
erwähnen, daß im Gegensatze zu den lärmenden Schild-
60
Olga Toeppen: Erzählungen der Suaheli-Neger in Zansibar.
bürgern Tai-wos, die beim Aufgraben der Grundnüsse
beschäftigten Landleute ihre Arbeit nur selten verließen,
um ihrem Erstaunen, mit dem in Cantous Nachbarschaft
und in der Stadt selbst so wohlbekannten „Fanquailoh"
Luft zu machen.
Die Stadt Tai-wo zur Rechten lassend, um dem Hasen-
fuß von Bürgermeister, welcher mir immerhin, wenn auch
nicht nach meinem Geschmack, Gastfreundschaft gewährt
hatte, nicht noch einmal Unannehmlichkeiten zu bereiten,
erreichte ich gegen 6 Uhr Nachmittags nach 15 stündigem
Marsch in der heißen Sonne mein unweit Molam vor
Anker liegendes Boot.
Erzählungen der Suaheli-Neger in Zansibar.
Aus der Erinnerung aufgeschrieben von Olga Toeppen.
Durch einen mehrjährigen Aufenthalt in Zansibar hatte
ich mir die Sprache der dortigen Eingeborenen — das Kis-
uaheli — so angeeignet, daß ich es vollständig verstand und
fließend sprach. Es gewährte mir ein ganz besonders
großes Vergnügen mich mit unseren Dienern in längere
Gespräche einzulassen, und so tiefer in Geist und Wesen des
Volkes einzudringen. Trotz ihrer einfachen Denk- und
Sprechweise, wird man oft eine bewundernswcrthe Logik
in dem, was die Neger sagen, finden. — Später ließ ich
mir Fabeln und Märchen von ihnen erzählen, deren einige
ich hier wiedergebe. Ich habe mich bemüht, mich dabei
möglichst wenig von ihrer einfachen Ausdrucksweise zu ent-
fernen.
In den meisten Geschichten spielen Thiere die Haupt-
rollen, und unter diesen sind wieder der Haifisch und der
Löwe die Helden, vielleicht weil sie die von den Negern am
meisten gefürchteten Thiere sind.
I.
Die Geschichte vom Esel des Wäschers.
Es war einmal ein Affe, der Freundschaft mit einem
Haifisch schloß. — Nahe einer Stadt war ein großer Baum,
von der Art, welche man Asfeubrotbaum nennt; derselbe
wuchs au einem tiefen Wasser; die Hälfte seiner Zweige
überschattete die Stadt, und die andere Hülste reichte über
das Wasser. Der Affe pflegte jeden Tag dorthin zu kommen,
um von den Früchten des Baumes zu essen, während der
Haifisch unter dem Baume im Wasser war; er pflegte zu
dem Affen zu sagen: „Gieb mir etwas Futter, mein Freund",
und dann warf der Affe ihm etwas hinunter. So ging es
viele Tage und viele Monate, bis eines Tages der Haifisch
zu dem Affen sagte: „Du hast mir immer viel Gutes gethan,
ich möchte gerne, daß Du einmal mit mir in mein Heim
kämest, damit ich Dir Deine Wohlthaten belohnen kann." Der
Affe antwortete ihm: „Wie sollte ich dahin gelangen? Wir
können nicht im Wasser gehen, wir Thiere vorn Lande."
Jener erwiderte: „Ich will Dich tragen, und kein Tropfen
Wasser soll an Dich herankommen; komm laß uns gehen!"
Der Asse willigte ein, setzte sich auf deu Rücken des Fisches,
und so traten sie die Reise an. Als sie die Hälfte des
Weges hinter sich hatten, sagte der Hai: „Du bist mein
Freund, ich will Dir nun die Wahrheit sagen." Der
Asse: „Erzähle mir!" Der Hai hub au: „Dort, bei
mir zu Hause, wo wir jetzt hingehen, ist unser Sultan sehr
krank, und es ist uns gesagt worden, daß das einzige Heil-
mittel für ihn ein Affenherz sei!" Der Affe antwortete
hierauf: „Du hast nicht wohlgethan, mir dies nicht gleich
zu sagen." „Wiedas?" entgeguete der Hai. Der Asse
dachte nach und sagte zu sich selbst: „Mein Leben ist doch
schon verspielt, ich will ihm jetzt eine Lüge sagen, vielleicht
kann mich das noch retten."
Der Haifisch fragte ihn: „Warum bist Du so still
geworden? Wirst Du nicht sprechen?" Der Asse ent-
gegnete: „Ich habe Dir nichts zu erwidern, weil Du mir
nicht gleich die Wahrheit sagtest, so daß ich mein Herz
hätte mitbringen können!" Verwundert fragte der Hai:
„Hast Du denn Dein Herz nicht hier?" Hierauf der
Affe: „Weißt Du denn gar nichts von uns? Wenn
wir ausgehen, lassen wir unsere Herzen in den Bäumen,
und gehen nur mit deu Körpern umher; aber Du wirst
mir nicht glauben; Du wirst sagen ich fürchtete mich! laß
uns also weiter, zu Deiner Heimath gehen, dort tobte mich,
und Du wirst sehen, ob Du mein Herz finden kannst."
Der Haifisch glaubte dem Assen und bat: „Laß uns
doch zurückkehren, damit Du Dein Herz holst." Der Affe
sagte: „Damit bin ich nicht einverstanden, laß uns lieber
nach Deinem Heim gehen." Doch jener fuhr fort: „Nein,
nein, laß uns erst an den Baum zurückgehen, Dein Herz
zu holen, damit wir dann weiter kommen." Der Affe über-
legte: — ich thäte besser einzuwilligen, was die Rückkehr an
den Baum betrifft, — was ich dann weiter thue — das
weiß ich! — Sie gingen und kehrten zu dem Baume zurück;
der Affe kletterte hinauf und sagte: „Warte hier auf mich,
Haifisch, ich gehe um mein Herz zu holen, damit wir fort
können." Er kletterte auf den Baum und setzte sich ganz
still hin. Der Haifisch rief ihn — er blieb still. Jener
rief wieder und sagte: „Laß uns nun gehen!" Der Affe
antwortete ihm: „Wohin sollen wir gehen?" Der Hai:
„Nach meinem Heim." Der Affe: „Bist Du verrückt?"
Der Hai: „Wieso?" Der Affe: „Hülst Du mich denn
für eines Wäschers Esel?" Der Hai: „Was ist's mit
dem Esel des Wäschers?" Der Affe: „Das ist etwas
ohne Herz und Ohren." Der Hai: „Wie ist die Sache
mit dem Esel? Erzähle mir, mein Freund, damit ich
weiß, was das heißt." Und jener erzählte: „Ein Wäscher
hatte einmal einen Esel, den er sehr liebte. Einmal lief
der Esel fort in den Wald und blieb dort viele Tage, bis
der Wäscher ihn selbst vergaß; aber der Esel wurde sehr-
fett dort im Walde. Da kam ein Hase und sah den Esel,
deu: der Schaum vor dem Munde stand vorn vielen Essen,
und er sprach zu sich: „Dieses Thier ist fett!" uud ging
und erzählte es dem Löwen. Dieser aber erholte sich gerade
von einer Krankheit und war sehr abgemagert. Der Hase
sagte zu ihm: „Morgen werde ich Dir Fleisch bringen,
damit Du essen kannst." Der Löwe war's zufrieden. Der
Hase lief fort, ging in den Wald und fand den Esel,
welcher ein weiblicher Esel war. Und er sagte zu der Eselin:
„Man schickt mich, um Dir einen Heirathsantrag zu machen."
„Von wem?" fragte sie, und der Hase sagte: „Von
Olga Toeppen: Erzählungen der Suaheli-Neger iu Zansibar.
61
dem Löwen". Die Eselin willigte ein, freute sich sehr
und sprach: „Nun wohl! laß uns gehen!" Und sie
gingen, bis sie bei dem Löwen ankamen. Dieser hieß sie
naher treten. Sie setzten sich. Der Hase gab dem Löwen
einen Wink, indem er ihm sagte: „Das ist Fleisch für Dich
— ich gehe nun fort", und zum Esel sagte er: „Ich gehe,
nach dem Rechten zu sehen, bleibe Du hier bei Deinem
Manne." Kaum war er fort, so stürzte der Löwe sich auf
die Eselin, um sie zu zerreißen; es entstand ein harter Kampf.
Die Eselin schlug den Löwen mit den Husen, und jener
verletzte den Esel mit seinen Krallen. Der Esel warf den
Löwen zu Boden, lief davon, und ging in seinen Wald
zurück. Der Hase kam nun und sagte: „Nun Löwe, hat's
geschmeckt?" Der Löwe antwortete: „Ich habe den Esel
nicht, weil ich zu kraftlos bin; er schlug mich mit den Hufen
und ging davon, obgleich ich ihm viele Wunden beigebracht
habe." Der Hase tröstete den Löwen: „Beruhige Dich!"
Sie verhielten sich nun viele Tage ruhig, bis die Eselin
von ihren Wunden genesen, und der Löwe zu Kräften ge-
kommen war. Dann ging der Hase zum Löwen und sprach:
„Was meinst Du, soll ich Dir jetzt das Fleisch bringen?"
Der Löwe antwortete: „Ja, bringe es, ich werde es in zwei
Stücke reißen." Der Hase ging in den Wald, wo ihn der
Esel willkommen hieß und ihn nach seinem Befinden fragte.
Statt aller Antwort sagte der Hase: „Dein Bräutigam
wartet auf Dich." Die Eselin sprach: „Neulich, als Du
mich hingeführt hast, hat er mich sehr gekratzt, jetzt habe ich
Angst." Der Hase sagte: „O, das ist nichts, das ist so
seine Art der Unterhaltung." „Gut, denn laß uns gehen!"
Sie gingen, bis sie ankamen. Kaum sah der Löwe sie
kommen, als er auf die Eselin los sprang und sie in Stücke
riß. Nun sagte er zum Hasen: „Nimm dies Fleisch und
brate es, aber ich will nichts davon außer der Eselin Herz
und Ohren. Der Hase bedankte sich, ging und briet das
Fleisch, wo der Löwe ihn nicht sehen konnte. Und er nahm
das Herz und die Ohren und aß selbst davon, bis er satt
war; und den Rest versteckte er und bewahrte ihn für sich
auf. Der Löwe kam und sagte: „Gieb mir nun das Herz
und die Ohren." Der Hase fragte: „Wo sind sie?" „Was
meinst Du damit", sagte der Löwe, „solltest Du sie nicht
für mich braten?" Der Hase antwortete hierauf: „Dies
war eines Wäscher's Esel, wußtest Du das denn nicht?"
„Was hat denn das für eine Bewandtniß, daß der kein
Herz und keine Ohren hat" ? fragte der Löwe. Der Hase
erwiderte: „Du Löwe, bist eine erwachsene Person, und das
ist Dir noch nicht klar? Wenn dies Thier Herz und Ohren
hätte, wäre es zum zweiten mal hergekommen? Das erste
mal als es herkam, sah es, daß cs getödtet werden sollte,
und lief fort; und doch kam es zum zweiten male. Nun,
wenn es ein Herz hätte, würde es gekommen sein?" Der
Löwe sagte: „Es ist Wahrheit in Deiner Rede."
So erzählte der Affe dem Haifisch, und fuhr dann fort:
„Und Du willst einen Wäscher's Esel aus mir machen?
Geh heim und glaube nicht, daß Du mich wieder fängst;
unsere Freundschaft ist zu Ende; lebe wohl!"
II.
Der Betrüger und der Hamali H
Es war einmal ein Mann, der es liebte, viele Sachen
einzukaufen und dann den Betrag dafür schuldig zubleiben;
besonders betrog er immer die armen Hamali, welche ihm
die Lasten nach Hause trugen.
*) Hamali — Lastträger.
Eines Tages kaufte er eine Kiste Gläser und suchte nach
einem Mann, der ihm dieselbe tragen sollte; als er einen
gefunden hatte, sagte er zu ihm: „Was willst Du lieber,
daß ich Dir Deinen Lohn auszahle, oder daß ich Dir drei
Worte sage, die Dir in der Welt von Nutzen sein werden?"
Jener, der des Neichen Schliche kannte, antwortete: „Geld
bekomme ich alle Tage, ich will Dir die Kiste für die Worte
tragen, die Du mir sagen willst." Er lud die Kiste auf
seinen Rücken, und sie machten sich auf den Weg. Als sie
ein Drittheil der Strecke gemacht hatten, sagte der Hamali:
„Diese Kiste ist sehr schwer, Herr, zu schwer für mich; sage
mir eins Deiner Weisheits-Worte, daß ich Kraft zum
Weitergehen bekomme."
Der Herr sprach: „Wenn einer zu Dir sagt, daß Skla-
verei besser sei als Freiheit, so glaube ihm nicht."
Der Träger sah ihn scharf an; er wußte: der Eigen-
thümer dieser Kiste ist ein Betrüger, aber es ist besser, ich
warte, bis wir angekommen sein werden. Und sie gingen
weiter. Als sie das zweite Drittel des Weges zurückgelegt
hatten, bat der Hamali: „Nun sage mir Dein zweites Wort!"
Jener sprach: „Wenn Jemand Dir sagt, daß Armuth
besser sei als Reichthum, dann glaube ihm nicht!"
Sie gingen weiter, bis sie am Hause anlangten. Der
Sklave sagte: „Nun, Herr, laß mich das dritte Wort
hören!" Der Reiche, welcher merkte, das der Hamali etwas
im Sinne hatte, sprach: „Setze erst die Last nieder." Der
Träger antwortete: „Jene zwei Worte gefielen mir so gut,
sage mir das dritte, vielleicht daß cs mir Kraft zum Nieder-
setzen meiner schweren Kiste giebt."
Der Herr sprach: „Nun wohl! Wenn einer Dir sagt,
daß Hunger leiden besser sei, als satt sein, dann glaube
ihm nicht."
Jener rief: „Geh' weg, Herr, ich will meine Last her-
unter setzen." Er hob die Kiste hoch über den Kops und
ließ sie fallen. Der Besitzer derselben schrie laut: „Oh!
oh! Du hast meine Kiste und alles was darin ist, zerbrochen!"
Jener sagte: „Und wenn Dir einer sagt, daß in der
Kiste ein einziges unzerbrochcnes Stück sei, dann glaube Du
ihm auch nicht!"
Anmerkung: Die Hamali, deren es etwa 260 in
Zansibar giebt, sind Sklaven im wahren Sinne des Wortes.
Sie sind des Sultans Eigenthum, stehen unter Aufsicht
arabischer Beamter, müssen von Sonnenanf- bis Sonnen-
untergang hart arbeiten und sich dabei von wenigen „xeessn"
(kleinen Kupfermünzen im Werthe von 2x/2 Pfennig) er-
nähren. Sie werden von den indischen Kaufleuten, für die
sie ja hauptsächlich arbeiten, da der größte Theil des Handels
in ihren Händen liegt, meist sehr rauh behandelt, und man
kann sich vorstellen, daß ihre Liebe für die Arbeitgeber nicht
sehr groß ist. So ist es wohl sehr leicht möglich, daß obige
kleine Geschichte sich wörtlich so ereignet, und sich von
Geschlecht zu Geschlecht vererbt hat.
III.
Der Tabak.
Als der Tabak in die Welt kam, sahen ihn kluge Männer
und rochen ihn; die weisen Männer, welche nach diesen
kamen, sahen ihn und nahmen und rauchten ihn. Aber als
die Narren von Pemba H ihn sahen, dachten sie, cs sei etwas
zum Essen, nahmen und aßen ihn.
x) Pemba ist eine zum Sultanat Zansibar gehörige kleine
Insel, die zwischen deni 4. und 5. Grad südlicher Breite liegt.
*
62
Kürzere Mittheilungen. — Ans allen Erdtheilen.
Kürzere Mittheilungen.
Aus S ü d a f r i k a.
Vor der Handelskammer zu London verlas am 14. Mai
dieses Jahres John Mackenzie einen Vortrag, der sich mit den
Zuständen und der politischen Lage in Britisch-Südafrika be-
schäftigt. Das Schriftstück bietet auch für Nichtengländer
so viel Bemerkenswerthes, daß wir uns einen kurzen Hin-
weis darauf nicht versagen können. Der Vortrag geht von
der Krisis in den Jahren 1882 und 1883 aus, wo es um
die Ordnung und Eintracht in Englands südafrikanischen
Kolouierl schlimm genug aussah und ein fester Griff nöthig
wurde, den Besitz zusammenzuhalten. Trotzdem bestehen noch
immer mancherlei große und schwere Mißstände fort; nament-
lich fehlt es den Ländern südlich vom Zaurbesi an einem
kräftigen Regimeute, das auch erfüllt, was es verspricht.
Die Sachlage wird klar aus einer Uebersicht, die Redner von
den einzelnen Theilen Anglo-Afrikas entwirft. Die Kap-
kolonie steht voran. So bereitwillig Herr Mackenzie dieser
die Möglichkeit einer „Selbstverwaltung" zuerkennt, so ernst-
lich und eifrig räth er davon ab, nun gleich auch alle übrigen
Gebiete mit jenem Rechte zu beglücken. In Natal scheinen
bei den Reichthümern des Bodens und den weitgehenden
Handelsbeziehungen die Verhältnisse schnell einer blühenden
Zukunft entgegenzureifen. Die Entwickelung des Oranje-
Freistaates hängt von der Stellung der Bevölkerung und
ihrer Führer zu England ab, während sich Transvaal zur
Zeit noch sehr spröde benimmt. Die Boers, deren gerechte
Klagen in England vor Thron und Volk ungehört ver-
hallt sind, liegen jetzt festgebannt im englischen Netze,
zumal England sie noch von dem freien Verkehre mit
dem Inneren abgesperrt hat. — Das Trans-Kei-Gebiet
oder der Südzipfel Kaffrarias ist jüngst zur Kapkolonie ge-
schlagen, wohingegen Pondo-Land mehr oder weniger unter
direkter Verwaltung des britischen Reiches steht. Nach den
Auslassungen des Redners soll im Pondo-Lande deutscher
Einfluß thätig wirken, doch erfahren wir nicht, zu welchem
Zwecke. Für Swasi-Land wird die schleunige Erklärung des
englischen Protektorats beantragt, wie solches seit December
vorigen Jahres über das Amatonga-Land (Siehe „Globus",
Bd. 53, S. 334 f. ft bereits verhängt ist, und gleiche
Wünsche hegt Herr Mackenzie bezüglich des Betschnana-
Landes und der Gebiete nördlich vom Limpopo. Sehr
wichtig scheint ihm ferner der Ausbau des schon bestehenden
Schienennetzes, wichtiger aber noch ein gründliches Studiunr
von Land und Leuten in Südafrika, etwa in der Weise und
in dem Umfange, wie es britischcrseits in Ostindien geschehen
ist. Der Regierung aber tvird unverhüllt ein rasches Zu-
greifen empfohlen, damit ja nicht jemand anders ein Bröcklein
vorwegnehme. Sehr besorgnißerregend findet Herr Mackenzie
namentlich die Versuche der Boers, das Swasi-Land mit
Transvaal zu vereinigen, Redner sieht im Geiste schon die
Erfolge seiner Politik voraus, d. h. wenn sie zur Annahme
und Ausführung kommt, deren Ziel eine einige und loyale
„Dominion of Austral-Africa“ vom Kap bis zum Zambesi
unter der Flagge Groß-Britanniens sein wird! — Was sagen
nun Englands Nachbarn in Süd-Afrika zu diesen Zuknufts-
plänen? II. 8.
ft Wir bitten, daselbst zwei Druckfehler zu berichtigen;
erstlich muß es statt Loope überall Coope heißen, und zum
andern werden S. 335 linke Spalte: die Libombos nicht in
„mächtiger" sondern in „mäßiger" Steigung erreicht.
Ans allen
Europa.
— Die sachverständigen Gutachten, welche über die
kritische Lage der Teplitzer Quellen abgegeben worden
sind, stellen den Zusammenhang derselben mit dem Dnx-Ossegger
Kohlenbergbau außer allein Zweifel. Oberbergrath Professor
Dr. Waagen in Prag stellt in seinem Gutachten die Alternative:
entweder die Teplitzer Quellen aufzulassen, oder den Betrieb
der Kohlenwerke im Porphyrgebiete einzustellen, und er be-
zeichnet das letztere als das richtigere. Während die Thermen
schon 1100 Jahre lang ihr segeuspeudendes Wasser geliefert
haben, und die Existenz einer blühenden Stadt bedingen, seien
die Bergwerke erst seit zwei Jahrzehnten im Betriebe, und
voraussichtlich werde ihr Abbau auch nur noch zwei weitere
Jahrzehnte dauern. Dann werde nur ein Feld der Ver-
wüstung übrig bleiben, und die berühmten Quellen werden
verschwunden sein. Falls man die Bergwerke auflasse, so
sei Aussicht vorhanden, daß die Quellen noch Jahrhunderte
hindurch fließen.
— Nach der „Russischen Revue" (XVII, p. 109) ge-
hören die Kohlenlager im Doncz-Bcckcn zu den reichsten
E r d t h e i l e n.
der Welt. Bis in die sechziger Jahre war die Produktion
derselben geringfügig, seit der Herstellung der Eisenbahnen
nach Asow und Rostow steigerte sie sich aber gewaltig, und
jetzt beträgt sie jährlich etwa 85 Mill. Pnd (ca. 28 Mill.
Ctr.). Eine Schwierigkeit der Weiterentwickelung liegt nament-
lich in der periodischen Unwegsamkeit der „Schwarzerde", durch
die die Anlage von zahlreicheren Seknndärbahnen dringend
geboten erscheint. Außerdem lassen die Hafenverhältnisse in
Taganrog mancherlei zu wünschen übrig. Der hohe Zoll
auf englische Kohlen hat infolgedessen nichts zur Hebung
der Produktion beigetragen.
A s i e n.
— Dem französischen Vicekonsul Pavie ist cs zweimal
gelungen, von Luang-Prabang und dem Laos-Lande
nach Tongking vorzudringen, trotz der Unsicherheit, die
während der letzten Jahre daselbst geherrscht hat. Das erste
Mal ging er den Nam-hu, einen Nebenfluß des Mekhong, auf-
wärts und erreichte auf diese Weise die von französischen Trup-
pen besetzte Stadt Chan, das zweite Mal wandte er sich direkt
Aus allen Erdtheilen.
63
nach Osten und gelangte über Mnong-Son und Muong-Het
nach Hanoi. Die zweite Reise wurde am 6. April ange-
treten und am 14. Mai beendet, nahm also nicht viel mehr
als 5 Wochen in Anspruch (Vergl. „Compte rendu“ der
Pariser Gcogr. Ges., 1888, p. 282).
Afrika.
— Emin-Pascha hat unter dem Datum des 25. und
31. Oktober und 2. November einen Brief an Dr.
Felkin in Edinburgh gesandt, nach dem Stanley noch immer
vergebens in Wadclai erwartet wurde. Die Beziehungen
Emin's zu den benachbarten Negerkönigen — besonders zu
Kabrega von Unyoro — ließen mancherlei zu wünschen übrig,
und die Verbindung mit der Küste war deshalb ziemlich
schwierig. Nur die kleinen Häuptlinge seiner nächsten
Nachbarschaft, unter denen der Bari-Häuptling Befo der nam-
hafteste ist, verhielten sich freundlich. Während er den Brief
schrieb, begab sich Emin-Pascha von Wadclai nach Kibiro,
am Ostufer des Albert-Nyanza. Von dort nwllte er sich
aber wieder nach Msoa, am Westnfer des Sees, begeben und
seinen Dampfer nach Wadelai zurück schicken, während er selbst
eine Reise nach Walcndn zu unternehmen im Begriffe war.
— Im nördlichen Marokko ist H. de la Marti-
ni ère nn Aufträge des französischen Unterrichtsministeriums
eifrig mit archäologischen Forschungen beschäftigt. Einem
Berichte an die Pariser Geographische Gesellschaft zufolge hat
der Reisende in der Umgebung von Tanger eine ganze Reihe
von römischen Mancrrcstcn entdeckt. Nach Mitte April ge-
dachte er Mekiues zu erreichen.
— Kaum von seiner Reise in dein Mashuna-Laude zurück-
gekehrt (Vergl. „Globus", Bd. 54, S. 30), ist F. C. Selons
von Neuem aufgebrochen, um zunächst nach der Mündung
des Tschobe in den Zambesi vorzudringen, und dann
die Länder im Norden des oberen Zambesi zu durchstreifen.
— Camille Donls, von dessen Abenteuern wir kürzlich
ausführlich berichtet haben, beabsichtigt eine neue Reise
nach der Sahara zu unternehmen. Er hofft, daß ihm der i
Pariser Municipalrath eine Unterstützung zu Theil werden
lassen wird.
Nordamerika.
— W. S. Green und H. Swanzy sind im Auftrage
der Londoner Geographischen Gesellschaft nach Nordamerika
abgereist, um die vergletscherte Partie der Selkirk-Kette
einer Untersuchung zu unterwerfen. Die Direktion der
kanadischen Pacificbahn hat den beiden Herren ihre Unter-
stützung zugesichert. Nebenbei gedenken dieselben sich auch
über die Fischerei-Verhältnisse des nordwestlichen Nord-
amerika zu unterrichten.
Südamerika.
— Nach einer Mittheilung H. A. Condreau's an
den französischen Unterrichtsminister war der Reisende am
Neujahrstage 1888 glücklich an den Quellen des
Maroni angekommen, nachdem er vorher die Quellen des
Jtany besucht hatte. Das Kartenbild erfährt durch seine
Beobachtungen insofern eine Veränderung, als die Quellen
des Jtany um einen halben Grad weiter westlich zu ver-
legen sind, und die Quellen des Maroni um den gleichen
Betrag weiter südwestlich. Die Höhe des Tnmac-Hnmac-
Ecbirgcs betrügt in der betreffenden Gegend 600 bis 800 in,
also auch beträchtlicher, als man bisher angenommen hat,
und das Plateau in seiner Umgebung erhebt sich etwa 300 in
über den Meeresspiegel. Das Klima von Ober-Guyana be-
zeichnet der Reisende als gesund und angenehm; die mittlere
Temperatur beträgt 24° C., die Maximaltenrperatur im all-
gemeinen 30°, und die Feuchtigkeit ist viel geringer als in
beit Küstenstrichen. Trotz der großen Strapazen und Ent-
behrungen, denen seine Expedition ausgesetzt war, fühlte sich
Coudreau nicht einen einzigen Tag unwohl. Die Rucnyenne-
Jndianer, die die Gegend bewohnen, und deren Zahl sich
auf etwa 4000 beläuft, treiben etwas Ackerbau und sind
sehr friedliebend. — Es wäre demnach wohl möglich, daß
die Coudreau'sche Expedition für die Entwickelung des fran-
zösischen Guyana eine höhere Bedeutung erlangen könnte.
(Vergl. „Compte rendu“ der Pariser Geogr. Gesellschaft
1888, S. 292.)
— Die Reise des Oberst Labre nach Bolivia (Bergl.
„Globus", Bd. 53, S. 95) hat die Aufmerksamkeit der Welt
wieder in einem höheren Grade auf den gewaltigenMadcira-
Strom und seine Bedeutung als Wasserweg gelenkt.
Der etwa 1500 km lange Lauf des Stromes ist nicht nur
unterhalb der Fülle von San Antonio, sondern auch oberhalb
derselben auf einer großen Strecke vorzüglich schiffbar, und
ebenso sind es auch seine Quell- und Nebenstüsse (der
Guapore, der Mamore, der Madre de Dios, der Beni, der
Aquiri re.), so daß sich die Gesammtlünge der natürlichen
Wasserwege oberhalb San Antonio auf 6000 bis 7000 km
schützen läßt. Die Länge der schnellenreichen Strecke, die als
absolut unschiffbar gelten muß, betrügt aber nicht weniger als
300 km. Die schlimmste Stelle heißt ganz bezeichnend „Höllen-
Kessel" („Caldeiruo do Inferno“). Eine andere schlechte
Eigenschaft des Madeira spricht sich schon in seinem Namen
aus, der so viel bedeutet als „Holz-Strom" — von der unge-
heuren Zahl schwimmender Baumstämme, die auf ihm abwärts
treiben, und die sich zuweilen zu förmlichen natürlichen Flößen
zusammenschließen. Namentlich kleinere Schiffe schweben da-
durch in beständiger Gefahr. Die Stämme kommen zumeist
ans den Urwäldern am Beni und Madre de Dios.
— Der Eifer, mit dem die Chilenen ihre Eisenbahn-
verbindungen mit Bolivia zu vervollkommnen streben, äußert
seine Rückwirkungen anch auf die Brasilianer, und diese
diskutiren in Folge dessen heute eifriger als je das Projekt
einer Madeira-Mamore-Bahn. Die Vorstudien dazu
hat die brasilische Regierung bereits früher machen lassen,
die Ausführung scheiterte aber an den finanziellen Schwierig-
keiten. Abgesehen von der zweifelhaften Rentabilität, bei der
man zunächst nur mit den Produkten der bolivianischen
Silberminen und der brasilianischen Urwälder rechnen kann,
verursacht natürlich der Mangel an Arbeitern große Bedenken.
Die Baumaterialien wären auf den natürlichen Wasserstraßen
verhältnißmäßig leicht an Ort und Stelle zu bringen.
Allgemeines.
— Auf der im nächsten Jahre stattfindenden Pariser
Weltausstellung soll unter anderem geographischen Material
auch ein ungeheurer Riesenglobns ausgestellt werden, der
ungefähr 13 in im Durchmesser hat. Die terrestrischen
Raumverhältnisse sollen daran nach verschiedenen Richtungen
hin zu klarer und richtiger Anschauung kommen. Beispiels-
weise wird die Stadt Paris darauf nicht ganz einen Quadrat-
centimeter einnehmen. Die sorgfältige Ausführung voraus-
gesetzt, würde der Riesenglobus ein prächtiges Seitenstück zu
dem bekannten Lingg'schen Erdprofil abgeben (Bergl. „Globus",
Bd. 53, S. 128). Als die Verfertiger werden die Herren
T. Billard und C. Cotard genannt.
— Als Seitenstück zu der von uns erwähnten Schneil-
fahrt des „Athenian" (S. „Globus", Bd. 53, S. 224) haben
wir diejenige des Cunard - Dampfers „Etruria" zwischen
Liverpool und New Aork zu verzeichnen. Dieselbe
64
Aus allen Erdtheilen.
nahm von Roches Point nach Sandy Hook Bar nur 6 Tage,
1 Stunde 47 Minuten in Anspruch, und hat als die schnellste
Oceanfahrt zu gelten, die man kennt. Dabei ist auch noch
zu beachten, daß der Dampfer sich streckenweise wegen Nebel
nur unter Halb-Dampf bewegen konnte.
— In den „Annales des sciences politiques“ unter-
wirft L. Delavaud die deutsche Kolonialpolitik einer
kritischen Prüfung. Er glaubt, daß Deutschland sich mit
seinen Errungenschaften nicht zufrieden geben, sondern die-
selben ans Kosten anderer Kolonialmächte, und insbesondere
auf Kosten Frankreichs auszudehnen streben werde. Namentlich
sei in Marokko, in Syrien und Kleinasien, und in China und
Japan viel von Deutschland zu furchten. Der deutsche Einfluß
sei dort tut Wachsen, der französische dagegen im Schwinden.
— Die Londoner Geographische Gesellschaft
zählt ihrem neuesten Jahresberichte zufolge nicht weniger als
3391 Mitglieder, und ihre jährliche Einnahme beträgt reich-
lich 8000 Pfd. St. (circa 160 000 Mark).
B ü ch e r s ch a u.
— Prof. Dr. Albrecht Penck, Die Bildung der
Durchbruchthäler. Wien 1888. Selbstverlag des
Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher
Kenntnisse. — Diese kleine Schrift behandelt in sehr
lichtvoller und umfassender Weise eine der wichtigsten und
schwierigsten Fragen der physikalischen Geographie. Das
Resultat, zu dem der Verfasser durch die kritische Prüfung
der einschlägigen deutschen, englischen und amerikanischen
Literatur gelangt, ist im wesentlichen dieses: 1) „Die Neigung
der Flüsse, ihr Bett inne zu behalten, wenn sie einmal im
Einschneiden begriffen sind, führt ans den verschiedensten
Wegen zur Bildung von Durchbruchthälern. — Schichten
werden aufgewölbt, vom Firste rinnen die Gewässer abwärts
und graben sich Furchen ein. Allmählich wird das Gewölbe
abgetragen, und die Denudation präparirt seine einzelnen
Bausteine je nach ihrer Widerstandsfähigkeit heraus, aber
unbekümmert hierum bleibt der Lauf der Flüsse bestehen,
sie schneiden quer durch anfragende escarpements hindurch".
So z. B. der Donau-Durchbruch durch den Jura. —
2) „In anderen Füllen fließt ein Strom auf einer Ebene
dahin, er beginnt einzuschneiden und legt dort ein Thal fest,
wo sich zufällig sein Lauf befand. Allmählich wird feine
Umgebung denudirt, die weichen Gesteine werden fort-
gewaschen, und die harten bleiben stehen; dabei zeigt sich, daß
der Fluß gerade neben weichen Gesteinen sein Bett in härtere
eingeschnitten hat. Die Denudation räumt neben seinem
Thale eine breite Furche aus, so daß man sich nun verwundert
fragt, wie es kommt, daß der Fluß gerade neben einer
scheinbar ihm sehr zusagenden Senke dahinfließt. Allein
dieselbe ist jünger als der Fluß und sein Thal." So z. B.
die mittleren Donau-Durchbrüche zwischen Ulm und Krems.—
3) „Endlich aber behält der Fluß seinen Lauf fest dort, wo
eine Schwelle sich quer über sein Bett erhebt. Er schneidet
sein Bett ein in dem Maße, als sich die Umgebung hebt,
und schließlich sieht man sein früheres Bett hoch über dem
heutigen, wie längs des Rheines zwischen Bingen und Bonn.
Aber nie floß der Fluß da oben, er floß immer unten im
Thale, aber seine Ufer rückten in die Höhe." So außer
dem Rheiuthale unterhalb Bingen namentlich auch das Elb-
thal der Sächsischen Schweiz und das Eiserne Thor der
Donau. — 4) „Es erhöht ein Fluß sein Bett (durch Schutt-
aufhäufung) so lauge, bis er über eine niedrige Wasserscheide
quer durch ein Gebirge abfließen kann." So wahrscheinlich
der Rhein-Durchbruch zwischen Schaffhausen und Basel. —
5) „Endlich aber knüpfen sich Durchbruchthäler an Seen.
Ueberall, wo Wasser an einem glitzernden Spiegel aufgedämmt
ist, sucht es seinen Abfluß einzuschneiden, sucht es seine Um-
wallung am niedrigsten Punkte derselben zu durchbrechen."
So die Durchbruchsthäler, welche von den großen noch be-
stehenden oder erloschenen Seen des deutschen Alpenvorlandes
ausgehen, sowie die Durchbruchsthäler mancher afrikanischer
Ströme.
— Iwan von Tschndi, Der Tourist in der
Schweiz. Zürich 1888. Orell Füstli n. Comp. —
Es ist dies ein Reisetaschenbuch, das sich von anderen seiner
Art in sehr vortheilhafter Weise dadurch unterscheidet, daß die
praktischen Angaben und Fingerzeige, die es giebt, in einem
hohen Grade durchgeistigt erscheinen, und daß ihm in Folge
dessen nicht im geringsten der Vorwurf der Trockenheit und
Dürre gemacht werden kann. Mit Gebirgspanoramen,
Stadtplänen und Karten aufs reichste ausgestattet, behandelt
es außer der Schweiz zugleich auch einen beträchtlichen Theil
Norditnliens. Der Umstand, daß es in der dreißigsten
Auflage vorliegt, beweist uns auch, daß es sich zahlreiche
Freunde erworben hat. — Ein unentbehrliches Supplement
des Buches bilden die „Achtzig Touristen-Karten für
Schweizer-Reisen", die der Handlichkeit wegen separat
erschienen sind; und ebenso auch desselben Verfassers „Prak-
tische Reiseregeln", dem 50Routenkarten beigegeben sind.
— Dr.M. Höfler, Volksmedizin und Aberglaube
in Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit.
Mit einem Vorwort von Friedrich von Hellwald.
München, Stahl 1 888. 8". 243 S. Das reiche
Gebiet der Volksmedizin hat bis jetzt noch bei weitem
nicht die Beachtung gefunden, welche ihm als einer der
interessantesten Abtheilungen der Folk-lore zukommt. Freilich
bietet das Sammeln des nöthigen Materials ganz unge-
wöhnliche Schwierigkeiten; nur ein Landarzt, der durch
langen Aufenthalt ganz mit seinem Bezirke verwachsen ist
und sich das unbedingte Zutrauen der Bevölkerung erworben
hat, kann mit Erfolg solche Ueberlieferungen sammeln; auch
er kann nur in abgelegeneren Gebirgsgebieten noch auf
reiche und unverfälschte Ausbeute rechnen; und wo sind die
Gebirgsärzte, denen, von der Fähigkeit ganz abgesehen, im
Ringen um den täglichen Erwerb dazu die Zeit bleibt? Der
Verfasser ist einer von diesen Glücklichen und sein Buch
verdient wohl die empfehlende Vorrede, welche ihm Friedrich
von Hellwald mit auf den Weg gegeben. Mit Bienenfleiß
hat er eine Unmasse von Thatsachen nicht nur zusammen-
getragen, sondern auch gesichtet und übersichtlich geordnet.
Er hat freilich in den Alpen ein ungewöhnlich reiches Feld
zur Benutzung gehabt, auf deni sich gar mancher altheidnische
Zug in voller Reinheit erhalten hat; aber auch aus unseren
Mittelgebirgen sind diese noch lange nicht ganz verschwunden,
und es wäre sehr zn wünschen, daß recht viele Kollegen des
Verfassers sein Buch studiren und durch einschlägige Mit-
theilungen aus ihrem Bezirke ergänzen möchten. Ko.
Inhalt: Dr. H. Schunke: Die Färber. I. (Mit einer Karte und fünf Abbildungen.) — I. von Goerne:
Ueber die Schwankungen des Wasserstandes im Kaspischen Meere, im Schwarzen Meere und in der Ostsee in ihrer Beziehung zur
Witterung. — H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. II. (Fortsetzung.) — Olga Toeppen: Erzählungen
der Suaheli-Neger in Zansibar. — Kürzere Mittheilungen: Aus Südafrika. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. —
Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. — Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 11. Juli 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deck er t in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich V i c w c g und Sohn in Braunschwcig.
Wrt besonderer Derürbsrchtrgung der Ethnologie, der Kulturberhältnisse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nnnuncru. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1888.
Die Färöer.
Bon Dr. H. S ch u n k e.
II.
(Mit sechs Abbildungen.)
Die Färöer wurden im 9. Jahrhundert durch skandi-
navische Seefahrer besiedelt und leisteten als Stutzpunkt
zu weiteren Entdeckungsreisen, als Schlupfwinkel bei
Naubzügen, oder als Speicher für Nahrung und Güter
vortreffliche Dienste. Mancher berühmte Seefahrer —
wir nennen nur Christoph Kolumbus (1467) — hat im
Laufe der Jahrhunderte seinen Fuß auf den felsigen Boden
der Färöer gesetzt. In jenen Zeiten, wo der Verkehr zwischen
den nordischen Ländern sowie nach Island und Grönland
bedeutungsvoller als heutzutage, und wo manche nordische
Insel in gewissem Sinne ein wichtiger Kulturherd war,
mag auch die Bedeutung der Färöer eine höhere gewesen
sein als in der Jetztzeit. In unserem Jahrhundert haben
sie die Schicksale ihres Mutterlandes Dänemark getheilt;
sie sind zu Anfang von den Engländern besetzt, ihrer Werth-
losigkeit halber aber bald wieder aufgegeben worden, und als
1814 im Kieler Frieden Dänemark Norwegen an Schweden
abtreten mußte, behielt es sich das Besitzrecht über Grön-
land, Island und die Färöer vor. Heutzutage ist auf den
Färöer alles dänisch, und nur einige Anklänge an das Alt-
nordische sowie an die isländische und schottische Mundart
deuten auf die früheren und heutigen nachbarlichen Be-
ziehungen hin.
Man sieht dem Färinger auf den ersten Blick seine
germanische Herkunft an. Er ist, wie die alten Wikinge,
groß und stark von Körperbau, trägt blondes Haar und
rothen Bart; in seinem Antlitz wohnt ein Zug von Kälte
und Schwermuth; er ist schweigsam und ernst, wie die
Natur der Felsen, die er bewohnt. Seine Kleidung zeigt
nichts Auffälliges; er trägt eine kurze schwarze Tuchjacke,
die mit großen Knöpfen geschmückt ist, kurze Beinkleider,
und lange, bis an die Knie reichende, wollene Strümpfe, über
welche, sobald cs auf die See geht, die großen Fischer-
stiefeln ans Seehunds- oder Ochsenfell gezogen werden.
Als Kopfbedeckung tragen die Männer eine braune wollene
Kappe mit rothem Streifen. (S. Abbildung 1 und 2.) Die
färingischen Frauen ähneln einander alle: alle haben dasselbe
eirunde Gesicht, eine lange Nase mit breiten Flügeln, blaue
Augen, eine gebräunte Haut, eine untersetzte Körpergestalt und
sind in ihrem Wesen mehr nachdenklich und träge als feurig
und lebhaft. Sie tragen keinerlei Kopfputz, sondern lassen
ihre schönen aschgrauen Haare in zwei Zöpfen herabhängen.
Gerühmt wird der fromme religiöse Sinn der Insulaner,
sowie die große Sittenreinheit, die trotz des bedenklich nahen
Zusammenlebens der Dienstboten bewahrt wird, und das
friedliche, gesetzmäßige Verhalten; Körperverletzungen gehören
zu den größten Seltenheiten und niemand erinnert sich einer
Mordthat.
Die Hanptnahrnngsquellen der Färinger sind die Schaf-
zucht, der Fischfang und das Einsammeln von Vogelfedern
Dr. H. Schunke: Die Färöer.
67
und Eiern. Schon die ersten Entdecker sollen auf den Inseln
große Schafheerden angetroffen haben, und heute mögen
mehr als 200 000 Stück auf denselben leben. Dieselben
machen, nebst den Erträgnissen des Fischfanges, den ganzen
Reichthum der Bewohner aus. Was für den Eskimo der
Hund, für den Lappen das Ren, für den Grönländer der
Seehund, für den Süd-
amerikaner das Lama ist,
das ist für den Färinger
das Schaf. Die armen
Thiere sind fast völlig ver-
wildert und leben Sommer
wie Winter in den Gebir-
gen ohne Stall und ohne
ein schützendes Dach. Bei
der Spärlichkeit der Pflan-
zenwelt ist die Nahrung oft
recht knapp; im Winter
suchen sie mühsam unter
der harten Schneedecke ihr
kärgliches Futter, das sie
leider nicht immer erreichen
können. Hält das Frost-
wetter länger an, als De-
zember und Januar, so
gehen viele zu Grunde, sie
verhungern, und oft findet
man ihren Magen ange-
füllt mit Wolle, die sie
sich abgezupft und ver-
schlungen haben. Dazu ist
der Winter nicht ihr ein-
ziger Feind; im Frühjahre
richtet der große Seerabe
unter den Lämmern große
Verwüstungen an, so daß
die Regierung früher die
Vertilgung einer Anzahl
dieser Raubvögel jedem Fä-
ringer zur Pflicht machte.
Wie viele Schafe alljähr-
lich zu Grunde gehen, be-
weisen die überall ans den
Weideflächen zerstreut um-
herliegenden Knochenreste nur zu deutlich. Im Juni be-
giebt sich der färingische Heerdenbesitzer, unterstützt von
seinen Dienstleuten und den eigens zu diesem Zwecke ab-
gerichteten Hunden, ans die Suche nach den ihm gehörigen
Schafen, die er an
dem Zeichen wieder
erkennt, welches er
ihnen im verflosse-
nen Jahre aufge-
drückt hatte. Hat er
eine genügende Zahl
zusammen gebracht,
so wird auf einer Art
Anger die Schaf-
schur vorgenommen.
Man bedient sich dazu
aber nicht, wie bei uns, der Scheerc, sondern zupft ein-
fach die Wolle mit den Händen los. Man hat dieses Ver-
fahren vielfach als eine Barbarei verurthcilt, allein es ist
für die Thiere keiiteswcgs so schmerzhaft, als man an-
nimmt; die Wolle würde schon von selbst abfallen, oder als
lästiger Wärmeschntz von den Thieren an den Felsenwänden
abgerieben werden, wenn man sie nicht davon befreite. Das
Abzupfen der Wolle ist auch zweckmäßiger als die glatte
Schur, weil dadurch das Thier in dem immerhin kühlen
Klima besser gegen die schroffen Gegensätze in der Er-
wärmung geschützt ist. Die Wolle ist lang, fein und weich
wie Seide. Sie wird theils im Lande selbst zu Tüchern, Klei-
dern und vor allem zu Strümpfen verwebt, theils ausgeführt.
Eine große Anzahl der
Schafe — 40 000 bis
5O OOO Stück — wird jähr-
lich geschlachtet; und das
Fleisch, das Fett, die Ein-
geweide, die Felle, kurz
Alles findet Verwendung.
Ein großer Theil des Flei-
sches bleibt im Lande und
ist einHauptnahrnngsinittel
der Bewohner. Dasselbe
wird im Herbst in einer-
besonderen Trockenhütte —
dem Kiadl — aufgehängt;
diese Bude zeigt breite Fu-
gen und Ritzen zwischen den
Brettern, sodaß die scharfe
kalte Luft überall dnrch-
dringen kann. Dadurch
wird das Fleisch äußerlich
völlig trocken, erhält eine
feste Kruste, bleibt aber im
Innern schön saftig und
kann Monate lang aufbe-
wahrt werden, ohne zu ver-
derben. Es wird in rohem
Zustande genossen und soll
wohlschmeckender sein, als
man nach dem Aussehen
vermuthen sollte. Dem Um-
stande, daß es außer den
abgerichteten Schafhunden
keine andere Hunde ans den
Färöer giebt, schreibt man
es zu, daß hier die Band-
wurmkrankheit unbekannt
ist, die ans Island und in
anderen schafzuchttreibenden
Ländern eine wahre Landplage geworden ist.
Unter den Thieren des Meeres, deren Fang eine weitere
Erwerbsquelle der Färinger bildet, steht ein kleiner Delphin,
der Grindewal (Olodieexlralns globiceps Cuv.) obenan.
Im Volksmunde
wird er auch Putz-
kopper (Butzkopf) ge-
nannt , wegen des
breiten, gewölbten
Stirntheils; er wird
6 bis 8 m lang und
hat jederseits in der
Kinnlade 9 bis 14
Zähne. Im Septem-
ber kommt derselbe in
großen Heerden an
die färingischen Küsten selbst in die Buchten und Häfen
hinein, und dann sind die sonst so ruhigen Hasenorte wie um-
gewandelt. Frauen und Kinder springen wie närrisch vor
Freude durch den Ort und schreien: Grindewal, Grindewal!
Auf diese frohe Nachricht hin werden alle Boote in Bereit-
schaft gesetzt. Die Bootsführer kommen herbei und ertheilen
die Befehle zum Kampfe. Die Fahrzeuge gehen in ge-
9*
Färöer-Insulaner.
68
Dr. H. S ch unke: Die Färöer.
Dr. H. Schunke: Die Färöer.
Delphin-Schlächterei.
70
Dr. H. Schunke: Die Färöer.
schlossenem Zuge, durch ausgebreitete Segel oder kräftige
Ruderschläge in Bewegung gesetzt, vor und umgehen im
Halbkreise die Heerde. Die Grindewale wollen entfliehen,
werden aber durch die Boote immer weiter nach dem Hinter-
grunde der Bucht gedrängt. Es bleibt ihnen kein Ausweg,
dem Blutbade zu entrinnen; wenn sie auch ans kurze Zeit
untertauchen, so müssen sie doch bald wieder an die Oberfläche
kommen, um zu athmen. Nun beginnt eine allgemeine
Schlächterei: Eine Weile sieht man nichts als Spieße,
Piken, Harpunen, Eisenspitzen, zertrümmerte Schädel, zer-
stochene Leiber, zuckende Fleischklumpen. Die Menschen
scheinen wie berauscht durch den Anblick des Blutes; sie
hauen, schlachten, todten. Weithin färbt sich das Meer
roth von Blut, und die schreckliche Würgerei nimmt erst ein
Ende, wenn alle Wale gctödtet sind, und das sind manchmal
mehr als hundert Stück! (S. Abbildung 4.) Darauf werden
die Thiere an's Land gezogen, abgehäutet und zerhackt. Das
Fell wird gegerbt und dient zum Verfertigen fester Riemen.
Das Fleisch wird frisch und gesalzen genossen und ist an
Geschmack dem fetten Rindfleisch ähnlich. Der Speck wird
zu Thran gekocht, die Blase gegerbt und als Aufbewahrungs-
gefäß für denselben benutzt.
Die Bucht von Westmanhavn gilt für einen bevorzugten
Jagdplatz, doch bleiben Walzüge manchmal ein und zwei
Jahre lang aus, und es entsteht dann ein bedeutender Ausfall
in den Einnahmen der Färinger. Wie tief der Grindewal-
Häusliches Leben der Insulaner.
fang in die Lebensgewohnheiten des Volks eingreift, zeigt
das reichgeschnitzte Speckmesser, das aus Kirkeböe an der
Südwestküste von Stromöe stammt (S. Abbildung 3).
Rach dem Fange sondert man ein Zehntheil der Bente
ab und macht daraus drei Theile: einen Theil für die Kirche,
einen Theil für die Geistlichkeit und einen Theil für den
Staat. Von den übrig gebliebenen neun Zchntheilcn wird
ein Hundertstel für die Schulen und ein Hundertstel für die
Armen aufbewahrt; der Rest wird getheilt. Jedes Mit-
glied einer Fischerfamilie, die Kinder mitgerechnet, erhält
seinen gesetzlichen Theil.
In guten Jahren werden 2000 bis 3000 Stück Grindc-
wale gefangen; ein Thier giebt etwa l Tonne Thran, und
die jährliche Ausbeute des „Grindesangst^ beträgt etwa
150 000 Mark. Seit 1886 besteht in Thorshavn eine eng-
lische Gesellschaft zur Ausbeutung des Grindewalfanges, die
„Normal Company Limited“, welche von einem Schweden
von Geburt, H. Oeström, geleitet wird. Derselbe hat —
entsprechend seinem Berufe — vor seiner Wohnung ein
paar mächtige Walfischkinnladen als Thorpfeiler ausgerichtet.
In dem großen Schlacht- und Waaarenhause riecht Alles
nach Fischthran, Alles ist von Fett durchdrungen, überall
hängen Theile von Walkörpern, und auf den Gängen be-
wegt man sich zwischen Mauern von Fischfleisch. Die Ge-
sellschaft macht gute Geschäfte.
Außer dem Grindewale werden auch Heringe unb be-
sonders Kabeljaue gefangen, doch bietet dieser Fang nichts
den Färöer Eigenthümliches dar. (Fortsetzung folgt.)
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
71
Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Bon H. Schroeter.
III.
Am 26. September war mein Boot in wohlthuend
schneller Fahrt den breiten, reißenden Strom abwärts auf
dem Wege nach Tang-schien, bei dessen Zollstation ich es
gegen Mittag festmachen ließ.
Tang-schien liegt an der Mündung des Flusses Sang-
kiang, und zwar am linken Ufer. Die Altstadt ist von
einer während der Rebellion ganz unversehrt gebliebenen
Festungsmauer umgeben. Sie liegt ans einer Anhöhe, und
um die Wälle herum zieht sich die Geschäftsstadt. In
ihrem Hafen ist es, wo die von Packhoi über Land kommen-
den europäischen Import-Artikel, sowie die an den Ufern
des Sang-kiang wachsenden Landesprodukte — Cassia,
Grundnußöl und Grundnußkuchen, Indigo, Papier, ferner
Schweine, Kuhhäute und Knhhörner, und vor allem Holz —
zur Verschiffung gelangen, um nach Wu-tschou-fu und
Canton, oder auch den Fluß aufwärts transportirt zu wer-
de», soweit es die Likin-Stationen gestatten.
Von Packhoi führen bekanntlich mehrere Handelsstraßen
nach dem Westslusse, besonders nach Nan-ning-fu. Die
uns hier interessirende geht von Packhoi, bezw. Lien-tschou-
fu einen kleinen Fluß hinauf, nach dem großen Markte
Wuh-lin-tschon, wo die Schiffahrt des Packhoi-Flusses auf-
hört. Hier werden die Waaren auf dem Rücken von
Coolics über das Gebirge nach Pei-liu-schien geschleppt,
was einen ganzen Tag, oder mehr, in Anspruch nimmt.
Von da finden sie auf dem Sang-kiang ihren Weg nach
Bung-schien oder weiter nach Tang-schien, wo sie den West-
fluß erreichen.
Der Sang-kiang schwillt während der Regenzeit zu
einem rauschenden Strome an, gegen Ende des Sommers
trocknet er aber zum größten Theile aus. Er führte nur
noch sehr wenig Wasser in seinem Bette, als ich ihn auf
dem Wege nach Jung- schien bereiste. Die Entfernung
über Land von Tang-schien nach genanntem Orte ist ver-
mittelst Tragsessel in drei Tagen zurückzulegen, die Reise
soll aber nach Aussage der Eingeborenen außerordentlich
beschwerlich sein, da man unterwegs nur in elenden Dorf-
schenken Nachtquartier findet. Ich hatte mir, wohl in Folge
des starken Marsches durch die Tai-wo-Cassia-Berge, ein
freilich nur geringfügiges Fieber zugezogen, welches mich an
Vorsicht mahnte, und ich beschloß daher, die bequemere Fahrt
den Fluß hinauf im Boote zu unternehmen, zumal es mich
reizte, die User dieses noch nie von einem Europäer bereisten
Flusses, von dessen Schönheit mir die Chinesen viel erzählt
hatten, auszukundschaften.
Der Kapitän meines nur zwei Fuß tief gehenden
„Pinguin" erklärte mir leider, dem Wasserstande des
Flusses und dem allgemeinen Gerede der in unserer Nähe
geschäftig ein- und ausladenden Bootsleute nach zu schließen
würde sein Fahrzeug vermuthlich gar zu häufig unterwegs
im Sande stecken bleiben und daher möglicherweise 14 Tage
bis nach Aung-schien gebrauchen. Ich mußte mich daher
entschließen, ein Fahrzeug zu miethen, welches für den Fluß
besonders gebaut war. — Um nicht wieder ein ähnliches
Schicksal, wie in Tai-wo, zu haben, entschloß ich mich, den
Tang - schien - Mandarin gar nicht zu besuchen, und ihm so
keine Gelegenheit zu geben, sich um mich zu bekümmern.
Derselbe schickte aber trotzdem bald nach meiner Ankunft
sechs Soldaten an Bord, um mich gegen eventuelle Un-
liebenswürdigkeiten des Pöbels zu schützen, weil gleich nach
meiner Ankunft das Gerücht von der Anwesenheit eines
Fremden sich wie ein Lauffeuer verbreitet und die halbe
Einwohnerschaft des etwa 2000 bis 3000 Seelen zählenden
Städtchens sich mit allen Zeichen der Ungeduld um mein
Fahrzeug versammelt hatte.
Das Aufsuchen und Engagircn eines passenden Fahr-
zeuges nahm leider viel Zeit in Anspruch. Am 27. Sep-
tember gegen Mittag verließ ich endlich meinen schwer-
fälligen „Pinguin", um auf ein 35 Fuß langes, 5 Fuß
breites und etwa 10 Zoll tiefes Schiff, „Pirat" getauft,
überzusiedeln.
Zwei meiner Cassia-Freunde waren in Tai-wo zurück-
geblieben, und so begleitete mich nur einer derselben, sowie
Afook und mein unter dem Namen „Jette" reisender Koch.
Letzterer war zuvor einmal vier Tage fieberkrank gewesen,
und hatte mich selbst kochen und braten lassen. Gleich das
erste von Afook gemordete und von Federn gereinigte Huhn,
welches ich anstatt im Kochraume in meiner Kasüte in die
Pfanne legte, war aber in Butter und Salz augenscheinlich
wieder lebendig geworden, wenigstens bespritzte es alle meine
Bücher und Papiere. Der stets zu fett gerathenden Brat-
kartoffeln auch herzlich müde geworden, war ich daher nicht
wenig froh, als ich ihn mittelst gewaltsam aufgezwungener
Portionen Chinins glücklich wieder kurirt hatte.
Leider bestand der, wie ich nachträglich ausfand, sehr-
liebenswürdige Tang-schien-Beamte darauf, daß ich drei
Söhne des Mars gleichfalls mitnahm. Meine Schiffs-
mannschaft bestand schon ans dem Bootführer, feinen drei
erwachsenen Söhnen, sowie aus vier meiner Pingnin-Ruder-
kncchte, so daß unser enges Boot recht stark bemannt war.
Aehnlich wie ein Canton-Sampan war dasselbe durch eine
Art schicbbaren Bambusflechtwerkes gegen die Strahlen der
Sonne geschützt.
Um 11/z Uhr Nachmittags verlassen wir den trüben,
gelben Westfluß, um für einige Zeit SSO steuernd in
prachtvolles grünes Gewässer zu gelangen. Der Fluß
windet sich in allen Richtungen durch ein sandiges Bett,
welches an einzelnen Stellen eine Viertel-Meile, an anderen
kaum 100 Fuß breit, überall aber so ausgetrocknet ist,
daß das klare Bergwasser nur in einer oder mehreren Rinnen
läuft und fast überall zu durchwaten ist. Au vielen Stellen
bildet es Sackgassen. Die eine Hälfte meiner Coolies stößt
den „Piraten" von den Seiteubrettern aus im Wasser
vorwärts, die andere trabt, vor ein Schleppseil gespannt,
in den flachen Stellen desselben, oder am Ufer entlang.
Die Leute marschiren häufig zwei Stunden laug ununter-
brochen im feuchten Elemente. Ueberall, wo das Wasser
besonders breit, und daher auch reich an flachen Stellen ist,
haben die Besitzer der vielen, den Fluß regelmäßig be-
fahrenden Boote Bambuszweige in den weichen Sand ge-
steckt, um das sich fast täglich ändernde Fahrwasser näher
zu bezeichnen. Trotzdem sitzen wir unzählige Male im Sande
fest, und sämmtliche Insassen des Schiffes müssen öfters in
das seichte Wasser springen, um den „Piraten" wieder flott
zu machen und in tieferes Wasser zu schieben.
Den Fluß befahrende Boote, die während der trockenen
Jahreszeit nie mehr als 150 bis 200 Piculs tragen, sitzen
häufig Stunden lang, ja einen halben Tag im Sande, allen
ähnlich schwer beladenen Fahrzeugen den Weg versperrend.
Auf diese Weise sammeln sich leicht 15 bis 20 Schisse,
welche eines nach dem anderen ihre Bedienung an's Land
schicken, um mit Schaufeln und mit einer Art Pflug ge-
meinsam einen Weg durch den Sand zu graben.
Die hohen Ufer sind hübsch mit Fichten, Bambus und
grünem Gesträuche bewachsen, aber sehr selten passiren wir
ein Gehöft; nur Holzfäller und Köhler scheinen dicht am
Ufer zu wohnen. Nicht eine einzige Dorfschaft ist zu er-
blicken. Am Abend schließen wir uns einigen Booten an,
um uns gegen etwaige Räuber gegenseitig schützen zu können.
Am 28. September ist der „Pirat" schon gegen Sonnen-
aufgang wieder unterwegs. Die üppig bewachsenen Berge
werden immer reizender, entbehren aber aller Landmarken.
Keine über die Hügel ragenden, fernen Gebirgsketten, keine
Tempel oder Pagoden, die vom Bergesrande in das Thal
schauen, unterbrechen das Waldbild und die Einfachheit. Schon
Tags zuvor habe ich angefangen, mit Hülfe des mich stets
begleitenden Kompasses eine Karte des Flusses zu zeichnen,
ich verderbe aber viel Papier mit fruchtlosen Versuchen.
Der „Sang-kiang" oder „Mäander", wie ich ihn lieber
nennen möchte, windet sich bald nach SW, bald nach SO,
bald ganz nach Norden zurück, so daß ich mehr als ein-
mal eine mir besonders auffallende Hügelkette aus das
falsche User fetze und die Arbeit von neuem anzufangen habe.
Erst auf der Rückreise, als ich den Fluß abwärts, also er-
heblich schneller durch schon bekannte Gegenden fuhr, bin
ich im Stande gewesen, ein einigermaßen richtiges Bild
von dem Laufe des Flusses zu entwerfen.
Gegen Mittag passiren wir Tschun-sam-kou, eine Strom-
schnelle, in welcher das Wasser in der trockenen Jahreszeit
auf 25 Fuß Breite zusammengedrängt wird, während sich
dasselbe im Frühjahr und Hochsommer einen anderen, viel
breiteren Weg bahnt, dessen eben erst ausgetrocknetes Bett
ich deutlich erkennen kann. Nur nach unendlicher Anstren-
gung gelingt es meinen Bootsleuten, den das Felsgestein
rauschend durchbrechenden Wasserschwall zu besiegen.
Wir begegnen vielen stromab fahrenden und aus dicken
Bambusrohren gebildete Flößen, die 20 Fuß lang und
10 Fuß breit, häufig zu sechs und acht an einander befestigt
sind. Ein jedes trägt etwa 20 bis 30 Piculs. Die auf
diese Weise von Pei-liu-schien oder Mng-schien kommenden
Waaren erreichen nach schneller Fahrt, ohne oft im Sande
stecken zu bkeiben, wie die meisten Boote, Tang-schien. Auf
solchen Flößen findet auch unsere Cassia ihren Weg nach
jenem Hafen, um dort in Canton-Dschunken übergeladen
zu werden, während die sich allmählich ansammelnden
Bambusrohre, eine enorme Wasserfläche bedeckend, gelegent-
lich den Westfluß hinuntergeführt werden. Gegen Abend
erreichen wir das Dorf Jtschong, das am Ausgange eines
munter plaudernden Waldbaches liegt. Die Eingeborenen
haben demselben den poetischen Namen „Myrr-ha" ge-
geben, und er vereinigt sich hier in lauschiger Kühle
mit dem „Mäander". Für die Nacht schließen wir uns
wieder einigen Schiffern an, welche in kleinen Booten von
ihrem eine Theuerung voraussehenden Familienoberhaupte
ausgesandt worden sind, um Getreide zu kaufen — wie einst
die Brüder Joseph's von ihrem alten Vater Jakob.
Am folgenden Morgen berühren wir Kom-kai-hue,
einen kleinen Marktflecken, in dessen Nachbarschaft mich
eine Reihe hoher Felsen, die schroff n das Wasser fallen,
lebhaft an die prächtigen Externsteine des Cheruskerlandes
erinnern. Zu ihren Füßen nehme ich im Strahl der
goldenen Morgensonne ein Bad in den grünen Flutheu
des am Fuße der Felsen unergründlich tiefen Flusses. Zu-
gleich schüttele ich die letzten Ueberreste des Fiebers ab, das
mich seit zwei Tagen an mein Boot gefesselt hat, und neu-
gestärkt erklettere ich das grüne Ufergelände, zu einem pracht-
vollen Spaziergange über Berg und Thal den Weg mir
durch das Dickicht bahnend.
„O Wandern, o Wandern
Du freie Burschcnlust,
Da weht Gottes Odem
So frisch in die Brust,
Da singet und jauchzet
Das Herz zum Himmelszelt,
Wie bist du doch so schön
O du weite, weite Welt."
Gegen Mittag erreiche ich auf dein rechten Ufer einen
hohen, kuppelartigen Berg, der hart am Wasser liegt, und
etwa 1000 Fuß hoch ist, und von welchem aus eine weit
sich hinziehende, bis zu 2000 Fuß hohe Bergkette nach SO
läuft. Die gewaltige, breite Bergkuppe, die hie und da mit
Feldern bedeckt ist, bildet eine natürliche Festung. Während
der Rebellion diente sie den Taipings als Sammelstelle und
Hauptquartier. Mehrere Tausend Aufrührer hielten sich
dort Jahre lang verschanzt, die jenseits der Berge liegenden
Thäler plündernd und verwüstend, bis sie, wie überall, durch
den Verrath ihrer durch Aemterverleihung von der kaiser-
lichen Regierung gekauften Anführer gezwungen waren, weiter
binnenwärts, nach den Gebirgen in der Nähe Tongkings,
zu fliehen. Ich nenne den Berg die „Taiping-Burg". Die
Nachkommen jener und ähnlicher Räuberschaaren sind es
auch, welche während des letzten Krieges als „Schwarz-
Flaggen" den Franzosen so viel zu schaffen machten, und es
noch heute thun.
Am Fuße des Berges mündet in den „Mäander" ein
kleines Flüßchen — die „Wong-wa", an deren Ufern ein
imposanter Höhenzug entlang zieht, der nach Osten zu
in der Ferne verschwindet. Sein höchster Gipfel, der
„Druidenstein" erinnert an eine altgermanische Opferstelle.
An der Mündung des Flusses liegt, nach ihm benannt
Wong-wa-mou („mou" — „Mund"), ein kleiner, arm-
seliger Ort. Hier überholen wir einen nach Pei-liu-schien
versetzten Beamten, der mit allen seinen geputzten Su-tschou-
Frauen und seinen Kindern und Dienern, in einem großen
Hortau, wie ich es in Tang-schien zurückgelassen, im Saude
steckt. Von letzterem Platze ist er nun schon acht Tage
unterwegs, und sein Bootsführer gedenkt noch eine weitere
Woche zu gebrauchen, um die kleine Strecke nach Pung-
schien zurückzulegen.
An den Abhängen der Berge findet man immer noch
nur äußerst selten eine kleine Ortschaft im Grün versteckt,
dagegen Holzfäller und Köhler in Menge. Ich mache auch
hier die Bemerkung, daß die Frau nicht den kleinsten An-
theil beim Kampf ums Dasein zu tragen hat.
Ueberall sind schöne Fische unterwegs zu kaufen, und
muß ich vor allen den „Kwai-Aue" („Gespensterfisch")
nennen, einen prächtig gezeichneten, kleinen Raubfisch, der
der Forelle ähnlich ist, und der es auch an Zartheit und
Geschmack beinahe mit dieser aufnehmen kann.
Der „Mäander" verdient noch immer seinen Namen-,
seine Ufer werden aber geradezu entzückend. Die von hohem
Schilf, prächtigen Farrenkräutern, lang aufschießenden Grä-
sern und fremdartigem, in allen Farben schimmerndem Ge-
büsch überwucherten Uferabhänge, welche im schönsten
! Blumenschmuck prangend, ein gigantisches Makart-Bouquet
H. Schroetcr: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
73
neben dem andern bilden, darüber die dicht mit Lärchen-
nnd Fichtcnwaldnngen bewachsenen Hügelketten, und die in
wilder Ueppigkeit gedeihenden, graziösen Bambushaine — das
Alles von den letzten Strahlen der den Horizont mit rosigem
Schimmer verzaubernden Sonne geküßt —, dazu der Aufgang
des Mondes und eine erhabene Stille, die nur von dem
docken der zur Ruhe gehenden Waldvögel unterbrochen wird,
— das sind Erinnerungen, welche für ewig in meine Seele
geschrieben bleiben werden!
Kwang-si ist sehr reich an Schweinen, und die vielen
mit diesen angenehmen Thieren beladenen Canton- und
Fa-tschan-Dschunken beweisen, daß auf dem Westfluß eine
große Anzahl derselben nach diesen Plätzen zur Verschiffung
gelangt. Wird Wu-tschou-fu einmal Vertragshafen, und
können Dampfer die Thiere schnell nach Canton liefern, so
wird sich auch dieser Export noch bedeutend heben!
Wir passiren die Tschi-tscho-schan-Berge, durch welche
sich der „Mäander" in so zahlreichen Schlangenwegcn windet,
daß wir uns während eines ganzen Tages unserm Ziele
nur um wenige Meilen nähern. Diese bis zu 800 Fuß
hohen Berge bestehen aus steilen Felsen, deren schwarze
Schieferwände direkt von der Wasserlinie aufsteigen und
einen imposanten Anblick gewähren.
Am 1. October endlich erreichen wir Sih-lcon, einen
am linken Ufer gelegenen, kleinen Marktplatz, von welchem
allsährlich 2000 bis 3000 Piculs Cassia zur Verschiffung nach
Canton gelangen. Frühmorgens lassen die von der Wasser-
fläche aufsteigenden und nur langsam in der Luft verrinnen-
den Thaunebcl die Ortschaft in der Ferne fast wie ein euro-
päisches Städtchen, mit einem stolzen Schloß an seinem
Eingänge, erscheinen. Näher herangekommen, entpuppt sich
das hohe Gebäude aber als ein schönes, großes Pfandhaus.
Der Platz ist der erste seit Tang-schicn, welcher sich ge-
weißter und ziegelgedeckter Häuser, sowie auch einiger Läden
rühmt, die Einwohnerschaft schätze ich aber ans höchstens
1000 Köpfe. Der Fluß ist hier schon so flach geworden,
und der „Pirat" sitzt so häufig im Sande fest, daß ich mich
entschließe, den Weg nach Pung-schien von hier aus über
Land zurückzulegen. Nach langem Handeln gelingt es Asook,
für mich, den Cassia-Chinesen und sich selbst Bergstühle
anzuschaffen, und gegen 11 Uhr sind wir bereits auf dem
Wege durch das Gebirge, von zweien meiner Bootsleute und
von den drei Soldaten gefolgt. In schnellem Tempo
schleppen die Cookies uns durch die Thalschluchten und über
die Hügelketten in freier werdendes Land, welches sorgfältig
angebaut und mit unzähligen kleinen Ortschaften und Ge-
höften besäet ist. Auch hier ist der Boden reich an Cerealien,
zumal an schönen Reisfeldern, die sich terrassenförmig die
Hügel hinaufziehen, und von den die Berge hinabrinncnden
Bächen aus getränkt werden.
Wie schon an vielen Stellen des Tai-wo- Landes, be-
merke ich auch hier in den Feldern sinnreiche Anstalten, das
Wasser von einer niedrigen Terrasse auf eine höher gelegene
zu leiten: Die Landlcute bauen über dem Bette eines
rauschenden Baches auf hohem Gerüst ein ganz aus Bambus
angefertigtes, 25 bis 35 Fuß hohes Rad, das wie ein
Mühlrad zusammengesetzt ist. Anstatt der Schaufeln hat
dasselbe Reihen von schräg hängenden beweglichen Bambus-
rohren, welche, während sie durch das Wasser treiben, von
demselben gefüllt werden. Nachdem sie den höchsten Punkt
erreicht haben, wenden sie sich in Folge des Niedergangs
des Rades um und gießen ihren Inhalt in einen oben
angebrachten, mit dem Ufer in Verbindung stehenden Be-
hälter. So ist das Rad im Stande, Tag und Nacht
Wasser in die höher gelegenen Felder zu schaffen, ohne daß
die Arbeitskraft von Menschen oder Thieren in Anspruch
genommen wird.
Grundnüsse, primitive Vorrichtungen, diese wichtige
Oelsrucht auszupressen, oder aus der Borke einer wild
wachsenden Pflanze Papier zu gewinnen, ferner ans den
Hügeln wachsende Cassia, und elegante Bambusstanden,
welche sich durch ein besonders zartes, leichtes Rohr aus-
zeichnen (das, nach Canton verschifft, zur Fabrikation von
Schreibpinseln dient), fesseln hauptsächlich das Auge. Auch
Indigo und Zucker finde ich angebaut. Die Hauptknltur
von Indigo liegt übrigens in Pci-liu-schien, das durch die
Ausfuhr dieses Artikels besonders berühmt ist.
Ueberall, wo ich an einer Dorfschenke halte, damit meine
Equipage sich von dem ermüdenden Marsch mit Thee oder
Rciswasser („congree“), erfrischen kann, sammelt sich die
Einwohnerschaft neugierig um den Europäer. Ich werde
aber freundlich aufgenommen, wohin ich auch komme, zumal
wenn ich meiner Gewohnheit nach versuche, mit dem Dorf-
ältesten unter Ueberreichung einer Cigarre ein paar Worte
zu wechseln.
Gegen 5 Uhr Nachmittags erblicke ich von den letzten
Ausläufern der Hügelkette in weiter Ferne die zackigen
Gipfel des Nan-schan-Gebirges, und zu meinen Füßen in
der Thalebene erheben sich die hohen Tempel sowie die
Pfandhäuser und Dächer L)ung-schicns, der größten Stadt,
welche ich jenseits von Wn-tschou-fu besucht habe.
Schon unterwegs hatten meine Leute gehört, in Ljung-
schien sei es nicht geheuer, dasselbe sei von Rebellen belagert,
und die ganze Nachbarschaft sei von Räuberbanden um-
schwärmt. Da an solchen Gerüchten aber nur immer ein
kleiner Theil wahr zu sein pflegt, hatte ich mich um die
Erzählungen und die Bitten meiner Leute, nach meinem
Boot zurückzugehen, nicht gekümmert. Hier möchte ich ein-
schaltend von neuem darauf aufmerksam machen, daß das
am „Mäander" gelegene Aung-schicn eine Kreisstadt ist, etwa
10 000 Einwohner zählt, und einen „Tscheh-schien" in seinen
seit der Taiping-Rebellion wieder neu aufgebauten Mauern
beherbergt. Die Altstadt — das durch Wälle geschützte Centrum
der Stadt — liegt noch theilweise in Trümmern; es wohnen
in ihr die Beamten, Soldaten und einige Privatleute, aber
auch die Tempel, Pfandhäuser und Geldgeschäfte befinden
sich dort. Die ziemlich umfangreichen Stadtnmuern sind
ungefähr zur Hälfte mit Vorstädten (Gehöften, Hütten und
Stallungen) umgeben. Im Südwestcn schließt sich an eins der
engen Stadtthore, in das offene Feld mündend, der Geschäfts-
theil der Stadt, durch dessen Mitte sich eine schöne und nach
chinesischen Begriffen breite Straße zieht, welche samint
ihren Nebengassen nach dem Lande zu geschlossen werden
kann. Als ich mich der Festungsniauer nähere, finde ich
das Stadtthor nicht nur verschlossen, sondern auch mit rohen
Stämmen verzimmert und unzugänglich gemacht, und eine
Proklamation an dem Thor verbietet bei Verlust des Kopfes
jedermann, ohne schriftliche Erlaubniß sich in die Altstadt
zu schleichen. Von den Mauern aber wehen Fahnen und
Standarten wie im Kriege, und Hunderte von frisch an-
geworbenen, in nagelneuen Uniformen steckenden Söldnern,
die Piken, Lanzen und allerlei verrostetes europäisches Schieß-
gewehr schwingen, johlen mir entgegen. Die halbe Ein-
wohnerschaft umringt den nie gesehenen Fremden, als ich,
auf die Rückkehr eines auf Kundschaft in die Vorstadt voraus-
geschickten Begleiters wartend, vor dem Eingänge der Stadt
im Felde stehe. Nur nach vieler Mühe finde ich, von der
vor Aufregung jubelnden und schreienden Plebs gefolgt,
meinen Weg durch die mit Menschen gefüllte Straße, um
bei einem chinesischen Freunde — dem Spediteur meiner
Firma — Unterkunft zu finden. Mein würdiger Gast-
freund, ein kräftiger, wohlgenährter Canton-Chinese, prügelt
bald mit Hülfe meiner Soldaten das lärmende Publikum
aus dem geräumigen Hausflur und riegelt, unbekümmert
10
Globus UV. Nr. 5.
74
H. S chroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
um das draußen schreiende Volk, das laut rasselnde, schwere
Thor demselben vor deuAugen zu; bald sitzen wir daun an einem
mit chinesischen Gerichten reich besetzten Tische, und neben
Samschu würzen einige von den Soldaten den langen Weg
über Stock und Stein mitgeschleppte Flaschen Rüdeshcimer
das leckere Mahl. Behaglich Dampfwolken von uns blasend,
hören wir nun, daß der Tschch-schien des Distriktes schon
seit Wochen mit dem benachbarten Mandarin in Streit
lebt. Letzterer sei während der Taiping-Rebellion ein be-
rüchtigter Anführer gewesen, durch Ucbergabc der Verwaltung
fener damals nur schwer zu erobernden Berglandschaft habe
die chinesische Regierung sich aber Frieden von ihm erkauft.
Der jetzt steinalt gewordene Taiping sei immer ein unruhiger
Nachbar gewesen, die Grenzstreitigkeiten hätten allmählich
zu gelegentlichen kleinen Kämpfen geführt und wären jetzt
in offene Fehde ausgeartet. Seit einigen Tagen habe der
Uung-schien-Beamte daher die Thore der Stadt offiziell
schließen lassen, und durch diesen plötzlichen Belagerungs-
zustand sei die Provinzial-Regierung gezwungen, aus allen
benachbarten Distrikten Soldaten zu Hülse zu senden. Dem
Gesetz des Landes entsprechend, dürfe der L)ung-schien-Beamte
nicht eher die Thore der Altstadt wieder öffnen, bis ent-
weder der Rebell ans seinen Bergen geräuchert fei, oder —
was wahrscheinlicher — bis der Gouverneur von Kwang-si
einen neuen Vertrag mit dem Friedensstörer geschlossen
habe. Letzterer habe nämlich ebenso viel, oder mehr Anhang
in jenen Gegenden, als der Vertreter der Kaiserlichen Re-
gierung, und er habe demselben z. B. sagen lassen, er wolle
auf Ajung-schien losmarschiren, um dessen Wälle niederzu-
reißen. Wenn man nun auch kaum glaube, daß cs so weit kom-
men werde, so sei doch die Gegend mehr oder weniger aufgeregt.
Das mich nach L)ung-schien führende Geschäft hielt mich
daselbst volle zwei Tage. Es kostete mich unendliche Mühe,
meinen Willen durchzusetzen, und mit dem hinter seinen
Mauern verschanzten Tscheh-schien in Verbindung zu treten.
Alle Zugänge der Festung waren verschlossen, und der
Beamte schickte meinen an langer Leine in einem Korbe
über die Stadtmauer beförderten Reisepaß sammt dem
Brief meines Konsuls uneröffnet zurück. Auf die ihm
meinerseits schriftlich zugegangene Mittheilung, ich würde
Pung-schien überhaupt nicht verlassen, bis ich von ihm
empfangen worden sei, und auf mein Anerbieten, den Ober-
befehl über die Stadtmiliz übernehmen und seine Truppen
bis zum Erscheinen des Feindes nach preußischem Drill
eineperziren zu wollen, gelang es mir endlich, meinem Dol-
metsch Afook die Erlaubniß zu erwirken, an einer für ihn
herabgelassenen Bambusleiter die Stadtmauer zu erklettern.
Ich selbst konnte auf diesem nicht gerade vornehmen Wege
natürlich nicht folgen, doch war ja mein Zweck erfüllt,
als mein von dem Tscheh-schien sehr höflich empfangener
Vertreter ein Antwortschreiben desselben an den deutschen
Konsul in Cantón zurückbrachte.
Während der so lange fruchtlos bleibenden Verhand-
lungen, welche meine Leute mit den Thorwächtern der Stadt
pflogen, machte ich eine äußerst strapaziöse Tour nach dem
oben erwähnten Nan-schan-Gebirge. Afook mußte zurück-
bleiben, zwei meiner Boot-Coolies begleiteten mich aber, und
ebenso ein in Pung-schien geworbener Führer. Als ich vom
Dache des Hauses meines Gastfreundes, von welchem aus
ich eine wundervolle Aussicht über die ganze Stadt und
Umgegend genoß, dieselbe mittelst scharfen Fernglases be-
sichtigte, hatten die zackigen Felsen jener prächtigen Gebirgs-
kette meine Sehnsucht geweckt. So machte ich mich denn
am Tage uach meiner Ankunft gegen 4 Uhr Nachmittags
uach diesen originell geformten, bis zu 4000 Fuß hohen
Felskegeln auf, welche von Pung-schien aus gesehen an die
Zinken eines Riesenkammes erinnern.
Die Luft ist so klar, daß ich mich in der Entfernung
leider gewaltig getäuscht habe. Von meiner Wohnung
aus hatte ich mir als Ziel ein an den Felsabhängen kle-
bendes, weißes Gebäude ausgesucht, welches nach meiner
Schätzung in drei Stunden zu erreichen sein mußte, und
nach den Angaben meiner Leute ein Kloster oder Hospiz
sein sollte. Es nimmt mir aber gerade zwei Stunden
länger Zeit, als ich gerechnet hatte, die Behausung zu er-
reichen, und nach entsetzlich anstrengendem Klettern an dem
steilen Felsen hinauf ist es 9 Uhr geworden, als ich in
stocksinsterer Nacht das ungastlichste und abscheulichste Quar-
tier sinde, welches ich in meinem Leben kennen gelernt habe.
Wie ich am folgenden Morgen näher auskundschaftete, ist
nämlich jenes Gebäude nicht ein Kloster, sondern eine Art
Felsenhöhlung, deren Eingänge von roh aufgeführten, weiß
übertünchten Lehmmauern gebildet sind. Das an die
Schlupfwinkel Ulrichs von Lichtenstein erinnernde Felsen-
verließ beherbergt auch keine gastfreundlichen, buddhistischen oder
taoistischen Mönche, sondern dient ungefähr einem Dutzend
chinesischer Literati zur Wohnung, welche sich hier in der
Einsamkeit, fern dem Getriebe der Welt, ihrer Studien
halber aufhalten, und sich von einem mit großer Hornbrille
bewaffneten, alten Männchen für eins der großen Staats-
examen vorbereiten lassen. Diese Jünger der Wissenschaft
haben augenscheinlich seit Wochen kein fremdes Gesicht
gesehen, und als nun plötzlich gar ein von der Anstrengung
des Kletternd keuchender Europäer sie in ihren Studien
stört, ist erst der Schrecken so komisch, und dann die un-
verhohlen zn Tage tretende Unlust, mir Obdach zu geben,
so groß, daß cs des Zusammenhaltens all meiner chinesi-
schen, von den Kwangsi-Lenten kaum verstandenen Phrasen,
und einiger Dreistigkeit bedarf, nicht mit meinen schon
zurückweichenden Begleitern hinausgeworfen zu werden,
und die Thür sich wieder schließen zu sehen. Die bekannt-
lich alle Europäer instinctiv hassenden chinesischen Stu-
denten — die zukünftigen Beamten — machen endlich, als
ich vernehmlich mit silbernen Thalern klimpere, ein etwas
freundlicheres Gesicht, und man bietet uns sogar Thee an
und erlaubt meinen Leuten, sich nach Schlafplätzen umzu-
sehen. Nie vergesse ich aber die Enttäuschung, als meine
Begleiter meiner Reiscdecke eine Flasche entwickeln, welche
anstatt goldenen Rheinweins eine in Ä)ung-schien gezogene
Probe Eassia-Oels enthielt.
Das Nachtquartier, welches ich in dem abscheulichen,
wohl nie gereinigten Verließ auf einer harten Pritsche
finde, unter der ein vernachlässigtes Schwein seine Gegen-
wart in deutlichster und unangenehmster Weise ankündigt,
gehört mit zu meinen unangenehmsten Erlebnissen. Unzäh-
lige Moskitos durchschwirren den heißen Raum, und schon
bald, nachdem alle Insassen desselben — die vielfüßigcn
Kriecher, Hüpfer und Summer ausgenommen — zur Ruhe
gegangen sind, muß ich, übel zerstochen, und auf die Gefahr-
hin, von Tigern angefallen zu werden, das Freie suchen.
„Und find ich kein Herberg,
So lieg ich zur Nacht
Wohl unter blauem Himmel,
Die Sterne halten Wacht."
Ich wecke meine Begleiter, als eben der folgende Tag
graut. Wir erklettern eine weitere Anhöhe, und schaudernd
sehe ich all die abschüssigen Felsabhänge hinunter, die wir
in dunkler Nacht Abends zuvor haben passiren müssen.
Durch einen prachtvollen Sonnenaufgang werde ich bald für-
alle Strapazen entschädigt. Ich bemerke übrigens, indem ich
wieder ins Thal steige, noch eine ganze Anzahl von meist
leer stehenden Felsenwohnnugen, die wie diejenige meiner
Wirthe gebaut sind, auch ein kleines taoistisches Kloster, in
welchem eben Frühmesse abgehalten wird. Unterwegs er-
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwnng-si.
75
quicke ich mich an dem Safte wild wachsender, grüner
Orangen und an einer Art Blaubeere, welche hie und da
aus dem fast ganz kahlen Gestein des Berges wachst.
Mein Körper ist aber in Folge der Anstrengung wie zer-
schlagen, als ich gegen 11 Uhr Morgens wieder bei meinem
Gastfrcunde in Pung-schien eintreffe.
Die Nachricht, daß der Mandarin der Stadt sich in-
zwischen bereit erklärt hat, meinen Dolmetscher zu empfangen,
scheucht aber bald die Müdigkeit aus meinen Gliedern,
zumal sich Nachmittags eine fabelhafte Aufregung der Stadt
bemächtigt. Mehr oder weniger übertriebene Gerüchte, daß
in der Nachbarschaft einige Hundert Mann plündernd und
sengend umherstreifen, ohne zu wissen, welcher der beiden
streitenden Parteien sie sich anschließen sollen, dringen
in die Vorstadt. Die Bürger derselben verbarrikadiren
daher die nach dem offenen Lande führenden Thore, und
mein energischer Wirth beschäftigt sich damit, ein halbes
Dutzend alter „Minia"-Büchsen mit Pulver und Eisen-
stückchen zu laden, wobei ich natürlich behülflich bin. Als
aber gemeldet wird, daß auch auf der vor zwei Tagen noch
von mir passirten Landstraße das Baucrnvolk sich zusammen-
schaart, muß ich dem Rathe meines Gastfreundes folgen,
am anderen Morgen in aller Frühe aufzubrechen, und den
Wasserweg benutzend, heimlich den Platz zu verlassen.
Meinen in einer Opium-Spelunke untergebrachten Soldaten
und Stuhlträgern war nach Ansicht meiner Leute nicht
recht zn trauen, somit erhielten dieselben keine Nachricht
von meiner Abreise. Schon um 4 Uhr Morgens, am
4. Oetober, gleite ich also in einem kleinen Sampan, nur
von meinen Cantónese» begleitet, den Fluß hiuab, um den
in Sih-leong zurückgelassenen „Piraten" gegen Abend un-
gefährdet zu erreichen.
Während der Rückreise nach Tang-schien kam ich durch
dem Leser schon bekannte Gegenden; ein kleines Ereigniß
verdient aber wohl, aufgezeichnet zu werden:
Zwei Tage, nachdem ich Sih-leong verlassen, gehe ich
nach dem Abendessen im Mondschein am User in der Nähe
meines vor Anker liegenden Bootes spazieren, als ich um
ein großes Feuer hockend, eine Anzahl von Chinesen be-
merke. In deren Nachbarschaft, aus dem Räude von auf
den Sand geschobenen Bambusfloßen sitzt eine große Anzahl
von Vögeln, sämmtlich den Kopf in den Federn bergend.
Dieselben haben ungefähr die Größe und Gestalt einer
Gabelweihe, dabei aber Schwimmfüße wie die Gänse,
während der kräftige Schnabel und lange Hals einem Mittel-
ding von Schwan und Reiher zu gehören scheint. Es
sind Kormorane, mit welchen von Pe-liu-schien kommende
Chinesen einen Fischzug den Fluß hinunter machen. Die
mit Ausnahme der grauweißen Brust schwarz gezeichneten
Vögel sind so zahm, wie es kaum eine Heerde Schafe sein
kann. Sie lassen sich von mir am laugen Halse, wie eine
Katze am Schwänze, emporhalten, ohne nur mit den Flügeln
zu schlagen; bei Vögeln habe ich selten etwas ähnlich In-
differentes gesehen. Daß in den anscheinend so trägen
Thieren aber Leben steckt, habe ich Gelegenheit gehabt, zu
beobachten. Ich lasse nämlich eine Fischfahrt für mich
arrangiren.
Am folgenden Morgen gegen 2 Uhr, als der Mond
untergegangen, und es stockfinstere Nacht ist, wecken mich
meine Leute; unweit meines Bootes liegen drei etwa 15 Fuß
lange und 4 Fuß breite Floße hu Wasser, deren mittleres
wich und einen hinter mir stehenden Fischer aufnimmt.
Ueber den vorderen Rand der beiden anderen, von je zwei
Fischern besetzten Floße weit hinausragend, hängt in einem
korbartigen Drahtgeflecht je ein hell brennendes Kienfeuer,
auf dem Rande der beiden Floße aber sitzen die vor Aufregung
wit den Flügeln schlagenden Vögel, zusammen 27 Stück,
und in einer Linie fahrend, schieben die Fischer unsere drei
Floße mittelst langer Stangen in die dunkle Nacht hinaus.
Ich muß vorausschicken, daß sämmtlichen Vögeln ein dünner
Faden dicht über den Flügeln den Hals verschließt und daß
dieselben seit 24 Stunden gehungert haben. Bald nach-
dem wir unseren Ankerplatz verlassen, stürzt einer der
schwarzen Vögel nach dem andern ins Wasser, um schwim-
mend und tauchend auf die im Fackellicht erschreckt stehen
bleibenden Fische zu stoßen und sic mit kräftigem Schnabel
zu packen. Sind die Fische klein genug, um den durch
die Schnur eingeengten Schlund zu passiren, so schluckt
sic der Vogel hinunter und erhält so seine Nahrung. Die
Thiere sind aber eben so dumm wie gierig, suchen sich mit
Vorliebe Fische aus, welche so groß sind, daß sie mit dem
Kopf vor jenem Faden stecken bleiben, und zeitweise mit dem
Schwänze derart aus dem Schnabel ragen, so daß der Vogel
sich kaum über Wasser halten kann. Einer der das Floß
vorwärts stoßenden Fischer hält nunmehr dem Vogel seine
Stange entgegen, und dieser gleitet mit seinen Schwimm-
füßen den glatten Bambus seitwärts hinauf. Der Fischer
ergreift ihn an den Füßen, und hält den Gieremund
so lange über einen in der Mitte des Floßes stehenden
Korb, bis der Fisch ausgewürgt ist. Darauf wird der
dumme Vogel wie ein Stück Holz wieder ins Wasser ge-
worfen, um auf neue Beute zu fahnden. Jeder der Kor-
morane trägt an einem Fuße eine kleine Schlinge. Es
passirt ihm nämlich gelegentlich, daß er einen allzu starken
Fisch greift, mit welchem er das Gleichgewicht verliert, so
daß er ersticken würde, wenn ihm sein Herr nicht zu Hülfe
käme. Derselbe zieht in solchen Füllen den geduldigen
Vogel, mit seiner Stange in die Schlinge greifend, auf das
Floß, hält den Jäger sammt seiner Beute über den er-
wähnten Korb, und nach Bereicherung desselben schleudert
er den Vogel zu neuer Arbeit in den Fluß.
Ich selbst, in der lauen Luft nur mit leichtern Schurz
bekleidet, springe im Fackellicht von meinem nur wenig ans
dem Wasser ragenden Floß mehrmals mitten unter die Vögel,
um ihnen bei Entledigung der gefangenen Fische behülflich
zu sein. Ueberhaupt werde ich diesen nächtlichen Fischzug
an den von unseren Fackeln hell erleuchteten Ufern des schönen
Flusses nicht so bald vergessen.
Nach etwa dreiviertel Stunden haben sich 40 bis 50 kleine
und große Fische in den Körben meiner braunen Kameraden
gesammelt. Diese letzteren bringen mich nach meinem Boot
zurück, ich nehme ihnen einen Theil der Fische gegen recht
reichliche Bezahlung ab, und meine neuen Freunde ver-
schwinden bald wieder, jeder eine große Cigarre dampfend,
hinter der nächsten Krümmung des hohen Ufers.
Drei Tage nach meiner Abreise von L)ung- schien er-
reichte ich Tang-schien, siedelte in meinen „Pinguin" über
und besuchte diese, lediglich als Speditions-Platz dienende,
und fast gar keinen eigenen Handel treibende Stadt. Die
in Pung-schien zurückgelassenen Soldaten waren mir die
Strecke von genanntem Platze nach Sih-leong glücklicher-
weise über die Berge gefolgt und in Sih-leong an Bord
genommen worden, so daß ich im Stande war, mich ihrem
Herrn — dem Tang-schien-Beamten — gleich nach meiner
Ankunft, spät am Nachmittage für den folgenden Morgen an-
zumelden, um ihm für die Söldner zu danken. Bald nach
Sonnenuntergang hielt aber ein Troß von Pamen-Läufern
am User, einen großen Tragstuhl umstehend. Der Herr „Land-
rath", ein freundlicher, steinalter Herr, kommt selbst, mich
zu begrüßen, da er am folgenden Morgen nach einem be-
nachbarten Kloster reisen muß, um die Heiligen um den
seit zwei Monaten ausgebliebenen Regen zu bitten. Er ist
vor Jahren „Kapitän" (vermuthlich chinesischer Konsnlats-
beamter) in Batavia gewesen, und will die Gelegenheit nicht
10*
76
Dr. W. Sie Vers: Der Verfall des Staates Magdalena. (Colombia.)
versäumen, wieder einmal mit einem Europäer zu reden.
Er spricht etwas Holländisch, ich selbst Plattdeutsch, und so
unterhalten wir uns ein Stündchen auf das Prächtigste über
deu großen Krieg von 1870 bis 1871, über unsern greisen
Heldenkaiser und seinen gewaltigen Kanzler, sowie über die
Rebellen in Pung-schien, die drohende Hungersnoth und
dergleichen. Ich muß freilich gestehen, daß mein Afook sehr
bald wußte, daß „Kan-nit-verstahn" ein deutlicher Wink für
ihn war, uns mit seinem Sprachtalent ans der Verlegen-
heit zu helfen. Beim Abschied machte ich dem würdigen,
alten Herrn eine große Freude damit, daß ich ihm aus
seinen Wunsch eine, auf meinem Schreibtische stehende
Photographie des Fürsten Bismarck verehrte, welche er feier-
lichst versprach, zu einem Familien-Erbstück machen zu wollen.
Der Verfall des Staates
Von Dr. SB
In Nr. 15 und 16 des 53. Bandes dieser Zeitschrift habe
ich einige ältere Nachrichten des Nicolas de la Rosa über
die Indianer der Provinz Santa Maria aus unverdienter
Vergessenheit hervorgezogen.
In dem Buche des Nicolas de la Rosa, der „Floatet
de la Santa Iglesia Catedral de la Ciudad de Santa
Marta“ finden sich jedoch auch recht ausführliche Bemer-
kungen über die in der Provinz Santa Marta vorhandenen
Städte, Dörfer und Ansiedelungen der Spanier sowohl wie
der Indianer.
In meinem Reisewerke über die Sierra Nevada de
Santa Marta und auch in meiner wissenschaftlichen Ab-
handlung über dieselbe (Zeitschrift der Berliner Gesellsch.
f. Erdkunde, 1868, S. 157), habe ich über den allgemeinen
Verfall des Staates Magdalena, welcher der früheren Pro-
vinz Santa Marta mit Ausschluß des Distriktes von Ocana
entspricht, nähere Angaben gemacht, die darin gipfelten, daß
das jetzige Departamento —der frühere Staat — Magdalena,
der nordöstlichste Theil der Republik Colombia, in einem
namentlich seit der Revolution von 1860 immer mehr zu-
nehmenden, zur Zeit wahrhaft erschreckenden Zustande des
Verfalles begriffen sei.
Diese Beobachtungen, welche sich mir bei jedem Reise-
tage mehr aufdrängten, werden durch die Nachrichten des
Nicolas de la Rosa entschieden bestätigt, insofern derselbe
eine Reihe von Ortschaften aufzählt, welche im Jahre 1740,
zur Zeit der Abfassung jenes Buches, noch existirten, jetzt
aber spurlos verschwunden sind. Uebrigens scheint der Ver-
fall des Staates Magdalena auch um 1740 schon begonnen
zu haben, da Don Nicolas eine Reihe von Ortschaften
namhaft macht, die bereits zu jener Zeit eingegangen waren.
Die Provinz von Santa Marta zerfiel im Jahre 1740
in sieben Unterabtheilungen: die Pfarreien von Santa Marta,
San Sebastian de Tenerife, San Miguel de Tamalameque,
Ocana, Valencia de Jesus, Balle Dupar und Rio de la
Hacha. Heutzutage gehört, wie bereits bemerkt, der Distrikt
Ocana nicht mehr zum Staate Magdalena, und die Gegend
von San Sebastian de Tenerife und Tamalameque habe
ich nicht besuchen können; einen persönlichen Vergleich des
früheren und des heutigen Zustandes konnte ich daher nur
in den alten Pfarreien von Santa Marta, Valencia de Jesus,
Balle Dupar und Rio de la Hacha anstellen.
Leider giebt Don Nicolas keinerlei Einwohnerzahlen
an, so daß dieselben mit den heutigen nicht verglichen werden
können, wohl aber ergiebt sich ans der einfachen Aufzählung
der damals vorhanden gewesenen Dörfer ganz klar der
augenscheinlich erfolgte bedeutende Rückschritt.
Betrachten wir zunächst den Distrikt von Santa Marta,
so ist es eine bekannte Thatsache, daß die Stadt Santa
Magdalena. (Colombia.)
. Sievers.
Marta selbst nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe ist.
Abgesehen von dem allgemeinen Verfall der spanischen
Kolonien und der Republik Colombia im besondern, liegt
der Grund für die Verödung Santa Martas wesentlich in
der Eröffnung der Dampfschiffahrt auf dem Rio Magdalena,
durch welche Santa Marta von dem Lebensnerv der Re-
publik abgedrängt und auf diese Weise gänzlich lahm gelegt
wurde, während der Verkehr sich vollständig dem neu-
erstandenen unteren Endpunkte der Dampferlinie, Barran-
quilla, zuwandte, das jetzt durch eine Eisenbahn mit dem
Hafen Salgar (Sabanilla) verbunden ist. Allerdings hat
man in Santa Marta Anstrengungen gemacht, um die ver-
lorene Stellung als größter Import-Hafen des ganzen
Landes wieder zu gewinnen und zu diesem Zwecke eine Eisen-
bahn über Ciénaga nach Pueblo Nuevo an der Ciénaga Grande
gebaut, von wo aus wöchentlich mehrmals Dampfer nach
Barranquilla gehen; und diese Eisenbahn soll auch nach dem
Cerro de San Antonio am Rio Magdalena oberhalb Barran-
quilla weitergeführt werden, um auf diese Weise den Handel
aus dem Innern abzufangen. Allein auch in Barranquilla
sieht man diesen Bemühungen nicht unthätig zu, sondern
plant schon 1886 die Anlegung eines neuen Hafens,
welcher dem Versanden nicht so ausgesetzt sein soll, wie die
Rhede von Salgar, auf welcher die Dampfer eine sehr weite
Strecke vom Lande entfernt ankern müssen; denn der Hafen
von Santa Marta hat den ungeheuren Vortheil, daß die
größten Dampfer fast unmittelbar bis an die Werften ge-
langen können, was der Rhede von Salgar und Sabanilla
gänzlich mangelt. Es wird sich nun voraussichtlich ein
Konkurrenz-Kampf zwischen den Städten Santa Marta
und barranquilla entspinnen, in welchem jedoch die erstere
im Nachtheil sein dürfte, da sich nun einmal der gesammte
Handel in Barranquilla festgesetzt hat und nach Eröffnung
des neuen Hafens Puerto Belillo die Waaren auch nicht öfter
umgeladen zu werden brauchen, als auf dem Wege über Santa
Marta. Im Jahre 1886 war Santa Marta gänzlich todt, und
monatlich verkehrten nur drei Dampfer in dem prachtvollen
Hafen der Stadt. Ich glaube, daß damals höchstens 1500
bis 2000 Menschen in der Stadt Santa Marta lebten,
während Barranquilla 25 000 Einwohner besaß.
Von den übrigen Ortschaften, die noch in der Gegend
von Santa Marta existiren, zählt auch Don Nicolas bereits
den größeren Theil, nämlich San Pedro, Mamatoco, Bonda,
Masinga, Taganga, Ciénaga und Gaira auf, dagegen
fehlt bei ihm die neu entstandene große Ansiedelung Rio
Frio am Flusse gleichen Namens. Der Unterschied in der
Größe von Santa Marta und Ciénaga mag sich seitdem
gerade umgekehrt haben, da Santa Marta ans einer volk-
reichen Stadt ein ödes todtes Städtchen, Ciénaga ans einem
Dr. W. Sievers: Der Verfall des Staates Magdalena. (Colombia.)
77
Fischerdorfe eine bedeutende Stadt geworden ist. Auch
scheint Pueblo Nuevo bei Cienaga erst seit 1740 ent-
standen zu sein. Aber dafür zählt Don Nicolas noch die
beiden Dörfer Purificacion de Geriboca und Santa Ana
de Tangica in seiner Tabelle auf, so daß wir zwei neuent-
standencn Dörfern auch zwei eingegangene gegenüberstellen
können. Allerdings scheinen in nicht allzu ferner Zeit
weitere Ansiedelungen erlöschen zu sollen, wie namentlich
Masinga und Taganga. Jedenfalls ist der Umstand, daß
überhaupt zwei Ortschaften vollständig verschwinden konnten,
für den Fortschritt des Landes kein günstiger zu nennen,
und noch weniger, daß diesen zwei erloschenen Orten nur
zwei neu entstandene gegenübergestellt werden können.
Die gewaltigen Wälder des Westabhanges scheinen zur
Zeit des Don Nicolas de la Rosa gar nicht bevölkert ge-
wesen zu sein, doch giebt derselbe an, daß an dem Rio
Sevilla eine Stadt gleichen Namens gestanden habe, welche
jedoch schon lange vor 1740 wieder zerstört worden sein
muß; wenigstens weiß unser Schriftsteller (S. 178) nichts
näheres mehr über den Untergang derselben anzugeben, be-
hauptet aber, daß die Chimiles- Indianer die Urheber
desselben gewesen seien, und daß noch einige Reste der Stadt [
damals existirt hätten. Heutzutage finden sich dort, wo die
Straße den Fluß Sevilla überschreitet, ein paar Ranchos
im Walde. Dagegen bestand in der Mitte dieses Jahr-
hunderts an dem Rio de la Fundacion ein Dorf gleichen
Namens, welches jedoch 1886 in Auflösung begriffen war;
die Einwohner zogen nördlich nach Cataca, einer viele Vieh-
zucht treibenden Ansiedelung, welche stark emporblühte. So
wandern, wie es scheint, die Ortschaften von Zeit zu Zeit,
und traurige Trümmer im Walde sind nach einigen Jahr-
zehnten die einzigen Zeugen vormals bewohnter Stätten.
Auf ein weiteres Beispiel dieser Art stoßen wir bei der
Betrachtung des Distriktes von Valencia de Jesus, indem
nämlich auch diese Stadt einestheils ihren Platz gewechselt
hat, andererseits zum Dorfe herabgesunken ist. Zuerst
wurde Valencia de Jesus in den Sabanen des Ariguani,
am Fuße der Sierra de San Sebastian gegründet, dort wo
heute die Hütten von Pueblo Viejo stehen. Die jetzigen Be-
wohner behaupten, daß man die Ansiedelung in Folge der
unerträglichen Mückenplage habe verlegen müssen, allein
unser Gewährsmann sagt (S. 147), daß die Indianer,
namentlich die Chimiles und Orejones den Anlaß dazu ge-
geben hätten, welche auch noch um 1740 durch fortwährende
Raubzüge die Bewohner von Valencia de Jesus in Schrecken
versetzten. Aus diesem Grunde soll die Einwohnerzahl von
Valencia sehr abgenommen haben und heute ist es nur noch
ein elendes Dorf, ohne alle und jede Bedeutung.
Auch das durch Kupferminen bekannt gewordene Cam-
perncho wird schon von Nicolas de la Rosa erwähnt, weil
dort eine Frau Dona Manuela Manuaceli eine Gold- und eine
Smaragden-Grnbe gehabt haben soll, die jedoch ebenfalls in
Folge von Einfällen der namentlich in dem Walde am Rio
Garupal seßhaften Indianer verlassen werden mußten.
Wenn wir nun zu dem Distrikte von Vallc Dupar über-
gehen, welcher Name jedoch jetzt von den Behörden dort selbst
Valle de Upar geschrieben wird, so finden wir, daß auch
diese Stadt außerordentlich gesunken ist, so daß sie von den
Umwohnenden „der Kirchhof der Lebendigen", „el cemen-
terio de los vivos“ genannt wird. Ihre Kirchen sind
zum Theil zerfallen, der früher lebhafte Handel auf dem
Rio Cestrr, dessen Wasser die Holzflöße nach Mompox am
Magdalena trugen, ist verschwunden, und cs wird jetzt
überhaupt nichts mehr von Valle de Upar aus-, noch dahin
eingeführt.
Von anderen Orten in dem Distrikte von Valle de
llpar kennt Nicolas de la Rosa die Städte Villa Nueva
und San Juan, sowie die Orte Molino und Urnmita,
ferner Tupes, und in der Nevada die Jndianerdörfer Atan-
gucz und Sayrino. Von diesen ist Tupes auf einige Hütten
reduzirt worden, Urumita befindet sich im Verfall, Villa-
Nueva und San Juan sind emporgekommen. Sayrino be-
steht nur aus wenigen Häuschen, und Atanqnez ist jetzt
Hauptort des Nevada-Territoriums. Außerdem erwähnt
de la Rosa die Dörfer San Agustin de Fariaz de los
Cariaquiles und San Francisco de Pondore, welche heut-
zutage nicht mehr vorhanden sind. Dem gegenüber scheinen
neu entstanden zu sein: die Jndianerdörfer Rosario, Marocaso
und San Jose, letzteres sicher erst 1875, erstere wahr-
scheinlich nicht viel früher, da zu Anfang der siebziger
Jahre die colombianische Regierung anfing, die in der
Nevada zerstreut lebenden Arhuaco-Indianer zu Dörfern
zu vereinigen. Neu entstanden sind auch wohl die noch
nicht zu Dörfern entwickelten Viehhof-Komplexe El Patillal
und La Vega. Merkwürdig ist, daß de la diosa den Ort
Badillo nicht nennt, welcher eine ziemlich alte Kirche besitzt,
die jedoch wahrscheinlich bald allein stehen wird, da die
wenigen Häuser des Dorfes mehr oder weniger im Ein-
stürze begriffen sind.
Was endlich den Distrikt von Rio Hacha betrifft, so ist
diese Stadt selbst wahrscheinlich noch eine der besseren des
Staates Magdalena, doch muß auch sie früher doppelt so
groß gewesen sein, als jetzt, da im Jahre 1867, bei Ge-
legenheit eines Aufstandes, die ganze westliche Hälfte der-
selben vollständig abbrannte; an ihrer Stelle erhebt sich
jetzt der Kirchhof.
Nicolas de la Rosa erwähnt von den jetzt im Distrikte
Rio de la Hacha liegenden Dörfern kein einziges, mit Aus-
nahme von Barrancas, dagegen fehlen Papayal, Treinta und
merkwürdiger Weise auch Fonseca, welches wahrscheinlich
ein nicht sehr junger Ort ist. Auch Dibulla, an der Nord-
küste, ist bei De la Rosa nicht angeführt. Neueren Ursprungs
scheinen die Jndianerdörfer San Miguel und Santa diosa
zu sein, während San Pedro nicht mehr existirt und San
Antonio schon zu De la Rosa's Zeit bestand. Die Dörfer
La Cruz, Toco und San Nicolas de Menores, sämmtlich
im Gebiete der Goajira-Jndianeran gelegt, mit denselben be-
völkert und als Missions-Stationen eingerichtet, sind voll-
ständig verschwunden. San Juan de Rincón Moreno,
welches an der großen Straße längs des Rio Rancheria
zwischen Rio Hacha und Barrancas lag, hat in Folge der
unaufhörlichen Angriffe der Indianer verlassen werden
müssen, ebenso el Paso, Boquerones und Soldado, welches
letztere, als Hauptort des neugegründeten Territorio de la
Goajira, von den Goajiro-Jndianern anfangs der achziger
Jahre dreimal eingeäschert worden ist.
Während wir im Vorstehenden diejenigen Veränderungen
auseinandergesetzt haben, welche seit 1740 in der ehemaligen
Provinz Santa Marta — dem jetzigen Departamento Magda-
lena — der Republik Colombia, vor sich gegangen sind, lassen
die genauen Mittheilungen des Don Nicolas de la Rosa
über die seit der Eroberung überhaupt verschwundenen
Städte und Jndianerdörfer einen Uebcrblick über die Ge-
sammtveränderungen seit 1520 zu. Danach sind auch von
spanischen Neugründnngen eine ganze Reihe schon vor 1740
vom Erdboden wieder vertilgt worden, und zwar Ortschaften
von, wie es scheint, nicht geringer Bedeutung; die Zahl der
zerstörten Jndianerdörfer ist aber wahrhaft erschreckend und
giebt Kunde von der wahrscheinlich früher sehr bedeutenden
Zahl der Ureinwohner, sowie der Verminderung derselben seit
der Eroberung.
Was zunächst die von den Spaniern selbst wieder aufgegebe-
nen Städte betrifft, so haben wir schon von Sevilla berichtet, das
den Chimiles-Jndianern zum Opfer gefallen zu sein scheint.
78
Dr. W. Sieders: Der Verfall des Staates Magdalena. (Colombia.)
Am Westabhauge der Nevada, nahe bei der heutigen
Stadt Cionaga, lag Cordoba am gleichnamigen Flusse,
welches ziemlich bedeutend gewesen sein muß, da der Gober-
nador von Santa Marta dort seinen Stellvertreter hattex)!
Neuerdings ist Cionaga vielleicht in Erinnerung an die
einstmals in der Nähe vorhanden gewesene Stadt wiederum
San Juan de Cordoba genannt worden.
Wir erwähnten schon oben, daß das Dorf Dibulla oder
Dibnya nicht bei De la Rosa erwähnt wird; dagegen findet
sich bei ihm der Name des Flusses Dibnya und zwar in
Verbindung mit einer weiteren untergegangenen Stadt,
Salamanca de la Ramada, nach welcher das Gebirge zwischen
der Küste und dem Rio Nancheria auch Sierra de la Ra-
mada hieß. Wahrscheinlich steht nun Dibulla an der
Stelle des ehemaligen Salamanca de la Ramada. Ueber
dieselbe berichtet De la Rosa wie folgt:
Die Stadt Salamanca de la Ramada lag an der
Mündung des Rio Dibnya, einer der vielen Flüsse, welche
den Weg von Santa Marta nach Rio Hacha kreuzen. Die
Mündung des Rio Dibnya liegt 30 leguas östlich von
Santa Marta, und 15 leguas westlich von Rio Hacha.
Die Stadt gehörte zum Distrikt von Rio Hacha, dessen
Gobcrnador hier seinen Statthalter besaß, doch scheint sie
kirchlich zum Bisthum von Santa Marta gehört zu haben.
Niemand vermag sich jetzt (1740) noch daran zu erinnern,
ob die Stadt groß oder klein gewesen und wann sie ver-
lassen worden ist, wenn man aber richtige Schlüsse aus
gewissen vorhandenen Thatsachen macht, so ergiebt sich, daß
ihre Bevölkerung nicht gering gewesen sein kann, da sie
zwei Geistliche besaß — den Don Joso Lavaninos und Bar-
toloms de Aguilar; es müssen aber einer Pfarrei mit zwei
Geistlichen doch wenigstens 500 Einwohner entsprechen.
Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß ihre Zer-
störung während des Einfalls des Golonzon2) stattfand, wel-
cher im Jahre 1655 erfolgte, und man kann annehmen, daß
Golonzon die Stadt verbrannte, ebenso wie er es mit
Santa Marta machte, und obwohl dies nicht ganz sicher ist,
so kann man es doch mit einiger Wahrscheinlichkeit an-
nehmen. Einen Beweis für die damalige Zerstörung der
Stadt giebt ferner der Umstand, daß der Pfarrer Lavaninos
zur selbigen Zeit nach Santa Marta floh. Es mag ja sein, daß
auch schon lange vorher die Raubzüge der Feinde zur See,
und der Indianer zu Lande die Bewohner der Stadt derart
in Schrecken setzten, daß dieselbe allmählich zu veröden
anfing, allein der letzte Stoß muß der Stadt durch obigen
Einfall vor etwa 80 Jahren versetzt worden sein.
Ueberhaupt scheint die Nordküste früher sehr viel
stärker bevölkert gewesen zu sein, und in keinem Theile des
Staates macht sich der allgemeine Verfall so sehr geltend,
wie dort. Außer Salamanca de la Ramada lagen noch
zwei andere Städte aus dem Wege zwischen Santa Marta
und Rio Hacha. Die eine hieß Palencia, oder wie der
Geschichtsschreiber von Venezuela — Oviedo — sie nennt,
Tudela; die andere hieß Vetoma. Vetoma lag am Meeresufer
zwischen den Paßübergängen von Maroma und besaß in
ihrer Umgebung weite Sabanen, welche 1740 noch exi-
stirten und einer großen Menge Rindvieh zur Weide
dienten. Ihre Zerstörung wurde sowohl durch die Indianer
als auch durch die Piraten verursacht, und die bedeutenden Gold-
wäschen, die in den benachbarten Bächen betrieben wurden,
mußten brach liegen bleiben. In der Stadt Vetoma hatte
der Gouverneur von Santa Marta seinen Stellvertreter,
und damals nannten sich die Paßübergänge Pasos de
0 Wahrscheinlich wurde Cordoba 1655 beim Einfall des
Piraten Guillerino Gauzön verbrannt.
ch Guillermo Golonzon, eigentlich Gauzön, ein englischer
Pirat, brandschatzte am 3. Dec. 1655 die Stadt Santa Marta.
Vetoma, da man von ihnen aus zu der Stadt hinabstieg.
Später wurde dieses verändert in Pasos de Maroma, d. h.
Seilpaß, wegen des abschüssigen, schwierigen und gefähr-
lichen Weges über jene Berge.
Die Stadt Palencia oder Tudela wurde wahrscheinlich
von dem Galizier Losada, dem Eroberer jener Gegenden,
gegründet und lag an dem östlichen Abhange der Pasos de
Rodrigo. Dann wurde der Name vermuthlich in Palencia
verändert, um das Gedächtniß des Losada auszutilgen, und
heute noch bewahrt nicht nur ein Bach in der Nähe
den Namen Palencia, sondern auch einige Baulichkeiten,
welche eine Familie aus Santa Marta dort besaß. Auch
in Palencia hatte der Gobcrnador von Santa Marta einen
Stellvertreter, und auch hier gab es reiche Goldminen und
gutgelegene Schächte, deren Abbau jedoch mit der Zer-
störung der Stadt ebenfalls aufhörte. Heutzutage befinden
sich auf dem ganzen Wege von Santa Marta nach Dibulla
nur die oben erwähnten Ortschaften Bonda, Masinga und
Mamatoco, aber zwischen Masinga und Dibulla liegt kaum
noch irgend welche Hütte, und der Weg ist in einem so
verwahrlosten Zustande, daß außer den beiden Postboten
kein Mensch mehr darauf verkehrt. Die vielleicht noch
vorhanden gewesenen kleinen Ansiedlungcn sind in Folge
von Fiebern und der wahrhaft ungeheuerlichen Fliegcuplage
verlassen worden.
Die oben genannten Städte waren spanischen Ursprungs.
Wenn wir nun zu der Liste der verschwundenen Indianer-
dörfer übergehen, so finden wir eine lange Reihe von
Namen, welche zum Theil noch auf der Karte als Bezeich-
nung von Oertlichkeiten existiren, in Wahrheit aber keinerlei
Bevölkernngsansammlungen mehr bedeuten.
Vor allem scheinen nördlich von Santa Marta an der
ausgezackten Küste eine ganze Anzahl von Fischerdörfern
gelegen zu haben. In den leicht zerstörbaren Grünschiefer-
ketten, welche nördlich von Santa Marta den äußersten
Vorsprung der Nevada bilden, hat sich das Meer eine
Reihe von kleinen, tief einschneidenden Buchten ausge-
waschen, welche die Namen der nach Nicolas de la Rosa
früher dort vorhanden gewesenen Dörfer der Indianer noch
heute bewahren, das sind die Ancones von Concha, Chengue,
Gayraca, Nahuange und Cinto, an welchen früher die
gleichnamigen Dörfer standen. Von dem Dorfe Concha
waren 1740 noch Spuren und Reste der Kirche vorhanden,
die sehr groß und geräumig gewesen sein soll. Das Dorf
scheint schon vor dem Einfalle des Piraten Cox am 2. Juli
1673 verbrannt worden zu sein, da bei demselben kaum
noch Indianer in Concha zu finden waren, und die rueisten
sich bereits nach Geriboca zurückgezogen hatten, nur einige
waren noch vorhanden, von denen die Piraten den Weg
nach Santa Marta erfahren konnten, wodurch denselben
die Einnahme und Plünderung der Stadt ermöglicht wurde.
In Chengue gab es eine große Saline, deren Salz sich
durch dickes Korn und glänzend weiße Farbe auszeichnete
und welche Staatseigenthum war. Auch von dem Dorfe
Gayraca gab es 1740 noch Spuren sowie die Cisternen, aus
welchen die Bewohner in Folge des Mangels an fließendem
Wasser ihren Trank schöpften.
Nicolas de la Rosa erwähnt ferner das Dorf Tamaca,
welches an dem gleichnamigen Bache lag, den die Quelle
des Rio Gaira, gewöhnlich la Cabecera de Minca genannt,
speist. Das Wasser ist sehr frisch, klar und weich, gilt für
das beste der ganzen Provinz und wird zur Bewässerung
mehrerer Felder verwandt. An der Stelle dieses Dorfes
fand ich nichts weiter, als eine vollkommen verfallene
Kaffee-Hacienda des Don Julian de Mier aus Santa
Marta. Dieser besitzt auch die Hacienda von Papares,
welche am Ufer des Rio Papares oder Toribio liegt, außer-
Aus allen Erdtheilen.
79
ordentlich fruchtbar ist, und wegen dieser Eigenschaft auch
von Nicolas de la Rosa rühmend hervorgehoben wird.
Sodann erwähnt unser Gewährsmann das Dorf Co-
rinca, ohne scdoch anzugeben, wo dasselbe gelegen habe,
so daß ich, da mir dieser Name niemals vorgekommen ist, im
Unklaren über seine Lage bin.
Zwischen Masinga, den Pasos de Rodrigo und der
Küste breitet sich ein niedriges Hügelland ans, welches zahl-
reiche Sabancn trägt, und von kleinen Büchen durchflossen
wird, die theils zum Rio Manzanares, theils zum Rio
Jordan eilen. In dieser Gegend sollen auch nach De la Rosa
zahlreiche Ortschaften sämmtlich nahe bei einander gelegen
haben, von denen Masingnita möglicherweise identisch ist
mit Masinga la Bicja, am Rio Manzanares. Hier fand
ich ans einem kleinen Hügel die gewaltigen, steinernen
Fundamente eines Hanfes, sowie auch Topfscherben und
Reste einer gepflasterten Straße, welche in schnurgerader
Richtung über Thäler und Hügel von NW nach SO, und
von der Küste nach dem Innern führte. Von den übrigen
Ortschaften ist der Platz von Giro Casaca noch bekannt,
die anderen Dörfer, welche De la Rosa nennt, sind wohl bis
auf den Namen verschwunden; sie hießen: Daunama,
Origua, Chimagucy, Maquenque, Chiugucyca, Dionca und
Mamacasaca.
Auch in dem Distrikte von Valle de Upär sind eine
Menge von Jndianerdörfern zerstört worden, an deren
Stelle 1740 noch Viehhöfe desselben Namens vorhanden
gewesen sind. Von allen den von De la Rosa genannten
Namen kann ich jedoch heute nur noch Canaveral identi-
ficiren, welches in der Gegend von Fonseca liegt. Das
Dorf Chiriaymo dürfte wohl an dem Flusse gleichen
Namens gelegen haben, welcher ans dem linken Ufer des
Rio Cesar in denselben mündet. Ob das Dorf Pena-
Gorda in der heutigen Ansiedlung La Peña wieder erkannt
werden kann, ist mir zweifelhaft. Jedenfalls müßte die
Größe des Dorfes seitdem stark abgenommen haben, da cs
ursprünglich ein Pfarrdorf (Parroquia) gewesen ist. Die
übrigen angeführten Jndianerdörfer — Mazamorra, San
Pedro, Uniaymo und Santa Cruz de San Mateo — vermag
ich nicht mehr unterzubringen.
Von den im Distrikt von Rio Hacha von De la Rosa
als untergegangen angegebenen Dörfern, kommt mir nur
Morocaza bekannt vor, vielleicht ist dasselbe in dem heutigen
Marocaso, am Rio Marocaso, ein wenig oberhalb der
Mündung desselben in den Rio Ranchería, wieder zu er-
kennen. Möglicherweise ist auch Zahirino identisch mit
der heutigen Ansiedlung Sairin am oberen Ranchería, doch
wird auch im Distrikte von Valle de Upar ein Dorf Sayrino
als 1740 vorhanden angegeben. Wo die übrigen von De
la Rosa erwähnten Dörfer des Distriktes Rio Hacha gelegen
haben können, ist mir unbekannt geblieben. Ihre Namen
waren: Santa Cruz, Sancüna, Zicarára, Chimirunhue,
Cototüme, Ariguani und El Cercado, an welchem letzteren
Orte sich 1740 noch ein Ackerfeld erhalten hatte.
Man sieht an diesen Aufzählungen von Namen, wie
viel stärker die Bevölkerung zur Zeit der Eroberung durch
die Spanier gewesen sein muß, und man erkennt deutlich,
daß die Entziehung so sehr vieler Arbeitskräfte, sowie die
Zerstörung so zahlreicher Ortschaften und Ackerfelder dem
Aufkommen der Provinz Santa Marta gewiß keinesfalls
förderlich sein konnten. Wir wundern uns nicht, daß
auch in republikanischer Zeit der Verfall des Staates
Magdalena immer unaufhaltsamer wurde, so daß eine He-
bung dieses gänzlich verarmten, unglücklichen Landes,
wenigstens unter den jetzt herrschenden Zuständen in Colom-
bia, kaum mehr möglich sein dürfte.
Aus allen
Europa.
— Professor M. Holl hat in den „Mittheilungen der
Anthropologischen Gesellschaft in Wien" (Bd. XVIII, H. 1),
die Resultate seiner anthropologischen Untersuchungen
in Vorarlberg veröffentlicht. Demnach herrscht heute in
Vorarlberg geradeso wie in Tirol der brachycephale und
hypcrbrachycephale Schädeltypus ganz entschieden vor, während
in früheren Zeiten wahrscheinlich der dolichocephale Typus
vorherrschte. Professor Holl neigt dazu, dies durch Trans-
sormiruug zu erklären (also nicht durch Einwanderung einer
fremden Rasse). Die Zahl der Schädel, die er gemessen hat,
betrug 907.
Asien.
— In einem Vortrage vor der Pariser Geographischen
Gesellschaft verbreitete sich Louis Blanchet liber das
Schiffahrtsstraßen-Netz in Cochinchina und Cam-
bodscha. Die großen Ströme Donnai, Saigon, Vaico
und Mekhong sind durch eine ungeheure Zahl von „Arroyos"
und Kanälen mit einander verbunden, ans denen ein reger
Bootverkchr herrscht. Die Exportartikel Cochinchinas und
Eambodschas — Reis, getrocknete und gesalzene Fische, Baum-
wolle, Häute, Holz, Elfenbein rc. — gelangen auf diesen
Wegen nach den großen Märkten Saigon und Tscholon, um
E r d t h e i l e n.
von da nach Singapore und Hongkong weiter verschifft zu
werden. Die Wasserstraßen sind übrigens um so wichtiger,
als der Eisenbahnban in den fraglichen Ländern ans sehr-
große Schwierigkeiten stößt, und als man insbesondere mit
der 72 km langen Strecke zwischen Saigon und Mytho, die
man hergestellt hat, sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat. —
Die innere Verkehrspolitik der Kolonialregierung müßte sich
deshalb darauf richten, die Wasserwege thunlichst weiter zn
vervollkommnen und auszubauen. Die Dampfer der „N688u>
A6ris8 fluviales“ befahren gegenwärtig bereits eine Gesammt-
strecke von 3000 km. Im Mekhong gehen sie aber bis jetzt
nur bis an den Fuß der Stromschnellen von Sambor,
obgleich diese Schnellen nach Fesignys Untersuchungen
(Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 95) keineswegs als eine
unüberwindliche Schwierigkeit gelten können, und obgleich
Gatier seine Fahrt von Lnang - Prabang thalwärts nur
bei den Fällen von Khong zu unterbrechen genöthigt war.
Auch der ganze Auslands-Verkehr der siamesischen Provinz
Battam-bong, im Nordwesten von Kambodscha, ist von der
Natur auf die Wasserwege von Französisch-Indien gewiesen.
Afrika.
— Ueber die Nachrichten, die Herbert Ward von der
! Lage des Major Barttelot nach dem unteren Kongo
80
Aus allen Erd theilen.
gebracht hat, verlautet jetzt Näheres. Demzufolge litt die
Besatzung des Lagers am Aruwimi sehr durch Nahrungs-
mangel und Krankheit, namentlich wegen der ausgedehnten
Sümpfe in seiner Nachbarschaft. Barttclot entsandte ver-
schiedene Necognoscirnngs - Abtheilungen ans, und dieselben
fanden die Straße, die Stanley gezogen, mit zahlreichen
Menschcngebciucn bedeckt, was ans heftige Kämpfe deutet, die
zu bestehen waren. Tippo Tib wurde wiederholt um Ver-
stärkungen angegangen, bis April aber ohne irgend welchen
Erfolg. Stanley hatte sich in der Richtung ans Chartum
bewegt, und Barttclot war sehr geneigt, seinen Spuren zu
folgen. — Nach einer Mittheilung des „Mouvement Géo-
graphique“ (1888, p. 59), befindet sich Kapitän Van
Gèle nunmehr ans der Fahrt nach den Aruwimi-
Fällen, um dem Major Barttclot die begehrte Hülfe zu
bringen. In Begleitung der Herren Bodson, Bacrt und
Hinck ist er am 26. April ans dem Dampfer Stanley von
Leopoldville aufgebrochen. — Aus eigener Initiative hat sich
bereits vor Vau Gèle der Stationschef von"Bangala, Van
Kerckhoven, auf einem Stationsdampfer nach Stan-
ley-Falls begeben, um Tippo Tib zu veranlassen, endlich
in der gleichen Richtung vorzugehen. Da Bangala nahezu
mittwegs zwischen Leopoldville und Stanley-Falls (sowie
auch Aambuga) liegt, so darf man vielleicht hoffen, daß vor
Van Gèle auch noch von anderer Seite eine Hülfsexpedition
in Aambuga eintrifft.
— Die Internationale Afrikanische Gesellschaft zu Paris
hat kürzlich beschlossen, eine Expedition auszusenden,
die Stanley und Emin-Pascha zu Hülfe eilen
soll. Zum Führer derselben ist Charles Söller, der
verschiedene Reisen in Nordwestafrika ausgeführt hat, aus-
erschcn worden. Die Hülfe, die die Expedition bringen soll,
dürfte, dafern sie überhaupt nöthig ist, ziemlich spät kommen.
— Von Lnpton-Pascha, dem lange Verschollenen, der
seiner Zeit in die Gewalt des Mahdi gericth, sind bei den
englischen Vorposten zu Korosko Nachrichten eingelaufen.
Ihnen zufolge befand sich Lupton Ende November 1887 wohl,
und er hoffte, wenn man ihm nur Geld schickte, bald nach
Europa zurückkehren zu können. Der englische Bevoll-
mächtigte in Aegypten, Sir E. Baring, soll sofort Schritte
gethan haben, ihm die gewünschte Summe zu senden. Der
Brief Lupton's kommt aus Omdnrman (bei Chartum).
— Lieutenant W iß mann ist nach einem fünfmonatlichen
Kuraufenthalte ans Madeira fast vollkoinmen wieder her-
gestellt nach Deutschland zurückgekehrt, nachdem er vorher in
London von der „R. Geographical Society“ die ihm
ertheilte goldene Medaille in Empfang genommen, und dabei
einen Bericht über seine letzten Beobachtungen in den Ländern
südlich vom Kongo erstattet hat. Ans Madeira hat er auch
die Bearbeitung seiner mit Pogge unternommenen Reise be-
wirkt. — Ebenso hat sich Lieutenant Tappenbeck von der
schweren Verwundung, die er sich auf der bekannten Expedition
in das Innere von Kamerun zugezogen hatte, rasch wieder
erholt, und derselbe steht dem Vernehmen nach im Begriffe,
demnächst wieder nach Afrika zurückzukehren.
Australien und Polynesien.
— In West-Australien sollen Goldfelder von
unermeßlicher Reichhaltigkeit entdeckt worden sein. Die Ent-
wickelung der im übrigen so stiefmütterlich ausgestatteten
Kolonie dürfte infolgedessen plötzlich viel rascher vorwärts
gehen, als cs bisher der Fall gewesen ist. Die analysirten
Erze sollen im Durchschnitt 27 Unzen Gold auf die Tonne
enthalten haben.
— Rene Allain diskntirte in der Juni-Sitzung der
Pariser Geographischen Gesellschaft die Thuulichkeit einer
Annexion der beiden einsamen oceanischen Inseln
Clipperton (10" 20' nördl. Br. und 109" 10' wcstl. L.
von Greenwich) und Waihu (27" südl. Br. und 109" 20'
wcstl. L.), sowie auch des Santa-Cr uz-Archipels an
Frankreich. Bon Clippcrton glaubt er, daß cs nach Eröff-
nung des Panama-Kanales eine hohe verkehrsgeographische
Bedeutung erlangen werde.
Allgemeines.
— Das Organisations - Komitee des 7. Internatio-
nalen Amerika nisten-Kongresses hat nunmehr ein
ausführliches Programm für seine am 2. bis 5. Oktober
abzuhaltenden Sitzungen entworfen. Der erste Tag soll der
Geschichte der Entdeckung der Neuen Welt, der Geschichte des
prackolumbischen Amerika und der Geologie Amerikas, der
zweite Tag der Archäologie, der dritte Tag der Anthropologie
und Ethnographie, der vierte Tag der Linguistik und Pa-
läographie gewidmet sein. Die hauptsächlichsten Gegenstände,
über die verhandelt werden soll, sind: Der Name „Amerika"
(Berichterstatter: Herr Cora); neueste Forschungen über
Chr. Kolumbus (Berichterstatter: Herr Gelcich); Fahrten nach
der Neuen Welt im Anfange des 16. Jahrhunderts, ins-
besondere die Reisen der Franzosen (Berichterstatter: Herr
Gaffarel); die Stellung der Huazteken und ihre Beziehung
zur Geschichte Mexikos (Berichterstatter: Herr Seler); Vor-
geschichte und Wanderungen der Chibchas (Berichterstatter:
Herr Uhlc); die Frage der direkten Verbindung der Alten
und Neuen Welt in der prackolumbischen Zeit; Alterthümer
aus Veracruz (Berichterstatter: Herr Strebet); der Gebrauch
von Formen bei Herstellung der Thongeräthe in Mexiko und
Peru (Berichterstatter: Herr Reiß); Herstellungsart und
Ornamentation der gewebten Stoffe im prackolumbischen
Amerika (Berichterstatter: Herr Stübel); Küchenabfälle in
Brasilien (Berichterstatter: Herr G. H. Müller); die Lehre
von den geographischen Provinzen in ihrer Bedeutung für
die Ethnologie des amerikanischen Kontinents (Berichterstatter:
Herr Bastian); anthropologische Klassifikation der wilden
Stämme des praekolumbischen und des heutigen Amerika
(Berichterstatter: Herr Virchow); das Alter und die Herkunft
der amerikanischen Rasse (Berichterstatter: Herr Cora);
Schädeldeformationen der alten Indianer (Berichterstatter:
Herr Virchow); Beziehungen der nordwestamerikauischen
Küsten-Jndianer zu den asiatischen Völkerschaften (Bericht-
erstatter: Herr Aurel Krause); Anthropologie der Bewohner
Alt-Mexikos zur Zeit des Cortez (Berichterstatter: Herr
Hartmann); Recht und Sitte im alten Mexiko (Bericht-
erstatter: Herr Grösst); Hausthierrassen im alten Peru (Be-
richterstatter : Herr Nehring); Nutzpflanzen der alten Peruaner
(Berichterstatter: Herr Wittmack); Sprachfamilien am Ama-
zonas und Orinoko (Berichterstatter: Herr Adam); Linguistik
der Stämme im centralen Südamerika (Berichterstatter: Herr
von den Steinen); Quichua und Aymara (Berichterstatter:
Herr Steinthal); die Aehnlichkeit der chinesischen und tolte-
kischeu Schriftzeichen (Berichterstatter: Herr Charnay). Bei-
trittserklärungen zum Kongreß sowie andere Mittheilungen rc.
sind an den General-Sekretär des Organisations-Komitees,
Herrn Dr. Hcllmann, Berlin SW., Königgrätzer Straße 120,
zu richten.
Inhalt: Dr. H. Schanke: Die Färöer. II. (Mit sechs Abbildungen.) — H. Schroeter: Bericht über eine Reise
nach Kwang-si. — Dr. W. Siebers: Der Verfall des Staates Magdalena. (Colombia.) — Aus allen Erdtheilen: Europa. —
Asien. — Afrika. — Australien und Polynesien. — Allgemeines. — (Schluß der Redaktion am 16. Juli 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich V i e >v c g und Sohn in Braunschivcig.
IJlif besonderer Herücdsichiignng der Ethnologie, der Kulturderhälinisse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dm Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark xi-o Baud zu beziehen.
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
XII. i)
(Mit vier Abbildungen.)
Um von Uruguay aus die große Stromadcr wieder zu
erreichen, an deren Ufern aus wir unsere „Wanderungen"
begannen, haben wir die beiden Provinzen Corrientes und
Entre-Rios zu durchqueren, und dabei lernen wir eigentlich
dasjenige Stück des außertropischen Südamerika kennen,
das in den verschiedensten Beziehungen als das reichste und
knlturfähigste gelten muß. Sind schon in Paraguay, in
den Missioncs und in Uruguay die Naturverhältnisse im
allgemeinen sehr dazu angethan, außer der Viehzucht auch
den Ackerbau zu begünstigen, so scheint dies in Corrientes
und Entre-Rios in einem noch weit höheren Grade der
Fall zu sein. Und wenn die beiden Provinzen in der
letzteren Hinsicht bisher ebenfalls nicht das geleistet haben,
was man von ihnen erwarten sollte, so hat man die Ur-
sache davon in ähnlichen Umständen zu suchen, wie in
Uruguay und Paraguay. Auch das „argentinische Meso-
potamien" — wie man die beiden Provinzen ganz treffend
zu nennen pflegt— empfand bis in die siebziger Jahre unseres
Jahrhunderts hinein die üble politische Ordnung, die in
dem größten Theile des anßertropischcn Südamerika herrschte,
die Einwanderung war unbedeutend, und die extensiv be-
triebene Viehzucht warf in dem dünn bevölkerten Lande
leichtere und sicherere Erträge ab.
Der erste kultur-geographische Vorzug, den Corrientes
und Entre-Rios — namentlich aber die letztere Provinz —
u Vergl. Bd. 53, S. 314 ff.
Globus UV. Nr. 6.
vor den anderen Theilen des in Frage stehenden Gebietes
voraus haben, liegt ohne Zweifel in ihrer bequemen natür-
lichen Zugänglichkeit. Im Osten der langgestreckten Strom-
halbinsel, die im Mittel nur etwa 200 I<rn breit ist, bildet
der Uruguay bis Salto hin eine für kleine Seeschiffe be-
nutzbare, vorzügliche Wasserstraße, und tut Osten der Parana-
Paraguay bis zur Stadt Corrientes und darüber hinaus
eine noch viel vorzüglichere. In dem flachen südwestlichen
Theile von Entre-Rios, der ein junges, durch die theilweisc
Ausfüllung des Laplata - Golfes entstandenes Allnvialland
darstellt, zweigen sich von dem Parana auch eine ganze
Anzahl Delta-Arme ab — der Paranacito, der Pillo, der
San Lorenzo, der Pabon (Jbicny) rc. —, die ebenfalls gut
schiffbar sind; und außerdem durchziehen noch zahlreiche
andere Wasseradern — wie der Gualeguay, der Rio Fcli-
ciano, der Rio Corrientes — das Land, die sich wenigstens
während des größeren Theiles des Jahres mit größeren
oder kleineren Booten befahren lassen. In diesetn Theile
seines Gebietes hat Argentinien auch selbst die mit natürlichen
Wasserstraßen am besten ausgestatteten Gegenden der nord-
amerikanischen Union nicht zu beneiden.
Hinsichtlich seiner Bodenbildung ist das argentinische
Zwischen-Strom-Land von einer Erhebung beherrscht, die
von Nordnordost nach Südsüdwest mitten hindurch streicht,
und die zugleich die Wasserscheide zwischen dem Parana
und dem Uruguay bildet. Im Norden — in Corrientes —
j erscheint dieselbe stark verflacht, und von lagunenbedeckten
11
82
Wanderungen durch das außertropische Südamerika,
Niederungen durchsetzt, während sie im Süden — in Entre-
Nios — stark uudulirt und in zahlreiche niedere „Cuchillas",
die kaum irgendwo die Höhe von 80 m übersteigen, ge-
gliedert ist. Zwischen Parana — der Hauptstadt von
Entre-Rios — und Diamante stürzt diese Erhebung steil in
den Parana hinab (S. Abbildung 1), anderwärts an diesem
Strome sowie auch an dem Uruguay, dacht sie sich allmäh-
licher ab, und im Südwesten schließen sich ihr die bereits
erwähnten flachen Alluvial-Landschaftcn an, die zwar zur Zeit
des Niederwassers mehrere Meter über den Wasserspiegel
emporragen, dagegen aber zur Zeit des Hochwassers regel-
mäßig überfluthet werden. Die geognostische Zusammen-
setzung des „Landrückens" ist dieselbe wie in Uruguay und
in der westlichen Monte-Region. Es handelt sich auch hier
im wesentlichen um eine Lage von röthlichem Pampas-Löß,
die sich in größerer oder geringerer Mächtigkeit auf einem
Grnndgerüst aus älterem Gestein — Gneiß, Granit,
mctamorphischem Schiefer — ausbreitet, und die dieselbe
Entstehungsgeschichte gehabt haben muß wie an den anderen
Orten (Bergt. „Globus", Bd. 53, S. 113 ff.). Die
Ströme und Bäche, die von der Höhe herab zumeist raschen
Laufes entweder dem Uruguay oder dem Parana zu fließen,
haben sich in den Löß hinein tiefe Thäler gegraben, ohne
aber die krystallinische Grundlage dieser Formation irgendwo
in bemerkenswerther Weise bloß gelegt zu haben.
Die jährliche Regenmenge beträgt in Corrientes (Stadt)
133 cm, in Concordia (am Uruguay) 117 cm und in
Parana 93 ein, die Befeuchtung des Bodens ist also ganz
unbedingt eine reichliche zu nennen. Freilich füllt der größte
Theil der Niederschläge an einer vergleichsweise sehr ge-
ringen Zahl von Frühlings- und Herbsttagen und in starken
Gewittergüssen, während namentlich der Winter sich durch
anhaltende Trockenheit auszeichnet. Infolgedessen zeigen
auch die fließenden Gewässer sämmtlich einen sehr starken
Wechsel von Hoch- und Niederwasser. ' Aber die Quellen
versiegen fast nirgends vollständig, es gibt keine „Salinas"
und „Salitrales" sowie auch keine Flugsandstrecken — wie
im Westen des Parana — und der Acker- und Gartenbau
kann der künstlichen Bewässerung an vielen Stellen voll-
kommen entrathen. Wenn man namentlich von Entre-Rios
Die Stadt Parana.
behauptet hat, daß dasselbe dazu bestimmt sei, die eigentliche
Kornkammer Argentiniens zu werden, so wagen wir dem
also nicht zu widersprechen. Thatsächlich sind die Ernte-
erträge der Ackerbaukolonien bei Parana, bei Diamante und
bei Concepcion auch bereits sehr reiche gewesen x). Die Plagen,
mit denen der Landmann am meisten zu kämpfen hat, sind
auch an diesen Orten verschiedene Insekten — namentlich
eine schwarze Ameise, die die Fruchtbäume bedroht, und die
Heuschrecke. In jedem Falle sind dieselben aber in
Corrientes und Entre-Rios nicht schlimmer als in anderen
Gegenden des Landes, während die übrigen Verhältnisse
doch ungleich günstiger liegen wie dort.
Das natürliche Vegetationskleid des höher gelegenen
Landes ist durch einen bunten Wechsel von Grasland (Pampa)
und Busch- und Hochwald charakterisirt, und die Arten, die
dasselbe zusammensetzen, sind in der Hauptsache dieselben,
welche wir in der Monte-Region sowie in Paraguay kennen
Das Departement Diamante erzeugte 1887 an Weizen
und Leinsaat für 4 Mill. Mark.
gelernt haben. Die ausgedehnte Waldstrecke der „Selva
de Montiel", im Nordosten der Stadt Nogoya, besteht
vorzugsweise aus Mimosen und Lorbeer- und Myrthenarten,
von denen eine große Anzahl technisch sehr gut verwendbar
sind. Die Provinz epportirt daher auch eine ganz beträchtliche
Menge Holz.
Zn einer außerordentlichen Ueppigkeit entfaltet sich die
Pflanzenwelt in dem niederen Deltalande des Parana. Dort
wuchern neben Hnmboldtweiden (8alix Ilumboldtiana) ver-
wilderte Pfirsichen, Bambusen, Scitamineen, Orchideen rc.,
und bte" Bäume und Sträucher sind an dem Tageslichte durch
Lianen zu einem undurchdringlichen Dickicht unt einander ver-
flochten, während sie unter der Erde mit ihrem Wurzelwerke
in ganz ähnlicher Weise zusammenhängen. Durch diesen letzte-
ren Umstand fördern die Pflanzen den beständig fortschreiten-
den Landbildungsprozeß an der Parana-Mündung in sehr-
energischer Weise. Zur Zeit der Hochfluthen, die auch an
der Mündung des Stromes noch sehr mächtige sind, reißt das
Wasser zwar öfters einzelne durch solches Wurzelwerk ver-
flochtene Landstücken los und trügt sie als Naturflöße oder
als schwimmende Inseln — „camalotes“ — weit fort
(S. Abbild. 4), es sind dies aber doch nur vergleichsweise
geringfügige Zerstörungen, und der besagte Prozeß schreitet
demungeachtet rasch weiter vorwärts. Zu den direkten
Schlammablagerungen des Flusses kommen auch hier die
Staubablagerungen der trockenen „Pamperos", die sich in
Im Delta des Parana.
Landhaus am Parana.
höher gelegener Strecken erscheint es dazu verurthcilt, eine
von Jaguaren bewohnte Wildniß zu bleiben.
Was die thatsächliche Entwickelung der hier in Frage stchen-
den Provinzen betrifft, so belief sich die Einwohnerzahl von
Corrientes im Jahre 1870 auf 129 000, im Jahre 1882
aber auf 204 000, und diejenige von Entre-Nios im ersteren
11*
deni Laub- und Astwerke der Pflanzen ebenfalls fangen, um Besiedelung und Bebauung eignet sich dieses junge Land
später von den Wurzeln festgehalten zu werden. — Zur natürlich nicht, und abgesehen von beschränkter Wcidcnutznng
Naturflöße auf dem unteren Parana.
Dr. H. Schunke: Die Färöer.
85
Lahre aus 135 000, im letzteren aber auf 188 000, be-
deutende Fortschritte sind also auch hier unleugbar. Durch
die stärkere Einwanderung lernte zugleich in der Bevölkerung,
die ursprünglich ein Gemisch von Guarani-Indianern und
Spaniern darstellte, das weiße Element mehr und mehr
die Oberhand gewinnen. In Entre-Nios belief sich die
Zahl der Ackerbaukolonien im Jahre 1875 nur ans zwei
(San Jos« und Rio-Urquiza), während sie im Jahre 1885
bereits 24 betrug. Mit Weizen, Mais, Gerste, Flachs,
Kartoffeln, Erdnüssen (Maní) rc. bestellt waren im Jahre
1885 etwa 73 0001m, das bedeutet von der Gesammt-
fläche der Provinz (circa 112 000 qkm) allerdings noch
immer nicht mehr als 0,66 Proc.
Alles in allem gilt wohl von Entre-Rios und Corrientes
noch mehr wie von Uruguay und Paraguay das Wappäus'sche
Wort: „Nichts fehlt diesen Ländern zu einem raschen
materiellen und politischen Aufschwünge als eine zahlreichere,
arbeitsame, sittlich frische Bevölkerung, und keinem Zweifel
kann cs unterliegen, daß eine planmäßig organisirte, gehörig
geschützte Ansiedelung von Einwanderern germanischen
Stammes binnen wenigen Jahrzehnten diesen Landstrichen
eine nicht geahnte volkswirthschaftliche und kommerzielle Be-
deutung geben würde').“ In den letztvcrgangenen Jahren
war der bei weitem größte Theil der neuen Ankömmlinge
auch in Entre-Rios und Corrientes italienischen Ursprungs;
dem ncucingcströmten englischen und deutschen Elemente
kommt aber auch hier der Ruhm zu, das rüstigste Vorwärts-
strcben zu vertreten — dem englischen bezüglich der Ver-
edelung der Schaf- und Rinder-Rassen sowie bezüglich der
si I. E. Wappäus, Deutsche Auswanderung und Koloni-
sation (Leipzig 1846), S. 100.
Vervollkommnung der Schlächter-Industrie, und dem
deutschen bezüglich der Hebung des Ackerbaues und des
städtischen Handels und Gewerbes. Die namhafteste Fleisch-
extrakt-Fabrik von Entre-Rios, die neuerdings angefangen
hat, derjenigen von Fray Bentos erhebliche Konkurrenz zn
bereiten, ist diejenige unseres Landsmannes Kemmerich zn
Santa Elena (nördlich von Parana). Daß die Eisenbahnen
ihre belebende und kulturfördernde Kraft auch an Entre-
Rios und Corrientes bewährt haben, brauchen wir kaum
hinzuzufügen. Vor allen Dingen gilt dies von der wichtigen
Linie, die Parana, Nogoya, Tala und Conception bet
Uruguay, und aus diese Weise die beiden großen Haupt-
ströme gncr durch Entre-Rios mit einander verbindet.
In ihrer Nähe sind sozusagen über Nacht sehr ausgedehnte
Landstriche dem Pfluge gewonnen worden. Schließt sich ihr
erst eine Linie Parana — Nueva-Alemania — Concordia
an, sowie ferner eine Linie Monte-Caseros — Mercedes —
Corrientes, so wird aller Wahrscheinlichkeit nach das ganze
argentinische Mesopotamien mehr und mehr von der Stufe
eines Viehzuchtgebietes auf diejenige eines Ackerbaugebietes
emporsteigen. An Parana, der Hauptstadt von Entre-Rios,
ist der Aufschwung, den das Land neuerdings genommen
hat, nicht weniger sichtbar, wie an den Städten westlich
von seinem mächtigen Strome. Gegenwärtig mag sie etwa
25 000 Einwohner zählen. In ihrer günstigen Verkchrs-
lage und als ein zukünftiger Hanptknotenpunkt des argen-
tinischen Eisenbahnnetzes steht ihr aber ohne Zweifel eine
noch viel bedeutendere Entwickelung bevor *).
x) Vergl. hierzu: Gustav Nicderlein, Das argentinische
Entre-Rios und seine Bedeutung für die deutsche Kolonisation
(Export 1881, Nr. 1, 2 und 3).
Die F ä r ö e r.
Von Dr. H. S ch u n k e.
II. (Fortsetzung.)
(M i t drei A
Einen beträchtlichen Beitrag zum Lebensunterhalte der
Färinger liefert die Vogelwelt durch ihre Eier, ihre Federn
und ihr Fleisch. Der Reichthum der Färöer an Vögeln
ist ja ein ungeheurer, und im Norden von Stromöe und
Oesteröe sowie überhaupt an den entlegeneren Punkten um-
schwirren sie zu Millionen die Abhänge und Felsen. Wasser-
schcerer (Puffinus Anglorum), Pinguine (Alca impennis,
A. torva und Mormon arcticus), Papageientancher (Uria
ti'oile und U. grylle), Seemöven (Sterna, Lestris), Sturm-
vögel (Procellaria pelagica, P. glacialis), Taucher (Colym-
5us arcticus, Podiceps), Secraben (Graculus) nisten hier —
wie auch anderwärts im hohen Norden — in ungeheuren
Schaaren, so daß sie, wenn sie etwa durch einen Flintenschuß
aufgescheucht werden, thatsächlich die Sonne verfinstern. Auch
hier beobachtet man, daß der Schreck, der ihnen beim Auf-
scheuchen zugefügt wird, nicht lange anhält, sondern daß sie
sehr bald ihre alten Plätze wieder einnehmen. Sie verursachen
>uit ihren Flügeln ein solches Getöse und vollführen ein so
betäubendes Geschrei, daß man vor solchem Höllenlärm sein
eigenes Wort nicht hört.
b b i l d u n g e n.)
Die Unerschrockenheit und Geschicklichkeit der Färinger im
Ansnehmen der Vogelnester ist bewundernswcrth. Um zn den
Eiern zu gelangen, befestigen sie sich an Seile und lassen
sich über fürchterliche Abgründe hinab. Bisweilen sind sie ge-
nöthigt, ihre Füße gegen die scharfe Kante eines Felsens zu
stemmen und sich weil wegzuschlendern, um beim Zurückfallen
in die Nähe einer Höhlung zu kommen, in welcher sie Nester
vermuthen. Nisten die Vögel in tiefen Grotten, so binden sie
sich vom Seile los, befestigen dasselbe an einem Felsblocke,
bringen ihre Beute an sich und nehmen hierauf ihren ge-
fährlichen Posten in der Luft wieder ein. Ist die Jagd
vollendet, so läßt man sich in die Höhe ziehen und kehrt
oft verwundet und grausig beschnnden durch das Anstoßen
an den scharfen Kanten zurück. Bleibt aber das Seil
an einem Steine oder sonst an einem Gegenstände
hängen, so kann der Unglückliche weder hinauf noch hinab
und muß oft stundenlang zwischen Himmel und Erde
schweben, ehe Hülfe gebracht werden kann. Es wird auch
erzählt, daß manche Vögel ihre Nester durch Hacken mit
dem Schnabel sehr muthig vertheidigen und ihren Fein-
86
Dr. H. Sch unke: Die Färöer.
den nicht unerhebliche Verwundungen zufügen (S. Abbil-
dung 3).
Die immer wiederkehrenden Bezeichnungen Fuglefjord,
Fugleberg, Fuglöe kennzeichnen zur Genüge das häufige Vor-
kommen von Vögeln; manche Inseln sind in der That weiter
nichts als Vogelberge. So wird
Store Dimon nur von einer Fa-
ulilie (mit den Dienstleuten aus
28 Köpfen bestehend) bewohnt,
welche sich ausschließlich mit dem
Einsammeln von Vogeleiern und
Federn und mit der Zurichtung von
Vogelbälgen beschäftigt. In der
Mitte der Insel erhebt sich ein hal-
bes Dutzend mit Stroh gedeckter
Bretterhütten auf einer mit spär-
lichem Grün bewachsenen ebenen
Flüche: das sind die Wohnungen der
Lenke. Man fragt sich mit Recht,
wie dieselben bei der großen Be-
schwerlichkeit des Zuganges und bei
der Abgeschlossenheit von allem
Verkehr mit derWelt und den näch-
sten Nachbarn.nur leben können,
und man wird durch sie sehr lebhaft
an die deutschenHalligbewohner er-
innert. Auch aus dem benachbarten
Lille Dimon sind reiche Vogel-
heerde. Dieser schwarze Basaltfelsen
ist aber unbewohnt und nur Schafe
theilen sich mit der geflügelten Welt E^ue
in den Raum. Wenn die Eier-
sammler zu dieser außerordentlich steilen Insel kommen, klettert
der beherzteste und geschickteste von ihnen an eingeschlagenen
eisernen Stäben von Stufe zu Stufe bis zur Höhe; alsdann
wirft er das Seil, das er mit hinaufgenommen hat, mit hinab
und hilft seinen Gefährten beim Hinaufsteigen. Lille Dimon
wird vorzugsweise von Papageientauchern bewohnt; dieselben
halten sich in tiefen Löchern an den steilen Abhängen ans.
Um sie zu fangen, überdecken die Jäger die Höhlen mit einem
Netze und treiben die aufgescheuch-
ten Vögel hinein.
Der Ertrag der verschiedenen
Zweige der Landwirthschaft ist
äußerst gering. Wohl findet sich
in den Mulden der niedrig ge-
legenen Thäler und an den Küsten-
sänmen Ackererde, und zwei Dritt-
theile der Bevölkerung treiben neben
dem Fischfang auch etwas Land-
wirthschaft, allein das Klima ist
dem Getreidebau so ungünstig,
daß Roggen, Gerste und Hafer
nicht in allen Jahren zur Reife
gelangen. Gemüsepflanzen, ins-
besondere Kartoffeln und Rüben,
gedeihen in genügender Menge.
Obstbäume bringen ihre Früchte
nicht zur Reife, aber in den von
Mauern und Zäunen geschützten
Gärten der Ortschaften tut Süden
der Gruppe werden Stachelbeer-
und Himbeersträuche gezogen. —
Auf Suderöc verhält sich das
Kulturland zur gesammten Ober-
Mühle. fläche der Insel wie 1:36; auf
den nördlichen Inseln wie 1: 96.
Von den Hausthieren ist noch das Pony zu erwähnen;
und zwar liefern die Färöer neben den Shetlandiuseln die
kleinsten Thiere dieser Rasse. Aber gerade dieser geringen
Dorf am i>cmsösjord.
Größe halber kommt das Pony auf den Färöer wenig zur
Verwendung, zum mindesten lange nicht in dem Maße, wie
das verwandte isländische Pferd in seiner Heimath.
In neuerer Zeit hat man versucht, die Kohlenlager auf
Snderöe auszubeuten, ohne indeß ncnncnswerthe Erfolge
erzielt zu haben. In der Regel liegen zwei, manchmal aber
auch noch mehr Flötze übereinander, deren Mächtigkeit
aber außerordentlich schwankt (zwischen 0,20 und 0,30 in bis
2 und 4 in; an einer Stelle will man sogar eine Mächtig-
keit von 20 in gefunden haben). Die Kohle ist theils eine
der schottischen sehr ähnliche Glanzkohle, theils ist sie der
Braunkohle ähnlich und zeigt noch deutlich die Holzfasern
88
Dr. F. Bons: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
und Jahresringe der Pflanzen, die sie bildeten. Die Flöhe
sind an mehreren Stellen abbauwürdig: Ein Lager findet
sich im Norden von Suderöe bei Qvalböe und das andere
in der Mitte derselben bei Trangisvaag. Das erstere ver-
suchte die dänische Regierung abzubauen; sie hat indeß neuer-
dings die Gruben aufgegeben, da die Kohle zu geringmerthig
und die Ausbeute nicht lohnend war I. Die Einwohner
von Qvaböe holen sich aus den verlassenen Gruben ans
sehr einfache Weise das Brennmaterial für ihren Hans-
bedarf und sollen jährlich gegen 100 Tonnen getvinncn.
Das andere, viel abbauwürdigere Lager bei Frodböenypen
am Trangisvaagfjord besteht aus zwei Flötzen, die durch
eine 8 m mächtige Schicht Schiefer und braunen Thon ge-
trennt werden. Man hat die Ausdehnung dieses Kohlen-
lagers ans 2000ha und die mögliche Ausbeute auf 14Mill.
Tonnen geschätzt. Seit 1887 beutet eine französische Ge-
sellschaft „Compagnie normale de pêcheries“ das Lager
ans, um nicht Kohlen aus England einführen zu müssen.
Die Kohle ist etwa von der Güte der mitteldeutschen Braun-
kohle und die besten Sorten haben folgende Zusammensetzung:
Kohlenstoff . 60,9 61,0 56,7
Wasserstoff • 4,1 3,9 3,9
Sauerstoff und Stickstoff . 20,3 18,2 17,4
Asche . 2,5 2,5 10,7
Hygroskopisches Wasser . . 12,2 14,4 11,3
I Bergt. Johnstrup, Om Kullagene paa Faeröerne
samt Analyser etc. Oversigt over detKgl. Dansk Vidersk.
Sclsk., 1873, p. 147.
Ueber die Entstehung dieser Kohlenlager sind die Mei-
nungen getheilt. Die Einen halten dieselben für eine
Bildung aus Pflanzen, welche einst an Ort und Stelle
gediehen; die Anderen dagegen meinen, sie seien ans vor-
weltlichen Baumstämmen entstanden, welche durch Meeres-
strömungen angetrieben und von vulkanischen Answnrfs-
stoffen, von Tuff und Basalt, überdeckt worden seien. Die
letztere Ansicht, welche besonders von englischen und nor-
wegischen Gelehrten bekämpft wird, kann deshalb nicht die
richtige sein, weil nach dem einstimmigen Zeugnisse aller
Geologen die Färöer in einer jüngeren Erdperiode niemals
unter den Spiegel des Meeres getaucht gewesen sind, und
das müßte doch geschehen sein, wenn die Baumstämme über
die Inseln ausgebreitet worden sein sollten.
Da ein Waldbestand den Inseln gänzlich fehlt, so ist
es für die nördlichen derselben, die keine Kohlenlager be-
sitzen, von hoher Bedeutung, daß sich in den muldenförmigen
Hochthälern ausgedehnte Torfmoore von 1 bis 2 m Mäch-
tigkeit finden. Man betrachtet dieselben mit Recht als
eine Hinterlassenschaft der Eiszeit, dadurch entstanden, daß
flache Wasserbecken, deren noch eine große Anzahl vor-
handen sind, von Wasser- und Sunipfpflanzen besetzt und
ausgefüllt wurden. Lehrreich ist, daß man an dem Boden
der Moore zahlreiche Wurzeln und Zweige von Buschwald-
pflanzen, anscheinend Wachholder und Birken, gefunden hat.
Gebüsch und Niederwald, die heute beide fehlen, müssen also
in früher Zeit auf den Inseln vorhanden gewesen sein;
dieser Umstand würde natürlich auf eine große Veränderung
der klimatischen Verhältnisse in der Vorzeit hinweisen.
Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
Von Dr. F. Boas in New Jork.
V.
Außer Sonne und Mond leben noch eine Anzahl Geister
tut Himmel. Der merkwürdigste unter diesen ist der Tsö-
noqoa der Kwakiütl, welcher von den Wik’enoq Atsi
oder Tlipäatstitläna, von den Bil^ula Sneneiq genannt
wird. Ich glaube aus einer Reihe von Andeutungen
schließen zu müssen, daß derselbe eine mythische Form des
Grizzlibären ist. Eigenthümlich ist, daß Besucher des
Tsönöqoa von demselben oft ebenso belohnt werden, wie die
Besucher der Gottheit von der letzteren.
Der Sneneiq (Bil^ula).
Ein Mann, Namens lallt, saß einst mit seiner Frau
zusammen am Feuer. Die Frau hielt ihr Kind ans dem
Schoße, und als dasselbe schrie, gab sie ihm die Brust und
stillte es. Zufällig blickte sie in die Höhe und sah auf dem
Dache über dem Rauchfange etwas Weißes, das sich bewegte,
wie eine keuchende Brust. Sie rief ihren Mann und machte
ihn darauf aufmerksam. Da nahm er seinen Bogen und
Pfeil und schoß danach. Da sahen sie, wie das Weiße her-
unterfiel. Als es nun dämmerte, weckte die Frau ihren
Mann und sprach: „Stehe doch auf und sieh, was du
gestern Abend geschossen hast.“ Er erhob sich und sah
draußen einen jungen Sneneiq todt liegen. Sein Pfeil
hatte ihm gerade die Kehle durchbohrt und er war so groß
wie vier Büffel. lallt grnb nun ein tiefes Loch, warf den
Sneneiq hinein und deckte ihn wieder mit Erde zu. Nur
die weiße Kehle ließ er unbedeckt. Er erzählte Niemandem,
daß er das Ungeheuer gctödtet hätte. Einst fuhren nun
eine Anzahl Männer den Fluß hinauf und sahen bei
Nutltlei^ den alten Sneneiq auf einem großen Felsen
sitzen und weinen. Da fürchteten sie sich und kehrten nach
Nu/pilkch zurück. Als lallt von ihrem Abenteuer hörte,
ging er mit zwei Freunden flußaufwärts, um den Sneneiq
zu sehen. Als sie ihn auf dem Felsblocke erblickten, kehrten
die zwei Freunde um, denn sie fürchteten sich, lallt aber
fuhr furchtlos weiter. Als er an dem Felsblocke ankam,
auf welchem der Sneneiq saß, schob er seinen Kahn ans
Ufer, stand auf und lehnte sich gegen den Stein. Da hörte
der Sneneiq auf zu wehten und wischte sich die Angen ans.
lallt sprach: „Mein Lieber, ich möchte dir helfen. Sage
mir, warum weinst du so sehr?“ Der Sneneiq antwortete:
„O, ich habe meinen Sohn verloren. Ich weiß nicht, wohin
er gegangen ist und fürchte, er ist todt.“ Dann nahm er
ein Kupfer und gab es lallt. Er fuhr fort: „Siehst du
das Hüuptlingshaus dort droben auf dem Berge? Es
gehört meinem Sohne.“ lallt antwortete: „Ich sehe nichts.“
Da fuhr ihm der Sneneiq zweimal mit der Hand über
die Augen, und nun erblickte jener das schön bemalte Haus.
Der Sneneiq schenkte ihm das Hans mit allem, was drinnen
war und sagte: „Wenn du nach Nn^alkch zurückgekehrt
bist, so baue vier eben solche Häuser.“ Als er so geredet
hatte, erhob er sich und wollte fortgehen, lallt frug ihn:
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
89
„Wohin gehst du?" Der Snenéiq antwortete: „Ich ver-
lasse nun dieses Land und gehe nach Naus“ (bei Fort
Rupert). Iálit aber kehrte nach Nu^alkch zurück. In
den folgenden vier Jahren baute er vier Häuser und trug
alles, was in des Snenéiq Hause war, zum Meere hinab.
Und er bemalte seine Häuser ebenso, wie droben auf dem
Berge des Snenéiq Haus bemalt war.
Snenéiq.
Eines Abends weinte die Tochter eines Häuptlings und
wollte sich nicht beruhigen lassen; da sprach ihre Mutter,
eine schöne Frau, mit langen Haaren: „Lege dich hin und
sei ruhig, sonst wird der Snenéiq kommen und dich holen."
Um Mitternacht, als alle schliefen, kam der Snenéiq in
Gestalt einer alten Frau an die Thür und sprach zu dem
Kinde: „Komm her, ich habe hier trockenen Lachs für dich,
nimm hin und iß." Das Kind kam aber nicht. Da sagte
die Alte: „Komm her, ich habe hier Bergziegeufett. Nimm
und iß." Das Kind ging an ein Astloch in der Wand
und sagte: „So reiche es mir hier durch." Die Alte kam
herbei, blies in das Loch, das sogleich sehr groß wurde,
ergriff das Kind und steckte es in einen Korb, den sie auf
dem Rücken trug. Da schrie die Kleine: „O, Snenéiq
hat mich in ihren Korb gesteckt!" Die Eltern erwachten.
Sie machten ein großes Feuer, um sehen zu können und
verfolgten die Snenéiq. Als sie ihr aber nahe kamen,
versank dieselbe in die Erde und so verloren sie ihre Spur.
Da kehrten sie betrübt nach Hause zurück. Snenéiq ge-
langte endlich nach Hause und sprach zu ihrer Sklavin
^nsqee^titlpntsaa^: „Siehe her, ich habe eine Schwester
für dich gefunden." Snenéiq hatte sie einst in ihrem Korbe
ebenso geraubt wie setzt das Mädchen. Die Sklavin rief
die letztere zu sich und sprach zu ihr: „Wenn Snenéiq dir
zu essen geben will, so nimm es nicht, sonst wird es dir
ergehen, wie es mir erging. Siehe, ich aß von dem Berg-
ziegenfett und da bin ich an der Erde festgewachsen." Sie
zeigte ihr nun, daß ein Seil aus ihr herauswuchs und sich
m der Erde verzweigte, gerade wie eine Wurzel. Sie sagte
weiter: „Verstecke das Essen unter deinem Mantel und
thue, als äßest du." Als Snenéiq zurückkam, bot sic dem
Mädchen Bergzicgenfett an. Dieselbe folgte aber dem
Rathe der Sklavin und stellte sich nur, als ob sie äße. In
Wahrheit verbarg sie das Fett unter ihrem Mantel. Nach
einiger Zeit hörte die Snenéiq ein Kind schreien und lief
fort, dasselbe zu holen. Vorher sagte sie zu dem Kinde, es
solle im Hause bleiben, denn sie wolle ihm eine Schwester
holen. Als die Snenéiq fort war, rief die alte Sklavin
das Kind herbei und sprach: „Nimm du Snénéiq’s Hand-
schuhe, die dort hängen. Stecke sie dir an die Finger und
erwarte draußen die Rückkehr Snénéiq’s.“ Das Mädchen
that, wie die Sklavin sie hieß. Sie stellte sich an den
Abhang einer Schlucht, und als die Snenéiq zurückkehrte
und sah, daß die Kleine ihre Finger gegen sie bewegte,
fürchtete sie sich so, daß sie in die Schlucht hinabfiel und
dort todt liegen blieb. Da ließ die Sklavin das Mädchen
an einem Seile hinab und ließ sie die Brüste der Snenéiq
abschneiden und kochen. Sie sprach: „Wenn Snénéiq’s
vier Söhne von der Jagd nach Hause kommen, so setze
ihnen dieses Gericht vor, dann werden sie sterben." Bald
kamen diese nach Hause. Sie frugen nach ihrer Mutter
und Xusqée^titlpntsaa^ antwortete: „Sie wird wohl bald
kommen. Sic ist mit ihrem Korbe ausgegangen, Sklaven
zu fangen. Wir haben unterdeß für euch gekocht; hier ist
euer Essen"; und da nahm das Mädchen den Topf, in dem
die Brüste gekocht waren und setzte ihn den Söhnen vor.
Die nahm einen Löffel voll und gab ihn dem Aeltesten!
Dieser sprach: „Dies schmeckt ja gerade wie unserer Mutter-
Globus LIV. Nr. 6.
Milch." Dann gab sie dem zweiten einen Löffel voll.
Dieser schmeckte und sprach: „Du hast Recht. Es schmeckt
genau wie unserer Mutter Milch", und so sprachen auch
die beiden jüngsten, als sie geschmeckt hatten. Die alte
Sklavin aber hieß sie ruhig sein und essen. Sie gehorchten,
als sie aber aufgegessen halten, fielen alle todt nieder. Als
die vier Kinder der Snenéiq — vier Wölfe — todt waren,
warfen sie die Leichen zu der Alten in die Schlucht hinab.
Dann sprach die Sklavin: „Gieb mir das Fell einer Berg-
ziege." Das Mädchen gehorchte. Da zupfte sie die Haare
aus und machte ein langes Seil. Dann füllte sie einen
Korb mit Fleisch und Fett, band dem Mädchen das Seil
um und ließ es nach Hause gehen. Sie hielt das auf-
gerollte Seil fest, und ließ es auslaufen, während das
Mädchen fortging. Endlich gelangte das Kind nach dem
Hause seiner Eltern. Drinnen weinte die Mutter, und da
ging die Kleine außen an die Wand des Hauses, dort, wo
das Bett stand, in dem die Mutter schlief, und klopfte an
die Wand. Die Mutter hörte das Geräusch und sandte
ihren jüngsten Sohn hinaus, um nachzusehen, wer da sei.
Als dieser seine verlorene Schwester erblickte, lief er zurück
und erzählte seiner Mutter, daß sie zurückgekehrt sei. Sie
aber glaubte ihm nicht und sprach: „Rede keine Thorheiten,
deine Schwester ist lange todt." Da es wieder klopfte,
sandte sie ihren ältesten Sohn hinaus, nachzusehen. Bald
kam derselbe zurück und sprach: ,,Ja, da draußen steht
unsere Schwester. Sie läßt dir sagen, du sollst das Haus
reinigen, dann will sie hereinkommen." Da glaubte die
Mutter es. Sie reinigte ihr Haus und das Mädchen trat
herein, setzte sich ans Feuer und aß mit ihrer Mutter und
ihren Brüdern. Dann sprach sie zu deni einen: „Hole
doch meine Kiste, welche draußen vor der Thür steht."
Derselbe gehorchte, konnte aber die Kiste nicht heben, obwohl
sie sehr klein war. Alle Leute, einer nach dem anderen,
gingen hinaus, die Kiste zu heben, keiner aber vermochte es.
Da ging das Mädchen selbst hinaus und hob die Kiste an
ihrem kleinen Finger auf. Sie öffnete sie und gab allen
Geschenke. Dann sprach sie: „Geht Morgen immer dem
Seile nach, an dem ich festgebunden war, in den Wald.
Dort werdet ihr eine alte Frau finden, die am Boden
festgewachsen ist. Versucht doch, sie zu befreien." Die Leute
thaten also. Sie fanden die Alte und hieben das Seil
durch, das sie mit dem Boden verbunden hielt. Da strömte
Blut daraus hervor und sie starb.
Tl’ipaatstitlana (Bityula).
Es war einmal ein Mann, der war [mit seiner Frau
unzufrieden und jagte sie fort, um sich eine neue Frau zu
nehmen. Darüber wurden seine Söhne betrübt und liefen
in den Wald, um nicht wieder zurückzukehren. Der älteste
Bruder hatte seinen Bogen und seine Pfeile mitgenommen
und schoß viele kleine Vögel. Diese gab er seinem Bruder
und sprach: „Kehre du lieber nach Hause zurück. Ich will
weit, weit fortgehen und du würdest nicht so weit gehen
können. Nimm die Vögel und kehre um!" Der Kleine
weigerte sich aber, seinen Bruder zu verlassen, und schließlich
willigte derselbe ein, ihn mitzunehmen. Sie gingen weit,
weit den Fluß hinauf. Endlich erblickten sie ein Lachswehr
und da sprach der ältere Bruder zu dem jüngeren: „Hier
müssen Leute wohnen." Der Kleine sah sich rings um,
konnte aber Niemanden finden und sprach zu seinem Bruder:
„Nein, Niemand ist hier, es muß wohl ein Vorübergehender
das Lachswehr gebaut haben. Laß uns hier bleiben und
ein Haus bauen." Als das Haus fertig war, ging der
ältere Bruder täglich zum Lachswehr hinab, wahrend der
jüngere oben blieb und die Fische trocknete. Während nun
der ältere Bruder unten am Flusse war, hörte der Kleine
12
90
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
plötzlich ein eigenthümliches Geklapper oben ain Berge. Er
blickte auf und sah eine Frau Herabkommen, deren Haar
und deren rother Mantel mit Adlerdaunen bestreut war.
An den Fußen trug sie Tanzschellen und sie klapperte be-
ständig mit dem Munde. Da sie gerade auf das Haus
zukam, fürchtete der Knabe sich und versteckte sich. Er sah
nun, wie sie die Thür öffnete, an der Schwelle stehen blieb,
und wie ihr Mund plötzlich riesenlang wurde und sie alle
Lachse von den Trockcngestellen fraß. Dann ging sie
wieder fort. Als der ältere Bruder wieder heraus kam und
alle Lachse verschwunden sah, wunderte er sich, daß der
Kleine so viel gegessen hatte. Er sagte aber nichts, und
jener erwähnte auch nicht den Besuch der Frau. Sie aßen
zusammen einen Lachs, den der Aeltere mitgebracht hatte und
legten sich schlafen. Als am folgenden Tage der Bruder
wieder zum Flusse hinabgegangen war, kam die Frau wieder
und fraß alle Lachse auf. Als er nun Abends alle Lachse
verschwunden fand, frug er seinen Bruder: „Wie kommt
es denn, daß du so viel ißt?" Jener antwortete: „Ich
habe gar nichts gegessen, jeden Tag kommt eine Frau hier
her, stellt sich an die Thür und dann streckt sie ihren Mund
bis zum Feuer aus und frißt alle Lachse." Da nun die
Frau am dritten Tage wieder kam, beschloß der ältere
Bruder, ihr aufzupassen. Morgens ging er wieder zum
Flusse hinab, kam aber gleich darauf unbemerkt zurück, nahm
Bogen und Pfeil und versteckte sich im Hause. Es währte
nicht lange, da kam die Frau und fing an, die Lachse zu
fressen. Sie war aber noch nicht zur Hälfte fertig, da
schoß sie der junge Mann in ihre riesige Brust. Sie schrie
vor Schmerzen und entfloh. Da sprach der ältere Bruder
zu dem Kleinen: „Ich will sie nun verfolgen. Bleibe hier,
gehe aber sparsam mit den Fischen um, damit du genug
hast, bis ich wiederkomme." Dann ging er fort. Die Frau
hatte aber auf dem Wege Dannen verloren, und Blut bezeichnete
ihre Spur, welche von der Erde zum Himmel hinaufführte.
Als er eine Zeit lang gegangen war, kam er bei
Masmasaläni^’s Hause vorbei, der einen großen Hut trug.
Er frug denselben: „Hast du nicht eine kranke Frau hier
vorbeikommen sehen?" Jener antwortete: „Ja, ich sah
sie, es ist Tl’ipaatstitlana, die Tochter Atlq’ontöm’s. Sie
schien halb todt zu sein." Der junge Mann folgte der
Spur weiter, die ihn ganz hinaus in den Himmel führte.
Endlich gelangte er an einen kleinen See, aus dem ein
Fluß entsprang, und sah Atlq'outom'8 Hans nahe am
User stehen. Da streute er sich die Adlerdaunen auf den
Kopf, hüllte sich in feinen Mantel und setzte sich am Ufer
des Sees nieder. Er war aber ein großer Zauberer und
hatte gemacht, daß Niemand den Pfeil sehen konnte, mit
dem er TTipäatslitlana getroffen hatte. Die Adlerdaunen
auf seinem Kopfe ließ er aussehen, als sei sein Kops in
Rauch gehüllt.
Er hatte nicht lange so gesessen, da kamen zwei Töchter
Bli'paatstitlana's ans dem Hause, um Wasser zu holen.
Als sie am Ufer einen Mann verhüllt von einer Ranch-
wolke sitzen sahen, wußten sie sogleich, daß derselbe ein
Medicinmann sein müsse, und sie liefen zurück ins Haus,
um zu erzählen, daß er draußen sitze. TU'paatstiUana's
Mann hatte aber schon alle Medicinmänner kommen lassen,
um die Frau zu heilen. Keiner aber hatte es versucht.
Er hatte seinen Diener Attyulätemim I an die Thür treten
und der Reihe nach die Medicinniänner rufen lassen. Der
0 Atl/ulateuum wird beim Wintertanze durch eine roth
und grün gestreifte Marke dargestellt. Die Streifen laufen
schräg von iinks oben nach rechts unten über das ganze Gesicht,
der Tänzer trägt einen ebenso gestreiften Stab. Sein Platz
ist an der Thür. Er ist gleichfam Herold der im Tanze auf-
tretenden Götter.
8n.6yöiq, der Donnervogel, der Kranich, der Grizzly und
der Braune Bär waren gekommen: keiner konnte sie heilen.
Da sandte er hinaus, den Fremdling zu holen und
versprach ihm eine der vier Töchter der Kranken zur Frau,
wenn er sie wieder gesund mache. Die Leute saßen um
die Kranke herum, konnten aber den Pfeil nicht sehen. Sie
sangen und brauchten Trommeln und Pfeisen, aber sie
ward nicht besser. Der junge Mann sprach nun: „Bringt
mir einen Cederzapfen." Als er denselben erhalten hatte,
zerbrach er ihn und legte die einzelnen Schuppen vor die
Trommeln, die an einer Seite des Feuers standen, und als
er nun singend um das Feuer herumging, begannen die-
selben zu trommeln. Die Frau saß an der entgegengesetzten
Seite des Feuers. Er sprach nun: „Deckt Matten über
mich und die Kranke." Die Lenke gehorchten, und da zog
er den Pfeil ungesehen aus ihrer Brust, zerbrach ihn in
viele Stücke, so daß er ihn in der Hand verbergen konnte
und ging hinaus. Draußen warf er den Pfeil ins Wasser
und wusch sich. Die Frau aber war wieder besser geworden.
Die Leute frugen ihn nun, welches der vier Mädchen
er nehmen wolle. Sie hatten aber schon unter einander
verabredet, daß er die Jüngste nehmen solle, die eine große
Zauberin war. Da dieselbe sehr hübsch war, wählte er
wirklich sie. Dann gingen sie zusammen zur Erde hinab.
Als sie zu dem Platze kamen, wo der junge Mann seinen
Bruder verlassen hatte, fand er denselben todt und seinen
Leichnam verwest. Nur das Gerippe lag da, von dem aber
ein Oberschenkel fehlte, den die Bögel fortgetragen hatten.
Es hatte dem jungen Manne geschienen, als fei er nur
einen Tag lang im Himmel gewesen; er hatte aber in
Wirklichkeit ein Jahr dort geweilt. Da nahm die Frau
etwas Lebenswasser, das sie aus dem Himmel mitgebracht
hatte, und träufelte ihrem Schwager davon etwas in die
Nase, ins Ohr und in den Mund und wusch seinen Körper
damit. Da erhob er sich, als wenn er nur geschlafen
hätte; aber fortan hinkte er, denn es fehlte ihm ein Knochen.
Die Beiden mit der jungen Frau reisten nun den Fluß
hinab, bis sie zum Dorfe ihres Vaters kamen. Ein wenig
oberhalb desselben trafen sie viele Leute, die gerade Brenn-
holz holten. Da sandte der jüngere Bruder dieselben zurück
zu dem Vater, um ihm zu erzählen, daß seine Söhne zurück-
gekehrt seien. Und er ließ ihm sagen, das Haus zu reinigen,
denn sonst werde die junge Frau seines Sohnes nicht hin-
eingehen. Die Leute gehorchten und der Vater ließ sein
Hans reinigen. Dann sandte er zwei Männer, um seine
Söhne aufzufordern, zu kommen.
Diese aber ließen ihm sagen: „Schicke erst deine neue
Frau fort und nimm unsere Mutter zurück, dann wollen
wir kommen." Als der Vater gethan hatte, wie sie ver-
langt, gingen sie ins Haus.
Im Laufe der Zeit gebar die Frau des älteren Bruders
ein Kind. Sie hatte aber ihrem Manne eingeschärft, ja
nicht zu lachen, wenn er seine frühere Geliebte sähe. Eines
Tages bat sie ihren Mann, zum Flusse hinab zu gehen
und etwas Wasser zu holen. Er that, wie sie gebeten hatte.
Unten aber begegnete er seiner ehemaligen Geliebten und da
lachte er. denn er freute sich, sie wieder zu sehen. Als er-
den Eimer voll Wasser seiner Frau brachte, da war das
Wasser blutroth, und daran erkannte sie, daß er gelacht
hatte, als er seine Geliebte gesehen. Sie ging fort und
Niemand wußte, wohin sie verschwunden war.
Tlemáé. (Tlatlasiqoála.)
Die Tochter eines Häuptlings erkrankte und ihr Körper
war über und über mit Geschwüren bedeckt. Da beschloß
ihr Vater, sie zu verlassen. Er befahl allen Leuten, ihre
Habseligkeiten zu packen, und früh Morgens beluden sie
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
91
ihre Boote und fuhren von dannen. Das arme Mädchen
blieb ganz allein im Dorfe zurück. Einst kratzte sie ein
Geschwür am rechten Oberschenkel, so daß die Kruste sich
löste und siehe, sogleich verwandelte dieselbe sich in einen
Knaben. Sie fühlte sich plötzlich wieder gesund, stand auf
und legte das Kind in eine Muschel, die sie in einem hohlen
Baume verbarg. Täglich ging sie, um nach dem Kinde zu
sehen, und bemerkte, daß es rasch heranwuchs. Sie gab ihm
den Namen Tlemae (Geschwür), da es aus ihren Ge-
schwüren entstanden war. Als das Kind größer geworden
war, kehrte es mit der Frau zum Hause zurück. Der Knabe
baute nun ein Lachswehr im Flusse und ließ sich von seiner
Mutter einen Bogen und vier Pfeile machen. Am ersten
Tage fing er einen Lachs im neu erbauten Wehr. Sie
schnitten ihn auf und hängten ihn über das Feuer, damit
er daselbst trockene. Dann gingen sie wieder zum Wehr
hinab und fanden zwei Lachse; als sie aber mit denselben
zum Hause zurückkamen, sahen sie, daß der erste gestohlen
war. Sic wußten nicht, wer der Dieb war, denn sie hatten
Niemand kommen sehen. Da ihnen, während sie wieder
zum Wehr gingen, auch die neu gefangenen Lachse gestohlen
waren, beschloß Tlernas, aufzupassen und den Dieb zu er-
tappen. Er hängte die drei Lachse, welche sie dieses Mal
gefangen hatten, über das Feuer, nahm feinen Bogen und
die vier Pfeile und versteckte sich im Hause, während er
seine Mutter wieder zum Lachswehr hinunter sandte. Es
dauerte nicht lange, da hörte er draußen eine Stimme
rufen: „Hü! Hü!" und bald trat eine T8on6qoa in die Thür.
Sie trug einen großen Korb auf dem Rücken, und streckte
ihre laugen Arme aus, um die Lachse zu nehmen unb in
denselben zu legen. Da schoß Tlernas seine Pfeile auf
sie ab. Der erste traf sie in die linke Brust, der zweite
in die rechte, der dritte links in die Seite, der vierte rechts.
Da schrie Tsonöqoo vor Schmerz und lief von dannen,
und schlug mit den Händen um sich, so daß alle Bäume
umsielen. Tlemae verfolgte sie, indem er den umgeworfenen
Bäumen und der Blutspur nachging, über vier Berge und
durch vier Thäler. Endlich kam er zu einem Teiche und
setzte sich daselbst nieder, um zu warten, bis Jemand käme.
Als er daselbst eine kleine Weile gesessen hatte, kam die
jüngste Tochter Tsonöqoa’s, Wälalitlilo^, mit einem Eimer
aus dem Hause, um Wasser zu holen. Tlemae rief sie
cm: „He! wer bist du?" Sie war so erschrocken, da sie
nur rief: „O! O!" Er frug nochmals: „Wer bist du?"
Da antwortete sie: „Ich hole Wasser für meine Mutter,
die sehr krank ist." „Was fehlt ihr denn?" frug Tlemae.
„Sie ging aus, um Essen für uns zu holen, und kam sehr
krank zurück; wir wissen nicht, was ihr fehlt." „Ich bin
ein Doktor", sprach Tlemae, „und kann sic heilen. Sage
deiner Mutter, ein Doktor säße am Brunnen und wolle
ihr helfen." Die Tochter kehrte rasch ins Haus zurück und
mau rief Tlemae daun hinein. Er sah sogleich die vier
Pfeile, die für alle anderen unsichtbar waren, und versprach,
die Mutter gesund zu machen. Da versprach diese ihm als
Lohn ihre jüngste Tochter Wälalitlilo^ zur Frau. Er
hüllte sich dann in ein Blanket und ließ sich die Stellen
Zeigen, wo die Tsonöqoa Schmerzen hatte. Er beugte
sich dann über sie und zog mit den Zähnen die Pfeile aus
ihrem Körper. Da schrie Tsonöqoa vor Schmerz: „ananä!“
Kaum aber waren die Pfeile entfernt, so war sie wieder
gesund. Sie gab ihm zum Lohn ihre Tochter zur Frau.
Dieselbe Sage wurde mir in folgender Form von den
Nemkis erzählt:
Tlemae.
Die Tochter eines Häuptlings war über und über mit
beschwüren bedeckt und verlor endlich ihren Verstand. Da
verließen sie alle, und als sie wieder zur Besinnung kam,
fand sie sich mit einem Hunde allein. Da weinte sie und
kratzte ihre Geschwüre, so daß das Blut zur Erde floß.
Plötzlich bemerkte sie, daß eine kleine Hand aus ihrer Brust
hervorwuchs. Als sie hinab sah, verschwand dieselbe sogleich
wieder. Sie schloß die Augen, und nach einer kleinen
Weile erschien die Hand wieder, um wieder zu verschwinden,
sobald sic hinab sah. So geschah es drei Mal. Da dachte
sie: „Ich will meine Augen geschlossen halten und sehen,
was geschieht." Da fühlte sie, daß die Hand weiter und
weiter herauswuchs und endlich ein ganzer Mensch heraus-
kam. Als dieser ganz herausgekommen war, fühlte sie sich
wieder ganz gesund. Sie nannte ihn Tiernas. Dieser
wurde rasch groß und sprach zu seiner Mutter: „Komm,
.laß uns zum Flusse hinabgehen und ein Haus aus Zweigen
bauen." Dann ließ er sich von seiner Mutter eine Harpune
machen. Als sie ihm dieselbe gab, wollte er zum Flusse
hinabgehen, um Lachse zu fangen. Es war aber nicht ein
Fisch im Flusse. Da nahm Tiernas vier Fichtennadeln.
Er warf die erste in den Fluß und sprach zu ihr: „Werde
ein Silberlachs." Zur zweiten sagte er: „Werde ein dog-
salmon.“ Aus der dritten machte er eine Forelle und aus
der vierten ein Humpbacksalmon. So wurde der Fluß
voller Fische, die er daun sing (u. s. w.; er geht dann zu
Tsonóqoa, die ihm außer der Fackel des Todes und dem
Wasser des Lebens noch alle ihre Tanzsachen giebt und
kehrt zurück). Tiernas glaubte vier Tage bei Tsonóqoa
gewesen zu sein, cs waren aber in Wahrheit vier Jahre.
Er ging zurück zu seiner Mutter, fand aber nur noch ihre
Gebeine, denn sie war längst gestorben. Da besprengte er
sie mit dem Wasser des Lebens. Sie rieb sich die Augen
und stand auf, als habe sie lange geschlafen.
Nach einiger Zeit beschloß Tlemae, die Welt zu durch-
reisen. Er sah Mövcu aus dem Meere schwimmen und
rief ihnen zu: „Wohin geht ihr?" Sie erwiderten: „Wir
gehen in die weite Ferne." „So laßt mich mit euch gehen!"
„Nein, unser Boot ist nicht gut, sein Bug geht zu tief."
Da rief Tiernas die Gänse all und frug sic, wohin sic
gingen: „Wir wollen Wurzeln graben", erwiderten die
Gänse. „So laßt mich mit euch gehen." „Nein, unser
Boot ist zu schwer beladen." Daun rief Tiernas den
Taucher Tl’opanä, der auf seine Frage antwortete, er gehe
in die weite Ferne. „So laß mich mit dir gehen." „Nein,
mein Boot geht zu tief", erwiderte jener. Auch die Ente,
welche ging, Wurzeln zu graben, und die kleine Ente (^üps),
welche weit fortzog, konnten ihn nicht mitnehmen. Er frug
dann den großen Taucher, welcher auch in die weite Ferne
reiste. Dieser frug Tiernas, wohin er wolle. Er ant-
wortete: „Ich will Kyiqame besuchen." „Was willst du
dort?" frug der Vogel. „Ich will mir eine Frau holen."
„Gut, so gehe mit mir." Sie fuhren eine Strecke lang,
da sprach der Taucher: „Wir werden nun gleich ins Meer
hiuabtanchen. Wenn du fühlst, daß du ersticken mußt, so
kneife mich, damit ich dich Luft schöpfen lasse." Tiernas
that, wie der Vogel ihn geheißen hatte, und als sie vier
Mal getaucht hatten, gelangten sie in Kyiqams'8 Land.
Dort sahen sie einen Teich, und der Vogel hieß Tiernas
sich in einen hohlen Staunn verbergen. Dann flog er fort.
Bald kam Kyiqame’s Sklave und holte den Stamm,
in welchem Tiernas verborgen war, als Brennholz, und
warf ihn neben das Feuer nieder. Kyiqame hatte vier
Töchter, und Tiernas hörte nun, wie er die jüngste schalt,
weil sie noch keinen Mann hatte. Er sprach zu ihr: „Ich
wollte, Tiernas käme und holte dich." Da schlich er heim-
lich in ihre Kammer. Als das Mädchen hereinkam, gab
er sich ihr zu erkennen und sie erzählte ihm, daß Kyiqame
ihr schon oft erzählt habe, er werde kommen. Am nächsten
12*
92
Kürzere Mittheilungen.
Morgen ging sie hinunter und erzählte ihrem Vater, Tlemae
sei gekommen und habe sie gehcirathet. Dieser wollte es
zuerst nicht glauben, bis Tlemae selbst herunter zum Feuer
kam. Vier Tage lang blieb er oben, dann ließ er Kyiqame
durch seine Frau bitten, ihn wieder hinabzusenden. Dieser
willfahrte seiner Bitte; er schenkte ihm das Wasser des
Lebens und schickte ihn nach der Erde zurück. Wieder
fand er seine Mutter todt, und erweckte sie mit dem Wasser
des Lebens. Tlemae aber liebte seine zweite Frau mehr
als die erste, deshalb war Tsonoqoo’s Tochter eifersüchtig
und wollte ihre Kräfte mit der zweiten Frau messen. Sie
verwandelte dieselbe zuerst in den Vogel Kaltem. Darauf
verwandelte sene sie in einen Raben. Und sie maßen noch-
mals ihre Kräfte. Die Tochter Tsonóqoa’s verwandelte
die Tochter Kyiqame’s tu einen Specht. Da fraß diese
die Hauspfosten auf, so daß das Dach einstürzte. Diese
verwandelte dann die erstere in eine Dohle, und beide kehrten
in ihre Heimath zurück.
Kürzere Mi
Die Kultur der Malediven - Insulaner x).
Einem interessanten Vortrage über die Kultur der Ein-
geborenen der Malediven, den Dr. Michael Haberlandt
vor der Wiener Anthropologischen Gesellschaft gehalten hat,
entnehmen wir die folgenden Ausführungen: Der Malediven-
Archipel besteht aus einer sehr großen Anzahl von Inseln
und Jnselchen korallinen Ursprungs; wie manche sagen, ans
2000, wie andere meinen, ans 12 000. Nicht alle sind aber
bewohnt, und die Bevölkerung beziffert sich wohl insgesammt
kaum viel höher als ans 20 000. Dieselbe ist singhalesischen
Ursprungs und wahrscheinlich ans Ceylon eingewandert, zu
welcher Insel die Malediven auch im Alterthume in einem
Abhängigkeitsverhältnisse standen. Außer den geschichtlichen
Urkunden bezeugen dies namentlich die Haut- und Haarbeschaffen-
heit und die Sprache, und die letztere repräsentirt ähnlich wie die
Sprache der wilden Wädda (Veddah) auf Ceylon eine alte
Sprachstufe des Singhalesischen. Die Abzweigung der Male-
divenbevölkerung von derjenigen Ceylons fand also sehr frühe
statt, vielleicht im Beginne der christlichen Aera, als die
ceylonesische Monarchie in höchster Blüthe stand und der
jugendliche Buddhismus die Singhalesen zu allerlei größeren
Unternehmungen ermunterte. — Die Araber bewirkten eine
Ueberführnng der Bevölkerung zum Islam, sowie damit zu-
gleich auch eine Lockerung der Zugehörigkeit zu Ceylon, wahr-
scheinlich um den Anfang des 13. Jahrhunderts. Eine Analyse
des Wortschatzes der Malediver ergiebt, daß 60 Proc. desselben
singhalesisch, 10,6 Proc. persisch, und 24,3 Proc. arabisch
oder unbestimmbar sind. Die Schrift ist ebenfalls singha-
lesisch, obzwar daneben auch die arabische Schrift den Insu-
lanern bekannt ist, und die letztere mancherlei Einfluß auf
die erstere geltend gemacht hat. — Die Kokospalme und
die Fischerei bilden die Hauptnährquellen, cs werden aber
auch verschiedene Gewerbe, wie Mattenstcchterei, Weberei,
Stickerei, Tischlerei und Goldschmiedekunst betrieben. Sehr be-
deutend sind die nautischen Leistungen der Malediven-Be-
wohner, und von den Arabern ist ihnen sowohl der Gebrauch
des Quadranten als auch der des Kompaß wohl bekannt. —
Das heutige politische Abhängigkeitsverhältniß der Inseln zu
Ceylon beschränkt sich darauf, daß alljährlich eine feierliche
Gesandtschaft mit Geschenken nach der „großen Insel" abge-
sandt wird. Im übrigen ist der Archipel völlig sich selbst
überlassen und unabhängig, und der Sultan läßt sich ans
jedem der 13 Atolle (Distrikte) von einem Statthalter
(„Nayb") vertreten. Das Gerichtswesen zeigt viele Anklänge
an Indien, und ebenso auch die bestehende Kasten- oder
i) Vergl. die Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesell-
schaft zu Wien, 1888, S. 30 ff.
t h e i l u n g e n.
Berufsrangordnung. Hinsichtlich der Religion ist dem Islam
sehr wahrscheinlich der Buddhismus vorangegangen, und
daraus erklärt sich mancher seltsame Brauch und Aberglaube,
der als Ueberlebsel aufzufassen ist. Auf dem Gebiete des
Privatlebens der Malediver hat der Islam mit seiner unheil-
vollen Auffassung des Geschlechtsverhältnisses ganz und voll
obgesiegt. — Die Kultur der Malediven ist somit als eine
durchaus hybride zu bezeichnen, und es ist daselbst „in der Ab-
geschiedenheit des Meeres thatsächlich und im kleinen Maß-
stabe entstanden, was auf dem großen indischen Festlande
trotz der mohammedanischen Neberflnthung nicht gelingen
konnte — ein kleines arabisirtes Indien". E. 1).
Die Moa-Frage.
Der letzte Moa ist bekanntlich nach allgemeiner Annahme
erst von einem Maori auf Neuseeland erschlagen worden und
die Ausrottung dieser Rieseuvögel somit in die allerneueste
Zeit zu setzen. Es hat aber inimer einzelne Forscher gegeben,
welche dieser Ansicht widersprachen, und sie haben neuerdings
in Herrn Edward Tregear einen sehr wichtigen Bundesgenossen
gefunden. Herr Tregear hat in einem Vortrage, welchen er
dem Londoner Anthropolog!cal Institute einsandte, die
Moa-Frage vom linguistischen Standpunkte aus untersucht und
gleichzeitig auch die neuseeländischen Traditionen, ans welchen
die Behauptung von einem Zusammenleben der Maoris und
der Moas beruht, einer erneuten Prüfung unterzogen. Die
Resultate dieser Prüfung sind wesentlich negativ. Die Maoris
haben bekanntlich eine sehr genaue und zuverlässige Tradition, sie
kennen noch die Namen der Häuptlinge, welche die Einwanderer
nach Neuseeland führten, sowie die Namen von deren Kanoes
und die Punkte, wo sie landeten, und sie bewahren sogar noch
Schmuckgegenstände, welche ihre Urväter mitbrachten. Engländer
und gebildete Maoris haben auch die alten Sageu und Lieder
um die Wette gesammelt, und unsere Kenntniß derselben ist
eine ziemlich vollständige. Aus den ersten Häuptlingen sind
mythische Heroen geworden, deren Heldenthaten denen des
Herkules nicht nachstehen; dieselben erscheinen mit Vorliebe in
Gesellschaft riesiger Thiere; Tinirau wird von einem Walfisch
begleitet, Tangaroamihi von einer riesigen Eidechse; mit einem
Moa zusammen wird aber kein Held genannt, so nahe das
gelegen haben würde, wenn die Maoris diese lebend gekannt
hätten. Herr Tregear hat überhaupt nur in einem Falle eine
bestimmte Erwähnung eines Kampfes mit dem Moa gefunden;
in der Legende von Poutini und Whaiapu wird nämlich
erzählt, daß Ngahne ans einer Fahrt längs der Küste der
Nordinsel (Wairere) den Moa erschlagen habe. Wer oder
was der Moa gewesen, wird dabei nicht gesagt, auch kein
Aus allen Erdtheilen.
93
näherer Bericht über den Kampf gegeben. Ngahue aber ist
eine durchaus mythische Persönlichkeit, die Personification
des Nephrits, welchen er auf der Mittelinsel bei Arahura sur-
alle Zeiten niedergelegt hat; er wurde aus seiner Heimath
vertrieben durch Hine-tu-a-honga, die Großnichte des Gottes
Maui. Die Zeugnisse über seine Fahrten dürften also für
die Existenz des Moa zur Maori-Zeit kann: beweisender sein,
als die der alten griechischen Göttersagen für die Existenz
der Centauren oder der lcrnnischen Schlange.
Wohl kommt auch sonst noch der Moa hie und da in
den Sagen vor, aber nicht als ein zu bekämpfendes oder zu
jagendes Thier; der Name ist den Dialekten von Tahiti,
Hawaii, Samoa und anderen gemeinsam und bedeutet, neben
zahlreichen anderen Gegenständen, wenn auf einen Vogel an-
gewandt, überall unseren Haushahn, der den Polynesiern
schon lange bekannt ist und der jedenfalls auch den Maori bei
ihrer Auswanderung nicht unbekannt war. Da sie ihn aber
auf ihrer Wanderung nicht mitnahmen oder wenigstens nicht
mit nach Neuseeland brachten, wurde die Erinnerung an
ihn allmählich undeutlich und der Moa zu einem sagenhaften
Wesen, das übernatürliche Dimensionen und Eigenschaften
annahm, aber eigentlich nur noch im Sprichwort weiter-
lebte. Daß es Federn besessen und eßbar gewesen, war fast
das einzige Genauere, was mau noch wußte. Moafedern
sollen noch hier und da im Besitz von Häuptlingen gewesen
sein, aber sie werden beschrieben als von glänzender Farbe
und mit einem Auge gezeichnet wie Pfauenfedern; der Moa
glich aber in seiner Befiederung, wie Funde beweisen, wahr-
scheinlich ganz dem neuholländischen Emu; die Federn, von
denen übrigens schon lange kein Exemplar mehr existirt,
können somit nicht von ihm hergerührt haben. Auf die
massenhaft vorkommenden Moaknochen scheinen die Maoris
erst durch die Europäer aufmerksam geworden zu sein; trotz
ihrer Armuth an zu Waffen geeignetem Material haben sie
die Schenkelknochen des Moa niemals verwendet. Nirgends
findet man auch den Versuch einer Darstellung des riesigen
gefiederten Zweifüßlers, nirgends eine Beschreibung oder einen
Bericht darüber, wie sein Fleisch gemundet habe. Heute ist
freilich der Moa wieder in allen neuseeländischen Hütten bekannt.
Haast, Hector, vor allen Colenso haben, um die Aufmerksam-
keit der Eingeborenen ans die Moa-Reste zu leuken, Abbildungen
nicht nur der wichtigsten Knochen, sondern auch des recon-
struirten Dinornis allenthalben verbreitet und die Maoris
darauf aufmerksam gemacht, daß die Knochen von erneut
Vogel stammten. Dadurch erst und durch die Bemühungen
der Missionäre in den Schulen ist die halbvergessene Tradition
von einem Vogel Moa wieder aufgeweckt worden. Denken
wir uns einen ähnlichen Vorgang in Deutschland; er hat ja
thatsächlich stattgefunden. Als die Mönche von Banz in
den Jura-Schichten den wohlerhaltenen Kopf eines riesigen
Sauriers fanden, sahen sie in ihm den unzweifelhaften Be-
weis für die Existenz der Drachen und Lindwürmer, mit
denen die alten Helden gekämpft, und die deutschen Sagen
und Ortsnamen bieten für die Existenz von Drachen in der
ältesten schon fast historischen Zeit wahrhaftig doch mehr An-
halt als die neuseeländischen für die des Moa.
Jedenfalls verdient der von Herrn Tregcar geführte Nach-
weis für die weite Verbreitung des Namens Moa für den
Haushahn volle Beachtung; seine Beweiskraft für die Moa-
frage könnte nur dadurch geschwächt werden, wenn inan sich
der Ansicht der Herren Martinet und Lessou anschließen
wollte, welche in dem mythischen Hawahiki der polynesischcn
Waudersagen die Nordiusel von Neuseeland uitb somit die
Heimath und den Ausgangspunkt der Polynesier sehen; dann
würde die Sache sich allerdings auch so deuten lassen, daß
die Auswanderer in ihrer neuen Heimath den Namen Moa
auf den Haushahn übertragen hätten, der ihnen erst dort
bekannt wurde. Von den Mitgliedern der Authropological
Society scheint aber Niemand dieser neuen Theorie Be-
deutung beizulegen. Ko.
Aus allen
Europa.
— Nach einer Mittheilung der „Deutschen Rundschau
für Geographie" hat der bekannte Balkanforscher Professor-
Franz Toula eine Reise nach der Krim unternommen,
um behufs geologischer Vergleiche das Jaila-Gebirge zu
untersuchen.
— Wie die Engländer es allen anderen Nationen voraus-
thun in der Schnelligkeit der Ueberwindung der
oceanischen Räume, die zwischen ihren Inseln und den
anderen Welttheilen liegen (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 224
und Bd. 54, S. 63), so thun sie es auch hinsichtlich der
festländischen Räume innerhalb ihrer Inseln. Der
schnellste Eisenbahnzug, der sich ans letzteren bewegt, ist
ein Zug der „Great Northern", der zwischen London und
Bork 5P/4 engl. Meilen (821/2 km) in der Stunde, und
zwischen Hithin und Pcterborongh, sowie zwischen Grantham
und Newark sogar 55 engl. Meilen (88V2 km) in der
Stunde zurücklegt. Die Entfernung zwischen London und
Edinburgh (392x/2 Meilen — 631 i/2 km) wird von dem
besten Zuge in 31/2 Stunden, d. i. mit einer Fahrgeschwindig-
keit von 491/2 Meilen pro Stunde bemeistert; diejenige
zwischen London und Glasgow (423 Meilen — 6802/s km,
Erdtheilen.
mittelst der „Midland") in 91/3 Stunden, d. i. mit einer
Fahrgeschwindigkeit von 48^ Meilen pro Stunde.
— In Belgien hat am 31. Dezember 1887 eine Volks-
zählung stattgefunden, die für das Land eine Einwohnerzahl
von 5 974 743 (also nahezu 203 pro qkm) ergeben hat.
Auf die centrale Provinz Brabant kommen davon 1 091 083
oder 332 pro qkm, ans die Bergbau - Provinz Hennegau
1041713 oder 280 pro qkm, und auf das Arrondissement
von Brüssel 709 000 oder 640 pro qkm.
— Auch Italien soll seinen „Canal des Deux
Mers“ erhalten. Wenigstens hat der Ingenieur Vittore
Brocca das Projekt dazu entworfen und in allen Einzeln-
heiten studirt. Der Kanal soll in der Gegend von Civita
Becchia, ant Tyrrhenischen Meere, seinen Anfang nehmen,
dem Lago di Bolsena und Lago Trasimeno Abzug gewähren,
den Apeninen quer durchschreiten, und bei Fano das Adria-
tische Meer erreichen. Seine Länge sott gegen 300 km,
seine Breite 100 m, seine Tiefe 12 m betragen. Neben
diesem Riesenwerke würden sich die übrigen intermarinen und
interoceanischen Kanäle in der That sehr bescheiden ausnehmcn.
Die Vortheile davon springen auch deutlich genug in die Angen,
wenn »tan die langgestreckte Halbinsel ansieht; jedoch verlohnt
94
Aus slflm Erdtheilen.
es sich zuvörderst wohl kaum, davon viel zu reden. Die
Kosten werden auf 400 Millionen Mark veranschlagt.
A s i e u.
— Die Forschungen Nikolski's in der Gegend
des Balkasch-Sees werfen ans dieses große Wasserbecken
ein ganz neues Licht. Die herkömmliche Annahme, daß der
Balkasch-See in einer jungen geologischen Zeit ebenso mit
dem Aral-See zusammengehangen habe wie der Kaspi-See,
bestehen danach vor der genaueren Prüfung nicht, da die
Bodenschwelle, die im Westen des Sees liegt, von sehr hohem
Alter ist und aus jurassischen, devonischen und anderen alten
Ablagerungen besteht. Sie erhebt sich auch ca. 370 m über
den Meeresspiegel, wahrend der Balkasch-See 280 in und
der Aral-See nur 50 in hoch liegen. — Dagegen ist es durch-
aus wahrscheinlich, daß sich der in Frage stehende See bis
in eine nicht sehr weit zurück liegende Zeit gegen Osten viel
lveiter erstreckt hat und den Sassyk-kul, den Ala-kul, sowie
sogar den Jebi-Nor mit umfaßt hat. Das Wasser dieses
Sees war, wie aus der übereinstimmenden Fischfauna zn
schließen ist, entweder süß oder schwach salzig. Die Steppe,
die den Balkasch-See heute umgiebt, hat im NW Thonboden,
der sich iin Frühjahre mit Wasscrtümpcln bedeckt, im SO
dagegen Sandboden, der in einer gewissen Tiefe reich ist an
Quellen. — Vom November bis April ist der See regel-
mäßig mit einer starken Eisdecke überzogen (Vergl. „Compte
rendu“, 1888, 325).
— Dr. Guppy ist Ende vorigen Monats nach Batavia
aufgebrochen, um die Korallenriffe des ostindischen
Jnselmeeres genauer zu untersuchen. Unter anderem
will er namentlich auch Christmas-Island, das man für
eine der ältesten Korallen-Jnseln dieser Gegend hält, besuchen.
— Die „Meteorologische Zeitschrift" (1888, S. 237)
enthält auf Grund der Wild'schen Arbeiten eine Zusammen-
stellung von Temperatur-Angaben ans Werchojansk,
das bekanntlich als der kälteste Punkt auf der ganzen Erde
gilt. Dieser nordsibirische Ort hat danach eine durchschnittliche
Januar-Temperatur von — 53,1° (£., und eineJuli-Tempera-
tnr -f- 13,8°. Unter — 60° sinkt das Thermometer außer im
Januar auch im Dezember und Februar sehr häufig. Der
stärkste Kältegrad, der überhaupt beobachtet wurde, beträgt
— 64,5°, der höchste Hitzegrad dagegen ff- 30,4", so daß
die Extreme also 94,9" ans einander liegen. — Baron Toll,
(„Globus", Bd. 53, S. 211) giebt die niedrigste beobachtete
Temperatur auf — 68" an, was eine noch größere Differenz
zwischen dem stärksten Kälte- und dem höchsten Hitzegrade
ergeben würde (98,4").
— Dem gewaltigen Baue des britischen Weltreiches
scheint der letzte Schlußstein noch immer nicht eingefügt zu
sein. Kaum haben wir unseren Lesern über die Annexion
der Inseln Fanning, Christmas und Penrhyn im Großen
Oceane berichtet HVergl. „Globus", Bd. 53, S. 368), so
kommt ans Singapore die Nachricht, daß am 6. Juni auch auf
Christmas-Jsland int Indischen Oceane, das nicht mit
seinem polyncsischen Namensvetter verwechselt werden darf,
die britische Flagge aufgepflanzt worden ist. Die be-
treffende Insel liegt unter 11" südl. Br. und 106" östl. L.
und besteht nach den kürzlichen Ausführungen W. I. L.
Whartou's vor der Londoner Geographischen Gesellschaft
ans korallinen Bildungen, die auf einem vulkanischen Grund-
gerüste aufsitzen und zn beträchtlicher Höhe über den Mcercs-
spiegel emporragen. Was die Engländer mit der Insel an-
zufangen gedenken, ist zunächst nicht recht ersichtlich. Die
Lage derselben vor den Straßen in den Java- und Sunda-
See ist ja zur Seeherrschung der Wege nach Ostasien und
Neu-Guinea eine günstige, aber ihre steilen Ufer sind schwer
nahbar, es fehlt an einem guten Naturhafen — nur im
Nordwesten findet sich ein leidlicher Ankerplatz für kleine
Schiffe — und es herrscht Mangel au Trinkwasser. Obzwar
von einer dichten Vegetation überzogen, war Christmas-Jsland
bisher doch niemals bewohnt. Daß die Briten sich schon
auf viel unwirthlicheren Felsen wohnlich eingerichtet haben,
weiß man aber.
— Nach einem Vortrage P. Ramanathan's vor der
ceylonischen Abtheilung der „R. Asiatic Society“ bilden
die sogenannten „Moors" ihrer Schädelform wie ihren Sitten
nach keine besondere Rasse, die von den Tamilen und Singha-
lescn verschieden ist, sondern sie sind nur Tamilen, die vor
ihrer Einwanderung in Ceylon zum Mohammedanismus
bekehrt worden waren. Die Verschiedenheiten zwischen den
„Moors" der indischen Küstengegeuden und denjenigen Ceylons
seien lediglich daraus zu erklären, daß die Einwanderung von
Mohammedanern aufhörte, als das holländische Regiment
begann, das diesem Glauben feindlich war. Höchstens ein
kleiner Brnchtheil der betreffenden Bolksklasse sei vielleicht
auf eine alte Einwanderung aus Arabien zurückzuführen.
Afrika.
— Graf S. Teleky, der bekannte ungarische Afrika-
Reisende, hat eine glückliche Besteigung des Kenia, im
Norden des Kilimandscharo (bis 4500 m), ausgeführt. Im
Dezember vorigen Jahres befand er sich an dem Baringo-
See (westlich vom Kenia), und von dort gedachte er sich nach
Sambnrn zu wenden, um besonders den beiden großen Seen,
die sich daselbst befinden sollen, einen Besuch abzustatten.
— Der französische Reisende Jules Borelli dagegen
hat von Autotto (im Königreich Schon) aus Jiren (im
Königreich Dschimma) erreicht, und will von dort versuchen,
nach seinem Hauptziele Kullo (im Südosten von Kaffa) vor-
zudringen. Auf dem zurückgelegten Wege hat er namentlich
zahlreiche Höhenmessungen ausgeführt. (Vergl. „Compte
rendu“, 1888, p. 287.) Unter glücklichen Umstünden wäre
also recht wohl ein Zusammentreffen Borelli's und Teleki's
in der „Terra incognita“ südlich von Abessynien möglich.
— In der Gegend des Nyassa-Sees dauert der
kritische Zustand, der durch das feindliche Auftreten der
Araber für die schottischen Missionsstationen geschaffen worden
ist, an, und Dr. Croß theilt aus Ukonde (im Norden des
Sees) mit, daß es nach einem stattgehabten unglücklichen
Gefechte nothwendig werden dürfe, den Posten zu räumen,
wenn nicht etwa innerhalb einer Woche Beistand herbei käme.
Der Versuch der Herren Buchanan und Johnstone, die
Araber zu beschwichtigen, wäre demnach vollkommen gescheitert,
wie denn diese beiden Herren in Makanjiras (im Osten des
Sees) selbst vollständig ausgeplündert worden sind (Vergl.
„Globus", Bd. 53, S. 192).
— Da die Ausführung der viel berufenen Kongo-
Eisenbahn trotz der günstigen Berichte, die voll Cambier's
Aufnahme der Route verlauten, wahrscheinlich noch lange auf
sich warten lassen wird, so ist man in Brüssel an die Be-
gründung einer Gesellschaft gegangen, die sich die
Herstellung von praktikablen Straßen entlang dem
Kongo zur Aufgabe machen soll. Die Straßen sollen aus-
schließlich auf den Ochsenkarren-Verkehr berechnet sein, und
mit einem System von Fähren über den Kongo und seine
Nebenflüsse in Verbindung gesetzt werden. Man hofft da-
durch die wirthschaftlichen Hülfsquellcn des Kongostaates bald
so weit zn entfalten, daß man sodann auch an den Bau der
Eisenbahn herantreten kann. Eine andere Gesellschaft
will die Anlage von Gasthäusern und die Verpro-
viantirnng des Personals der verschiedenen Stationen in
die Hand nehme».
Aus allen Erdtheilen.
95
— Die Nachricht von'dem „weißen Pascha", der
mit starker Truppeumacht am Bahr-el-Ghasal angekommen
sei, erhält durch neue Ankömmlinge in Suakim fortwährend
noch Bestätigung, und es wird derselben auch noch hinzugefügt,
daß der Pascha ein Engländer sei, und daß die Bewohner
von Darfur mit ihm gemeinsam gegen den Mahdi zu Felde
ziehen. Auf wen diese Nachricht zu deuten sein soll, wenn
nicht auf Stanley oder Emin, ist völlig unerfindlich.
— In den Zeiten, in denen es sich noch um die Frage
handelte, ob Deutschland überseeischen Besitz erwerben solle
oder nicht, haben uns die Gegner der Kolonialpolitik immer
gern Algerien als ein abschreckendes Beispiel hingestellt.
Dem gegenüber ist zu beachten, daß die Franzosen gegen-
wärtig im Begriffe zu sein scheinen, mehr und mehr mit
großer Genugthuung ans diese Kolonie zu blicken. Ohne
Zweifel hat Algerien sehr viel Geld und Blut gekostet, aber
jetzt scheint doch die Zeit gekommen zu sein, wo allgemeiner
Friede in dem Laude herrscht, und wo die Hülfsquellen des-
selben reichlicher und reichlicher stießen lernen. Nach einem
Vortrage, den Herr Sabatier aus Oran kürzlich vor der
Pariser handelsgeographischen Gesellschaft gehalten hat, tauscht
Algerien heute mit seinem Mntterlande alljährlich für ca.
500 Mill. Francs Waaren aus, so daß es in dem Gesammt-
handel des letzteren mit reichlich 16 Proc. figurirt. Die
Linienlänge der Eisenbahnen beträgt 2020 km, die Fläche
der Weinberge 80 000 lia, der Ertrag derselben 2 Millionen
Hektoliter, die Kopfzahl der Heerden 16 Millionen. — Herr
Sabatier ist aber der Ueberzeugung, daß die Weinbcrgsstüche
sich auf 1/2 Million Hektar steigern lassen wird, und daß
ebenso der Viehbestand und die Weizenernte einer Verviel-
fachung fähig sind. — Auch der Engländer Grant Allen,
der den letzten Winter in Algerien zugebracht hat, spricht
sich auf Grund seiner Beobachtungen sehr günstig über die
kolonisatorischen Erfolge Frankreichs in Algerien aus, und
zugleich betont derselbe, daß die französische Herrschaft als
eine große Wohlthat für den schwarzen Erdtheil zu be-
trachten sei. — Die Heuschreckenplage, die das Land in diesem
Jahre verheert hat, hat zwar für einen großen Theil der
Bevölkerung arge Noth mit sich gebracht, es kann aber kaum
einem Zweifel unterliegen, daß diese Krise rasch überwunden
werden wird.
— Nach dem französischen Missionär Denoît ist das
Königreich Uganda, das in den Berichten Stanley's,
Emin-Pascha's und anderer Reisenden so viel genannt wird,
älter als die meisten anderen centralafrikanischen Königreiche.
Der Begründer desselben soll Kintu geheißen und im 10. bis
12. Jahrhundert gelebt haben. Nach ihm soll eine Reihe
von 36 bis 87 Königen über das Land regiert haben. Daß
Pater Denoît geneigt ist, anzunehmen, Kintu sei Christ ge-
wesen, weil er nur eine Frau besessen haben soll, und weil
der Lubales-Kultus erst nach seiner Zeit eingeführt worden
sein soll, dürfte sich füglich durch eine Voreingenommenheit
des Missionärs erklären. Nach Abessynien, wo das Christen-
thum so frühe und so fest Wurzel gefaßt hat, ist cs von dem
Albert-Nyanza, an dem Uganda liegt, doch noch ein guter Weg.
(Vergl. „Compte rendu“ der Pariser Geogr. Gesellschaft
1888, p. 289.)
Nordamerika.
— Die Seismologie wird demnächst eine bedeutende
Förderung von Amerika aus erhalten. George E. Good-
fellow hat daselbst das große Erdbeben von Sonora,
das am 3. Mai 1887 stattfand, und das von Doluca in
Mexiko bis Santafé in Neu-Mexiko, sowie von El Paso in
Texas bis Fort Puma in Arizona gespürt wurde, einer ein-
gehenden Untersuchung unterworfen; uub C. E. Dutton hat
alle Materialien über das Erdbeben von Charlcston ge-
sammelt, dessen Stöße sich vom 27. August desselben Jahres
an monatelang wiederholten, und dessen Schüttergebiet am
31. August etwa zwei Millionen Quadratkilometer umfaßte.
Der letztgenannte Forscher ist nun gegenwärtig damit be-
schäftigt, beide Erdbeben in einer Monographie der Geologi-
schen Landesuntcrsuchung vergleichend zu behandeln.
— Die amerikanischen Irrenärzte Bann ist er und
Hekto en veröffentlichen in dem „American Journal of In-
sanity“ cttte interessante Untersuchung über die Bezie-
hungen, welche in Amerika zwischen Wahnsinn und
Rasse bestehen. Danach ist stiller Wahnsinn (Melancholie)
verhältnißmäßig häufig unter amerikanischen Bürgern von
germanischer und skandinavischer Abstammung, rasender
Wahnsinn dagegen unter denjenigen von keltischer Abstammung.
Die bekannte Thatsache, daß der Wahnsinn viel öfter unter
Fremdgeborenen vorkommt als unter Einheimischen, erklären
die Herren nicht sowohl daraus, daß eine verhältnißmäßig
große Zahl von Defektiven, Nervösen und Epileptikern aus
Europa einwandern (wie vielfach irrig behauptet wird), als
vielmehr daraus, daß die neuen Ankömmlinge einen starken
Wechsel der Scene und Gesellschaft über sich ergehen lassen
müssen, daß sie am meisten Schwierigkeiten im Kampfe um
ihr Dasein zu bestehen haben, daß ihnen in der neuen
Heimath am häufigsten Enttäuschungen bereitet werden, daß
sic an Heimweh leiden rc. Wir selbst sind geneigt, die ganze
Frage in erster Linie als eine Frage der Acclimatisation
anzusehen, und bei dem „Wechsel der Scene" vor allen
Dingen an die schroffen, physikalisch-geographischen Gegen-
sätze, die zwischen der Alten und Neuen Welt bestehen, zu
denken. Die übrigen aufgeführten Umstände wirken aber
natürlich damit zusammen.
— Die Zeitungen haben in den letzten Jahren mehrfach
Berichte über die Zunahme des Wodu-Kultus in Hayti und
auf den Antillen überhaupt gebracht und stellen denselben als
einen echt afrikanischen Schlangendienst mit Kannibalismus
und unsittlichen Gebräuchen dar. Im ersten Hefte des „Journal
of American Folklore“ beschäftigt sich Herr Newell ein-
gehend mit dem Wodn und kommt zu dem überraschen-
den Resultate, daß weder der Name noch die angeblichen Ge-
bräuche afrikanischen oder heidnischen Ursprungs sind. „Wodn",
französisch „Vandoux", in Amerika gewöhnlich „Woodoo" ge-
schrieben, ist das französische „Vaudais" und stammt von
Petrus Waldus und seinen Waldensern, denen im fünfzehnten
Jahrhundert in Frankreich alle die Schändlichkeiten nach-
gesagt wurden, die man das ganze Mittelalter hindurch von
allen Ketzersekten zu erzählen wußte. Von den eigentlichen
Waldensern wurde der Name Vaudais auf Hexen und
Zauberer im allgemeinen übertragen; in manchen Dialekten
Frankreichs hat sich das Wort in dieser Bedeutung heute
noch erhalten, und der Waadtländer nennt sich darum heute
noch nicht Vaudais, sondern Vaudois; mittelalterliche Rechts-
bücher setzen eine schwere Strafe für den, welcher einen
anderen Vaudois nennt. Vandac ist im Rhouethale der
gefürchtete böse Geist, welcher Ueberschwemmungcn der Rhone
macht und das plötzliche Aufsteigen und Toben des Genfer
Sees verursacht. Mit den französischen Auswandern ist der
Ausdruck nach den Antillen und zu den Negern gekommen;
was von den Wodtt-Opfcrn erzählt wird, stimmt fast wörtlich
mit den Berichten mittelalterlicher Schriftsteller über die
Gräuel der Vaudais, nur, daß an die Stelle des Satans
eine wirkliche Schlange getreten ist; die Rinderopfer und die
geschlechtlichen Ausschweifungen sowie der Wehrwolfglaube,
figuriren in diesen gerade so gut, wie in den neuesten Be-
richten Sir Spenser St. John's von Hayti. Der Autor ver-
hält sich denselben gegenüber sehr skeptisch und legt auch den
angeblichen Aussagen verurtheilter Wodu-Verehrer und Priester
96
Aus allen Erdtheilen.
und Priesterinnen kein sonderliches Gewicht bei, da dieselben
gerade so gut durch die Tortur erpreßt sind, wie die Geständ-
nisse der Vaudaises des fünfzehnten Jahrhunderts. Daß
Wodn-Priester und Priesterinnen die abergläubischen Neger
auf Hayti ausbeuten, stellt Newell durchaus nicht in Ab-
rede; giebt es ja doch große und aufgeklärte amerikanische
Städte genug, in welchen „Woodoo-Doktors" mit großer
Kundschaft prakticiren, und zwar nicht nur bei der Neger-
bevölkerung. Wohl aber bestreitet er entschieden, daß man
auf Hayti von einem Rückfall in afrikanischen Kannibalismus
reden könne, wie Spenser St. John gethan. Bei den
gerichtlich verhandelten Fällen hat es sich theils um den
Brotneid rivalisirender „Papalois" gehandelt, theils wohl auch
um Denunciationen aus anderen unlauteren Ursachen; sie
stehen mit den europäischen Hexenprocessen genau auf der-
selben Linie und werden heute noch in derselben Weise geführt.
Australien und Polynesien.
— Einer Mittheilung des „Export." (1888, S. 407 f.)
zufolge hat die wirthschaftliche Entwickelung des
Königreichs Hawaii im Jahre 1887 eine merkliche
Hemmung erlitten, zum Theil infolge eines großen Brand-
unglückes und zum Theil infolge politischer Umwälzungen.
Die Ausfuhr des kleinen Jnselreiches bezifferte sich 1887
nur auf ca. 9^ Dollars, gegen ca. 10^/z Millionen Dollars
im Vorjahre, und die Einfuhr stieg von 4 878 000 Dollars
nur auf 4 944 000 Dollars. Der Hauptartikel der Ausfuhr
war nach wie vor der Zucker (für 8,7 Millionen Dollars),
die Znckerernte war aber durch die herrschende Trockenheit
eine geringere als 1886. Bananen, Reis, Kaffee kommen
als Ausfuhrartikel nur nebenbei in Betracht. Die Einfuhr
erstreckte sich vorzugsweise auf Jndustrieartikel und Getreide.
Was die Richtung des Hawaiischen Außenhandels betrifft,
so bewegte sich derselbe zu beinahe 91 Proc. nach den Ver-
einigten Staaten, zu 4,28 Proc. nach England, zu 1,27 Proc.
nach Deutschland und zu 1,12 Proc. nach Australien und
Neuseeland. Die Einwanderung war nur stark aus Japan,
während die vor einigen Jahren eingewanderten Zucker-
plantagen-Arbeiter von den Azoren das Land wieder ver-
ließen. Auf der Insel Hawaii wird zwischen dem Hafen
Hilo und den Zuckerplantagen des Inneren der Ban einer
Eisenbahn geplant.
Allgemeines.
— Die Pariser „Geographische Gesellschaft" beabsichtigt
mit der nächstjährigen Unioersalansstellung einen Inter-
nationalen Geographen-Kongreß zu verbinden, und es sind
zu diesem Zwecke bereits Einladungen an die verschiedenen
geographischen Gesellschaften Frankreichs und des Auslandes
ergangen. Als besonders erwünscht bezeichnet man eine
Bearbeitung der Entwickelungsgeschichte der geographischen
Wissenschaft in den letzten hundert Jahren (seit dem Revo-
lutionsjahre 1789!). ______
Büch ers ch a n.
— Dr. Wilh. Götz, die Verkehrswege im Dienste
des Welthandels. Stuttgart 1888. Ferdinand
Enke. — Verfasser bezeichnet sein umfangreiches Werk als
„eine historisch - geographische Untersuchung", und bei der
Lektüre desselben erkennt man, daß der Torr dabei auf das
Wort „historisch" zu legen ist. Auf die Naturverhältnisse
der in Frage kommenden Erdräume wird zwar allenthalben
Bezug genommen, den leitenden Gesichtspunkt giebt aber die
fortschreitende Verkürzung der Entfernungen durch den fort-
schreitenden Menschengeist ab, und die ganze Anordnung des
Stoffes ist in Uebereinstimmung damit eine streng chrono-
logische. Vom Jahre 3000 v. Chr. werden wir an der
Hand eines reichen und guten Qnellenmaterials bis zum
Jahre 1887 herabgeführt, und wenn wir an diesem Ziele
angekommen sind, so werden wir gestehen müssen, daß wir sehr
viel aus dem Buche gelernt haben, und daß die Arbeit eine
hochverdienstliche ist. Am stärksten und gründlichsten zeigt
sich der Verfasser in der Behandlung der älteren Perioden,
am schwächsten und oberflächlichsten in der Behandlung der
neuen. — Für vcrnngliickt halten wir die Einleitung und
den darin gemachten Versuch, den Begriff und die Noth-
wendigkeit einer „geographischen Entfernungswissenschaft" zu
begründen, sowie dieser Wissenschaft ihre Stelle im Lehr-
gebäude der geographischen Wissenschaft anzuweisen. Glück-
licherweise ist der Zusammenhang zwischen dieser Einleitung
und dem eigentlichen Werke aber seht allzu enger. Außer-
ordentlich interessant und instruktiv — auch geographisch —
sind die beigegebenen Jsohemeren-Kärtchen, und dieselben
legen auch zugleich Zeugniß ab von denr gewaltigen Fleiße,
den der Verfasser bei seiner Untersuchung aufgewendet hat.
— I. Haun, die Vertheilung des Luftdruckes
über Mittel- und Süd-Europa. Wien 1887.
Eduard Hölzel. — Die Penck'schen „Geographischen Ab-
handlungen" bringen in dem zweiten Hefte ihres zweiten
Bandes eine hochbedeutsame und für den betreffenden Erd-
raum grundlegende Arbeit ans der Feder des Altmeisters
der deutschen Meteorologen. In streng kritischer Weise zeigt
uns dieselbe, wie richtige und zuverlässige Isobarenkarten
herzustellen sind, um uns dann die Resultate der Prüfung
selbst vorzuführen, und so viel als möglich auch zu den Ur-
sachen der Erscheinungen vorzudringen. Außerordentlich
interessant sind in letzterer Beziehung namentlich die Aus-
führungen des zweiten Kapitels. Allen denen, die sich ein-
gehender mit den Vorgängen im Luftkreise beschäftigen, bietet
die Abhandlung eine unentbehrliche Ergänzung zu der be-
rühmten „Klimatologie" desselben Verfassers.
— J. Duclout, Mapa de la Republica Argen-
tina. Buenos-Ayres 1888. Ernst Nolte. — Eine
recht brauchbare, saubere Karte der Argentinischen Republik,
die der deutschen Verlagsfirma in Buenos-Ayres ebenso zur
Ehre gereicht, wie dem französischen Bearbeiter, und die bei
dem hohen Aufschwünge, den der betreffende südamerikanische
Staat neuerdings genommen hat, doppelt willkommen ge-
heißen werden muß. Der Maßstab (1: 4 000 000) er-
möglichte neben einer großen Fülle von Namen eine deut-
liche Zeichnung und eine gut lesbare Schrift, und außer den
fertigen und geplanten Eisenbahnen findet man namentlich
auch die mit Ackerbaukolonien besetzten Distrikte besonders
markirt.
Inhalt: Wanderungen durch das außertropische Südamerika. XII. (Mit vier Abbildungen.) — Dr. H. Sch unke:
Die Färöer. II. (Fortsetzung.) (Mit drei Abbildungen.). — Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstcn-
völkcr. V. — Kürzere Mittheilungen: Die Kultur der Malediven-Insulaner. — Die Moa-Frage. — Aus allen Erdtheilen:
Europa. — Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Australien und Polynesien. — Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der
Redaktion am 20. Juli 1888.)
Hierzu eine Beilage von ili o b e r t O p P e n h e i m in Berlin.
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
ItlU besonderer Hrruebsichtigung der Ethnologie, der Ilulturberhnlinisse
und des MeltHandels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern her ans gegeben van
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bande ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die antarktischen Regionen.
Von Arthur Silva White, Sekretär der Königlich Schottischen Geographischen Gesellschaft.
(Mit einer Karte.)
Innerhalb des Südpolarkreises giebt es einen Raum
von nahezu 8 000 000 englischen Quadratmeilen, wo alle
Naturkräfte sich vereinigt haben, um eine Schranke auf-
zurichten, die nur an wenigen vereinzelten Punkten von
den kühnen Seefahrern der Neuzeit durchbrochen worden
ist. Die Thatsache, daß in diesem Raume — oder genauer
gesagt, innerhalb des 70. südl. Breitenkreises — eine große,
vergletscherte Landmasse existirt, ist aber hinreichend bewiesen,
und diese Landmasse allein dürfte nach Dr. John Murray
eine Ausdehnung von nahezu 3 500 000 Quadratmeilen
haben.
In Ermangelung genügender Angaben können ihre
Grenzen und ihre Ausdehnung allerdings nur annähernd
festgestellt werden, während ein Theil der schon gelieferten
Angaben noch auf Bestätigung wartet. Daß eine große
kontinentale Fläche den Südpol umgiebt, kann aber unter
keinen Umständen bestritten werden; und es erübrigt nur ihre
Lage genau festzustellen sowie alle ihre Theile zu erforschen,
soweit sie unseren modernen Mitteln zugänglich sind, und es
steht zu hoffen, daß dies bald ein Gegenstand edlen Wett-
eifers unter den Nationen werden wird.
Meine Absicht in dem gegenwärtigen Aussatze ist es,
die wahrscheinlichen Grenzen des antarktischen Kontinentes
festzustellen, und in knapper Form die Thatsachen vorzu-
führen, welche von den wenigen Seefahrern, die seine Grenzen
erforscht haben, gesammelt worden sind.
Globus L1V. Nr. 7.
Die alten spekulativen Geographen hegten den Glauben,
daß eine Landmasse am Südpol nothwendig sei, um das Gleich-
geivicht mit den bekannten Ländern am Nordpol herzustellen,
und daher zeigenbeinahe alle altenKarten eine „terraaustralis
iuooguita" von bedeutender Ausdehnung. Die Reisen von
Kerguelen und Cook — und ohne Zweifel auch der Geist eines
Zeitalters, das größere Genauigkeit forderte — führten zwar
zur Vernichtung dieser Theorie, aber als Biscoe nach Süden
segelte und am Südpolarkreise, südlich von Madagaskar,
Land entdeckte (Enderby-Land), wurden die alten Theorien
wieder lebendig. Fünf verschiedene Expeditionen machten
-nun den Versuch, die Eismassen, die den antarktischen Kon-
tinent umgeben, und die einen Schutz gegen jeden Angriff
gewähren, wie ihn die gesammten Flotten der Welt kaum
bieten könnten, zu durchbrechen.
Ein Holländer, namens Dirik Guerritz, soll der Erste
gewesen sein, der im Januar deö Jahres 1600 in diese
entfernten südlichen Regionen eingedrungen ist. Sein
Schiff, das einer von Simon de Cordes geführten Flotteil-
abtheilung angehörte, wurde von einem heftigen Sturme
bis zum 64" südl. Br., südlich von der Magellans-Straße,
getrieben. Mehrere Kapitäne von Schiffen, die mit
Walfischsang beschäftigt waren (Weddell 1822 bis 1824,
Biscoe 1830 bis 1832, Balleny 1839 rc.), haben die
Gegend seit dieser Zeit flüchtig besucht, aber die einzigen
j wirklichen Expeditionen dahin sind die folgenden gewesen:
13
98
Arthur Silva White: Die antarktischen Regionen.
Cook 1772 bis 1775, Vellinghausen 1819 bis 1821,
D'Urville 1837 bis 1840, Wittes 1838 bis 1842 und Roß
1839 bis 1843. Auch der „Challenger", int Jahre 1874,
kreuzte den Südpolarkreis in der Absicht, Beobachtungen
zu machen über die Tiefe, die Temperatur und die spezifische
Schwere der See in der Nachbarschaft des Eifes, aber sein Auf-
enthalt war nur ein kurzer. Der „Challenger" ist übrigens
das einzige Dampfschiff, das sich innerhalb des Südpolarkreises
bewegt hat, und zwar besaß er keinerlei Schutzvorrichtungen
gegenüber dem Eise. Einzig die Schiffe unter der Leitung von
Roß waren speziell für die südliche Forschung ausgerüstet,
und diese Expedition hat auch bei weitem die bedeutendsten
Erfolge erzielt. Unsere Kenntniß der physikalischen und geo-
graphischen Verhältnisse der antarktischen Regionen stammt
überhaupt beinahe ausschließlich von der britischen Expedition
unter Roß, der französischen unter d'Urville und der ameri-
kanischen unter Wilkes. Diese drei Expeditionen durch-
forschten die antarktischen Regionen ungefähr zu der-
selben Zeit und mehrfach zugleich auch an derselben
Setlle, und daher entstand ein gewisser nationaler Wetteifer
zwischen den verschiedenen Befehlshabern, der leider bei den
Amerikanern und Franzosen in einem ärgerlichen Disput,
die Priorität der Entdeckung des östlichen Theiles von
„Wittes-Land" betreffend, ausartete.
Roß brachte mit seinen beiden Schiffen, „Erebus" und
„Terror" drei Jahre, hauptsächlich in den antarktischen
Regionen, zu, um wichtige physikalische Fragen — unter
anderen die des terrestrischen Magnetismus — zu unter-
suchen. Er errichtete vorübergehend an verschiedenen Stellen
inagnctische Observatorien, van denen ans gleichzeitige
Beobachtungen gemacht wurden, während er sich selber am
Pole befand. Sein Hanptstreben war, den magnetischen
Südpol zu erreichen, aber es wird so oft im Lause dieses
Artikels Gelegenheit geben, auf sein Werk zurückzukommen,
daß es jetzt uunöthig ist, näher darauf einzugehen.
Die amerikanische Expedition unter Wittes bestand aus
den beiden Schaluppen „Vincennes" und „Peacock",der Brigg
„Porpoise", den beiden Schonern „Sea-gnll" und „Flying-
Fish" und dem Proviantschiff „Relief", und ihr Zweck war,
den höchsten südlichen Breitengrad zu erreichen. Ob diese
Expedition Wittes-Land eher entdeckt hat, als die französische
oder nicht, oder ob dieser Theil des antarktischen Kontinents
schon früher von dem englischen Kapitän Balleny entdeckt
worden war, wollen wir dahingestellt sein lassen. Wittes
segelte 1500 engl. Meilen an der Küste entlang und fand
überall, wo er sich ihr nähern konnte, eine gleichförmige,
senkrechte Eismauer.
Die französische Expedition unter dttlrville bestand aus
den Schiffen „Astrolabe" und „Zeltze" und war beauftragt,
unter anderen größeren wissenschaftlichen Zwecken, einen
einzigen Versuch zu machen, den höchsten Breitengrad zu
erreichen, indem sie die Route Weddell's verfolgte. Ihre Be-
mühungen blieben gänzlich erfolglos, denn sie konnte nicht
weiter vordringen als bis zum 65. Breitengrade, und überall
wo man gehofft hatte, ein offenes Meer zu finden, stieß
man auf unüberwindliche Eismasscn. An einer anderen
Stelle aber, wie schon erwähnt, entdeckten und „annektirten"
die französischen Seefahrer Adtzlie-Laud — womit sie sich
einigermaßen trösten konnten.
Seit der Rückkehr dieser Expeditionen find keine weitere
Forschungen in den antarktischen Regionen angestellt worden.
Bor einigen Jahren, bei Gelegenheit der britischen Natur-
forscherversammlung in Aberdeen, wurde eine Kommission
gebildet, um eine weitere Expedition zu Stande zu bringen,
ohne daß dadurch aber irgend welche Fortschritte in der
fraglichen Richtung gemacht worden wären. Ernster schienen
sich vor kurzem die Australier der Sache annehmen zu wollen.
Die Regierung von Victoria erbot sich 5000 Pfd. St. bei-
zusteuern, um zwei Schiffe auszurüsten, welche die antark-
tischen Länder südlich von der Gegend, wo die Untersuchungen
von Roß aufhörten, durchforschen sollten — vorausgesetzt, daß
die Regierung des Mutterlandes eine gleiche Summe zu
diesem Zwecke spenden würde. Sir Allen Uoung hatte
sich bereit erklärt, den Befehl der Expedition zu übernehmen
und außerdem auch noch aus seinen eigenen Mitteln
2000 L. zur Deckung der Kosten beizutragen. Nachdem
aber der Schatzkanzler die Angelegenheit „in Erwägung ge-
zogen" hatte, lehnte die Centralregierung den Vorschlag ab.
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir in kurzem die
hauptsächlichen physikalischen und geographischen Verhältnisse
klarzulegen suchen, die im äußersten Süden bestehen. Die
ganze ungeheure Fläche von vier und einer halben Million
Quadratmeilen, die von dem 70. Grad südl. Br. umschlossen
wird, bildet eine Welt von Eis, die bis jetzt nur von den drei
erwähnten Expeditionen betreten worden ist. Die Führer dieser
drei Unternehmungen — die Kapitäne Cook, Weddell und Sir-
James Clark Roß — waren sämmtlich Engländer. Unter
diesen drei kühnen Reisenden hat Kapitän Roß den höchsten
südlichen Breitengrad — nämlich 781/4° — erreicht, so daß
er also nur 700 Seemeilen von dem geographischen Süd-
poleentfernt blieb, während er Otago, auf Neuseeland, 2000
Seemeilen hinter sich gelassen hatte. Er entdeckte dabei
eine hohe vulkanische Landmasse, die sich durch acht Breiten-
grade ausdehnte, und die er Victoria-Land nannte — das
südlichste bekannte Land der Erde. Seine durchschnittliche
Erhebung beträgt 8000 bis 10000 Fuß, und seinen höchsten
Gipfel, einen thätigen Vulkan, den Mt. Erebus, schätzt
Roß auf 12 367 Fuß über dem Meeresspiegel. Die
weitere Fahrt südwärts verhinderte eine senkrechte Eis-
mauer, die 200 bis 250 Fuß hoch war, und an der
man in östlicher Richtung entlang segelte, ohne auf
einer Strecke von 450 Meilen eine Oesfnuug zu finden.
Weddell erreichte im Südosten des Kap Horn 74° 15'
südl. Br. und kehrte in einer verhältnißmüßig offenen See,
die er auf seiner Karte als „schiffbar" bezeichnet, wieder-
um. An dieser Stelle hatte er kein Packeis, wohl aber
viele Walfische und zahllose Vögel in Sicht. Um zu zeigen,
wie wenig man sich auf die Schiffbarkeit dieser Meere ver-
lassen kann, mag aber bemerkt werden, daß Roß einige
Jahre später, dieselbe Route verfolgend, zehn Grad nörd-
licher als Weddell auf eine undurchdringliche Packeisuiasse
stieß.
Kapitän Cook erreichte im Jahre 1774 71° südl. Br.,
unter 1070 westl. L., entdeckte aber kein Land, obwohl es
einige hundert Meilen nach Osten hin unzweifelhaft solches
giebt.
Nachdem wir nun, wie gewisse ungeduldige Noman-
leser, das letzte Kapitel überblickt haben, so wollen wir jetzt
auf das Vorwort zurückkommen.
Von dem 70. Breitenkreise bis zu dem Südpolarkreise
giebt es eine Zone, in welcher an mehreren Punkten Land
entdeckt worden ist, wovon die Hauptmassen an dem Süd-
polarkreise zwischen dem 100. und 160. Grade östl. L.
liegen. Von dem Südpolarkreise bis zum 63. Breiten-
grade breitet sich eine Zone aus, in der die Temperatur
des Meeres sowie auch die der Lust selten — selbst im Hoch-
sommer — über den Gefrierpunkt des Seewassers steigt,
und welche daher das ganze Jahr hindurch mit Eis bedeckt
ist. Die Fläche des antarktischen Oceans wird durch den
Südpolarkreis begrenzt, von welchem bis zum 40° südl. Br.
ein tiefer Meeresgürtel die Erde umgiebt, der unter den
modernen Geographen als die Große Südsec bekannt ist.
, Ihre nördliche Grenze ist zugleich die südliche des Süd-
! Atlantischen, des Süd-Pacifischen und des Süd-Indischen
Arthur Silva White: Die antarktischen Regionen.
09
Oceans. Einzig durch die südliche Verlängerung Süd-
amerikas unterbrochen, bespült die Südsee die Ufer von
keinem anderen Kontinente. Sie hat eine durchschnittliche
Tiefe von zwei Meilen, und aus ihrer ungeheuren Fläche ragt
nur eine Anzahl zerstreuter Inseln empor, von denen die
hauptsächlichsten Neuseeland (Süd-Island) und Tasmanien
sind. Ausgenommen eine einzige Stelle — bei der Weddell
umkehrte —, wird dieser große Ocean gegen den ant-
arktischen Kontinent hin allmählich seichter, gerade wie um
die anderen Kontinente herum die Meerestiefen geringer
werden, je näher man ans Land kommt. Als die durch-
schnittliche Grenze des Treibeises kann man im allgemeinen
den Breitengrad von Kap Horn annehmen. Man kann
also sagen, daß die antarktischen Regionen in diesem Raume
eingeschlossen sind, oder besser: in dem Raume, der von dem
00" südl. Br. begrenzt wird, welche Linie gleichbedeutend
ist mit der Jahres-Jsotherm von 32" Fahrenheit (0° Celsius).
Mit Ausnahme der Inseln sind sämmtliche antarktische
Länder von Eis umlagert. Wo die Gestade niedrig sind,
erhebt sich eine senkrechte Eisklippc durchschnittlich l 75 Fuß
über dem Meeresspiegel, welche ein für den Forscher un-
überwindliches Hinderniß bildet. Hier entstehen jene
mächtigen Eisinseln und Eisberge, die für das antarktische
Meer so charakteristisch sind. Die Tiefe des Wassers be-
trug an einer Stelle, die eine Meile von der Eismauer ent-
fernt war, und an der Lothnngen vorgenommen wurden, nur
260 Faden, an einer andern dagegen ungefähr 400 Faden.
Die Eismauer ist weiter durch Packeis beschützt, das aber
mindestens im Sommer von dem stürmischen Wetter dieser
Region fortwährend zerrissen und in nördlicher Richtung
13*
100
Arthur Silva White: Die antarktischen Regionen.
fortgetrieben wird. Diese Eismassen dehnen sich mitunter ans
mehrere Hundert Meilen aus. Roß hatte sich bei seiner ersten
Fahrt auf einer Strecke von 200, aus seiner zweiten Fahrt auf
einer Strecke von 250 Meilen durch ein solches Eisfeld durch-
zuarbeiten. Das Land übersteigt, wo man es über den Eiswall
hinweg sehen kann, selten eine Höhe von 2000 bis 3000 Fuß.
Die höheren Länder sind 1) das schon erwähnte Victoria-
Land, 2) die Länder im Süden von Kap Horn, zwischen
dem 55. und dem 75. Grade westl. L., welche von Belling-
hausen (1821), Biscoe (1832), und d'Urville (1838) ent-
deckt wurden. Die übrigen Länder, die man kennt, erheben
sich nirgends zu bedeutender Höhe. Die verschiedenen Land-
striche zwischen dem 65. und dem 70. Breitenkreise sind
vcrhältnißmäßig gut bekannt, aber Victoria-Land ist der
einzige Theil des Kontinentes jenseits des 70. Grades, von
dem wir wirklich zuverlässige Kunde besitzen.
Die Existenz der höher erhobenen Länder, die ans der
Karte verzeichnet sind, kann leichter bewiesen, und ihre Gren-
zen können genauer bezeichnet werden, als es bei den tiefer
gelegenen möglich ist. Wenn cs sich um die letzteren handelt,
werden wir sogar manchmal in Zweifel gelassen, ob die soge-
nannten Länder, die von Reisenden gesehen worden sein
sollen, wirkliches Land und nicht viel mehr Eis oder Wolken
gewesen sind, denn es giebt Fälle, wo das erblickte Land sich
inRebel aufgelöst hat, oder von der Stelle weggeschwommen
ist — vor den Augen der enttäuschten Entdecker. So z. B.
wurde, wie Sir Wyville Thomson berichtet, an Bord des
„Challenger" in lebhafter Weise über das Auftauchen eines
Landes diskutirt, als plötzlich ein Theil desselben ruhig
davon schwamm; und die östliche Spitze von Wilkes-Land,
die von der amerikanischen Expedition entdeckt und auf der
Karte eingetragen worden ist, wurde von Kapitän Roß
einfach übersegelt! Das Wort, daß der Schein trügt, ist
in der That in den antarktischen Regionen ganz besonders
wahr. Solche Täuschungen kommen aber meist nur bis zu
der Höhe vor, bis zu welcher in diesen Regionen der Dunst
steigen kann. Der obere Theil einer Wolke wird oft durch
eine scharfe, unregelmäßige Linie begrenzt, und die unteren
Theile werden von Dunst in den verschiedensten Stufen der
Kondensation ausgefüllt, so daß der Eindruck eines bergigen
Landstriches entsteht. Am täuschendsten sind diese Er-
scheinungen nahe bei dem Rande des Packeises, wo sich vor-
dem Blicke eine weite Fläche von Schnee und Eis aus-
breitet, und besonders daraus erklärt es sich, daß der eine
Reisende dort Land verzeichnet, wo der andere später eine
offene See vorfindet. Alan muß sich wundern, daß solche
Fehler nicht häufiger vorgekommen sind. In einer Welt
von Eis ist cs auch manchmal sehr schwierig, zu unter-
scheiden, ob ein ferner Punkt eine Bergspitze ans einer aus-
gedehnten Landmasse oder nur ein kleines cisnmgebenes
Eiland ist. Dazu erheben sich die höher gelegenen Inseln
unb Länder auch steil ans der See heraus und sind in ein
ewiges Gewand von Schnee und Eis gehüllt, indeß nur
einzelne steile Wände, wo der Schnee nicht liegen kann,
unb einzelne hervorstehende schwarze Felsen Zeugniß von
ihrer wirklichen Bildung geben.
Aber trotz allen diesen Hindernissen, welche einer ge-
nauen Kenntniß der antarktischen Regionen entgegen stehen,
kann an der Existenz einer großen vergletscherten Land-
masse daselbst nicht gezweifelt werden. Folgende festge-
stellte Thatsachen mögen den Beweis für diese Behauptung
liefern:
1. Das allmähliche Seichterwerden des Meeresbodens
gegen den Pol hin;
2. der blaue Schlamin um den Pol herum am Rande des
Eisfeldes, der die Zerstörungsprodukte kontinentaler Felsen
führt;
3. die Abwesenheit irgend welcher deutlich markirter,
lokaler antarktischer Gegenströmung;
4. der Charakter der antarktischen Eisberge, die zu
ihrer Entstehung einen Kern von festem Land von beinahe
kontinentaler Ausdehnung nöthig haben;
5. kontinentale Felsen, Blöcke und andere Zeugen von
der Beschaffenheit des Bodens, welche aus den Eisbergen
gefunden werden;
6. die stete Bewegung des Eises gegen Norden und
Osten rings um den Pol herum, als ob sie radienartig von
einem und demselben Centrum ausginge.
Das Zeugniß aller Forscher seit Cook's Reisen ist auch
durchweg mit dieser Annahme in Uebereinstimmung gewesen.
Die Eisnatur der betreffenden Meere ist der Abwesenheit
irgend welcher lebhaften Strömungen an der Oberfläche zu-
zuschreiben. In den arktischen Regionen macht der Golfstrom
seinen mildernden Einfluß überall bemerkbar, das Eis zer-
brechend und eine beständige Cirkulation verursachend. Es
ist nun wahr, daß wir nur sehr spärliche und unvollkommene
Kunde haben von den Meeresströmungen in den antarktischen
Gewässern. Eins ist aber im allgemeinen und ohne zu
theoretisiren sicher: eine ständige nördliche und östliche
Strömung, die eine Schnelligkeit von 20 bis 30 Meilen
pro Tag besitzt, bewegt sich von dem Pole aus in der
Richtung ans Neuseeland und Kap Horn. An der Küste
von Südamerika gabelt sich diese Strömung, und der stärkere
Arm geht nordwärts und bespült die Küsten von Chile und
Peru (indem er dabei die Temperatur dieser Länder er-
niedrigt), der schwächere dagegen wendet sich nach Osten
und Norden um das Kap Horn herum. Die Richtung, die
ein Eisberg nimmt, ist daher zuletzt immer die nach Nordosten
und die tägliche Schnelligkeit seiner Bewegung beträgt un-
gefähr 16 Meilen — außer in der Nachbarschaft des Kap
Horn, wo die Eisberge bis zum 400 südl. Br. eine etwas
nördlichere Bahn verfolgen, um erst dann in ihre östliche
Richtung zurückzukehren und gleichzeitig die Schnelligkeit
ihrer Bewegung zu vermindern. Sobald die Eisberge
durch einen Vorgang, der später beschrieben werden soll,
von dem Orte ihrer Entstehung losgelöst sind, bewegen sie
sich mit einer Schnelligkeit vorwärts, welche dreiviertel
Meile in der Stunde nicht überschreitet. Erst nach Westen
getrieben, und später nach Norden und Osten, trifft man sie
in der ersten Saison nach ihrer Abtrennung ungefähr 70 Mei-
len nördlich von der mehrfach erwähnten Barriere an.
Beinahe an der Stelle, wo das Eisfeld aufhört, findet man,
daß die Tiefsee-Ablagerungen aus einem sehr reinen Dia-
tomeen-Schlamm bestehen, aber sobald man sich dem antark-
tischen Kontinente nähert, mischen sich die Diatomeen mit
den Sedimenten von dem Kontinente, welche die Eisberge
fallen lassen, und zusammen bilden sie einen blauen Schlamm,
der bei näherer Untersuchung sämmtliche mineralischen
Theilchen und Felsfragmente zeigt, die man in der Nähe
des Landes zu finden pflegt; sie ähneln in vielen Bezie-
hungen den Ablagerungen, welche in gleichen Tiefen unweit
der atlantischen Küste von Britisch - Nordamerika gebildet
werden. Daher würden es die Tiefsee-Ablagerungen in
Verbindung mit den Tiefen ermöglichen, die Stellung und
Ausdehnung des antarktischen Kontinents mit ziemlicher
Genauigkeit aufnehmen zu lassen.
Die beständige Niedrigkeit des atmosphärischen Druckes
in den antarktischen Regionen (unter 29 Zoll) ist eine
merkwürdige Erscheinung in der Meteorologie. Sie scheint
am merklichsten zu sein zwischen dem 40. und 70. Breiten-
grade — selbst in den Sommermonaten — und verursacht die
heftigsten West- und Nordweststürme. Murray schützt die
gesammte jährliche Niederschlagsmenge ans 30 Zoll. Die
Winde wehen im Wirbel um den Südpol. Von der Zone,
Dr. H. Schunke:
Die Färöer.
101
in welcher die südöstlichen Passatwindc herrschen, bis zum Süd-
polarkreise, herrschen westliche Winde, mit mehr oder weniger
Starke und Dauer, durch alle Jahreszeiten hindurch. Unsere
Kenntnisse hinsichtlich der Winde innerhalb des Südpolar-
kreises sind äußerst dürftig, aber es ist wahrscheinlich, daß
in den Sommermonaten (im Januar, Februar und März —
der einzigen Jahreszeit, in der diese Region besucht worden
ist) die Winde nach Westen oder nach Osten wehen, ohne
große Beständigkeit und Regelmäßigkeit. Wetterextreme
folgen einander mit großer Schnelligkeit, und es giebt fast
beständige Niederschläge.
Die schönen Erscheinungen der Aurora Australis sind von
allen antarktischen Reisenden bemerkt worden, meist in der
Nähe oder innerhalb des 68. Breitengrades. Sie sind von den
gleichartigen Phänomenen in den arktischen Regionen darin
verschieden, daß die Länge der senkrechten Strahlen größer und
ihr Erscheinen und Verschwinden häufiger und plötzlicher ist
— gleich dem Blitze —, sowie auch darin, daß sie oft vollständig
farblos sind. Lieutenant Wilkes, der Zeuge eines besonders
schönen Südlichtes war, beschreibt es auf folgende Weise:
„Es übertraf alles, was ich früher gesehen hatte. Seine Ver-
wandlungen waren überraschend, es funkelte und blitzte vom
Zenith bis zum Horizont. Schöne Lichtstrahlen, die von
einem Punkte am Zenith herzukommen schienen, leuchteten
plötzlich am Himmel auf, gleich elektrischen Funken in dem
Vacnum. Einmal vereinigten sie sich zu einem fächer-
oder schirmähnlichen Körper, dann wieder schossen sie mit
Blitzesschnelle über den ganzen Himmel, sämmtliche Farben
des Regenbogens ans einmal, oder in rascher Abwechselung
zeigend. So wunderbar war das Phänomen, daß selbst
unsere Matrosen fortwährend in bewundernden Ausrufen
über seine Pracht ansprachen. Die beste Lage, cs zu be-
obachten, war die, sich ans dem Deck auszustrecken und cmpor-
zuschaucn." (Fortsetzung folgt.)
Die Färöer.
Von Dr. H. S ch u u k e.
III.
(M i t sieben Abbildungen.)
Der politische Mittelpunkt der Inselgruppe, die von
etwa 12 000 Menschen bewohnt wird I, ist Thorshavn,
die dem Thor geweihte Stadt, im Hintergründe einer ge-
räumigen Bucht an der Ostküstc von Stromöe gelegen.
Die Rhede ist breit
und tief und besitzt
einen guten Anker-
grund. Im Som-
mer kann die Lan-
dung leicht bewirkt
werden, im Winter
jedoch ist der Hafen
nicht immer eisfrei;
doch aber gilt Thors-
havn als der beste
Landungsplatz der
nördlichen Gruppe.
Die Stadt steigt von
einem schmalen Ufer-
saume ziemlich steil
den Abhang auf, von
dessen Höhen sie
überragt wird. Die
Straßen sind eng
und winkelig und
nur mangelhaft ge- Haus dev
Pflastert; die den stei-
lenAbhang hinaufführenden haben Treppen, über die bei Niegen-
wetter aller Unrath von oben herabgcspült wird. Die Häuser
stehen regellos und zerstreut neben einander; auf eine alte Brct-
0 Nach der letzten Zählung am 1. Februar 1880: 11 220
Einwohner; davon kommen ans Oesteröe 2712, aus Stromöe
1153 und auf Suderöe 1974 Einwohner.
terhütte folgt ein neues Steinhaus. Es fehlt aber nicht an neu-
modischen Häusern, die von umzäunten Gärten umgeben sind,
in welchen neben allerhand Zierpflanzen Ebereschen, Ahorne,
Vogelbeerbäume, Weiden und kleineres Gesträuch zur Noth ge-
deihen. Eine auffäl-
lige Eigenthümlich-
keit der Stadt ist es,
die flachen Dächer der
Häuser mit Rasen
zu bedecken, so daß
sie in ihrem sommer-
lichen Schmucke that-
sächlich hängende
Gärten darstellen;
man bringt alsdann
Schafe darauf, bin-
det dieselben am
Schornsteine an und
läßt sie das üppige
Grün abweiden. Die
älteren Häuser sind
alle nach einem Plane
erbaut und typisch
für den Hänserbau
auf den Färöer. Sie
Statthalters. bestehen aus einem
Erdgeschoß, welches
als Küche und Aufbewahrungsraum dient und nur durch den
Schornstein oder den Eingang Licht erhält, und ans einem
Obergeschoß, das die durch Glasfenster erhellten Wohnräume
enthält. Der Unterbau besteht meist ans Steinblöckcn, wäh-
rend der Oberbau durchweg aus bearbeitetem Holze hergestellt
wird. Gewöhnlich sind die Häuser Doppelhäuser und durch
eine Bretterwand von einander geschieden. Das Acußcre der
Dr. H. S chunke: Die Färöer
103
Wände sowie die Giebel werden häufig mit Erzeugnissen
oder Sinnbildern der Fischerei geschmückt. Im Inneren
freilich belästigen den Frem-
den oft der häßlichste Rauch-
und Torfgernch und die ab-
scheulichen Ausdünstungen
des Fischereigcwerbes.
Thorshavn ist der Sitz
der Regierung (des Amt-
mannes), der Steuer- und
Gerichtsbehörden und des
obersten Geistlichen (des re-
formirten Bischofs). Die
Amtswohnungen dieser Be-
hörden, die große und schöne
Kirche und die neben der-
selben stehende Lateinschule,
sind die stattlichsten Gebäude
des Orts, denen sich nur
noch die Wohnungen eini-
ger wohlhabender Kauf-
leute zugesellen. Selbst ein
Krankenhaus befindet sich in
der Stadt; es ist zwar unr-
ein einfaches aui Strande
gelegenes Holzhaus, wird
aber von einem tüchtigen
Arzte geleitet. Auf einem
Hügel am Westende der
Stadt steht das einzige
Denkmal derselben: eine
Erinnerungssäule an die
Aliwesenheit des Königs
Christian IX. im Jahre
1874. Auf der die Stadt
überragenden Anhöhe er-
hebt sich die Festung, die
freilich den Anforderungen,
die man heutzutage an ein
Festungswerk stellt, nicht im
entferntesten entspricht. Sie beherbergt 10 bis 20 färingisch-
dünische Polizeisoldaten, welche den ein- und auslanfenden
Schiffen Signale
geben, die meteoro-
logischen Beobach-
tungen verzeichnen
nlid die Ordnung
in der Stadt auf-
recht erhalten. Sie
verdankt ihre Ent-
stehung einem uor-
wegischen Priester,
Magnus Heinesen,
der sich nach Ein-
führung derRefor-
lnation im letzten
Viertel des 16.
Jahrhunderts hier
niederließ, um dem
Evangelium zu die-
nen. Er verließ je-
doch, von der Sucht
nach Abenteuern
getrieben, seinen
Veruf und wurde Seefahrer, d. h. er machte mit seinem
schlecht ausgerüsteten und nur mit wenigen Genossen be-
Utaunten Schisse Jagd auf die Seeräuber, die damals die
Straße in Thorshavn
nordischen Gewässer unsicher machten; selbst mit türkischen
Piraten bestand er Kämpfe. Er befürchtete nun iliit Recht,
die Seeräuber würden ihn
in seinem Schlupfwinkel
aufsuchen und angreifen,
und deshalb befestigte er
die Stadt und bewehrte sie
mit eroberten Festungsge-
schützen. Bald drang der
Ruf des Jnselhelden bis an
den Hof des Kölligs Fried-
rich II. von Dänemark,
und dieser belohnte Mag-
nns dadurch für seine Hel-
denthaten, daß er ihm eine
dänische Fregatte anver-
traute — eine Gunst, die
dem wackeren Kämpfer zum
Nachtheile gereichte. Er be-
mühte sich jetzt um so eifri-
ger, die Gewässer von See-
räubern zu säubern und
bemächtigte sich dabei sehl-
geschickt eines englischen
Schiffes, das eben mit sei-
nem auf den Färöer ge-
machten Nanbe entfliehen
wollte. England forderte
Genugthuung und Scha-
denersatz, behauptete, die
Waaren kämen von den
Schetlaud - Inseln, und
klagte den Feind der Seeräu-
ber selbst des Seeraubes an.
Die eifersüchtigen Lands-
leute — welchem Glückli-
chen fehlte cs jemals all
Neidern — gaben falsches
Zeugniß, und so wurde
Heinesen der Seeräuberei
bezichtigt und 1589 hingerichtet. Zn spät wurde man ge-
wahr, daß man einen Uuschnldigen verurtheilt hatte, und
die Nachkommen
feiern das Anden-
ken an seine kühnen
Fahrten und seinen
Märtyrertod noch
in überlieferten Ge-
sängen.
Ein anderer
wichtiger Hafen-
platz ans Stromöe
ist das an der Süd-
westküste gelegene
Kirkeböe; das Meer
au der Südspitze
ist ein äußerst stür-
misches , und da
ist Kirkeböe ein
willkommener Zu-
fluchtsort und
Nothhafen. Boe-
der Bucht liegen
zwei kleine Inseln,
welche gänzlich mit Eidergänsen bedeckt sind. Der Ort besteht
nur aus wenigen Häfen und ist zwischen dem Meere und
grünenden Höhen malerisch gelegen. Hinter der kleinen refor-
Haus des Bischofs.
104
Dr. H. Schunke: Die Färöer
mieten Kirche befindet sich die Ruine einer alten gothischen
Basilika. Ein Bischof Hilarius wollte kurz vor der Einführung
der Reformation hier eine prächtige Kathedrale für die ganze
Inselgruppe schaffen, das Banwerk gelangte indeß nicht zur
Vollendung, weil es an Geldmitteln mangelte und weil
uuterdcß ein Wechsel in den kirchlichen Anschauungen ein-
getreten war. Es ist bewundernswerth, daß die Säulen,
Bögen und Mauern so lange und so erfolgreich den Un-
bilden des feuchten Klimas widerstanden haben, wenn man
namentlich bedenkt, daß der Mörtel für die Bausteine erst
Kirche und Lateinschule in Thorshavn.
mühsam ans den Kalkschalen von Muschelthieren hergestellt
werden mußte.
Weiterhin an der Westküste von Stromöe liegen die
Orte Qvivig, mit einer schmucken Holzkirche, und Westmann-
havn, dessen landschaftliche Eigenthümlichkeiten und dessen
Bedeutung für den Fischfang schon hervorgehoben wurde.
Auf Oesteröc ist der im Nordwesten der Insel gelegene
Ort Eide der bedeutendste (Siehe Abbildung 5 in Nr. 4).
Haus eines Großhändlers.
Die Holzhäuser liegen zusammengeschaart auf einer Vor-
stufe der Anhöhen, die nach Osten zu im Slattaretind, dem
höchsten Punkte der Insel gipfeln. In seiner Nähe befinden
sich berühmte Vogelberge. Die Abbildung zeigt die Be-
wohner des Ortes mit der Heuernte beschäftigt. Von den
übrigen nördlichen Inseln ist nur noch ein Ort, Klaksvig,
zu erwähnen. Er liegt im Südwesten von Bordöe im
Hintergründe des tiefeinschneidenden Bordöevigs, dessen
Sohle sich als flache Thalmulde nach dem nur wenige
hundert Schritte entfernten Fjorde des nördlichen Ufers
Dr. H. Schunke
105
hinzieht. Der Ort besitzt eine Kirche aus Holz mit einem
würdigen umzäumten Friedhofe, gilt als Handelsplatz für
alle Bedürfnisse des Vogel- und Fischfangs und zählt gegen
1000 Einwohner.— Der Verkehr der Orte unter einander
wird meist auf dem Seewege bewirkt, da regelrechte Wege
nirgends vorhanden sind. Nahe gelegene Orte, wie etwa solche
ans der Ost- und Westküste von Stromöe, kann man wohl auch
zu Fuß über das Gebirge erreichen, man muß aber, wie in
den Alpen, ein guter Bergsteiger sein. Da bei einem derartigen
Wege ein Gefährt irgend welcher Art ausgeschlossen ist, so
müssen die Lasten auf deni Rücken getragen werden. Die ein-
heimischen Lastträger befestigen dieselben durch lederne Riemen
an der Stirn und ziehen ihre Bürde nach Art der Stiere.
Beamte, Geistliche und Aerzte haben oft bitter unter
den Schwierigkeiten des Verkehrs zu leiden. Ein Pfarrer
hat zuweilen fünf bis sechs Kirchspiele zu versorgen, die oft
ans mehreren Inseln zerstreut liegen.
Um einzelnen Gemcindegliedern die Tröstungen der
Religion zu bringen, Neugeborene zu taufen u. dergl., muß
er nicht selten eine volle Tagereise unternehmen. Zuweilen
hindern auch Stürme die Rückkehr über den Fjord und er ist
gezwungen, tagelang mit den armen Fischern zu leben, ihr
elendes Lager zu theilen und am Ende die weite und theure
Fahrt noch aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Nicht
besser ergeht cs den Aerzten, deren vier aus der Inselgruppe
wirken: gar mancher ist von seinem Krankenbesuche nicht
wieder heimgekehrt. Und das sind hochgebildete Männer,
die ihre Studien in Kopenhagen und aus anderen Hoch-
schulen vollendet haben und in allen Stücken auf der Höhe
der Wissenschaft stehen!--------Thorshavn gegenüber liegt
Naalsöe — die Nadelinsel — die ihren Namen von ihrer
Gestalt erhalten hat. Sie ist ein schmaler Landstreifen, dessen
südliches, 400 m hohes Ende von einer durchgehenden Höhlung,
die das Meer ausgewaschen hat, durchbohrt ist. Am
schmalen Nordende liegt ans einer flachen Rasenebene, beide
Küsten berührend, der einzige Ort der Insel — Eide. Von
Thorshavn ans kann man den Flecken bei ruhigem Wetter
und günstigem Winde in zwei Stunden erreichen. Am
Südende der Insel befindet sich eine Kupfergrube, von der
sich der Besitzer großen Ertrag verspricht, über die aber,
Dorf Kirkebö.
ihrer geringen Ausbeute halber, manches Scherzwort unter
den Färingern umgeht.
Der Ort, der in neuerer Zeit immer mehr an Bedeu-
tung gewonnen hat und Thorshavn vielleicht in der Kürze
überflügeln wird, ist Trangisvaag, der Hanptort auf Süderöe.
Die Hafenbucht ist 3700 m lang und 580 m breit, ist gegen
alle Winde viel besser geschützt als z. B. Thorshavn, ist das
ganze Jahr hindurch völlig eisfrei und gewährt auch den
größesten Fahrzeugen einen bequemen Zugang und sicheren
Ankergrund. Die nahen Kohlenlager haben bereits eine starke
Einwanderung hervorgerufen, und so ist in neuester Zeit die Be-
völkerung erheblich gewachsen und der Hasen belebter geworden.
Der wirthschaftliche Zustand der ganzen Inselgruppe
würde überhaupt ein weit blühenderer sein, wenn zwei der
sehnlichsten Wünsche der Färinger in Erfüllung gehen
würden: Herabsetzung der hohen Ein- und Ausfuhrszölle
und bessere Verbindung mit dem Festlaude. Zwar bringt
das Mutterland alljährlich namhafte Opfer: die Staats-
einkünfte sind stets geringer als die Ausgaben (Einnahmen
63000 Kronen, Ausgabe 74 000 Kronen jährlich), aber
es könnte doch noch manches zum Wohlc der Färinger ge-
schehen. Dieselben leiden oft Mangel am allernöthigsten
und müssen einen großen Theil ihrer Bedürfnisse durch
eigene unvollkommene Erzeugnisse decken, die sie von aus-
wärts viel billiger und besser beziehen könnten, wenn die
Zölle nicht zu hoch wären. Die benachbarten Schetland-Jnselu
besitzen eine telegraphische Verbindung mit England, nach
Thorshavn aber kommt nur im Sommer alle acht Tage ein
dänisches Postschiff, das den amtlichen Verkehr vermittelt. Ist
aber das Wetter ungünstig, so kommt das Schiff gar nicht
an die Inseln heran, und diese sind alsdann 14 Tage lang und
noch länger von allem Verkehre mit der Außenwelt abge-
schnitten. Und sollte eine telegraphische Verbindung ohne Ein-
fluß auf den Fisch- und Fleischmarkt der Färöer bleiben?
So viel ist gewiß: die armen Einsiedler ans den
Färöer würden durch die Anlegung eines Telegraphen und
durch die Einrichtung einer öfteren Dampferverbindung
nichl blos der festländischen Kultur näher gerückt, sondern
es würde auch dadurch ohne Zweifel ihre ganze wirthschaft-
liche Lage wesentlich gehoben werden.
Globus UV. Nr. 7.
14
IOC»
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Bon H. S ch r o c t e r.
IV.
Zurück nach Canton via Ting-u-schan.
Eine schnelle Fahrt von kaum acht Stunden brachte
meinen „Pinguin", welcher diesmal anstatt am Ufer, wie auf
dem Hinwege, mitten durch die Stromschnellen und durch die
Fischerfelsen hindurchsteuerte, nach Wu-tschon-fu, woselbst ich
mich H/z Tag lang aufhielt. Ich erneuerte daselbst die
ans dem Hinwege gemachten Bekanntschaften cantonesischer
Kaufleute und sammelte Notizen über den Handel der Stadt.
Auch ließ ich mir eine den Fluß aufwärts gelegene Zündholz-
fabrik zeigen. Dieselbe ist ganz nach europäischem Muster
gebaut, die in Canton gemachten Maschinen sind indessen
sehr primitiver Natur und arbeiten schlecht. Die Zünd-
masse muß von Hongkong den weiten Weg herauf geholt
werden, und trotzdem die für die Fabrikation der Holz-
schachteln erforderlichen Fichtenwaldungen in nächster Nähe
der Fabrik stehen, ist dieselbe vorläufig nur ein Kuriosum
und soll nach Ansicht chinesischer Freunde, ein verlust-
bringendes Unternehmen sein.
Dem Handel der Stadt widme ich noch ein besonderes
Kapitel.
Am Vormittag des 9. Oktober verließ ich den Hafen
Wu-tschou-fu's, um am folgenden Tage bis zur Mündung
des Loting- Flusses zu gelangen, an welcher ein ärmliches
yiest — Loting-kong-hou — liegt. Loting-tschou, die Präfektur-
stadt, ist ähnlich wie Tai-woo ein großer Markt für Cassia
Lignca. Ehemals waren die von Loting kommenden Cassia-
bezüge wegen ihrer schlechten Qualität berüchtigt, seit aber
die Plantagen im Laufe eines Viertel-Jahrhunderts sorg-
fältiger haben kultivirt werden können, ist die von Loting
kommende Cassia nach Ansicht aller Sachverständigen all-
mählich ebenso gut geworden, wie die von Tai-woo und
Pung-fchien verschiffte, freilich machen die.Canton-Kaufleute
noch heute drei Kreuze bei Erwähnung des Namens „Loting",
und der Tradition gemäß, will man nur „Tai-woo"-Waare
kaufen, es ist aber eine unleugbare Thatsache, daß mehr als
der dritte Theil sämmtlicher von den Europäern unter dem
Namen „Tai-woo-Cassia" gekauften Waare in den Loting-
Distrikten gewachsen ist.
Es war meine Absicht, den seichten Loting-Fluß hinauf
bis zu dem durch feine Strohmatten bekannten Lintan und
von da über Land weiter nach dem Cassia-Platz zn reisen,
woselbst eine von den Herren S. & Co. gekaufte Quantität
Cassia Lignea von den Mandarinen mit Beschlag belegt
worden war. Ich war bereits im Begriff, ein passendes
Fahrzeug zn miethen, als meine Chinesen mir die Nachricht
brachten, die bewußte Waare sei inzwischen freigegeben
worden und habe bereits Loting-kong-hou aus dem Wege
nach Canton passirt. Da die ganze Cassia-Saison in
Loting bereits vorüber war und es somit nicht mehr in
meinem Interesse liegen konnte, durch das Aussuchen dieses
Ortes weitere neun Tage zu verlieren, entschloß ich mich,
die projektirte Fahrt ganz aufzugeben. Lintan allein hatte
für mich nicht genügendes Interesse, da die nach diesem
Platze benannten Matten auch in Canton von aus Lintan
bezogenen Coolies angefertigt werden, und da man unsere
Matten-Industrie viel besser in dem Hauptprodnktions-
distrikt Tung-kun, in Cantons (bezw. Hongkongs) Nachbar-
schaft, beobachten kann.
Am 12. Oktober besuchte ich Schao-king-fu, welches ich
vor einem Monat nur in dunkler Nacht kennen gelernt
hatte. Die von hohen Mauern umgebene Altstadt enthält
sehr viele Tempel und Namens, welche freilich im Laufe der
Jahre, seit der Vicekönig nach Canton übergesiedelt ist, all-
mählich verlassen und vergessen worden sind.
„Ihre Mauern sind zerfallen
Und der Wind streicht durch die Hallen"
muß man unwillkürlich beim Anblick all der vom Unkraut
überwucherten Tempel und Mandarinensitze, sowie der son-
stigen, an die Herrlichkeit der alten Residenzstadt erinnernden
Staatsgebäude rufen.
Die Hauptgeschäftsstraße enthält einige kleine Läden, in
denen europäische Artikel verkauft werden. Der ganze
Handel Schao-king-fu's ist aber ein rein lokaler, und außer
Grundnüssen und Grundnußöl, die für Fatschan bestimmt
sind, exportirt der Platz eigentlich nur Cerealien nach den
nahegelegenen Ortschaften. Der Verkehr mit dem Canton-
Delta ist absolut unbedeutend.
Auf meiner Rückkehr durch die Stromschnellen des
Schao-king-hap frappiren mich überall die Verheerungen,
welche die andauernde Hitze ans den seit reichlich zwei
Monaten von, keinem Tropfen Naß erquickt gewesenen Bergen
angerichtet hat. Die vor vier Wochen noch frischgrünen
Gräser und Gebüsche haben eine fahlgrane Farbe ange-
nommen. An vielen Stellen sind sie auch von bösen Buben
abgebrannt, so daß die schwarzen Brandstellen sich wie
gigantische Schatten ans der in der Sonne glühenden Berg-
landschaft abzeichnen. Ueberhaupt erscheinen die ihrer
frischen Farbe beraubten Ufer meinen freilich wohl noch von
den Bergen des Nung-schien-Flusses her verwöhnten Augen
lange nicht so schön, wie bei meinem ersten Besuch. Ich
verstehe jetzt, daß Canton-Touristen, welche ja im Sommer
— also während der die Natur verjüngenden Regenzeit —
niemals, und nur während der trockenen Wintermonate
gelegentlich jenseits unserer Sonntags -Piknik- Plätze ge-
langen, ein weniger enthusiastisches Urtheil über die Schön-
heit des Schao-king-hap abgeben, selbst wenn sie nicht im
europäischen Hochgebirge groß geworden sind.
Am 13. Oktober verlasse ich schon vor Sonnenaufgang
mein im Hafen von Houlik während der Nacht verankert
gewesenes Boot, um eine Tour nach den am linken Ufer
gelegenen Ting-u-schan-Bergen zu machen. Es bestehen
dieselben aus einem von Osten kommenden, unweit Houlik
und Kmong-li einige Zeit lang mit dem Fluß parallel lau-
fenden Höhenzuge, welcher, die Schao-king-fn-Ebene im Halb-
kreis nmschlicßeud, bei dem Sam-neong-hap vom Strome
durchschnitten wird. Der höchste Gipfel dieses Höhen-
zuges — der eigentliche „Ting-u-schan" — ist ein etwa
3000 Fuß hoher, ganz und gar kahler Berg, dessen steile Wände
wenig Interesse bieten; vor demselben steigt aber eine Art
Vorberg, etwa 1200 Fuß hoch, aus der Ebene auf, dessen eine,
dem Wasser zuliegende Seite mit dichtem Walde bewachsen ist.
In der Mitte des letzteren liegt das berühmte Kloster
Ting-u-schan, eins der schönsten unserer beiden Provinzen.
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
107
Es beherberge wa 200 buddhistische Mönche und Kloster-
diener, sowie 3O bis 40 junge Knaben, welche als Novizen
auf den heiligen Beruf vorbereitet, und dabei dem Volks-
munde nach etwas zärtlicher, als nöthig, behandelt werden.
Die in mehreren Reihen sich den Berg hinausziehenden
Tempelhöfe, das reich ausgestattete Heiligste und Allerheiligste
mit seinen vergoldeten Insassen — den Bildnissen Buddha's
und anderer Heiligen — die geräumigen Hallen sowohl, als
auch die Alkoven der Mönche, zeichnen sich durch Reinlichkeit,
reiche Ausstattung und sorgfältige Pflege aus, und beweisen
deutlich, daß das Kloster sich vieler wohlhabender Freunde
und liberaler Gönner erfreut. Dasselbe ist weit und breit
durch den Einfluß berühmt, den es auf den bekannten
Regendrachen ausübt, welcher über ihm in den felsigen Ab-
hängen des steil aufsteigenden Berges wohnt. Dieser Drache
ist die Personifikation der göttlichen Allmacht über das
Wohl und Wehe des Landes, sei es nun, daß sich die Gott-
heit in segenbringenden Regenschauern, in großer Dürre,
oder in das Land verheerenden Stürmen und Ucber-
schwcmmungen äußert.
Das befruchtende Naß sammelt sich an den Gipfeln der
Berge, wohin der Drache auf Befehl der überirdischen
Mächte die Regenwolken treibt. Unsichtbar dem mensch-
lichen Auge, wirkt er dort oben für das Glück oder Unglück
der Sterblichen, je nach deren Verdienst. Steigt er strafend
ins Thal hinab, dicht über den Erdboden fliegend, so hat
er Tod und Verderben im Gefolge. Am 11. April 1878
erschien er im Tornado, und zerschlug mit seinem ge-
schuppten Schweif allein in Cantón mehr als 1OOO Häuser,
um innerhalb weniger Minuten IO OOO Menschen in Schutt
und Trümmern zu begraben. Zweimal in diesem Jahrzehnt
verheerten ungeheure Ueberschwemmnngen die Felder, ganze
Dorsschaften wurden weggeschwemmt, und gar viele Menschen-
leben gingen auch dabei zu Grunde! Ist der Drache aber
dem Volke gnädig gesinnt, so gießt er im Frühling und
Sommer in regelmäßigen Schauern aus hohen Wolken das
segenbringende Naß in die Gefilde und tränkt die Erde, bis
die Früchte gereift sind. Der Rcgcndrache ist es, dessen
langgeschweiftes Abbild wir während der Frühlings-Pro-
zessionen durch die Straßen Cantons tragen sehen. Bei
diesem Anlaß bittet das Volk die himmlischen Mächte um
ein fruchtbares Jahr.
Gegen Ende des vergangenen Sommers zog sich der
Drache plötzlich in die Verstecke der Berge zurück, und daher
war die Regenzeit zu Ende, ehe die Reisfelder genügend be-
fruchtet waren, um die Reife der Aehren zu ermöglichen;
„und so verdarb der schöne Gottessegen" in der Gluth der
Sonne. Ich selbst hatte ja während meiner Reise vielfach
Gelegenheit, die Folgen des ausbleibenden Regens auf den
mit jedem Tage mehr ausdörrenden Feldern zu beobachten.
Die Sorge des Volkes um seine Reisfelder wuchs mit jeder
Stunde und bemächtigte sich allmählich auch der großen
Städte. Unser großer Vicekönig Tschang-tschin-tnng sah
sich sogar veranlaßt, gefolgt von den höchsten Beamten
der zwei Provinzen in Trauerkleidern barfuß durch die
Straßen Cantons nach den „Weißen Wolken" (einem in
Cantons unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Höhenzuge)
zu begeben, um an der den Cantón-Touristen so wohlbe-
kannten, von einem kleinen Kloster umgebenen „Quelle" den
Drachen um den fruchtbringenden stiegen zu bitten. Als
dieses nichts half, schickte er bald nach meiner Rückkehr itach
Cantón einen hohen Beamten mit großem Gefolge nach
dem Ting-u-schan-Kloster, welcher von dort heiliges Wasser
nach Cantón zu bringen beauftragt war. In des Klosters
Nachbarschaft, mitten in der Waldeinsamkeit, umgeben von
lianen-überwachsenen, majestätischen Banmriesen und üppig
wucherndem, undurchdringlichen Gebüsch, springt nämlich
auch hier ein kräftiger Quell aus dem Gestein des Berges,
der in das Thal hinabrauschend und in Millionen glitzernder
Fünkchen zerstiebend, einen 120 Fuß hohen Wasserfall
bildet. Ehe das silberhelle Wasser den Berg weiter hin-
unter fährt und allmählich zu einem polternden, das Stein-
geröll wild übersprudelnden Bache anschwillt, bildet es am
Fuße des Wasserfalles einen kleinen, überaus reizenden,
krystallklaren See. Hier, dicht unter dem herunterstürzenden
Wasser ist es, wo der Drache haust. Der von buddhisti-
schen und taoistischen Mönchen begleitete Mandarin — der
Abgesandte des Pontifex máximas der ganzen Nation,
nämlich des Kaisers, des Sohnes des Himmels — erfüllte
seinen merkwürdigen Auftrag so:
Er schlachtet einen schwarzen Hund, wirft den noch
warmen Körper sammt einem von Cantón niitgebrachten,
großen, lebendigen Fische dem Drachen zum Opfer in die
Fluthen, und kühlt dann in demselben eine eiserne, in einem
flackernden Feuer rothglühend erhitzte Pslugschaar. Während
die Fluth noch aufzischt und die Jünger der beiden Priester-
sekten ihre Liturgien recitiren, füllt der Beamte eine große
Porzellanurne mit dem heiligen Quell. Letztere zu empfangen,
gehen die hohen Mandarine Cantons dem Sendboten bei
seiner Rückkehr bis an den Landeplatz seines Bootes ent-
gegen und bringen sodann die kostbare Flüssigkeit in feier-
licher Prozession nach dem Tempel des Drachenkönigs.
Vor dem Abbilde desselben bleibt die gefüllte Vase eine
Nacht stehen, um am folgenden Tage auf den Gipfel der
„Weißen Wolken" gebracht zu werden. Dort wird ihr
Inhalt in kleine Krüge gefüllt und im Angesichte Cantons
symbolisch als Regensaat für die durstigen Fluren der
Hauptstadt von kleinen Kindern mittelst grünender Zweige
ausgesprengt.
Ich muß gestehen, ich wußte damals, als ich am Fuße
des Wasserfalles stehend, mich an den stolzen Kaskaden und
der üppigen Natur erfreute, noch wenig von der Heiligkeit
des vor mir liegenden Bergsces, oder besser des Wasserbeckens.
Ich ließ mich daher verleiten, in den lockenden, eiskalten
Flnthcn ein Bad zu nehmen und mich von dem perlenden
Gischt des grollenden Drachen überrauschen zu lassen. Die
Krallen des llngcthüms, an dessen Brust ich lag, spürte
ich nicht, wohl aber vernahm ich fernes Donnern ans dem
Felsenharnisch, an welchen ich mich zu klammern suchte;
ich würde deni Ungeheuer unfehlbar zum willkommenen
Opfer gefallen sein, wenn dasselbe nicht, dank einer himm-
lischen Weisung, an die Eingeweide des Berges gefesselt ge-
wesen wäre.
Den Rückweg nach meinem Boote nahm ich über
Logan-tscheong, eine kleine Ortschaft, bei welcher der auf
dem Ting-u-schan entspringende Bach mündet. Den Canton-
oder Hongkong-Tonristen, welche jene Gegenden einmal be-
suchen wollen, wird bei dieser Gelegenheit zu erfahren von
Interesse sein, daß man das Ting-u-schan-Kloster, wie auch
den Wasserfall, am schnellsten von obengenanntem Platze
ans erreicht, und daß man sich ja nicht von seinen Boot-
leuten verleiten lassen soll, in Hon-lik oder in Kwong-li aus-
zusteigen. Man findet in dem Kloster gastfreundliche Auf-
nahme, sowie auch gute Bettstellen mit Moskitonetzen.
Damen müssen allerdings nach dem Klostergesetze in einem
besonderen Zimmer schlafen. Der allmächtige Dollar wird
es indessen wohl ermöglichen, daß Eheherren auch in diesem
Gebäude ihre Gattinnen während der Nacht nicht allein
zu lassen brauchen. Weiter möchte ich empfehlen, ja
nicht zu versäumen, die nahegelegenen Marmorfelsen — die
„Sieben Sternberge", welche ich näher beschrieben habe —
zu besuchen. Zn dem Zwecke soll man bis an das west-
liche Ende von Schao-king-fu, an die Landestelle Nam-mnn-
hou fahren, von wo die Felsen nur 10 Li oder 3y2 eng-
14*
108 H. Seidel: Die Britisch-Afrikanische Gesellschaft und die Afrika-Forschung von 1788—1888.
lische Meilen entfernt liegen. Ich rathe besonders an,
entweder den Hin- oder den Rückweg durch die Strom-
engen zu Fuß zu unternehmen; ein schöner Weg führt am
linken Ufer entlang das ganze „Hap" hindurch. Dampf-
pinassen sind in Canton stets zu haben, so daß man die
außerordentlich lohnende Tour ohne irgend welche Be-
schwerden in zwei oder drei Tagen machen kann, falls man
nicht vorziehen sollte, eine längere Rast in dem Ting-u-
schan-Kloster zu halten, und in seinen herrlichen Waldungen
einige Tage zu verweilen.
Am 14. Oktober machte ich mich von Kwong-li aus
auf den Weg nach Canton, wechselte am Eingänge des
Fatschan-Kanals — bei Sahou — meine im Sande
stecken bleibende Arche mit einem pfeilschnellen „Pantoffel-
boot", und erreichte noch an demselben Abend den ange-
nehmen Käsig der Kanton-Bleichgesichter — die Nieder-
lassung der Fremden, Shameen — von dessen Rasen-
plätzen die ftanellhemdbckleidete Zugend nach Beendigung
des Tennis-Spiels soeben den geräumigen Hallen des Klubs
zueilte.
Die Britisch-Afrikanische Gesellschaft und die Afrika-
Forschung von 1788—1888.
Von H. Seidel.
Selten hat die Knlturwelt von den Tagen des Alter-
thums bis heute für die Durchführung einer einzigen Auf-
gabe mehr Zeit, Mittel und Kräfte geopfert, als für die
Erschließung des schwarzen Erdtheils von jeher aufgewandt
worden sind. Aegypter, Griechen und Römer haben sich
bereits an der Lösung afrikanischer Räthsel versucht; aber
nur unsichere und schwankende Nachrichten sind uns durch
sie übermittelt, da ihre Geographen aus lückenhaften, oft
ungenauen oder mißverstandenen Quellen schöpften und
durch zufällige Namensgleichheit grundverschiedener That-
sachen zu den abenteuerlichsten Schlüssen verleitet wurden.
Auch ist, Aegypten abgerechnet, die geographische Kenntniß
der Alten nirgends weiter als 400 bis 600 km um den
Nordrand Afrikas binnenwürts vorgedrungen.
Mit der Ausbreitung der arabischen Herrschaft wird
zwar die Grenze der „terra incognita“ erheblich verengert,
besonders an der afrikanischen Ostküste, tvelche die Araber
schon sehr frühe bis nach dem goldreichcn Sofala hinab
bereisten. Zum Unglücke aber verwirrten sie ihr Wissen
durch gehaltlose Hypothesen oder müßige Fabeln, so daß
ihre geographischen Schriften in Zeiten unvollkommener
Information über jene Räume durch das hyperkritische
Bemühen mancher Gelehrten mehr Schaden als Nutzen ge-
stiftet haben.
Christliche Forscher erschienen in Afrika im allgemeinen
nicht vor der Umsegelung des Erdtheils durch die Portu-
giesen; höchstens, daß ans den im Mittelalter beliebten
Pilgerfahrten zum heiligen Grabe, der eine oder der andere
seinen Weg über die Sinai-Halbinsel und durch Unter-
ägypten nahm. So besuchte in den Jahren 1336 bis 1341
und 1350 der deutsche Reisende Ludolf von Suchen das
Nildelta und Kairo und erstattete über seine Erlebnisse in
einer knapp gehaltenen Schilderung Bericht. Nach der
Eröffnung des indischen Seeweges tauchten aber Europäer
an verschiedenen Stellen des Kontinents ans. Am ehesten
lockte Abessynien — das Reich des mythischen Erzpriesters
Johannes — die abendländischen Gäste an sich, darnach das
alte Wunderland der Pyramiden, und in Westafrika Sene-
gambien und Timbuktu. An den Küsten Oberguineas
setzten sich fast sämmtliche Großhandelsmächte jener Tage
fest. Selbst vom Kongo klangen Nachrichten herüber, wo
italienische Kapuziner-Missionäre das Werk der Heiden-
bekehrung versuchten. Ueber die Gebirgsländer des Atlas,
über Tripolis und Barka, erfuhr man in Europa vor
Shaw, Hebenstreit, Höst und Desfontaines, aus dem An-
fange des vorigen Jahrhunderts, kaum eine irgend verläß-
liche Kunde. Gründlicher wurden die holländischen Be-
sitzungen am Kap durchforscht, weil hier ein ganzes Volk
mit seinem Troß unaufhaltsam von Weideplatz zu Weideplatz
gegen das Innere vordrängte, daher auch für diesen Theil
Afrikas zuerst die Anläufe einer geordneten Landesvermessung
vorliegen, an welcher mit 1777 der Engländer Patterson
fleißig arbeiten sah. Im übrigen ruhte auf dem schwarzen
Erdtheile geheimnißvolles Dunkel, und es bedurfte eines
großartigen Anstoßes, um die Aufmerksamkeit Europas ans
die weite „terra incognita“ jenseits des Mittelländischen
Meeres hinzulenken. Dieser Anstoß ward durch Kapitän
Cook's ruhmvolle Weltumsegelungen gegeben. Die Be-
geisterung für geographische Entdeckungen erfüllte von nun
an die weitesten Kreise, und wo irgend auffällige Lücken in
der Kenntniß unseres Planeten sich offenbarten, wurden
Schiffe und Forscher hingesandt, um den Schleier zu lüften
und das Antlitz der Erde in immer schärferen Linien zu
zeichnen.
Unbekannt war damals vor allem noch Afrika, dann
Asien und ein großer Theil Amerikas, wo man eben
aufs neue die Suche nach der sagenhaften Anian-Straße
aufgenommen hatte. Während aber im Osten und Westen
der Umfang des Wissens sich stetig erweiterte, boten die
Karten Afrikas im Inneren beharrlich eine leere Fläche dar,
auf welcher „der Geograph, gestützt aus die Autorität des
Leo Africanus und des nubischen Schriftstellers Edrisi, mit
zögernder Hand einige Namen von unerforschten Flüssen
und ungewissen Völkern eintrug" (Sir Joseph Banks).
Um das afrikanische Dunkel endlich zu erhellen, that sich
daher in England vor jetzt 100 Jahren eine Zahl bedeuten-
der Männer zusammen, mit der Absicht, eine Gesellschaft
zur systematischen Erforschung Afrikas ins Leben zu rufen.
An der Spitze der Vereinigung stand ein Begleiter von
Cook's erster Reise — der Botaniker Sir Joseph Banks,
unter dessen Leitung am 9. Juni 1788 I die Britische
0 Zum Gedächtniß dieses Tages brachten Petermann's
Mittheilungen im diesjährigen Junihefte eine längere Abhand-
lung , betitelt: Ein Jahrhundert der Afrikaforschung. Zum
hundertjährigen Gedenktage der Gründung der Africau-Associa-
tion. Bon Prof. Alex. Supan. Mit 10 Karten, die Fortschritte
der Asrikaforschung voll 1788 bis 1888 zeigend, einer größeren
Uebersichtskarte zur Unterscheidung der bekannten, erkundeten
oder ganz unbekannten Gebiete rc. rc.
H. Seidel: Die Britisch-Afrikanische Gesellschaft und die Afrika-Forschung von 1788 — 1888. 109
„Association for promoting the Discovery of tlie
Interior Parts of Africa“ ihre Begründung erfuhr.
Hauptzweck der Gesellschaft war, wie ihr Name sagt,
die Erschließung Jnuerafrikas; doch sollten über den wissen-
schaftlichen Zielen keineswegs die praktischen vergessen wer-
den, was die „Association" im ersten Bande ihrer
„Proceedings" ausdrücklich bemerkt. „Von allen Vor-
theilen", heißt es dort, „welche eine bessere Kenntniß der
inneren Gegenden von Afrika gewähren würde, ist der
wichtigste die Ausbreitung des Handels und die
Förderung der britischen Industrie".
Ilm ihrem Unternehmen den Erfolg zu sichern, ging die
neue Gesellschaft von vornherein höchst vorsichtig und plan-
mäßig zu Werke. Namentlich waren es folgende Momente,
durch welche ihre Thätigkeit bahnbrechend und vorbildlich
für die Zukunft gewirkt hat:
Die Britisch-Afrikanische Gesellschaft faßte erstens ganz
bestimmte geographische Fragen ins Auge und suchte sodann
die Forschungsarbeit von aller persönlichen Willkür und
Regellosigkeit zu befreien, damit jeder Vergeudung von Zeit
und Geld gesteuert werde.
Zweitens bemühte sich die Gesellschaft angelegentlich
um die Wahl ihrer Reisenden und scheute sich nicht, für die
wissenschaftliche Ausbildung ihr geeignet erscheinender oder
sonst schon bewährter Personen die nöthigen Mittel aufzu-
wenden. So hat sie z. B. unseren Landsmann Ludwig
Burckhardt gefördert, der, obwohl ein Fremder wie Friedrich
Hornemann, mit diesem zu den frühesten Sendlingen der
„Association" gehört.
Drittens erkannte die Gesellschaft sehr bald, daß Durch-
querungen des Festlandes das beste Mittel seien, um schnell
über die Haupträthsel der afrikanischen Geographie ins
Klare zu kommen. — In diesem Sinne ist die Erforschung
des schwarzen Ertheiles fortan gehandhabt worden. Trotz
aller Mißerfolge hielt man das Endziel, eine Reise durch
Afrika von Ocean zu Ocean, in den betheiligten Kreisen
unverrückbar fest, und die Fortschritte der letzten Jahrzehnte
haben reichlich dafür belohnt.
Die Thätigkeit der Britisch-Afrikanischen Gesellsck'ast
wandte sich ans wissenschaftlichen, wie praktischen Interessen,
zunächst dem Niger-Probleme zu. Timbuktn, zu dessen Er-
reichung schon 1618 eine englische Handelskompaguie ge-
gründet worden war, übte noch immer „eine zauberhafte
Anziehungskraft aus", und die Frage nach der Richtung
des Nigerlanfes gehörte zu den brennendsten für die damalige
Erdkunde. Trotz älterer richtiger Angaben, die den Niger
in den Benin-Golf münden ließen, klammerten sich die
Geographen des vorigen Jahrhunderts an die Fabel, daß
dieser Strom in äquatorialer Richtung nach Osten fließe
und in einem Binnensee oder Sumpf endigen müsse. Von
1790 bis 1830 sehen wir jetzt in schneller Folge einzelne
Forscher oder größere Expeditionen nach den Negerreichen
des West-Sudan ausziehen. Die ersten Vorstöße unter
Ledyard, Lucas und Houghton schlugen fehl, bis Mungo
Park 1795 seine berühmte Reise durch ausgedehnte Strecken
unbekannten Landes zum Niger antrat, den „er auf der Hin-
reise bis Silla verfolgte und auf der Rückreise bei Bammako
verließ". Aber weder Park noch Hornemann, der 1798
von Norden her zum Niger durchbrechen wollte, konnten
völlige Aufklärung über die Nigerfrage geben, die trotz viel-
facher theoretischer Lösungsversuche bis 1830 ihre rüthsel-
hafte Natur bewahrte. Die endliche Schlichtung des Streites
knüpft sich an die englischen Forscher Elapperton und
Lander, von denen der erstere durch seine Reisen von 1822
bis 1824 und von 1825 bis 1827 den mohammedanischen
Eentral-Sudan erschloß, während der andere das Werk
vollendete, indem er 1830 den Niger stromabwärts befuhr
und dessen Ausfluß in den Beningolf bestätigte. Nehmen
wir noch hinzu, daß der Franzose Caillie in den Jahren
1827 und 1828 die erste glückliche Timbuktu-Reise aus-
führte, so ist das Niger-Problem bis 1830 in den Grund-
zügen gelöst worden. Ein wichtiger Abschnitt in der Eut-
deckungsgeschichtc Afrikas war damit beendet; neue Fragen
rückten in den Vordergrund — zunächst die Erforschung der
Nilquellen, wohin die „African-Association“ ihren letzten
Reisenden, Linand de Bellefonds, aussandte, der zur selben
Zeit, als Caillie in Timbuktu weilte, den weißen Nil befuhr.
Bald darauf, am 23. Juli 1831, löste sich die Britisch-
Afrikanische Gesellschaft als solche auf und ging in die
„Royal Geographical Society“ über, die ein Jahr zuvor
in London gegründet worden war.
Die 57 Jahre, vom Eingehen der „African-Society" bis
heute, lassen sich hinsichtlich der afrikanischen Forschungs-
arbeit in vier größere Perioden zerlegen.
Die erste Periode von 1830 bis 1850 ist die Zeit ge-
messener Fortschritte im Norden und Süden des Erdttheils
und wird bedingt durch die Eroberung Algiers seitens der
Franzosen, durch die wiederholten Vorstöße der Aegypter
gegen die Aequatorialzone und durch die Auffindung des
südlichsten der centralen Seeubecken, des Ngami, den der
unermüdliche Livingstone 1849 entdeckt. In Abessynien
arbeiten Russeger, Rüppel. Ferret, Galinier, Krapf und
Beke, und von 1837 bis 1848 überziehen die Brüder
D'Abbadie einen großen Theil des Landes mit ihrem trigono-
metrischen Netz. Langsam, aber stetig tritt die innere
Gestaltung Afrikas ans Licht, so daß Alex. v. Humboldt,
beim Vergleich der früheren Zustände des Wissens mit den
neueren seine lebhafte Freude äußert, „da, wo lange alles
geschlummert, wo man oft hyperkritisch sich bemüht, das
schon Erstrebte wiederum wegzuleugnen, da unter unseren
Augen Großes erwachsen und sich entwickeln zu sehen"
(In einem Briefe an K. Ritter über Zimmermann's Karte
der oberen Nilländer, aus 1843).
Die zweite Periode, von 1850 bis 1862, nnifaßt die
Lösung des Nil- und Zambcsi-Problems und bringt zugleich
unerwartete Aufschlüsse aus der Sahara und dem Sudan,
wo Heinrich Barth auf sechsjährigen Reisen (1850 bis
1855) die räumliche Kenntniß jener Gegenden fast um
das Zehnfache erweitert, während im Osten Erhardt,
Rebmann, Krapf, Burton, Speke und Grant das muth-
maßliche afrikanische Binnenmeer in einzelne Seen auf-
lösen, von denen der Ukerewe bereits 1862 als das Haupt-
qucllbecken des Nil erkannt wird. Im Verfolge der
Zambesi-Forschung kreuzt Livingstone 1856 als der erste
Europäer den dunklen Kontinent, betritt 1859 die Ufer des
Schirwa- und Nyassa-Sees und empfängt durch zuverlässige
Erkundigungen die Nachricht von einem bedeutenden Fluß-
systeme im Westen der innerafrikanischen Becken.
Die dritte Periode, von 1862 bis 1877, führt zur
Entdeckung des Kongo-Laufes, wodurch die Forschungen im
äquatorialen Ost- und Westafrika an einander geschlossen
werden. Den Glanzpunkt bildet Stanley's denkwürdige
Fahrt vom indischen zum atlantischen Gestade, der sich in
rascher Folge eine stattliche Zahl mehr oder minder glück-
licher Expeditionen englischer, deutscher, französischer, bel-
gischer, amerikanischer u. a. Reisenden auf demselben
Gebiete anreiht. Nebenher laufen im Norden die ausge-
dehnten Wanderungen unserer Landsleute v. Bcurmann,
Vogel, Rohlss, Nachtigal, Schweinfurth, Junker u. a.,
unterdeß im Süden Hübner, Manch, Merensky, Mohr und
Gustav Fritsch durch fleißige Uutersuchtlngen dem deutschen
Namen neue Ehren erringen.
Die vierte Periode, seit 1877, ist die Zeit des Ausbaues .
und der tropisch-afrikanischen Kolonisation, ausgezeichnet
110
Kürzere Mittheilungen.
durch eine allseitig mit Eifer betriebene und verfolgte Auf-
klärung der letzten noch schwebenden Fragen, sowie durch
das Streben der europäischen Staaten, auf dem jung-
fräulichen Boden Besitz zu erwerben. Kräftiger als se
zuvor betheiligt sich Deutschland an diesem Wettstreit.
Weite Räume werden unter den Schutz des Reiches gestellt;
seine Kriegsschiffe erscheinen in den afrikanischen Gewässern
und untersuchen zu Nutz und Frommen des deutschen
Handels Küsten, Häfen', Flusse, Strömungen, Wetter und
Wind. Unsern Forschern voran weht das Banner der
Heimath, und die „deutsche Afrikanische Gesellschaft" wirbt
Jahre hindurchx) in allen Ständen um Theilnahme an
dem von ihr vertretenen Werk.
Wir sehen davon ab, bei der lleberfülle des Stoffes
irgend eine der vorstehend charakterisirten Perioden genauer
zn beleuchten und widmen statt dessen zum Schluß den
„Aufgaben der Zukunft" noch einige Worte. Vor allem
müssen wir mit Professor Snpan der jüngst öfter geäußerten
Meinung entgegentreten, als seien die Zeiten der Ent-
deckungen in Afrika für abgeschlossen zu betrachten. Das
ist ein gefährlicher Irrthum, der die Afrikaforschung leicht
auf verkehrte Bahnen lenken kann und leider schon gelenkt
hat! Trotz aller Erfolge der Neuzeit warten in Afrika
immer noch bedeutende Aufgaben der Lösung. Am mindesten
Leider zersplitterte zu Anfang dieses Jahres die Auf-
lösung diesen Verein deutscher Freunde der Asrikasorschung
(Bergt. „Globus", Bd. 53, S. 32).
bekannt ist gegenwärtig noch die nördliche Wüste. Zwischen
dem 15. und 25. Grad nördlicher Breite durchlaufen nur vier
dünne Routenstränge die Sahara. Der mittlere Sudan
von Darfur bis Timbuktu ist nicht besser erschlossen, als
das ostafrikanische Seegebiet, trotzdem dort die Forscher seit
66, und hier erst seit 30 Jahren am Werke sind. In der
Nähe des Aegnators bleiben drei weitere Striche noch übrig —
das Mandingoland, hinter der Küste von Oberguinea, die
Liba-Region, so genannt nach jenem See, der „Jahrzehnte
hindurch hier sein Unwesen trieb", und die Galla-Somali-
Länder im Osten. Dorthin besonders ist die europäische
Forschung zu lenken, und der Reisende, der sich dies Feld
erwählt, darf sicher sein, daß ihm die Möglichkeit zu über-
raschenden Entdeckungen nicht benommen ist.
Zudem liegen die drei lctztbezeichneten Gebiete innerhalb
des Jnteressenkreises der Kolonialmächte. Wie sehr die
Entwickelung der deutschen Togo-Kolonie von der Exploration
des Hinterlandes abhängt, hat kürzlich Ernst Henrici schla-
gend bewiesen. In der Liba-Gegcnd berührt sich der Kongo-
staat mit unserm Kamernngebiet und den englischen Er-
werbungen am Benue, und die Somali-Halbinsel scheint
von Großbritannien und Italien zu künftigen Besiedelungen
ausersehen zu sein. Die große Entdeckungspcriode aber,
die vor 100 Jahren mit der Gründung der „African
Association“ ihren Anfang nahm, ist heute noch längst
nicht zum Abschluß gebracht, und erst dann, wenn das
rohe Gezimmer vollendet ist, kann mit dem inneren Ausbau
begonnen werden.
Kürzere Mi
Vulkan-Eruptionen in Japan.
Eine verheerende vulkanische Eruption, die kürzlich bei
„Makamats" (vielleicht Wakamatsn in der Provinz Jwashiro,
nordwestlich von Tokio) stattgefunden, und zahlreichen Men-
schen das Leben gekostet haben soll, veranlaßt uns, einen
kurzen Rückblick auf die bisher stattgehabten Vulkan-Eruptionen
Japans zn werfen. — Von dem japanischen Riescuvnlkane
Fusi-Yama, der sich 3800 na über den Meeresspiegel erhebt,
behaupten die japanischen Annalen, daß derselbe erst im
Jahre 286 u. Chr. entstanden sei, bezw. daß er seine Vulkan-
natur erst in diesem Jahre offenbart habe. Zn gleicher
Zeit soll sich auch durch eine instantané Landseukung der große
See Omi (Biwa) gebildet haben, und im Jahre 80 n. Chr.
soll demselben die Insel Tsikubu-sima entstiegen sein. Diesen
Berichten dürfte aber vielleicht ein gut Theil Legende an-
haften. Viel besser bezeugt und viel glaubwürdiger sind die
Aeußerungen vulkanischer Thätigkeit in der neueren Zeit.
Da haben wir vor allen Dingen an den großen Ausbruch
des Fusi-Yama im Jahre 1707 zu erinnern, der zwei Mo-
nate andauerte, und bei Gelegenheit dessen sich die Gestalt des
gewaltigen Berges durch Bildung eines neuen Ausbruchs-
Kraters sehr erheblich veränderte. Die ausgeworfene Asche
bedeckte die Felsen, Häuser und Tempel viele Meilen weit,
in Istddo, das 80 km vom Berge entfernt ist, wurde die
Sonne davon verfinstert, und man hörte das Getöse, das
mit der Eruption Hand in Hand ging, ganz deutlich. Die
Eruption wurde auch von starken Erderschütterungen begleitet,
die besonders entlang der Küste großen Schaden anrichteten.—
Eine andere schlimme Eruption des letztvergangenen Jahr-
. Hunderts war die des Affama-yama (nordnordwestlich vom
Fusi-Yama), der etwa 2500m hoch ist. Der Lavastrom,
t h e i l u n g e n.
welcher sich im Jahre 1783 aus dem Krater dieses Berges
ergoß, ist noch heute meilenweit zu verfolgen, und er sowie
der ihn begleitende Regen von Asche und von vulkanischen
Bomben zerstörten zahlreiche Dörfer und ausgedehnte
Waldungen, und vernichtete Tausende von Menschen-
leben. — Im Jahre 1792 hatte der Oseugatake (Uuzensan,
auf Kiu-siu, am Simabnra- Golfe) eine ähnlich furchtbare
Eruption, die 53 000 Menschen das Leben gekostet haben
soll. — Das gegenwärtige Jahrhundert war zwar keineswegs
frei von vulkanischen Ausbrüchen, dieselben waren aber
sämmtlich nicht besonders verheerend, und diejenige des
Jahres 1888 scheint bisher unter allen die heftigste gewesen
zu sein. Namhaft zu machen sind hier: die Eruption des
Mi-take (auf Sakura-sima, im Kako-sima-Golf von Kiusiu,
1828) des Komaka-take (auf Jeso, 1852 und 1856); des
O-Yama (auf Nipon, 1853); des Tarumni (auf Jeso, 1867
und 1874); des Sirame-sau (auf Nipon, 1872) und des
Aso-take (auf Kiusiu, 1874).
Der Grenzstreit zwischen Britisch-Guyana' j
nnd Venezuela.
Einen wichtigen Beitrag zn der in der Ueberschrift er-
wähnten Frage giebt Herr P. M. Netscher in einem vor kurzem
erschienenen Werke über die Geschichte der Kolonie Guyanal).
Es handelt sich dabei bekanntlich darum, ob man Ama-
curu und Morucu als Grenze des englischen Guyanas zn
*) Geschiedenis van de Kolonien Essequebo, Deme-
j rary en Berbice van de vestiging der Nederlanders
aldaar op onzen tijd. Door P. M. Ketscher. Met twee
! Kaarten. ’s Gravenhage 1888. Marbinus Nyhoff.
Aus allen Erdtheilen.
111
betrachten hat, und diese Frage gewinnt eine höhere Bedeutung,
seitdem auf den: streitigen Gebiet Gold gefunden ist und
einige Engländer sich dort niedergelassen und den Schutz ihrer
Regierung nachgesucht haben. Letztere hat denselben auch
gewährt und durch eine Abtheilung Militär ein altes ver-
lassenes Fort, welches dort lag, wieder besetzen lassen. Die
englische Regierung giebt sich außerdem die größte Mühe, ihr
Besitzrecht womöglich durch Beweise zu unterstützen, und sie
hat zu diesem Zwecke u. a. auch in den alten niederländischen
Archiven — ob mit Erfolg ist ungewiß — durch einen nach
den Niederlanden geschickten Beamten nachsuchen lassen.
Ueber die Grenze hat von jeher Unsicherheit geherrscht.
Hartsinck (Beschrybnig van Guiane of de "Wilde kust
in Zuid America 1770) sagt, daß er nicht mit Sicherheit
angeben kann, ob der Barima, der sich in die Orinocomündung
ergießt, oder der einige Meilen östlicher gelegene Wainy die
Grenze zwischen dem damals spanischen (jetzt venezuelanischen)
und niederländischen (jetzt englischen) Besitz bildet, nimmt aber
ans der Karte, die er seinem Werke beigiebt, letzteres an.
Auf der Karte des Major von Bonchenröder (1798), wird
der Barima als Grenze angegeben, und Sir Robert Schombnrgk
nimmt (um 1840) den Amacnrn, ein westlich von der Barima
gelegenes kleines Flüßchen an; nach den spanischen Karten
soll dagegen der viel östlicher gelegene Morucu (Morocco)
oder gar der Pomeraon die Grenze bilden; manchmal wurde
letztere gar bis an den Essequebo hinausgeschoben, und Vene-
zuela scheint jetzt seine Ansprüche bis eben dahin auszudehnen.
Die englischen Ansprüche werden hauptsächlich dadurch zu
begründen versucht, daß schon im 17. Jahrhundert in der
Nähe der Mündung des Barima und Amacnrn ein hollän-
discher Posten bestanden und demnach das niederländische
(jetzt englische) Gebiet sich bis an den Orinoco erstreckt habe.
Gerade in Bezug auf den zuletzt erwähnten Punkt macht
Herr Netscher in einem besonderen Nachtrage interessante
Mittheilungen, deren Inhalt wir auszugsweise folgen lassen:
Im 17. und 18. Jahrhundert errichteten die Komman-
deurs aller niederländischen Kolonien in Guyana in den ab-
gelegensten Theilen ihrer Bezirke, um mit den Eingeborenen,
den freien Indianern, Handel zu treiben, kleine Posten, die,
manchmal mit einer gewissen Uebertreibung „Forts" genannt
wurden. Sie bestanden in der Regel ans einem „Posthonder"
oder „Nitlegger" und ein oder zwei europäischen Gehülfen, ge-
wöhnlich Soldaten, „Cyleggers" genannt, und ein paar In-
dianern oder Negersklaven. Das Holzgebäude war gegen
Angriffe durch einen Wall oder eine Pallisadirung geschützt,
und die Flagge der W. Jnd. Kompagnie wehte vor demselben.
Es scheint sicher zu sein, daß in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts, wie Hartsinck angiebt, ein von Essequebo
vorgeschobener Posten in der Nähe der Barima-Mündnngen
angelegt war, aber Netscher's Nachsuchnngen im Staatsarchiv
haben ihm die Sicherheit verschafft, daß dieser Posten schon
im Jahre 1683 oder 1684 nicht mehr bestand, und also ent-
weder von den Feinden genommen oder aufgegeben worden
war. Man findet nämlich in dem im Niederländischen
Staatsarchiv vollständig seit 1680 vorhandenen Briefwechsel
der Kommandeurs von Essequibo und Pomereon den Posten
am Barmia nicht erwähnt. In einem Berichte (vom
8. IX. 1691) über den Zustand der Kolonie Essequebo
werden zwei Außenposten (am Demerary und am Pomereon)
erwähnt, ohne daß ein Posten am Barima genannt wäre;
in einem späteren Berichte (14. VI. 1703), wird von der
Anlage neuer Posten berichtet, doch auch wird hier der Barima
nicht genannt. Uebrigens hatte die W. Jnd. Comp, bereits
1685 von dem Handel nach dem Orinoco Abstand genommen.
Als der Pomereon in der ersten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts verlassen wurde, ist wahrscheinlich der dortige Posten
nach der Moruca - Mmündnng verlegt worden. Derselbe
scheint eine gewisse Bedeutung besessen zu haben, denn
1797 wurde von ihm ein ernstlicher Angriff der spanischen
Truppen mit Glück abgeschlagen. Auf einer im Staats-
archiv befindlichen, vermuthlich ans der Mitte des 18. Jahr-
hunderts herrührenden Karte wird der Wainy als Grenze
angegeben, doch nirgendwo ist ein westlicher gelegener Posten
erwähnt. Es ist darum unerklärlich, das von Bonchenröder
1798 ans seiner Karte die Grenze bis an den Barima verschob,
um so mehr als er jene Gegend nicht ans eigener Anschauung
gekannt zu haben scheint, was sich auch daraus ergiebt, daß
er die Namen Amacnrn und Barima mit einander verwechselt.
Auf Grund aller dieser Thatsachen kommt Herr Netscher
zu dem Schluffe, daß sowohl die englische Behauptung: der
Barima oder Amacnrn sei die Grenze, als auch die Behaup-
tung der Spanier (resp. Venezuelas), ihr Gebiet erstrecke sich
bis zu dem Pomereon oder Essequebo, zurückzuweisen sind,
daß man vielmehr den Moruca als Grenze der beiden Ge-
biete an der Küste anzunehmen hat. Von hier ans wäre nach
Netscher's Ansicht die Grenzlinie nach dem Punkte im
Inneren zu ziehen, wo im ganzen 18. Jahrhundert ein Posten
am Cayouni bestand, dessen Lage allerdings nicht mit Be-
stimmtheit angegeben werden kann, da cs in einem Berichte
vom 14. VI. 1703 nur heißt, daß dieser Posten „oben in
der Savanne auf sechs Wochen Fahrt vom Fort Kijckoveral"
gelegen war; ob dies derselbe Punkt ist, den die Karte von
Schombnrgk angiebt, ist daher zweifelhaft; möglicher Weise
lag er jedoch früher höher am Flusse und ist später erst mit
Rücksicht auf feindliche Angriffe weiter stromabwärts verlegt
worden. Uebrigens ist die ganze Westgrenze von Essequebo
nie genau bestimmt gewesen und in den Archiven finden sich
verschiedene Klagen über Belästigung von Seiten der Spanier,
worauf der König von Spanien Abhülfe versprach, die jedoch
nie gebracht wurde. E. M.
Aus allen
Aste u.
— Der bekannte englische Reisende Alfred Everctt, der
19 Jahre in den Tropen zugebracht und sich besonders um
die thiergeographische Durchforschung Borneos und der
Philippinen hervorragende Verdienste erworben hat, ist aus
Gesundheitsrücksichten nach England zurückgekehrt. — Ebenso
befindet sich auch der Borneo-Reisende JohnWhitehead
nach achtmonatlichem Herumklimmen auf dem Kina Balu wieder
auf der Heimreise (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 159).
E r d t h e i l e n.
— Durch einen offiziellen „Report", den der englische
Bicekonsul W. I. Archer für das englische Parlament ver-
faßt hat, erfahren wir Näheres über die Reise dieses Herrn
in dem nördlichen Siam. Dieselbe erstreckte sich von
Zinnie am Meping aufwärts bis zur chinesischen Grenze,
nordostwürts bis zum Mekhong und westwärts bis über den
Meyum — zu einem guten Theile also über Gebiete, die
Europäer vorher nicht betreten haben. Besondere Aufmerk-
samkeit widmete der Reisende den Bevölkerungs- und Wirth-
112
Aus allen Erdtheilen.
schaftsverhältnissen, und tu dieser Hinsicht sind namentlich
seine Ausführungen über die Thai-Bevölkerung und über
die siamesischen Kolonien — die zum guten Theile Zwangs-
kolonien sind — interessant. Als den eigentlichen Bevölkerungs-
Hcerd der Thai sieht er das sogenannte „Thai Mai" an, von
wo aus sich die in viele Stännnc zersplitterte Rasse südwärts
ausbreitete. Ihr mischten sich andere Rassen ans Birmah,
China, Tonking re. bei, so jedoch, daß in jeder Niederlassung
jede Rasse ursprünglich ihr gesondertes Quartier hatte, um
sich erst int Laufe langer Zeiträume mit den anderen zu
amalgamiren. Am vorgeschrittensten ist die Amalgamation
in Bangkok, am wenigsten fortgeschritten in Zimna, in Mnang
Fang (das erst vor neun Jahren begründet wurde) rc. Da jede
Rasse außer ihrer Tracht, Sitte und Sprache auch ihren
Namen beibehält, und da jede Rasse die andere mit ihrem
besonderen Namen bezeichnet, so ist der ethnologische Wirrwarr
in Ober-Siam aller Orten ein ungeheuerer. — Zinnie;
ist ein wichtiger Handelsplatz, durch den die Straßen aus
Uünnan und den Shanstaaten nach Mulmein führen, und
den zahlreiche Maulthier- und Pony-Karawanen passiren, um
im Dezember Landesprodukte nach diesem Hafen zu befördern
und im Februar Baumwollenstoffe von dort zurückzubringen.
Die Karawanen zählen in der Regel 50 bis 100 Thiere.—
Elephanten werden nur bei der Ausbeutung der Wälder sowie
bei der Bestellung der Reisfelder verwendet.
Afrika.
— Nach einem Berichte, den Cnrt von Francois am
6. April nach Detttschland abgesandt hat, ist die von ihm ge-
leitete Expedition im Togo-Lande bisher in der glück-
lichsten Weise von statten gegangen. Ant 4. März wurde
die erste Hanptstation Salagb, am 22. März weiter Jendi
und am 5. April Gambaga erreicht. Der letztere Ort ist
ettva 300 km von der Küste entfernt und liegt bereits im
Gebiete der Fallata - Völker. Von da wollte Hauptmann
Francois am 7. April nach Waga-Dugn, das 300 km weiter
binnenwärts liegt (unter 11° 15' nördl. Br.), aufbrechen.
— Nach einem Briefe, den Barttelots Begleiter Jameson
am 15. April d. I. von Kasongo nach Zansibar gesandt hat,
scheint sich Tippoo Tip endlich dazu entschlossen zu haben,
die geforderte Verstärkung nach Aambuga zu senden, so daß
Major Barttelot mit 900 Mann den Spuren Stanley's folgen
kann. Die in Uambuga befindlichen Europäer sollen sich
sämmtlich guter Gesundheit erfreuen. — Casati, der Ge-
fährte Emin-Paschas, hat mittlerweile mitgetheilt, daß Stanley
auch im Dezember v. I. noch nicht an seinem Ziele angelangt war.
— In Zansibar sind am 31. Juli Nachrichten über
Emin-Pas ch a und Stanley eingelaufen. Danach ist es wahr-
scheinlich, daß der vielbernfene „weiße Pascha" am Gazcllen-
flusse identisch ist mit Eutin-Pascha. Von einem entscheidenden
Schlage des Mahdi bedroht, soll sich Emin Anfang April trotz
seiner schwierigen Lage dazu entschlossen haben, die Offensive
gegen denselben zu ergreifen und mit seinem kleinen Heere so
rasch als möglich ant linken Nilnfer über Lado vorzudringen.
Als die Boten aus dem Inneren aufbrachen (Anfang April),
erschien das Unternehmen noch wenig aussichtsreich, den
Nachrichten aus Suakim zufolge muß dasselbe aber trotzdem
von gutem Erfolge begleitet gewesen sein —, wie es scheint
namentlich dadurch, daß es dem deutschen Helden gelang,
Bundesgenossen unter den Eingeborenen zu gewinnen. — Von
Stanley waren im Mürz Gerüchte zu Emin-Pascha ge-
drungen, die einander widersprachen. Nach den einen soll
seine Expedition nach schweren Verlusten an Menschen und
Vorräthen in der Gegend zwischen Maboda und dem Albert-
Nyanza von feindlichen Stämmen aufgehalten worden sein;
und nach den anderen soll sie nach heftigen Kämpfen mit den
Eingeborenen des Matongora-Mino-Distriktes in unbekannter
Richtung weiter gezogen sein. — Die Könige von Unyoro
(Kabrega) und Uganda (Mbanga) befanden sich zu derZeit, als die
Boten Emins ihre Länder durchzogen, mit einander im Kriege.
— Ueber das traurige Schicksal der zehn Enro-
päer, die sich in den Händen des Mahdi befinden —
Lnpton-Beys, Slatin-Beys, Neufclds, Urwalders rc. — ent-
hält das letzte Heft der „Geographischen Mittheilungen"
(S. 219 ff.) einen ersten zuverlässigen Bericht, der im Mai d. I.
von Chartum nach Kairo gelangt ist. Danach sind die
Gefangenen täglich den ärgsten Demüthigungen und Miß-
handlungen durch die Mahdisten ausgesetzt. Mit gutem
Grunde finden die „Mittheilungen" diese Thatsachen tief be-
schämend für ganz Europa — namentlich aber für das stolze Eng-
land, das die Zustände im Sudan verschtildet hat, und das die
nach Befreiung Seufzenden ebenso thatenlos in den Händen
ihrer Peiniger läßt, wie es seiner Zeit Gordon untergehen ließ.
— Der schottische Missionär S. Arnot entfaltet feit
sieben Jahren in Centralafrika eine ähnliche Wirksamkeit
lvie seiner Zeit Livingstone. Das Hauptfeld seiner Thätig-
keit liegt im Lande Urua, am oberen Kongo (Luapula), und
seine Hanptstatioti heißt Mukurru. Uni ihn zu unterstützen,
sind im August des Jahres 1887 zwei andere Missionäre
— die Herren Sw an uttd Faulkner — von Biha nach dem
Inneren aufgebrochen.
— Der Kongo st aat hat einen neuen schweren Verlust
erlitten durch den Tod des Lieutenants De ane, der
seiner Zeit die Station Stanley Falls gegen die Araber
vertheidigte. Derselbe verlor sein Leben auf einer Elcphanten-
jagd bei Lukolela. — Gleichzeitig hat auch General Strauch
sein Amt als General-Administrator des Kongo-
staates niedergelegt, und Lieutenant E. Baert, der be-
sonders den Mongala-Laitf erforscht hat, ist nach Ablauf
seines dreijährigen Kontraktes nach Belgien zurückgekehrt.
Die Herren Jüngers, Gustin und Le Marmel gedenken den
Dienst des Kongostaates ebenfalls zu quittiren. — Ferner
sind auf unbestimmte Zeit nach Belgien gegangen: Hauptmann
Cambier, der bekannte Leiter der Kongobahn-Aufnahme, sowie
Generalgonverneur Iaussen, und Hauptmanu Van Göle,
sowie Lieutenant Roget wollen dem Beispiele dieser Herren
folgen. — Es ist damit wieder einmal mehr Raum für
neue Kräfte geschaffen, als für das Gedeihen des Kongo-
werkes erwünscht sein kann.
B ü ch e r s ch a u.
— Ina von Binz er, Leid und Freud einer Er-
zieherin in Brasilien. Berlin. Richard Eckstein's
Nachfolger. — Sehr lebendige, von Geist und Humor ge-
würzte Schilderungen des brasilianischen Lebens und Treibens,
die inan mit Vergnügen liest, und aus denen man zugleich
auch mancherlei lernt.
Inhalt: Arthur Silva White: Die antarktischen Regionen. (Mit einer Karte.) — Dr. H. Schunke: Die Färöer.
III. (Mit sieben Abbildungen.) — H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. — H. Seidel: Die Britisch-
Afrikanische Gesellschaft und die Afrika-Forschung von 1788 bis 1888. — Kürzere Mittheilungen: Vulkan-Eruptionen in
Japan. — Der Grenzstreit zwischen Guyana und Venezuela. — Aus allen Erdtheilen: — Asien. — Afrika. — Bücherschau.
(Schluß der Redaktion am 10. August 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Uerürbsrchtrgnng der Ethnologie, der Mulix\rberbüItnrsse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die antarktischen Regionen.
Van Arthur Silva White, Sekretär der
(Forts
Unter den ungünstigen physikalischen Bedingungen, welche
in den antarktischen Regionen walten, hat die höhere Pflanzen-
welt natürlich daselbst keine Repräsentanten. Dagegen giebt
es ungeheure Mengen von Diatomeen und mikroskopischen
Pflanzen, die den verschiedensten Gattungen und Arten an-
gehören, und die das Hauptfutter für die Seethiere bilden.
Die Diatomeen findet man an der Oberfläche des Wassers,
und ihre Panzer sammeln sich auf dem Meeresboden in der
Nähe des 60. Breitengrades an und bilden außerhalb des
blauen Schlammes der antarktischen Regionen einen rein-
weißen Diatomeen-Schlamm. In der Nahe des Eisfeldes
findet man die hellblaue Farbe der See häufig durch einen
schmutzigbraunen Ton getrübt, der von den daselbst sehr-
zahlreichen Organismen herrührt.
Die Seethiere nähren sich wechselseitig von einander, je
nach ihrer Stellung in dem Reiche der Schöpfung, werden
aber zuletzt alle von jenen winzigen Organismen, die den
Ocean in ungeheurer Menge beleben, gespeist. Auf dem
Eise und im Wasser giebt es unzählige Seehunde. Roß hat
drei Spezies beobachtet, die in ihrer Farbe und Größe ziem-
lich verschieden waren. Ihre Farben variirten zwischen einem
dunklen Grau, daß schön mit Flecken und Streifen von einer-
wesentlich dunkleren Farbe durchsetzt war, und einem fast
vollkommenen Weiß. Die größeren, welche viel weniger zahl-
reich waren wie die kleineren Arten, waren mit mächtigen
Zähnen bewaffnet, die ihnen ebenso wie ihre Kopfform, eine
Aehnlichkeit mit dem Eisbär verliehen, und sie sind in der
Globus LIV. Nr. 8.
Königlich Schottischen Geographischen Gesellschaft,
tz u n g.)
That ähnlich gefährliche Thiere, wenn man sich ihnen nähert.
Der größte, der von Roß und seinen Begleitern gelobtet
wurde, wog 850 Pfund und lieferte 16 Gallonen Oel; er-
maß beinahe 12 Fuß in der Länge und sechs Fuß im Um-
fange, und beim Oeffnen des Magens fand man 28 Pfund
Fische darin. Der mittelgroße Seehund — genannt See-
Leopard von der Zeichnung seines Felles — sowie der weiße
antarktische Seehund sind beide so zahm, daß man sich un-
besorgt ihnen nähern und sie erlegen kann. Dann sind auch
noch Seelöwen und Seeelephanten südlich von Kap Horn
gesehen worden. Die weiblichen Setzlöwen vertheidigen
ihre Jungen mit großer Wuth und die männlichen ver-
suchen durch ihr trotziges Gebrüll allen Eindringlingen
Furcht einzuflößen. Die Wunden, die man bei ihnen sieht,
zeugen auch von ihren wilden Kämpfen unter einander.
Das wichtigste Erzeugniß der Gegend bilden aber die
Walfische. Diese sind von allen antarktischen Reisenden ge-
sehen worden, trotzdem daß ihre Zahl durch die Thätigkeit
der Walfischsänger in der letzten Zeit sehr vermindert worden
ist. Sie gehören beinahe ausschließlich der Spezies mit
Rückenflossen an und halten sich vorwiegend an dem Rande
des Eisfeldes ans. Einige von denen, die von Roß beob-
achtet wurden, waren von riesiger Größe und mitunter so
zahm, daß sie nicht einmal dem Schiffe Platz machen wollten.
Nordkapern begegnet man auch.
Fettgänse sind sehr zahlreich zu See und zu Land; ihr
Geschrei ist öfters trotz des Sturmes hörbar, und man
15
114
Arthur Silva White: Die antarktischen Regionen.
hat es bisweilen an Stellen vernommen, die mehr als
100 Meilen von jedem bekannten Lande entfernt waren.
Es sind sehr große Vögel, die oft 60 bis 70 Pfund
wiegen und sich hauptsächlich von Crustaceen nähren; wenn
man ihnen den Magen öffnete, hat man bisweilen auch
zwei bis zehn Pfund Kieselsteine herausgenommen. Weiße
und blaue Sturmvögel, welche durch ihr Geschrei die Nahe
von beträchtlichen Eismassen verkünden, sind ebenfalls in
großen Mengen vorhanden, und auch schwarze Albatrosse,
Kaptauben, Möven und andere Seevögel sieht man in be-
deutender Zahl. Luft und See sind in der That allent-
halben voll von Leben.
Die Eisverhältnisse bilden aber die hervorragendste Eigen-
thümlichkeit der antarktischen Regionen. Der Reisende,
welcher die gemäßigte Zone verläßt, um in die gefrorenen
Gewässer des fernen Südens einzudringen, bedarf in erster
Linie eine bedeutende Kenntniß der Schiffahrt im Eis, und
um sich längere Zeit daselbst aufzuhalten, hat er ein Schiff
von mehr als gewöhnlicher Stärke nöthig, damit es nicht
zerdrückt wird, wenn es zwischen die Eismassen geräth.
Was ist also die Lebensgeschichte dieser schwimmenden
Eisberge und Eisinseln? Sie stammen alle von jener
ursprünglichen Eiskappe her, welche den Südpol umgiebt, und
welche dort — seit Jahrhunderten vielleicht — wächst und
sich bewegt wie ein lebendes Wesen. Jedes Jahr wird ihre
Stärke durch eine frische Schneeschicht vermehrt, die von den
Sonnenstrahlen in mehr oder weniger festes Eis verwandelt
wird. Langsam bewegt sich die ungeheure, schwerfällige Masse
über die niedriger gelegenen Länder dem Meere zu, durch
ihr großes Gewicht Felsen und einzelne Blöcke zermalmend,
dieselben zuweilen in sich einschließend und mit sich führend,
um sie endlich, nachdem sie sie geglättet und geschliffen hat,
auf dem Meeresboden niederzulegen. Es wird versichert,
daß die Mächtigkeit der Eisdecke mehrere englische Meilen
betragen soll, indessen ist es, in Ermangelung positiver
Beweise und angesichts der Analogie, die das Inlandeis
Grönlands gewährt, wahrscheinlicher, daß sie nicht eine so
bedeutende Mächtigkeit besitzt. Sir Wyville Thomson ist
der Meinung, daß ihre durchschnittliche Starke nicht mehr
als 1400 Fuß betrage. Diese Annahme begründet er
mit der Thatsache, daß das Eis, bei der Temperatur, die
es in den antarktischen Regionen bei seiner Berührung mit
der Erdoberfläche besitzt (d. h. über dem Gefrierpunkt), eine
Eissäule von mehr als 1400 Fuß nicht tragen kann ohne
zu schmelzen. Nach seiner Berechnung wird ein Druck
von nicht weniger als einer Vierteltonne pro Qnadratzoll
auf das Eis ausgeübt, und aus den Beobachtungen zu ur-
theilen, die bei den großen Gletschern gemacht worden sind,
die ihren Ursprung dem Inlandeise von Grönland ver-
danken, muß unter diesem ungeheuren Druck ein fortwäh-
rendes Zerschmelzen und Wiedergefrieren stattfinden. Nach
dieser Theorie wird die Frontalseite der Eismauer bei ihrem
Fortschreiten tiefer und tiefer ins Wasser (das an diesen
niedriggelcgenen Ufern im Verhältniß seicht ist) hineinge-
schoben, bis das geringere spezifische Gewicht des Eises eine
aufwärtsdrängende Spannung verursacht, die dann das Los-
reißen und Wegschwimmen von mächtigen Theilen der Mauer
zur Folge hat. Aber eine andere Ursache der allmählichen
Zerstörung der Mauer ist in den heftigen Frösten und in
dem plötzlichem Temperaturwechsel zu suchen, wodurch eine
Zerspaltung der Eismassen verursacht wird, deren Bruchstücke
dann von den herrschenden stürmischen Winden losgerissen
werden. Im Winter, wenn die Luft eine Temperatur von
40 bis 500 unter Null, und das Wasser eine solche von 28
bis 300 über Null hat, kann die ungleichmäßige Ausdehnung
jener Theile der Masse, die einem so großen Temperatur-
unterschiede ausgesetzt werden, nicht verfehlen, die Lostrennung
von größeren Massen zu verursachen. Im Sommer ist die
Luft dagegen selten mehr als drei oder vier Grad, niemals
aber mehr als acht oder zehn Grad kälter wie das Wasser,
und daher kommen solche Lostrennungen dann seltener vor.
Die Tiefe, in welcher der erstgenannte Loslösungsprozeß statt-
finden kann, wurde von Sir W. Thomson auf beträchtlich
über 290 Faden geschätzt. In der Nähe der großen Eis-
mauer von Süd-Victoria-Land hat Roß in Tiefen von
290 und 410 Faden Messungen gemacht, und dabei grünen,
mit vulkanischen Steinen vermischten Schlamm herausge-
bracht, in beiden Fällen zog er also den Schluß, daß der
Rand der Mauer weder auf dem Meeresboden noch auf
Felsen ruhen konnte. Im ersten Falle war die Frontalseite
der Eismauer an der höchsten Stelle nur 107 Fuß über
dem Meeresspiegel. Von dieser Stelle an bis etwa zehn
Meilen weiter ostwärts, wo sie ungefähr 80 Fuß hoch war,
ward die Mauer immer niedriger, dann aber fing sie
wiederum an zu steigen. Was jenseits der Barriere lag,
konnte Roß selbst nicht von der Mastspitze seines Schiffes
aus sehen, doch erhielt er einen einzigen Blick in die ge-
heimnißvolle Region. Die Mauer, welche eine durch-
schnittliche Höhe von 150 Fuß hatte, sank an einer Stelle
auf 50 Fuß, so daß die darüberliegende Fläche sichtbar
wurde. „Sie schien", sagt Roß, „ganz glatt zu sein und
machte den Eindruck einer ungeheuren Ebene von mattem
Silber". Riesige Eiszapfen hingen von jeder hervorragen-
den Spitze der senkrechten Felsklippe herunter — ein Beweis
dafür, daß es mitunter thaut.
Der Rand des Eisfeldes ist von einer dunkelblauen
Farbe und immer sehr charakteristisch. Er besteht meist
aus schweren Eisschollen, die von dem Meere zerwaschen,
zerstückelt und zu Massen von sehr unregelmäßiger Form
zusammengehäuft sind. Das Packeis der antarktischen
Meere ist eben in Folge der heftigen Stürme weit mehr
zersplittert als in den arktischen Regionen, wo die See ge-
wöhnlich viel ruhiger ist. Die Nachbarschaft des Eisfeldes wird
dem Seefahrer durch ein schönes meteorologisches Phänoluen,
welches darüber sichtbar wird — das sogenannte „iee-
blink“ — verrathen, das als ein Heller Streifen, der oben
bisweilen von einer dunklen Wolke begrenzt ist, beschrieben
werden kann.
Roß versuchte sechs Wochen lang durch das Packeis
südlich von Kap Horn zu dringen, aber seine Schiffe
wurden fortwährend von der nordwärtsgehenden Strömung
ergriffen und zurückgetragen, und nachdem er mancherlei
Gefahren bestanden, mußte er den Versuch endlich aufgeben.
Von der Art dieser Gefahren kann man sich eine Vor-
stellung machen, wenn man bedenkt, daß die antarktischen
Eisberge manchmal eine Größe von vier Meilen im Durch-
messer haben, also förmliche Eisinseln sind, und daß das
Zusammenstoßen und Auseinandergehen bei ihnen jederzeit
erwartet werden muß. Auch das Treibeis wird gleich
schwimmendem Holze von den Wogen hin- und hergeschleu-
dert, und der Zusammenstoß mit einer größeren Masse
könnte jederzeit ein gewöhnliches Schiff ins Verderben
stürzen. Die plötzlichen, heftigen Stürme, die diesen Re-
gionen eigen sind, und die mit noch gefährlicheren Wind-
stillen abwechseln, wo die Schiffe hülflos mitten im Eise
herumschwimmen, bereiten dem Seefahrer andere Gefahren,
das oft nebelige Wetter und die blendenden Schneegestöber
verschlimmern seine Lage noch mehr, während die freie Be-
wegung seines Fahrzeuges noch weiter verhindert wird durch
die rasche Bildung von neuen Eismassen, wodurch häufige
kurze Wendungen an den engen offenen Stellen nöthig ge-
macht werden. Das Manipuliren mit den gefrorenen Tauen
wird ebenfalls beinahe vollkommen unmöglich, wo die
Wellen gefrieren, sobald sie auf das Deck fallen, und mit
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
115
Aexten abgehauen werden müssen. Ein Sturm mitten im
Packeis oder eine darauf folgende vollkommene Windstille ge-
hören also zu den bedenklichsten Lagen, in die sich ein arkti-
scher Reisende befinden kann. Das Landeis, obwohl nicht mehr
als fünf oder sechs Fuß über dem Meeresspiegel, und darum
wahrscheinlich nicht über 40 Fuß stark, geht so unmerklich
in den Schnee über, der sich von den höher gelegenen Land-
strichen bis zum Ufer in ununterbrochener Fläche ausdehnt,
daß es einem beinahe unmöglich gemacht wird, sich irgend
eine Borstellung von der Küstenlinie zu machen.
Indem sich der Reisende dem Pole nähert, wird sich
die Nachbarschaft jedes größeren Eiskörpers, außer durch
eine fühlbare Erniedrigung der Lufttemperatur, auch durch
eine Veränderung in der Farbe der See kundgeben, er
wird sich von einer Menge von weißen Sturmvögeln um-
schwärmt sehen, und er wird von schwimmenden Eisbergen
und Eisberg-Bruchstücken in allen Stadien des Verfalles
umgeben sein. Bei nebeligem Wetter wird er wahrschein-
lich von der Nachbarschaft der Eisberge durch den Lärm des
Wellenschlages an ihren Seiten gewarnt werden.
Die Eisberge — besonders die, welche man in den nie-
drigeren Breitengraden trifft — nehmen jede denkbare Gestalt
an. Der „Challenger" z.B. hat einen gesehen, der „giebel-
förmig war, und der einen herrlichen, offenen gothischen Bogen
in der Mitte und einen über 200 Fuß hohen, spitzen Thurm
trug. Er glich einer prächtigen, schwimmenden Kathedrale,
die ans Sapphiren gebildet und in mattes Silber gefaßt
war". Unter anderen Reisenden beschreiben Wilkes und Roß
die wunderbare Schönheit dieser Paläste, Dome und Inseln,
welche ans festem Eise geschnitten, mit Schnee bestäubt, und
— zum Beweise ihrer Wirklichkeit — oft von Fcttgänsen be-
wohnt sind. Weiter gegen den Pol hin sind die Eisberge aber,
weil sie noch nicht so zerfallen sind, gleichmäßig tafelförmig.
Treibeis trifft man in der Südsee für die Regel nicht
unter einer niedrigeren Breite als am 58. Grad, aber in
den strengen Wintern von 1832 und 1840 wurden Eisinseln
bis zum 42. Grade beobachtet, und zuweilen sind sie 600
oder 700 Meilen von der Eismauer entfernt gesehen
worden. Im Dezember 1854, sowie im Januar, Februar
und März des nächsten Jahres, soll cs eine mächtige
schwimmende Insel gegeben haben, die von 21 verschiedenen
Schiffen gesehen worden ist. Sie erschien in der Form
eines Hakens, wovon das längere Stück eine Länge von
60, das kürzere von 40 und die dazwischen eingeschlossene
offene Bucht einen Durchmesser von 40 Meilen hatte, ihre
Höhe aber betrug an einer Stelle mehr als 300 Fuß.
Diese ungeheure Eisinscl bereitete der Schiffahrt, wie man
sich wohl denken kann, die größten Gefahren. Eins der
Schiffe, welche in die Bucht hineinsegelten, war so glücklich,
den Rückzug in Sicherheit bewerkstelligen zu können, aber
ein Euiigrantcnschiff — der „Guiding Star" — wurde voll-
ständig eingeschlossen und ging mit Mann und Maus zu
Grunde.
Die Färbung der Eisberge ist eine prächtige. Die
Hauptmasse hat das Aussehen von feinstem Zucker, die
Spalten, Höhlen und Vertiefungen sind vom reinsten und
tiefsten Azurblau, in der Nacht glühen und leuchten sic, und
man hat Grund zu glauben, daß viele bis zu einem ge-
wissen Grade phosphoresciren. Achnlich wie die arktischen
Eisberge sind sic ans allen Seiten von senkrechten Klippen
umgeben. Einige sind über zwei Meilen, andere sogar
vier Meilen im Umfang, während sie mitunter, wie bereits
erwähnt, einen Durchmesser von vier Meilen besitzen. Sie
haben gewöhnlich eine gleichmäßige Höhe von ungefähr
175 Fuß, während 90 Prozent ihrer ganzen Masse unter
dem Wasser verborgen ist. Aber auch höheren Eisbergen
ist man öfters begegnet, und die höchsten, welche Cook sah,
sind auf 300 bis 400 Fuß geschätzt worden. Indem sic
nach Norden schwimmen, werden sic immer mehr und mehr
geneigt und verlieren allmählich ihr tafelförmiges Aussehen,
bis sic in den wärmeren Gewässern ganz zergehen.
Hiermit beendigen wir unsere flüchtige Skizze von den
Ländern und den physikalischen Verhältnissen der antarkti-
schen Regionen. Da diese Länder im fernsten Süden — ganz
anders wie ihre Antipoden-Länder — von allen Seiten und
zu jeder Jahreszeit zugänglich sind, so wären sie schwerlich so
lange unerforscht geblieben, wenn sie irgend welche bedeutende
Vortheile für den Handel oder für die Schiffahrt gewährt
hätten. Unsere ziemlich umfangreiche Kenntniß der arktischen
Regionen stammt ja auch nicht daher, daß diese Regionen
einen besonderen Anspruch gehabt hätten, wissenschaftlich
erforscht zu werden, sondern vielmehr daher, daß so lange cs
eine nordöstliche und eine nordwestliche Durchfahrt, d. i. eine
kurze Durchfahrt über den Pol hinweg nach Indien zu ent-
decken galt, der Handel in seinen Versuchen nicht müde wurde,
die gefrorenen Barrieren des 'Nordens zu durchbrechen. In
den antarktischen Regionen war der Handel im Gegensatz
dazu nur mit dem Seehund- und Walfischfang interessirt.
Den Naturwissenschaften bieten diese Regionen beinahe
jungfräulichen Boden, und bis sie systematisch erforscht und
darüber durch synchronische Beobachtungen eine gründliche
Kenntniß gewonnen worden ist, ist keine von diesen Wissen-
schaften genügend für ihre Untersuchungen über die Eigen-
schaften des Erdballes ausgerüstet.
Es kann noch lange dauern, che die Völker erkennen
werden, wie sehr ihr allgemeiner Fortschritt von dem Fort-
schritte der Wissenschaft abhängig und bedingt ist, aber man
darf die Hoffnung hegen, daß es immer eine Anzahl Männer
geben wird, die es als ihre Pflicht betrachten werden, den
öffentlichen Sinn von der Wichtigkeit der Erforschung der
äußersten Enden der Welt — selbst der des unbekannten
Kontinents des fernen Südens — zu überzeugen.
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
XIII. H
(Mit sieben Abbildungen.)
In Europa führen alle Wege nach Rom, wie man zu
sagen pflegt, in dein anßcrtropischen Südamerika führen
alle nach Buenos -Ayres. Nachdem wir das ungeheure
ft Bergl. „Globus", Bd. 54, S. 81.
Gebiet des Laplata - Stromes durchstreift und hinsichtlich
seiner kulturellen icnd wirthschaftlichcn Hilfsquellen — so
viel als uns eben möglich — geprüft haben, sehen auch wir
uns wieder ans dem Wege nach der südamerikanischen Ricsen-
stadt, deren Aufschwung in den letzten Jahrzehnten ein so
15*
116
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
wunderbarer gewesen ist. Wir steigen von dem hohen Ufer jener luxuriös eingerichteten Dampfer, die den Verkehr zwi-
des Stromes bei Parana hinab, wir begeben uns aus einen scheu dieser Stadt und Buenos -Ayres vermitteln, wir
La Recoleta in Buenos-Ayres.
Die Avenue des Elsten September in Buenos-Ayres.
werfen noch einen flüchtigen Blick auf das hochaufstrebende I zwischen flachen, niedrigen Inseln und einförmigen User-
Santaf«, das Parana gegenüber liegt, und wir gelangen Wäldern wieder hinab in den unabsehbar breiten Laplata-
à Larimento-Avenue ira Parque Tres de Febrero.
Wanderungen durch das außertropische Südamerika. 117
118
Wanderungen durch das außertropische Südamerika
Golf, bis wir uns endlich von neuem vor den Molen von
Buenos-Ayres, und angesichts jener interessanten Landungs-
scenen befinden, von denen wir bereits früher berichtet haben
(Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 65 ff.). Wir finden nun
Gelegenheit, in einer Umgebung, die uns bereits vertraut
geworden ist, auszuruhen von den Strapazen, die wir ge-
habt haben. Denn wenn auch das Dampfroß zu Land und
Wasser die Rundtour, welche wir zurückgelegt haben , heute
an den meisten Orten zu einer ziemlich harmlosen und be-
quemen gestaltet hat, so konnten wir es doch nicht ver-
meiden, hie und da ziemlich tief in die Wildniß hinein zu
gerathen, in der es mit dem Lebenskomfort, an den wir
Kulturmenschen uns nur zu sehr gewöhnt haben, aufhört.
Wir schlendern also wieder init anderen Schlenderen: in
der Calle Florida auf und ab, wir sitzen mit alten Be-
kannten zusammen in den Kaffeehäusern, wir begeben uns
wieder hinaus nach den hübschen Anlagen der Recoleta,
nach der Plaza des Elften September (S.- die Abbildungen
1 und 2), und nach dem Parke des Dritten Februar, und
das Bild des Reichthums und des Kulturlebens, das wir
an diesen Orten beobachten, erscheint uns doppelt glänzend,
nachdem wir in den Pampas sowie in den Gcbirgs- und
Waldwildnissen so vielfach sein Gegenbild geschaut haben.
Nur die Palmen der berühmten Avenida der Sarmiento in
dem Parque Tres de Febrero sehen etwas frostig und dürftig
ans, wenn wir sie mit denen in der Gegend von Asuncion
vergleichen, und es scheint uns, daß der „Pampero" ihnen
zeitweise viel übler mitspielt, als er cs in der Gegend näher
dem Wendekreise mit den Palmen thut (S. Abbildung 3).
Im übrigen benutzen wir unseren nochmaligen Aufenthalt
in der südamerikanischen Weltstadt dazu, die bereits ge-
wonnenen Anschauungen so viel als möglich zu befestigen
und zu berichtigen.
Bevor wir sodann von den Ufern des Laplata Abschied
nehmen, unterlassen wir cs nicht, der blutjungen Rivalin
von Buenos-Ayres einen Besuch abzustatten, die nach dem
Strome selbst benannt ist, und deren Begründung erst sechs
Jahre zurück datirt. Es muß uns ja intcressiren, zu sehen,
wie unter günstigen Umstanden auch auf dem südamerika-
nischen Boden eine Stadt sozusagen vor unseren Angen
Begründung der Stadl Laplata.
emporschießt, und die Eisenbahn ermöglicht es uns, sie rasch
und leicht genug zu erreichen.
Im Jahre 1880 dehnte sich an der Stelle der Stadt La-
plata noch öde distel- und grasbestandene Pampas-Ebene ans,
ans der nur die Gauchos mit ihren Rinder- und Schafheerden
ihr Wesen trieben. Da ereignete sich eine Revolution, in
der die Nationalregierung von Argentinien und die Provinzial-
regiernng von Buenos-Ayres einander in blutiger Fehde
gegenüber standen, und nachdem die letztere zur Kapitulation
gezwungen war, wurde der Beschluß gefaßt, die Stadt
Buenos-Ayres gänzlich von der Provinzialregierung zu be-
freien und fernerhin nur als Hauptstadt des Gesammt-
staates gelten zu lassen — in ähnlicher Weise wie das
nordamerikanische Washington. Die Provinzialregierung
sollte sich anderweit eine Stätte suchen. Statt aber eine der
kleinen Binnenstädte als solche zu erwählen, entschied sich
dieselbe durch den Einfluß des Gobernadors Dardo Rocha
dazu, an der besagten wüsten Stelle, unfern der Ensenada-
Bncht des Laplata-Golfes eine vollkommen neue Stadt zu
gründen, in der sie hausen könnte. Unverzüglich schritt
man ans Werk. Es wurden von den betreffenden Estan-
cieros vier Quadrat-Legnas Land gekauft, es wurden Straßen
und öffentliche Plätze abgesteckt, es wurden Baustellen zu
billigen Preisen an Unternehmer überlassen, unter der Be-
dingung, daß sie alsbald eingezäunt und bebaut würden,
und am 19. November 1882 fand unter festlichem Ge-
pränge, zu dkm außer den Gauchos und Estancieros der
Umgebung auch zahlreiche Bewohner von Buenos-Ayres
herbeieilten, die Einweihung der neuen Stadt statt, noch
ehe ein einziges Haus derselben dastand (S. Abbildung 4).
Wenige Jahre vergingen nun, und die junge Gründung
erwies ihre Lebensfähigkeit auf das glänzendste. Es erstand
ein stolzer Gonvcrnementspalast, der denjenigen von Buenos-
Ayres weit in den Schatten stellt (S. Abbildung 5), ein
kaum weniger stolzer Justizpalast, ein Parlamentsgebäude,
ein Cabildo, ein Polizeigcbündc, ein Provinzialmuscum, ein
Provinzial-Gesundheitsamt, ein Schnlrathsgcbüude, ein
astronomisches Observatorium, ein Theater, und um diese
öffentlichen Gebäude gruppirten sich sehr zahlreiche stattliche
Privat- und Geschäftshäuser. Sechs Jahre nach ihrer Be-
Wanderungen durch das außertropische Südamerika
119
gründung gewährten die berühmten nordamerikanischen
Städtewunder Chicago und San Francisco bei weitem nicht
ein so imposantes Bild, und auch Washington gedieh viel
langsamer zu seinem heutigen Glanze. Mit der Begründung
der letztgenannten Stadt hat die Begründung von Laplata
aber selbstverständlich eine viel größere Ähnlichkeit, als mit
derjenigen der beiden erstgenannten Städte. Bei Chicago
ebenso wie bei San Francisco und bei der Mehrzahl der
anderen mit pilzartiger Raschheit gewachsenen Städte Nord-
amerikas handelt es sich in erster Linie um eine wirthschaft-
Der Gouvernemcntspalast in Laplata.
liehe That, bezw. um eine wirthschaftliche Entwickelung, bei
Washington sowie bei Laplata dagegen handelt es sich vor allen
Dingen um eine politische That, bezw. um eine politische
Entwickelung. Das bezeugt schon die Aufzählung der
öffentlichen Gebäude. Das Wachsthum der südamerikanischen
Regierungs-Hauptstadt war aber wohl hauptsächlich des-
Die Hypothekenbank in Laplata.
wegen ein uoch rapideres als dasjenige ihrer nordamerika-
nischen Schwcster, weil die Politik in dem Lebcn ber sud-
amerikanischen Bolker bekanntermatzen cine noch viel aktivere
Grolle spielt als in dem der nordamcrikanischen. Wenig-
stens in den Zeitcn George Washingtons und Benjamin
Franklins traten die politischen Jnteressen bei den Nord-
amerikanern hinter anderen Jnteressen zurück. Bei den
Portenos ist, wie wir schon früher betont haben, die Politik
das Hauptgewerbe, und wie dieselbe in den zahllosen Bürger-
kriegen oft genug zerstörend und hemmend auf die Blüthe
der städtischen Gemeinweisen einwirkte, so schuf und förderte
sie ausnahmsweise hier auch einmal die Blüthe eines solchen.
120
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
Daß die Wurzeln der Größe von Laplata allein in dem
Entschlüsse und in der Thatkraft der Staatsmänner gelegen
habe, die sie gründeten, können wir aber nicht glauben, so
despotisch Entschlüsse und Persönlichkeiten auch zu Zeiten
in den südamerikanischen Republiken wirken. Es bedurfte
auch hier einer gewissen Gunst der Natur, die dem mensch-
lichen Willen zu Hülfe kam, und die politischen Ab-
sichten mußten sich bis zu einem gewissen Grade von den
wirthschastlichen tragen lassen. Wäre dies nicht der Fall
gewesen, so Hütte Laplata unmöglich innerhalb der kurzen
Frist von sechs Jahren zu einer Einwohnerzahl von 30 000
bis 40000 (im Januar 1887 : 30 800) gedeihen können.
Man hätte die schönen Negierungspaläste ausführen und
mit Beamten füllen können, die Straßen wären im allge-
meinen leer geblieben. Was gleichzeitig mit den öffentlichen
Bauten entstand, war aber ein rühriges großstädtisches
Leben und Treiben rings um dieselben herum, und es hat
zugleich auch ganz den Anschein, als wolle sich dasselbe in
den kommenden Jahren noch gewaltig weiter steigern. In
dem großen Bahnhofsgebäude, das einen empfängt, wenn
man die 601cm lange Eisenbahnstrecke zwischen Buenos-
Ayres und Laplata zurückgelegt hat, beobachtet man ein
reges Kommen und Gehen, und den Banken, die der Spe-
kulationsgeist neben den Regierungspalästen errichtet hat —
der Provinzialbank, der Hypothekenbank (S. Abbildung 6) —
scheint es auch nicht an Kundschaft zu fehlen, ebensowenig
wie den Hotels und Kaffeehäusern, den städtischen Markt-
hallen, den Pferdebahnen rc.
Der Kanal von Laplata.
Einen guten Theil des lebhaften Geschaftstreibens von
Laplata hat man natürlich auf Rechnung der rührigen Ban-
thätigkeit zu erklären, die durch den erwähnten politischen
Akt hervorgerufen wurde. Man bedurfte dazu Holz, Steine,
Eisen, Maschinen, Hände, Geld, Kredit — und das Alles
mußte aus der Ferne herbeigcbracht werden. Aber ganz
ist das überraschend schnelle und hohe Aufblühen der jungen
Stadt, die ans dem Boden herausgestampft worden ist, wie
einst Wallenstein's Heere, auch damit nicht erklärt. Um die
Erscheinung vollkommen zu begreifen, haben wir uns vielmehr
hinab zu begeben nach der bereits erwähnten Ensenada
sowie nach dem Schiffahrtskanale, der diese Einbuchtung
des Laplata - Golfes mit der Stadt und ihren Docks ver-
bindet (S. Abbildung 7). Dort lernt man ein ähnliches
gewaltiges Werk der Wasserbaukunst kennen, wie man sie
in London und Liverpool sowie in Hamburg bewundert hat.
Dasselbe soll bis zum 1. September 1886 mehr als zehn
Millionen Mark verschlungen haben, es kann aber keinem
großen Zweifel unterliegen, daß sich dieses Anlagekapital so
gut verzinsen wird, wie irgend eins in Argentinien —
wenn nicht für die Unternehmer, so doch für das Gemein-
wesen. Hier hat man ja eben an jene natürliche Gunst
angeknüpft, mit der man bei der Begründung der Stadt
rechnen durfte. Denn was bei Buenos-Ayres so ungemein
schwierig ist — das Herannahen großer Seedampfer an
die Küste, Pas ist bei der Ensenada relativ leicht möglich,
und es war eigentlich nur der sumpfige Alluvialboden um
die Bucht herum, der es verhinderte, daß bisher etwas
anderes daselbst entstand als ein armseliges Fischerdorf und
eine Quarentäne-Station. Dadurch daß man nun die
Dr. A. Opp el: Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea.
121
Bucht künstlich bis an das Weichbild der Stadt verlängert,
schafft man den besten Zugang für Seeschiffe, den Argen-
tinien überhaupt besitzt. Bislang ist das Werk noch lange
nicht vollendet, und es sind zunächst nur kleine Küstenfahr-
zenge, die bis Laplata hinaus gelangen können, aber man
arbeitet rüstig daran weiter, und es wird aller Wahrschein-
lichkeit nach nicht mehr lange dauern, so lernt Laplata für
Buenos-Ayres dieselbe Nolle spielen, wie Bremerhafen für
Bremen, oder wie Havre für Nonen und Paris. Daß
Buenos-Ayres von seiner jungen Rivalin dereinst in den
Schatten gestellt werden wird, glauben wir ja nicht — dazu
arbeitet die argentinische Hauptstadt viel zn eifrig an der
Amelioration ihres eigenen Hafens, und dazu scheinen uns
alle Wurzeln der Blüthe derselben zu tief zn liegen^), aber
an einen fernerweiten starken Aufschwung von Laplata
glauben wir angesichts seines Kanales, sowie angesichts der
Ensenada gern. Die Sümpfe an der Ensenada, die zu
Zeiten von dem Rio Laplata her übersluthet werden, werden
vielleicht spater zum Theil durch Eindämmung in frucht-
bares Land verwandelt werden. Einstweilen erleichterten
sie sehr die Herstellung jenes Kanales, der 73/4 km lang,
anfänglich 156 m, dann 60m breit und 6,40m tief ist. —
Der Baugrund, auf dem Laplata steht, erhebt sich ähnlich
wie der von Buenos-Ayres, sehr beträchtlich (9 bis 12m)
über den Strom.
Was den Bauplan betrifft, nach dem die Stadt angelegt ist,
so stehen wir nicht an, demselben unseren Beifall zn zollen.
Ebenso systematisch und streng wie jeder andere neuweltliche
Stadtplan, stellt derselbe doch kein reines Schachbrett dar,
wie Buenos-Ayres und die Mehrzahl der nordamerikani-
schen Städte, sondern den sich rechtwinklich kreuzenden
Straßen, die nordwestlich und nordöstlich verlaufen, entspricht
ein System von Diagonalstraßen, die rein nördlich und
rein östlich gehen, und die mit jenen ans größeren und klei-
*) Vergl. unsere darauf bezügliche» Ausführungen in
unserer früheren Skizze, „Globus", Bd. 53, S. 67 s.
neren Squares in spitzen Winkeln zusammenlaufen. Dadurch
wird unseres Erachtens ein gut Theil der Geistlosigkeit und
Langeweile, die den reinen Schachbrettstädten nothwcndiger-
weise anhaften muß, vermieden, und an gewissen Kreuzungs-
punkten werden dadurch ganz hübsche architektonische Effekte
ermöglicht.
Um das Baumgrün ans den Squares, sowie auch in
dem großen Parke, der sich an der Seite der Stadt aus-
dehnt, die dem Strome zn gelegen ist, sieht cs natürlich
zunächst noch dürftig ans, und daran spürt man am meisten
das Kindcsalter der Stadt. Der Pampashanch und der
Pampaslöß ließ ja auch hier keinen natürlichen Baumwnchs
aufkommen, den man als Zierde der Stadt hätte benutzen
können. Man hat aber schnell wachsende Eukalypten und
Akazien, sowie auch Palmen und andere Bäume und
Sträucher in ziemlicher Menge gepflanzt, und so ist Aus-
sicht vorhanden, daß es in Laplata auch in dieser Beziehung
in einer nicht sehr fernen Zukunft ähnlich aussehen lernt
wie in Buenos-Ayres. Die Pflasterung der Stadt ist vor-
trefflich, und abends strahlt auf den Straßen elektrisches Licht.
Als einen großen Vortheil müssen wir ansehen, daß die
Trinkwasserfragc durch einen artesischen Brunnen und durch
eine große Wasserleitung eine befriedigendere Lösung ge-
funden zu haben scheint in Buenos-Ayres.
Indem wir von Begründung der Stadt Laplata sprechen,
dürfen wir schließlich an dieser Stelle auch nicht vergessen,
daß deutsche Arbeit dabei in sehr hervorragender Weise bc-
theiligt gewesen ist. Bei der internationalen Konkurrenz,
die bezüglich des Parlamentsgebäudes und des Stadthauses
ausgeschrieben war, trugen deutsche Architekten den Sieg davon,
und unter ihrer Leitung wurden diese sowie zahlreiche andere
Bauten, die zn den schönsten der Stadt gehören, ausgeführt.
Der Schiffahrtskanal von Laplata ist das Werk des hollän-
dischen Wasserbau-Ingenieurs Waldorp. Im übrigen giebt
es aber wohl kaum eine europäische Nation, die nicht dieses
oder jenes Verdienst bei der Ausführung des Gesammt-
planes zu beanspruchen hätte.
Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea.
Von Dr. A. O p p c l.
Das viel gebrauchte Wort von der Ueberfülle und dem
verschwenderischen Reichthume der tropischen Vegetation hat
nicht selten die Meinung hervorgerufen, daß der Mensch,
namentlich so lange er aus der Naturstufe verharrt, um
zu leben, nur in jene schier unerschöpflichen Vorräthe
hineinzugreifen und sich davon nach Bedürfniß anzueignen
brauche, so daß ihm die produktive Thätigkeit, d. h. die
Arbeit, die vielen unter den Kulturmenschen so hart an-
kommt, erspart sei; befreit von dem Zwange des Brot-
erwerbes, unter dem diese seufzen, könne jener ganz sich
selbst, dem Nichtsthun und dem Vergnügen leben. In der
That aber wäre nichts falscher als eine solche Anschauung
von der Lebensweise der uncivilisirten Tropenbewohner und
im Speziellen der Papuas von Neuguinea. Denn wenn
es schon richtig ist, daß die Pflanzenwelt zwischen den
Wendekreisen — unter Voraussetzung einer ausreichenden
Negenmcnge — sich üppiger und reicher entfaltet als in
unseren Breiten, so gehören doch weitaus die meisten wild-
Globus LIV. Nr. 8.
wachsenden Pflanzen, vom Standpunkte der Genießbarkeit
aus beurtheilt, wie bei uns unter das „Unkraut"; die für
den täglichen Gebrauch dienenden Nährstoffe aber müssen
durch Bodenanbau oder auf andere Weise gewonnen werden.
Demnach muß auch der Papua, wenn er nicht verhungern
will, ein bestimmtes Maß regelmäßiger Thätigkeit entfalten,
um die verbrauchten Nahrnngsstoffe zn ersetzen: er muß
arbeiten, wenngleich seine Art von Arbeit sich selbstredend
ganz wesentlich von der unsrigen unterscheidet. Für den
natürlichen Verstand der Eingeborenen spricht der Umstand,
daß, da nicht allerorten dieselben Natnrverhältnisse vorliegen,
sie dieselben in einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Weise
auszunutzen verstehen. Daher wie im anthropologischen
Typus und in den ethnologischen Merkmalen überhaupt im
ganzen Gebiet keineswegs eine starre Gleichmäßigkeit herrscht,
so nehmen auch die Formen des Erwerbs und des Besitzes
je nach den Oertlichkeiten eine etwas verschiedenartige Ge-
stalt an.
16
122
Dr. A. O P Pel: Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea.
Wenn wir uns nun int Folgenden etwas mit dem Er-
werb und Besitz der Papua Neuguineas, speziell der Be-
wohner der Nord- und Ostküste beschäftigen wollen, so knüpft
sich daran nicht nur ein allgenicines ethnographisches Inter-
esse, sondern es kommt auch eine Art nationaler Theilnahme
mit ins Spiel, insofern nämlich die Papua der Nordküste —
des Kaiser-Wilhelmslandes—wie allbekannt, unter der Schutz-
herrschaft des Kaisers von Deutschland stehen. Die That-
sachen und Beobachtungen aber, durch welche wir die wirth-
schaftlichen Zustände charakterisiren wollen, entstammen dem
kürzlich erschienenen Reisewerke des Dr. Otto FinschJ,
des verdienstvollen Reisenden und Forschers, der mit dem
kleinen Dampfer „Samoa" jene Gegenden untersuchte und
dadttrch den Grundstein zu ihrem Erwerbe seitens der Neu-
guinea-Gesellschaft legte. Die „Samoafahrten", das
wollen wir nicht unterlassen hier hervorzuheben, sind Reise-
schilderungen, die sich ebenso sehr durch ihren reichen viel-
seitigen und vielfach ganz neuen Inhalt, als durch den
Gegenständen angepaßte, anziehende, durch Witz und Laune
gewürzte Darstellung, sowie schließlich durch zahlreiche, meist
gut ausgeführte Bilder, auszeichnen. Die „Samoafahrten"
sind zugleich das erste Originalwerk, welches von einem
deutschen Reisenden über Neuguinea geschrieben ist, und
daher berufen, in unserer geographischen Literatur eine
hervorragende Stellung einzunehmen.
Die Papuas der Nord- und Ostküste Neuguineas — von
Humboldt-Bai bis Milne-Bai — sowie der benachbarten Inseln
und Inselgruppen sind, wie bereits angedeutet, der Haupt-
sache nach Ackerbauer von beschränkter Seßhaftig-
keit, letzteres insofern als sie nicht immer dieselben Gegen-
den innehaben, sondern nach Bedürfniß oder bei gegebenem
Anlaß ihre ursprünglichen Wohnsitze verlassen, und ihre leicht,
aber zweckmäßig gebauten Häuser an anderen, passender er-
scheinenden Plätzen errichten. Diese Eigenthümlichkeit er-
klärt auch die Beobachtung, daß der eine Forscher eine
Gegend bewohnt fand, in der ein anderer keine Menschen
sah, und umgekehrt.
Die Wohnstätten der Papuas sind an der Küste wenig-
stens stets von Kokospflanznngcn umgeben, und die Kokos-
palmen sind daher das eigentliche Leitmotiv von Neuguinea;
wo sie erscheinen, zeigen sie das Vorhandensein von Menschen
an; wo sie fehlen, giebt es auch keine Bewohner. Die
Kokospalme ist eben eine Kulturpflanze, die, um ergiebig
zu sein, eine bestimmte Behandlung erfordert. Da nun die
verschiedenen Theile des in Rede stehenden Gebietes in un-
gleichmäßiger Dichte bewohnt, manche aber unbewohnt sind,
so richtet sich danach auch das Vorkommen und die Häufig-
keit dieser so nützlichen Palme. Einige Küstenabschuitte
lassen sie fast ganz vermissen, so die Strecke von Chads-Bai
bis Dyke-Acland-Bai und manche Theile von Kaiser-Wil-
helmsland, in anderen findet man reichliche Bestände, so z. B.
auf den d'Entrecafteaux-Jnseln, speziell an der Südostküste
von Normanby — „wahre Wälder" von Kokospalmen —und
ebenso am Nordrand der Milnebai. Zahlreiche Kokospalmen
sah Finsch auch auf dem Jnselchen Sanssouci und auf der
gegenüberliegenden Küste des Kaiscr-Wilhclmslandes; dieses
Kopragebict, das einzige von einiger Bedeutung an der
ganzen Nordküste Neuguineas, scheint sich etwa 15 km weit
bis in die Gegend von Lapar-Point hinzuziehen; weiter
inlands erhebt sich das Toricclli-Gebirge.
i) Samoafahrten. Reisen in Kaiser-Wilhelms-
land und Englisch-Neuguinea in den Jahren 1884 und
1885, an Bord des Deutschen Dampfers „Samoa". Von Dr.
Otto Fiusch. Mit 85 Abbildungen nach eigenen Originalen
des Verfassers und 6 Kartenskizzen. Hierzu ein einzeln käuflicher
Ethnologischer Atlas „Typen aus der Steinzeit Neu-
guineas" enthaltend. Leipzig, F. Hirt und Sohn, 1888.
Aber der Anbau der Papua beschränkt sich nicht auf die
Kokospalme, sondern umfaßt außerdem noch viele andere
Gewächse wie Pams, Taro, süße Kartoffeln, Zuckerrohr,
Bananen, Bohnen, Tabak, Betelpfesser, Melonen, Kürbisse,
Sago, Pandanus und vereinzelt auch Mais. Während
aber die Kokospalme sich allgemeiner Verbreitung er-
freut, treten die übrigen Frnchtarten mehr oder weniger
vereinzelt ans, indem hier diese Pflanzen, dort jene bevorzugt
werden; ziemlich gleichmäßig und fast überall findet man
Jams, Taro und Bananen angebaut, Mais aber nur da,
wo sich fremder Einfluß geltend gemacht hat, nämlich in
der Nähe des Kap de la Torre, infolge des längeren Aufent-
haltes des kürzlich verstorbenen Reisenden Miclncho Maclay,
und ans dem Jnselchen Oroani, nahe der Milnebai, wo der
Maisbau durch die Mission eingeführt worden ist.
Im weiteren Unterschiede von der Kokospalme sind die
Pflanzungen mit den jeweilig gebauten Früchten keines-
wegs ans die Küste beschränkt, sondern reichen weit in das
Binnenland hinein und finden sich sogar hoch in den Ge-
birgen; auch liegen sie nicht immer in der unmittelbaren
Umgebung der Ansiedelungen, vielmehr sind sie oft in be-
trächtlicher Entfernung davon angelegt — meist an Berg-
abhängen oder mitten im Urwalde; an den Bergen werden
mitunter die steilsten Stellen ausgesucht. So waren vom
Schiffe aus z. B. auf Goulvain in der d'Entrecasteaux-
Gruppe selbst an den Abhängen der steilen Kraterschlnchten
Plantagen der Eingeborenen zu sehen; als solche erwiesen
sich ferner die von weitem kahl, grün und braun erscheinen-
den Flecke auf der Insel Bloisseville, wo in etwa 350 m
Höhe cuit Kraterrande ein großes Dorf mit 20 Häusern stand ;
ja an der Goodenough-Bai lassen sich mit dem Fernglase in
noch bedeutenderen Höhen — nicht selten bei 1300 rn — un-
mittelbar unter der Waldregion, welche die Kammhöhe be-
deckt, und selbst auf den höchsten Kuppen Kultivationen, Fuß-
pfade, grüne Wiesen und einzelne Häuser wie Sennhütten
erkennen.
Wie schon die Auswahl des Platzes andeutet, ver-
fahren die Leute bei ihrem Bodenanbau nach einem be-
stimmten System. Diese Beobachtung tritt auch bei der
eigentlichen Behandlung und Bearbeitung des Bodens
hervor. Zunächst wird derselbe nämlich von den wild-
wachsenden Pflanzen gesäubert, was bei den oft mehrere
Hektare großen Stücken für Menschen, die noch in der
Steinzeit leben, sehr mühevoll und anstrengend ist. Man
nimmt zwar das Feuer zu Hülfe, aber die Bäume verzehrt
dieses nicht; die kleineren von ihnen werden daher mit der
Steinaxt umgehauen, von den großen, zum Theil vom Feuer
gefüllten, die Aeste abgehackt, so daß nur die Stämme übrig
bleiben, die dem Klima nicht allzulange Widerstand leisten.
Auf solche Zurichtung des Landes folgt meist das Einzäunen
desselben, das zum Schutz gegen wilde Thiere dient und wie
jene Arbeit von sämmtlichen Dorfbewohnern gemeinsam ge-
schieht. Der Zaun wird an der Astrolabe-Bai aus etwa
mannshohen Stäben des wilden Zuckerrohrs gefertigt, die
durch das später erfolgende theilmeise Ausschlagen der
Wurzeln dcmGanzen besoudereFcstigkeit verleihen; Eingangs-
ösfnnugen werden ans Rücksicht aus das Eindringen wilder
Schweine nicht freigelassen, aber gewisse Vorrichtungen zum
leichteren lieberklettern werden angebracht. Wo Wildschweine
fehlen, wie z. B. ans Fergusson, unterläßt man das Einzäunen.
Nach erfolgter Einfriedigung wird das Stück Land in
so viele Theile unterschieden als das betreffende Dorf Fa-
milien zählt, und nun erst beginnt die spezielle Bearbeitung.
Die Männer graben mittelst eines spitzen Stockes („Udja")
den Boden, der darauf von den Frauen mit Hülfe einer Art
schmaler Schaufeln zerkleinert und aufgelockert wird. „Ich
fand", sagt Finsch, „über den Landbau an der Astrolabe-Bai
Dr. A. Oppel: Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea.
123
dieselbe musterhafte Wirthschaft, wie ich sie schon von der
Südküste Neuguineas und aus Neubritanicn kannte. Das
Erdreich sah, sorgfältig aufgelockert, wie gesiebt aus. Die
Ranken des Panis wanden sich an regelmäßig eingesteckten
Stangen, zwischen denen andere Pflanzen wuchsen, wie in
einem Hopfenfelde empor.“ In der Nähe des Friedrich-
Wilhelms-Hafens fanden sich größere Bestünde von Zuckerrohr
in ausgezeichneter Entwickelung; Rohr von 6 cm Durch-
messer , in Knotenabslünden von 10 bis 11 cm und einer
Länge von 4 m war nicht Seltenes! „Solches Zuckerrohr
ist jedenfalls doch erst durch fortgesetzte Kultivation veredelt
worden und diese den Eingeborenen und ihrem Fleiße zu
danken.“ Ueber die große Sorgfalt des papuanischcn Boden-
anbaues spricht Finsch bei jedem Anlasse, besonders aber
fiel ihm diese in Fergusson (d'Entreeastcaux) aus, wo eine
Musterfarm, an Akkuratesse einer Ziergärtnerei vergleichbar,
beobachtet wurde. „Man fühlte sich wie in einen Hopfen-
garten versetzt, so regelmäßig erhoben sich die Ranken des
Pams an Stangen aus reichem, schwarzen Humus, der
durchgesiebt schien. Zwischen dem Panis standen Taro,
Zuckerrohr, Bananen und bunte Blattpflanzen, alles in
schönster Ordnung und in größere Familienfelder getheilt.“
Nicht selten kommt es vor, daß die Bewohner von kleinen
Inseln ihre Aecker auf der benachbarten Festlandsküste an-
legen; dann errichten sic in den Pflanzungen kleine Hütten,
einesthcils zum Aufenthalt während der Bestellung und
Ernte, anderenthcils zum Schutze; gerade während der Feld-
arbeit pflegen nämlich am häufigsten Ueberfälle stattzufinden,
„weil sich dann in der allgemeinen Verwirrung am leichte-
sten ein paar Frauen oder Kinder erschlagen lassen, was
jederPapnakrieger als sehr rühm- und ehrenvoll betrachtet“.
Die Männer Pflegen daher auch bei der Feldarbeit, wie fast
stets, ihre Waffen bei sich zu tragen.
Je nach der Jahreszeit bieten die Plantagen der Papuas
einen verschiedenen Anblick dar, denn die betreffenden Früchte
werden nicht zur selben Zeit reif; danüt wechselt auch die
Zusammensetzung der Nahrung. An der Astrolabe-Bai z. B.
bildet das Hauptnahrungsmittel von Mürz bis August der
Taro, eine Aroidee, von der sowohl die wohlschmeckenden
Wurzelknollen, als auch die ein beliebtes Gemüse liefernden
Blätter gegessen werden; von August bis November tritt
dafür Pams mit seinen stärkcmehlreichen und gutschmeckenden
Knollen ein. „Wie die Arbeit, so der Lohn“, dieser Spruch
des weißen Mannes bewährt sich auch bei den dunklen Papuas;
denn auf Grund des sorgfältigen Anbaues werden, stellen-
weise wenigstens, zahlreiche *stind vortreffliche Früchte
gewonnen. Auf Normandy (d'Entrecasteaux) z. B. erhielt
Finsch Kokosnüsse von ungewöhnlicher Größe, bis 73 cm
int Umfang, und 11 englische Pfund schwer. Die Leute
von Trobriand brachten eine Menge Pams, darunter wahre
Riesenexemplare von 12 bis 17 Pfund Schwere und fast
2 m Länge. Daneben fanden sich allerdings auch Gegenden,
wo den Samoafahrern nur wenige und schlechte Früchte an-
geboten wurden, ein Zeichen, daß wie der Boden, so auch
der Anbau und die Ernte sich verschiedenartig zeigt.
Von besonderem Interesse ist die von Finsch ge-
machte Beobachtung, daß an verschiedenen Stellen Neugui-
neas die Eingeborenen Tabak pflanzen; solcher fand sich
z. B. an der Astrolabe-Bai, auf der Dampier-Jnsel, bei Finsch-
hafen, Hatzfeldthafen, Venushuk, Gaußbucht, Massilia und
Angriffshafen. Der einheimische Tabak, dessen Anbau auch
an der Südküste vorkommt, stimmt in Aussehen und Blüthe
mit dem gewöhnlichen Banerntabak überein und dient theil-
weise zum Tausch in dem Verkehre der Eingeborenen unter-
einander, gelegentlich wohl auch mit Fremden. Die Leute voll
Massilia z. B. hatten bcu Samoafahrern viel Blättertabak
in Bündeln, sonst aber kaum etwas anzubieten; eine Menge
Blättertabak — „Kas“ — brachten auch die Eingeborenen von
Hatzfeldthafen. Im Gegensatze zu den Bewohnern der
Südostküste Neuguineas haben die Papuas der ganzen
Nordostküste kein Ranchgerüth, sondern sie wickeln ans den
nnfermentirten, etwas getrockneten Blättern mit Hülfe
eines großen Baumblattes als Decker eine Art Cigarette,
die iil Brand zu halten Mühe macht; vielleicht aus diesem
Grunde raucht kein Papua eine ganze Cigarette, sondern
er thut nur ein paar Züge und reicht sie dann seinen Ge-
nossen. Da neben Tabak in ganz Melanesien auch der
Genuß des Betel vorkommt, und letzterer sein Hauptver-
breitungsgebiet auf dem benachbarten südostasiatischen
Archipel hat, so wird man wohl mit Finsch die Ver-
muthung aussprechen dürfen, daß beide Gewächse von daher
nach Neuguinea gekommen sind. Wie? das läßt sich leicht
erklären, denn der Verkehr zwischen Westguinca und den
Molucken bietet keine Schwierigkeit; über das Wann? da-
gegen schweigt die Geschichte.
Gegenüber den Erträgen des für ein Naturvolk immer-
hin vielseitigen und wohl entwickelten Bodenanbaues spielen
die Ergebnisse von Jagd und Fischfang eine untergeord-
nete Rolle, zumal die Jagd, denn Neuguinea hat wenig
große, slcischgebcndc Thiere, ilnd wenn man z. B. gewisse
Küngnruarten, erlegt, so scheint es fast mehr wegen des
Felles, die vielerwärts zu Schmuck Verwendung finden,
als wegen des Fleisches zu geschehen. Jedenfalls suchen
aber die Leute die Natur, wie es eben geht, ihrem Gaumen
dienstbar zu machen; dahin gehört z. B. die eßbare Erde,
von der Finsch zwei Mal spricht, nämlich bei Venushuk
und beim Sechstrohfluß, kurz vor der Hnniboldtbai. An
letzterem wurde sie in Form flacher, 20 cm breiter Kuchen
angeboten. Nach der qualitativen Untersuchung des Herrn
Venator in Trier besteht die etwas fettig, wie getrockneter
bläulichgraner Thon aussehende Masse aus „vorherrschend
Magnesia, Eisenoxyd, Thonerde, Kieselsäure und Spuren
von Kalk und Phosphorsünre“. Sie dient den Eingeborenen
übrigens nicht als Nahrung, sondern als Leckerei. Die
Leute ani Angriffshafcn schienen gewisse Nähruiuschclu zu
lieben, so Batissa violacea und B. angulata, Neritina Petiti.
Von einigem Belang, stellenweise sogar von beachtens-
werthcr Bedeutung ist dagegen die Fischerei im Nordosten
Neuguineas. Die dazu dienenden Gerüche sind mannig-
faltig; in erster Littie nennen wir Netze, in Filetmanier
gefertigt, darunter sehr große Zugnetze, ferner eigenthüm-
liche konstruirte Fallen und mehrzackige Speere. Angeln
kennt man nicht, wohl aber Fischhaken ans Schildpatt oder
Tridacna-Muschel, die man an einer langen Leine hinter dem
schnellsegelnden Kanu herzieht; der weiße leuchtende Muschelstift
in Verbindung mit dem daran befestigten hellfarbigen Faser-
büschel genügen, ohne besonderen Köder, Raubfische — meist
Boniten — zum Anbeißen zn reizen. Auf Trobriand fängt man
mit starken hölzernen Haken mit Vorliebe Haifische. Außer
den genannten Boniten (einer Thnnfischart, durchschnittlich
von 9 kg Gewicht) fängt man noch kleine, sprottenartige
Fische. An einigen Stellen versteht man sogar das Räu-
chern der Fische; so in Massilia, wo die Thiere in Form
einer Spirale, Fisch an Fisch, jeder mit der Schwanzspitze
die Schnauze berührend, an einem Stocke befestigt werden.
Wegen des Mangels an Salz können sich aber auch ge-
räucherte Fische nicht lange halten, und nehmen bald einen
üblen Geschmack an.
Im Zusammenhange mit der Fischerei ist der Wasser-
fahrzeuge zu gedenken, von beiten es mehrere Formen giebt.
Zu den einfachsten gehören die besonders an der Ostküsic
gebräuchlichen Catamarans; dies sind einfache Bambnflöße
von etwa 3 m Länge und 1 m Breite. Komplieirter sind
die Kanus z. B. an der Astrolabebai, die aus einem aus-
16*
124
Dr. A. Oppel: Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea.
gehöhlten Baumstämme von 6 m Länge und 60 cm Tiefe,
aus einem durch Querstangen mit dem Stauuue verbun-
denen Auslegerbalken, und ans einer von den Querstangen
getragenen Plattform bestehen; letztere dient zur Ausnahme
von Personen, Vorrüthen und Waffen. Die vollkommensten
Fahrzeuge von ganz Neuguinea sind die vielfach auf den
d'Entrecasteaux-Jnseln vorkommenden, bis 20 m laugen Segel-
Kanus, deren Konstruktion indeß ohne Zeichnung nicht gut
erklärt werden kann. Wir verweisen daher auf den den
„Samoafahrten" beigegebenen „EthnologischenAtlas,Typen
ans der Steinzeit Neuguineas enthaltend", Taf. VI.
Einen weiteren, wenn auch nicht belangreichen Bestand-
theil der wirthfchaftlichen Thätigkeit der Papua bildet die
Viehzucht; diese beschränkt sich in der Regel auf Schweine
und Hunde. Die ersteren sind Abkömmlinge der Wild-
schweine, von denen Neuguinea zwei eigenthümliche Arten
besitzt. Die Thiere werden von den Frauen mit großer
Sorgfalt gepflegt und werden ganz zahm; überhaupt sind
Ferkel nebst jungen Hunden die erklärten Lieblinge der
Papua-Frauen, und Finfch sah nicht selten Frauen außer
ihrem Kinde noch ein kleines Schwcinchen sängen. Wie
die Schweine, werden auch die Hunde gegessen, aber nur
bei festlichen Gelegenheiten aufgetischt. Außer diesen beiden
Thierarten findet man an der Astrolabe-Bei noch Hühner; sie
sind aber nicht Hausthiere im Sinne der unseren, werden
auch nicht des Fleisches und der Eier, sondern hauptsächlich
der Federn wegen, die als beliebter Kopfputz dienen, in be-
schränkter Zahl gehalten. In den Dörfern sieht man viel-
fach nur ein paar Hähne, während die Hennen meist versteckt
tut Walde leben.
Im Vorstehenden war ausschließlich von den ans Be-
schaffung von Nahrungs- und Genußmittcln gerichteten
Beschäftigungen der Papuas die Rede; aber damit ist ihre
Thätigkeit noch lange nicht erschöpft, vielmehr ist noch der
(Summe von Arbeit und Nachdenken Erwähnung zu thun,
welche auf die Herstellung der Waffen, der mancherlei
Ge räth e und der zahlreichen, oft mit großem Geschicke
zusammengesetzten Sch m u ck g e g e n st ä n d e verwendet wird,
nicht zu reden von den Häusern, die stellenweise als
wahre Kunstwerke bezeichnet werden müssen. Indeß würde
uns die Erörterung aller dieser Verhältnisse viel zu weit
führen. Wir beschränken uns daher auf die Erwähnung
solcher Arbeitsleistungen, welche über das gewöhnliche Be-
dürfniß hinausgehend, einen Handelsartikel abgeben. In
dieser Richtung ist vor allem der Töpferei zu gedenken,
wie sie an mehreren Stellen z. B. auf der Teste-Jnsel (nahe
den Louisiaden), auf dem Jnselchen Bilibili (bei Friedrich-
Wilhelnlshafen) und an der Gauß-Bucht betrieben wird. Die
Herstellung der Töpfe ruht durchaus in den Händen der
Frauen und geschieht in der Weise, daß aus dem Thon
mit den bloßen Händen wnrstartige Rollen geformt, und
diese dann an- und übereinandergelegt werden, bis das ge-
wünschte Gefäß in rohen Umrissen dasteht. Darauf wird
die Außenseite geglättet, eine Art Handelsmarke eingeritzt
und der Brand ausgeführt. Man macht in Bilibili vor-
zugsweise zwei Arten Töpfe, solche mit weiter Oeffnung
zum Kochen und solche mit enger als Wassergcfäße. „Wie
Port Moresby an der Südostküste Neuguineas das Centrum
der Töpferei und des Topfhandels bildet, so Bilibili für die
Astrolabe-Bai und wahrscheinlich weiter hinaus." Die Töpfe
— „Wab"— welche Finsch in Konstantinhasen sah, stammten
von dort, und bei einem Besuche, den die Bilibiliten unserm
Reisenden abstatteten, brachten sie gleich ganze Kanu-Ladungen
ihres Fabrikates mit. Die Töpfe der Leute an der Ganß-
Bncht stimmen in der Form mit denen von Bilibili überein;
doch gab es hier außerdem noch Gefäße von kolossaler
Größe, die als Behälter für Sago dienten. „Keramik",
sagt Finsch, „schien auch hier eine Quelle des Wohlstandes
und Reichthums, denn es gab Töpfe im Ueberfluß."
Was nun fernerhin den Handel anbelangt, so beschränkt
sich dieser im wesentlichen ans das regelmäßige Tauschge-
schäft, das die Leute mit Hülfe ihrer Kanus unter sich treiben,
und wovon wir den vornehmlichsten Zweig —den Topfhandel—
eben erwähnt haben. Der Verkehr mit Fremden, d. h. mit
Weißen, war bis zur Besitzergreifung seitens Deutschlands
und Englands ein durchaus gelegentlicher, und nur ans das
vereinzelte Erscheinen von Schiffen und Forschern beschränkt.
Infolgedessen hatten bis zu Finsch' denkwürdiger Küstenfahrt
manche Gruppen von Eingeborenen überhaupt noch keinen
Weißen gesehen. Daher erklärt es sich auch, daß das allge-
meine Verhalten der Leute je nach den Oertlichkeiten ein
durchaus verschiedenes, ja fast entgegengesetztes war: an dem
einen Punkte nämlich zeigten sie sich gegenüber der Annähe-
rung der Samoafahrer scheu, zurückhaltend und fast abwei-
send, an einem anderen waren sie freundlich und entgegen-
kommend, ja liebenswürdig, an einem dritten waren sie
unschlüssig, ob sie mit den Ankömmlingen in Verkehr treten
sollten, an einem vierten benahmen sie sich so lärmend und
übermüthig, daß Vorsicht geboten schien u. s. w. Wenn nun
aber auch an den meisten Orten Neigung zum Stehlen
hervortrat, so schwebten die Samoafahrer doch nirgends in
einer ernstlichen Gefahr, und das verdient hervorgehoben zu
werden gegenüber der Beobachtung, daß an gewissen Theilen
der Ostküste die Unsitte des Kannibalismus noch im
Schwünge ist. Ebenso verschiedenartig wie das allge-
meine Benehmen zeigte sich die Kenntniß der Eingeborenen
hinsichtlich fremder Gebrauchsgegenstände. Viele Gruppen
hatten nicht die geringste Ahnung, was sie mit den ihnen
vorgezeigten europäischen Sachen, wie Eisen Messer,
Spiegel u. dergl. machen sollten. Andere wieder nannten
dies und jenes oder verlangten sogar, daß ihnen bestimmte
Dinge vorgelegt würden. Die Leute von Bongn an der
Astrolabe-Bai z. B. forderten hauptsächlich Eisen, Beile und
Aexte, deren Gebrauch durch den Aufenthalt des russischen
Naturforschers Miclncho Maclay bekannt geworden war:
um Messer dagegen gaben sie weniger, für andere Artikel
aber wie Spiegel, Glasperlen, Fingerringe u. dergl. zeigten
nur Frauen und junge Leute Interesse. Ueberhaupt machte
Finsch die Erfahrung, daß bunter oder glänzender euro-
päischer Tand bei den von ihm besuchten „Wilden" keines-
wegs so wirkungsvoll ist, wie es in einigen Theilen Afrikas
der Fall sein mag; solche Sachen erregen wohl Aufmerk-
samkeit, verlieren aber die Anziehungskraft bald. Der
Sinn der Leute richtet sich vielmehr auf Praktisches, also
z. B. auf Eisen in irgend einer ihnen passenden Form. Am
begehrtesten sind kleiner Stücke Flacheisen, in Ermangelung
solcher Hobeleisen, ja selbst starkes Bandeisen, weil derartige
Eisenstücke ganz in derselben Weise an die knieförmigen
Holzstiele der Steinbeile befestigt werden können, wie die
selbstgefertigten Steinklingen.
Aus den sämmtlichen, vorstehend gemachten Mittheilungen
dürfte das zweifellose Ergebniß hervorgehen, daß die Papuas
von der Nord- und Ostküste Neuguineas ihre regelmäßige
Beschäftigung haben, d. h. daß sie arbeiten. Die Art ihrer
Arbeit ist freilich von der unsrigen recht verschieden. Ein
gewisser Eifer, zumal bei neuen Dingen, ist wohl vorhanden,
aber das Feuer, das sie bei solchen Gelegenheiten entwickeln,
erlischt, wie mit Stroh genährt, bald. Ein volles Tage-
werk schwerer, anstrengender Arbeit durchzuführen, ist daher
ihre Sache nicht, wenigstens nicht gegenüber den von den
Weißen gestellten Anforderungen. Denn, daß es den Leuten
an Geduld und Ausdauer schlechthin fehle, wird man nicht
behaupten wollen, wenn man die Sorgfalt ihres Ackerbaues,
die mühsauie zeitraubende Herstellung der Schmucksachen,
Kürzere Mittheilungen.
125
die Langwierigkeit der Holzbearbeitung an Waffen, Kanus
und Häuser bedenkt! Leute, die so schöne Kanus besitzen
wie die Bewohner der Astrolabe-Bai, oder Leute, die 50
luxuriöse Bauten errichten wie sie an der Humboldt-Bai
stehen, wird man nicht sanl nennen können. Was den
Unterschied in der Auffassung und Leistung von Arbeit
bewirkt, das ist die Gewohnheit oder anders ausgedruckt die
Eigenart der Lebensverhältnisse, die in gewissen Theilen von
Neuguinea ganz unberührt und ungeschmälert ist, und daher
die vorhandenen Gegensätze mitvoller Schärfe hervortreten läßt.
Zum Schluß mag noch auf eine Eigenthümlichkeit hin-
gewiesen werden, die wohl schon gelegentlich berührt worden
ist, ich meine die bemerkenswcrthe Verschiedcnartigkeit
in den Besitzverhältnissen der Eingeborenen Neu-
guineas. Gar zu leicht verbindet sich mit dem Begriff
des Naturzustandes die Meinung als ob da allgemeine
Gleichheit des Besitzes herrschte. Aber das ist ein großer
Irrthum! Denn auch hier giebt es Reich und Arm, auch
hier genießt, wie überall in der Welt, der Wohlhabende ein
größeres Ansehen als der Dürftige, und auch hier ist der
jeweilige Wohlstand von zwei Hauptbedingnngen abhängig,
einerseits nämlich von der Gunst des Wohnorts, anderseits
von dem Fleiße und dem Geschick der Bewohner. In
manchen Gegenden machten in der That die Eingeborenen
auf die Samoafahrcr den Eindruck der Aermlichkeit, so z. B.
die von Dampier-Jnsel und bei Cap Rigny au der Maclay-
küste; erstere waren armselig wie ihre roh aus einem Baum-
stamm gezimmerten Kanus und brachten nichts als ein paar
alte vertrocknete Kokosnüsse, einige Betclnüsse und Tabak-
blätter, hatten aber keinerlei Waffen, und von sonstigen
Arbeiten nicht viel mehr. Au anderen Punkten dagegen
schienen die Leute in Wohlstand und Behäbigkeit zu leben,
so z. B. aus den d'Entrecastaux, bei Guap, an der Gauß-
bucht und Bilibili. Solcher Papua-Reichthum findet seinen
Ausdruck in dem entsprechenden Besitz an dem, was der
Papua eben für werthvoll hält, und das sind besonders
Lebensrnittel, Waffen, Geräthe, Werkzeuge, Kanus und
Schmucksachen. Geld dagegen ist unbekannt, selbst in der
Form von Muschelgeld, das bekanntlich in Neubritannien
unter ben Namen „diwarra“ vorkommt.
Daß die vorstehend geschilderten Zustünde im Erwerb
und Besitz der Papua am längsten gedauert haben, unter-
liegt keinem Zweifel, denn die Erfahrung lehrt, daß die
Kultur von Naturmenschen, so eigenartig sie auch sein mag,
dem Vordringen fremden Einflusses keinen zähen Widerstand
entgegenzusetzen vermag. Die Zersetzung tritt ein, und zwar
um so schneller, je häufiger der Verkehr stattfindet und je ent-
schiedener die Ankömmlinge das mitunter nur vermeintliche
Recht der höheren Civilisation geltend machen. Tod und
Verderben hat bisher der weiße Mann vielfach in der
Südsce unter die ohnehin dünnen Schaaren der Einge-
borenen gebracht. Man denke an Tasmania und an Neu-
seeland! Möge es den Vertretern unseres Volkes, denen
zum ersten Male die Aufgabe gestellt wird, mit Einge-
borenen zusammen zu leben, beschieden sein, einen besseren
modus vivendi zu finden!
Kürzere Mi
Die Ausrottung der Seekuh.
Nordeuskiöld's Behauptung, daß Rhytina Stellen wenig-
stens in einem Exemplare noch bis 1854 gelebt habe, hat
die Frage nach der Ausrottung der Seekuh wieder einmal
zu lebhafterer Diskussion gestellt und für eine kurze Zeit
sogar hie und da die Hoffnung geweckt, die interessante Art
noch in irgend einer abgelegenen Bucht des Beringsmeeres
lebend vorzufinden. Leonhard Stejneger, der im Auftrage
der amerikanischen Regierung anderthalb Jahre in diesen
Gewässern verweilte, hat aber alsbald nachgewiesen, daß das
Thier, welches Nordeuskiöld's Gewährsmänner gesehen haben,
eher alles andere gewesen sein kann, als eine Rhytina, und
er giebt nun in der Dezembernummer des „American Na-
turalist“ nach russischen Quellen eine Geschichte der Aus-
rottung der Seekuh, welche die ältere Annahme von deren
Ausrottung vor 1768 vollständig bestätigt.
Als Steller 1741 die Seekuh entdeckte, war das riesige
Thier schon auf die Gestade der Beringsinsel und der
Kupferinsel beschränkt, wo es sich in Heerden an der Mün-
dung der Bäche und Flüßchen aufhielt und dort die Algen —
besonders die größeren Laminarien — abweidete. Es war das
offenbar der letzte erhaltene Rest einer früher weit verbreiteten
Spezies, die bei ihrer Wehrlosigkeit und Hülflosigkeit an
allen von Menschen besuchten Küsten längst ausgerottet war.
Stejneger hat sorgsam alle Weideplätze, welche ihnen an
den Küsten beider Inseln Nahrung bieten konnten, unter-
sacht im ganzen 15 —und so kaun die Anzahl der Thiere schon
bei ihrer ersten Entdeckung nicht mehr als höchstens 1500
betragen haben. Von dem Moment an, wo die Nachricht
t h e i l u n g e n.
von diesem Thiere und seinem wohlschmeckenden Fleische
nach Kamtschatka kam, besuchten alle Jagdexpeditionen,
welche zur Seeotterjagd an den Aleuten oder an der Küste von
Nordamerika auszogen, die Inseln, um sich zu verproviautircn
und brachten meist den ersten Winter dort zu, um eine
möglichst große Quantität Fleisch einzusalzen. Das hülstose
Thier wurde harpunirt und ans Land geschleppt, von seinem
Fleisch aber nur so viel verwendet, als sich am ersten Tage
verarbeiten ließ, da es am zweiten schon verdorben war.
Diese rasch vorschreitende Fäulniß zwang auch die Jäger, für
ihre Nahrung immer neue Seekühe zu tobten und nur einen
ganz geringen Theil ihres Fleisches zu verwerthen. Stejneger
hat aus den Akten in Petropaulowsk nicht weniger als
21 größere Expeditionen notirt, welche von 1743 bis 1763
ans der Beringsinsel überwinterten; von 1754 bis 1755
waren es 133 Leute, welche ausschließlich von Seekuhfleisch
lebten. So ist es kein Wunder, daß schon 1754 der Berg-
ingenieur Jakovleff, der mit der Erforschung der Minen auf
der Kupferinsel beauftragt war, nicht mehr auf dieser Insel
überwintern konnte, weil die Seekuh — nenn Jahre nach der
Entdeckung — dort schon vollständig ausgerottet war. Eine
Menge Thiere gingen ganz nutzlos zu Grunde, indem sie
von einzelnen Jägern verwundet wurden, und dann nicht ans
Ufer gebracht werden konnten; sie flüchteten aufs hohe Meer,
verendeten dort, und blieben völlig unbenutzt, wenn nicht
die Wellen sie noch am selben Tag ans Ufer spülten. Jakov-
leff versuchte vergeblich, die Behörden von Kamtschatka zu
einer Schutzmaßregel für die nützlichen Thiere zu bewegen,
die Ausrottung dauerte also fort.
126
Aus allen Erdtheilen.
Schon mit dein Jahre 1763 hörten die Ucberwinterungen
der Jagd-Gesellschaften auf der Beringsinsel auf; die Seekilh war
so selten geworden, daß sie nicht mehr das nöthige Fleisch-
quantum liefern konnte. In den vier Jahren bis 1768
mag sich die Zahl wieder ein wenig vermehrt haben, denn
eine Expedition unter Popoff, welche 1768 Blaufüchse auf
der Jusel jagte, konnte wieder hauptsächlich von Seekuhfleisch
leben, aber als 1772 Demitri Bragiu dort überwinterte,
suchten seine Jäger vergeblich nach dem Thiere. Seitdem ist
nie wieder ein Exemplar gesehen worden, und die Angabe
Saner's, daß Rhytina Stellen in 1768 ausgerottet worden,
muß als definitiv richtig angesehen werden. Ko.
Aus allen
Europa.
— Dem kürzlich erschienenen „Statistischen Jahrbuche"
(Jahrgang 1888) entnehmen wir folgende.Daten über die
wirthschaftliche Entwickelung des Deutschen Reiches.
Die Ausfuhr des Reiches bezifferte sich im Jahre 1887 auf
3 190147 000 Mk. (gegen 3051371000 Mk. im Jahre 1886),
die Einfuhr auf 3188 708000 Mk. (gegen 2944 854000 Mk.
im Jahre 1886). In der Ausfuhr verhielt sich der Werth
der Fabrikate zu dem der Rohstoffe ungefähr wie 3:1, in
der Einfuhr dagegen ungefähr lvie 1:2. Der Rauminhalt der
deutschen Handelsflotte betrug 1887 1 284 703 Tonnen,
wovon reichlich 35 Proc. auf die Dampfer kamen. Die
Nordseeflotte lernte die Ostseeflotte im Verlaufe der letzten
Jahrzehnte immer mehr überwiegen, was in sehr deutlicher
Weise die zunehmende „Oceanität" des deutschen Wirth-
schaftslebens bekundet. 1871 bis 1875 faßte die Ostsee-
flotte 458 943 Tonnen, die Nordseeflotte 555 519 Tonnen,
1887 dagegen die Ostseeflotte nur 396 666 Tonnen (davon
30 Proc. Dampfer), die Nordseeflotte aber 888 037 Tonnen
(davon 37 Proc. Dampfer). Insgesammt wurden im
Jahre 1886 von deutschen Schiffen 63 517 Seereisen unter-
nommen (gegen 47 317 in den Jahren 1873 bis 1875),
und in den sämmtlichen Häfen des Reiches liefen 57 014
Schiffe (10 048 236 Tonnen) ein. Die Schiffahrtsbewegung
von Hamburg betrug 1886 : 7 491 423 Tonnen (12 963
Schiffe), diejenige von Stettin 2 077 665 Tonnen (6654
Schiffe), diejenige von Bremerhaven 1 863 739 Tonnen
(2607 Schiffe). — Eisenbahnen besaß das Reich 1886 bis
1887 37 966,9 km, also 70,2 km auf je 1000 qkm und
80,6 km auf je 100 000 Einwohner. Die Zahl der auf
sämmtlichen Linien zurückgelegten Personenkilometer belief
sich in demselben Wirthschaftsjahre auf 8 385 161 000, die-
jenige der zurückgelegten Tonnenkilometer auf 16516277000,
was in beiden Füllen, namentlich aber in dem ersteren, eine
starke Zunahme gegen das Vorjahr ergiebt. — Das deutsche
Telegraphennetz maß Ende 1886 86 199 km, und die Zahl
der eingegangenen Telegramme betrug 16 906 117, die Zahl
der eingegangenen Briefe aber 1 223 239 000. — DieKohlen-
produktion des Reiches bezifferte sich 1886 auf 73 682 000
Tonnen, die Roheisenproduktion ans 3 528 700 Tonnen,
die Roggencrnte auf 6 092 849 Tonnen, die Haferernte auf
4855 894 Tonnen, dieWeizenernte auf 2 666 423 Tonnen,
die Gerstenernte auf 2 337 206 Tonnen und die Kartoffel-
ernte auf 25 143 229 Tonnen. — Durch Auswanderung
verlor das Deutsche Reich im Jahre 1886 99 712 Personen,
während die natürliche Bevölkerungszunahme (der Ueberschuß
der Geburten über die Todesfälle) 512 396 betrug.
— Welche Bedeutung die deutsche Kolonisation
für Rußland gehabt hat, zeigen die neuesten statistischen
Anfstellnugen über die Zahl der Fremden in Rußland.
Danach wurden in den Jahren 1764 bis 1866 nicht weniger
E r d t h e i l e n.
als 549 Ackerbaukolonien in Rußland begründet, und mehr
als 75 Proc. derselben durch deutsche Einwanderer. Weitaus
der größte Theil dieser Kolonien befindet sich in den Gou-
vernements Samara, Saratow, Krim, Cherson, Jekatcrioslaw
und Bessarabie«.
— Nach Dr. Hans Reusch, vom norwegischen meteoro-
logischen Institut, sind Erdbeben in Norwegen eine viel
häufigere Erscheinung, als man gewöhnlich glaubt. Im
Jahre 1887 ereigneten sich nicht weniger als 23, von denen
freilich nur einige so stark waren, daß sie allgemein empfunden
wurden. Die stärksten beobachtete man ans den Bömmel-Jn-
seln, auf den Lofoddeu Vacrö und Röst, und bei Bodö. Auf-
fällig zahlreiche schwache Stöße wurden auf Itterö, das sehr weit
draußen im Oceane liegt, notirt (Vergl. „Nature“ 38, p. 326).
— Henri Meyners d'Estrey wird im Auftrage des
französischen Unterrichtsministeriums eine Forschungsreise
in die Gebirgsgegenden Skandinaviens unternehmen,
und dabei seine Aufmerksamkeit namentlich gewissen ethno-
logischen und anthropologischen Fragen zuwenden.
A s i e u.
— Der russische Reisende Lidskp hat in den letzten
Monaten das östliche Buchara und Karateghin durchforscht.
Seine Absicht, von Schaar-i-sabz über den Sangardak-Paß
nach Hissar zu gehen, wurde tut Juni noch durch die Schnee-
massen vereitelt, die den Paß füllten, und er mußte deshalb
auf einem Umwege nach dem Thäte des Surkhan gelangen.
In diesem von alljährlichen Ueberschwemmungen heimgesuchten
Wiesenthale drang er bis Garm und Karatagh vor. Von
da aus besuchte er Faisabad und das obere Daschti-Bidona-
Thal. Das letztere ist in Wahrheit eher ein Plateau zu
nennen — eins von den bekannten „Pamirs" oder „Syrien",
die die Gegend charakterisiren. Es lagert sich zwischen die
Thäler des Surkhab und des Kafirningan. — In der Haupt-
sache ist das Land in seinen tieferen Theilen fruchtbar, und
in seinen höheren Theilen von Wald bedeckt. Eine große
Schattenseite ist aber seine strenge Gebirgsumrahmung und
seine schwere Zugänglichkeit. Der Paß, der von Karateghin
nach Samarkand führt, liegt volle 3850 m hoch. — Der
Schnee erschwerte dem Reisenden oft das Fortkommen
außerordentlich, und an vielen Stellen war dasselbe nur durch
das Legen von Filzbändern zu ermöglichen (Vergl. „Compte
rendu“ der „Pariser Geogr. Gesellschaft", 1888, p. 336).
— Der englische Konsul E. L. Oxenham bespricht in
seinem Konsularberichte aus Kiang-su die bekannte Strom-
lanf-Aeuderuttg des Hoangho (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 129, 224 und 383) und vertritt dabei die Meinung,
daß der Beschluß der chinesischen Regierung, den Fluß in
sein nördliches Bett zurückznleiten, ein weiser zu nennen sei.
Falls es dem Hoangho gestattet werde, sein neues Bett bei-
Aus allen Erdtheilen.
127
zubehalten, so werde daraus nichts als Unheil für die tief
gelegene, dicht bevölkerte und wohl bebaute Provinz Kiang-su
hervorgehen. Die durch das Hochwasser des Jangtsekiang
gespeisten Seen (Hnng-tse-hu, Kao-jeu-hu, Kuang-jang-hu,
Lo-jang-hu re.) seien ohnehin schon eine beständige große
Gefahr für die Gegend. Um ähnliche Katastrophen wie die
von 1887 für die Zukunft zu verhüten, solle man sich aber
nicht damit begnügen, den Dammbruch bei Tschöng-tschni zu
verstopfen, sondern man solle gleichzeitig eine umfassende Auf-
forstung der Gebirge von Schan-si und Schen-si vornehmen.
Wir fürchten, daß Herr Oxenham bei diesem seinen Vor-
schlage nicht genügend mit dem durchlässigen und waldfeindlichen
Lößboden Nordwest-Chinas rechnet. Thatsächlich ist übri-
gens die fragliche Dammbruch-Stopfung bis jetzt nicht ge-
lungen, und der Sommermonsun ist soeben im Begriffe, neue
gewaltige Regcnfluthcn auf Schan-si, Schen-si, Kuang-su und
Ho-nan niedergehen zu lassen, so daß bedrohliche neue Hoch-
wasser in den Tribntärströmen des Hoangho sowie in dein
Hoangho selbst unausbleiblich erscheinen.
— Die aus Atjeh einlaufenden Berichte sind fortdauernd
sehr trübe gefärbt, und mehr als je beherrschen die Ange-
legenheiten von Atjeh alle andere Fragen in Niederländisch-
Jndien. Trotz aller Desinfektion nimmt die Bcrri-Berri-
Krankheit zu, sie wüthet nicht allein unter den den Anstren-
gungen des Krieges bloß gestellten Soldaten, sondern ergreift
auch die in den Bureaux thätigen Officiere und die europäi-
schen Frauen; letzteres ist bisher noch nie beobachtet worden,
und diese ganz neue Erscheinung scheint darauf hinzudeuten,
daß der Grund der Krankheit weder in dem in den Kasernen
und Militärgebäuden enthaltenen Ansteckungsstoffe, noch in der
übergroßen Abmattung der von derselben ergriffenen Personen
zu suchen ist. Erregt also in dieser Hinsicht die weitere Aus-
breitung der Krankheit große Aufmerksamkeit, so ist dies auch
hinsichtlich der Veränderungen, welche ihre Erscheimmgen
zeigen, der Fall. In neuerer Zeit sind plötzliche Todesfälle
durch Berri-Berri vorgekommen, ohne daß vorher bei den
betreffenden Personen das kleinste Symptom der Krankheit
beobachtet worden wäre. Unter diesen Umständen hat die so
entsetzlich um sich greifende Krankheit mehr und mehr den
schrecklichen Charakter des Unerforschlichen und Unvermeid-
lichen angenommen. Kein Wunder, daß die Stimmung sehr-
gedrückt ist. Auch der Guerillakrieg dauert fort; die Con-
centration der Truppen hat den Feind nicht ermüdet, sondern
ihn, wie es scheint, in der Ueberzeugung bestärkt, daß das
Verschwinden der holländischen Truppen aus Atjeh nur eine
Frage der Zeit ist.
— Nach einer Mittheilung des russischen Reisenden Ko-
rotnew, der zum Zwecke zoologischer Beobachtungen die
hinterindische Inselwelt bereist hat, hat sich die Stätte des
durch den bekannten Vulkanausbruch zerstörten Anjer auf
Krakatau nicht blos rasch wieder mit einer üppigen Vege-
tation bekleidet, sondern es sind darauf auch bereits wieder
mehrere kleine Ortschaften entstanden. Das Meer dagegen
fand Korotncw noch weit und breit mit Bimsteinstücken bedeckt,
und ohne alles Thierleben (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 237 f.).
— Der offizielle Bericht über die Fortschritte des
britischen Nord-Borneo seit 1881, wo die betreffende
Kompagnie ihren „Charter" erhielt, lautet sehr günstig, und
derselbe verdient namentlich im Hinblick auf unser Kaiser-
Wilhelmsland Beachtung. 1883 waren die Ausgaben der
Borneo-Gesellschaft noch fiiufmal größer als die Einnahmen,
heute sind die Einnahmen größer als die Ausgaben. Der
Export der Kolonie bezifferte sich 1883 auf 159 000 Dollars,
1887 aber ans 535 000, und der Import stieg in dem
gleichen Zeitraume von 429 000 Dollars auf reichlich eine
Million. Sehr bedeutend hat sich die Tabakknltur ent-
wickelt, und das betreffende Produkt rivalisirt erfolgreich mit
demjenigen Sumatras. Im übrigen sind die Hauptexport-
artikel: Bienenwachs, eßbare Vogelnester, Kampfer, Kokos-
nüsse, Kaffee, Früchte, Nutzhölzer rc. — Die Fläche der
Kolonie wird auf 31,106 engl. Quadratmeilen angegeben
und die Einwohnerzahl auf 150 000. Verhältnißmäßig
beträchtlich war die chinesische Einwanderung, und es wird
derselben, da ihr ein guter Theil der wirthschaftlichen Ent-
wickelung zu danken ist, keinerlei Hinderniß in den Weg gelegt.
Afrika.
— Der englische Reisende Joseph Thomson, von dem
wir wiederholt berichtet haben (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 239 und Bd. 54, S. 31), hat den Atlas ohne
jede bemerkenswerthe Abenteuer überschritten und von Gnn-
dafy aus einige Exkursionen unternommen. Zuletzt hat
ihm der Kaid des Ortes aber Schwierigkeiten bereitet, indem
er ihm verboten hat, das Zelt vor seiner definitiven Abreise
fernerweit zu verlassen. Thomson kehrte von Gundafy aus
auf einem südlicheren Wege nach Amsmiz zurück, während
sein Begleiter Crichton-Browne dem Refis-Flusse folgen und
auf diese Weise nach Amsmiz gelangen sollte.
— Camille Coquilhat, der an der Begründung und
Verwaltung des Kongostaates in einem hervorragenden Maße
betheiligt gewesen ist, hat ein Buch über den oberen
Kongo geschrieben, in dem er besonders von der Aeqnator-
Station sowie von den Vangala und von Stanley Falls handelt.
Trotz der kritischen Lage, die durch die Araber-Invasion in
der Gegend geschaffen worden ist, hält er an der Hoffnung
fest, daß die europäische Civilisation und der europäische
Handel daselbst eine Stätte finden werden, sobald sich nur erst
mehr Kapitalien in dem Kongo-Werke engagiren.
— Die Gründung des Forts Seguiri, die der
französische Oberst Gallieni im April d. I. beendigt hat, ist
nach „Tour du Monde“ (27ème année, Nr. 1439) ein
ziemlich schwieriges Werk gewesen. Das Land zwischen
Niagassola und Seguiri, das von der betreffenden militäri-
schen Expedition zu durchmessen war, war nicht nur beinahe
vollkornmen unbekannt, sondern auch von einer dichten Ur-
waldvegetation bewachsen, und von zahlreichen Bächen und
großen Strömen durchflossen, die von der Artillerie und den
Wagen nur verinittelst Brücken überschritten werden konnten.
Bei Kokoro mußte namentlich eine große Hängebrücke aus
Eisendraht hergestellt werden. Steine zürn Bau, sowie auch
Holz fand man zwar in der Nähe des ansersehenen Platzes,
aber trotzdem kostete es Mühe genug, sie an Ort und Stelle
zu bringen. Den Kalk mußten die Muscheln des Niger
liefern. Glücklicherweise verhielten sich die Eingeborenen
freundlich, sie leisteten beim Baue hilfreiche Hand, und es
gelang ebenso die Sofas von Samory von einem Angriffe
fernzuhalten. Nachdem das Fort fertiggestellt ist und eine
auf ein ganzes Jahr verproviantirte und mit Munition ver-
sehene Compagnie Senegal-Tiralleure sich darin häuslich
eingerichtet hat, hat Frankreich einen neuen starken Stützpunkt
für seine aggressive Kolonialpolitik im Nigcrgebiete ge-
wonnen. — Seguiri liegt an dem Zusammenflüsse des
Tankisso mit dem Niger. — Daß das Fort mit Niagassola
durch eine Telegraphenlinie verbunden worden ist, berichteten
wir bereits früher (S. „Globus", Bd. 53, S. 240). In
Ober-Guinea soll es den Franzosen gelungen sein, sich die
Schutzherrschaft über Abeoknta, im Hinterlande von
Lagos, zu sichern, so daß der französische Einfluß also auch
in der nächsten Nachbarschaft des deutschen Togo-Gebietes
im Wachsen zu sein scheint.
— Die Expedition des Lieutenant Plat nach
Futa-Djallon, welche Oberst Gallieni entsandt hat, ist
128
Aus allen Erdtheilen.
von dem besten Erfolge begleitet gewesen, und sie hat dazu
geführt, eine ganze Anzahl „Almamys" unter das französische
Protektorat zu stellen. Freilich hat dies nicht verhindert,
daß der Offizier Olivier von den fanatischen Eingeborenen
ermordet worden ist.
— Charles Söller befürwortet in dem „Bulletin“
der Handelsgeographischen Gesellschaft zu Paris (X, p. 280 ff.)
die wirthschaftliche Nutzbarmachung der Insel Ar-
guin, die nahe dem äußersten Nordpunkte der Küste des fran-
zösischen Sudan gelegen ist, und die sich nach seiner Meinung
sowohl in vorzüglicher Weise dazu eignen würde, als Hanpt-
platz der aussichtsvollen westafrikanischen Fischerei, als auch
als ein Hauptausgangspnnkt der Karawanenstraßen nach
Timbuktn zu dienen. Mit gutem Grunde weist Herr Söller
dabei auf die Erfolge der von Donald Mackenzie im Jahre
1878 am Kap Dschnby gegründeten englischen Faktorei hin,
die nur den Nachtheil habe, auf einer schlechter nahbaren,
niedrigen Insel, und zu nahe bei dem Festlande zn liegen,
so daß sie bereits dreimal von den europäerfeindlichen
Sahara-Nomaden überfallen und zerstört werden konnte
(zuletzt im Jahre 1887). Der Kanal zwischen Arguin und
dem Festlande ist li/2 Meile breit, und die daselbst gelegene
Rhede ist gut zugänglich und sicher. Vor zweihundert Jahren
war die Insel Arguin kurbrandenbnrgischer Besitz.
Südamerika.
— Marcel Monnier hat in einer der letzten Sitzungen
der Pariser Geographischen Gesellschaft über seine Reise
quer durch Südamerika (1886 bis 1887) Bericht
erstattet. Seine ursprüngliche Absicht, in der Republik
Ecuador die Anden zu übersteigen, um daun im Thale des
Rio Pastassa zum Amazonas zu gelangen, mußte er aufgeben,
weil die Bevölkerung des Plateaus gerade von großer Furcht
erfüllt war bitrcE) den heftigen Wiederausbruch des Tunqu-
ragua-Vulkans, der an dem Wege lag. Dagegen drang er
in Peru über die West-Cordillere zum Maranonthale, bei
Pataz, und dann von Tayabamba über die Ost-Cordillere
zum Huallaga-Thale vor, um den Rio Huallaga bis zu
seiner Vereinigung mit dem Maranon, also auf einer Strecke
von 550 Irin zu verfolgen, und vermittelst eines Floßes
(„balsa“) seine 42 Stromschnellen zu passiren. In einer
Faktorei am Maranon gelang es ihm, einen kleinen Dampfer
zu miethen, und mit Hülfe desselben die Pastassa-Mündung,
sowie auf diesem Flusse aufwärts fahrend, das Gebiet von
Ecuador zu erreichen. Die Feindseligkeit der Achuelos-
Jndianer und die wachsenden Hindernisse der Stromschiffahrt
zwangen den Reisenden aber dort bald umzukehren. Den
Maranon und Amazonas abwärts kam er dann über Manaos
nach Para, nachdem er zwischen dem Pacifischen und Atlan-
tischen Ocean eine Wegstrecke von ungefähr 7000 lun zurück-
gelegt hatte.
Australien und Polynesien.
— Die Herren von der deutschen Neuguinea-Expe-
dition sind sämmtlich wieder nach Deutschland zurückgekehrt,
und ihre Berichte sollen demnächst von der Neuguinea-Com-
pagnie veröffentlicht werden. Der Botaniker der Expedition,
Herr Dr. Max Hollrung, hat außerdem am 7. Juli vor der
„Berliner Gesellschaft für Erdkunde" einen längeren Bortrag
über seine Forschungen im Kaiser-Wilhelmsland gehalten.
Von der Entwickelungsfähigkeit der großen deutschen Kolonie
hegt dieser Reisende eine sehr günstige Meinung.
— Lieutenant Israel hat, im Aufträge von Kapitalisten
der Kolonien Victoria und Westanstralien, im Juli d. I.
von Pcrth aus eine Forschungsreise zn wissenschaftlichen und
kommerziellen Zwecken unternommen. Begleitet von acht
Mann reiste er zunächst per Eisenbahn nach dem 85 km
nach Nord oft gelegenen Städtchen Newcastle, und von da
aus dann in nordöstlicher Richtung zwischen den Salzlagunen
Monger und Moore weiter.
— Eine andere „Exploring Party“ kehrte im Juli dieses
Jahres von den Campton Plains unter 300 55' südl. Br.
und 1220 25' östlich von Gr. in der Kolonie Westaustralien
zurück und will dort große Strecken gut begrasten und
reichlich bewässerten Landes entdeckt haben, welches sich
für Ackerbau und Weidczwecke bestens eignet.
—■ Kapitän Kitch cn lief im Mai dieses Jahres ans seiner
Fahrt von San Francisco nach England bei der im Jahre
1767 von Carteret entdeckten Pitcairn-Jnsel au. Dieselbe
wird bekanntlich von den Nachkommen der Meuterer auf dein
englischen Schiffe Bounty bewohnt, welche im Jahre 1789
ihren Kapitän Bligh mit 18 Mann in einem offenen Boote
ans der See aussetzten, sich daun Weiber von Otahaiti holten
und mit diesen sich auf Pitcairn niederließen. Erst im Jahre
1824 erhielt man die erste Kunde von ihnen. Die Insel,
berichtet Kapitän Kitchen, ist nur 2 Viriles (3,72 km) lang
und eine mile (1,60 km) breit und steigt bis zu einer Höhe
von 310 m an. Jur Centrum liegen fruchtbare Thäler mit
gutem Quellwasser. Die Bewohner zählen zur Zeit 112,
von denen ungefähr drei Viertel ans Weibern und Kindern
bestehen; sie sprechen gut Englisch. Ihr Körperbau ist hoch
und kräftig, ihre Gesichtsfarbe ziemlich dunkel, und sie haben
durchweg auffällig schlechte Zähne. Ihre Kleidung ist zwar
sehr einfach, aber doch reinlich und schicklich. Sie besitzen
ein Schulhaus und eine Kirche mit einer Orgel — einem
Geschenk der Königin von England — sowie auch eine kleine
Bibliothek. Sie sind sehr religiös und neigen dein Methodis-
mus zu, doch feiern sie anstatt des Sonntags den Sonnabend.
Die Leute des Kapitän Kitchen tauschten Orangen, Bananen,
Kürbisse, Melonen, zierliche Körbchen, Kränze von getrockne-
ten Blumen, Muscheln u. s. w. gegen Mehl, Schiffszwieback,
alte Kleider, Angelhaken und andere Artikel von ihnen ein.
— Bezüglich der wirthschöstlichen Entwickelung von
Kaiser-Wilhelmsland ist ein neuer wichtiger Schritt vorwärts
geschehen, indem die Neuguinea-Compagnie eine regel-
mäßige Dampferverbindnng zwischen Finsch-
hafen und Cooktown (auf dem australischen Festlande)
hergestellt hat. Im Anschluß an die Hauptdampfer, die
allmonatlich auf dieser Linie verkehren, sollen Zwischeudampfer
mit Kelano, Konstantinhafen, Hatzfeldhafen, Kaluna, Matnpi,
Mioko und Kerendare verkehren.
B ü ch e r s ch a n.
— G. Stutzer, das Jtajahy-Thal und die Ko-
lonie Blnmenau. Goslar 1887. Ludwig Koch. —
Die Lektüre dieses kleinen Büchelchcns ist allen denen, die
sich für die Frage der deutschen Auswanderung und Ackerbau-
Kolonisation interessiren, angelegentlich zu empfehlen, da
es die Verhältnisse, welche in der namhaftesten deutschen Ko-
lonie Südbrasiliens obwalten, eingehend, klar und wie es
scheint, zugleich auch nüchtern und objektiv beleuchtet.
Inhalt: Arthur Silva Whitc: Die antarktischen Regionen. (Fortsetzung.) — Wanderungen durch das außertropische
Südamerika. XIII. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr. A. Oppel: Erwerb und Besitz bei den Papua von Neuguinea. —
Kürzere Mittheilungen: Die Ausrottung der Seekuh. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika. —
Australien und Polynesien. — Büchcrfchau. — (Schluß der Redaktion am 17. August 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herücksithtigung der Ethnologie, der Knlturberhältnisse
und des Melthnndels.
33cßrünbct von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nunnnern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
D e u t s ch - W i t u - L n u b.
Von Lieutenant A. R. S ch m i d t.
(Mit einer Karte.)
An der OstkUste Afrikas lenken Deutsch-Ostafrika und
Deutsch-Witu-Land, die beiden deutschen Schutzgebiete, unser
Interesse in hohem Grade ans sich. Durch die nachstehenden
Ausführungen und die bcigcgebene Kartenskizze unternehme
ich es, die Leser in das letztgenannte Gebiet einzuführen.
Das Witu-Land umfaßt die etwa 25 Quadratmeilen
große Besitzung der deutschen Kolonialgesellschaft, und das
Land des deutschen Schützlings Sultan Achmed von Witu,
welches von der Grenze des Gesellschaftsbesitzes an der
Küste sich bis zum Nordende der Manda-Bucht erstreckt.
Im Jahre 1685 trat Sultan Achmed an den Deutschen !
Clemens Denhardt das aus der Karte als „Deutsch-Witu-
Land" bezeichnete Land mit allen Hoheitsrechten vertrags-
mäßig ab. Das Land sollte begrenzt sein: im Westen durch
den Magogoni, im Süden durch den Osi, im Osten durch den
Indischen Ocean, im Norden durch den Mkonumbi-Creek und
durch gerade Linien, welche die Plätze Mkonumbi, Fungasoinbo
und Witn verbinden, ferner durch eine gerade Linie, welche !
Witu mit dem fernsten Punkte des Magogoni verbindet.
Dieses Land befand sich jedoch zur damaligen Zeit nicht |
vollständig in dem thatsächlichen Besitze des Witn-Snltans, j
indem Theile desselben von Zansibar-Söldnern okkupirt
waren. Durch die Grenzregulirung vom Dezember 1886
indeß wurde der Besitz des Sultans Achmed in dem
deutsch-englisch-zansibaritischen Abkommen festgesetzt, und :
Mar wurde hierbei nicht der Ost als Grenzlinie im Süden,
sondern eine künstliche Linie — von einem Punkte 650
Globus UV. Nr. 9.
Schritt I östlich von Kipini bis zu Kikoni* 2) gezogen — be-
stimmt, während als Nordgrenze des Sultanats das Breiten-
parallel durch die Nordspitze der Insel Kwaihn bezeichnet wurde.
Eine Abgrenzung des Sultanats nach dem Inneren wurde
jedenfalls wegen der hier noch sehr unklaren Verhältnisse
nicht vorgenommen. Da Denhardt im Juni 1886 das
von ihm vertragsmäßig erworbene Land an Sc. Durchlaucht
den Fürsten zu Hohenlohe -Langenburg, Präsidenten des
Deutschen Kolonialvereins, zum Zweck der Bildung einer
Kapitalgesellschaft, verkauft hatte, so war hiermit der Besitz-
stand dieser unter dem Vorsitz Sr. Durchlaucht gebildeten
„Deutschen Witngesellschaft" geregelt; bereits im September
1886 war uns, zwei Bevollmächtigten Sr. Durchlaucht,
das Land zur Erforschung und Bewirthschaftung übergeben
worden.
Der Sultan Achmed ist der Nachfolger des Fumo Luti,
seines Onkels (nicht seines Vaters, wie solches die ihm von
deutschen Forschern zu Theil gewordene Bezeichnung
Achmed ben Fumo Luti besagen würde), welcher letztere ans
Sin residirte und dort harte Kämpfe gegen die Araber,
welche die Herrschaft ihres Zansibarsultans auf die Insel
Patta ausdehnen wollten, zu bestehen hatte. Vorübergehend
haben auch die Vorgänger Achmed's — die Nabahani, wie sich
die Familie nennt — ihre Herrschaft auf die Inseln Manda
F Von der Mitte des Forts aus auf dem Strande gemessen.
2) Eigentlich ist Kiko sprachlich richtig.
17
130
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land.
und Kwaihu erweitert gehabt, ein Umstand, der auch seiner
Zeit zum Geltendmachen von Ansprüchen für Achmed be-*
nutzt worden ist. Als nach dem Tode Fumo Luti's Achmed
als Aeltester in der Familie nach mohammedanischem Brauch
folgte, zog dieser es vor, die Kämpfe mit den Arabern nicht
fortzusetzen, sondern auf das Festland, wo bereits vorher
die Orte Kipini und Kau am Ost von Fumo Luti be-
gründet waren, überzusiedeln. Doch auch an diesen Plätzen
konnte er sich nicht gegen die arabische Macht auf die Dauer
halten, weswegen er sich weiter zurückzog nach dem jetzigen
Witu — der Stadt, die er unter dem Schutze des den Ort
umgebenden Urwaldes anlegte und befestigte, und wo er
nunmehr fast 27 Jahre residirt. Bis zum Jahre 1885
hat sich Achmed in der verborgenen, verpallisadirten und
bewachten Stadt gegen die Angriffe der Araber gehalten
und ihnen theilweise sogar erhebliche Verluste zugefügt,
indeß würde er wohl dem damals besonders heftigen Vor-
stoß der zahlreicher als vorher aufgetretenen Zansibarsoldaten
unter dem Said Bargasch'schen General' Mathews nicht
mehr lange haben widerstehen können, wäre er nicht gerade
zur rechten Zeit unter den Schutz der deutschen Negierung
genommen worden. Durch diesen Schutz ist nun der Sultan
in der Lage, unbehindert von seinen bisherigen Erbfeinden
in seinem durch die Grenzregulirung erheblich erweiterten
Lande zu walten, indem durch jenes Abkommen die Auto-
rität der Deutschen sowohl als des Sultans sehr ge-
stiegen ist. Zn bedauern bleibt nur, daß die Orte Kipini
und Kau am Ost dem Sultan nicht zugesprochen wurden
und daß so die deutsche Witu-Gesellschaft nicht im Mitbesitze
des Ost als des natürlichen Grenzflusses ist; doch ist zu
hoffen, daß die Zukunft uns hier manche und noch weit
wichtigere Errungenschaften bringen wird.
Ich gehe mm zu einer Skizzirung von Land und Leuten
über, wobei ich mir vorbehalte, auch andere zürn Witn-Laud
in Beziehung stehende Völker und Orte in den Kreis meiner
Betrachtungen zu ziehen.
Für das Witu-Land bezw. für den Witu-Sultan hört
man häufig den Namen Suaheli-Land und Suaheli-Sultan
gebrauchen. Es ist dies aber insofern nicht richtig, als erstens
die Grenzen des Witu-Landes, mit denen des viel ausge-
dehnteren Suaheli-Landes, dessen Küste sich ja au der
ganzen Zansibarküste hin erstreckt, sich nicht decken; zweitens
der Sultan von Witu folgerichtig immer nur der Beherr-
scher einer beschränkten Zahl' von Suaheli ist, während er
andererseits auch andere Eingeborene — Waschensi — zu seinen
Unterthanen zählt; und drittens man von den Eingeborenen
auch nicht die Bezeichnungen „sulkan ja Suaheli“ und
„barra ja Suaheli“ — wenigstens letzteres auf das Witu-
Land bezüglich — vernimmt.
Die Insel Lamu, mit der gleichnamigen etwa 15 000
Seelen zählenden Hauptstadt an der Nordostseite, an der —
allerdings in einiger Entfernung, wegen der gefährlichen
Korallenriffe — die Dampfer der „Heitish Inclia Line“ vier-
wöchentlich anlegen, ist vom Festland nur durch einen 100,
an den weitesten Stellen 400 m breiten Kanal getrennt;
dieser ist aber von der Südspitze der Insel aus, woderSüd-
west-Monsun — „Kaskasi“ — zu seiner Zeit mit gehöriger
Kraft hineinbläst, nicht ohne Gefahr zu passiven, während
umgekehrt zur Zeit des Nordost-Monsuns — „Kusi“ —
die Passage vom Festlande nach der Insel schwierig ist, so
daß bei Märschen — z. B. nach Mkonumbi —der Fußmarsch
und die Ueberfahrt auf der weiter nördlich befindlichen Fähre
weit sicherer erscheint. In dem Kanal befinden sich außer-
dem viele Sandbänke und Korallen, die bei niedrigem
Wasserstand für einen des Wasserweges nicht genau Kun-
digen gefährlich sind. Tiefer und breiter hingegen ist der
die Inseln Lamu und Manda scheidende Kanal, während
letztere Insel wiederum vom Festlande durch einen an den
meisten Stellen nur schmalen und ganz seichten Wasserstreifen
allerdings — ohne steinigen Untergrund — geschieden ist.
Bekannt sind bereits die Vorzüge der Manda-Bncht, welche
die größten Kriegsschiffe aufnimmt, und ihnen Schutz gegen
den Monsun gewährt, während bei Lamu größere Schiffe
geschützt nicht Anker werfen können, so daß bei besonders
heftigem Südwest-Monsun ein Anlegen der Postdampfer
verhindert wird. Immerhin erleichtert die Thatsache, daß
wenigstens der Regel nach alle vier Wochen die Post die
Witu vorgelagerten Inseln anläuft, sehr die Kolonisation
des Witu-Landes. Beim Nordost-Monsun ist auch der
Bootsverkehr von der Insel Lamu nach dem Festlande selbst in
der Formosa-Bai möglich, während zür Zeit des „Kaskasi“
diese doch zu exponirt erscheint. Vom Lamu-Kanal gehen
mehrere Meeresarme ins Innere hinein, und zwar der
Südspitze der Insel Lamu gegenüber der Creek von Mko-
numbi, von dem sich nach Südwest der Kimbo- oder
Kiongne-Creek abzweigt. In demselben Breitenparallel
mit Kipungani etwa geht der Hedio-Creek ins Innere ab.
Der bedeutendste Meeresarm zweigt sich aber nördlich der
Insel Manda ab und erstreckt sich mehrere Meilen ins
Land hinein. An diesen Theilen der Küste ebenso wie
längs der in Rede stehenden „Creeks“ finden wir zahlreiche
Mangrovesümpfe, während weiter nördlich und auch südlich
in der Formosa-Bai die Küste sandig wird.
Das Witu-Land weist nur äußerst geringe Erhebungen auf,
welche eine Höhe von 80 m über der Hochfluthmarke des indi-
schen Oceans nicht übersteigen; im Westen und Nordwesten,
dem Gebiet der Bararetta-Galla, steigt das Land stärker an,
bis es sich endlich zu den viel versprechenden, noch gänzlich
unerforschten Hochländern der Borani-Galla erhebt. Der
Boden ist im allgemeinen fruchtbar; bei Witu selbst und an
einigen Orten, wo viele Korallen zu Tage treten, nimmt
die Güte desselben ab; am Ost kommt in Folge der Wir-
kung der Gezeiten (bis an den Belcdsoni) viel salzhaltiger
Sand vor, der, obschon sonst wenig brauchbar, zur Anlage
von Kokosnußplautagen auffordert. Im Galla-Land und
am Tana ist der Boden fetter; dort findet sich auch besseres
Weideland, so daß die Suaheli ihre Heerden früher zum
größten Theile den Galla zur Pflege übergaben, da die
meist harten, wenig Saft enthaltenden Gräser im Witn-
Laude keine gute Nahrung für das Vieh bilden.
Der Pflanzenwuchs des Landes besteht tut allgemeinen
aus Dumpalmenstrecken, meist mit Mimosen oder Savannen-
gras durchsetzt, oder aus Savannenstrecken, vereinzelt finden
wir noch — so bei Witu, bei lltwani, bei Mpeketoni — kürzere
llrwaldstrecken, deren das Galla-Land mehrere aufweist.
Nur selten — so bei Kipini, von wo aus nach Norden an der
Formosabai sich Dünen entlang ziehen — sieht man nicht
anbaufähigen Sand. Bei der großen Zahl von Sklaven,
die sich die meisten Leuten halten, ist ein für afrikanische
Verhältnisse ziemlich bedeutender Theil des Landes bebaut;
auch werden alljährlich immer neue Wald- und Steppen-
strecken in Kultur genommen, während andere, deren Boden
nicht mehr ertragfähig genug ist, verlassen werden. Häufig
bildeten — wenigstens bis vor kurzer Zeit noch — auch
Kriegszüge der Araber und der einzelnen Negerstämme,
sowie Sklaveujagden, Veranlassung zum Aufgeben der
Niederlassungen; auch geben die Eingeborenen bisweilen au,
durch besonders ungünstige klimatische Verhältnisse zum
Verlassen innegehabter Dörfer bewogen worden zu sein.
Bei einer Schilderung der Bewohner des Witu-Landes
beginne ich mit dem Sultan Achmed. Derselbe ist ein etwa
70jähriger Mann, der gegenwärtig durch Elephantiasis,
ein — in jenen Ländern bekanntlich sehr häufig auftretende
Leiden — zumeist an seinen Wohnraum und an die „Kitanda“
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land.
131
(Ncgcrbettstelle) gefesselt ist, und nur mit großer Mühe einige
Schritte gehen kann, da die Elephantiasis seit bereits einer-
längeren Reihe von Jahren an einer sehr unangenehmen
Stelle des Körpers aufgetreten ist. Achmed erscheint — öder-
er will vielleicht gerade erscheinen — als sehr frommer Mo-
hammedaner; stets wenn man ihn besucht, wird man ihn
im Koran lesend antreffen. Trotzdem muß man entschieden
gestehen, daß er nach mohammedanischen Begriffen ein sehr
aufgeklärter, toleranter Herrscher ist, speziell in religiösen
Sachen; so unterstützte er in höchst anerkenncnswerther
Weise die Neukirchener Missionare bei Anlage ihrer Station
im Piokomolande. Den Deutschen bringt er großes Wohl-
wollen entgegen, besonders wohl deshalb, weil cs Deutsche
waren, die ihm zuerst hülfreiche Hand boten, und weil er
durch den Schutz der deutschen Regierung, außer der Be-
freiung von seinen Erbfeinden, die ihm hierdurch zu Theil
wurde, einen großen Theil seines beanspruchten Landes
wiedererhalten hat, während er, wenn ein Angehöriger einer-
anderen Nation seine Stadt besucht oder sein Land berührt,
diesem großes Mißtrauen entgegenbringt. Im übrigen ist
er, obgleich er durch schlau betriebenem Handel nach ^Neger-
verhältnissen ein ungeheuer reicher Mann geworden, sehr-
geizig ; auch theilt er mit den gewöhnlichen Neger-Häuptlingen
eine gewisse Habsucht, die besonders in der Behandlung der
Weißen an den Tag tritt; da diese in der Regel viele für
ihn sehr begehrcnswcrthc Dinge mitbringen, weiß er ihnen,
wenngleich in durchaus verbindlicher Form, viel dergleichen
zu entlocken, was für den Europäer häufig eine nicht gerade
angenehme Art der Besteuerung ist. Indeß zeigt er sich
hierfür auch immer dankbar, wie überhaupt sein zuvor-
kommendes Wesen den Deutschen gegenüber nur rühmend
hervorzuheben ist. Mir hat er auch während der Zeit
meines Aufenthaltes in Witu große und sehr schätzbare
Gefälligkeiten erwiesen. Bei seinen Unterthanen genießt
Achmed großes Ansehen und er übt bedeutende Macht ans;
außerdem reicht seine Autorität weit über die Grenzen seines
Landes zu den Galla, Waboci, Wapokomo, sein Name aber
sogar noch viel weiter hinaus; angeredet wird Achmed zumeist
als bana inkuba (großer Herr), oder munyemui (Herr der
Stadt), bisweilen als suItan. Den Namen „Simba“ (Löwe),
den Brenner als seinen Beinamen angiebt, hatte Achmed nur
in seiner Knabcnzeit gewissermaßen als Spitznamen; wenn
Dr. Fischer aber sagt, daß Achmed als wenig kriegerisch
veranlagt, diesen Namen nicht verdiene, so kann ich dies als
nicht zutreffend bezeichnen, da mir gegenüber die Einge-
borenen gerade immer das feurige, ungestüme Wesen
Achmed's in seiner Jugend in ihren Erzählungen hervorhoben;
jetzt freilich, wo er durch häufige Fieberanfälle geschwächt
ist, die sein immerwährendes Leiden mit sich bringt, und der
damit verbundene Aufenthalt im geschlossenen nicht immer
besonders parfümirten Raum, merkt mau wenig von seinem
kriegerischen Sinn. Indeß hört es Achmed nicht gern,
wenn er als „©hubst“ bezeichnet wird. Als ich ihm z. B. im
Deckcn'schen Reisewerk die ihn behandelnden Stellen in die
Suaheli-Sprache übersetzte, zeigte er sich, als er dort als
„©hubst“ vorgeführt wurde, nicht besonders freudig überrascht.
Seinen Harem, aus mehreren Suaheli- und Galla-Frauen
bestehend, behütet er sorgfältig und läßt diese Damen nicht
an's Tageslicht, geschweige denn Europäern zu Gesicht
kommen. Die Art und Weise, wie er mit den Harcms-
damen bei seinem Alter und seiner Krankheit verkehrt, eignet
sich nicht zur Besprechung. An Kindern hat er nur eine
Tochter, wie überhaupt die Zahl der Kinder bei den Suaheli
meist eine geringe ist. In Betreff der Verwahrung und der
Lebensweise der Frauen gelten bei den vornehmen Suaheli
in Witu dieselben Normen, wie beispielsweise bei den Arabern
in Kairo und Zansibar, wie sie der Islam mit sich bringt.
Der Nachfolger des Sultan Achmed ist Fnmo Bakari,
der Mann jener Tochter, als Sohn des Fnmo Luti, sein
Vetter und Schwiegersohn. Fnmo Bakari ist ein friedlich
gesinnter, lenkbarer, gutmüthiger Suaheli-Neger, der den
Deutschen sehr geneigt ist und auch einiges Verständniß für-
europäische Kultur zeigt; es ist zu hoffen, daß sein großes
einst zu ererbendes Vermögen dem Lande zu gute kommen
wird, während sein Schwiegervater die Dollars verborgen
und auch, wie man vermuthet, zum Theil vergraben hat.
Die herrschende Klasse in Witu bilden die Suaheli, welche
zum größten Theil von Patta stammen, indem die meisten
von dort zugleich mit Achmed ausgewandert sind. Dieselben
leisten ihrem Sultan strengsten Gehorsam und bringen ihm
große Verehrung entgegen. Nach dem Sultan und dem
Thronfolger gelten als die Vornehmsten unter den Snaheli
einzelne Scherife — Nachkommen des Propheten, deren es
selbst unter den Suaheli-Negern ziemlich in jedem größeren
Orte einen oder mehrere giebt; nach ihnen kommen die Mit-
glieder der Herrscherfamilie. Von den anderen Snaheli
erwähne ich den Kathi, dem die Gerichtsbarkeit (theils in
Gottesgerichten bestehend), untersteht, und den Malim (den
Schulmeister) wozu ein des Schreibens und Lesens Kundiger
genommen wird; in den Schulen selbst wird der Koran
auswendig gelernt und von praktischen Sachen die An-
leitung zur Anfertigung von Strohmatten ertheilt. Die
Thätigkeit dieser Suaheli, welche bekanntlich durchweg —
wenigstens tut Witu-Lande — Mohammedaner sind, besteht
ausschließlich im Besuchen der Moscheen deren (jedes Dorf
eine, wenn irgend angängig, aus Korallen gebaute, hat),
zu den nach dem Islam vorgeschriebenen Zeiten, in gegen-
seitigen Besuchen (besonders der Sultan und die Europäer-
werden von den meisten mit täglichen Besuchen beehrt) und
in dem Besuch des Schaun- Platzes (des Berathnngsortcs),
wo die Tagesneuigkeiten ausgetauscht und über irgend welche
wichtige und unwichtige Sachen berathen wird. Dabei gehen
sie stets sehr sauber gekleidet; angethan mit einem weißen,
bis auf die Füße herabrcichenden Suahclihemd und einer
in Sin oder Lamn gewebten, eigenartigen, weißen Suaheli-
kappe auf dem Kopf, dem unvermeidlichen Spazierstock, dem
Zeichen des freien Mannes, in der Hand, promeniren sie
durch die Stadt, und machen, wenn es hoch kommt, auch
wohl einen Spaziergang aus die von ihren Sklaven be-
arbeiteten Schambas (Felder) hinaus, um diese zu koutro-
liren. Als strenge Mohammedaner enthalten sich die
Suaheli des Witu-Laudcs vollkommen des Genusses der
gcistigen Getränke, wovon im Lande selbst nur der Palm-
wein (tvmbo) ins Gewicht füllt; letzterer wird von ihnen
nur unmittelbar nach der Gewinnung, wo er noch süß ist
und nicht berauschend wirkt, als tembo damu genossen, vom
Tage nach der Gewinnung jedoch als tembo mkali ver-
schmäht. Die sonstige Lebensweise ist wie die der meisten
Neger sehr einfach und unterscheidet sich kaum von der dcr
Sklavcn. Reis oder bisweilen auch nur Negcrhirse — wenn
ersterer zu theuer ist — bilden mit den anderen Feldsrüchtcn
die Nahrung der Leute; nur an hohen Feiertagen (sikkukuu
genannt) oder bei besonderen Gelegenheiten wird gemeinsam
ein Stück Vieh geschlachtet. Der juna (Freitag) wird als
mohammedanischer Sonntag auch von Sklaven nicht znr
Arbeit benutzt. Die letzteren, welche keine Snaheli sind, son-
dern im Gegensatz zu diesen als „Waschensi“ (Barbaren
oder Heiden) bezeichnet werden, die verschiedenen Stämmen
des Inneren angehören, leben meist in einer sehr gelinden,
ihnen selbst durchaus nicht unangenehmen Sklaverei. Sic
heirathen unter einander nach Belieben, erhalten eine Hütte
und ein Stück Land für sich zum Bebauen und müssen
allerdings ihren Herren (in Witu selbst ist Sultan Achmed
Herr fast aller Sklaven, von denen er jedoch den Suaheli
17*
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witn-Land.
nach Bedürfniß eine Anzahl überläßt) den oft ziemlich aus-
gedehnten Landbesitz kultiviren. Indeß haben die Leute
stets genügend, um ihre sehr geringen Bedürfnisse zn be-
friedigen. In einzelnen Plätzen des Witn-Landes ist auch die
Einrichtung von den Sklavenhaltern — soweit sie größere Rind-
viehheerden besitzen — getroffen, an zwei Tagen der Woche
(in der Regel Mittwoch und Donnerstag), die gemolkene
Milch ihren Sklaven zur Nahrung oder Verwerthung zu
geben — eine Einzelheit, die ich als Beispiel für die gewiß
anerkennenswerthe Fürsorge der Herren für ihre Sklaven
anführen wollte. Außer den erwähnten Suaheli und den
Waschensi wird die Einwohnerschaft des Witn-Landes ge-
bildet durch einige Galla (Wapokomo) die sich daselbst theils
freiwillig niedergelassen haben, theils als Sklaven leben;
unter letzteren befindet sich auch eine große Zahl ihren
früheren Herren, besonders dem Zausibarsultan entlaufener
Sklaven, Watuballi genannt, sowie einzelne auf Kriegszügen
erbeutete Sklaven, unter welchen ich sogar bereits Massais
sah, die zum Hüten der Suaheliheerdcn verwandt wurden.
Außerdem ist die zu keinem bestimmten Stamm gehörende
Küstenbevölkerung zu erwähnen. Diese rechnet sich meist
zu den Suaheli, wie überhaupt der Begriff Suaheli ein
sehr unklarer ist. Die Suaheli bilden eigentlich eine Misch-
rasse von Arabern und Eingeborenen und den Nachkommen
dieser Mischlinge; im allgemeinen indeß nennt sich jeder, der
kein Araber ist, aber der sich besser als ein Waschensi dünkt,
Suaheli. Auch einige Araber in Lamu und auf dem Witu-
Festland, die mit dem Regiment des Zansibar-Sultans un-
zufrieden waren, doknmentirten diese Unzufriedenheit dadurch,
daß sie sich zum Suaheli-Stamme rechneten; letzteres thut,
wie erwähnt, auch die Küstenbevölkerung, ohne Rücksicht
auf ihre wirkliche Abstammung. Wie nun die einzelnen
Stammesgenosten, — z. B. die Bewohner von Patta, Lamu,
Mombasta, Zansibar, welche meist Suaheli sind — von ein-
ander sehr verschieden sind, so zeigt auch ihre Sprache (das
Kisuaheli) in den einzelnen Dialekten große Abweichungen;
ich persönlich habe den Zansibar- und den Lamu-Dialekt
kennen gelernt und besonders bezüglich der Wortbildung,
zum Theil auch bezüglich der Anssprache — nicht in dem-
selben Maße in grammatikalischer Beziehung — erhebliche
Verschiedenheiten gefunden.
Außer der Bestellung der Felder werden im Witu-
Lande auch einige Handwerke betrieben, besonders das
Tischler-, Schmiede-, Schneider- und Drechsler-Handwerk;
auch Silberschmiede findet man nicht nur auf den Inseln
und an den Küstenplätzen, sondern auch an Orten des
Inneren; in Lamu und besonders in Sin ist außerdem
noch die Spinnerei, Weberei und Wollknüpferei im Betrieb
und liefert zum Theil bedeutende Jndustrieerzeugnisse. Auf
dem Festland ist besonders das Schmiedehandwerk, in dem
trotz der mangelhaften Werkzeuge Tüchtiges geleistet wird,
wie man z. B. an den Waffen der Neger sieht. Hübsche
Erzeugnisse der Schnitzerei bilden die Thüren, welche be-
sonders auf der Insel Patta, aber auch auf dem Festlandc,
Nlit vieler Mühe, durch Schnörkel, arabische Inschriften
»nd Bilder verziert hergestellt werden; ferner sah ich ein
Meisterstück der Drechslerei von Siu beim Sultan Achmed,
nämlich Schachfiguren, die weißen Figuren aus Elfenbein,
die anderen ans Horn gefertigt; das zugehörige Schachbrett
war allerdings ziemlich primitiv. Das Schachspielen bildete
bisweilen einen Zeitvertreib der gebildeten Suaheli; die
Spielregeln waren wie die unsrigen (ist ja doch das Schach-
spiel aus Asien erst zu uns gelangt), die Figuren wurden
bezeichnet mit: roch (Thurm), ferass (Pferd — Springer),
lll (Elephant — Läufer), sultán (König), wezir (Mini-
ster = Königin), askari (Soldaten = Bauern). An
übrigen Spielen bildeten Kartenspiele (unserm Sechsund -
133
sechzig ähnelnd) und Stein- und Brettspiele einen Zeitver-
treib der Suaheli.
In den meisten Orten finden wir auch Medizinmänner,
deren Sache die Verabreichung von Arzneien und die Wund-
behandlung ist; oft wird besonders weiter im Innern großer
Unfug hiermit getrieben, und hat ein derartiger Medizinmann
dort meist den Ruf eines Hexenmeisters par excellence;
an der Küste und in deren Nähe jedoch wird das Gewerbe
des Medizinmannes meistentheils nur nebenbei betrieben.
Nach dem Einblick, den ich in diese Verhältnisse gethan habe,
muß ich sagen, daß die Leute, soweit sie ihre Kenntnisse von
den Arabern haben, auf einer erstaunlich hohen Stufe in
medizinischer Beziehung stehen, besonders was die Wund-
behandlung anlangt. Die Medizinmänner haben sehr große
botanische Kenntnisse, besonders ganz genaue Kenntniß der
verschiedenen Wurzeln und Pflanzen, die sie zur Herstellung
von Arzneien, und bisweilen auch zur Verabreichung als
Gegengift bei Schlangenbissen, vergifteten Pfeilschüssen und
dergleichen anwenden. Auch ist mir von ganz glaubwürdigen
Schwarzen versichert worden, daß sie ausgezeichnete Mittel
haben gegen venerische Krankheiten, die ja dort in so er-
staunlichem Maße auftreten. Die meisten Leute, wenigstens
die ärmeren Neger scheuen übrigens die geringen Kosten
einer derartigen Kur, welche bei Harnröhreukatarrhen eine
innerliche (Zubereitung gewisser Arzneien: Wurzeln mit
Hammelfett und Wasser gekocht), bei Syphilis eine (auch
die Zähne stark angreifende) Schwitzkur ist, indem der
Patient in Tücher und Decken eingeschlagen und durch
Anbrennen einer Mischung verschiedener tropischer Gewürze
eingeräuchert wird; ich kenne Fälle, wo diese Kur ein sehr
stark vorgeschrittenes Leiden in weniger als sieben Tagen be-
seitigte ! — Gegen Verwundungen wird häufig zum Brennen
und Schneiden gegriffen, sonst auch häufig das Schröpfen
angewandt; das Kneten liebt jeder Suaheli; dasselbe wird
zumeist von Sklavinnen oder Surias (Nebenfraueu, wie sie
der Islam in unbegrenzter Zahl gestattet), besorgt. Gegen
die klimatischen Krankheiten, denen auch der Eingeborene —
besonders, soweit ihm Arbeit und Bewegung fehlt — sowie
der Araber und Indier sehr ausgesetzt ist, freilich hat der
Medizinmann keine Mittel. Im allgemeinen ist jeder
Europäer sehr gesucht als Arzt, und hat, mögen auch noch so
renommirte Medizinleute am Orte sein, einen großen Zuspruch
von Patienten, den ich wenigstens trotz aller angewendeten
Mittel mir vom Halse zn schaffen für unmöglich erkannt habe.
Die Bewohner von Witu werden sämmtlich vom Sultan
zum Waffendienst nach Belieben herangezogen, d. h. sie
werden im Bedürfnißsalle mit Gewehren, welche der Sultan
in ziemlich bedeutender Zahl (mehrere Hundert Stück ver-
schiedener Art) besitzt, ausgerüstet und nach Belieben ver-
wandt; wie wir später sehen werden, leisten auch die Galla
zum großen Theil dem Sultan Achmed Heeresfolge und
großentheils ebenso die Waboni. In dem Lande der deut-
schen Witu-Gesellschaft hingegen hat diese selbst mit der
Anwerbung arabischer Soldaten, wie sie der Sultan von
Zansibar hat, begonnen.
Wie schon erwähnt, sind die Suaheli, obgleich sie in
mancher Beziehung aufgeklärt erscheinen, im großen und
ganzen eifrige Mohammedaner. Dies spricht sich auch in der
Art und Weise aus, wie sie andere nichtmohammedanische
Völkerschaften beurtheilen, z. B. sogar die ihnen freund-
schaftlich gesinnten und nahe stehenden Galla und Waboni
auf der einen Seite, aus der anderen aber die zwar mohamme-
danischen, aber hinterlistigen und räuberischen Sanali, die
den Suaheli schon viel Schaden zugefügt haben. Als
ich mich einst bei einigen Suaheli über einzelne auf die
Galla und Waboni bezügliche Details erkundigte, gaben sie
mir ungefähr folgendes zur Antwort: Die Galla und Wabom
134
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in L>nsa.
haben keine Ueberlieferung und kein Buch (Koran), sic kennen
unseren Gott und den Propheten nicht; solche Leute ver-
dienen als Sklaven aufgegriffen und auf unsere Felder ge-
schleppt zn werden, um für uns Sklavenarbeit zu ver-
richten; da sind die Somali immer noch besser, die haben
doch Verstand und besitzen das Buch, das sie lesen können,
und glauben an Allah und den Propheten! — Jedoch nicht
alle sind so fanatisch; der Fanatismus muß jedenfalls erst
künstlich bei den Negern von orthodoxen Scherifcn und
Malnn's (Schulmeistern) entfesselt werden, ehe er solche
Form annimmt. Dann richtet er sich aber natürlicherweise
auch gegen die Christen mit, obgleich man selten Aeußerungen
dieserhalb hört. Fest steht — wie mir einzelne gebildete
Neger, bei denen ich mich erkundigte, sagten — daß auch die
niohammedanische Sekte der Ostküste, zu welcher die Sua-
heli gehören, in etwa sechs Jahren, wo nach ihrer Lehre
der Wind nur noch ans dem Südwesten kommen wird, und
wo die europäischen Schießwaffen ihren Dienst versagen
werden, einen Mahdi, Namens Mohammed ben Abdulmu-
talim (wie man ihn nannte) erwartet, unter dessen Führung
sie die in Afrika anwesenden Europäer, die Gallas und
sämmtliche heidnischen Stämme entweder überwältigen oder
zum Islam bekehren, und mit dem sie dann, den Südwcst
benutzend, nach Europa segeln und dies Land überflnthen
und mit Hülfe der Türkei dem Islam gewinnen werden.
Ein großer Prozentsatz glaubt an dieses Märchen, die
meisten jedoch ohne die Andersgläubigen wirklich deßhalb
mit ihrem Hasse zu verfolgen. — Im übrigen giebt es an
der Ostküste drei Sorten von Mohammedanern: die Araber
und Suaheli, die Hindus, und die fanatischten endlich, von
denen nachher noch die Rede sein soll — die Somali.
Die meisten Gebräuche der Suaheli sind daher auch
übereinstimmend mit den Vorschriften des Islam, nur daß
im Inneren noch mancher Aberglaube und manche heidnische
Beimischung hinzutritt, und daß sich so bisweilen spezifische
Eigenthümlichkeiten herausbilden. Die Ceremonien bei der
Geburt, der Beschneidung und der Trauer sowie dem Be-
gräbnisse, sind in Witu die gleichen wie in Zansibar. Nach
dem Tode werden die vornehmsten in möglichster Nähe der
Moschee begraben; um Ungläubige (Sklaven) kümmert man
sich gar nicht, sondern überläßt es ihren Genossen, für die
Bestattung zu sorgen. Die Hochzcitsfeierlichkeiten beginnen,
nachdem die Ceremonien in der Moschee beendet sind, mit
dem üblichen Schmaus, worauf dann, nachdem alle, auch
die Armen, reichlich gegessen haben,-die Fest- und Waffcn-
tänze folgen; hierbei wird.btc Frau dem Ehemanne über-
geben.
Die Frauen der wohlhabenderen Suaheli haben keine
Beschäftigung, während ärmere die Wirthschaft und die Küche
besorgen müssen, und Sklavinnen besonders zum Wasser-
holen, Holztragen und der Arbeit ans den Feldern verwandt
werden. Was die Sittlichkeit des weiblichen Geschlechts
anlangt, so ist dieselbe zwar nicht zn rühmen, es giebt anch
in den meisten Plätzen eine Anzahl öffentlicher Mädchen,
immerhin aber ist sie noch hervorragend zn nennen im Ver-
gleich zu der der männlichen Personen, bei denen Un-
natürlichkeiten der widerwärtigsten Art nicht zu den Selten-
heiten gehören. Es ist dies vor allen Dingen ans den
Einfluß der Araber zurückzuführen, die mit den guten
Lehren des Islam auch die mit der Zeit bei einem ent-
nervten Geschlechte ausgekommenen Laster den Küsten-
bewohnern ausoktroyirten. (Fortsetzung folgt.)
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dienlafoy.
(Mit fünf Abbildungen.)
VII I.
Die Fortsetzung der Ausgrabungen ans der Stätte des
alten Susa drohte dem Dicnlafoy'schen Ehepaare unmöglich
gemacht zn werden, da man in Arabistan des festen Glau-
bens lebte, daß die Fremden schuld seien an der in Disful
eingetretenen Teuerung, an den täglich drohenden schwarzen
Wolken und sündflnthartigen Negengüssen, an allerlei Krank-
heiten, kurz an allem Unheil, das in den letzten Jahren
über das Land gekommen und das, allerlei schlimmen An-
zeichen zufolge, noch bevorstehe, weil man die frommen
Schläfer der Vorzeit in ihrem tausendjährigen Schlummer ge-
stört und den Schoß der Erde seiner Talismane beraubt habe.
Trotzdem, und ohne die Gewährung eines sicheren Schutzes
seitens der iranischen Regierung, machten sie sich im Oktober
des Jahres 1886 wieder nach Persien auf und erreichten
nach einem kurzen Aufenthalte in Maskat im November
glücklich Buschir und Basra, und von dem letzteren Orte
gingen sie den Tigris hinauf nach Amarah. Hier wurde
die Expedition diesmal mit Freuden begrüßt, und ebenso
machte cs wenig Schwierigkeiten, Maulthierc für den
i) Vgl. „Globus", Bd. 52, S. 289 sf. und Tour än
Monde 1888, Nr. 1411 sf.
Transport der Ausrüstnngsgegcnstände zu finden. Eine
Karawane aus Disful zeigte sich bei der Aussicht ans gute
Belohnung überaus dienstfertig. Um sich vor Ueberfällen
auf dem von unbändigen Räubernomaden belagerten Wege
zn sichern, galt cs nur noch M'sban, den Scheikh der Beni-
Laam, zunl Freunde zu gewinnen.
Im letzten Frühjahr war ein von Amarah nach Susa
gesandter Courier von den Beni-Laam ergriffen, mißhandelt
und seiner Depeschen beraubt worden, und die Reisenden,
die seit sechs Monaten ohne jede Nachricht aus der Heimath
gewesen waren, hatten das ihnen dann von einem Reiter
überbrachte Briefbündel, welches sein Bruder „gefunden",
nur gegen eine ansehnliche Belohnung ausgeliefert erhalten.
So bat man M'sban um einen Geleitsbrief, damit
Aehnliches sich nicht wiederhole. Nach einigem Zögern
schrieb er Folgendes nieder:
„Aufgepaßt, ich sage es euch einmal, ich sage es euch
zweimal, daß Niemand es wage, die Besitzer dieses Gcleits-
bricfes auch nur zu berühren, oder die an diese Franzosen
gerichteten Briese an sich zn nehmen."
Als Dienlafoy diesen Geleitsbrief in den Händen hatte,
folgten die Reisenden Lazem, dem Sohne des Scheichs,
welcher von seinem Vater beauftragt worden war, ihnen
Jane Dieulafoy: Dieulasoy's Ausgrabungen in Susa.
135
das Geleit zu geben. Beim Anblick der Fremden stürzten
Männer, Weiber und Kinder mit wüstem Geschrei aus
ihren Zellen herbei. Mit besonderer Beharrlichkeit sah sich
Madame Dieulafoy vom jüngsten, etwa sieben Jahre alten
Sohne M'sban's verfolgt. Dieser hatte struppiges Haar, trug
am Halse eine silberne, reich mit farbigen Steinen verzierte
Kette und im linken Ohr eine große, schwere 8 als Schmuck. —
Madame Dieulafoy, die an den tollen Sprüngen des
Jungen Vergnügen fand, entdeckte plötzlich zwischen Hemd
und Brust des Kleinen ihr
feines Taschentuch, worauf
sie rasch danach griff und,
wie sehr die Hand des
Knaben auch den Raub zu
vertheidigen suchte, so er-
wies sich doch die der recht-
mäßigen Eigenthümerin
stärker, drasch entfloh nun
die ganze lästige Begleitung,
und mit ihnen waren zahl-
reiche Taschentücher, Mes-
ser, sowie auch einiges
Kleingeld der Reisenden
verschwunden.
Es begann bereits zu
dunkeln, und man begab
sich zurück in das Zelt des
M'sban, wo auf einigen
noch glimmenden Kohlen
knorriges Astwerk zum An-
zünden bereit lag. Rasch
war eine Helle Flamme ent-
facht, bei deren Licht die
Gesichtszüge der rings um-
her lagernden Araber scharf
hervortraten. Dumpfes
Schweigen herrschte, ein
böses Omen für die Gäste.
Zuerst erschien der Pilau
für die Christen, dann erst
der Reisberg für die Musel-
männer, in dessen Tiefe
M'sban sogleich seine Hand
versenkte, um einige Ham-
melkeulstücke ans Tageslicht
zu fördern, woraus er sorg-
fältig das Fleisch von den
Knochen ablöste, um diese
dann seinen Untergebenen
zuzuwerfen, welche sie wie
Hunde auffingen. Als der
Scheikh gesättigt war, über-
ließ er das Reisgericht der
Gefräßigkeit seiner Unter-
gebenen, und nachdem ein
Kübel mit Wasser zur Rei-
nigung der Hände und
des Mundes herumgereicht
worden war, gab M'sban, indem er aufstand, das Zeichen
zum allgemeinen Ansbruch, worauf die Araber sich in die
Zelte der Frauen verfügten.
Nach ungestört verbrachter Nacht nahm man vom
Scheikh der Beni-Laam Abschied.
Am 1. Dezember kamen die sehnlich erwarteten De-
peschen vom Dr. Tholazan und De Balloy an, mit der
günstigen Meldung, daß die Wege nach Susa frei seien,
worauf die Diener Mohammed, Abdallah und Reza sofort
durch Madame Dieulafoy von dem ans den nächsten Tag
festgesetzten Aufbruch unterrichtet wurden. Diese waren gerade
bei dem in Persien so beliebten, höchst einfachen Fliegenspiel,
das weder körperliche, noch geistige Anstrengung erfordert.
Nachdem die Spieler auf einem Teppich einander gegenüber
sich niedergelassen, wirft jeder einen Kran vor sich hin.
Bald kommen erst vereinzelt, dann in mehr oder weniger
zahlreicher Gesellschaft summend und surrend Fliegen herbei,
und es gilt nun die lästigen Stiche derselben ruhig zu er-
tragen; denn Abwehr hieße
dem Gegner in die Hände
arbeiten, da das ganze Spiel
darauf hinausläuft, abzu-
warten, auf welchem der
Geldstücke eine Fliege sich
niederläßt. Oft wird die
List beobachtet, die Krans
heimlich mit Honig oder
Fett zu bestreichen.
Am 3. Dezember waren
die Reisenden, von Altar
geführt, unterwegs und
fuhren in sechs Belem den
Mahmudieh-Kanal hinab.
Nach vierstündiger Fahrt
hielten die Barken gegen-
über den Dattelpalmen
von Saf-Saf. Da ihre
eigenen Zelte am Daniels-
grabe zurückgeblieben waren,
so mußten die Reisenden
sich mit der Hälfte des
Zeltes der Mauleseltreiber
begnügen, welches man von
diesen gemiethet hatte. Vier
Stücke eines aus Ziegen-
haaren hergestellten Stoffes
dienten als Dach, und die
Scheidewand zwischen dem
Schlafraum der Christen
und demjenigen der Mo-
hammedaner bildete das
zusammengestellte Gepäck.
Um Mitternacht brach
ein gewaltiger, sturmge-
peitschter Regen los, worauf
Regen und Nebel während
der nächsten 24 Stunden
sich beständig ablösten. —
Herr Babin hatte einen hef-
tigen Fieberanfall. Der
Kranke erregte das Mit-
leid einer schönen Araberin,
welche aus einem benach-
barten Lager gekommen
war, um den Mauleseltrei-
bern Butter zum Verkauf
anzubieten. Sie äußerte
ihr Mitgefühl dadurch, daß sie sich Nase und beide Ohren
mit der Schale einer von dem Kranken verzehrten Apfelsine
vollstopfte, worauf sie stolz in ihr.Lager zurückkehrte.
Bald darauf erschienen halbnackte Büffeltreiber, und
einer derselben (S. Abbildung 1), wie Poseidon mit einem
Dreizack bewaffnet, bot einen großen Fisch zum Verkauf an,
den er im frischen Wasser des Kanals gestochen hatte.
Am Abend kamen Reiter, um den Lastviehbestand der Ka-
ravane zu zählen und den Tribut einzuholen, welchen jede
Arabischer Fischer.
Zeltlager des Scheikhs Mentjchet^
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
137
unter dem Schutz des Scheikhs der Beni-Laam reisende
Karawane zu zahlen verpflichtet ist.
Man hatte am 3. Dezember das Lager von Sas-Saf
nur mit der Hälfte des Gepäcks verlassen können, da Altar
nicht das ganze Vieh zusammenzutreiben vermocht hatte.
Bis gegen 2 Uhr führte der Weg nur durch wüste Steppe;
dann gelangte der Zug zum ausgetrockneten Hör, der mit
dichtem Gestrüpp bedeckt war. Nur langsam vermochte
man vorwärts zu dringen, da bei dem vom Regen schlüpf-
rigen Boden die Maulthiere oft ausglitten, wobei das
schwere Gepäck zuweilen herabfiel und Menschen und Thiere
verletzte. Dazu verfinsterten schwarze Gewitterwolken die
Luft, und dicht Uber der Erde schwirrten unzählige In-
sekten.
Endlich gelangte die Karawane zu einer Lichtung, wo-
selbst sie einige armselige Nomadenzelte vorfand. Neben
diesen wurde gelagert, um den nahenden Orkan erst vorüber-
gehen zu lassen. Aehnlich wie in Sas-Saf wurde rasch
ein schützendes Dach aufgeschlagen und das kleinere Gepäck
so aufgestellt, daß cs als Abwehr für Regen und Sturm
dienen konnte.
Gegen Abend erschien Attar mit der anderen Hälfte der
Karawane.
Am nächsten Morgen, dem 6. Dezember, hatte der Ge-
witterregen aufgehört, die Luft war lind und mit Wohl-
gerüchen erfüllt; stückweise war sogar durch das dünne
Gewölk der Himmel zu schauen, und nur leise wurde das
Schilfrohr von einem sanften Winde bewegt, Nach 9 Uhr
wurde aufgebrochen, indem die Hälfte des Gepäckes unter
Attar's Schutz znrückblicb.
Als am 10. Dezember die Karawane den Hör verlassen
hatte, Passirte sie eine wellenförmige Ebene. Vier Stunden
später erreichte sie ein großes, unter dem Schutze des
Scheikhs Menschet stehendes Lager der Beni-Laam.
Arabische Gefangene.
Da Menschet wenig zu trauen war, so wurde das Zelt
hier nicht aufgeschlagen, doch rieth Attar's Sohn, Baker,
nicht davon ab, „den Räuber, Dieb und Mörder" Menschet
in seinem Zelte aufzusuchen, da der Scheikh kaum wagen
dürfte, das Gesetz der Gastfreundschaft zu verletzen.
Mcnschct's stechende Augen, seine gebogene Nase, über-
haupt seine einem Raubvogel gleichenden Züge hatten
wenig Vertrauen Erweckendes, doch wurden die Reisenden
zunächst ganz gut empfangen. Nachdem der Scheikh den
eben frisch gerösteten Kaffee für die Gäste eigenhändig be-
reitet hatte, suchte er seine Neugier durch folgende Fragen
zn befriedigen:
„Woher kommst Du? Wohin gehst Dn? Welcher
Religion gehörst Du an? Wie viel Kinder hast Du?
Wie viel Frauen hast Du? Lebst Dn in Deiner Heimath
unter einem Zelte? Hast Dn vorher auch schon Pferde
und Hammel gesehen? Sind in Deiner Heimath die
Büffel eben so schön wie in Arabien? Was enthalten
diese großen Kisten? Wärmn sind sic so schwer?"
Globus UV. Nr. 9.
Sie sind ganz mit Kugeln gefüllt.
Menschet's Neugier schien befriedigt zu sein, und Dicu-
lafoy bat ihn jetzt um die Ermächtigung, den Stamm zu
besuchen. Während Jean-Marie als Wache bei dem Ge-
päck zurückblieb, verließ Dieulafoy mit seiner Gattin, nach-
dem ste sich mit ihren Flinten bewaffnet, das Zelt und be-
traten die breite Straße, an deren beiden Seiten mehr als
100 Zelte aufgeschlagen waren (S. Abbildung 2). Nach-
lässig lagerten, in schöne braune Aba (Mäntel) gehüllt,
Männer, Weiber und Kinder umher, ans grauen, mit grell-
farbigen Franzen versehenen Teppichen. Hier wurde ein
junger Büffel geschlachtet, dort häutete man mehrere fette
Hammel ab. In keinem der Zelte fehlte auf dem Feuer
der Topf mit dem unvermeidlichen Pilau. Obgleich dieser
Räuberstamm weder ein Korn Reis säet, noch eine Achre
Korn erntet, so lebt er doch in einem Ueberstuß, welchen
arbeitsamere Nomaden nicht kennen.
Am späten Abend betraten die Reisenden zn gleicher
Zeit das Scheikhzclt mit zwei gefesselten Männern (S. Ab-
18
138
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
bildung 3). Menschet gab den Gefangenen ein Zeichen, sich
ans Feuer zu setzen, und Dieulafoy erhielt auf feine An-
frage den Bescheid, daß er auf Befehl des Gouverneurs
von Disfnl die Sträflinge auf zwei Monate habe fesseln
lassen, da diese drei persische Pilger getödtet hatten. Auf
Dieulafoy's Hinweis, daß diese Strafe den Satzungen des
Korans nicht entspreche, cntgegncte der Scheikh, die Pilger
seien nur getödtet worden, weil sie sich vertheidigt hätten,
außerdem nutze es ihm nichts, so arme Leute wie die Ge-
fesselten hinrichten zu lassen.
Nach dem Essen sprach Menschet gegen seine Gäste die
Befürchtung eines nächtlichen Ueberfalles ans und bat sie
daher, ihm ihre Gewehre zu leihen. — Lachend wurde dieses
Ansinnen zurückgewiesen, und um dem Scheikh zu zeigen,
wie wenig Glauben man seinen Befürchtungen schenkte,
wurde beim Scheine zweier Lichter Domino gespielt.
Gegen 1 Uhr Nachts wurde das Zelt rasch aufgerissen,
ohne daß jedoch die Hunde
angeschlagen hätten, drei
Schüsse ertönten dicht hin-
ter der Zeltwand, worauf
mit bestürztem Gesicht
Menschet hereinkam mit
dem Ausrufe: „Die Räu-
ber sind da, leiht mir Eure
Flinten, kommt mir zu
Hilfe und helft die Fliehen-
den verfolgen!"
Als die Reisenden jedoch
in diese Falle nicht gingen
und sich auf das entschie-
denste weigerten, vor Tages-
anbruch das Zelt zu ver-
lassen, zog Menschet sich
wnthschäumcnd zurück.
Der Rest der Nacht ver-
ging in ungestörter Ruhe.
Am Morgen kam Attar
an. Leider erwies sich, daß
der im Verhältniß zum Ge-
päck geringe Viehbestand
wieder abgenommen hatte,
da ein Kamecl, das ein
Bein gebrochen hatte, im
Stiche gelassen werden
mußte; auch war ein
Maulthicr unbrauchbar ge-
worden.
Sofort erbot sich der
Scheikh zum Leihen von Lastthieren und schlug seinen Sohn
zuin Führer vor.
Den ersten Vorschlag nahm Dieulafoy an, ließ sich
ans Führerschaft jedoch nicht ein, da er den Weg nach Susa
genau kannte. Aber Menschet ließ sich nicht abweisen,
und so bot Dieulafoy ihm fünf Kran Führerlohn an. Da
der Scheikh damit nicht zufrieden war und zu feilschen be-
gann, zeigte ihm Dieulafoy seinen Geleitsbrief, worauf der
liebenswürdige Gastfreund sich verblüfft zurückzog.
Zehn Minuten später erschien Mohammed mit der
Meldung, daß, während er geschlafen, ein Sack Reis, der
Inhalt einer Theebüchse, die statt dessen mit Asche gefüllt
worden war, ein Hammel und zwei Hühner gestohlen
worden waren, welcher Verlust sich als unersetzlich erwies,
da der Scheikh das strenge Verbot ergehen lassen hatte, den
Fremden nicht irgend etwas zu verkaufen. So sahen diese
sich genöthigt, mit Datteln, welche die Diebe zurückgelassen
und mit regendurchnäßtem Brot fürlieb zu nehmen.
Um die Mittagszeit erschien ein Scheikh ans der Nach-
barschast, der ein etwas mehr Vertrauen erweckendes Aeußeres
hatte. „Sind die Franzosen noch bei Dir?" fragte er
Menschet, worauf sie mit einander flüsterten und das Zelt
verließen, um sich besser anssprechen zu können. Im selben
Augenblicke ertönte Freudengeschrei, und es erschienen ein
alter Mollah und einige zerlumpte Perser auf Mauleseln.
Beim Anblick der Reisenden riefen sie aus:
„Die Franzosen sind da, wir wollen uns unter ihren
Schutz stellen und die Reise gemeinsam machen!"
Die Muselmänner kamen aus Kerbela, wo sie am
Grabe Mohammed's gebetet hatten, und wo sic von der
Habgier der Mollahs ansgesogen worden waren. Dien-
lafoy miethete die Maulesel der Pilger zum Tragen des
Gepäckes, und am nächsten Morgen wurde die Reise ge-
meinsam angetreten.
Als Dieulafoy beim Aufbruche dem Menschet Vorwürfe
darüber machte, daß unter
seinem Zelt ihnen so viel
gestohlen worden war, ent-
gegnete dieser: „Beim Na-
men Allah's schwöre ich,
daß ich Euch nichts gestoh-
len habe. Alle Männer
meines Stammes sind ehr-
lich, sic erwerben ihr Eigen-
thum mit der Waffe in
der Hand. Sollte Euch
Etwas fehlen, so haben cs
Euch meine Weiber und
Kinder gestohlen. Lohnt cs
sich der Mühe, so unterge-
ordneten, gewissenlosen We-
sen etwas vorzuwerfen?"
Ein dichter Nebel be-
deckte die Ebene. Bald
gelangte die Karawane in
einen lichten Tamarinden-
wald. Es zeigte sich ein
Fluß, der mit Mühe durch-
watet wurde. Als letzter
stieg Fellahyke — der ihnen
von Menschet aufgedrun-
gene Führer — ans Ufer.
Er machte der Schule seines
Vaters Ehre, indem er-
den Maulthiertreibern beim
Frühstücken die besten Bis-
sen wegstahl. Gegen zwei
Uhr setzte die Karawane sich wieder in Bewegung. Die
Sonne hatte die Nebel siegreich durchbrochen, und heiter war
die Stimmung der Reisenden. Der alte Mollah hatte einen
Gesang angestimmt, in welchem fromme Erinnerungen mit
sehr irdischen Hoffnungen vereint waren. — Vom Fluß an
erstreckte sich ein jeder Vegetation bares ödes Flachland in
grellstem Gelb. Da erschienen plötzlich am Horizonte schwarze,
bewegliche Punkte. Fcllahyee rief aus: „Dochmanha"
(Feinde)! Die Treiber hielten sofort. Unglaublich schnell
wurden die Thiere dicht zusammengetrieben; denn Raschheit
giebt bei den Männern von Disfnl den Ausschlag, nicht
die Waffe.
Rasch wurden sämmtliche Karabiner und Revolver ge-
laden und znm Zielen angelegt. Da ries Feüahyee erregt
aus: „Bei Allah, schießt nicht, cs sind Freunde!" Darauf
sprengte er dem Führer der Bande entgegen, küßte ihn
wiederholt und überzeugte ihn offenbar von dem zweifel-
haften Erfolge eines Angriffes. Während sic aber friedlich
Tscharwadar.
Ja ne Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Suscr
139
nahten und sich mit Dieulafoy höflich unterhielten, zeigte sich
in der Ferne eine neue Schaar Araber. „Du hast zu viele
Freunde in dieser Qsbcite", rief Dieulafoy Fellahyee zu. „Halte
diese, wenn Dir ihr Leben lieb ist, in gehöriger Entfernung!"
— Als die Karawane wieder gesichert schien, ging die Reise
weiter. — Dieulafoy schlug Fellahyee vor, sich seinen Freun-
den anzuschließen, um wieder zu seinem Stamme zurückzukehren.
„O nein, ich werde aus der ganzen Reise Euer Führer bleiben!"
Bei Sonnennntergang zeigten die Treiber auf große
weiße Punkte hin, die sich ans einer grünen Wiese zu bewe-
gen schienen. Es waren flüchtige Gazellen. Längs der
Wiese rieselte ein Bach. Hier wurde Rast gehalten.
Am nächsten Tage kam die Karawane am Doßelladsch
vorüber, durchschritt eine abschüssige, kieselreiche Hügelland-
schaft lind gelangte endlich in das Becken der Kerkha. —
Bald war der Tumulus von Susa und die weiße Spitze
voui Danielsgrab in Sicht; die Hoffnung jedoch, Susa noch
am Abend zu erreichen, erwies sich als trügerisch, weil cs
unmöglich war, über die durch Gewitterregen angeschwollenen
Flüsse zu gelangen.
Fellahyee benutzte den Aufenthalt, um die mitreisenden
Pilger zu berauben und schien eben im Begriff zu sein, den
alten Mollah zu erdrosseln, als Dieulafoy durch das Geschrei
des Furchtsamen herbeigerufen, Fellahyee nöthigte, von seinem
räuberischen Vorhaben abzustehen. Als er dann auch die
Hoffnung, schließlich wenigstens noch einen erhöhten Führer-
lohn zu erbetteln, vereitelt sah, schied er mit der Drohung,
daß er von sich hören lassen würde!
ölt a.
Seit zwei Tagen waren die Reisenden ganz ohne Reis.
Zum Glück hatte Mahmud noch etwas Mehl, das, mit
Wasser angerührt, über glühender Asche gebacken wurde.
Die Rächt über hielten sie abwechselnd Wache. Als Dieu-
lafoy im Gebüsche ein verdächtiges Geräusch vernahm, gab
er nach der entsprechenden Richtung sechs Revolverschüsse
ab, worauf alles ruhig blieb.
Am Morgen des I I. Dezember wurde der „Kelek" fertig
gestellt. Nachdem die Schläuche gefüllt waren, wurde er
in Bewegung gesetzt und nach der Sandbank gelenkt, auf
welche man bei Tagesanbruch das Gepäck getragen hatte.
Zwei Koffer, welche die Schätze der Reisenden zur Hälfte
enthielten, wurden aufgeladen und Madame Dieulafoy fuhr
mit denselben über den Strom. Die Bootsleute trugen die
Koffer ans Land und sodann das Fahrzeug selbst so weit
am Ufer hinauf, als es die Strömung nöthig machte, um
au die richtige gegenüberliegende Stelle zu gelangen.
Inzwischen sah Madame Dieulafoy sich allein bei dem
werthvollen Gepäck; ein 300 m breiter Fluß trennte sie von
ihrem Gatten und dessen Begleitern. Da brachen plötzlich
aus dem Sumpfdickicht acht mit langen Spießen bewaffnete
Araber hervor. Als sie nach dem ersten Schreck ihre
Geistesgegenwart wiedererlangt hatte, schrie sie ihnen mit
möglichst männlicher Stimme entgegen: „Ich habe noch
14 Kugeln zu Eurer Verfügung, holt noch sechs Eurer
Freunde herbei!" Eingeschüchtert durch den auf sie ge-
richteten Revolverlauf machten sie Halt. Nach 30 bangen
Minuten erschienen Dieulafoy und Jean-Marie, und so
war die Gefahr glücklich überstanden.
18*
140
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang setzte sich der Zug
wieder in Bewegung; aber die Tscharwadare(S. Abbild. 4)
hatten oft viele Mühe, die auf dem schlammigen, unebenen
Wege fortwährend ausgleitenden Maulesel vorwärts zu
bringen. Gegen zehn Uhr gelangte man an den Schawur,
welcher in Folge der Winterregen ebenfalls angeschwollen
war. Es war aber unmöglich, in der Dunkelheit eine Furt
zu entdecken, so daß man gezwungen war, erst den Morgen
abzuwarten.
Am 12. Dezember erfolgte dann der Uebergang über den
Schawur ohne weiteren Zwischenfall. Büffeltreiber, welche
die Reisenden umringten, hatten sedoch einen Koffer mit
Jean-Marie's Werkzeugen gestohlen, den sie indessen sofort
wieder aus dem Schilfrohr herbeiholten, als man ihnen mit
dem Todten zweier Büffel drohte.
Sobald die Rückkehr der Reisenden in der Gegend be-
kannt wurde, kamen ihre besten Arbeiter rasch herbeigelaufen,
schrien vor Freude und küßten die Kleider ihrer Arbeit-
geber. Die Hirten vom Danielsgrabe brachten die unter
dem Schutze des Motavelli zurückgelassenen Zelte, schlugen
sie rasch auf, und die ermüdeten Reisenden überließen sich
der schwer verdienten Ruhe.
Am 15. Dezember begannen sodann die Arbeiten an der
alten Citadelle von Kudurlagamer, jener Festung, welche nach
der Meinung des Aristagoras ihrem Besitzer eine dem Jupiter-
gleiche Macht lieh, und die noch zur Zeit Alexanders für
uneinnehmbar galt, wenn sie nicht durch Flucht deö Königs
oder durch Verrath in die Hand des Feindes fiel.
Nach zweimonatlichen Ausgrabungen hatten 50 Arbeiter-
in den beiden Grüben 1 und J, von denen der eine quer-
über zum Zugänge der eigentlichen Festung, der andere von
einer ziemlich in der Mitte sich befindenden Vertiefung gezogen
worden war, nur einige Bruchstücke von steinernen Stieren
gefunden, welche denjenigen im Apadana des Artaxerxes
glichen, doch von kleinerem Maßstabe waren; ferner die Ge-
wandung einer spät-griechischen Statue; einige Ziegel ans
gebranntem Lehm mit archäischer Keilschrift; und einige
mächtige, durch runde Thürme befestigte Grundmauern.
Bei den Ausgrabungen im Tumulus Nr. 2, östlich von
der Citadelle, stieß man eines Tages auf sehr dicke, rohe
Lehmmauern, welche ans regelmäßig gesetzten Ziegeln be-
standen. Diese Mauern waren von senkrechten Schächten
lind Grabhöhlen durchlöchert, worin sich viele, theils liegende,
theils stehende, durch harten Thonmörtel mit einander ver-
bundene Urnen befanden, deren spitze Basis fest und tief in
das Mauerwcrk eingelassen war. Als eine dieser Ein-
fassungen zertrümmert wurde, sah man auf der Schmalseite
großer Ziegel die Bruchstücke einer menschlichen Figur. Die
zu Staub gewordenen Gebeine vermischten sich mit der
Erde; andere Urnen, deren Mündungen mit einer Stein-
kngel versehen waren, enthielten wohlerhaltene Skelette.
Die Lage dieser Todtenstätten, sowie auch das öftere
Vorfinden von arsakischem Kleingeld, welches wohl für einen
asiatischen Charon bestimmt war, bewiesen unzweifelhaft,
daß zur Zeit der Parther die Stadt schon unter ihren
eigenen Trümmern begraben lag, da die Bewohner sie als
Leichenstätte benutzten.
Nachdem man zum Theil die erste Befestigungslinie
bloß gelegt hatte und auf der anderen Seite des Anßen-
werkes auf ähnliche Mauern gestoßen war, fand man noch
ein sorgfältig gelegtes Fliesenpflaster. Die unerträgliche
Hitze, welche die streifenden ans Susa forttrieb, verhinderte
sie, das Endergebniß der Ausgrabungen abzuwarten.
Eine zweite Ausgrabung F war in der Längsseite des
Tumulus vorgenommen worden. Dieser Graben war dazu
bestimmt, den muthmaßlichen Weg, welcher den äußersten
Vorsprung des Festungswerkes mit der Ocffnnng der Höhle
verband, zu durchschneiden. Man stieß dabei auf ein fast
viereckiges Becken, das auf einen großen Hof schließen ließ.
Jenseits von dieser Senkung und etwas östlich von der
Axe des Tumulus, fanden die Ausgrabungen El statt. Auch
hier stieß man überall auf sehr tiefe und ungeheuer große
Mauern aus Lehmziegeln, die oft von Schächten durch-
brochen waren und als Todtenstätten dienten. Auch hier
war das Ergebniß der Ausgrabung ein nur geringes; einige
wunderschöne emaillirte Ziegel, hübsches Thongeschirr, ein
kleiner Elfenbeinkopf, einige Trinkgefäße ans nnmmulitischcm
Kalk, Zauberformeln in hebräischen Schriftzügen, Cylinder,
Eimer, Waffen, Glasfiolen, parlhisches Geld, das war Alles.
Was den achämenidischen Tumulus anlangt, so fand
man die Fliesenpflasterung des vor dem Thronsaale sich be-
findlichen Hofes mit 3 bis 4 m Erde bedeckt. Hier war
die Ausbeute eine reiche. Dieulafoy verfolgte bei den Aus-
grabungen hauptsächlich das Ziel, die großen Linien einer-
alten Architektur — große Baudenkmäler — bloß zu legen,
da diese die vollkommensten Aeußerungen der geistigen und
wirthschaftlichen Entwickelung eines Volkes sind.
Die langen, mitten durch den rechtwinkligen Tumulus
gezogenen tiefen Gräben L und F mußten aus Zeitmangel
liegen gelassen werden.
Die im vorigen Jahre gemachte Entdeckung von Ziegel-
lagern, welche im hohen Grase versteckt lagen, in diesem
Sommer jedoch durch die Glnthstrahlen der Sonne zu Tage
getreten waren, erweckten die Baulnst Dieulafoy's in
hohem Grade.
Was die Ausgrabungen im achämenidischen Tumulus
anlangte, so beabsichtigte Dieulafoy:
1. die Ring- und Befestigungsmauern wieder herstellen
zu lassen;
2. den Palast des Artaxerxes bloß zu legen;
3. nach dem Standorte der großen Treppe zu forschen,
deren Absatz man in einer von den Sassaniden wieder her-
gestellten Mauer begegnet war;
4. die noch nicht beendete Ausgrabung am Fundorte
der emaillirten Löwen zum Abschluß zu bringen.
Am 18. Dezember wurde, wie schon seit mehreren Tagen,
fleißig gesät und gebaut.
Usta Hassan schwang die Maurerkelle und verschmierte
einige Löcher, die von den habgierigen, nach dem mnthmaß-
lichcn Schatze der Franzosen Verlangen tragenden Arabern
in das Mauerwerk geschlagen worden waren. Er theilte
die Wohnung (S. Abbild. 5) und gewann zwei Stuben,
ein Eßzimmer und einen Lagerraum zum nächtlichen Ver-
schlüsse der Werthsachen. •
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
141
Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
Von Dr. F. Boas in New Jork.
VI.
Während die bisher besprochenen Sagen von über-
irdischen Wesen und den Gestirnen handelten, sollen in dem
folgenden Abschnitte eine Reihe von Ahnensagen gegeben
werden. Dieselben spielen eine ungemein wichtige Nolle
im Leben dieser Stämme. Bekanntlich sind dieselben durch-
weg in Geschlechter getheilt, welche bei den nördlichen
Stämmen je ein Thier als Wappen führen. Diese Ge-
schlechter sind wieder in Unterabtheilungen getheilt, die ihre
Abstammung von einem sagenhaften Ahnen ableiten, der
große Abenteuer bestanden hat. Die meisten Schnitzereien
von Nordwestamerika stellen derartige Sagen dar. Bei den
großen Festen, welche häufig gefeiert werden, machen die
Häuptlinge die Abenteuer dieser Ahnen zum Gegenstände
ihrer Reden. Die Sagen tragen im ganzen Gebiete einen
sehr gleichförmigen Charakter. Interessant ist es. zu be-
obachten, daß die mannigfachen Sitten und Gebräuche der
einzelnen Stämme und Geschlechter auf die Erlebnisse eines
solchen sagenhaften Ahnen zurückgeführt werden.
Ich lasse zunächst eine Sage der Tsimxsolliau folgen:
Tsumsaisk.
Tsumsaisk fuhr einst mit seinen drei Schwägern aus,
Seehunde zu jagen. Obwohl sie viele sahen, gelang es
ihnen nicht, dieselben zu erlegen. Drei Tage lang blieben
sie aus, ohne etwas zu fangen. Ain Abend des dritten
Tages wurden sie sehr müde, und Tsumsaisk beschloß
Anker zu werfen und die Nacht über zu ruhen. Sie be-
fanden sich gerade am Fuße eines steilen Berges. Zuerst
banden sie einen schweren Stein an ein Seil aus Cedern-
zweigen, warfen denselben als Anker aus, und legten sich
nieder schlafen. Gerade an dieser Stelle lebte aber Nugulaks
(ein Walfisch) am Grunde des Meeres. Der Stein fiel
auf das Dach seines Hauses und weckte ihn aus seiner Ruhe.
Da sagte er zu seinem Sklaven, dem Hai (Nótuk): „Stehe
auf und siche, was dieses Geräusch verursacht." Der
Sklave gehorchte. Cr tauchte auf und sah das Boot, dessen
Anker gerade auf dem Dache des Hauses lag. Er kehrte zu
seinem Hause zurück und berichtete, was er gesehen hatte.
Nuguläks schickte ihn zurück und trug ihm auf, den vier
Männern zu befehlen, den Anker fortzunehmen. Der
Sklave gehorchte. Er schwamm zum Boot und klopfte an
dasselbe. Die Männer erwachten von dein Geräusch und
Tsumsaisk frug den im Buge des Bootes sitzenden Mann:
„Was verursacht dieses Geräusch?" Derselbe blickte in das
Wasser und sah den Fisch, der beständig gegen das Boot
schlug. Er sagte: „Es ist ein Haifisch." Tsumsaisk ver-
setzte: „So fang ihn und wirf ihn weit fort." Sein
Schwager that also und der Fisch schwamm zu seinem Hanse
zurück. Er sprach: „Tsumsaisk hat mich nicht verstanden.
Sie haben mich hart angefaßt und weit fortgeworfen." Nugulaks
sandte ihn nun nochmals hinauf und wieder klopfte er an
das Boot, um sich verständlich zu machen. Da wurde
Tsumsaisk zornig und sprach zu seinem Schwager: „Nun
fange den Fisch und mache ihn todt." Der Schwager fing
ihn, riß ihm die Vorderflossen aus und warf ihn ins Meer.
Da schrie er jämmerlich, eilte zu Nugulaks und klagte:
„O, Tsumsaisk hat mir die Arme ausgerissen." Da hieß
dieser ihn sich niederlegen.
Es war nun alles stille und die vier Männer schliefen.
Nugulaks aber ging mitten in der Nacht ans, ergriff das
Boot und zog es auf den Grund des Meeres herab. Links vor-
der Hausthür (beim Eintreten) setzte er es auf den Boden.
Die vier Männer aber schliefen ruhig weiter. Der im
Buge des Bootes sitzende Mann träumte morgens, es regne,
denn das Wasser tropfte ihm beständig ins Auge. Er
erwachte und erblickte erstaunt das fremdartige Haus. Er
glaubte zu träumen und rieb sich die Augen. Als er sie
aber wieder öffnete, das Haus wieder sah, die Leute sprechen
und das Feuer knistern hörte, wußte er nicht, wie ihm ge-
schehen war. Er versuchte das Boot in Schwankung zu
bringen, merkte aber, daß sie festsaßen. Da weckte er
Tsumsaisk und rief: „Siehe, Jemand hat uns ins Wasser
heruntergezogen.-" Da erwachten alle und sahen sich erstaunt um.
Nugulaks aber freute sich, daß die Leute bei ihm waren.
Er ließ feine Sklaven (die Fische) Holz spalten und Feuer-
machen, und ließ das Hans reinigen. Dann schickte er einen
Sklaven zu den Männern und ließ sie einladen, ins Haus
zu kommen. Sie traten ein und sahen, daß das Haus viele
Stufen hatte. Sie weinten vor Furcht, denn sie sahen,
daß das Haus ganz mit Fischen bemalt war und viele
s schreckliche Wesen darin wohnten. Nugulaks aber lud sie
freundlich ein, heranzukommen und sprach zu Tsumsaisk:
„Du sollst mein Bruder seiu." Er schenkte ihm seinen
Mantel, der ganz aus Seegras gearbeitet war, und lud ihn
ein, zwei -rage dort zu bleiben. Tsumsaisk aber wollte
ihm ein Gegengeschenk machen und bat einen seiner Schwäger,
die Kiste zu holen, welche in dem Boote stand, und in der
Bergziegenfett und Farbe und Feder zum Bemalen des
Gesichtes lag. Diese gab er Nugulaks, welcher sie dank-
bar annahm und ans dein wenigen Fette, der wenigen
Farbe und der einen Feder sehr viele machte. Dann lud
er alle Häuptlinge, die mit ihm unten im Meere wohnten,
zu einem großen Feste ein. Ehe sie eintraten, legten die-
selben ihren Tanzschmuck an und verwandelten sich in Fische.
Nugulaks schenkte jedem Bergziegenfett, Farbe und Feder
und sprach dann zu Tsumsaisk: „Nun achte auf, wad hier
geschieht." Plötzlich drang das Wasser ins Haus ein, und
die Fische fingen an zu tanzen. Selbst Tsumsäisk’s Kahn
und der Stuhl aus dem er saß, tanzte. Als der Tanz zu
Ende war, verlief das Wasser wieder. Dann beschenkten
Nugulaks und all die anderen Häuptlinge Tsumsaisk und
befahlen ihm, alles, was er gesehen habe, auf der Oberwelt
nachzumachen. Abends setzten die vier Männer sich wieder
ins Boot, und als sie fest schliefen, brachte Nugulaks den
Kahn wieder an die Oberfläche des Wassers. Früh morgens,
als der Mann im Buge des Bootes erwachte, fühlte er
dasfelbe auf dem Wasser schaukeln. Er weckte seine Brüder
und seinen Schwager und rief: „Seht, was mit uns ge-
schehen ist." Sie erwachten alle. Sie sahen, daß sie wieder
auf der Oberfläche des Wassers waren und fühlten, daß das
Boot schaukelte. Sie blickten sich um und sahen, daß Tang
und Seegras aus ihrem Körper, ihren Kleidern und auf
142
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
dem Boote festgewachsen war. Sie fuhren nach Hause
zurück, aber dort erkannte sie niemand. Alan hatte sie für
todt betrauert, denn nicht zwei Tage, sondern zwei Jahre
waren sie auf dem Grunde des Meeres gewesen.
Tsumsáisk aber baute ein großes Hans und schmückte
es aus, wie das des Nugulaks. Daher gebrauchen die
Nachkonlmen seiner Schwester noch heute den Haus- und Tanz-
schmuck, den er vom Grunde des Meeres heraufbrachte.
So ward er der Ahne des Walgeschlechts.
Die folgende Ahnensage sammelte ich bei den Hílenla.
Tsäea^litl.
Tsaea^litl war Häuptling in Satsq. Einst ging der-
selbe ins Gebirge, um den Berggeist T’öolatlitl zu sehen,
welcher eine Hündin Namens Humüuala^suts hat, die er
ans den Armen nmherträgt, und die für ihn Bergziegen
fängt. Endlich fand Tsäea^litl den Geist und er wollte
seine Kleider und Waffen mit ihm austauschen. Dieser
aber war nicht mit dem Angebote einverstanden, sondern
tauschte nur seinen Tanzstab gegen den des Häuptlings aus.
Da gewann Tsäea%litl Macht über die Bergzicgeu und
fing zwanzig jeden Tag. Er rief alle Leute zusamuien und
gab ihnen ein großes Fest. Er hatte aber so viel Fleisch,
daß er zwei Häuser viermal damit füllen konnte. Daun
baute er sich vier große Häuser. Sein Geschlecht lebt noch
heute tu Sätsq. _____________________
Bei den südlichen Stämmen, den Kwákiütl, zeigen die
Sagen der Hauptgeschlechter und der Uuterabtheilungcu dieser
Geschlechter einen auffallenden Unterschied. Die Ahnen der
Hauptgeschlechter stiegen meist in Vogelgestalt vom Himmel
herab, während die Ahnen der Unterabtheilnngen Menschen
waren, die abenteuerliche Begegnungen mit Geistern hatten.
Die folgende Sage behandelt die Abstammung eines Haupt-
geschlechtes der Naqómqilis von E. Scott.
Leíala.
Zwei Adler und ihr Junges flogen vom Himmel her-
nieder nach -Xúm^ate (E. Scott). Dort nahmen sie ihre
Federkleider ab und wurden Menschen. Der Vater hieß
Näla%ötau, die Mutter Anqälayuqoa, der Sohn Leíala.
Sie bauten sich ein Haus in Aúm^ate und lebten daselbst.
Eines Tages ging Leíala in seinem Boote aus, um See-
huude zu fangen, und sah einige auf einer Klippe liegen.
Vorsichtig ruderte er näher und traf einen mit sicherem
Wurfe der Harpune. Sogleich sprang der Seehund ins
Wasser und zog das Boot weit hinaus ins Meer. Dann
verwandelte er sich in einen ungeheuren Tintenfisch, welcher
das Boot in die Tiefe zog und Léla%a tödtete. Dieser aber
erwachte zu neuem Leben, tauchte wieder auf und flog als
Adler zum Himmel.
Da er nicht zurückkam, betrauerten ihn seine Eltern,
denn sie glaubten er sei todt. Sie tödteten zwei Sklaven
turd bestrichen die Pfeiler des Hauses mit ihrem Blute. Zwei
andere banden sie vor dem Hause fest. Da plötzlich sahen
sie einen Adler von der Sonne auf ihr Haus hcrnieder-
schweben, und sie erkannten ihren Sohn. Er trug eine kleine
Kiste in den Klanen, welche er schüttelte. Da hörte man
vielerlei Gegenstände darinnen rasseln. Und um seinen
Hals hing ein Ring aus rothgefärbtem Ccderubast. Daun
verwandelte er sich wieder in einen Menschen, und die Herzen
seiner Eltern waren froh. Sie zündeten ein großes Feuer
au, und er begann zu tanzen. Aus der Kiste nahm er viele
Flöten hervor, mit denen er die Stimmen der Adler nach-
ahmte; und er trug die große Doppelmaske Na%nakyaqumtl
(die innere Maske stellte einen Mann, die äußere einen
Adler vor). Nach dem Tanze bewirthete er alle Leute. Er
hatte eine große Schüssel, welche einen Tintenfisch vorstellte.
Diese füllte sich stets von selbst mit Fischöl, ohne daß Jemand
etwas hineinschüttete. Lela^a hatte einen Sohn, welcher
den Namen Qaqälis erhielt. Er war der Stautiuvater des
Geschlechtes Lela^a.
Helikilikila und Lötlemaqa (Tlatlasiqoala).
Helikilikila stieg vom Himmel herab zur Erde, einen
Halsring aus rothgefärbtem Cederubast tragend. Er baute
sich ein Haus und zündete ein Feuer darin an. Als das
Haus vollendet war, stieg eine Frau aus der Erde empor,
Namens Lötlemaqa. Er sprach zu ihr: „Du sollst hier-
bei mir bleiben und meine Schwester sein." Beide wohnten
fortan an zwei entgegengesetzten Ecken des Hauses. Eines
Tages forderte Helikilikila, seine Schwester auf, mit ihm
ins Freie zu gehen. Dort wollte er seine Kräfte zeigen.
Sie setzten sich dort auf zwei große Steine, und er hieß
Lötlemaqa, ihm einen großen Stein bringen. Helikilikila.
ergriff ihn und schleuderte ihn weit fort in einen See. Der
Stein aber tauchte bald wieder auf und schwamm auf dem
Wasser. Am Abend desselben Tages lud er viele Leute
zum Feste ein. Als alle versammelt waren, tanzte er selbst
und Lötlemaqa. Zuerst tanzte Helikilikila, und Lötlemaqa
schlug den Takt dazu. Er trug einen kurzen Stab, den er
bald in die Luft schleuderte. Da traf er zehn Leute, die
alle von dem Stabe erschlagen wurden. Die Kwats’enoq
hatten aber von Helikilikila’s Halsring gehört und wünschten
denselben zu besitzen. Deshalb fuhren sie heimlich zu seinem
Hause und kamen an, als jener schlief. Ein junger Mann
versuchte sich ins Haus zu schleichen und den Halsring zu
rauben, als er aber eben die Thüre öffnete, siel er nieder,
und eine freulde Gewalt zwang ihn, unaufhörlich um das
Haus zu laufen und zu schreien. Da erhob sich Helikilikila,
trat vor die Thür und sprach: „Warum wollt ihr meinen
Halsring rauben? Bittet mich doch darum, dann gebe ich
ihn euch." lind sie baten ihn: „£), heile jenen jungen
Mann, laß ihn nicht sterben. Wir sandten ihn, den Ring
zu rauben." Da ging Helikilikila ins Haus zurück, holte
den Ring und gab ihn dem jungen Manne. Nun ward
dieser gesund; sein Herz war froh, und die Kwats’enoq
reisten nach Hause zurück. Seitdem tanzen sie den Winter-
tanz Tsetsaeqa, bei dem die Ringe aus rothgefärbtem
Cederubast gebraucht werden. Nun begann Lötlemaqa zu
tanzen, und Helikilikila schlug den Takt dazu. Sie trug
einen ausgestopften Minkkopf auf der Stirn, und plötzlich
im Tanze rief sie: „mamamamamä!“ Da fiel Helikili-
kila todt nieder. Das hatte Lötlemaqa gethan. Aber
bald erstand er auf, und nun wechselten sie die Rollen:
Helikilikila tanzte und Lötlemaqa schlug den Takt. Da
schleuderte er seinen Stab auf sie. Blut strömte sogleich
aus ihrem Munde hervor, und sie fiel todt nieder. Heli-
kilikila aber heilte sie wieder. Dann warf er den Stock
in die Luft, so hoch, daß er nicht wieder zurückkam.
Helikilikila nahm sich eine Frau Namens Ts’eqarae
(Tsaeqame). Von dieser hatte er zwei Töchter. Nauala-
koaalis und Ts’eqame. Die letztere ward die Frau von
Nomöqois, Q’anikilaq’s Bruder. Sie hatten einen Sohn
Namens Nemöqotsälis.
Nomasenplis (Tlatlasiqoala).
Nomasen^ilis stieg vom Himmel herab und baute ein
Haus. Auf seinem Wappeupfahl saßen zwei Adler, die sein
Haus bewachten. Er hatte drei Kinder. Das älteste war
eine Tochter, welche den Namen Aikyaoeqa erhielt. Sic
war blind. Dann folgte ein Sohn Namens Tle^yalikila
und endlich eine Tochter Namens Na^naisilaoqoa.
Einst wollte Aikyaoeqa nach Yaqamalis (Hope Island)
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
143
fahren, um Beeren zu sammeln. Sie fuhr mit einem ihrer
Sklaven im Boote fort, und da sie lange unterwegs zu sein
schienen, frug sie ihren Sklaven: „Wo sind wir? Wir
sollten doch bald in Yaqamális sein?" Da sprach dieser:
„Ich weiß nicht, wo wir sind, ich sehe nicht mehr Yaqa-
mális, und ich sehe nicht mehr die Adler auf deinem Wappen-
pfahle." Lange fuhren sie umher, ohne Land zu sehen.
Endlich tauchte in weiter Ferne eine Insel ans, und als sie
naher kamen, erblickte der Sklave ein Haus. Dort wohnte
Tláqoakila. Als dieser das Boot sah, lud er beide ein, in
sein Hans zu kommen. Und er nahm Aikyáoeqa zur
Frau. Nomasén^ilis aber betrauerte seine Tochter, als sei
sie todt. Sein Herz war betrübt und er ließ seine Leute
den Wappenpfahl umstürzen unb ins Meer werfen. Da
trug ihn die Fluth nach Yaqamális, und Nomasénplis
baute sich daselbst ein neues Haus.
Aikyáoeqa aber gebar zwei Kinder, Tláqoakila und
Tläsutewalis. Eines Tages legte sie dieselben am Feuer
nieder und ging zum Meere, Muscheln zu sammeln. Die Kinder
spielten am Feuer umher und fielen zum Ocfteren aus die
Füße ihrer Großmutter. Endlich ward diese ungeduldig
und sagte: „Nun laßt das. Stört mich nicht immer. Ich
weiß ja nicht einmal, wo eure Mutter herstammt." Die
Kleinen wurden betrübt hierüber und frugen ihre Mutter,
als sic zurückkam: „Mutter, wo ist deine Heimath? Groß-
mutter sagt, sie wisse nicht, woher du gekommen." Da sprach
die Mutter: „Ich fuhr mit einem Sklaven weit ins Meer
hinaus und gelangte nach langen Irrfahrten hierher." Da
sagten die Kinder: „O, erfreue uns, laß uns zu unserm
Großvater gehen." Da erzählte sie ihnen, daß jener Nöma-
sén^ilis heiße und ein mächtiger Häuptling sei. Ihr Vater
gab ihnen ein Kupfcrboot, und die Mutter sagte ihnen, ehe
sie fortfuhren: „Ehe ihr meine Heimath erreicht, werdet
ihr die Adler ans unserm Wappenpfahle schreien hören."
Sic fuhren ab und nach langer Zeit hörten sic zwei Adler-
schreien. Da wußten sie, daß sic Komasén^ilis's Haus
erreichen würden; und als sie ankamen, beschenkten sic ihren
Großvater mit vielen Kupferplatten. Ihr Vater hatte
nämlich ihr Boot mit denselben beladen. Das Boot, die
Nnder und der Schöpfer waren von Kupfer und Noma-
sén^ilis verwunderte sich, als er das sah. Nach einiger
Zeit sehnten die jungen Männer sich nach Hause zurück
und baten ihren Großvater, sic zurückzusenden. Da füllte
er ihr Boot mit Pclzdeckcn, und sie kehrten in ihre Heimath
zurück.
Wal äsn o ra ó qoi s (K w ak i ütl).
Walasnom óqois kam von der Sonne zur Erde herab
und baute sich ein Haus in Tsá^is (Ft. Nupert). Sein
Sohn war Om’a^tálatlé. Dieser sah viele Seehunde und
Seeottern ans Q’ámsij^tle (Shell Island). Er nahm einen
Stamm Treibholz, den er als Boot benutzte, fuhr hinüber
und fing dieselben. Dann gab er ein großes Fest und
schenkte jedermann Otternfellc und Seehundsthran. Dann
fuhr er nach Kyokjt und ging den dort mündenden Fluß
hinauf. Daselbst traf er einen Mann Namens Mákakyu,
welcher ihm ein Boot schenkte. Alsdann fuhr Om'a^talatle
gen Osten und traf im Lande der Mamaleleqála mit
Qawatileqála zusammen. Dieser lud ihn ein, mit in seine
Heimath, ins Land der Tsawat’énoq zu gehen. Om’a^tálatlé
folgte ihm und bekam dort Qawatileqála’s Tochter, Häa^’-
qolátlemaqa zur Frau. Sein Schwiegervater gab ihm
ein großes Haus, dessen Dachbalken doppclköpsige Schlangen
(Sisiutl) waren. Er zog nun mit seiner Frau nach Ky’aqa
(nahe Ft. Rupert) und baute daselbst ein Haus. Die beiden
Pfosten vorne in seinem Hanse sind zwei Männer: Yeq’-
ent’eqa (etwas, das drinnen spricht) und Wawe^ernitl (der
Redner). Die hinteren Pfosten sind ebenfalls Männer: Lö-
^éla^sta (der Prahler) und Hasaqawasui (versucht lauter
zu sein als alle übrigen). Die beiden vorderen Pfosten
tragen unmittelbar die Längsbalken, welche sisiutl darstellen,
während die hinteren Pfosten mit einem Querbalken bedeckt
sind, der einen sisiutl (oder Wolf?) darstellt. Die Thür
des Hanfes hängt oben in Angeln, und wer nicht schnell
herausläuft, wird von ihr erschlagen. Seine Tanzmaske
ist ein Wolf, welcher auf dem Kopfe getragen wird, und
Olikyen heißt. Der Tanz, welchen ^'awatiléqála ihm
gab, heißt WalasaWq (etwas Großes, von oben Gegebenes).
Als er das Hans vollendet hatte, gab er ein großes Fest
und alle Pfosten und Balken wurden lebendig. Die Sisiutl
fingen an, ihre Zunge zu bewegen und die Männer, welche
hinten im Hause stehen, sagten ihnen, wann ein böser Mann
hereinkam. Dieser wurde sogleich von den sisiutl gctödtet.
S’éntlaé (Kwákiütl).
Sénilae, die Sonne, stieg in Gestalt eines Vogels zur
Erde herab, verwandelte sich in einen Menschen und baute
ein Hans in Yiq’ämen. Von dort wanderte er nach
Qomoks und besuchte dann die Plauitsis, die Némkis, die
Náqoavtoq, und kam endlich nach Tlikslua« im Lande der
Kwákiütl, wo er sich in Q’aio% niederließ. Unter jedem
Stamme nahm er eine Frau, und sein Geschlecht führt den
Namen sisiutl«. In Tlikslua« beschloß er zu bleiben und
nahm eine Frau ans dem Stamme der Kwákiütl. Von
ihr hatte er einen Sohn, Namens Ts^ts^ülis. Auf jeder
Seite seines Hauses ist eine große Sonne gemalt. Die
Hanspfosten sind Männer, welche Sonnen tragen. Ihr
Name ist Kölo^ts'otpes, und sie waren Sklaven 8«ntla«'s.
Die Querbalken über den Pfosten stellen ebenfalls Männer
dar; die Längsbalken Seelöwen. Die Stufen zum Hause
sind drei Männer, Namens Tlénonis. Im Wintertanzc
gebrauchen die sisiutl« die Sonnenmaskc, Tleselaqerntl,
beim Tanze Yáui%a die Maske des Hundes, Kulo^sä, der
mit Séntlae vom Himmel herabgekommen sein soll (der
Name soll bedeuten, die roth durch die Wolken scheinende
Sonne). Der Wappenpfahl der sisiutl« heißt Sentléqera.
Der Pfahl stellt eine Reihe über einander stehender Kupfer
dar. Darüber ist ein Mann, Namens Ka^t'oGos (Sing,
von Kölo^t’otpes; der Name soll bedeuten: der nur Fremden
etwas Schenkende), welcher den Arm zur Rede erhoben hält;
zu oberst ist die Sonnenmaskc von einem Strahlenkranz
umgeben.
Weqae (Wíwéqaé).
Weqae stieg vom Himmel zur Erde herab und baute
sich ein Hans in T’ékya. Er hatte drei schöne Töchter,
welche vor diesem Hause zu sitzen pflegten, um dort Matten
zu flechten. Ihre Gesichter waren, mit rother Farbe bunt
bemalt. Eines Tages kamen vier junge Wölfe auf sie
zugelaufen. Sie fingen dieselben und nahmen sie mit ins
Haus, und sie gewannen sie so lieb, daß sie sie Abends mit
ins Bett nahmen. Die Wölfe aber rasten im Hanse um-
her, und deshalb beschlossen die Schwestern, sie wieder laufen
zu lassen. Nur den jüngsten, dessen Fell sehr schön ge-
zeichnet war, behielten sie. Da träumte die jüngste der
Mädchen von den Wölfen, und sic sprach morgens zu ihrem
Vater: „Ich will den jungen Wolf zu seinen Eltern zurück-
bringen. Aengstige dich nicht und weine nicht um mich, die
Wölfe werden mir nichts anhaben." Sie nahm den jungen
Wolf auf die Arme und trug ihn zum Hanse der Wölfe.
Da gaben ihr diese den Wolfskopfschmnck und eine Rassel,
die so groß war, daß zwei Leute sic tragen mußten. Sic
sagten zu ihr: „Dein Vater wird nun ein großer Häuptling
werden."
144
Aus allen Erdtheilen.
Als das Mädchen zurückgekommen war, baute Weqae
ein großes Haus, und beschloß, um Kunkunxulikya’s
(des Donnervogels) Tochter zu werben. Er wanderte zum
Hanse des Donnervogcls und warb um dessen Tochter:
„Laß uns zuerst unsere Kräfte messen, damit ich sehe, ob
du stark und mächtig bist", sprach Kunkun%ulikya. Er
hieß jenen sich an der Mitte der Wand niedersetzen und
ließ dann das Wasser des Meeres höher und höher steigen,
so daß cs das ganze Haus füllte. Weqae nahm ein
Stückchen Schiefer in die Hand, drückte dasselbe aus den
Boden und dasselbe wuchs mit dem wachsenden Wasser, so
daß er immer ans dem Trocknen saß. Da sah der Donner-
vogel, daß jener stark war, und gab ihm seine Tochter.
Als Weqae zurückkam, malte er den Donnervogel an sein
Haus.
Dann beschloß er die Tochter des Häuptlings der
Wik’enoq zur Frau zu nehmen. Durch diese Heirath ge-
wann er die Geister der Hamats’a. Der Häuptling hieß
ihn, sein erstes Kind Ts'emqoa nennen. -
Dann ging Weqae nach Bil^ula, um sich daselbst eine
Frau zu nehmen. Er fand alle Leute in einem Hanse
versammelt. Ihre Gesichter waren zerkratzt und sie weinten,
weil ihr Lachswehr zerstört war. Weqae lachte über ihren
Kummer; er brach einen gewaltigen Baum mitten durch
und baute ihnen ein Lachswchr. Da freuten sich jene und
ihr Häuptling gab ihm zum Lohne seine Tochter, der er
viele mit Haliotisschalen besetzte Fellmäntcl mitgab. Weqae
ward zornig, daß man ihr nicht mehr und nichts Besseres
gegeben hatte, und tödtete diese Frau.
Als er zurückkam, reinigte und malte er sein Haus und
gab ein großes Fest.
Liatlqam (t^atlolt^).
Vor langer, langer Zeit stieg Siätlqam vom Himmel
herab. Er trug das Vogelkleid Xoä,e%oe und ließ sich
in Ngaisam (bei Mndge) nieder. Er wurde der Stamm-
vater der tzaklolk^. Mit ihm kam seine Schwester Tesitla,
welche so groß war, daß sie zwei Boote bedurfte, um über
das Meer zu fahren. Die Geschwister durchwanderten alle
Lande, und besuchten die Nanaimo, Nisiutl, Tlahüs und
viele andere Stämme, die alle ihre jüngeren Brüder wurden.
Die hier erzählten Sagen beziehen sich aus die Ent-
stehung des Totems der verschiedenen Geschlechter. Nur
die Hanptgcschlcchter stammen unmittelbar von dem Totem
ab; in den meisten Fällen verlieh dasselbe einem der Ahnen
einen besonderen Schutz und wird seitdem als dem Ge-
schlechte freundlich betrachtet. Aber selbst die Hanptgeschlechter
haben nicht immer unmittelbar ein Totem, sondern viele
erwarten dasselbe durch die Thaten der Urahnen. Das
Geschlecht Omeatl stammt unmittelbar vom Raben ab, und
derselbe ist sein Totem, ebenso stammt das Geschlecht Leloßa
unmittelbar vom Adler, Sésintle von der Sonne ab. So
weit mir bekannt geworden, sind diese aber die einzigen unter
den Kwakiütl, welche ihren Ursprung vom Totem ableiten.
Weder die Sage von ñelikilikila, noch die von Noma-
sén^ilis oder Walasnomóqois, sagen irgend etwas über
das Totem ans. Bei den Kwakiütl sind die wichtigsten
Totems die folgenden: Sonne, Mond, Rabe, Adler,
Donnervogel, Grizzlybär, Tsönoqoa, Sisiütl, Qömöqoa,
Walfisch. Eine Gruppirnng derselben, wie bei den Tlingit
ist nicht vorhanden, vielmehr haben häufig mehrere Ge-
schlechter gemeinsam dieselbe Figur, je nach den Sagen,
welche einem der Ahnen zugeschrieben werden. Es würde
vielleicht richtiger sein, diese Figuren mit dem Namen
Wappen, statt Totem zu bezeichnen, denn wenngleich in der
Mehrzahl der Fälle — bei den nördlicheren Stämmen
immer — die Wappenfignr als Stütze des Geschlechtes
erscheint, so fehlt es nicht an solchen, wo dieselbe nur an
eine Großthat der Ahnen erinnert. So führt die Unter-
abtheilung Kue^akila des Geschlechtes Omeatl den Sisiütl,
welcher von Kue^akila erlegt wurde, als Wappen. Jeden-
falls ist das Totem der südlichen Stämme nicht identisch
mit dem der Tlingit und Naida, und wir gewinnen den
Eindruck, daß sich dasselbe nur durch den Einfluß der letzteren
zu seiner gegenwärtigen Form entwickelt hat.
Aus allen
Aste n.
— Die russischen Reisenden Kalino wsky und Dclatke-
w itsch haben der Petersburger Gesellschaft der Naturforscher
die Berichte über ihre 2^ jährigen Forschungsreisen in
Korea eingesandt, die besonders über die Gegend zwischen
Söul und der russischen Grenze viel werthvolles Material
enthalten. Die Karte der Halbinsel, welche Petermann's
Mittheilungen seiner Zeit veröffentlicht haben (Bd. 29, Taf. 10),
soll dadurch in verschiedener Hinsicht berichtigt und ver-
vollständigt werden.
Afrika.
— LieutenantWißmann hat eine neue Afrika-Reise
angetreten, die in einer gewissen Beziehnng zu der Staulcy-
und Emin-Pascha-Frage, sowie auch zu der ostafrikanischen * VI.
E r d t h e i l e n.
Araber-Frage steht. Zunächst bcgiebt sich der rühmlichst be-
kannte Reisende nach Zansibar, und von dort aus wendet er
sich eventuell durch Deutsch-Ostafrika nach dem Gebiete des
Weißen Nil. — Gleichzeitig haben auch die Amerikaner unter
Lieutenant Schnfcldt eine förmliche Stanley-Entsatz-Ex-
pedition organisirt, die ebenfalls von Zansibar ans in das
Innere vordringen soll; und in Deutschland ist die Aus-
rüstung einer Expedition zu Emin-Pascha, die
nebenbei handelspolitische Ziele verfolgen soll, im Gange. —
Was die neueren Nachrichten vom Bahr-el-Ghasal be-
trifft, so deuten dieselben darauf hin, daß der fragliche „weiße
Pascha" eher Stanley als Emin sein bürste. Jüngst in
Suakim angekommene Pilger ans Sokoto reden von einer
ganzen Colonnc von weißen Männern, mit denen sie am Bahr-
el-Ghasal vier Tage kampirt haben.
Inhalt: Lieutenant Schmidt: Deutsch-Witu-Land. (Mit einer Karte.) — Jane Diculasoy: Dieulafoy's Aus-
grabungen in Susa. (Mit fünf Abbildungen.) — Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
VI. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Afrika. (Schluß der Redaktion am 24. August 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckcrt in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Brannschwcig.
Mit besonderer U erbeb sì ebtìgung der Ethnologie- der Kulturberhnltnìsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben non
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bünde à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
D e u t s ch - W i t u - L a u b.
Von Lieutenant A. R. S ch m i d t.
(Fortsetzung.)
Das Klima des Witu-Landes laßt sich nicht mit einem
Worte als zuträglich oder unzuträglich bezeichnen; es kommt
dies natürlicherweise ganz ans die Lage der einzelnen Ort-
schaften, und bei europäischen Niederlassungen ganz ans die
Auswahl der Stationsplütze an. Witu selbst, diese im Ur-
walde gelegene Stadt mit drückender Temperatur, wo durch
den Urwald die regelmäßigen und erfrischenden Winde von
der Stadt abgehalten werden, mit ihren engen Gassen, ihrer
Unreinlichkeit in den Häusern, und mit dem schlechten Trink-
wasser der unmittelbar bei den Kloaken befindlichen Brunnen,
ist beispielsweise sehr ungesund; ebenso einzelne in der Nähe
von Mangrovesümpfen gelegene Orte, besonders an der
Küste, wofern diese nicht sandig ist. Andererseits bietet
das Land wiederum für Ansiedelungen auch in sanitärer
Hinsicht recht günstige Plätze dar, was allerdings in noch
höherem Maße in dem höher gelegenen Galla-Lande —
dem Hinterlande von Witu — der Fall ist. Ein durch seinen
Handel sehr wichtiger, wenn auch klimatisch ungünstiger
Platz des Witu-Landes, der sich vorläufig allerdings noch
in den Händen des Zansibar-Sultans befindet, ist Kau am
Osi. Dieser Ort ist rings von Flüssen, an deren Ufern
sich Mangrovesümpfe hinziehen, umgeben; es sind dies im
Süden der Osi, im Westen der in den Osi sich ergießende
Magogoni, im Norden ein den Magogoni und den Kiri-
mando verbindender Kanal — der Dumembamba (verdrehtes
Wort, eigentlich Mtomembamba, enger Fluß) — und im
Osten der Kirimando. Diejenigen, welche vom Norden
Globus LIV. Nr. 10.
ans nach Kan gelangen wollen, müssen den Ort Kikoni
(eigentlich Kikoni-Fähre) passiren, um hier ans einem Kanu
über den Kirimando gesetzt zu werden. Das Uebersetzen
und die Kontrole wurde hier früher von Soldaten des Said
Bargasch ausgeführt, so daß wir Deutschen theilweise ganz
davon ausgeschlossen waren. Seit dem Dezember 1886
indeß befindet sich Kikoni im Besitze der deutschen Witu-
Gesellschaft.
Kan ist wegen seiner niedrigen Lage inmitten der
Sümpfe ein sehr ungesunder Ort. Die Bevölkerung von
Kau wird gebildet durch wohlhabende Araber und Suaheli,
welche durch schwungvollen Betrieb vom Sklavenhandel reich
geworden sind und noch weiter reich werden, aber auch den
sonstigen Handel, neben drei Banianen, die sich am Orte be-
finden, in der Hand haben; ferner durch eine Anzahl von
Repräsentanten der verschiedenen benachbarten Stämme,
z. B. Galla, welche große Viehheerden in der Nähe haben;
und Wapokomo, die theils als Sklaven dienen, meist aber
kommen, um die reichen Erträgnisse ihrer Felder abzu-
liefern. Auch Somali kommen häufig nach Kau, um dort
Bich- und auch Elfenbeinhandel zu treiben. Für den
Elfenbeinhandel ist Kau überhaupt ein wichtiger Platz, in-
dem nach hier sowohl von Gallas als auch von Somali viel
Elfenbein aus dem Inneren gebracht wird. Sonst sind die
Hauptplätze für den Elfenbeinhandel Kismayu, Sin und
(so lange durch die Anwesenheit Achmed's der Handel dort
betrieben wird) Witu. Auch für den Kautschnk-Aufkauf ist
19
146
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witn-Land.
Kau ein wichtiger Platz, wie auch von hier aus der ganze
Bedarf der am Tana ansässigen Stämme gedeckt wird. Der
Sultan von Zansibar hat daselbst eine stärkere Besatzung —
zur Zeit 100 geworbene arabische Söldner, unter einem
ebenfalls arabischen akadi (Hauptmann) stehend, eine Zahl,
die 1886 ans 250 erhöht war. Zu jener Zeit hatte ich
mich einige Wochen dort ausgehalten; es war mir jedoch
damals der Einlaß in die Stadt nur unter den größten
Schwierigkeiten und nach mehreren vergeblichen Bemühungen
gelungen, und war ich dann den ärgsten Anfeindungen seitens
der Araber, besonders des akida, und der Said Bargascks-
schen Partei, die jeden Deutschen fanatisch mit ihrem Hasse
verfolgten, ausgesetzt. Durch die Grenzregulirung sind aber
auch dann diese Verhältnisse sehr zu unseren Gunsten ver-
ändert worden, so daß ich später, wenn ich den Ort einmal
wieder passirte, stets gute Aufnahme fand.
Die Produkte der Feldwirthschaft, welche das Witu-Land
liefert, sind Reis, Mais, Negerhirse, Bataten, Mhogo, Bohnen,
Zuckerrohr, Bananen, Ananas, Kürbisse und Wassermelonen;
ferner Kokosnüsse bis ziemlich weit in das Innere (etwa drei
Meilen) hinein; und Mangos, die, einmal angepflanzt, auch
ohne Pflege gedeihen und sich vermehren, wie wir an den
Stellen der verlassenen Dörfer sehen; endlich nicht zu ver-
gessen Tabak, von dem man glaubt, daß er bei besserer
Pflege und technischer Zubereitung auf dem Weltmärkte
eine Rolle spielen wird; und Sesam, der besonders zur
Zubereitung des Sesamöls durch von Kameelen gedrehte
Mühlen (alte ägyptische Mühlen) verwandt wird. Von
diesen Produkten wird jedoch keines in solchem Maße an-
gebaut, daß eine Ausfuhr jetzt schon stattfinden könnte; im
Gegentheil, die Eingeborenen sind noch auf, den Import
aus anderen tropischen Gebieten (besonders beim Reis von
den Komoren, Indien, Madagaskar her) angewiesen. Zn
hoffen ist indeß wohl, daß auch Versuche, die mit werth-
vollen tropischen Produkten von der deutschen Kolonial-
Gesellschaft und von den anderen dort thätigen Deutschen
vorgenommen werden, zu einem günstigen Resultate führen;
besonders der Kaffee, den das Somali-Land und das
Boranigalla-Land in ganz guter Qualität liefert, gleichwie
Bauulwolle und Tabak, dürften zum Anbau zu empfehlen
sein; Kokosnußplantagen werfen, nach fünf Jahren zwar
erst ertragfähig werdend, dann sicheren Gewinn ab.
Freilich sind auch hier, wie überhaupt im binnenländischen
Ostafrika, die Arbeiterverhältnisse zur Zeit noch ungünstige,
und wäre es Unrecht, sich über diese Schwierigkeit hinwegzu-
täuschen. Doch zeigt sich diese Schwierigkeit meiner Erfahrung
nach im Anfang immer größer. Es ist schwer, die genügende
Anzahl Leute zur Arbeit zu erhalten, und erhält man sie,
so fordern sie vom Europäer meist einen Preis, im Ver-
gleich zu dem ihre Arbeitsleistung — und mit dieser wird
der Europäer überhaupt schwer zufrieden sein — minimal
ist. Indeß zeigt sich doch — wenigstens habe ich Gelegenheit
gehabt, dies zu beobachten — daß sich dem Europäer mit
der Zeit erstens mehr Arbeitskräfte und zweitens auch zu
billigeren Löhnen zur Verfügung stellen; außerdem — und
dies ist die Hauptsache — findet man durch Benutzung der
Sklaven reicher Grundbesitzer häufig zu sehr geringen Preisen
Gelegenheit, Arbeiter zu erhalten, und diese sind dann auch
gerade die besten Arbeiter; in letzterem Falle kann man
sogar die Arbeiterverhältnisse als leidlich gute bezeichnen.
Solche Grundbesitzer, die einen größeren Sklaven-Etat haben,
als sie für ihre Zwecke bedürfen, finden sich in jedem Orte;
in Witn ist hierbei besonders mit Sultan Achmed zu rech-
nen, in Kiongue fand ich bei dem dort sehr einflußreichen
Suaheli Mohamed ben Abdrchman in dieser Beziehung
schätzenswerthe Hülfe, und ebenso in Kimbo bei dem Orts-
ältesten. Dies sei nur als Beleg angeführt, daß es meistens
möglich sein wird, die Verhältnisse zum eigenen Vortheil zu
benutzen, wenngleich man sich über die bestehenden Schwierig-
keiten nicht hinwegtäuschen darf.
Der Bestand an Rindviehheerden ist in mehreren Plätzen
des Witn-Landes ein ziemlich bedeutender, Schaf- und
Ziegenheerden finden sich überall, gleichwie besonders Feder-
vieh. Das Rindvieh kommt indessen nicht besonders gut
fort; viele Stücken gehen zumal in den ungünstigen Jahres-
zeiten, wie die Leute sagen, an Fieber ein. Wird ein Stück
Vieh erst einmal krank, so krepirt es stets sehr bald, späte-
stens im Verlaufe weniger Tage; die Neger ziehen es dann
vor, das Stück bald zu schlachten, da sie Fleisch von ge-
fallenem Gethier nicht genießen. An dem schlechten Fort-
kommen des Rindviehs ist übrigens jedenfalls nicht das
schlechte Klima oder das Vorkonunen bösartiger Fliegen,
wie die Eingeborenen häufig angeben, sondern deren mangel-
hafte Pflege schuld, da sie das Vieh den Tag über den
scharfen, gefährlichen Sonnenstrahlen aussetzen, während sie
es in der Nacht vielfach bis an die Knöchel im Sumpfe
stehen lassen, anstatt es zu diesen Zeiten in luftigen Stal-
lungen unterzubringen und so auch mehr die das Vieh be-
unruhigenden Insekten abzuhalten, obwohl gerade die als
besonders gefährlich verrufene Tsetsefliege im Witn-Lande
nicht vorkommt. Einen Grund für das schlechte Gedeihen
des Viehs bildet auch die mangelhafte Nahrung, indem die
harten Gräser, welche die Natur selbst produzirt, die aus-
schließliche Nahrung desselben bilden.
Sonst kommen noch Esel, die zum Lasttragen, und ganz
vereinzelt Kameele, die zum Drehen der Oelmühlen ver-
wandt werden, vor; von Pferden sind die ersten Exemplare
im vorigen Jahre eingeführt worden; es dürfte hier das
Somalipferd besonders zum Import geeignet sein. Edlere
Arten kommen im tropischen Klima nicht fort, wie man
z. B. an den arabischen Pferden in Zansibar und sogar in
Aden sieht.
Einen Haupterwerbszweig bildet in Witn die Bereitung
des Kautschuk; Kautschuk-Lianen finden sich besonders in den
Urwäldern zwischen Pangani und Witn, bei Mpeketoni und
Kipini, sowie im Galla- und Waboni-Lande. Zur Ehre des
Sultans Achmed muß erwähnt werden, daß derselbe in
seinem Lande einer eigennützigen, für den Augenblick aller-
dings sehr vortheilhaften, Ausbeutung der Wälder steuert.
Der Preis des frasila (35 Pfd.), Kautschuk variirt zwischen
8 und 11 Dollars, war auch gelegentlich noch erheblich ge-
ringer. Der Kautschuk des Witn-Landes wurde bisher
von den Indiern nach Zansibar oder gleich direkt nach den
großen Kautschuk-Märkten besonders in Indien versandt;
jetzt haben wir Deutschen schon begonnen, den Kautschuk-
handel an uns zu ziehen, und haben hierin sowohl die Deutsche
Witu-Gesellschaft als auch der im Sultansgebietc operirende
Herr Gustav Denhardt erfreuliche Resultate erzielt. Außer
Kautschuk bildet Elfenbein den Hauptexportartikcl daselbst;
der Elfenbeinhandel muß indeß noch sehr gehoben werden,
da bisher, trotz des Vorhandenseins von größeren Quanti-
täten an den Handelsplätzen der Witn-Küste und auf den
Inseln, nur wenig gekauft wurde, indem bisher die Hindus
und Banianen allein den Handel in der Hand hatten und
diese nicht genügend kauften; auch geht bisher ein großer
Theil des Elfenbeins nach den Plätzen der nördlichen Somali-
Küste und von da nach Aden. Meiner Ansicht nach bieten
sich der deutschen Kolonialgesellschaft im Witu-Lande für
den Elfenbeinhandel günstige Aussichten. Im übrigen kommen
für den Ausfuhrhandel noch in Betracht: Straußenfedern,
die, wenn auch in geringer Quantität, aus dem Galla- und
Waboni-Lande kommen; Felle; Hörner; in ganz geringer
Menge wird an der Mandabai Ambra, ein weiches von
der Meeresbrandung ausgeworfenes Harz, das zum Räuchern
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
147
dient, gefischt. Andere Ausfuhrartikel müssen durch Plantagen-
betrieb erst geschaffen werden. Obwohl in den Wäldern
des Witu-Landes die verschiedenartigsten und auch wohl zu
verwerthende Holzsorten vorkommen (auch Ebenholz kommt
zahlreich vor, dies jedoch meist nur mit recht schwachem Kern,
da solches bereits sehr ausgebeutet ist), so ist doch an einen
Export vor der Hand noch gar nicht zu denken, da hierfür
noch keine Kommunikationen bestehen. Was den Import
von Waaren nach dem Witu-Lande anlangt, so befindet sich
dies Geschäft ausschließlich in den Händen der Indier, die
allerdings zum Theil selbst Abnehmer der großen europäi-
schen Handelshäuser auf Zansibar sind. Einer auf dem
Kontinente selbst sich etablirenden und daselbst Handel
treibenden Gesellschaft möchte ich auf dem Gebiete des
Einfuhrhandels wenigstens zur Zeit noch keine günstigen
Aussichten stellen. Zu meiner Freude höre ich indeß, daß
in der letzten Sitzung der Deutschen Kolonialgcsellschaft durch
den Referenten, Herrn Konsul Weber, auch auf diesem Ge-
biete schon von Erfolgen berichtet werden konnte.
Die Niederschläge, von denen naturgemäß die Fruchtbar-
keit des Landes abhängig ist, sind — wozu auch die reichliche
Bewaldung des Landes selbst und besonders der angrenzen-
den Distrikte beiträgt — sehr reichlich. Die Regenzeiten
fallen in die Monate Mai und Juni (große Regenzeit) und
November und Dezember (kleine Regenzeit, und Zeit der
schwersten Gewitter); aber auch die anderen Jahreszeiten
bringen öftere Negcnfälle, mit Ausnahme mcistentheils der
Monate Januar, Februar und März, welche die heißesten
und trockensten des Jahres sind.
Die Jagd ist in vielen Strecken des Witu-Landes und
besonders des Galla-Landes lohnend; man trifft besonders
alle Raubthierarten, Büffel, Rhinocerosse, in den Flüssen
Nilpferde, mehrere Antilopcnarten, Wildschweine und sehr
viel Geflügelwild an, so daß ich eine Reihe von theilweise
erfolgreichen und interessanten Jagdzügen unternahm.
Als Zielpunkt für unbemittelte Auswanderer wird das
Witu-Land als solches in absehbarer Zeit nicht in Frage
kommen, wegen der auch für gesunde Europäer, wenn sic
sich dort eine lange Reihe von Jahren oder auf Lebenszeit
aufhalten wollen, immerhin vorhandenen klimatischen Ge-
fahren. Vielleicht bietet bezüglich der Auswanderung in
späterer Zeit einmal gleich dem Kilimandscharo-Gebiete das
Boranigalla-Land bessere Aussichten. —
Bisher sind im Witu-Lande thätig: die Deutsche Witu-
Gesellschaft in Deutsch-Witu-Land, wo sie einige Stationen,
— auch eine auf der Insel Manda, in günstiger Lage zur
Mandabncht — angelegt hat; ferner im Sultanat Witu Herr-
Gustav Denhardt (sein Bruder Clemens, der Begründer
der deutschen Kolonie, lebt seit über drei Jahren in Deutsch-
land); der Bevollmächtigte des Sultans Achmed, mit einer-
kleinen Zahl von Beamten; und endlich zwei deutsche
Kolonisten, die bei Hedio in günstiger Lage eine Nieder-
lassung, welche sie Baltia nannten, begründeten.
Ich sehe in dem Witu-Lande hauptsächlich einen
Schlüsselpnnkt für sein reiches Hinterland — sowohl für die
Gebiete am Tana und die Galla-Länder (vornehmlich mit
dem Hochlande der Borani-Galla) als auch für die bisher
von Europäern nur berührten hoffnungsreichen Somali-
Länder, die im Norden einen ausgedehnten Küstenstrich be-
sitzen; ich lasse daher die kurze Beschreibung einzelner Völker-
schaften, welche zu Witu in besonderer Beziehung stehen, folgen.
(Fortsetzung folgt.)
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dieulafo«.
(Mit sieben VIII.
VIII.
Die an den Ufern der Kercha zahlreich lagernden No-
maden brachten in Ueberflnß Eier, Hühner, Hammel und
saure Milch zum Verlaus. Die früheren Arbeiter, welche
von flinkeren verdrängt zu werden fürchteten, kamen herbei
und griffen sofort nach Hacke und Schaufel.
Die Reisenden erfreuten sich eines Wohlseins, das sie
bis dahin noch nicht empfunden, sogar in geselliger Hinsicht,
denn sie wurden von Besuchern fast überlaufen. So kamen
am 1<>. in Begleitung des Imam Dschuma von Disfnl
mehrere berittene Muselmänner.
Vor kurzem hatte Mozaffer cl-Molk die Kühnheit ge-
habt, zu befehlen, daß von der niederen mohammedanischen
Geistlichkeit Steuern erhoben werden sollten. Ein solches
Verbrechen war noch niemals in Arabien begangen worden.
Mollah's und Akhonda's erhoben ein Geschrei wie lebendig
gerupfte Seeadler und wandten sich an den Imam Dschinna
von Dissul, welcher ihre Sache aufs wärmste vertrat.
So begann die religiöse Behörde einen offenen Kampf mit
der bürgerlichen Negierungsgewalt.
Mozaffer cl-Molk beharrte bei seinem Befehl.
Als der Imam Dschuma von Dissul nach zweistündigem
Aufenthalt nach Nedschef weitergereist war, indem er erklärt
Abbildungen.)
! hatte, daß er niemals seine Zustimmung zur Erhebung einer
so gottlosen Steuer geben würde, versammelte sich das Volk
in den Moscheen. Die sonst friedliebenden Disfnlcr waren
jetzt ganz wild. Immer drohendere Nachrichten drangen zum
Palast des Mozaffer el-Molk, worauf dieser von Furcht er-
griffen, Mohammed Daher beschwor, die böse Angelegenheit bei-
zulegen und durch Zurückziehung des Steuerbefehles die Rück-
kehr des Imam zu bewirken. Dieser zeigte sich den Friedens-
vorschlägen geneigt; seine Rückkehr glich einem Triumphzuge.
Als er und seine Begleiter die Reisenden besuchte, kam
das Gespräch auf die wichtigsten volkswirthschaftlichen
Fragen: auf die theuren Brotpreise, ans das allgemeine
Elend, aus das überregenreiche vergangene Jahr und die
gegenwärtige Trockenheit; dies Alles sollten die Franzosen
verschuldet haben. Der Imam Dschuma wunderte sich,
daß diese in ihren leichten Zelten sich nicht vor nächtlichen
Uebersällen fürchteten. Er meinte, daß kein Araber oder
Perser es wagen würde, auf diesen wüsten Anhöhen zu
lagern, wo des Nachts böse Geister vorüberziehen und un-
gesunde Winde streichen. Was nützen Waffen gegen eine
Legion Geister? — „Hast Du Kinder"? fragte er Madame
Diculafoy. — Auf ihre verneinende Antwort hin sagte er:
„Nicht einmal Töchter?" — Als sie auch diese Frage ver-
19*
Arabisches Mädchen
148 Jane Dieulafoy: Dieulasoy's Ausgrabungen in Susa.
Jane Dieul afoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa,
149
neinte und hinzufügte, daß man in Frankreich ganz zu-
frieden sei Töchter zu haben, sagte ein schlauer Araber,
der sich offenbar der Unwissenheit seines Vorgesetzten schämte:
„Das ist ganz natürlich!
In Frankreich bildet der Bart das einzige Unterschieds-
zcichen der beiden Geschlechter; Männer und Frauen tragen
dieselbe Kleidung und führen dieselbe Lebensweise; beide
können lesen, schreiben, rechnen, reiten und mit Flinte und
Revolver umgehen.
In Arabien ist das freilich ganz anders! Bei uns
sind Frauen und Mädchen nicht einmal gut genug zum
Pilau-Uebcrwachen!"
Als der Imam sich verabschiedet hatte, erschien Papi
Khan und sein Neffe Mohammed Khan.
Papi war der Vater des epileptischen Kindes, welchem
Madame Dieulasoy im vergangenen Jahre aus Ermangelung
von Bromkali nur eine regelmäßige Lebensweise verordnet
hatte, während in Arabien Alkohol und andere Reizmittel
von den Zauberern gegen Epilepsie gebraucht werden.
Madame Dieulasoy hatte nun, ihrem gegebenen Versprechen
gemäß, das wirksamste Heilmittel mitzubringen, drei Flaschen
Brom zur Verfügung. Als Herr Houssay die erste Dosis
abgewogen hatte und Papi sagte, er solle in einigen Tagen
wiederkommen, fing dieser an zu schreien, er wolle alle drei
Flaschen haben, damit sein Sohn sobald als möglich den
ganzen Brom schlucken und gesunden könne. Auf die
Zurückweisung dieses Ansinnens entfernte er sich unter
lauten Verwünschungen.
Inangriffnahme der Arbeiten.
Mohammed Khan verkündete den Reisenden den Friedens-
schluß zwischen seinem Stamm und demjenigen der Segvends
und schien ans diesen diplomatischen Erfolg nicht wenig
stolz zu sein. Außerdem war er unübertrefflich im Stehlen
der den Bcui-Laam gehörenden Büffel und im vollständigen
Ausplündern von Karawanen. Selbstbewußt beabsichtigte
er sich von seinem Vater zu trennen und etwa 30 Familien
mit sich zu führen. Da er jedoch kein Zelt besaß und
es außerdem sehr fraglich war, ob Kcrim Khan dem auf-
ständischen Sohne das zur Bestellung eines Ackers nöthige
Korn geben würde, so bat Mohammed die Reisenden ihm
100 Toman zu leihen und schwur bei Allah, dieselben mit
Zinsen zurückzuerstatten. — „Du hast sehr Unrecht, Deinen
alten Vater zu verlassen", sagte Madame Dieulasoy, „Du
bist sein Acltcster, und er liebt Dich zärtlich. Mit ihm
zusammen kannst Du ruhig, glücklich und sorglos leben". —
Er erwiderte hierauf: „Mein Weib und meine Mutter
können einander nicht ausstehen. Sie werden sich noch
umbringen."
Am 16. Dezember war M. Houssay in Begleitung von
Msa-ud und Jean-Marie nach Disful abgereist, am 19. kam
er wieder mit einer zahlreichen Karawane, welche mit
Gepäckstücken beladen war, die mau während des letzten
Sommers in einem Zimmer des Palastes eingeschlossen
hatte. Außerdem brachte Houssay 120 Kisten mit, die er
Krämern in Disful, die darin indischen Zucker bezogen,
abgekauft hatte. Dem Oeffncn der Koffer folgte eine un-
angenehme Ucbcrraschnng. Die Hitze hatte unzählige Bohr-
würmer hervorgebracht, welche die in den Koffern befind-
lichen Zwilligkleider bis auf die Hornknöpfc vernichtet hatten.
150
Jane Dieulafo y: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Papiere, Bücher, Winkelmaße hatten ebenfalls furchtbar ge-
litten, und nur die Photographien befanden sich in einem
etwas besseren Zustande.
Am 19. Dezember kamen in der Verlängerung des
Löwcngrabens emaillirte Basreliefs zum Vorschein, die
durch weite Zwischenräume von einander getrennt waren,
was die Ausgrabung sehr erschwerte. Hier stieß die
Schaufel auf Zahnschnitte oder Palmetten, da kam ein
Relief aus dem Rumpf eines Thieres zum Vorschein, noch
weiter ein Bruchstück einer Mähne, eine Tatze oder ein Auge.
Es war unmöglich, die Haufen von Materialien metho-
disch zu ordnen, ohne die einzelnen Stücke, welche fest
untereinander lagen, zu zertrümmern. Die mit dem Messer
losgetrennten Stücke wurden ohne weiteres nach dem Lager
geschickt. Die Löwenbruch-
stücke ließen sich zusammen-
setzen, denn die Zeichnung
der Friese ist immer die
gleiche; leider sind aber die
Farben nicht überall die-
selben.
Das Fell des Thieres
ist immer weiß, der Grund
des Basreliefs immer in
mattem Türkisblau darge-
stellt. Jedoch die Farben
der Muskulatur und der
Mähne wechseln. Der
Email schien gelitten zu
haben. Wenn zuweilen ein
Bruchstück in die Höhe ge-
hoben wurde, bemerkte
Madame Dieulafoy auf
dem Schutt, mit welchem
es zusammenhing, einen
feinen blauen Ueberzug,
der sich von der Steingut-
masse abgelöst hatte. Oft
geschah es, daß die losge-
löste, aber noch nicht abge-
fallene Glasur bei der ersten
Reinigung abging. Und
doch konnte man die glasir-
ten Ziegel nicht eher ein-
packen, als bis man sic
von anhaftender Erde und
dem dicken Mörtel befreit,
weil sie sonst zweifelsohne
ihrer vollständigen Zerstö-
rung entgegen gegangen
wären. — Der türkisblaue
Ueberzug des Grundes ist
zerbrechlicher als alle anderen Emailarten. Unter dem ab-
gelösten Schmelz bewahrte jedoch die Steingutmasse in
matteren Tönen ihre ursprüngliche Farbe.
Nicht so verhielt es sich mit den überschmolzenen Ziegeln
der letzten Ausgrabung. Vielleicht ließ diese Zerbrechlichkeit
die achümenidischen Töpfer auf die Terracotta verzichten und
veranlaßte sie, eine poröse Masse zu bilden, mit welcher sich
die Lösungen besser verbanden. Um die allzu zerbrechlichen
Schmelzüberzüge zu festigen, tauchte Madame Dieulafoy sie
in eine Lösung von Gummi arabicum. Ein in ganz
schlechtem Zustande befindlicher Ziegel wurde auf diese Weise
vor gänzlichem Zerfall verschont und nach halbjährigem Liegen
in der Erde unversehrt wieder herausgenommen. Dennoch
sah Madame Dieulafoy in der Folge von diesem Verfahren
ab, da sie des Erfolges doch nicht vollkommen sicher war.
Den 21. Dezember. Nach Fertigstellung des Hauses
(S. Abbildung 5 in Nr. 8) wurden die dazu gebrauchten Ar-
beiter wieder bei den Ausgrabungen verwendet.
Der rechtwinkelig gelegene Hof zwischen dem Thron-
saal und den Hauptthüren, mußte im Osten von zwei Flü-
geln begrenzt worden sein, der eine mit den Terrassen und
Gärten in Verbindung stehend, der andere mit den Palästen
des Tumulus Nr. 2. — Achtzig Arbeiter begannen die
Ausgrabungen in der Verlängerung des Grabens 6.
Die äußere Abtragung der Befestigungen wurde mit
Erfolg vorgenommen. Nachdem man die Kiesschicht durch-
stochen, wurde eine Mauer untergraben. Als diese ein-
stürzte, erblickte man ein Grabgewölbe und einen zu dem-
selben führenden Gang; denn die Befestigungen im Osten
und Westen haben den
Parthern als Todtenstättc
gedient. Die Oeffnung des
Schachtes befand sich 40 cm
unter der jetzigen Boden-
fläche. Der mit Erde und
kleinen Thonscherben ver-
stopfte Gang mündete in
einen durch eine Ziegel-
mauer gebohrten Tunnel.
Die mehr oder weniger
rissigen Urnen, welche bis
an den Rand mit Erde
gefüllt waren, standen auf-
recht. — Der Thonmörtel,
welcher sie verband, war
so hart und fest, daß ihm
mit der Picke nur schwer
beizukommen war. — Vier-
Urnen wurden bloßgelegt,
hinter denen man noch an-
dere erblickte. Zwei der
besten Arbeiter, Agha und
Baruni (= der Regne-
rische, so genannt, weil er
während eines großen Platz-
regens unter einem Baume
geboren wurde) sollten am
nächsten Tage mit der Bloß-
legung der Todtenstättc be-
ginnen.
Vom liebenswürdigen
Scheikh Mohammed Taher,
dem die Reisenden es dank-
ten, einst vor einer Steini-
gung bewahrt zu bleiben,
erhielten sie einen herzli-
chen Brief, in welchem er-
ste bat, den Ueberbringer des Briefes, Maschte Mahommed
Ali, einen großen, gutmüthig und ehrlich aussehenden Men-
schen, der vor kurzem zum zweiten Motavelli ernannt worden
war, als Aufseher anzustellen, welche Bitte gern erfüllt wurde.
Als am 21. die Reisenden von der Todtenstättc heimkehrten,
erschien Msand in großer Aufregung, um Mahommed Ali
wegen Diebstahl anzuzeigen. Es galt den Arbeitern zu zeigen,
daß man nicht gewillt war, Diebstähle ungestraft zu lassen.
Sobald alle Arbeiter versammelt waren, wurde der
Dieb gerufen; aber als man ihm sein von ihm als Auf-
seher verübtes und daher doppelt schweres Unrecht vorhielt,
leugnete er. Hierauf wurde er gefesselt in das Haus ge-
führt, um bis zu seinem Geständniß im Lagerraum ohne
Essen und Trinken eingeschlossen zu bleiben.
Der Tag verging ohne weiteren Zwischenfall. Doch als
Gond - Stem.
Jane Dieulafo y: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
151
am Abend die Arbeiter ihren Tagelohn holten, verlangten
die kühnsten von ihnen die Befreiung Mohammed Ali's
und als diese ihnen verweigert wurde, versammelten sich
alle am Danielgrabe. Am nächsten Morgen erschien kein
einziger von ihnen, um Schaufel oder Hacke zu holen.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang rief man die Aufseher
herbei. Dieulafoy sagte ihnen, daß zur Strafe für die Unpünkt-
lichkeit der Lohn fortan um ein Drittel herabgesetzt werden
sollte, und daß diejenigen, welche bis Mittag ihre Arbeit nicht
aufnehmen würden, sich als entlassen zu betrachten hätten.
Noch vor 12 Uhr waren alle auf ihrem Posten. Nun
galt es sich noch mit dem Gefangenen auseinandersetzen.
Das einzige Mittel, ihn zum Gestündniß zu zwingen, war
ihn auf den Koran schwören zu lassen.
Zu dem Behufe schickte man zwei Arbeiter zum Imam
nach dem Koran. Feierlich brachten sie einen in Seide
eingewickelten Band. Da jedoch beim Anblick desselben
der Dieb ruhig blieb, schöpfte Dieulafoy Verdacht, öffnete
das Buch und fand, daß es nicht der Koran war. Diesen
konnte man überhaupt nicht erlangen, da er an zwei Stun-
den von Susa lagernde Nomaden ansgeliehen worden war.
Um ihren Zweck dennoch zu erreichen, legte Madame
Dieulafoy dem Diebe eine Hugenottenpartitur vor, indem
sie vorgab, daß dies der Koran in französischer Sprache
sei. Der Gefangene drückte ehrfurchtsvoll die Partitur an
die Stirn, küßte eine mit möglichst vieler Druckfchwärze
versehene Seite, wurde sehr unruhig, und gestand den Dieb-
stahl ein, worauf er in Freiheit gefetzt wurde.
Apadina Artaxerxes.
Als Madame Dieulafoy die letzten Gepäckstücke nach
ihrem Zimmer getragen hatte, erschien ein alter Araber, um
einen kostbaren Talisman zum Kauf anzubieten. Es war
ein wundervoller Türkis von der Größe einer halben Nuß,
als Teufelsfratze modellirt und in einen goldenen Ning ge-
faßt. Das Kleinod wurde erworben.
Am 24. übernahm Madame Dieulafoy die Leitung der
Arbeiten im Gemüsegarten. Das Kartoffcllegen mußte
sie jedoch ganz allein besorgen, da die Disfuler durch die
Berührung mit den Knollen sich zu beflecken fürchteten.
Kaum irgendwo hatte die Natur sich so verschwenderisch
in ihren Gaben gezeigt, als „seiner Zeit in Snsiana" mit
seiner überaus üppigen Vegetation, die es seinen reichen
Wassern verdankte.
Die alten Schriftsteller berichten, daß Susiana von vier
großen Strömen, dem Pasitigris, dem Koprates, dem Choaspcs
und dem Eulaeos durchflossen war. — Wohl haben diese Namen
sich geändert, doch ist es leicht im Karun den Pasitigris, im
Ab-Disful den Koprates und in der Kercha den Choaspcs
oder Khnbasp (Strom der schönen Pferde) wiederzuerkennen.
Letzteren Namen haben die Perser überhaupt vielen
Flüssen beigelegt. Nur dem Eulaeos allein entspricht kein
neuerer Flußuame.
Nordwärts von den Ruinen, und einen Farsang *) vom
Palast entfernt, liegen noch die mächtigen Dämme eines
weiten ausgetrockneten Kanals. Dieulafoy versicherte, daß
dies der Eulaeos sei, nämlich ein Ableitungskanal vom Cho-
a) Madama Dieulafoy schreibt „farsack“ (?), aus para-
fnnga — 30 Stadien oder 3/4 deutsche Meilen.
152
Jane Dieulafüy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
aspes, welcher dazu diente, diesen Fluß mit dem Koprates
zu verbinden. So lag die Hauptstadt der Elam zwischen
drei großen Strömen, wie in der Riesenmasche eines Netzes
— dem Choaspes oder der Kercha im Westen, dem Koprates
oder Ab-Disfnl im Osten, dem Eulaeos im Norden, und
alle drei Flüsse waren schiffbar.
Wie haben die Zeiten sich geändert! — Keine einzige
Stadt, nicht einmal ein armseliger Weiler liegt heutzutage
aufwärts oder abwärts von Susa an den Ufern der Kercha.
Wüst und öde ist heute das Land. Der einst so berühmte
Choaspes verliert sein trag hinfließendes Wasser in den
chaldäischen Ebenen, welche er durch die schädlichen Dünste
der von ihm gebildeten Sümpfe verpestet, die sumpfigen
Kanäle, in welche er sich ergießt, sind unbefahrbar.
Der wasserreichere Karun ist im Winter bis Schuster,
im Sommer bis zum Damm von Ahwas schiffbar.
Was den oft eingedämmten und lächerlich gekrümmten
Schawur anlangt, so ist dieser zum Befahren ebensowenig
geeignet.
Der Scheikh Ali hatte den Reisenden gerade heraus
erklärt, daß der einzig für sie passende Weg derjenige ans
dem Ab-Disful sei. Er gab an, daß dieser Fluß von den
Felsen von Kalai-Bender, welche acht Farsang von Susa
gelegen sind, bis zu seiner Mündung in den Karun befahr-
bar sei; doch hielt er die Fahrt für außerordentlich gefährlich.
Andererseits sagten Machte Papi, Usta Hassan, sowie
sämmtliche Arbeiter, daß der Ab-Disfnl nicht befahrbar sei.
Es galt demnach selbst zu prüfen. Zu dem Behufe wur-
Ausgegrabene Säulen.
den zwei Reiter nach Ahwas und zwei Leute zu Fuß nach
Schuster geschickt, um den Flnßlaus zu untersuchen und
Schiffe zu miethen.
Seit der Vertreibung des Ilnter-Motavclli vergingen die
Tage einförmig und in ungestörtem Frieden, niemals wurde
fleißiger gearbeitet.
Die Ausgrabungen wurden in der entdeckten Höhle von
12 Arbeitern fortgesetzt. Am 23. wurde unter vielen irdenen
Scherben eine kleine Statue der Anaitis gefunden; am 24.
fand man eine schwarze, mit persischer Keilschrift bedeckte
Marmorplatte. Dicht neben dieser Platte stand eine schlecht
gebaute, theilweise aus Erde, theilweise ans Sänlenstumpfen
und Trümmern von behauenen Steinen errichtete Mauer.
Mehrere Bruchstücke gehörten einer Thürumrahmung an.
Hie und da fand man einige abgelöste Emailtheile, die
wie es schien, vom Löwenfries stammten.
Ein günstiger Zufall beschleunigte den Erfolg der Arbeiten.
Die Hirten am Danielsgrabe trieben mit Vorliebe ihr Vieh
in die feuchten Schluchten, in welchen es eher grünte als in
der trockenen Ebene. Besonders gern suchten sie solche auf,
in welchen sie Freunde zu finden hofften. Unter gemein-
samen Gesprächen spähten sie dann eifrig herum nach irgend
welchem kostbaren Funde.
So kam es, daß eines Tages der Schäfer den Reisenden
eine Hand voll Bronzestücken brachte, die er in der großen
Höhle, ungefähr 60 in hinter der Stelle, an welcher die
Arbeiter gerade gruben, gefunden hatte.
Sofort wurden die Ausgrabungen an der bezeichneten,
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
153
Stelle aufgenommen und bald kam ein ungeheurer Rollstein
zum Vorschein (S. Abbildung 3). Am oberen Theile
desselben bemerkte mau eine ausgemeißelte Höhlung, die
für die Metallpfanne bestimmt war, in welcher sich die
Thürangel bewegte. Das Ganze ruhte ans einer Kies-
unterlage. Rechts stand die kleine Alabastervasc, in welche
man die Denkschriften zu legen Pflegte. Schon vorher
jedoch war diese Thür erbrochen worden, und man hatte
unter dem Steine einen engen Weg ausgcgrabcn und die
Cylinder oder die mit dem Namen des Erbauers versehenen
Siegel entwendet. In der Erde fand man getriebene
Bronzeblätter, die unzweifelhaften Beschläge von Thür-
pfosten aus Cedcrn-
holz, dessen Fasern
noch an den Nägeln
hasteten. Die Zeich-
nung war einfach,
unmuthig und frei
aus der Verwendung
der Stoffe herge-
leitet. Man denke
sich eine Blendung, (
die aus Mctallplat-
tcn zusammengesetzt
ist, deren Seiten-
längc einen Fuß be-
trügt. Jede Platte
ist mit der benach-
barten durch drei
Bronzcbündchen ver-
bunden, die in den
Thürflügel jene bei
den assyrischen Ver-
zicrern so beliebten
großen Nuten (Fal-
zen) grübt, welche die
Steinmetzen als La-
gerfugen und Stein-
sprünge bezeichnen.
Der Mittelpunkt je-
der Platte ist mit
einer doppelten
Gänseblume verziert,
deren Umrisse mit
dem Hammer getrie-
ben sind, und da
dieseMctallplüttchen /■ -
unter sich vernietet
und andie Bohlen be-
festigt werden muß-
ten, so umgab man ,
sie mit einer Reihe
rundköpfiger Nägel;
worauf man noch
Nägel an die Spitzen der Blumenblätter und in die Mitte
des Fruchtknotens schlug. Das aufgefundene Bruchstück ist
eins dieser Vierecke und zeigt alle wesentlichen Bestandtheile
der Verzierung.
Die in kolossalen Verhältnissen eingemeißelte Pfanne,
die Trümmer schöner Thüreinfassungcn und die übrigen
eben genannten Funde beweisen klar, daß hier sich das
äußere Thor befand, welches den königlichen Wohnsitz mit
der Stadt in Verbindung setzte. Dieulafoy schloß aus dem
Style des Mauermantels, ans der Inschrift, sowie aus den
Marmorbildwerken, noch mehr aber aus der Lage der Flie-
senpslastcrung in der Nähe der Niesenpfanne, daß alle diese
verschiedenen Denkmäler aus der Achämenidcnzeit stammen.
Globus LIV. Nr. 10.
Bibi-
Seit dem 24. Dezember herrschte anhaltender Regen.
Madame Dieulafoy war überglücklich, denn der Herr des
Regens (llaromotkv-Uarnntznlloll, ein Wort susianischer
Bildung), zeigte schönes Wetter an, außerdem war eine
großartige Entdeckung gemacht worden. Vor kaum 14 Tagen
hatte Dieulafoy die Arbeiten in einem neuen Graben vor-
nehinen lassen, welcher dazu bestimmt war, die vermutheten,
zwischen dem Apadckna und den Pylonen gelegenen Wohn-
gebäude zu durchschneiden und nach einer Anhöhe zulief,
die noch gar nicht untersucht worden war. Mehrere Tage
lang hackte, grub und schaufelte man umsonst. Eines Tages
jedoch wurde eine Todtenurne bloß gelegt, in der sich ein
noch wohl erhalte-
nes Skelett befand.
! - v >;■ Dieulafoy glaubte
am nächsten Tage
i ! t i st, - aus die Fundamcnts-
- - : i *: ' 1 ' -! u i *' ■ linic des Apadckna zn
stoßen, worauf er die
Arbeiten an der bis
dahin so wenig er-
giebigen Stelle voll-
ständig aufzugeben
gedachte. Da kam
am Abend Dor Ali
herbeigestürzt, als
man gerade im Be-
griffe war, das am
Fuße eines Tnmnlus
gefundene Bruchstück
: einer Statue ans
einem Karren weg-
zuführen. „Ich habe
; einen wunderschönen
ij Gegenstand gefnn-
den", rief er noch
j ganz athemlos aus.
„Die Arbeiter be-
j Häupten, daß dies
' Gold sei, ich halte
es aber für einen
i Kaschy." Die Per-
ser bezeichnen unter
diesem Namen die
‘ Email - Verkleidung
; des Steingutes,
welche im 12. Jahr-
hundert in Kaschan
gearbeitet wurde.
j Der Fund erwies
sich als ein Block aus
schneeweißem Stcin-
Msanda. pt. Auf einem der
äußeren Ränder sah
man in erhabener Arbeit eine schöne Halbkugel von gelbem
Email. Blanc, grüne und weiße Sterne bedeckten die Halb-
kugel, welche von einem Strahlenkränze umgeben war. Das
Stück war nicht vollständig, doch erwies cs sich als ein
Meisterwerk der Töpferkunst. Dieulafoy hielt es für das
Bruchstück eines apokalyptischen Panthers.
Am 1. Januar war der neue Graben bis zur Kics-
sundamentlinie des Apadckna vertieft worden.
Dieulafoy war höchst überrascht, als er bemerkte, daß
die Fliesenpflasternng an manchen Stellen fehlte und daß
hie und da die Kiesel Raum ließen für Mauern, die aus
noch größerer Tiefe emporragten. Sofort wurden Hacken
und Schaufeln an den von Kies befreiten Stellen in Bc-
20
154
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa<
wegung gesetzt und bald zeigten sich ungeheure Grund-
mauern, welche mit wundervollen Emailziegeln wie gespickt
waren. Diese Grundmauern waren gestützt von einer sorg-
fältig gebauten Ziegelmauer, die wiederum auf festem
Trümmerwerk ruhte. Man hatte jetzt das Stockwerk des-
jenigen Dariuspalastes erreicht, welches zur Zeit des Terxes
vom Feuer zerstört, von Artaxerxes Memnon 80 Jahre
später nivellirt und mit einer neuen Kiesschicht bedeckt
wurde, als der König den Plan zum Baue des neuen
susianischen Apadana faßte.
Jeden Abend wurde der Lagerraum um 3O bis 4O
weiße, feste und solide Fliese bereichert, deren Ränder mit
erhabenem, außergewöhnlich gut erhaltenem Email von be-
wunderungswürdiger Schönheit bedeckt waren. — Zuerst er-
schienen drei Ziegel, welche über einander gelegt, die Zeich-
nung eines langen Aermels ergaben, ferner schwarze Füße,
welche mit goldgelben Halbstiefeln bekleidet waren, sowie
schwarze Beine und Hände.
Durch Zusammenstellung der Bruchstücke gewann Dieu-
lasoy Personen von natürlicher Größe, und als er diese
wieder zusammenstellte, so waren es zwei fast vollständige
Krieger, bei deren einem nur ein Mittelstück in der Brust
und bei dem anderen eines in der Gesichtshöhe fehlte.
Es waren von der Seite dargestellte, vorwärts schreitende
Bogenschützen mit dem Wurfspieße in den Händen. Die
Gewänder sind in den Farben verschieden, im Zuschnitte
jedoch alle gleich, der Rock an der Seite geschlitzt, das
Hemd kurz und langärmelig, an den Hüsten mit einem
Gürtel zusammengezogen, das Wams aus der Brust ge-
schlossen. Die vom Handgelenke bis zum Ellbogen offenen
Wamsärmel lassen die reichen Hemdsalten hervorquellen.
Eine reiche Borte umrändert die Stosse. Der Kopf trägt
eine grüne Fransenkrone, welche an den Kamcelhaarstrick
erinnert, welcher noch heute die Stirn der Araber umgürtet.
Die Ohren und Handgelenke sind mit goldenen Ohrringen
und Armbändern beladen. Die Fußbekleidung von schönem
Gelb ist am Spann mit Knöpfen und Stäbchen geschlossen.
Außerordentlich reich sind die verschiedenfarbigen Stoffe.
Der erste der Krieger trägt gelbes, mit blauen und grünen
Gänseblumen gesticktes Wams und Gewand über einem
Durchstochener Hügel.
Hemde von dunkelfarbigem Purpur; der zweite ist mit
weißem Stoff bekleidet, welcher mit schwarzen Wappen-
schildern bedeckt ist, unter denen die Citadelle von Susa be-
sonders hervortritt. Vereinzelte Stücken geben Proben von
weißen mit Blumen und Sternen besäten Gewändern, von
blauen Schuhen und gelben Aermeln.
Der Typus der Personen allein verändert sich nicht.
Die Haut ist immer schwarz, der Bart mit blaugemaltem
Schatten umrahmt mit seinen Locken schmale, carminroth
geränderte Lippen. Die Haare sind gelockt, wie der Bart.
Der Entwurf ist bewunderungswürdig, die Zeichnung
groß und edel, die Technik überraschend in ihrer ebenso
großen Einfachheit als Vollkommenheit. Der Faltenwurf
erinnert an die äginetische Knust. In Persepolis und am
Danielsgrabe hatten die Reisenden schon die Bekanntschaft
dieser berühmten Krieger gemacht, doch war die Krone der
persepolitanischen Krieger ans Metall und von gerader
Form. Ein wichtigerer Unterschied als der in der wenig
belangreichen Kopfbekleidung bestand darin, daß die Krieger
von Persepolis Arier und weißer Rasse waren, die von
Susa jedoch, ebenso wie die Bogenschützen, welche Memnon,
der Sohn der Aurora, zu Priamus Hilfe herbeibrachte,
schwarze Hautfarbe hatten.
Die interessanten anthropologischen Studien, welche
M. Houssay an in den Todtenurnen gefundenen Skeletten
vorgenommen hatte, und die Messung der jetzigen Bewohner
von Susiana ließen auf die Existenz einer früheren Neger-
rasse in Elam schließen. Die gefundenen Unsterblichen
würden jedoch zum susianischen Theil der königlichen Wächter
zählen. Sie sind schön in Linien und Farben und haben
schöne Formen. Als keramisches Kunstwerk stehen sie weit
über den mit Recht so berühmten Basreliefs des Lucca della
Nobbia.
Und doch waren die Mittel, welche den Künstlern zur
Verfügung standen, die allergewöhnlichsten: ein grober Thon,
der in feste Formen gedrückt, unzweifelhaft noch einmal mit
dem Bossirholz überarbeitet wurde und von Farben das Türkis-
blau, das Mangan, Gelb, Weiß und ein Anflug von Purpur.
Am Abend des 1. Januar wurde, nachdem die Arbeiter-
bezahlt worden waren, ein langer Spazierritt im Thal
Jane Dieulafo y: Diculafoy's Ausgrabungen in Snsa.
155
unternommen. Man ritt die Tumuluslinie entlang, welche
vom Takhte Soleiman bis zu einer im Nordosten von Susa
gelegenen Anhöhe sich am Eulüus hin erstreckt.
In dieser Richtung waren weiße Steine bemerkt
worden, die sich als drei Süulenbasen achämenidischen Styls
erwiesen, sedoch von kleinerem Maßstab waren, als die-
jenigen des Apadüna.
Auf der Anhöhe waren zwei Gräber frisch ausgegraben
worden.
Wie seltsam ist die Ueberlieferung, welche die Araber
veranlaßt, die antiken Tumuli sich als Grabstätten aus-
zuwählen und aus den zerstörten Bauwerken verschwundener
Geschlechter den letzten Schlaf zu schlafen! Je nachdem die
Heerden rechts oder links, im Norden oder Süden weideten,
beerdigten die Väter ihre Vorfahren in der Landschaft von
Dschundi Kapur, bei dem Danielsgrab, auf den Berghöhen
von Doßelladsch, auf dem Ackerland von Soleiman, von
Susa, Sendschar oder auf den kleinen runden Berghügeln,
denen man gar keine Beachtung schenken würde, wenn sich
daselbst nicht von Zeit zu Zeit frisch aufgeworfene Erd-
hügel von Menschenlänge bemerkbar machten. Die zuletzt
ausgegrabenen parthischen Todtenurnen beweisen, in welch
weite Vergangenheit man zurückgreifen müßte, um den
Ursprung dieser Sitte zu finden. Die jetzigen Gräber
ruhen auf den Trümmern der Vergangenheit und schützen
diese vor Entweihung der Menschen.
Am 2. Januar kamen die nach Schuster, Ahwas,
Bende - Akhil und Kalai-Bender abgesandten Boten un-
verrichteter Sache wieder zurück. Sie erklärten einstimmig,
daß niemand es wagen wollte, einen wegen seines Pest-
hauches und wegen der in seinem Wasser und an seinen
Ufern hausenden Ungeheuern und Bestien so gefährlichen
Fluß zu befahren.
Es blieb nun nichts Anderes übrig, als die ver-
schiedenen Bruchstücke von Säulenkapitälen auf Karren
nach Ahwas zu schaffen.
Jean-Marie arbeitete am Gestell, welches die vier im
vergangenen Jahr mitgebrachten Räder verbinden sollte,
aber es fehlte an Zugvieh und Geschirr.
Am nächsten Tage reiste M. Houssay nach Disful, um
den Gouverneur zu bitten, gegen entsprechendes Entgeld
ihnen seine beiden Artilleriepfcrde zu leihen. Im Falle
der Weigerung war Houssay beauftragt worden, sämmtliche
Sattler der Stadt mitzubringen, damit diese das Geschirr
herstellten, während man die Maulthiere und Fuhrleute einübte.
Am Abend fand am Fuße der Citadelle ein Leichen-
bcgängniß statt. Die Orientalen verstehen besser als wir
die Majestät des Todes zu würdigen. Sie kennen nicht
den im Abendlande so beliebten Todtenschmnck, wie Blumen-
gewinde und dergleichen, einfach und in aller Stille begraben
sie ihre Todten.
Seit dem 2. Januar stand das Lager unter Wasser.
Nachdem die einzelnen Stücken der Bogenschützen nummerirt
und aufgezeichnet worden waren, wurden sie in 20 Kisten
verpackt.
Als die letzte Kiste geschlossen worden war, erschien ein
alter Scheikh, welcher Einnehmer der direkten Steuern war
und dessen Zelte sich im Norden vom Tumulus befanden.
Er behauptete, die Franzosen hätten ihren Palast auf der-
jenigen Stelle gebaut, auf welcher seine Heerden täglich
vorbeizuziehen pflegten, und daher verlangte er zur Ent-
schädigung ein Messer. Als man ihm erklärte, daß er kein
Recht dazu hatte, etwas zu fordern, daß man ihm das
Messer jedoch geben wollte, falls er dieses als Freundschafts-
zeichen und Geschenk guter Nachbarn betrachten wollte, rief
er aus: „Ihr sprecht so weise wie ein Mollah, gebt mir
aber doch das Messer".
Am 8. Januar hatte die Ueberschwemmung fast ganz
aufgehört, ein Regenbogen umspannte den noch feucht
nebligen Horizont. Der Graben der Unsterblichen jedoch
blieb unzugänglich, da er noch unter Wasser stand.
Seit Beginn der Woche hatten die Arbeiter die
Ausgrabungen am ApadLna wieder aufgenommen und
legten in einer Tiefe von zwei bis drei Metern die Fliesen-
pflasterung bloß.
Der Boden unter der Ostkolonnade zeigte sich reicher
an starkwurzligem Gebüsch, irdenen Scherben und anderen
kleinen Trümmerstücken als an Marmorbildwerken.
Glücklicherweise war die Westkolonnade eine um so
reichere Fundstätte. Man fand daselbst nicht allein drei
Süulenbasen, sondern auch das Bruchstück eines kannellirtcn
Säulenschaftes und bei diesem den Körper eines derjenigen
paarweise zusammengestellten Stiere, welche das wichtigste
Element der Kapitäle des Apadana bilden. (S. Abbild. 4 u. 5.)
Alle diese Stücke lagen auf derselben Stelle, ans
welcher sie vor 2000 Jahren zu Grunde gingen.
Was den Kopf des Stieres anlangte, so ließ dieser sich
noch fortschaffen, der Körper des Thieres jedoch, welcher
ans einem einzigen Marmorblock ausgehauen war, wog
allein mehr als 12 000 kg. Man berechnete daher gar
nicht erst den Kubikinhalt des Säulenschaftes; denn bei
seiner Schwere war an eine Fortschafsung desselben an die
Küste nicht zu denken.
Am 9. Januar kam Houssay zurück und berichtete,
daß der Gouverneur von Disful ihn sehr kühl empfangen
und die beiden Artilleriepferde verweigert hatte, da er seine
Zustimmung zur Fortschaffung der Palastfliese nicht geben
konnte.
Ueberdies herrschte gerade Aufruhr in der Stadt, was
nicht zur Hebung der üblen Laune des Untergouverneurs
beitrug.
So waren die Reisenden einzig ans die Hilfe der Sattler
von Disful angewiesen.
In den ersten Tagen des Februar mußten 12 Thiere
mit Geschirr versehen sein. Der Plan, die Tumuli der
Ebene weiter zu untersuchen, wurde, nach Durchschneiden
eines derselben, der schon Jahrhunderte lang vom Schawur
unterwaschen worden war, und indem man den Fußboden
eines Hofes und eingestürzte Mauern, aber keinerlei Spuren
vornehmer Wohnungen gefunden hatte, aufgegeben. (S. Ab-
bildung 7.) Inzwischen verlängerte sich der Kriegerfries
immer mehr, Nach und nach wurden auch die Lücken aus-
gefüllt. Fast verzweifelte man daran, ein vollständig er-
haltenes Bogenschützenantlitz zu finden, denn das Gesicht
war immer die bevorzugteste Zielscheibe der Zerstörer gewesen.
Schließlich kam jedoch ein Emailziegel mit Wange, Nase,
unterem Augenlid eines von vorn dargestellten Auges und
sorgfältig gekräuseltem grünen Haar noch zum Vorschein.
Emailwaaren von derselben Farbe und demselben Styl
als die bereits genannten, stellen Bogenschützen dar, die
ihren Brüdern entgegenkommen. So sind uns alle Einzel-
heiten ihrer Tracht bekannt. Die Hand eines der Krieger
berührt eine weiße Keilschrift.
Wie in Persepolis, so bezogen auch diese Krieger die
Wache vor einer großen Inschrift, welche den königlichen
Stammbaum enthielt und welche berichtete, daß der Palast
unter dem Schutz Ahuramasda's (Ormuzds), des höchsten
Gottes, gestellt war.
Neben dieser Hand wurden Emailziegel entdeckt, auf
welchen in drei Sprachen der Name des Königs Darius
und derjenige des Ostanes stand, welch letzterer das Haupt
der Verschwörer gegen den Magier Smerdis war. Dies
Dokument bestärkte Dieulafoy in der Vermuthung, daß die
Krieger vom Palast des Sohnes des Hystaspes stammten.
20*
156
H. Seidel: James' Reise in der Mantschurei.
Der Name des Darias steht im Stammbaum aller achä-
menidischen Herrscher; aber Ostanes ist der treue Begleiter
Darms des Ersten.
Auf die Emailziegel mit erhabener Arbeit folgten halb-
erhabene Friese, deren Zeichnung in ihrem griechischen
Styl an die Zierrathen erinnerte, welche die Basreliefs der
Löwen umgaben. Nur die Krone ist verschieden, statt der
an den Seiten emaillirten Zackenreihe sah man dreireihige
blaue Mauerzacken auf weißem Grunde.
Als am 12. Januar die Sonne unterging, erschien der
erste vom Cousul von Bassorah gesandte Bote, der mit
großer Freude empfangen wurde. Hastig öffnete zunächst
jeder seine Briefe; dann kamen die Zeitungen au die Reihe.
Madame Dieulafoy machte ferner zwei werthvolle
Erwerbungen.
Tagtäglich kamen Nomadenfrauen, um alterthümliche
Steine zum Kauf anzubieten. Gewöhnlich kaufte die
Französin die angebotenen Gegenstände ohne danach zu fragen,
wie die Verkäuferinnen zum Besitz ihrer Kleinode gekommen.
An diesem Abend brachte die schöne Verwandte eines
der benachbarten Scheikhe zwei entzückende Cylinder. Bibi
Msauda gehörte demselben Stamm an, wie die Mehrzahl
der arabischen Arbeiter der Expedition. (S. Abbild. 6.)
In Anbetracht der sorgfältigen Kleidung der jungen
Frau wurde sie von Madame Dieulafoy besonders rücksichts-
voll empfangen. Die Araberin trug ein gelbes Hemd,
einen purpnrrothen Schleier und Turban, welcher in
anmuthigem Faltenwurf ihren Kopf umschloß. Ihre
weiten, zugespitzten Aermel reichten fast bis zur Erde.
Vergeblich war Madame Dieulafoy's Bemühen, die
Frau zum Verkauf ihres Anzuges zu veranlassen; obgleich
das Weib die Tochter eines hohen Beamten der Wüste
war, besaß sie doch nur ein einziges Hemd.
Auf dem einen Cylinder aus Bergkrystall bemerkte man
einen geflügelten Stier mit menschlichem Antlitz und hohem
Diadem gekrönt. Ein vierzeilige Inschrift in susischer
Schrift gab den Namen des Besitzers und denjenigen der
Schutzgöttin an. Rings um den zweiten war eine Scene
von köstlicher Lebenswahrheit dargestellt. Der feine Styl
wies auf die künstlerisch kundige Hand eines griechischen
Steinschneiders hin.
Als Madame Dienfaloy die Kleinode an die Schnur
reihte, an welcher die früher gekauften sich schon befanden,
fragte Bibi Msanda:
„Wirst Du das schöne Band um den Hals oder um das
Handgelenk tragen?"
Sie wußte freilich nicht, daß die Französin, einer Biene
gleich, nicht für sich arbeitete.
James' Reise iu
Bon H.
Die Mantschurei gehört noch immer zu den weniger
bekannten Räumen unserer Erde, obschon sie hart vor den
Thoren des ostasiatischen Völkerverkehrs liegt, und als die
natürliche Grenzfeste zwischen der russischen Macht im
Norden und China und dem Bereich des englischen Ein-
flusses im Süden, das Interesse der Geographen, Politiker
und Stratagen, gleichmäßig beansprucht. Von den Provinzen
nördlich der großen Mauer darf sich keine höherer Be-
deutung für China rühmen, weshalb wir dankbar jede
Nachricht verzeichnen, die unsere Kenntniß des mant-
schurischen Landes erweitert. Die neueste Kunde von dort
brachte uns ein Engländer, ein Beamter der indischen
Regierung, Herr E. M. James, der in Gesellschaft
zweier Freunde, des Dragonerlieutenants Herrn Ä)ounghus-
band und des Herrn H. Fulford, ans dem Konsnlats-
dienste, im Jahre 1886 eine längere Reise durch die Mant-
schnrei ausgeführt hat. Die Expedition war anfänglich
nach Südchina bestimmt, wählte aber später die Mantschurei
zu ihrem Arbeitsfelde, einmal wegen des verhältnißmäßig
bequemeren Reifens daselbst, und sodann, weil dieses Gebiet
den Herren mindestens ebenso unbekannt schien, wie das
zuerst ins Auge gefaßte. Mit der letzteren Voraussetzung
befanden sie sich allerdings in einem erheblichen Irrthum,
der lediglich aus dem Beiseitelassen der deutschen und russi-
schen Schriften über die Mantschurei herzuleiten ist.
Von den älteren, heute noch werthvollen Quellen scheinen
ihnen nicht mehr als die Berichte der Jesuiten Verbtest
(1692), Regis, Jarton und Friede! (1709 und
1710), aus der „Description de la Chine et de la
Tartarie Chinoise“ von Du Halde, natürlich in eng-
lischer Uebertragung, zugänglich gewesen zu sein. Von
neueren Autoren werden Ravenstein, Me ad ows, Alex.
der Mantsch»rei.
Seidel.
Williamson und Konsul Adkins erwähnt. Russische
Namen, einzig den Archimandriten Pallad ins aus-
genommen, fehlen gänzlich, ebenso die deutschen von Eber-
hard Psbrand Jdes (1692) und Lorenz Lange
(1715 bis 1736) bis herauf zu L. v. Schrenk, Gustav
Radde und Ferdinand v. Richthofen.
Den etwas volltönenden Lobsprüchen der Engländer
auf die Verdienste der Herren James und Genossen können
wir darum nicht ohne weiteres beistimmen, namentlich nicht,
wenn wir uns der Beschreibung erinnern, welche Oberst
Wenjnkow bereits 1873 in seinem Buche über die „russisch-
asiatischen Grenzlande" von der Mantschurei geliefert hat.
Das Ergebniß der James'schen Reise besteht, kurz
gesagt, in der Ersteigung der Hoch gipse! im
Schang-pai-schan, in dem Aufschluß der von
Europäern zuvor nicht betretenen Straße von
Hun-tschun über Ningnta nach Kirin, und endlich,
was die Hauptsache ist, in der anziehenden Schilde-
rung des Lebens und Treibens, wie es sich gegen-
wärtig in jenem fernen Erdenwinkel abspielt.
Von Mng-tsu, am Unterlaufe des Liau-Flusses, trat
die Expedition am 19. März 1886 ihren Marsch an. Die
Stadt Wng-tsu wird für gewöhnlich als Niu-tschwang
bezeichnet, worunter, genau genommen, ein Platz sieben bis
acht deutsche Meilen I binnenwärts am Liau-ho zu ver-
stehen ist. Ursprünglich war Niu-tschwang der Hafen, aber
bei dem schnellen Landzuwachs, der an der ganzen Küste
des Busens von Liau-tnng stattfindet, ist das Meer soweit
fortgedrängt, daß die Schiffe jetzt vor Wng-tsu ankern
0 Nach solchen (15 c= 1° i. Aeq.) ist hier immer ge-
rechnet.
H. Seidel: James' Reise in der Mantschurei.
157
müssen. Die Herren wandten sich zuerst nach Mulden,
der alten Mantschu-Residenz, mit einem kaiserlichen Palaste,
mit Triumphbogen, Tempeln und Denkmälern aus ver-
gangener glänzender Zeit. Die Stadt umschließt gegen
200 000 Einwohner; sie hat ihren vornehmen Charakter
treu bewahrt und verdient mit Rücksicht ans ihre fruchtbare
Umgebung und ihre vortreffliche Lage noch heute das Lob,
das ihr der Kaiser Kiön-lnng einstmals gesungen hat.
In Mukden miethete Herr James 20 Maulthiere, die er
später auf 26 vermehrte, da der Marsch in dem vorherrschend
bergigen Lande eine möglichste Verkleinerung der Lasten
nothwendig machte. Der Weg führte von Mukden gerade
östlich am Hun-ho hinauf — einem Zufluß des Liau — durch
ein freundliches, gut bewaldetes Thal. Am zweiten Tage
wurde Fu-schun-tschang erreicht, ehedem ein chinesischer Grenz-
posten und der erste Platz, welcher in die Hände der
Mantschu siel. Unfern des Ortes läuft die ursprüngliche
Befestigungslinie vorbei, jener vielgenannte Pallisadenzann,
der die südliche Mantschurei oder die Provinz Schöng-
king schon lange vor Beginn unserer Zeitrechnung zum
Besitze Chinas hineinzog. An einem Tributär des Hun,
dem Su-tsu-ho, reiste man weiter nach Sarhu, dem
Schauplätze der ' großen Entscheidungsschlacht zwischen
Chinesen und Mantschu. Eine Marmortafel mit doppelter
Inschrift erzählt von dem denkwürdigen Tage. Darauf
wurde Tjung-ling berührt mit seinen historischen Grab-
stätten, dann Wenden oder Hing-King, vor Alters die
„Hauptstadt des Glückes", jetzt ein niedliches Dörfchen mit
verfallenen Mauern und Thoren, dann endlich der einstige
Herrschcrsitz Lao-tschiug, heute ein Trümmerfeld. Chine-
sische Ansiedler haben sich zahlreich in den lieblichen Thälern
ringsumher niedergelassen, und die dichten Forsten fallen
schnell vor der Axt des Landmannes. Ein paradiesischer
Blumenflor schmückt die wiesigen Gründe, bunte Wasser-
vögel beleben Flüsse und Bäche, und von den Bergen schallt
der Ruf des Fasanen.
Dem Su-tsn-ho folgend, gelangten die Reisenden bis
zur Wasserscheide und jenseits derselben im Thale desHnn-
kiang, der in den Mlu mündet, nach Tnng-hwa-hsiön,
dem Sitze eines höheren Verwaltungsbeamten. Mittler-
weile hatten die Frühlingsregen begonnen; jedes Rinnsal
tobte mit Hochfluth daher, wodurch die Expedition so viel
Aufenthalt erlitt, daß sie erst nach Monatsfrist, von Mukden
gerechnet, in Mau-erh-schon am 2)ciiu eintraf. Ein
Versuch, dem Fluß bis zu seiner Quelle nachzugehen und
von dort zum Tumen hinabzusteigen, erwies sich als un-
ausführbar. Die Reisenden mußten sich zum Uebergang
in das Gebiet des Sungari entschließen. Am Neben-
flüsse „Nr. Zwei" des oberen Aaln — die Chinesen be-
legen die Nebenflüsse statt mit Namen häufig mit Zahlen
— erstieg man in zwei Tagen die vulkanische Kette des
Schang-pai-schau oder das „lange weiße Gebirge",
welches sich als Wasserscheide zwischen dem Aaln und
Sungari aufthürmt. Der Paß lag in 3000 Fuß Höhe,
unfern der Quellen des Tang-ho, der sich später mit dem
Sungari vereinigt. Politisch zählt das Land hier schon zur
Provinz Kirin, die etwa die ganze Mitte der zur Zeit
den Chinesen noch gebliebenen Mantschurei umfaßt. Der
Gouverneur von Kirin hatte wenige Monate vorher in der
Pekinger „Amtlichen Zeitung" einen Bericht veröffentlicht,
wonach er sämmtliche Schluchten des Schang-pai-schan nach
Ginseng-Suchern oder neuen Ansiedlern durchforscht haben
wollte. Wie er versicherte, wäre die Gegend vollkommen
ruhig und frei von verbotenen Niederlassungen. So
schrieb der würdige Mandarin; nur schade, daß die
wahren Zustände seiner Provinz den schönen Bericht schmäh-
lich Lügen straften. Es wimmelte in dem Lande von
fremden Kolonisten; es fehlte nicht an Ginseng-Sammlern,
die in den feuchten Gebirgswäldern nach der hochbegehrten
Wurzel graben, durch deren geheimnißvolle Kräfte die be-
zopften Lebemänner im „Himmlischen Reiche" ihr Dasein
zu verlängern hoffen. Mit den Ackerbauern waren auch
Goldsucher und allerlei verdächtige Gesellen in der Provinz
erschienen, so daß Räubereien und Mordanfälle nicht selten
vorkamen. Doch davon hatte der Herr Gouverneur seinem
Hofe wohlweislich kein Wörtchen gemeldet. Weil jede
dauernde Besiedelung des Landes verboten ist, und die Ein-
wanderer deshalb auf den Schutz der Behörden nicht zählen
können, so haben sie zur Selbsthülfe gegriffen und sind
unter sich zu Gilden zusammengetreten, mit Vorständen,
Stellvertretern und Richtern an der Spitze. In den
Händen dieser Oberleiter liegt die Regelung aller Ver-
hältnisse, sowie die Gewalt über Leben und Tod. Der
Regierung in Kirin sind die Gilden nicht unbekannt; ja
sie bedient sich derselben häufig und mit Glück zur Ver-
folgung der Räuberbanden, trotzdem sie theoretisch vor dem
Gesetz keinerlei Existenzberechtigung haben. Denn nach
chinesischer Hofpolitik soll das Stammland der regierenden
Herrscher möglichst uneingeschränkt der einheimischen Be-
völkerung, den Mantschu-Tataren, verbleiben. Noch gegen-
wärtig darf der Chinese gesetzlich nicht mehr Grund dort
besitzen, als er für sein Haus und sein Grab gebraucht.
Abweichend von den übrigen Provinzen hat die Verwaltung
der Mantschurei einen durchaus militärischen Charakter.
Sämmtliche leitende Stellen sind statt mit Civil-Gou-
verneuren mit höheren Mantschu-Offizieren besetzt, welche
beide Gewalten in einer Hand vereinigen.
Die Landestruppen setzen sich ausschließlich aus Mantschu-
Söhnen zusammen; kein Chinese findet Aufnahme. Jeder
Mantschu, der mannbar geworden ist und den Bogen spannen
kann, wird unverzüglich bei einem der acht Milizkorps oder
Banner, deren jedes an seiner besonderen Fahne kenntlich
ist, eingetragen. Damit erhält er Anspruch auf einen
Monatssold von 1 Taöl oder 5,50 Mark nach unserem
Gelde. Ein steuerfreies Stück Land wird ihm zum Anbau
zugewiesen, das er aber meist an Chinesen verpachtet. Tritt
er ganz in den Heeresdienst ein, so steigt sein Sold auf
5 bis 7 Taöl monatlich. Die Folge ist, daß die Mantschn-
Jünglinge, statt sich redlich von ihrer Hände Arbeit zu
nähren, müßig die Pamens oder Regiernngsgebüude um-
lungern und um dauernde Anstellung betteln. Diesem
Mißstande zu steuern und zugleich, um eine straffere Ord-
nung in der wichtigen Grenzprovinz herbeizuführen, hat die
Regierung in Peking 1885 einen hohen Würdenträger, den
General Mn, als Oberkommandeur nach der Mantschurei
geschickt, der, unabhängig von allen sonstigen Beamten der
Provinz, in erster Linie eine gründliche Reorganisation
der Streitkräfte vernehmen soll. General Mn ist nun am
Werke, die eben geschilderten Faulenzer zu ordentlichen Sol-
daten einzudrillen. Merkwürdig ist cs, daß in der chinesischen
Armee und namentlich unter den mantschurischen Truppen
noch immer der Bogen seine Rolle spielt. Trotz Krupp-
scher Kanonen und moderner Wiederlader erscheint dies
mittelalterliche Gewassert fortgesetzt auf dem Exerzierplatz,
und es gewährte unseren Reisenden viel Spaß, wenn sie
die zukünftigen Mantschu-Helden an Pfeil und Bogen ihre
Griffe üben sahen.
2n dem stellvertretenden Vorsteher der Gilden fand Herr-
James einen freundlichen Berather und zuverlässigen Führer,
der ihn und seine Geführten durch die Wildnisse am oberen
Sungari sicher auf den höchsten Gipfel des Schang-pai-schan
geleitete. Der Weg war äußerst beschwerlich; erst mit zu-
nehmender Meereshöhe lichtete sich allmählich der dichte
Schatten der Wälder. Riesenhafte Lürchenbestände kamen
158
H. Seidel: James' Reise in der Mantschurei.
zu Gesicht. Auf den sanfteren Hängen wuchsen Birken und
Fichten, bis auch diese seltener wurden, und die Landschaft
ein parkähnliches Gepräge erhielt. Ueppige Wiesen folgten
darauf, in deren saftigem Grün zahllose Blumen von allen
Farben prangten — ein Paradies für die Sammler, die ihre
Schätze später dem Direktor des königlichen botanischen Gartens
in Kew vorlegten. Nach dem Urtheil dieses Herrn begreift
die mantschurische Flora auf der Strecke von Mulden bis
Kirin gegen 500 blühende Pflanzen, 32 Farnkräuter und
10 Bärlapparten und Schachtelhalme. Auffallenderweise
enthält sie aber sehr wenig endemische Arten; höchstens ein
HalbesDutzend wirklicher Neuheiten sind durch die James'sche
Sammlung bekannt geworden. Der Pflanzenteppich stimmt
durchaus mit der nordostasiatischen Flora überein, deren
charakteristische Formen mit geringen Ausnahmen über die
ganze nördlich gemäßigte Zone verbreitet sind. Die Fauna
zeichnet sich namentlich durch einen großen Reichthum an
Vögeln ans. Am Chanka- See wartet des Ornithologen
trotz der Vorarbeiten Prshewalski's unter der gefiederten
Welt eine reichliche Ausbeute neuer und seltener Arten. In
den Wäldern Hausen kostbare Pelztrüger, Hirsche und Rehe,
aber auch Bären, Wildkatzen und Tiger, letztere sogar in
erheblicher Menge. Eine Plage für Mensch und Thier-
werden im Sommer furchtbare Mückenschwärme, die dem
feuchten Klima, den Sümpfen und Wäldern ihr Dasein
verdanken. Kein Ort ist vor ihnen sicher, mit Sonnen-
untergang schließt man ängstlich Thür und Fenster, und
oft wird ein Rauchfener im Hausflur entzündet, um die
Quälgeister zu vertreiben. Die Pflüger tragen bei ihrer
Arbeit Eisenkrünze auf dem Kops, woran Stücke brennenden
Zunders befestigt sind, und brennenden Zunder in der
Hand — alles zur Abwehr der lästigen Feinde.
Wir verließen die Reisenden im Angesicht der schroffen,
uadelscharfen Hörner auf dem „langen weißen Gebirge".
Der Abhang vor ihnen schimmerte blendend hell, aber nicht
von Schnee, sondern von verwittertem Bimsstein, der hoch
und dicht die Kegel umkleidet. Schnee hatte sich nur hie
und da in geschützten Schluchten erhalten; aber von ewigem
Firn, den übertriebene Schilderungen früherer Tage auf
die Berge gehäuft, war keinerlei Spur zu entdecken. Ueber
die weißen Bimssteinmassen klommen die Forscher mühsam
empor; endlich war die Höhe gewonnen, und jetzt — 350 Fuß
in der Tiefe — lag ein prachtvoller Kratersee mit leuchtend
tiefblauem Wasser, auf dessen ruhiger Fläche die phanta-
stischen Zacken der Berg-Corona umher sich friedlich spiegelten,
während oben am Rande der Wind in sausendem Zuge
vorbei strich. Gern hatten die Herren den See besucht,
doch die Schroffheit der Wände vereitelte ihr Bemühen.
Lieutenant Douughnsband unternahm deshalb eine Besteigung
des östlichen höheren Hornes, die auch nach vieler Mühe
gelang. Die Gipfelhöhe ward auf 8000 engl. Fuß be-
stimmt.
Den Rückweg wählte die Expedition über T'ang-ho-ku
an der Vereinigung des Tang mit dem Sungari. Auf
schwieriger Straße begleitete sie letzteren Fluß bis Kirin,
der Provinzialhanptstadt, die sich in strategisch vorzüglicher
Lage am linken Flußnfer ausbreitet. Der Platz zählt
zwischen 75 000 und 100000 Einwohner, ist aber ab-
scheulich schmutzig und bietet außer der großen Waffenfabrik
mit englischen und deutschen Maschinen und der Pulver-
mühle aus dem anderen Ufer wenig Sehenswerthes.
Von Kirin zog die Reisegesellschaft nach chinesischer
Sitte in Karren den Sungari abwärts durch die nördlichen
Ebenen auf Zizikhar zu. Bis Pe-tu-na erstreckten sich
reiche Kulturen von Hirse, Bohnen und Hanf. Am Ein-
fluß des Nonni in den Sungari hatten die Hochflnthen der
Stürme die Ufer überschwemmt und das Land aus Meilen
im Umkreise in einen See verwandelt. Im Norden der
Konfluenz begannen die mongolischen Steppen mit ihrer
Unflaten Bevölkerung, ihren grasenden Pony- und Schaf-
heerden und ihrem kärglichen Ackerbau. Achtzehn Tage
kreuzten die Reisenden in der einförmigen Gegend H; immer
dieselben Scenen boten sich ihnen dar, so daß sie ermüdet
die geplante Tour von Zizikhar nach Aigun und Bla-
goweschtschensk am Amur abbrachen und in südöstlicher
Richtung quer durch die gewellte Steppe nach Hulan, an
der Mündung des Hulan-ho in den Sungari, vordrangen.
In und um Hulan beobachteten sie mit Vergnügen das
schnelle Aufblühen dieser erst seit kurzem besiedelten Zone.
Leider mangelt es noch an einer geordneten kräftigen Ver-
waltung, die dem Räuberunwesen ein Ende zu machen
versteht. In Pe-tnn-lin-tsu und Pa-Yen -schu-schu, wo
französische Missionäre stationirt sind, die sich allgemeiner
Liebe und Achtung erfreuen, wurde den Fremden mehrfach
von den Unthaten der Buschklepper erzählt. Die Behörden
fühlten sich sogar veranlaßt, der Expedition bis San-sing
eine militärische Bedeckung mitzugeben, die aber im Ernst-
fälle wahrscheinlich wenig genutzt hätte. San-sing, der
nächste bedeutende Platz, liegt am rechten Ufer des Sungari,
der hier auf kurzer Strecke von drei kräftigen Nebenflüssen
verstärkt wird. Gleichwohl hat die schöne Wasserstraße ab-
wärts zum Amur bis heute für das Land so gut wie gar
keinen Werth. Die chinesische Regierung verbietet jede Be-
siedelung unterhalb San-sings; sie thut nichts zur Belebung
des Handels nach dem Amur; sie sucht vielmehr durch
starke Befestigungswerke ihr Gebiet vor einem kriegerischen
Unternehmen der Russen auf dem Sungari hermetisch zu
schließen. Das Spcrrfort ist mit fünf großen Krupp'schen
Kanonen armirt; eine sechste, wahrscheinlich auch hierher
bestimmte, war aus der Ueberlandtour in einen Sumpf ge-
rathen und mußte liegen bleiben, da vor Einbruch des Win-
ters an den Weitertransport nicht gedacht werden konnte.
Von jetzt ab zogen unsere Forscher wieder gen Süden,
zunächst den schiffbaren Mutan-kiang, sonst die Khurkha
genannt, hinauf über Wei-tsu-ho nach dem starken Waffcn-
platze Ninguta an der Vereinigung mehrerer Straßen. Die
Stadt ist der Mittelpunkt eines beträchtlichen Handels und gilt
als der Wachtposten gegen den russischen Ussuri-Distrikt. Sie
besitzt eine Telegraphenstation mit Anschluß an die Pekinger-
Linie, wie denn die Chinesen danach streben, sämmtliche
Grenzorte aus militärischen Rücksichten telegraphisch mit
der Hauptstadt zu verbinden. Vierzehn Meilen südlich von
Ninguta liegt Hun-tschun, der letzte chinesische Posten,
hart an der russischen Grenze und durchaus Garnisonplatz.
Die Besatzung verfügte trotz der Wichtigkeit des Ortes über
eine völlig unzureichende Bewaffnung, alte glattlänfige
Flinten und ungeheuerliche Donnerbüchsen, an denen zwei
Mann zu tragen hatten. Vor der Grenze waren unlängst
neue Befestigungen erbaut, denen gegenüber in geringer
Entfernung auf russischem Grund und Boden ein Kosaken-
piket von 200 bis 300 Mann stationirt ist. Die Eng-
länder wagten es, obwohl ohne Pässe, die Grenze zu über-
schreiten. Der russische Kommandeur, Oberst Sokalowski,
empfing die Fremden in liebenswürdigster Weise, bewirthete
und beherbergte sie und zeigte ihnen die militärischen Anlagen
auf seinem einsamen Außenposten. Am nächsten Morgen
besuchten sie die Hanptstation „Novaviyesk", womit das
Nowokijewskoje der Russen gemeint ist, auf dem nörd-
lichen Ufer der Possiet-Bai in malerisch schöner Lage mit
einer griechischen Kirche und dreißig Häusern. Der Hafen
gehört zu den besten des ganzen Ussuri-Landes, wird aber
i) Im ganzen den Spuren des Archimandriten Palladius
(1870) folgend.
Aus allen Erdtheilen.
159
mindestens zwei Monate jährlich von Eis besetzt, wodurch
er bedeutend verliert. Dazu kommt, daß die chinesische
Grenze von der Mündung des Tumcn ab bis im Rücken
von Wladiwostok sich nur ein bis zwei Tagemärsche
von der See entfernt hält. Bei Ausbruch eines Krieges
vermag China diesen Zipfel durch einen schnellen Hand-
streich völlig zu isolircn, und damit gehen sämmtliche Häfen
und Ansiedelungen für die Russen verloren. In richtiger
Erkenntniß dieser Gefahr denkt man im Zarenreiche darum
fortgesetzt an eine Vorschiebnng der Grenze in die Mantschurei,
zumal die jetzige Scheidelinie des russischen Amur- und
Ussuri-Gebietes strategisch überhaupt nicht befriedigt. Wasser-
straßen wie der Amur und Ussuri dienen wohl dem Verkehr,
nicht aber der Vertheidigung des Landes. Besetzen die
Chinesen irgend eine feste Stellung im kleinen Chinggan,
so können sie den Ussuri und den unteren Amur bis Chaba-
rowka gänzlich von dem Mittel- und Oberlauf des Stromes
abschneiden. Setzen sie sich gar in der Nähe von Strjelka
fest, so bewirken sie die Trennung des gesammten Amur-
beckens von Transbaikalien. — Jetzt werden uns die Erobe-
rnngsgelüste der Russen zur Genüge verständlich. Außer-
dem locken Koreas prachtvolle beinahe eisfreie Häsen,
während die russischen, von Süden nach Norden gerechnet,
zwei bis sechs Monate im Jahre durch Eis gesperrt werden.
Selbst Wladiwostock kann seinen Namen: „Beherrsche
den Osten" nicht wahrmachen, da die Bai in jedem Winter-
acht bis zehn Wochen fest zufriert.
Mit Unbehagen gewahrt man in England, wie die
Russen „hungcrigen" Blickes nach der Mantschurei und
Korea schauen, nur auf die Gelegenheit wartend, um aus
Kosten der Nachbarn neue Länder an sich zu reißen. Jeder
Schritt vorwärts bedroht aber nicht bloß China allein,
sondern ebenso sehr die britische Hegemonie in Ost-
asien und den dortigen Meeren. Deshalb geht Englands
Bestreben dahin, China von den gefährlichen Absichten der
Russen zu überzeugen und es anzuspornen, seine Grenzen
so stark wie möglich zu befestigen, seine Heere, seine Waffen
auf den besten Stand zu bringen, um im Kriegsfälle in
voller Rüstung auf dem Platze erscheinen zu können. —
Der Reisebericht des Herrn James hat uns gelehrt, wie
China diese Politik zu verwirklichen sucht. —
Auf dem Rückmärsche, den die Expedition auf derselben
Linie, wie sie gekommen, antrat, theilten sich die Mitglieder,
indem die Herren Ponnghnsband und Fulford den Weg
über Ninguta nahmen, während Herr James allein von
Hun-tschun gleich den nordwestlich gerichteten Maulthierpfad
nach dem Dorfe Omoso, in der Mitte zwischen Kirin und
Ninguta, einschlug. Er mußte dabei die Ausläufer des
Schang-pai-schan überschreiten, wo Räuberhorden die Gegend
unsicher machten, und die Schwierigkeiten des Geländes das
Vordringen hemmten. Ungleich besser erwies sich dafür die
Straße Ninguta — Kirin, die besonders auf ihrem östlichen
Theile im Thale des Mutan-kiang für den Verkehr wie
für militärische Unternehmungen sehr wohl geeignet ist. —
Den Abschluß fand die Reise in einem Ansflugc nach
der Handelsstadt Kuan-tsching-tsu, in den steppenartigen
Ebenen westnordwestlich von Kirin. Der Ort beherbergt
an 100 000 Einwohner und wird besonders zur Zeit der
Wintermessen viel besucht. In den Straßen wogt dann ein
Treiben, wie in der City von London. Das benachbarte
kleine Hsiau Pa-kia-tsu ist die Residenz des bischöflichen
Coadjntors Monsignor Boyer, der hier mit zwei Amts-
brüdern Schulen und Kirche versieht und die katholische
Missionsthätigkeit unter der Bevölkerung leitet. Fast genau
südlich, mit geringer Abweichung gen Westen, läuft die
große Straße nach Mukden, auf der sich die Reisenden
jetzt mit möglichster Eile in die Provinz Schöngking hin-
überbegaben. Bis Mng-tsu, dem einstigen Ausgangs-
punkte der Expedition, blieben die Freunde beisammen;
dann trennten sie sich, und Herr James, der seine Heimkehr
beschleunigen mußte, ging über die Halbinsel Liau-tung (wie
sie Richthofen nennt) nach Port Arthur I, der Haupt-
station für die nordchinesische Flotte. Dreizehn Forts
schützen den Platz; von den Wällen drohen Krupp'schc
Kanonen; großartige Docks sind im Bau; für Torpedos,
Seeminen und all dergleichen ist ausreichend gesorgt, so daß
Herr James mit der beruhigenden Ueberzeugung abreiste,
Port Arthur werde für jeden Angreifer „eine harte Nuß
zu knacken sein". —
Monate später verlas Herr James in der Geographi-
schen Gesellschaft zu London feinen vorläufigen Bericht, dem
eine ausführliche Beschreibung der Reise in Buchform jüngst
nachgefolgt ist.
9 Den Leser wird der Hinweis interessiren, daß Port
Arthur 1881 durch das deutsche Kanonenboot „Iltis" besucht
und vermessen wurde, worüber die Karte (1:15 000 in Tfl. Ü
der „Annalen der Hydrographie rc." 1882, II, vorliegt.
Aus allen
A s i e n.
— Einer Notiz der „Geographischen Mittheilungen" zu-
folge haben die Professoren Dr. A. Wich mann aus Utrecht
und Dr. M. Weber ans Amsterdam im Jnli d. I. eine
Forschungsreise nach den kleinen Sunda-Jnseln
angetreten, während die Expedition nach den Kei-Jnseln
in Folge der Erkrankung des Lieutenant Posthumns Meijes
dem Geologen Wertheim unterstellt worden ist.
— Der Präsident des englischen Alpenklubs, Clinton
Deut, hat eine Reise nach dem Kaukasus unternommen,
um die Hochgipfel dieses Gebirges in den Fnßstapfcn Douglas
W. Freshficld weiter zu erforschen; und A. F. Mnmmery hat
unJuli d. I. den Koschtantau (5209 m) glücklich erstiegen.
E r d t h e i l e n.
Afrika.
— M. G. Rolland hat sich seit längerer Zeit die
geologische Untersnchnng der algerischen Sahara
zur Aufgabe gemacht. Als Hanptbildungen derselben be-
zeichnet er: kretaceische Gesteine, pliocäne Ablagerungen und
Sanddünen. Die pliocänen Ablagerungen, deren Alter
durch gewisse fossile Helix-Arten sicher bestimmt werden
konnte, nehmen nach seinen Angaben etwa die Hälfte des
ganzen gewaltigen Gebietes ein.
— Die Ausdehnung und die Bevölkerung des
Französischen Sudan beziffert sich nach einer Aufstellung
F. Ouiqnandons auf 920 000 qkm und 2,6 Millionen
Einwohner. Davon kommen auf die Schutzgebiete des
Fnta-Dschallon 150 000 qkm und 600 000 Einwohner;
IGO
Aus allen Erdtheilen.
ans die Schutzstaaten der „Toucoulcnrs" (Dinguiray, Moro
und Segu) 362 000 ezlrm und 110 800 Einwohncr; ans
den Schntzstaat Samory 360 000 qkm und 1,5 Million
Einwohncr; und ans den Schntzstaat Bambara 12 500qkin
und 89 000 Einwohncr. Die Distrikte des eigentlichen
Senegambien endlich sind auf 131 000 qkm und 239 800
Einwohncr zu veranschlagen (Vergl. „Nonvement FéeAva-
plliqne", 1888, x. 64).
Nordamerika.
— Professor I. Kollmann hat die ältesten ameri-
kanischen Schädel — den berühmten kalifornischen Calavcras-
Schädel, den von Rock Bluff in Illinois, den von Pontcmelo
in Argentinien, verschiedene andere aus dem „tertiären"
Pampas-Lehme dieses letzteren Landes — einer vergleichenden
Untersuchung unterworfen, und ist dabei zu dem Resultate
gelangt, daß die ersten Bewohner Amerikas im wesentlichen
dieselben Rassenmerkmale getragen haben wie die Indianer
von heute. Die amerikanische Rasse zeigt also bezüglich des
Zeitenlaufcs ein ganz ähnliches Sich-gleich-bleiben wie be-
züglich der räumlichen Berthcilnng.
Südamerika.
— Der französische Reisende Thouar ist nebst seinem
Geführten Novis von seiner südamerikanischen Reise
nach Frankreich zurückgekehrt, und wird demnächst vor
der Pariser Geographischen Gesellschaft über seine Be-
obachtungen und Erlebnisse Bericht erstatten.
— Die Goldfelder von Nicderlündisch-Guayana,
von denen die hauptsächlichsten an den Fliissen Surinam,
Saramaca und Maroni liegen, haben im letztvergangenen
Jahrzehnt eine hohe Bedeutung erlangt. 1876 lieferten sie
nur für etwa 50 000 Gulden Ertrag, 1886 dagegen für mehr
als eine Million.
Australien und Polynesien.
— Ueber die kürzlich den deutschen Besitzungen
in der Südsee hinzugefügte Plcasant-Jnscl, südsüd-
westlich von Jaluit (Marschalls-Jnseln) auf 0" 30' siidl. Br.
und 1660 48' Lstl. L. gelegen, dürfte die folgende Notiz von
Interesse sein. Bon mäßiger Höhe iibcr dem Meere und von
ungefähr kreisrunder Form, mag die Insel einen Umfang von
10 bis 15 Seemeilen haben. Am Strande ist sie ringsum von
einem Kranze von Kokospalmen umgeben; das Innere scheint
von dichtem Urwald bedeckt zu sein. An der Ost-Küste befin-
den sich viele Hütten, von Kanocs war jedoch beim Passiren
der Insel nichts wahrzunehmen.
— Der Regierungsstatistiker der Kolonie Victoria, Herr
Heylyn Hayter, hat kürzlich die Ergebnisse seiner Berech-
nungen über die australische Bevölkerungsstatistik
veröffentlicht. Danach bezifferte sich die Gcsammtbevölkcrnng
Australiens am 1. Januar 1888 ans 2 800 886, so daß
Zunahme seit dem Vorjahre 100 921 oder 3,6 Proc. betrug.
(In Deutschland beträgt die durchschnittliche jährliche Zunahme
nur 0,7 Proc.) Victoria hatte an dem angegebenen Tage
1 036 118 Einwohner, Neu-Süd-Wales 1 042 919, Qncens-
land 366 940, Südaustralien 312 421 und West-Australien
42 488. Ans das Nord-Territorium wären außerdem noch
ungefähr 5000 Einwohner zu rechnen. Bemerkenswcrth ist
hierbei namentlich, daß Neu-Süd-Wales seine Nachbarkolonie
Victoria nunmehr um eine Kleinigkeit überflügelt hat, und daß
die Bevölkerungszahl von Süd-Australien nicht zugenommen,
sondern (nm337) abgenommen hat. Die letztere Erscheinung
muß man in einem so jungen Lande — das bekanntlich von
dem deutschen Auswandererstrome ziemlich stark berührt wird —
sehr befremdlich finden. Die Einwanderung in Australien war
aber im Jahre 1887 (64 856) auch im Ganzen geringer als
im Jahre 1886 (um 5671). — Einen geringeren Aufschwung
wie die Bevölkerung des australischen Festlandes nahm
übrigens auch Neu-Seeland, dessen absolute Volkszahl
603 361, und dessen Zuwachs nur 13 975, oder noch nicht
2,4 Proz. betrug. Tasmanien hatte eine Einwohnerzahl
von 142 478. — Was die Volksdichtigkeit anlangt, so be-
trägt dieselbe nunmehr in Victoria 4,5 pro Quadratkilometer,
in Nen-Secland 2,2, in Tasmanien 2,1, in Neu-Süd-Wales
1,3, in Süd - Australien 0,3, in Queensland 0,2° und in
West-Australien 0,01.
B ü ch e r s ch a u.
— J. L. de Lanessan, La Tunisie. Paris 18^7.
Félix Alcan. Es ist dies die beste wirthschaftsgeographischc
Charakteristik des französischen Schutzstaates in Nordafrika,
die wir kennen, und dieselbe verdient unseres Erachtens auch
bei uns in Deutschland Beachtung in weiteren Kreisen. Was
an ihr besonders angenehm berührt, ist der kritische Blick,
mit dem die Hilfsquellen Tunesiens gemustert werden, und
die Freiheit von aller Schönfärberei. Unter den landwirth-
schaftlichen Kulturen werden besonders eingehend behandelt:
der Getreidebau, die Oliven- und die Dattelpalmen-Kultur, und
namentlich bezüglich dieser drei Wirthschaftszweige wird die
Ueberzeugung ausgesprochen, daß ihre Intensität einer be-
deutenden Steigerung fähig sei. Der Anbau von Süd-
früchten wurde bisher ebenso sehr durch die unzweckmäßige
Besteuerung der Bevölkerung wie durch den sommerlichen
Wasserinangel hintenangehalten. Jur übrigen lag die Hanpt-
schwäche des Landes in dem Fehlen jeder Art Straßen, und
derselben würde am zweckmäßigsten durch den Ausbau eines
Eisenbahnnetzes abgeholfen werden. Hafen - Ameliorationen
würden bei Tunis, Sousse, Mahadia, Gabes rc. vcrhältniß-
5 mäßig leicht sein. Als ganz besonders aussichtsreich wird
die Entwickelung der Marnwrbrüche von Schemtn bezeichnet.
— Prof. Fr. Behr, Neue Karte von Australien.
Stuttgart 1888. Jul. Maier. — Eine Karte im
Maßstabe von 1:12 500000, die ebenso gut für den Hand-
wie für den Wandgebranch geeignet ist, und die außer dem
australischen Festlande zugleich auch die wichtigsten Insel-
gruppen Polynesiens umfaßt. Bezüglich des Kolorits be-
trachten wir es als einen Fehler, daß die britischen Be-
sitzungen nicht schärfer von den holländischen unterschieden
werden, und außerdem hätten auch wohl bei allen Verkehrs-
linien die Fahrzeiten angegeben werden sollen.
B e r i ch t i g n n g.
Wir bitten aus S. 127, Sp. 1, Zeile 19 ff. von unten zu
lesen: „Die Stätte des durch den bekannten Vulkanausbruch
von Krakatau zerstörten Anjer." Der Vulkanausbruch von
Krakatau zerstörte Anjer (auf Java) indirekt durch seine Fluth-
wellc.
Inhalt: Lieutenant A. N. Schmidt: Deutsch-Witu-Land. (Fortsetzung.) — Jane Dieulafoy: Diculafoy's Aus-
grabungen in Susa. (Mit sieben Abbildungen.) — H. Seidel: James' Reise in der Mantschurei. — Aus allen Erdtheilen:
Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Südamerika. — Australien und Polynesien. — Büchcrschau. — Berichtigung. (Schluß
der Redaktion am 31. August 1888.)
Redakteur: Dr. E. Dcckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herürksrchtrgung der Gt^nologre, der Kuliurberhälinlsse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben non
Do. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die Landwirthschaft in China.
Von Dr. Jose
1. Die historische Entwickelung.
Nirgends tritt die Thatsache, daß die Landwirthschaft in
staatlich organisirten Ländern die ursprünglichste und grund-
legenste aller erwerbenden Thätigkeiten der menschlichen Ge-
sellschaft ist, und daß ihre Entwickelung nicht nur mit allen
anderen wirthschaftlichen Faktoren, sondern auch mit den
politischen und sozialen Institutionen in innigster Wechsel-
wirkung steht, deutlicher zu Tage, als in China. So weit
Geschichte und Sage reichen, finden wir die Chinesen als
ackerbautreibendes Volk, und die ältesten Chronisten bereits
preisen den Ackerbau als den wichtigsten Faktor individueller
Wohlfahrt und nationalen Reichthums; ihm allein sei eine
gedeihliche Entwickelung der Volkskräfte und alle Ordnung
im Staate zu danken. Daher auch die Verehrung, in wel-
cher bei den Chinesen seit jeher die fruchtbare „gelbe“ Erde
stand, daher auch das Ansehen, dessen sich die Landleute zu
jeder Zeit erfreut haben. Nach den Gelehrten und Beamten
des Reiches bilden die Landleute die erste Klasse der Be-
völkerung i), und der Kaiser selbst zog ehedem einem alten
Brauche zufolge im Frühjahre in Bauerntracht drei Furchen,
um das zum Staatsopfer für den Himmel nöthige Getreide
zu gewinnen 2).
Zum Verständniß der heutigen volkswirthschaftlichen
Zustünde Chinas im allgemeinen und der landwirthschaft- * I,
1) Du Halde, Description de la Chine. Paris 1790.
I, 274 f.
2) I. H. Plath, Geschichte des östlichen Asien. München, 1860.
— S. W. Williams, Agriculture in China etc. in „Chinese
Respository“, vol. III, p. 121: „The ancient emperors
Globus LIV. Nr. 11.
p h G r u n z e l.
lichen insbesondere, müssen nicht nur die klimatischen und
geographischen Naturbcdingungen des Landes und die sozialen
Einrichtungen des Volkes, sondern auch die Phasen der Ge-
schichte in Bezug auf die Volkswirthschaft — hier vor allem
auf die Grundvertheilungsverhältnisse — gehörig in Rücksicht
gezogen werden. Man würde sich sehr täuschen, wollte
man nach der so oft aufgestellten grundfalschen Behauptung
von der Erstarrung der chinesischen Kultur auch auf eine
Erstarrung der in der Volkswirthschaft einmal zu Geltung
gekommenen Prinzipien schließen; im Gegentheil, so radikale
und tiefeinschneidende Umwälzungen, wie sie in unseren
Ländern ohne eine nachhaltige Revolution kaum denkbar
wären, wurden in China nach eingehenden Studien der
competenten Körperschaften einfach im Wege eines kaiserlichen
Erlasses durchgeführt. Soziale Fragen, welche unsere Zeit
beschäftigt haben und zum Theil noch beschäftigen, haben
dort im Laufe der Jahrhunderte bereits verschiedene Lösungen
erfahren, welche ein werthvolles Material zur Abstrahirung
allgemeiner Gesetze bieten.
Die Chinesen führen die Erfindung des Ackerbaues bis
auf den zweiten der drei großen Herrscher Chinas zurück,
themselves ploughed the soil, and the empresses culti-
vated the mulberry trees. The annual ceremony of
ploughing, performed by the emperor at the present day,
has a great tendency to elevate the occupation of tilling
the soil in the estimation of the people. They there see
a man, who is thought but little less then a god, and by
far the highest person in the world, condescending to
show them that they are not forgotten.“
21
162
Dr. Joseph Grunzel: Die Landwirthschaft in China.
welche nach den drei mythischen Perioden der hinnnlischen,
irdischen und menschlichen Mächte vom Jahre 2953 (?)
an das Reich beherrschten. Fn-Hi, der erste große Herrscher,
lehrte seinem Volke den Fischfang und die Jagd und er-
weiterte sein Gebiet, welches ursprünglich ans die jetzige
Provinz Scheu-si beschränkt war, nach den fruchtbaren
Ebenen von Ho-nan und Schau-tung. Da aber Jagd
und Fischfang für die steigenden Lebensbedürfnisse des Volkes
ans die Dauer nicht ausreichten, so führte Scheu -nung
(„der göttliche Ackerbauer") den Ackerbau ein, indem er alle
Pflanzen selbst auf ihren Werth erprobte. Der spätere
Kaiser Hoang-ti vollendete sein Werk durch den Bau fester
Wohnsitze, durch die Gründung von Städten und Dörfern
und durch die Eintheilung des Landes in bestimmte Distrikte.
Seine Gemahlin erwarb sich ein großes Verdienst um das
Aufblühen der Seidenzncht x). Nachdem sich die große
Landüberschwemmung unter der Regierung des Kaisers Jao
(2357 bis 2255) verlaufen hatte, sandte dieser Kaiser den
berühmten Sehnn aus, um die üppig aufgeschossene wilde
Vegetation auszuroden und die Moräste auszntrocken, wäh-
rend 2ü durch Kanalisirnngen und Dämme das noch vor-
handene Wasser ableitete und die Erde wieder bewohnbar
machte. Dieses Werk wurde auch unter den beiden folgen-
den Kaisern Schun (2255 bis 2208) und Jü (2207 bis
2197) erfolgreich fortgesetzt. Namentlich letzterer suchte
nicht nur die Kulturfähigkeit des Bodens auf eine höhere
Stufe zu bringen, sondern erleichterte auch durch den Bau
von Straßen und Kanülen den Austausch der gewonnenen
Bodenprodukte.
Ueber die Eigenthums- und Produktions-Verhältnisse in
diesen ältesten Zeiten finden sich wichtige Bemerkungen
stellenweise im Schi-king (Buch der Oden), den Schriften
des Philosophen Meng-tse, vor allem aber im dritten Buche
des Schn-king (Jü-knng), welches eine kurze Beschreibung
Chinas zu Jü's Zeiten giebt, von dem es übrigens auch
herrühren soll2). Es zerfällt in zwei Theile, von denen
der erste eine Uebersicht der wichtigsten Arbeiten Jü's in
jeder der nenn Provinzen des Reiches enthält, während der
zweite vorwiegend geographisch ist und sich mit der Be-
schreibung der Gebirgsketten und Ströme beschäftigt. Die
nenn (später zwölf) Provinzen waren besonderen Gouver-
neuren untergeordnet, welche keinen Gehalt bezogen, sondern
auf einige Laudesabgaben angewiesen waren I. Im übrigen
war der Boden Gemeingut aller, und jeder Mann von 20 bis
60 Jahren, welcher über die zur Bebauung und Vertheidi-
gung erforderlichen physischen Kräfte verfügte, hatte das
Recht, so viel Boden zu okkupircn, als ihm, und wo es ihm
gut dünkte4). Später wurden die Felder, wahrscheinlich zu
Steuerzwecken, bezüglich ihrer Güte in neun Klassen ge-
theilt. Von Produkten spielen die „fünf Feldfrüchte"
(wu-ko) eine große Rolle, nämlich Reis (tag), Weizen (wo),
Hirse (scliu), Moorhirse (tsi, Sorgo) und Bohnen (ton)5);
U K. Gützlaff, Geschichte des Chinesischen Reiches. Stutt-
gart, 1847, S. 18 ff.
2) J. Legge, Chinese classics, III: The Shoo-king.
Proleg. 201 fg. Eine Karte des alten China, Text und Com-
mcntar, S. 93 (2. Theil). — Vgl. ferner E. Biot, Mémoire
sur le chapitre Yukong du Chon-king et sur la géo-
graphie de la Chine ancienne. (Journal Asiatique 1842.) —
I. H- Plath, China vor 4000 Jahren. (Sitzgsber. d. k. bayer.
Akademie der Wissenschaften, 1869. Bd. I, S. 119; Bd. II, S. 49.)
3) Mémoires conc. l’histoire de l’empire chinois.
Chang-Hai, 1780—82. Vol. II.
4) I. Sacharoff, Ueber das Grundeigenthum in China.
Arbeiten der k. russ. Gesandtschaft zu Peking. Aus d. Rufs,
nach dein in Petersburg 1852—57 veröffentl. Original von
Dr. C. Abel und F. A. Mecklenburg. Berlin, 1858. 2 Bde.
5) I. H. Plath, Nahrung, Kleidung und Wohnung der
alten Chinesen. München, 1869.
ferner werden erwähnt der Maulbeerbaum (sang), welcher
im unteren Thäte des Hoang-Ho besonders gebaut wurde,
der Firnißbaum (tsi), Fichten (sung), Cypresien (po) und
Bambusrohr (tsclln) als Nutzpflanzen, außerdem verschiedene
Arten Gemüse (sehn) und Baumfrüchte (ko), Rohr zu
Pfeifen (tsing), und Binsen (mao)x). Der Thee kommt
erst unter der Tsin-Dynastie im 5. Jahrhundert n. Ehr.
in Aufnahme2).
Der erste Schritt zur Umwandlung des Staatseigenthums
in Privateigenthum geschah im Jahre 2197, als an Stelle
des verstorbenen Kaisers Jü, damit sein Andenken immer
in Ehren gehalten werde, seinem Sohne die Kaiserkrone
angetragen wurde und so das bisherige Wahl-Reich in der
nunmehrigen Dynastie Hia (2207 bis. 1766) erblich wurde.
Zugleich wurde ihm das von seinem Vater besessene Grund-
stück als in seiner Familie erbliches Eigenthum zugesprochen.
Wir werden nun sehen, wie dieser an und für sich un-
bedeutende Schritt alle die weiteren schwerwiegenden Konse-
gnenzen im Keime in sich barg. Um seine Dynastie zu
festigen, vertheilte der neue Kaiser die Statthalterstellen an
die Mitglieder des Kaiserhauses und gab ihnen einen ge-
wissen Grundcomplex als Majorat, indem dasselbe stets auf
den ältesten Sohn vererbt wurde; diese wiederum besetzten
die verschiedenen, ihnen untergebenen Stellen des Reiches
mit ihren Kreaturen und wiesen denselben gleichfalls einen
Grundbesitz zu, doch hastete dieser nicht an der Familie des
Betreffenden, fondern an dem Amte und ging demgemäß
auf feinen Nachfolger über. So wurde das ganze Land in
Lehen und Pfründen vertheilt. Im Laufe der Zeit gingen,
da in Folge der Schwäche der beiden folgenden Dynastien
die centralisirende Gewalt die decentralitischen Bestrebungen
der einzelnen Majoratsherren nicht mehr anfzuwiegen wußte,
ans diesen Majoratsherren die Wang oder Könige (Fürsten)
hervor3), welche mit ihren Rivalitäten die chinesische Ge-
schichte der folgenden Jahrhunderte füllen.
Wie gut die Einrichtung ursprünglich gemeint war, er-
sehen wir aus folgender Stelle des großen Encyclopädisten
Wa-tuan-liu H: „Die alten Kaiser und Könige haben
sich niemals das Eigenthum des Reiches angemaßt; denn
sie vertheilten es in verschiedene Fürstenthümer und Herr-
schaften. Der König hatte für sich ein Territorium von
1000 Qndrat-Li; die Knug und die Hon besaßen auch
100 Li, die Po 70, die Tsn und die Nau jeder 50 Li.
Außerdem gab es in der dem Kaiser gehörigen Domäne
Landstriche und Städte, deren Einkommen seinen Kung und
Khing oder Räthen zugetheilt war. Daher gehörte
während dieser Periode alles Land im Reiche dem Staate.
Das Volk bekam es von ihm, bebaute es, ernährte sich von
den Erzeugnissen und zahlte die Steuern. So erfüllten die
unteren Klassen ihre Pflichten, und die oberen übten über
sie eine väterliche Aufsicht. Da niemand zu reich noch zu
arm war, lebte alles in vollendeter Eintracht." Diese Ein-
tracht währte nicht lange. Die einzelnen Fürsten vergaben
einzelne Theile ihres Lehens an Nebenzweige der Familie
und an Personen, welche sich besonders verdient gemacht
hatten, als Afterlehen; die After-Lehnsleute standen dann
zum Lehensfürsten in demselben Verhältnisse, welches zwi-
schen diesem und dem Oberlehnsherrn, dem Kaiser, bestand.
Dieses complicirte Vasallensystem gelangte zu seiner vollen
Blüthe im zwölften Jahrhundert, als die Schang-Dynastie
gestürzt wurde; in nicht weniger als 70 größere Fürsten-
1) Plath, China vor 4000 Jahren, S. 260, 267 fg.
3) I. Klaproth, Journal Asiatique, 1835.
2) Gützlaff, Geschichte des Chinesifchen Reiches, S. 42.
4) Klaproth, Notice de l’Encyclopédie littéraire de
Ma-touan-lin, intitulée Wen hian thoung k’hao. Journal
Asiatique, p. 9.
Dr. Joseph Grunzel: Die Landwirthschaft in China.
163
thümer und an 1000 nicht unbedeutende Feudalherrschaften !
war damals das Reich zersplittert; ein Jahrhundert später,
unter Wu-Wang (1100) zählte das Reich sogar gegen
1800 Fürstenthümer und Herrschaften (bei 13 Millionen
Einwohnern I, welche in fünf Klaffen geschieden wurden.
Die fortwährenden Kämpfe aber unterdrückten allmählich die
kleineren Herrschaften zu Gunsten der großen, so daß wir
bereits gegen das 6. Jahrhundert v. Chr. nur 165Fürsten-
thümer finden, und selbst in dieser Zahl sind die Barbaren-
staaten mit inbegriffen, welche China namentlich von Norden
her bedrängten2). Dieses Feudalsystem wich von dem,
welches nach der Eroberung Englands durch die Normannen
von Wilhelm I. (1069) eingeführt wurde, und welches
später in Folge der Uebernahme des römischen und lombar-
dischen Lehnsrechtes sich in Mitteleuropa ausbildete, bezüg-
lich feiner Entstehung nur wenig ab — in China vollzog
sich die Wandlung allmählich und auf friedlichem Wege,
während sie in Europa auf dem Rechte der Eroberung be-
ruhte —, in seinen weiteren Erscheinungen und Konse-
quenzen fällt aber das chinesische mit dem europäischen
Feudalsystem zusammen. Hier wie dort wurde der kleine
und mittlere Grundbesitz, der allein eine gesunde Entwicke-
lung des Bauernstandes ermöglicht, von dem größeren ver-
schlungen und der Bauer war es hier wie dort, welcher mit
seinem Gut und Blut die Kosten der unausgesetzten Riva-
lität der Feudalherren zu bezahlen hatte.
Dennoch hatten die Staatsmänner, wenigstens in den
ältesten Zeiten, für eine würdige Existenz der kleinen Bauern
vorgesorgt, und zwar in einer für die chinesische Auffassung
der Staatsidee höchst charakteristischen Weise. In China
galt von jeher nicht die Arbeit, sondern der Grund und
Boden als Kapital; nur der Grundbesitz erfreute sich des
staatlichen Schutzes und zahlte als Aeqnivalent dafür die
Steuern. Diese Anschauung erhielt sich bis in die Zeit, als
bereits der Gewerbe- und Handelsstand ein mächtiger
Faktor des wirthschaftlichcn Lebens geworden war; voll-
ständig wurde mit diesem physiokratischen System überhaupt
nie gebrochen, und noch heute hält man den Merkantilismus
mit einem wohlgeordneten Staatswcsen für unvereinbar.
Da die Lehnsfürsten und Beamten des Reiches nur Nutz-
nießer, nicht aber Bearbeiter des Bodens waren, so wurde
neben der Lehenseintheilung eine speziell den kleinen Bauern
zu gute kommende Vermessung des Landes und eine gleich-
mäßige Parzellirung in der Weise getroffen, daß jeder sowohl
an der Bodenproduktion, als auch an den Steucrabgaben
gleichen Antheil erhielt. Zu diesem Zwecke adoptirte man
folgendes originelle System. Jedes Quadrat-Li (zu 900 Mon)
wurde in neun gleiche Quadrate getheilt, von denen das
mittlere Eigenthuni des Staates blieb, nnd für diesen bebaut
wurde, während die umliegenden acht Quadrate, jedes zu
100 Mon, an acht Familien zur eigenen Bebauung ver-
geben wurde. Der mittlere Regierungsantheil betrug jedoch
in der That nur 80 Mon, da 20 Mon unter die acht
Familien gleichmäßig zu Gemüse- und Obstgärten vertheilt
wurden. Auch die übrigen Stände, die Handwerker und
Kaufleute, wurden mit Ackergrund bethciligt, erhielten jedoch
nur ein Fünftel von dem, was für die Landleutc bestimmt
war; zuweilen erhielten auch die erwachsenen Söhne, welche
zu Lebzeiten des Vaters in dessen Dienste bleiben mußten,
si Mémoires conc. l’histoire de l’empire chinois. XV,
247. — K. F. Neumann, Lehrsaal für das Mittelreich. Mün-
chen, 1836, S. 6.
a) Klaproth, Notice de l’Encyclopédie littéraire de
Ma-touan-lin. Journ. As., p. 113. Ma-tuan-lin zählt sogar
zur Zeit der Thronbesteigung der Schang-Dynastie im 18. Jahrh,
an 30000 Lehen, doch dürften hierin auch alle Pfründen mit-
gerechnet sein, welche an einem Amte hafteten und keinen feu-
dalen Charakter an sich trugen.
! ebenso auch Wittwen und Waisen, einen bestimmten Antheil.
Außerdem wurde der Boden, da ja seine Eigenschaften
nicht überall dieselben waren, in drei Kategorien eingeschätzt,
und bei der Vcrtheilung darauf sowie auch noch auf andere
Umstände Rücksicht genommen, wie ja überhaupt diese geome-
trische und schachbrettartige Eintheilung des Landes nur als
ideell und systematisch anzunehmen ist; in der Praxis dürfte
sie doch etwas anders ausgefallen sein. Damit aber das
System sich in dieser Weise erhalten könne, durfte kein Be-
sitzer über das ihm zugewiesene Grundstück im Wege des
Verkaufes, der Verpfändung oder der Verpachtung ver-
fügen. Diese für die ganze chinesische Administration
Chinas maßgebende Grundvertheilung führte den Namen
der „kommunalen" oder die Bezeichnung Tsing-t'ien (Brnn-
nenfelder), weil das Wort Tsing im Chinesischen graphisch
in einer dieser Vcrtheilung ähnlichen Weise dargestellt
wird i). Sie erinnert an die Grundverhältnisse der alten
Germanen, Kelten und Slaven, welche gleichfalls ursprüng-
lich kein individuelles, sondern eine Art von kommunalem
Eigenthum kannten. Die älteste Grundvertheilung der
Germanen war die nach Markgenossenschaften, indem das
Ackerland sowie meist auch Wiesen nach ihrer Bodenbeschaffen-
heit und Ertragsfähigkeit an die einzelnen Genossenschaften
abgegeben wurden Die Grundvertheilung der Kelten be-
ruht auf dem Clau, einer weit verzweigten Geschlechts-
gemeinschaft, welche aus dem angesehensten Zweige einen
Häuptling an ihre Spitze wählt. Derselbe überweist den
einzelnen Mitgliedern ein entsprechendes Grundstück, aber
nicht zu frei verfügbarem Besitz, sondern zu lebenslänglicher
Nutznießung s). Bei den Südslaven bildete und bildet theil-
weise noch die Hauskommunion die Grundlage der Agrar-
verfassung, über welche der Hausvater unumschränkte väter-
liche Gewalt übt; er trägt jedem Mitgliede die täglich zu
verrichtenden Arbeiten auf, kann Grundstücke beliebig kaufen
und verkaufen u. s. w. I. Abweichend davon ist die Agrar-
verfassung in Rußland, welche sogar noch nach der Auf-
hebung der Leibeigenschaft (im Jahre 1861) bis heute bei-
behalten wurde. Die Bauerngemeinde bildet eine große
Gemeinschaft — den Mir — unter dessen männliche Glieder
die Feldmark periodisch in einzelnen Losen gleichmäßig
vertheilt wird si. Die chinesische Einrichtung nähert sich
am meisten dem russischen Mir, nur wurde in China die
Vcrtheilung nicht vom Gutsherrn, wie in Rußland, sondern
vom Staate an die einzelnen Familien vorgenommen, und
dadurch der Bauer viel unabhängiger zu seinem Lehensherrn
gestellt.
Nur der streng konservative Geist des chinesischen Volkes
erklärt die erstaunliche Thatsache, daß sich dieses System
der Feldervertheilung während der Regierungszeit dreier
Dynastien, also fast zwei Jahrtausende hindurch, ohne durch-
greifende Aenderung forterhielt. Erst gegen das Ende der
Tschou-Dynastie, um das Jahr 350 v. Chr. machten Um-
stände verschiedener Art dieses System unmöglich. Vor
allem waren cs die zahllosen Bürgerkriege, welche zwischen
den einflußreichsten Feudalstaaten um die Obermacht geführt
wurden, und welche das Land zu keiner Ruhe kommen
si I. Sacharoff, Ueber das Grundeigenthum in China,
S. 5 s. — 1 Mon — 6,31 Ar.
2) v. Maurer, Geschichte der Markversassung in Deutsch-
land, S. 1 f.
3) G. Schönberg, Handbuch der politischen Oekonomie.
Tübingen, 1885—86. Bd. II; und Meißen, Agrarpolitik, S. 153.
4) A. Summer-Maine, De l’organisation juridique cliez
les slaves du sud. Paris, 1881.
5) A. v. Haxthausen, Studie» über die Zustände und das
Volksleben, wie die ländlichen Einrichtungen Rußlands, HI,
28, 30, 138 fg. — Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues.
Stuttgart, 1885, S. 192, 229 fg.
21*
164
Dr. Joseph Grunzet: Die Landwirthschaft in China.
ließen; vermehrt wurden diese Mißstände noch durch die
Streitigkeiten in der kaiserlichen Familie, welche herrsch-
süchtige Minister und Weiber mit Ränken und Intriguen
umgarnten 4). Der Landmann, durch die stürmischen Zeiten
geängstigt, bearbeitete zunächst seinen Antheil und vernach-
lässigte den mittleren Regierungsantheil vollständig, anderer-
seits bewirkte die ungleiche Vermehrung der Bevölkerung
sowohl, als auch die ungleiche Befähigung der Bearbeiter,
daß die eine Familie zu wenig, die andere zu viel besaß;
kurz, das alte soziale Gleichgewicht schwand zusehends, und
das so künstlich angelegte System fiel vollständig über den
Haufen. Um diese anormalen Zustände zu beseitigen,
beschloß der Minister Schang-Jong eine vollständig neue
und einfache Güterordnung einzuführen. Im Jahre 350
v. Chr. wurde zuerst im Lehensstaate der Tsin - Fürsten,
welche später in der Geschichte noch eine bedeutende Rolle
spielten, ein Edikt erlassen, durch welches die alte Güter-
vertheilung aufgehoben und es jedermann freigestellt wurde,
so viel Land in Anbruch zu nehmen, als-es ihm gutdünkte,
und nach eigenem Belieben abzugrenzen. Dieses so er-
worbene Land wurde volles Grundeigeuthum, über welches
der Besitzer jeder Zeit durch Verkauf oder andere Mittel
verfügen konnte. Diese Maßregel, welche sich im Tsin-
Lehen in aller Ruhe und zu allgemeiner Zufriedenheit
vollzog, wurde auch von einzelnen benachbarten Staaten
angenommen und nach der Vereinigung sämmtlicher Lehen
unter der neuen Dynastie der Tsin im Jahre 221 v. Chr.
als für das ganze chinesische Reich giltig publizirt* 2).
So lange die Bevölkerung eine sehr dünne war, be-
währte sich auch dieses System, da ja jeder so viel Land
okkupirte, als er bebauen konnte und wollte. Ganz anders
aber gestalteten sich die Verhältnisse, als die Bevölkerungs-
zahl unverhältnißmäßig rasch zunahm, und die politischen
Wirren zur Zeit der Thronbesteigung und des Falles der
Tsin-Dynastie (255 bis 206) die Landwirthschaft in vielen
Gegenden total ruinirten. Tausende, ja Millionen von
Menschen verloren ihre Existenz, indem sie ihre Grundstücke
nothgedrungcn zerstückeln und Stück für Stück verkaufen
mußten. Auf der anderen Seite bereicherten sich einige
Leute, indem sie diese Stücke zusammenkauften und einen
Großgrundbesitz schufen, ans welchem die ehemaligen Be-
sitzer als Pächter gegen die Hälfte des Ertrages arbeiten
mußten. Aehnlich ging es auch im alten Sparta. Auch
dort schwand im Laufe der Zeit die lykurgische gleichmäßige
Vertheilung von Grund und Boden, und trotzdem die Ver-
äußerung von Erbgütern und die Abtrennung eines Stückes
vorn Stammgute verboten, und der Handel in Grundstücken
überhaupt für schändlich gehalten wurde, so häufte sich dort
ebenfalls der Grundbesitz in den Händen Weniger an3), und
wirkte auf die Landwirthschaft ebenso verderblich wie die
Latifnndienbildung im alten Rom4). Auch in China merkte
man bald, wie verhängnißvoll die neue Ordnung der Dinge
wirken werde. Ma-tnan-lin betrachtet mit Recht das Edikt
der Tsin-Dynastie als den Beginn einer neuen Phase, und
er läßt bei dieser Gelegenheit seiner Mißbilligung über
dasselbe freien Lauf. „Unter den ersten drei Dynastien
und vor ihnen war das Reich nicht Eigenthum der Mo-
narchen; die Tsin waren die ersten, welche einen Menschen
zum Herrn über alles machten. Unter den ersten drei
Dynastien waren die Leute nicht Eigenthümer des Bodens;
aber als die Tsin die alte Vertheilung abschafften und das
Eigenthum dem Volke als theilbare Erbschaft überließen,
U Gützlasf, Geschichte des chinesischen Reiches. S. 52.
2) Sacharosf, Ueber das Grundeigenthum in China. S. 9 fg.
3) Duncker, Geschichte des Alterthums. HI, 368 fg.
4) Roscher, Nationalökonomik des Ackerbaues. S. 151. —
Mommen, Römische Geschichte. I, 266 fg.
so gaben sie etwas, was sie nicht hätten geben sollen, und
nahmen etwas, was zu entziehen sie nicht das Recht hatten"4).
Vergeblich waren alle Maßregeln der folgenden Han-
Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.), diesem unhalt-
baren Zustande ein Ende zu machen. Der nächste Gedanke
war, das Privateigenthum wieder in Kommunalwirthschaften
zu vertheilen, wie sie vor dem Edikt der Tsin bestanden
hatten, da die Schwierigkeiten der Wiedereinführung jedoch
einigen Staatsmännern unüberwindbar schienen, so begnügten
sie sich mit der Forderung, daß eine gesetzliche Grenze be-
stimmt werden sollte, über welche hinaus niemand Grundbesitz
in einer Hand vereinigen dürfe, und daß der Verkauf von
Grundstücken (wie in Sparta) verboten werden sollte. Aber
selbst diese verhältnißmäßig milde Reform scheiterte an dem
Widerstände der Großgrundbesitzer, welche darin eine
Schädigung ihrer Interessen erblickten, und mit denen sich
die Regierung nicht verfeinden wollte. Sie behalf sich, so
gut es ging, mit Steuernachlässen und Subventionen, das
Uebel wurde aber dadurch nicht eingeschränkt; auf der einen
Seite wurde das Verbrechen, auf der anderen Corruption
und Luxus großgezogen. Im Jahre 9 n. Chr. wußte ein
begabter Minister, namens Wang-mang, die Mißstimmung
des Volkes zu benutzen, indem er sich durch seine Reform-
pläne eine große Popularität erwarb und gestützt auf die-
selbe der herrschenden Dynastie den Thron entriß. Als
nunmehriger Kaiser sah er sich genöthigt, dem gegebenen
Versprechen nachzukommen, und er erließ ein Edikt, welches
die neue Güterordnung folgendermaßen feststellte: „Aller-
Grundbesitz im Lande wird kaiserlich; kein Unterthan darf
mehr als ein Tsin Landes (gleich 6,16 Hektar) und acht
Sklaven männlichen Geschlechtes haben; der Verkauf des
Landes ist verboten, damit jeder die Quelle seiner Nahrung
behält. Die Ländereien, welche nach diesem Gesetze sich in
einer Hand zu viel befinden, verfallen der Krone und werden
den Dörfern je nach Bedürfniß zugetheilt. Wer an der
Weisheit dieser Maßregeln zweifelt, wird verbrannt; wer
sie verletzt, getöbtet2).“ An derselben Klippe aber, an wel-
cher alle früheren Neformplüne zu nichte wurden, scheiterte
auch seine Verordnung. Die Reichen setzten derselben großen
Widerstand entgegen, und da der neue Kaiser sah, daß er
sich ohne dieselben nicht werde halten können, so gab er
ihrem Drängen nach und hob nach dreijährigem Bestände
seinen Erlaß wieder auf.
Nicht viel größeren Erfolg hatten die Reformen spä-
terer Fürsten. Der erste Versuch ging von der Tsin-
Dynastie (265 bis 419) aus, welche eine Art Klasfcn-
Eintheilung dem neuen Agrargesetze zu Grunde legte. Die
erste Klasse, welcher jeder arbeitsfähige Mann von 16 bis
60 Jahren angehörte, sollte 70 Mon und jede Frau
30 Mon, die zweite Klasse, welche einerseits aus Jüng-
lingen von 13 bis 15 Jahren und andererseits aus Greisen
von 61 bis 65 Jahren bestand, die Hälfte dessen bekommen,
was der ersten Klasse zugesprochen wurde; die Fürsten
und höheren Beamten sollten verhältnißmäßig mehr er-
halten. Da aber diese Dynastie mit widrigen Verhält-
nissen zu kämpfen hatte, war es ihr unmöglich, den Reform-
plan im ganzen Reiche zu realisiren, die ganze Wirkung
beschränkte sich auf einzelne Versuche, welche hie und da in
geringem Maßstabe unternommen wurden.
Dagegen gelangte eine ähnliche Klasseneintheilung unter
der fremden Eroberer-Dynastie Wei (386 bis 534) wenig-'
stens im nördlichen China zur Durchführung. Diese
Dynastie, welche im Norden Chinas ein selbständiges Reich
4) Klaproth, Notice de l’Encyclopédie littéraire de
Ma-touan-lin. Journ. As., p. 11.
2) Sacharosf, Ueber d. Grundeigeuthum in China, S. 15,16.
Dr. Joseph ©rundet: Die Landwirthschaft in China.
165
gründete, kämpfte mit zwei anderen südlichen Staaten um
die Alleinherrschaft, und mußte daher vor allem trachten,
durch eine Ordnung der Staatseinkünfte dieselben zu er-
höhen und das Volk durch populäre Maßregeln für sich zu
gewinnen. Im Jahre 485 wurde daher die folgende
Güterordnung festgesetzt: Jeder erwachsene Mann im Alter
15 bis 60 Jahren erhielt 40 Mon Ackerfeld und außerdem
jede Familie noch 20 Mon für Maulbeerpflanzungen und
andere Nutzbäume. Minderjährige, Greise und Frauen
bekamen dann, wenn sie ein Hauswesen für sich ausmachten,
die Hälfte dieses Antheiles. Ebenso erhielten die Ver-
wandten des kaiserlichen Hauses, die Fürsten sowie die
Beamten ein ihrer Würde entsprechendes Grundstück, das
in Fürstensamilien vererbt wurde, dagegen bei Aemtern stets
auf den Nachfolger in demselben überging. Um auch in
aller Zukunft jeder Ungleichheit vorzubeugen, sollte, ähnlich
wie bei den Juden in jedem Jubeljahre (49) und nach dem
Jahre 622 v. Chr. in jedem Sabbathjahre (7) die
soziale Ungleichheit wieder ausgeglichen werden ft, auch
in China im ersten Monate jeden Jahres eine neue Ver-
theilung vorgenommen werden. In äußerst vorsichtiger
Weise aber umgingen die Wei- Fürsten die Klippe, an
welcher die frühere Reform scheiterte. Kein Begüterter
wurde zur Herausgabe seines illegalen Grundbesitzes ge-
zwungen, es wurde ihm dagegen freigestellt, alles das, was
er über das gesetzliche Maß besaß, zu veräußern, verboten
wurde aber einerseits über die gesetzliche Grenze hinaus
Grund und Boden zu erwerben, andererseits von der gesetz-
lichen Menge etwas zu veräußern. Ans diese Weise wurde
wenigstens im Wei-Staate eine soziale Nivellirnug ange-
bahnt.
Dieses System wurde von der folgenden Sui-Dynastie
(590—618), unter welcher wieder ganz China vereinigt
wurde, beibehalten und von der Thang-Dynastie(618—907)
mit geringer Modifikation auch im südlichen China zur Durch-
führung gebracht. Dieselben Ursachen aber erzeugten von
neuem dieselben Wirkungen. Innere Kriege und Unruhen
machten die gesetzliche Bestimmung, daß jeder sein Feld
selbst zu bestellen habe, unmöglich, dadurch verarmte wieder
eine Schichte der Bevölkerung, man war gezwungen, mit
Umgehung des Gesetzes Land zu verpfänden oder zu ver-
kaufen, was schließlich so allgemein wurde, daß die Regierung
die Verpfändung und den Verkauf gesetzlich erlaubte,
wodurch das ganze Vertheilungssystem wieder zusammenfiel.
Aus dem Staatseigenthum wurde wieder Privatbesitz.
Dazu kamen übrigens auch uoch neue Faktoren, welche
auf die weitere Entwickelung der chinesischen Agrarpolitik
bestimmend einwirkten. Wie im alten Athens, galt auch
in China nur der Grund und Boden als wirkliches Kapital
und wurde demnach allein als Stenerobjekt behandelt. Als
aber in den ersten Jahrhunderten nach Christus Gewerbe
und Handel einen bedeutenden Aufschwung nahmen, ge-
wahrten die chinesischen Staatsmänner, die der immer größer
werdenden Geldnoth der Regierung abhelfen mußten, daß
auch diese Faktoren der Volkswirthschaft sehr gut zur Be-
steuerung herangezogen werden können. Um nun aber ein
möglichst einfaches und allgemein giltiges Steuersystem zu
ermöglichen, wurden im Jahre 780 durch ein Gesetz alle
bisherigen Beschränkungen der Landwirthschaft, des Ge-
werbes und des Handels fallen gelassen, und die Steuern
nicht mehr nach der Arbeitskraft, dem Alter und dem Grund-
besitze, sondern einfach nach dem Vermögen, dem Kapital
bemessen, mochte dasselbe nun in Grundbesitz, Arbeitsmate-
1) Dunckcr, Geschichte des Alterthums, I, 532.
2) Böckh, Staatshaushalt der Athener, S. 408, 635 fg.,
645 fg.
rial, Waaren oder Geld bestehen; zu diesem Zwecke wurde
das ganze Volk in neun Vermögensklassen eingetheilt. Also
bereits im Jahre 780 n. Chr. kamen in China die Frei-
heiten zur Welt, welche sich Europa erst seit dem vorigen
Jahrhundert erkämpft hat. Die Folgen blieben aber auch in
China nicht aus. Der Großgrundbesitz fraß den kleinen
auf, der Landbau wurde total vernachlässigt, weil der arme
Bauer im Handwerker- oder Kaufmannstande eine bessere
Existenz erblickte, aber auch hier fanden nicht alle ein ent-
sprechendes Unterkommen: die soziale Frage war auch hier
das Resultat. Die Regierung erließ wenigstens einige
Bestimmungen zu Gunsten der Pächter, so durfte der Pacht-
zins im Verhältniß zum Ertrage nicht zu hoch bemessen
sein, kein Pächter durfte vertrieben werden, so lange er seinen
Verbindlichkeiten nachkam u. s. w. Diese sozialen Uebel-
stände blieben nicht ohne Rückwirkung auf den Staat.
Binnen 53 Jahren (907—960) folgten sich fünf Dynastien
auf dem chinesischen Thron; die mongolischen Völkerstämme
im Norden erkannten die günstige Gelegenheit und fielen
ins Land ein, welches nur einen ohnmächtigen Widerstand
leisten konnte; und so kommt es, daß wir im Jahre 1280
einen Mongolenfürsten als Herrscher in China antreffen,
dessen Dynastie (Juan) sich bis zum Jahre 1368 erhielt.
Daß diese Dynastie für die chinesischen Verhältnisse kein
Verständniß mitbrachte, läßt sich aus der nomadischen
Lebensweise dieses Volkes leicht erklären; so erließ Knblai-
Chan im Jahre 1230 eine Verordnung, daß in einem ge-
wissen Umkreis um die Hauptstadt der Grund und Boden
nicht angebaut werden dürfe, damit genügende Weideplätze
für die zahlreichen Mongolenpferde da wären.
Doch hatte bereits vor dem Mongolen-Einfalle die
Sung-Dynastie sich bemüht, die den Bauernstand ernstlich
bedrohenden Gefahren zu beseitigen, und zu diesem Zwecke
waren die leitenden Staatsmänner auf einen Gedanken ver-
fallen, welcher nach der Vertreibung der Mongolen durch
die Ming-Dynastie (1368—1644) wieder aufgenommen
wurde. Es wurden nämlich die Kronländereien, welche der
Regierung von ausgestorbenen Familien oder abgeurtheilten
Verbrechern, aus unbebauten Fluß- und Seebezirken, ferner
aus den den Buddha- und Tao-Priestern abgenommenen
Grundstücken zufielen, nicht mehr an Arme vertheilt, weil
sie ja dadurch wieder vom Großgrundbesitz verschlungen
wurden, sondern nur verpachtet. Um diese Kronländereien
rasch entsprechend auszudehnen, wurde gesetzlich verordnet,
daß mit Ausnahme des Adels jeder das 100 Mon über-
steigende Land gegen eine gewisse, im Verhältniß zum jähr-
lichen Zins festgesetzte Entschädigung der Regierung zu
überlassen hätte. Trotz des anfänglichen Widerstandes ge-
lang die Maßregel, die Kronländereien erweiterten sich
unter der Ming-Dynastie ans ein Siebentel der ganzen be-
bauten Fläche des Landes, und es wurde auf ihnen ein
eigener selbständiger Bauernstand groß gezogen x).
Diese Verhältnisse erhielten sich auch unter der heutigen
Taing-Dynastie, welche seit 1644 herrscht; eine gesunde
Agrarpolitik war die hauptsächlichste Sorge eines jeden
größeren Fürsten. So traf z. B. Kang-Hi mehrere Maß-
regeln zum Schutze des kleineren Grundbesitzes* 2), und wenn
auch sonst der Landbau ziemlich frei sich entwickelte, so er-
langte er doch niemals die Freiheit — zu Grunde gehen
zu dürfen.
Welche Ziele die heutige Agrarpolitik verfolgt, und wie
die heutige Organisation der Landmirthschaft beschaffen ist,
soll in einem zweiten Artikel auseinandergesetzt werden.
x) Sacharosf, Ueber das Grundeigenthum, S. 26.
ft Mémoires conc. l’histoire de l’empire chinois.
XI, 236.
166
Jane Dieulafoy: Dieulcifoy's Ausgrabungen in Susa.
Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Nach dem Französischen der Madame Jane Dieulafoy.
(Mit vier Abbildungen.)
IX.
Es war nicht länger möglich in Ungewißheit zu bleiben,
Dieulafoy beauftragte daher Usta Hassan, einen letzten Ver-
such zu machen, von den Manleseltreibern der Stadt Thiere
zu leihen.
Zwei Tage später kam der brave Maurer mit bestürztem
Gesicht zurück und berichtete, daß ein Beamter ihm mitge-
theilt habe, der Divan würde den Franzosen, sobald ihre
Mittel erschöpft wären, das Fortschaffen der ausgcgrabenen
Schätze verbieten.
Ein Bote des Gouverneurs, der mit Usta Hassan ankam,
brachte vom trefflichen Doktor Tholozan einige liebenswür-
dige Zeilen und einen Brief vom französischen Bevollmäch-
tigten. Letzteres Schreiben erinnerte kurz und bündig an
den zwischen der französischen und persischen Regierung
geschlossenen Vertrag und an dessen bevorstehende Verfalls-
zeit. Wenn also der Transport nicht beschleunigt wurde, so
war zu befürchten, daß die mit Frankreich eingegangenen
Verpflichtungen unerfüllt blieben.
Dieulafoy sandte den Boten mit dem Gesuch an
Mozasfer el-Molk zurück, die Fuhrwerke nicht aufzuhalten.
Dann wurde einer der besten Arbeiter, Mirza, mit dem ge-
heimen Aufträge nach der Stadt geschickt, den Seid („Fürst")
Tscharwadar zur Förderung der Angelegenheit mit nach
Susa zu bringen.
Schon am 1. Februar kam Mirza mit sehr schlechten
Nachrichten zurück. Kaufleute, Priester und Ferasch hatten
übereinstimmend erzählt, daß nach den aus Jspahan erhal-
tenen Verhaltungsmaßregeln, die Franzosen wohl gezwun-
gen sein würden, ihre Kisten nach Teheran zu schaffen,
damit Sc. Majestät das Beste davon zurückbehalten könne.
Am 4. Februar erschien Seid Ali, der verschuldete,
jähzornige, rohe und halbnärrische König der Seïds, mit
drei Tscharwadarcn und elf starken Mauleseln. „Wir sind
ihrer vierzehn", sagte er. (S. Abbildung 1.) Sofort
gab man sich der schweren Aufgabe hin die Maulesel zu
Zugthieren „auszubilden". Eifrig wurde auch au der
Verpackung des Sttulenkapitäls gearbeitet, worauf man einen
Hebebaum errichtete.
Zwanzig Arbeiter unter Jcan-Marie's Leitung gingen
anfangs damit so ungeschickt um, daß Hebestange, Stein
und Kiste sich in der Luft umdrehten und herabstürzten,
zum Glück jedoch ohne jemand zu treffen.
Das Gepäck erhielt durch folgenden Zufall noch einen
Zuwachs. Als Madame Dieulafoy eines Tages den
prachtvollen vor kurzem ausgegrabenen Stier betrachtete,
überzeugte sie sich zu ihrer großen Betrübniß nur von
neuem von der Unmöglichkeit der Fortschaffung des
Kolosses. In einem Anfall von Aerger schlug sie mit
einem Hammer stark auf das Thier. Da löste sich plötzlich
ein riesiger Block davon ab, daß die Umstehenden kaum rasch
genug ihre Füße retten konnten.
Am 12. Februar erhielt Dieulafoy auf seinen Brief an
Mozasfer el-Molk folgende Antwort:
„Die in Susa entdeckten Gegenstände sollen, gemäß
einem Befehl aus Teheran, in Susa verbleiben, deshalb ist
Maulthierbesitzern und Nomaden untersagt worden, den
Christen Lastthiere zu leihen."
Dieulafoy antwortete rasch und bestimmt:
„Die französische Regierung ist rechtmäßige Besitzerin
von der Hälfte der ausgegrabenen Schütze. Ich verlange
daher sofortige Theilung und werde den Gouverneur per-
sönlich dafür verantwortlich machen, wenn durch seine
Schuld der Transport bis zum Beginne der Wallsahrtszcit
nicht beendet ist."
Gleichzeitig benachrichtigte Dieulafoy den Hakem, daß
nächstens sieben mit Steinen gefüllte Kisten nach Ahwas
geschickt werden sollten.
Am 15. Februar kam Mirza Tagy zurück, schlug sein
Zelt in der Nähe des Hauses auf und erklärte, daß er von
Mozasfer el-Molk beauftragt sei, die Interessen Sr. Majestät
wahrzunehmen.
Tagy ließ sich jedoch leicht bestechen und trat in den
Dienst der Franzosen, indem er die Führung der Transport-
stücke übernahm, welche nicht für den Seid Tscharwadar
bestimmt waren. Er ritt nach der Stadt und versprach
Kameele und Maulthiere mitzubringen.
Die ganze letzte Zeit hatte so große Anforderungen an
die Kasse der Expedition gestellt, daß man gezwungen war,
100 Arbeiter fortzuschicken, um die täglichen Ausgaben da-
durch zu verringern. Seit drei Tagen nun trieben sich die
armen Arbeitlosen an den Grüben herum und baten unter
Thränen um Beschäftigung, indem sie sich auch mit dem
niedrigsten Lohne zufrieden geben wollten. Die Franzosen
waren jedoch gezwungen sich unerbittlich zu zeigen, weshalb
die meisten zu ihrem Stamme zurückkehrten. Nur zehn der
beharrlichsten waren geblieben, in der Hoffnung, sich wieder
Zutritt zur Arbeit verschaffen zu können.
Bei den fortgesetzten Ausgrabungen im Gange der Un-
sterblichen zeigten sich nach den Bogenschützen apokalyptische
Thiere aus Terracotta, sufianische Inschriften und zuletzt
nichts weiter als Thonerde.
Vom 16. bis 20. Februar herrschte ununterbrochener
Regen. Am 21. endlich zeigte sich aber die schon sehr heiße
Sonne, welche außerordentlich rasch den Boden austrocknete.
Es handelte sich jetzt darum, einen schon mit drei Kisten
beladenen, tief eingesunkenen Karren in Bewegung zu setzen.
Die Maulesel schlugen aus, wobei sie Menschen verletzten
und das Geschirr zerrissen. Trotzdem aber 40 Arbeiter an
den Rädern schoben, kam das Gefährt kaum 10 Schritt
vorwärts. Die zu schwachen Felgen gruben tiefe Furchen.
Man war also gezwungen, das Fahrzeug durch Wegnahme
einiger Steine zu entlasten, worauf es sich schließlich in
Bewegung setzte (S. Abbild. 3). Es hatte jedoch das Miß-
geschick in eins der frischen Gräber am Danielsgrabe zu ver-
sinken, worauf unter den Arbeitern große Aufregung entstand,
so daß Dieulafoy sich gezwungen sah, Gemalt zu gebrauchen.
Die eigentliche Abfahrt wurde auf den nächsten Tag
festgesetzt.
Als Antwort auf seinen Brief erhielt Dieulafoy am
4. Mürz vom Khan die Nachricht, daß dieser noch vor Be-
ginn der Pilgerzeit am Danielsgrabe erscheinen werde und
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in ©ufa,
167
bet dieser Gelegenheit die zwischen ihm und Dieulafoy
schwebenden Streitigkeiten beizulegen gedenke.
Indessen trat unvermuthet Regen ein, so daß man am
Worthalten des Khan schon zu zweifeln begann, als eines
Morgens mehrere Ferasch ankamen, welche für Se. Excellenz
Zelte aufschlagen sollten.
In der Zwischenzeit hatte auf Wunsch des Seid
Tscharwadar, der es nicht erwarten konnte, die andere Hälfte
des Transportpreises einzustecken, der Karrenzug sich in Be-
wegung gesetzt.
Am 28. Februar gelang es nach furchtbaren An-
strengungen um den Tumnlus herum zu kommen, am
1. Mürz legte der Zug 1 km, am 2. 4 km zurück.
Herr Houssay hatte die Leitung an Stelle des erkrankten
Herrn Babin allein übernommen.
Eines Morgens umringten darauf die Arbeiter Madame
Tscharwadar.
Dieulafoy und meldeten, daß der Khan, vom Ordn begleitet,
ankomme. Gleichzeitig schleppten sie Mehl und Kleidungs-
stücke herbei mit der Bitte, dieselben vor den Leuten des
Hakem einzuschließen, auch sich ihrer Weiber anzunehmen,
die in Gabr nicht sicher sein würden.
Die Sachen wurden eingeschlossen, die Weiber jedoch
überließ man ihrem Schicksale, zumal diese wenig nach
Schutz verlangten.
Als der Khan sein Zelt betreten hatte, ließ Dieulafoy
ihn begrüßen und ihm seinen Besuch ansagen. Die auf
die Stunde des Sonnenunterganges festgesetzte Zusammen-
kunft verlief ziemlich kühl. Am nächsten Tage, gegen die
siebente Morgenstunde, inachte der von mehreren Beamten
begleitete Mozaffer el-Molk seilten Gegenbesuch. Madame
Dieulafoy empfing sie im Hause, um sie bald vor die offenen
Lattenkisten zu führen, welche die Bruchstücke des doppel-
köpfigen Stieres enthielten. Er durchschritt den Palast, wo
1 es zehnmal mehr Steine gab, als die Franzosen im Stande
waren hinwegzuführen. Als der Khan vor den 200 Kisten
stand, welche den Fries der Bogenschützen und den Löwen-
UntermCQ§ nach bem Starmi.
Jñne Dieulafo y: Dieulcifoy's Ausgrabungen in Susa.
16g
fries enthielten, erbot sich Diculafoy, mehrere derselben
öffnen zu lassen. Mozaffer el-Molk sah davon ab und
begab sich wieder hinab zum Daniclsgrabe, nachdem er die
Franzosen zum Frühstück eingeladen hatte.
Wundervoller Sonnenschein vergoldete die Landschaft.
Gegen Abend wurde ein Wettschießen vorgenommen, an
welchem die Franzosen sich mit Karabinern betheiligten,
während der Khan mit einer zwei Meter langen Entenflinte
bewaffnet war.
Seine Abreise war auf 12 Uhr Mittags festgesetzt wor-
den, vorher erging eine nochmalige Einladung an die Fran-
zosen. Dieulasoy beschloß die noch immer schwebende
Angelegenheit dabei zu erledigen und sagte zum Khan:
„Excellenz sind davon unterrichtet, daß die Expedition am
1. April Susa verlassen muß, wie können wir aber unseren
Verpflichtungen nachkommen, wenn wir weder Kameele noch
Maulesel geliehen erhalten?"
Der Khan bestand jetzt auf Oeffnung der Kisten und
Theilung der farbigen Steine durch das Loos.
Dieulasoy machte ihm hierauf den Vorschlag, die Hälfte
der Kisten gegen Vergütung der Verpackungskosten zurück-
zulassen.
Der Khan ging jedoch darauf nicht ein. Indessen
pflichtete er bald der Meinung Dieulafoy's bei, daß diese
Trümmer Se. Majestät schließlich nur belästigen würden.
Außerdem gab er zu verstehen, daß Se. Kaiserliche Hoheit,
Zelle Sultan, eine gewisse Auszeichnung wünsche, welche
die französische Regierung ihm noch immer nicht verliehen
habe. Falls Diculafoy ihm diese verspräche, würde er im
Namen seines Herrn auf die schwierige und ermüdende
Theilung verzichten.
Diculafoy vermochte nun zwar kein Versprechen zu geben,
versicherte aber, vom Edelsinn Zelle Sultans Bericht erstatten
zu wollen, was gewiß dankbare Anerkennung finden würde.
Mozaffer el-Molk war hierauf wie umgewandelt, gab
sofort Befehl, den Reisenden kein Hinderniß mehr in den
Weg zu legen, ließ einen schönen Hengst vorführen und
bat Dieulasoy, das Thier als Andenken an einen treuen
Freund annehmen zu wollen. Ferner zog er aus feiner
Reisetasche einen sehr großen, prachtvollen, als Ring^ge-
Transport des Gepäckes.
faßten Brillanten heraus und bot ihn Madame Diculafoy
zum Geschenk an.
Beides wurde jedoch dankend zurückgewiesen.
Am Morgen des 6. März brachte man ein taubstummes
Mädchen zur Französin. Die Mutter des Kindes erging
sich in Schimpfrcdcn auf die christliche Religion, als
Madame Diculafoy ihr erklärt hatte, der Taubstummen
die Sprache nicht wiedergeben zu können.
Dann kamen die Eltern eines von einem tollen Schakal
Gebissenen. Diese äußerten noch überspanntere Wünsche.
Von einem Zauberer hatten sie gehört, daß die Französin
einen kostbaren Talisman am Finger trage, und wer in
diesen beiße, indem er die Haut des Fingers berühre, werde
von jeder Krankheit gesunden, selbst wenn diese tödtlich fei.
Außerdem fiel Madame Diculafoy an dem Tage die
Führung des Haushaltes zu. Sic hatte über sieben Franken
und einen kleinen Korb voll Zwiebeln zu verfügen. Mahmud,
der bisherige Koch, hatte sich, nachdem er in ihrem Dienste
reich geworden, nnehrcrbietig gegen Herrn Honssay gezeigt
und war daher entlassen worden. Er bat um Wieder-
Globus LIV. Nr. 11.
anstellnng, nachdem die Ferafch des Gouverneurs, denen
er sein im Danielsgrabc verstecktes Vermögen verrathen,
ihm seinen ganzen Besitz von 600 Franks gestohlen hatten.
In Abwesenheit Herrn Honssay's konnte er unmöglich wieder
angestellt werden. Um Mahmud zu ersetzen, versammelten
sich alle Arbeiter und erwählten selbst einen unter sich zum
Koch, worauf dieser, stolz auf seinen Ehrenposten, sein
Amt sofort antrat.
Jean-Marie, der Herrn Honssay bis an den Schawnr
begleitet hatte, kehrte am 8. März zurück und berichtete,
daß der Furth nach drei furchtbar angestrengten Tagen
überschritten worden war.
Diculafoy faßte nun den Beschluß, dem Gouverneur
einen Gegenbesuch abzustatten. Es war zum ersten Mal,
daß er und seine Frau das Lager verließen, weshalb cs
nicht ohne Besorgniß geschah. Nachdem an den Ufern des
Ab-Disfnl gefrühstückt worden war, ging es in feierlichem
Zuge weiter. Mirza Tagny, Msand und vier von Abbas
— dem Vertranensmannc Papi-Khans — befehligte Reiter
bildeten das Geleit.
22
170 $ ane Dieulafoy: Dieulafoy s 2lusgrabungeu in Susa.
Endlich zeigten sich die Häuser der Stadt, die Sassa-
nidenbrücke und das Schloß von Kusch. Die vor dem
Schlosse aufgeschlagenen Zelte bildeten eine lange Doppel-
reihe. Ernst und gemessenen Schrittes betraten die Reisenden
die Stadt. In vollem Laufe kam der Hakem Baschy des
Gouverneurs ihnen entgegen, mit der Meldung, daß der
Khan auf der Jagd sei, am Abend jedoch zurückkehren
werde. Er bat die Fremden, so lange in seiner Behausung
zu warten.
• Bei Anbruch der Nacht kam der Khan zurück. Gegen
10 Uhr wurde das Gespräch mit ihm durch das Hereinbringen
verschiedener, mit viel Kunst zusammengestellter, persischer Ge-
richte, wie Tschelau, Pilan, Kebab und anderer unterbrochen.
Mit Wasser verdünntes Rosenwasser diente als Getränk.
Nach der Mahlzeit richtete der Khan einige wohlgesetzte
Redensarten an seine Gäste, worauf diesen vier Ferasch in
das für sie bestimmte Gemach voranleuchteten.
Ganze Heere unangenehmster Insekten trieben die Frem-
den noch vor Tagesanbruch heraus auf den Hof. Am Morgen
besuchten sie dann noch den Scheikh Taher, bei welcher
Gelegenheit sie einen schwachen Begriff von den Schwierig-
keiten erhielten, mit welchen die Beförderung der Karren
durch die Stadt verknüpft war. Um zu dem Hanse Taher's
zu gelangen, mußten die Reisenden durch ein stark bewohntes
Stadtviertel und über den Marktplatz, wobei ihnen etwa
20 Ferasche vorangingen. Bald sahen sie sich von einem
Schwarme Gassenjungen umringt, welche unter Schimpf-
reden, wie „Christenhunde, Talismanrünber u. s. w.",
Am Karun.
und unter Steinwürfeu sich an die Fersen der Fremden
hefteten; besonders gereizt mochte das Volk wohl durch das
Vorangehen der Polizeimannschaft werden. Diese sah sich
gezwungen, mit Stöcken gewaltsam Bahn zu brechen. Der
aufgeregte Pöbel beruhigte sich jedoch sofort, als er sah,
daß die Franzosen das Haus des Scheikh betraten; und
als sie es wieder verließen, blieb Alles ruhig.
Der Khan war übrigens ein ganz unvergleichlicher
Richter. — Scheikh Ali's Neffe hatte seinem Vater drei
Büffel gestohlen und dieselben verkauft. Der Bestohlene
kam zu Mozaffer el-Molk und bat ihn darum, die Thiere,
welche ein Stadtbewohner gegen alles Recht gekauft hatte,
ihm wieder ausliefern zu lassen.
Nachdem der Khan sowohl den Kläger als auch den
Angeklagten verhört hatte, that er folgenden Richterspruch:
„Der Käufer hat die Büffel an ihn, Mozaffer el-Molk,
auszuliefern. Der Dieb hat den erzielten Erlös, näm-
lich 200 Kran, an ihn, Mozaffer el-Molk, zu zahlen.
Dafür soll es dem unglücklichen Greise aber gestattet sein,
seinem Sohne die gesetzlichen 20 Stockschläge auf die Fuß-
sohlen geben zu lassen."
Auf dem Rückwege nach Susa hatte Dieulafoy auf
Herrn Houssay zu stoßen gehofft, welcher nach Aussage der
Araber von Ahwas unterwegs war. Aber erst am nächsten
Tage, den 15. März, kam Herr Houssay mir seinen Karreu
zurück. Trotz unsäglicher Schwierigkeiten und wiederholter
Angriffe seitens der Nomaden war es ihm gelungen, die drei
ersten Kisten glücklich an ihren Bestimmungsort zu bringen.
Der Palast war nunmehr vollständig bloß gelegt wor-
den, der Fries der Unsterblichen schon lange eingepackt und
Jane Dieulafo y: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
171
der Abriß der Befestigung zu zwei Dritteln des Umfanges
aufgenommen. Einige Hundert (und dazu noch jedenfalls
gefälschte) Kran bildeten aber die letzte Hilfsquelle der Rei-
senden. Durch ein neues Schreiben aus Teheran wurde
ihnen auch dringlich befohlen, Susa zu verlassen und gleich-
zeitig mitgetheilt, daß das Schiff Sane unterwegs sei, um
die Reisenden zurück nach ihrer Heimath zu bringen.
Andererseits wieder bedurften die theils wunden, theils
lahmen Maulesel dringend der Ruhe. — Unter diesen kläg-
lichen Umständen konnte das Säulenkapitäl vor drei Monaten
kaum Ahwas erreichen. Man hatte obendrein nur noch auf
14 Tage Lebensmittel.
Daher wurden folgende Beschlusse gefaßt:
Dieulafoy sollte mit seiner Gattin die Unsterblichen
und die Löwen, d. h. alle nicht mehr als 75 kg wiegenden
Gepäckstücke, an die Küste führen.
In Bassorah angekommen, sollten sie sich mit dem
Kapitän des „Sans" in Verbindung fetzen und eine Anleihe
machen, die cs ihnen ermöglichte, den Transport zu Ende
zu führen. Dann sollten Schiffer aufgesucht und nach Kalai-
Bender mitgenommen werden, wohin die Herren Babin und
Houssay nach und nach die Stierbruchstücke befördern sollten.
Am 26. März waren vier Karren unter der Aufsicht
des Herrn Babin unterwegs nach Kalai-Bender. Der Ab-
Dissnl sollte um jeden Preis befahren werden.
Die Gesandtschaft theilte Dieulafoy durch einen neuen
Boten ans Teheran mit, daß sie am Quai von Orsay
angefragt und den Befehl erhalten habe, die Reisenden bis
zum Verlassen des persischen Gebietes auf diplomatische
Weise zu unterstützen.
Stolz auf ihre reichen Erfolge verließ die Expedition
also am 20. März Susa.
Am 31. März stieß die Karawane unterwegs auf Herrn
Babin und seine Karren. Im Verlaufe von acht Tagen
war die beschwerliche Ueberfahrt glücklich bewerkstelligt, und
man hoffte in einem Monat sämmtliche Steine ans User des
Ab-Disful zu befördern.
Am 1. April hatten die Reifenden bei Bende-Scheikh
glücklich den Schawnr überschritten, worauf sie sich lagerten.
In der Ferne war das vor Kalai-Bender gelegene Lager des
Seid Ahmed zu sehen, wohin von tollen Schakalen Ge-
bissene zu pilgern pflegen.
Madame Dieulafoy notirte hier einige Liederstrophen, welche
die Wächter des Lagers in der Nacht aus dem Stegreif sangen:
„Als ich jung war, kannte ich die Sorge noch nicht;
ich wußte nichts davon, daß es Sorgen giebt, oder achtete
mein Herz ihrer nicht.
Wenn die Franken, welche nicht stehlen, welche nicht
schlagen, nach Susa kämen, so würden die Nomaden Häuser
um ihren Palast bauen, und das Land würde blühen.
Wenn die Franken, welche nicht stehlen, welche nicht
schlagen, nach Susa kämen, so würde man das Land be-
bauen und gewänne eine Menge goldner Aehren, Stuten,
Büffel und Schafe. Niemand würde diese mehr rauben,
und das Volk könnte glücklich leben.
Wenn ein Mann vier Kran besitzt, so befiehlt ihm der
Gouverneur: „Gieb mir fünf Kran." Und der Unglück-
liche stirbt kraft- und muthlos den Hungertod.
Setzte der König sich an das Feuer der Tscharwadars,
so würde ich ihm sagen: Sultan, Allah wird einst von
Dir Rechenschaft fordern für alle Verbrechen, die unter
Deiner Regierung begangen worden sind. Dein Schlaf
muß tief und fest sein, daß es den Klagen Deiner Knechte
nicht gelingt, Dich aufzuwecken."
Am 2. April ging die Karawane mitten durch das |
Lager des Khassere-Stammes, der aus lauter gewerbsmäßigen j
Dieben besteht. Als man daselbst nicht abließ, Jakob nach
dem Inhalt der Kisten zu fragen, antwortete dieser: „Wir
führen Flinten mit uns, welche für das Heer des Schachs
Zade bestimmt sind."
Am 3. April lagerte man nochmals am Ufer des Schawnr.
Ein am jenseitigen Ufer lagernder Stamm schwamm herbei,
um die Reisenden aus nächster Nähe betrachten zu können.
Gegen 200 Nomaden, Männer, Weiber und Gruppen nackter
Kinder umringten die Fremden und versicherten, „sie hätten
niemals so weiße und so gut gekleidete Menschen gesehen".
Am 4. April zog die Karawane durch den verrufensten
Theil der Wüste. In einer Entfernung von 500 na brauste
die Kercha dahin, und am jenseitigen Ufer lag die Türkei,
wohin die Araber fliehen, um dem Strafrecht zu entgehen.
Da leben Räuber — Gcsinnnngsverwandte des Stammes
von Menschet.
Der Anführer der Karawane, Baker, schlug hier das
Zelt auf und trieb die Thiere zur Tränke nach einer Fluß-
bucht, die hinter Weiden versteckt lag. Dann wurden rings
um das Lager die Kisten als Schutzmauern aufgestellt.
Die Nacht war ohne Mondschein, vier Eseltreiber
hielten Wache. Gegen 11 Uhr wurde Lärm geschlagen.
Dieulafoy feuerte Revolver- und Karabinerschüsse nach der
von den Wächtern angegebenen Richtung hin ab, während
seine Frau rasch die Waffen von neuem lud. Zwischen dem
dritten und vierten Schuß hörten sie den Ruf: „Macht Euch
davon, es sind die Franken!" Darauf bewegte sich das
hohe Schilf, später blieb alles ruhig.
Den ganzen nächsten Tag zog die Karawane durch
einen Wald von baumartigen Disteln. Die Hitze war un-
erträglich, und dazu noch die Moskitos! Trotzdem mußte
ein rascher Schritt innegehalten werden; denn in dem
Dickicht war man vor Ueberfällcn uicht sicher. Einer von
den Leuten der Karawane, der sich für einen Augenblick
vom Zuge entfernt hatte, kam athemlos, völlig entkleidet
und mit blutüberströmtem Gesicht nachgestürzt mit dem
Ausruf: „Die Araber, die Araber!" und auf das vou der
Karawane abgegebene Feuer autworteten etwa 26 Fliuteu-
schüsse der Feinde. Zum Glück treffen die Waffen der
Araber weder weit noch richtig. Wenn aber einst die No-
madcn die von den Engländern in Türkisch-Asien einge-
führten Remingtou-Gewehre besitzen werden, dann wird es
fast unmöglich sein, Persien zu bereisen. Drei Stunden vor
Sonnenuntergang verließ die Karawane den Distelwald und
gelangte in eine Ebene, die leicht zu übersehen war.
Die Nacht zum 6. April verging ruhig, doch war die
Wache verdoppelt worden, und man gab von Stunde zu
Stunde einige Schüsse ab.
Beim Morgengrauen wurde wieder aufgebrochen, und
man stieß auf zwei bis auf die Zähne bewaffnete Araber.
Als diese sich entfernt hatten, näherte sich Baker Madame
Dieulafoy und sagte: „Diese Räuber leben von Disteln,
wie mein Esel; sie weiden das dürr gewordene Gras an
den Wegrändern ab. Die Strohmatten in ihrem Lager
dienen ihnen als Häuser. Wie soll man aber mit Leuten
kämpfen, die keine beständige Wohnung haben, keinen Acker-
bau treiben und Gras essen? Was Wunder, wenn sie
uns mit Leichtigkeit unterwerfen."
In der Folge zog die Karawane durch das Lager eines
wilden vom Scheikh Melahye befehligten Volksstammes, und
wurde von den fast völlig nackten Männern, die mit Lanzen
bewaffnet waren, unter Drohungen verfolgt.
„Baker, was ist in Deinen Kisten?" schrieen sie.
„Rohe und gebrannte Ziegel, und außerdem Steine, die
aber nichts taugen, weil sie zerbrochen sind."
„Baker, Du Talismanräuber, halt an, laß die Fran-
ken absteigen. Es sind Zauberer, und wir dürfen nicht
zugeben, daß sie ihre Reise fortsetzen."
22*
172
Jane Dieulafoy: Dieulafoy's Ausgrabungen in Susa.
Baker sorgte indeß, daß das Vieh eng zusammen-
getrieben wurde, und dicht zusammengedrängt schritt die
Karawane vorwärts. Unglücklicher Weise stürzte dabei ein
Thier, und die Araber fielen sofort über die zu Hilfe herbei-
geeilten Treiber her, um dieselben ihrer Kleidung zu be-
rauben. Dieulafoy's Revolverschüsse verscheuchten sie jedoch,
und ein von den Räubern abgefeuerter Pistolenschuß traf
zum Glück nur die Latte einer Kiste. Beim Weiterziehen
wurde die Karawane aber von den Nomaden verfolgt, die
mit geübter Hand Steine auf sie schleuderten, so daß Dieu-
lafoy am Kopfe und Madame Dienlafoy an der Schulter
getroffen wurde. Endlich riß den Reisenden die Geduld,
und sie griffen den Feind energisch an, worauf dieser, die
Lanzen wegwerfend, schleunigst das Hasenpanier ergriff.
Der ausgetretene Karun zwang die Karawane, die
Richtung nach Dscheria und Ahwas aufzugeben und die-
jenige von Hawiseh einzuschlagen. Wolkenartige Moskito-
schwärme ohne Ende verfolgten sie auch hierbei, und die
Hitze war unerträglich drückend und feucht. Endlich rief
Baker aus: „Wir sind gerettet, hier ist der Baum, unter
dem ich geboren wurde, das ist das Land meiner Väter.
Früher durchzogen zahlreiche persische Stämme diese Gegend,
heute giebt es nicht einmal Schakale hier, und die Stämme
sind alle nach der Türkei gezogen."
„So giebt es keine Diebe im Lande Deiner Väter?"
fragte Dienlafoy.
„Oh, doch, aber ich kenne sie alle."
„Wie weit ist es noch bis Dscheria?"
„Vier Meilen."
„Da können wir noch hingelangen."
„Unmöglich", sagte Baker, „es wird zu spät, und dazu
noch die Diebe!"
„Aber Du kennst sie ja alle."
„Am Tage, aber nicht in der Nacht. Wäre ich da
auch nur im Staude, meinen Vater von meiner Mutter zu
unterscheiden?"
Am 8. April wurde an einem Felsenvorsprnnge gelagert.
Die Ebene war wüst und leer, ohne allen Pslanzenwuchs.
Da zeigten sich in der Ferne abermals Feinde. Rasch trieb
man die Thiere hinter die Kisten. Dieulafoy gab zwei
Karabinerschüsse ab, und sofort hielt der Feind an; es
waren gegen 60 berittene Nomaden, darunter auch Weiber.
Baker verhandelte mit ihnen, und theilte darauf Madame
Dieulafoy mit, daß der Scheikh sie zu sprechen wünsche; er
rieth ihr, demselben zu verstehen zu geben, daß im Zelt noch
zwölf Franken schliefen. Man näherte sich also auf sieben
bis acht Meter Entfernung den Nomaden. Einer von
ihnen bat um ein Heilmittel für feine kranken Augen, ein
anderer wollte einen Talisman haben, der ihm die Liebe
eines jungen Mädchens verschaffen sollte, ein dritter fragte, wo
seine beiden Büffel, die man ihm vorige Woche gestohlen
hatte, versteckt wären. Bei hereinbrechender Nacht veranlaßte
Dieulafoy die Araber, sich zurückzuziehen, nachdem sie schwefel-
saures Eisen, schwefelsaure Soda und einen mit dem Namens-
zuge der Madame Dienlafoy versehenen Ring erhalten hatten.
Am 10. April erreichte die Karawane das am Ufer des
Karnn gelegene Dorf Dscheria. Hier wurde ein großes
Segelboot („Kachti") gemiethet, und nachdem man dasselbe
beladen, wurde sofort aufgebrochen. (S. Abbildung 4.)
Von Mohammerah, wo man am 12. April ankam,
reiste man ebenfalls ohne Aufenthalt nach Felieh weiter.
Nachdem Dieulafoy dem dortigen Scheikh M'fel Bericht
erstattet hatte, ließ dieser sämmtliche Schiffer kommen.
Anfangs weigerten sie sich einstimmig, bis'Kalai- Bender
zu fahren. Schließlich erklärte aber ein kühner Schiffs-
eigner sich dazu bereit, doch nur gegen eine Vergütung von
4000 Franks für das Belem (und es waren deren sechs
nöthig). Auch wollte er keine Verantwortung für Er-
reichung des Zieles übernehmen.
Sieben Stunden später gelangte man nach Bassorah.
Hier traf die Reisenden die schlimme Nachricht, daß der
„San«" die Klippenreihe von Fao nicht zu passiren wage
und in Buschir bleibe. Ein böses Schicksal schien auch die
französischen Boten zu verfolgen. Einer, der von Susa kam,
unterlag beinahe einer sich unfreiwillig zugezogenen Wunde,
der andere, nach Bassorah geschickte, war von einem Löwen
ereilt worden und verdankte feine Rettung nur dem Karun,
in den er sich gestürzt hatte, und wohin die Bestie ihm nicht
gefolgt war.
Am Abend des 21. April wurde eine Anleihe gemacht
und das noch übrige Geld in Persische Münze ungewechselt,
worauf man zurück nach Felieh fuhr. Jetzt konnte nur
Scheikh M'fel noch helfen. Als man ihm berichtet, daß
in Güte mit den Schiffern nichts auszurichten sei, ließ
er den Befehlshaber feiner Marine, einen prächtigen
Schwarzen, kommen und befahl ihm, sechs Boote auszu-
rüsten und zu deren Führung 24 starke und muthige Neger
zu bestimmen. Als Lohn hatte er 300 Franks für das
Boot festgesetzt.
Am nächsten Tag wurde nach Bassorah zurückgefahren, um
daselbst ein Telegramm an den Kommandantendes „Sans"
abzugeben, damit dieser etwa 20 Tage noch warten solle.
Die Fahrt auf dem Karun war geradezu entsetzlich, die
Hitze stieg bis zu 59 und 67 Grad, und Madame Dienlafoy
erkrankte heftig infolge der Strapazen.
Eine Strecke vor Ahwas verließen die Reisenden die
Belem, um Ahwas zu Pferd zu erreichen, während die
Schiffer die Höllenqualen auf dem Karun noch zwei Tage
lang zu ertragen hatten.
Nach drei Tagen kam Madame Dieulafoy im Hause des
Scheikh endlich wieder zum Bewußtsein.
Inzwischen näherten sich auch die Boote Kalai-Bender,
und eines Tages erschien jenseits des Flusses Herr Babin.
Zwei Tage später kamen Herr Houfsay und Jean-Marie
mit den sechs Belem an, welche die Stierbruchstücke brachten.
Beide hatten freilich durch Fieber und Erschöpfung so furcht-
bar gelitten, daß sie in 14 Tagen um 10 Jahre gealtert
waren. Die vorher so stattlichen Lieger sahen jetzt mager
und elend aus. Die kleine Flotte brauchte acht Tage, um
von Ahwas durch die Wirbel und Strudel hindurchzu-
gelaugen.
Mozasfer el-Molk war inzwischen durch einen offenen
Ansstand gezwungen worden, Disful und Schuster zu ver-
lassen und war nach Ahwas gekommen, um einige Zeit
bei Scheikh M'fel zu bleiben. Der Khan hatte seine
Kanonen mitgeführt. Dieulafoy ging zu ihm und bat noch
einmal, ihm Pferde und Artilleristen zu leihen. Der Khan
ging darauf ein, unter der Bedingung, daß Herr Babin seine
Leute begleite und alle nach erfolgter Einschiffung nicht mehr
gebrauchten Sachen, wie Karren, Geschirr, Federn, Papiere,
Bleistifte u. s. w. ihm überlassen würden.
Zehn Tage später legte der „San5" vor der Sandbank
von Fao (bei Buschir) an, worauf die 327 Kisten und 45 Ton-
nen sonstiges Gepäck aufgeladen wurden. Hatten die Reisen-
den der Großmuth des Königs und der seines Sohnes,
Zelle Sultan, es zu verdanken, daß von einer Theilung der
Funde abgesehen worden war, so wäre ohne die beständige
Hilfe des Scheikh M'fel das Kapital vom Palast das Arta-
xerxes doch wohl in Kalai-Bender zurückgeblieben.
II. Z.
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witn-Land.
173
D e n t s ch - W i t u - L a n d.
Bon Lieutenant A. R. S ch m i d t.
(F o r t s e tz u n g.)
An das Witu-Land grenzen im Norden die Waboni, welche
die Suaheli von den Somali trennen, und im Nordwesten
und Westen die Galla (und zwar zunächst die Bararetta-
Galla); die den Waboni sehr ähnelnden Watua leben zerstreut
zwischen den anderen Völkerstümmen, ihre Wohnsitze häufig
wechselnd. Es ist aber hervorzuheben, daß sich in den letzten
Jahrzehnten und ganz besonders in den letzten Jahren die
Grenzen der einzelnen Völkerstämme sehr verschoben haben,
und eigentlich mit jedem Jahre immer mehr verschieben —
regelmäßig zu Gunsten der Somali, welche in glücklichen
Kämpfen gegen die Galla ihr Gebiet wenigstens an und in
der Nähe der Küste immer mehr nach Süden erweitern. Die
aufgezählten Stämme gehören übrigens im Gegensatze zu den
anderen centralafrikanischen Völkerschaften nicht der Bantu-
Familie an, sondern sie haben viel semitisches Blut in sich und
gewannen ihre Eigenart durch Einwanderung und Beimischung
asiatischer Stämme. Die Waboni leben, wie erwähnt, im
Norden des Sultanats Witn und dehnen sich daselbst der
Breite nach etwa drei Tagereisen nördlich aus; außerdem
leben kleinere Waboni-Banden gleich den Watua auch im
Süden unter anderen Völkern zerstreut; das Gros indeß
treffen wir in der bezeichneten Gegend.
Die Waboni sind mittelgroß, mit meist ziemlich Heller Ge-
sichtsfarbe und feinen Zügen, und in der Regel ohne Bart, wo-
gegen die ihnen sonst sehr ähnlichen Watua dunkler sind. Der
Sultan Achmed besitzt in Kataua, im Waboni-Lande, einen
festen Stützpunkt mit einem eigenen Statthalter und kleiner
Besatzung. Die Waboni selbst leben in kleinen Dörfern in
den Wäldern zerstreut, wo sie ihrer Hauptbeschäftigung, der
Jagd nachgehen, die sie durch Schießen mit stark vergifteten
Pfeilen und durch Fallenstellcn betreiben. Haben die Waboni
durch Pfeilschüsse ein Stück Wild erlegt, so springen sie
schleunigst herbei, schneiden im großen Umkreise um den Ein-
schuß ein Stück Fleisch mit dem vergifteten Pfeile heraus und
genießen dann das übrige unbeschadet. Sie nähren sich aus-
schließlich von Fleisch. Sie unternehmen auch häufig Jagd-
züge nach dem Inneren, besonders zum Zwecke der Elephanten-
jagd; gegen das mitgebrachte Elfenbein tauschen sie von den
Gallas Vieh ein, das sic augenblicklich schlachten. Obgleich
sonst zurückhaltend und schüchtern in ihrem Auftreten, sind
sie doch, oder richtiger gesagt, waren sie doch sehr gefürchtete
Sklavcnjäger. Sie lauerten den Passanten in ihrem Lande
auf, fingen diese ein und verhandelten sie den Somalis eben-
falls gegen Vieh. Im Witu-Lande bewohnten sie den
kleinen, aus mehreren Hütten bestehenden Ort Utwani, der
jedoch jetzt von ihnen verlassen ist. Unter einander halten
die Waboni wenig zusammen; sie leben entweder in kleinen
Ortschaften, wo sie dann die Autorität eines Mse (Aeltesten)
wohl anerkennen, diesem jedoch keine besondere Macht ein-
räumen; oder sie leben in Familien (ein Mann mit einer Frau
und Kindern, da bei ihnen Monogamie herrscht) in den
Wäldern, wo die Jagd gerade am ergiebigsten ist. Die-
jenigen, welche einen Büffel erlegten, tragen das Haar in
einem kleinen geflochtenen Zopfe nach vornübergelegt, als
besondere Auszeichnung; bei den übrigen ist die Haartracht
beliebig, meistens tragen sie den Kopf ebenso wie das Gesicht
kahl rasirt. Bekleidet sind sie nur mit einem Lendentuche oder
mit Fellen. Schmuck fand ich bei ihnen gar nicht. Ihre Be-
waffnung besteht ausschließlich in Bogen und stark vergifteten
Pfeilen sowie in beliebigen Messern. Auf meine Erkundigun-
gen — bei den Suaheli — nach der Religion der Waboni, erhielt
ich die Auskunft, sie leben in den Tag hinein und glauben an
gar nichts, was wohl aber im vollen Umfange nicht anzu-
nehmen ist. Ueber ihre Sprache sagen die Suaheli: die
Waboni haben eine Sprache wie die Vögel, die versteht kein
Mensch.
Am nächsten verwandt scheint ihre Sprache der Galla-
sprache; die Verständigung mit ihnen erfolgte stets in recht
mangelhafter Weise in der Suahelisprache, von welcher die
meisten Waboni das Nothwendigste kennen. Als Beispiel
lasse ich im Nachstehenden die Zahlen von 1 bis 10 in der
arabischen, Galla- und Wabonisprache folgen, da sich hier
zu einem Vergleiche Anhaltspunkte finden:
Arabisch. Galla. Waboni.
wahet tako halóla
thenän lama loa
tlielata szedi szedä
aroba afori haffer
chamsa sckani schanna
sita djah leba
sabba teuba dedoe
themanja szedieti szijäde
tisa szagali szagala
ascbara kudeta tamaña
Die Waboni erkennen im Allgemeinen die Oberhoheit
des Witu-Sultans an und haben diesem auch vielfach, be-
sonders gegen die Araber, Heerfolge geleistet; indeß sind sie
nicht zuverlässig und haben auch vielfach, wenn es ihr Vor-
theil erheischte, den Somali, denen sie häufig als Wegweiser
bei Unternehmungen gegen Witu dienten, Vorschub geleistet;
denn als vollständig besitzlos, haben die Waboni von der
Raubsucht der Somali nichts zu befürchten, wiewohl auch
unter ihnen als unter Ungläubigen die fanatischen Somali
mehrfach schon ihre Mordlust gesättigt haben; ebenso häufig
aber haben sie auch an dein Raube jener wegen geleisteter
Dienste Antheil erhalten.
Die Galla, von den Suaheli Wakatua genannt, sind,
wie die Somali, in der Regel hochgewachsene, schlanke Ge-
stalten mit regelmäßigen, nach europäischen Begriffen zum Theil
auffallend hübschen Gesichtern, mit feinen Zügen, durchaus
kaukasischer Mund-, Nasen- und Kinnpartie und dünnen
Armen und Beinen, was sie besonders, wenn auch nicht zu
angestrengter Arbeit, so doch zum anhaltenden Wandern
und Ertragen von Hunger, Durst und Strapazen befähigt.
Die Galla haben im Vergleich zu den Somali dunklere
Hautfarbe und stärkeren Bartwuchs, und scheinen außer-
dem schon etwas mehr mit reinen Negern vermischt zu sein,
als die Somali, vor denen sie sich durch Unreinlichkeit aus-
zeichnen, indem sie die Pflege des Körpers, welche ihren
mohammedanischen Rivalen die Religion zur Pflicht macht,
vollständig vernachlässigen. Das letztere fällt besonders beim
174
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witn-Land.
weiblichen Geschlecht recht unangenehm auf, indem außer-
dem üblen Geruch die wild sich sträubenden, ungekämmten
Haare (denn diese Stämme haben bekanntlich kein Woll-
haar) der sonst in ihrer Jugend meist sehr hübschen Mäd-
chen abstoßend wirken; auch verblühen die Gallasrauen in
der Regel schnell, wahrscheinlich in Folge der verhältniß-
mäßig vielen Arbeit, die ihnen allein — wenigstens bei den
Bararetta - Galla — obliegt. Das weibliche Geschlecht
hat die Häuser (runde aus Stroh geflochtene Hütten mit
Dach) zu bauen, das primitive Hausgeräth anzufertigen,
die Kühe zu melken und die Kinder zu erziehen. Letztere be-
finden sich so unter strenger Aufsicht und in strammer Zucht,
werden aber von ihren Müttern — im Gegensatz zu vielen
anderen Stämmen — sehr geliebt, wie denn auch die Zahl
der Kinder bei den in Monogamie lebenden Galla in der
Ziegel eine größere ist.
Die Bekleidung der Galla besteht ans- einem reichlichen
Umwurf von Merikani unter den Schultern hinweg; theil-
weise freilich, besonders in schlechten Zeiten, treten an
Stelle dieser Bekleidung Felle — namentlich vielfach
bei den Frauen; den Borani-Galla dienen meist selbst-
gewebte Zeuge zur Bekleidung. Stets sind die Galla, be-
sonders die Weiber, reichlich mit Schmuck behängen; um
den Hals tragen sie mehrere Kupferketten, mit den ver-
schiedensten Schmuckgegenständen, ebenso um das Hand-
gelenk; die Weiber tragen außerdem noch eine Unmasse von
Kupferringen am ganzen Ober- und Unterarme. Die Galla-
krieger haben an einem Finger der rechten Hand einen
einige Centimeter hervorragenden ziemlich breiten messingenen
Streitring, der ihren Schlügen ungeheure Kraft verleiht.
Im übrigen bilden Speere mit langen Eisenspitzen, sowie bei
den Bararetta ein unschönes meist im Handel bezogenes, bei
den Borani aber ein eigenartiges, selbstgeschmiedetes Messer
im Gürtel ihre Ausrüstung.
Die als Sklaven der Somali dienenden Galla werden
von diesen vorzüglich als Hirten ihrer Riuderheerden, sowie
zum Melken, Buttermachen u. dergl. verwandt, und wie mir
ein entlaufener Sklave selbst sagte, im Ganzen gut behan-
delt, so daß sie sich in der Regel, obgleich sie die Freiheit
lieben, über ihr Loos trösten.
Die Tugendhaftigkeit der Gallafranen ist rühmenswerth;
mail findet sehr seltene Ausnahmen hiervon, und diese meist
nur an der Küste und in Lamu, bei in die Sklaverei ver-
kauften ulld hier verdorbenen weiblichen Angehörigen des
Gallastammes; auch wachen die Galla eifersüchtig über ihre
Frauen und scheinen Fremden gegenüber argwöhnisch zu
sein. Die gleiche Tugendhaftigkeit ist dem männlichen Ge-
schlecht nicht nachzusagen, obgleich sie die eheliche Treue int
allgemeinen nicht brechen; es wird ihnen ein ins Gebiet der
Sodomie schlagender Fehler nachgeredet, ob mit Grund, ent-
zieht sich meiner Beurtheilung.
Die Galla zeigen sich geneigt zum Genuß geistiger Ge-
tränke, und ich habe öfters Betrunkene gesehen, die beim
Genuß des tomdo mkali zu tief in die Kalabasse geschaut
hatten. Den Tabak rauchen sie nur mit Maß; indeß ist
es bei Besuchen von Galla das erste, sich Tabak und süßes
Wasser anzubieten.
Die Galla zeigen sich bei der geringsten Gelegenheit sehr-
aufbrausend, doch ist der Groll nicht nachhaltig; im übrigen
sind sie Geschenken sehr zugänglich.
Sie wohnen in Dörfern, welche aus primitiven Hütten
bestehen, die sie aber zugleich mit den Weideplätzen ihrer
früher besonders zahlreichen, setzt sehr verringerten Vieh-
heerden häufig wechseln. Auch legen sie — wenigstens
die Bararetta — aus Furcht vor den Somali, die dem
Lauf der Flüsse folgen, ihre Dörfer nicht mehr gern an
Flüssen an; das Vieh ist während der Nacht auf um-
fenztem Terrain untergebracht, scheint sich aber trotz
mangelhafter Pflege gut zu halten. Besonders nach den
Regenzeiten, wo die Elephanten sich näher nach der Küste
heranziehen, unternehmen die Bararetta, welche sonst die
Jagd jetzt nicht mehr mit großem Eifer betreiben, Jagdzüge
nach den daun die Elephanten bergenden Wäldern hin.
Was die Religion der Galla anlangt, so leben sie eigentlich
in Monotheismus; über diesen Punkt hat vornehmlich der
englische Missionär Wakesield schätzenswerthe Aufschlüsse
gegeben. Die Galla glauben an Waka, den sie mit dem
Monde in Verbindung bringen, als Hauptgott, verehren
nebenbei aber auch seinen Sohn und seine Tochter; sie
haben zu Waka Vertrauen nur bei zunehulendem Mond und
besonders bei Vollmond; während der übrigen Zeit weilt
Waka nach ihrem Glauben bei ihren Feinden, den Somali.
Sie glauben an die Allmacht und Allgegenwart Waka's,
indem dieser ihre Gebete stets hören und erfüllen kann;
indeß meinen sie seit einiger Zeit, er habe die Galla ganz
vergessen, weswegen sie auch vollständig verzagt und muthlos
sind und beim Herannahen ihrer Feinde (der Somali) stets
ohne weiteres die Flucht ergreifen, sagend, Waka hat uns
doch verlassen. Nur die Borani-Galla leisten den Sotnali
noch erfolgreich Widerstand, sind indeß beim vorletzten Einfall
der Somali — im Jahre 1887 — auch arg beraubt worden.
Die Bararetta sind infolge ihrer steten unglücklichen Kämpfe
sehr stark dezimirt und werden sie die Zahl von 3000 Seelen
kaum erreichen. Sonst glauben die Galla, daß ihnen die
Vögel ihre Schicksale voraussagen können; sie besprechen sich
mit ihnen und meinen aus deren Fluge die Antwort zu
entnehmen; es ist dies ein Aberglaube, wie er auch bei
andern Negerstämmen, zum Theil sogar bei den Suaheli,
herrscht.
Im großen und ganzen sind die Bararetta - Galla
wegen ihrer zahlreichen Niederlagen nicht so sehr zu be-
dauern, denn sie waren vor zwei Jahrzehnten noch minde-
stens ebenso gefürchtete Räuber wie die Somali, so daß
ihnen der Sultan von Zansibar einen jährlichen Tribut
bezahlte, damit seine Soldaten und die Händler von ihren
Uebergriffen befreit wären. Auch jetzt würden sic noch
ebenso gefährlich sein, wenn ihre Macht nicht eben so unge-
heuer geschwächt wäre, und wo sie einer Minderheit gegen-
über gewaltsam und hochmüthig auftreten zu können glauben,
werden sie es gewiß thun, so wie sie z. B. den Reisenden
durch ungeheure Tributforderungen und Drohungen häufig
lästig wurden; gegenwärtig ist allerdings derartigen Er-
pressungsversuchen mit schon sehr geringer Macht zu be-
gegnen. Bei verschiedenen kleinen Jagdzügen suchte man mich
z. B. in dem einen Galla-Dorfe des öfteren aufzuhalten,
indem man zuerst Tribut verlangte, doch war ich, obgleich
theilweise allein, stets in der Lage, die Forderungen der
Leute ignoriren zu können. Recht undankbar bewiesen sich
seiner Zeit die Galla gegen die englischen Missionäre dcr
freien Methodisten-Mission, die den Galla in ihrem Sinne
— nicht etwa im Sinne des Christenthums, denn um dieses
haben sich die hauptsächlich als politische Wühler thätigen
englischen Missionäre nicht die leiseste Spur von einem
Verdienst erworben — jedenfalls große materielle Wohl-
tbaten erwiesen haben, indem sie dieselben im August 1886,
als sie ein Steinhaus bauen wollten, bei Androhung von
Todesstrafe auswiesen, aus Furcht, diese eine Niederlassung
könnte andere Europäer auch dorthin ziehen; denn europäische
Ansiedelungen wünschen die Galla in ihrem Lande nicht.
Es war diese Furcht wohl auch der Grund, daß sie sich
häufig, besonders in der ersten Zeit meines Aufenthaltes,
sehr abstoßend und unfreundlich gegen uns Deutsche be-
nahmen; später habe ich in recht gutem Einvernehmen zu
den Galla gestanden. Bezüglich der Ausweisung der englischen
Kürzere Mittheilungen.
175
Missionäre habe ich übrigens anch ergänzend hinzuzufügen,
daß im Frühjahr 188(5 die letzteren infolge der großen
Somali-Einfälle von den Galla, die nach ihren schweren
Verlusten die weißen Männer wieder mit ihrem Gelde — das
ja den englischen Missionen nicht fehlt — nöthig hatten, die
Erlaubniß erhielten, die inzwischen von den Somali nieder-
gebrannte Station in Galbanti wieder zu begründen und
das gewünschte Steinhaus zu bauen. Trotzdem also die
Bararetta als gewaltthätiges, hochmüthiges, feiges Bettel-
volk absolut keine Sympathien verdienten, sind sie doch aus
Gründen der Humanität zu bedauern, da sie gerade durch
den großen Somali-Einfall 1887 ihren ganzen Reichthum
an Heerden verloren, wozu ungeheure Verluste an Hinge-
gemordcten und Verstümmelten jeden Geschlechts und Alters
kamen. Diese Niederlage wirkte denn auch aus einzelne
so, daß manche sich zur Arbeit bequemten, zu der sonst der
Galla viel zu stolz ist; indessen nur ganz geringe Aus-
nahmen blieben damals bei der Arbeit, während die anderen
das bequemere Bettelgewcrbe betrieben.
Im Gegensatz zu den Bararetta treiben die Borani
nicht nur, wie die Somali, alle Viehzucht, sondern anch
Ackerbau, von dessen Erzeugnissen sie außer von dem Ertrag
der Heerden leben; auch sind bei ihnen einige Gewerke sehr
im Flor, besonders das Schmiedehandwerk (auch Kupfer-
schmiede und Silberschmiede finden sich hier) und das Sattler-
handwerk, welches in der Bearbeitung des Leders für Schilde
aus Büffel-, Ochsen- oder Nilpferdfcllen und andere Sachen
Gutes leistet. Ueberhaupt wird das noch gänzlich uner-
forschte Land der Borani-Galla als ein sehr hoffnungs-
reiches bezeichnet.
Die Bararetta haben ihrer Verfassung nach einen
Häuptling, der stets auf sieben Jahre (das Jahr zu
24 Monaten, der Monat zu etwa 15 Tagen, immer von
Neumond zu Vollmond und von Vollmond zn Neumond
gerechnet) gewählt wird und aus einer der angesehenen Fa-
milien stammen muß; der jetzige Häuptling ist Dalia Ba-
Kürzere Mi
Die Insel Grenada.
Die kleine britische Antilleninsel Grenada, die zusammen
mit den sogenannten Grenadinen nur 430 qkm mißt, und
den neuesten „Reports“ zufolge 46 424 Bewohner zählt
(1885), zeigt eine hohe Prosperität, und unterscheidet sich
dadurch Vortheilhaft von den anderen westindischen Kolonien.
Die farbige Bevölkerung, die gegen 90 Proc. von der Gesammt-
bevölkernng ausmacht, ist verhältnißmäßig arbeitsam, und
der fruchtbare vulkanische Boden der Insel ist zn einem
großen Theile sorgfältig angebaut. Beinahe die einzige
Ernte, die gezeitigt wird, bildet der Kakao, und dieselbe war
in den letzten Jahren immer eine sehr gute und erzielte
zugleich anch sehr hohe Preise. — Freilich liegt in der Ein-
seitigkeit der Kultur eine große Gefahr, da der Kakao-Markt
neuerdings von anderen Orten her (von Ecuador, Mittcl-
amerika, Mexiko) überfüllt zn werden droht. Dem gegen-
dada, dessen Sitz Dibe, im Inneren des Bararetta-Landes, auf
dem linken Tana-Ufer ist. Aber auch die einzelnen Dörfer
haben ihre gewählten Aeltesten, diese indeß sind der Regel
nach auf Lebenszeit gewählt. Bei das ganze Volk betreffenden
Angelegenheiten entscheidet der Häuptling, indeß nicht allein,
sondern im Verein mit der Versammlung der Galla-Krieger,
wie auch bei Angelegenheiten einzelner Dörfer der Mse,
dessen Autorität viel Gewicht hat, sich mit der Versammlung
der Männer, bei der es im Gegensatz zu den Schauris der
Suaheli sehr geordnet und ruhig hergeht, beräth.
Nach den Somalieinfällen 1887 zog sich ein Theil der Ba-
raretta in die unmittelbare Nähe von Witu, wo sie unter dem
Schutz des Sultan Achmed und des Witu umgebenden Ur-
waldes ein Dorf bauten, in das sie auch den Nest ihres
Ninderreichthums mitbrachten; ein anderer Theil der Bara-
retta blieb bei Kan und am unteren Tana auf dem rechten
Ufer wohnen, ein Theil, darunter der Häuptling Dalia
Badada, ist noch auf dem linken Ufer im Inneren des
eigentlichen Bararettagebictes. Der letztere wie überhaupt
das Gros der Bararetta — ein ganz kleiner Theil bei Kan
wohnend, der mit einem dortigen Aeltesten unter dem Ein-
fluß der Araber von Kau steht, nicht im vollem Umfange —
erkennt Sultan Achmed von Witu als Oberherrn an, hat
aber im Innern vollkommenste Selbständigkeit, speziell anch
der bei Witu selbst wohnende Theil der Galla. Will aber
der Sultan von Witu in irgend welcher Angelegenheit den
Galla-Häuptling sprechen, so sendet er an diesen einen Boten
mit einer Axt und 10 Armlängen amerikanischer Leinwand,
woraus sich der Galla sofort nach Witu bcgiebt.
In Anbetracht der großen Verluste der Bararetta, ihrer
Muthlosigkeit, des Mangels an irgend welcher Energie und
jedweder Leistungen auf irgend welchem Gebiete, sowie einer
gewissen politischen Zerfahrenheit, die bei der geringen
Menge einzureißen scheint, halte ich den Zeitpunkt für nahe,
wo die Bararetta gänzlich unter den Suaheli aufgehen
werden. (Schluß folgt.)
t t h e i l u n g e n.
über sucht die englische Regierung die Einwohner dazu zu
ermuntern, außer dem Kakaobanme auch anderen Gewächsen
ihre Pflege zuzuwenden. Ob dies mit Erfolg geschehen wird,
und ob der Erfolg namentlich vor dem Eintreten einer drohenden
Krise zn bemerken sein wird, ist freilich unsicher. Man
hat es eben vorwiegend mit einer Bevölkerung von Farbigen
zu thun, und diese zeigt bezüglich des Einschlagens neuer
wirthschaftlicher Bahnen in der Regel eine große Schwer-
fälligkeit. Sollte die Kakao-Krisis schon in den nächsten
Jahren eintreten, so würde sie ohne Zweifel viel Unheil in
ihrem Gefolge haben können — ganz wie auf anderen west-
indischen Inseln und anderweit die Zuckerkrise. Die Mehrzahl
der Kakaobauer sind kleine Besitzer, deren Finanzen um so
rascher zn ruiniren sein würden, als sie bereits unter den ge-
genwärtigen Verhältnissen ziemlich viel mit Kredit wirth-
schaften.
176
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen E r d t h e i l e n.
Europa.
— Die Schneckenfauna des Kaspischen Meeres
besteht nach Retowski (Malac. Blätter, N. F., X.) aus
26 Arten, welche alle eigenthümlich sind. Sie trägt in so
fern einen ausgeprägten Reliktencharakter, als ihre nächsten
Verwandten sämmtlich in den Tertiärschichten Südwest-
europas leben; aber keine einzige Schnecke kann als marin
angesprochen werden, und keine ist mit einer Art des Eis-
meeres oder des Schwarzen Meeres identisch. Von den 26
sind 20 ausgesprochen brakisch, die 6 übrigen stnviatil. Wir
haben darin also einen neuen Beweis dafür, daß das große
Tertiärmeer, das sich von Wien bis nach -China erstreckt zu
haben scheint, mit dem arktischen Ocean niemals Verbindung
gehabt hat, und daß die Einwanderung der Mittelmeerarten
in den Pontus erst begonnen hat, als die Trennung vom
Kaspischen Meere schon vollzogen war. sVon anderer Seite
wird die völlige Abwesenheit mariner Mollusken im Kaspischen
Meere allerdings bestritten; die beiden gemeinen Standarten
der europäischen Meere (Hydrobia acuta und Hydrobia
stagnalis) sind nach Billiger von der Raddc'schen Expedition
massenhaft von dort mitgebracht worden.) Ko.
— Die Erfolge, welche mit dem Seeschiffahrts - Kanäle
von Manchester erzielt worden sind, ermuthigen die Eng-
länder, au die Herstellung noch anderer Seeschiffahrts-
Kanäle zu denken. So diskntirt man vor allen Dingen
neuerdings wieder das alte Projekt eines Kanales von
Bridgewater, an der Nordküste von Somersetshirc,
nach Seaton, an der Südküste von Devonshire, durch den
man das Kap Landsend umgehen, und den Weg zwischen
Bristol und Southampton, sowie zwischen Bristol und den
Nordsee- und Ostseehäfen um etwa 300 englische Meilen
abkürzen will. Sowohl bei Stolford, an der Bridgewater-
Bai, als auch bei Seaton (Axmouth) sollen sich mit Leichtig-
keit Hafenanlagen schaffen lassen, und die Herstellungskosten
des 45 Meilen langen Kanales werden nur ans 3 Millionen
Pfund Sterling veranschlagt. — Ebenso plant man auch Sec-
schiffahrts-Kanäle von Scheffield nach Hüll und von
Birmingham nach Bristol, nach Liverpool, nach
London und nach Hnll. Durch die letzteren Kanäle
würde der Seeverkehr direkt bis in das innerste Herz der
britischen Hauptiusel hineingeführt werden, und die „Ocea-
nität" des britischen Wirthschaftsgebietes würde dadurch zu
einem non plus ultra gesteigert werden. Die technische Aus-
führbarkeit der betreffenden Unternehmungen ist nicht im gering-
sten zn bezweifeln, daher werden sich aller Wahrscheinlichkeit
nach mancherlei Bedenken bezüglich ihrer Rentabilität sotvie be-
züglich der tvirthschaftlichen Umwälzungen, die sie nach sich ziehen
könnten, erheben.
Asie n.
— Während der Direktor des meteorologischen Institutes
zu Irkutsk, Dr. Stelling, erdmagnetische Beob-
achtungen in dem Gouvernement Irkutsk anstellt, ist
der Botaniker Preyn damit beschäftigt, das Angara-Gebiet
pflanzengeographisch zu durchforschen.
— Die Voruntersuchungen, welche man im Jablonoi-
Gebirge behufs Herstellung der großen sibirischen Trans-
kontinentalbahn unternommen hat, sind bereits ziemlich
weit fortgeschritten. Der Kamm des Gebirges dürfte dem-
nach im Osten von Tschita, etwa 12 Werst von diesem Orte,
überschritten werden.
Afrika.
— Die Expedition des Dr. Wolfs in das Hinter-
land von Klein-Popo ist in jeder Beziehung glücklich von
statten gegangen, und es ist dem Reisenden namentlich ge-
lungen, itn Mai d. I. Addelar (Addeli 8" n. Br.) zu erreichen
und daselbst eine unter dem Schutze des deutschen Reiches
stehende wissenschaftliche Station zu errichten.
— Die Expedition Kund, deren Führer nunmehr
wieder von ihren Wunden genesen sind, soll sich im Monat Ok-
tober von neuem in das Innere von Kamerun begeben,
um daselbst die projektirte Station zn begründen. Als Ort der-
selben ist auf Grund der im letzten Frühjahre gctvonncnen
Anschauungen eine Stelle ant Sannaga-Flusse in Aussicht
genommen. Einen neuen llcberfall von den Bakoko glaubt
man nicht befürchten zu müssen, da es der deutschen Behörde
gelungen ist, diesetn Stamme ihre Macht durch Gefangen-
nahme der Hauptschuldigen zum Bewußtsein zn bringen.
— Einer Nachricht aus San Paolo de Loanda zufolge
ist Major Bnrttelot am 10. Mai d. I. thatsächlich von
Aambuga aufgebrochen, um Stanley's Spuren zu folgen,
und zwar in Begleitung von 640 Trägern und 100 Sol-
daten. Direkte Nachrichten von Stanley lagen aber auch zn
dieser Zeit in Barttelot's Lager nicht vor. Da die Träger
sämmtlich sehr schwer belastet sind, so wird die Expedition
voraussichtlich nur sehr langsam vorwärts kommen.
— In den der Regierung des Kongostaatcs nahestehenden
Kreisen betrachtet man es als ein bedeutungsvolles und freu-
diges Ereigniß, daß Hauptmann Van Gele die Station
Stanley-Falls ohne Anwendung von Waffengewalt hat
wieder besetzen können, daß Tippoo Tib sich dabei in jeder
Beziehung entgegenkommend und loyal bewiesen hat.
— Die „Tijdschrift van het Nederlandsch Aardrijks-
kundig Genootschap“ (Mededeeliugen No. 7—10,
1887, p. 485) enthält sechs Briefe des holländischen
Reisenden P. I. van der Kellen aus Amboölla-
Land, die vom 12. Dezember 1886 bis zum 29. März
1887 datiren. Demnach gingen seine ethnologischen und
natnrhistorischen Beobachtungen und Sammlungen bisher glück-
lich von statten. Weiter binncnwärts ziehend und jagend, ge-
dachte er auf einem Wege, der zwischen denjenigen von Serpa
Pitlto und Capello und Jveno liegt, den Zambesi zu erreichen.
— Der Ingenieur Ga ston Angelvy hat vom fran-
zösischen llnterrichtsmittisterinm den Auftrag erhalten, eine
Forschungsreise in die Gegend zwischcn dem
Nyassa-See und dem Indischen Ozeane zu unter-
nehmen, und dabei sein Hauptaugenmerk ans den Royaurva-
Fluß 5U richten.
Inhalt: Joseph Grunzet: Die Landwirthschast in China. — Jane Dieulafoy: Dieulasoy's Ausgrabungen in
Susa. (Mit vier Abbildungen.) — Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land. (Fortsetzung.) — Kürzere Mittheilungen:
Die Insel Grenada. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. (Schluß der Redaktion am 8. September 1888.)
Hierzu eine Beilage des k. k. natnrhistorischen Hofmuseums in Wien.
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Ktii besonderer HLrücll sichtig ung der Ethnologie, der Kulturderhnltnisse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr-. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände L 24 Nmnmern. Durch alle Buchhandlungen und Pvstanstalten
zum Preise van 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die M o r ä n e i
Von Dr. O.
(Mit zwei
Jeder, der mit dem norddeutschen Tieslandc vertrant, die
Hochfläche Baierns betritt, ist überrascht von der großen
Gleichförmigkeit, in der diese sich über ein weites Gebiet
erstreckt. Eine erneute Steigerung des Eindruckes, den eine
Ebene hervorzubringen vermag, erfährt, wer in den Gefilden
Oberitaliens eine Fahrt etwa von Venedig nach Westen
oder nach Norden unternimmt, zumal wenn die Märznebel
den mannigfaltigen Anbau derselben verdecken, der sonst das
Auge zu zerstreuen und von der ungemessenen Ausdehnung
abzuziehen vermöchte. Insbesondere im Norden, wo isolirte
Erhebungen vulkanischer Natur, wie die Enganeischen und
die Berischcn Hügel des Südens, vollständig mangeln,
breitet sich das flache Land ungehindert bis in die Nähe des
letzten Absturzes der Alpen. Um so weniger vermuthet
treten in den Gesichtskreis des Reisenden die Hügelwellen,
die sich vom Tagliamento zum Dorre nach dem Austritt
dieser Flüsse ans dem Gebirge oberhalb Udine ausspannen,
ohne mit den Vorhöhen der Alpen zu verfließen.
Welchen Ursprung haben diese Hügelwellen?
Wandert man ihnen entgegen, zum nordwestlichen Thore
der Stadt Udine heransschreitend, so wird man schon unter-
wegs durch mancherlei geologische Merkzeichen ans die Zu-
sammensetzung derselben vorbereitet. Gleich an der ersten
Theilung der Landstraße lagern, aus den lehmigen Feldern
herausgefahren, Haufen unregelmäßiger Blöcke von der ver-
schiedensten Größe und dem mannigfaltigsten Gesteins-
Globus UV. Nr. 12.
n V e 11 e z i e tt s.
G n m p r e ch t.
i Karten.)
charakter, just wie an den Eingängen unserer norddeutschen
Dörfer. Es sind da außer weißen, grauen und schwarzen
Kalksteinen und molasseartigen Conglomeratcn auch Granite
und Porphyre anzutreffen. Der Torre, der gegenwärtig
wenig östlich von Udine vorüberfließt, könnte bei der Nähe
seiner Quellen, die noch mitten in dem Gebiet mesozoischer
Kalke liegen, höchstens die Bruchstücke dieser Zone und des
vorgebauten Tertiürgebirges herbeigeführt haben; anderes
könnte er nur erfaßt haben, nachdem es bereits in der Form
von Bruchstücken irgendwie zur Ablagerung gekommen ge-
wesen wäre. Hat sie aber der Cormor herbeigetragen, an
dessen Bett man bald gelangt, so stammen sie geradezu ans
jenen Hügelzügen, nach deren Ursprung wir eben fragen.
Und der Tagliamento ist, seitdem diese cpistiren, ganz und
gar verhindert gewesen, seinen Weg so weit östlich zu nehmen;
überdies schiebt auch er seine Quellen nicht im entferntesten
bis in die krystallinische Zone der Alpen zurück, so daß er
selbst für eine frühere Zeit nicht in Betracht kommen kann.
Die Regellosigkeit, mit der sich jene Blöcke in einigen
Terrainanschnitten längs der Straße dem Lehme einge-
bettet zeigen, macht aber ihre flnviatile Herkunft überhaupt
zweifelhaft.
Nicht lange, so sind wir am Cormor eingetroffen, dessen
breites Bett ich selbst Anfang April hier unten wasserlos
fand. Das grobsandige Geröll umfaßt auch wieder einzelne
Blöcke von lcbm Inhalt und mehr, so daß man selbst bei einem
23
178
Dr. O. Gumprecht: Die Moränen Veneziens.
durchschnittlichen Gefalle von 7 m auf 1000 m, zwischen
der Quelle und Udine, die Annahme eines Transportes
derselben durch den angeschwollenen Fluß kaum zulassen
möchte; sie sind vielmehr bei dem Ausgraben seines Bettes
in der umliegenden Ebene von ihm nicht bewältigt worden
und liegen geblieben.
Der doppelte Weg — eine gute Meile — bringt uns
nunmehr entschieden an den Fuß der Hügelzone, in einer See-
höhe von etwa 125 m, während Udine 108 m hat. Auf
kaum 3 km Entfernung steigt das Gelände in sanften
Stufen bis zu 280 m hinan. Malerisch breiten sich reiche
Dörfer an dem unteren Theile des Abhanges hin: Mar-
tignacco und Villalta und Fagagna, und weiter im Westen
und Osten auf zurückgenommenen Bogenenden das höher
gelegene San Daniele (248 m) und Tricésimo (225 m);
die Sehne dieses Bogens mißt nicht weniger als 17 km,
Martignacco liegt auf seiner Mitte, am weitesten nach
Süden vorgeschoben. Aber das ist nur der erste Wall.
Hinter dem Gipfelpunkte bei Moruzzo (nördlich von Mar-
tignacco) senkt sich das Terrain wieder, um jenseits eines
breiten, sumpfigen und auch in den höheren Theilen nur
berasten und nicht angebauten Beckens, aus welchem sich
Nebenqnellen des Cormor und des Corno entwickeln und die
Eisenhütte Nuova Olanda ihr Sumpferz und ihren Torf
bezieht, zum zweiten Male in der Linie Caporiacco-Colloredo
anzusteigen, doch nicht zu der alten Höhe, nur wenig über
200 m. Eine dritte Linie erhebt sich, fast concentrisch mit
den vorigen, nördlich von dem Hauptquellgebiet des Corno,
und ein vierter, schmalerer Bogen drängt das Wasser der
Ledra schon oberhalb Susans zum Tagliamento hinüber.
Verbindende Rücken streichen namentlich von Tricésimo rück-
wärts gegen Buja, wo ein wenig höherer Kamm (333 m)
abschließt. Die ebene Fläche von Osoppo (Osoppo —
185 m), von der Ledramündnng bis Ospedaletto hinauf fast
von gleicher Länge, wie die süd-nördliche Erstreckung unseres
Hügelwerkes, rückt das Ganze beträchtlich ab vom Gebirgs-
thor des Tagliamento; aber die Gewässer des letzteren be-
finden sich noch bei der Fella-Mündung nur auf 260 m Höhe.
Das Material dieser Hügel entbehrt jeglicher Schichtung.
In einem feinen, mergeligen Zwischenmittel drängen sich
die Geschiebe abweichendster Größe ohne jede Spur einer-
vertikalen Gliederung; PironaH stieß mit Mortillet bei
Villalta auf einen Dolomitblock von 50 chm Inhalt.
Schließen schon diese Thatsachen eine Ablagerung der frag-
lichen Massen durch das Wasser ans — durch das Wasser
eines Flusses ebensowohl, wie durch ein brandiges Meer —
und legen sie den Gedanken eines Transportes durch einen
gewaltigen Eisstrom der Vorwelt nahe, so wird diese Ver-
muthung zur Gewißheit, wenn wir auch hier wieder dem
Glimmerschiefer der centralen Alpenketten und rothem
Porphyr neben den Kalken und Dolomiten der südlichen
Zone begegnen, und wenn wir die feine Parallelstreifung
der glatt gescheuerten Steine beachten, die sich hier häufig
genug zeigt; als ich die Gegend in der Richtung Fagagna-
Colloredo kreuzte, fand ich solche fast in jedem Abschnitt der
Oberfläche. In fließendem Wasser verlieren sich wenigstens
bei Kalkgeschieben diese Linien ungemein rasch, ganz zu ge-
schweigen davon, daß sie sich daselbst etwa erzeugt haben
könnten; nur das Hinschleifen im Gletschereis eingebackener
Stücke auf rauhem Untergründe vermag dergleichen hervor-
zubringen, und nur der ungestörte Verbleib der betreffenden
Geschiebe an der Stelle, wo sie der Gletscher freigab, ver-
mochte sie zu erhalten. Nur die große Vergletscherung in
dem älteren Abschnitt der Quartärperiode war ferner im
i) Pirona, Sulle antiche morene del Friuli (Atti d.
soc. it. di se. nat. 1861, p. 548).
Stande, über die Joche H der Karttischen Alpen hinweg
auch Gesteinsbrocken der Nieser Ferner aus dem oberen
Drauthale heranzuschaffen. Der Tagliamento - Gletscher
jener Zeit muß und kann mit seinen Wurzeln so tief in die
Alpen hineingereicht haben.
Die bogenförmigen Parallelbrücken vor dem Tagliameuto-
thore sind also Moränen — Stirnmoränen eines gewaltigen
Gletschers, der, nachdem er die Ebene betreten, sich aus-
breiten, an Höhe einbüßen und alsbald unter Zurücklassung
der transportirten Gebirgstrümmer zerfließen mußte. Auf
dem Höhepunkte der Eiszeit muß das Ende dieses Eisstromes
bei Moruzzo-Martignacco gelegen haben. Die rückwärtigen
Wälle verrathen zugleich Pausen in der späteren Rückzngs-
bewegung, denn ein gleichförmiger Rückzug mußte auch eine
gleichförmige Anhäufung des Moränenschuttes bis Bnja im
Norden, und vielleicht noch weiter, zur Folge gehabt haben.
Was etwa der Gletscher in der Periode des Vorschreitens
zunächst hier abgelagert hatte, das hat er iu vorwärts
drängender Bewegung natürlich immer wieder hinwegge-
schoben, bis die äußerste südliche Linie erreicht war. Aus
eben diesem Grunde kann die größere Erhebung des vorderen
Bogens nicht in dem Sinne gedeutet werden, als wäre das
Verweilen der Eiszunge hier ein besonders langes gewesen.
Dagegen würde die bedeutendere Höhe der Hügel von Buja
eine solche Erklärung fordern — denn sie gehören dem
innersten Kreise des Amphitheaters an —, wenn diese
wirklich ganz und gar aus Gletscherschutt bestünden. Doch
sind nur ihre Abhänge von demselben bedeckt, ihr Kern und
ihre höchste Linie wird von tertiären Mergelschiefern * 2) ge-
bildet, die der Eisstrom schon vorfand und wahrscheinlich
höher vorfand, als er sie nach seiner Bearbeitung des Unter-
grundes zurückließ.
In die zumeist lockere Masse dieser Schuttwälle sich
einzugraben, haben die daselbst sich sammelnden Bäche keine
Schwierigkeit gefunden. Insbesondere gilt dieses von dem
aus dem nordöstlichen Theile sich entwickelnden Cormor.
In tiefem schluchtartigen Bette rinnt er namentlich von
Colloredo bis Pagnacco. Die Ortschaften und Weiler-
weichen ihm aus und flüchten sich malerisch an die Abhänge
der Hügel oder krönen die Rücken. Die weiten Becken
zwischen den letzteren sind dagegen keine Erosionserschei-
nnngen. Das daselbst gern stagnirende Wasser hat ihren
Boden durch Zusammenschwemmung der leichteren Bestand-
theile von allen Seiten her eher erhöht.
Der Reichthum der Ebene westlich von Udine an Ge-
schieben — an kalkigen und nichtkalkigen — läßt zwar die
Deutung zu, daß sie in ihren oberen Lagen eine Bildung
aus der Zeit des Gletscherrückzuges und aus der geologischen
Gegenwart sei, entstanden auf Kosten der Moränen des
Tagliamento-Gletschers, in den nächst tieferen Theilen aber
dem unteren Glacialschotter der nördlichen Voralpen ent-
spreche. Zieht man indeß die gelegentliche Größe der sich
darbietenden Blöcke und die mangelhafte Schichtung der
oberen Partien in Betracht, so wird man in den letzteren
besser eine Ablagerung sehen, die dem Geschiebelehm und
Geschiebemergel Norddeutschlands vergleichbar ist — also ein
unmittelbares Gletschergebilde selbst. Auch Taramelli (Dei
terreni morenici ed alluvionali del Friuli3), p. 10)
legte der Zustand der Ebene bei Udine bis zu einer Meeres-
höhe von 50 m hinab diese Erklärung nahe. Die ver-
einzelten Hügel in der Breite von Campoformido sind aber
nicht etwa verwaschene Moränen, sondern aus einem weichen
Sandsteine der Tertiärzeit gebildet (z. B. di? Tuffe von
1) v. Mojsisovics, Die allen Gletscher der Südalpen. (Mitth.
des Oesterr. Alpenvereins, 1863, S. 155.)
2) Pirona, 8. a. m. d. Fr.
3) In Annali sc. del R. Ist. tecnico de Udine, 1874.
Dr. O. Gumprecht: Die Moränen Veneziens.
179
Pozzuolo). Wenn nun jener Geschiebelehm auch nur einer
noch früheren, noch weiter nach Süden reichenden Gletscher-
ausbreitung sein Dasein verdanken könnte, so haben sich doch
auch anderwärts in Venezien für eine solche erste, intensivere
Eiszeit Belege vorgefunden: erratische Blöcke *) bei Sacile,
bei Montcbellnna, bei Vicenza, bei Verona, und im östlichen
Friaul Fclsitporphyr ans den Hügeln von Buttrio sowie
am Karst von Monfalcone (Tai-, t. m., p. 7).
Nirgends in Venezien treten die alten Moränen in
solcher Selbständigkeit in die Ebene vor, wie bei Udine.
Aber wohl findet sich an der äußersten Westgrenze, von dem
Mincio durchbrochen, eine Moränculandschaft von fast vier-
facher Ausdehnung. Um das Südende des Gardasees ge-
schlungen, schließt sic sich bei Bardolino im Osten an die
Vorhöhen des gewaltigen Monte Baldo (2219 m) und bei
Salo an die nur wenig hinter jenem zurückbleibenden Kalk-
berge des Gegenufers. Wer von der kleinen Krcidcscholle
der Halbinsel Sermione Umschau hält, dem erscheinen die
röthlich schimmernden Hügel wenig reizvoll im Vergleich zu
der alpinen Szenerie, die ihm seeaufwärts großartig ent-
gegentritt; aber einmal in sanftem Anstieg auf die innerste
Reihe gelangt, wird er nicht ruhen, bis er die ganze Mannig-
Syricjad^e.
faltigkeit derselben bis zum äußersten Rande durchschritten.
Von einem Walle wird er znm anderen gelockt, höher und
höher steigen sie vor ihm an, bis er vom Rücken des letzten und
höchsten auf die unabsehbare Ebene hinansblickt. So bei
sionato gegen Westen, so von der Rocca di Solferino (206 m
über dem Meere, 137 in über dem Niveau des unteren Garda-
sees und 145 m über demjenigen des Mincio bei Vallcgio)
weit nach Süden. Von dem ersteren Standpunkte erschaut
man noch in beträchtlicher Entfernung, dem Chiese nahe
gerückt, einen lückenreichcn Zug, von dem die Orte Calcinato
si Larameli! : Geologia delle prov. Yinete (Atti della
R. Acc. dei Lincei, 1882, p. 509).
und Montcchiaro herüberblinken; er schwenkt über Carpe-
nedolo nach Südost und verliert sich dann. Nach Paglia J)
hat auch dieser Anfang eines fernsten Hügelkreises Moränen-
charakter. Was die übrigen Kämme betrifft, so hat ein
einigermaßen geologisch geschultes Angc keine Mühe, ihre
Zusammensetzung ans Gletscherschntt festzustellen. Aus der
kurzen Strecke zwischen Desenzano und Lonato sind die An-
schnitte zahlreich genug, die einen schichtungslosen Block-
mergel enthüllen, der Kalke und Gnciße und Granite und
Porphyre und bracchiopodcnreiche Sandsteine in buntem
si Paglia, Sulle colline di terreno erratico intorno
alla estremità merid. del lago di Garda (Atti della soc.
it. di se. nat. 1861, p. 337).
23*
180
Dr. O. Gumprecht: Die Moränen Veneziens.
Durcheinander beherbergt; auch Fetzen diluvialer Nagelfluh
sieht man nördlich von Lonato durch eine neue Straßen-
anlage darin bloßgelegt. Am Seestrande bei Rivoltella
stehen, von der Brandung übrig gelassen, eine lange Reihe
meterhoher Blöcke, zumeist zwar Kalke, aber auch Granite
der Ciniad'Asta und Tonalite vom Adamcllo; in dem groben
Kies, den die nahezu 300 m tiefen Gewässer des Sees
natürlich nicht erst haben heranbefördern können, sammelt
man ebendaselbst unter anderem auch den Basalt des Fassa-
thales, den Paglia noch bis Cavriana im Süden antraf.
Und die Umgebungen der Forts von Peschiera sind das reine
Widerspiel der Gegend von Desenzano. Dabei sind diese
Schnttwälle — an den äußersten ist die Erscheinung am
schärfsten ausgeprägt — aus der konkaven Seite ungemein
steil, wiewohl sie auch auf der konvexen sich nicht allzu
langsam senken. Inst so muß es sich verhalten, wenn sic
die Stirnmorünen eines großen Gletschers sind, der von
Norden her über den Gardasee ehedem vordrang; die zwerg-
haften Eisströme der Gegenwart und selbst die Firnflecke
Hänsen in gleicher Form das Wenige auf, was sie von Ge-
birgsschutt mit sich führen. Weit vor dem Moränen-Amphi-
theater des Gardasees, in den Hügeln bei Mantua, hat
schon CarionB) ebenfalls Basalt- und Gneiß-Gcschiebc an-
gegeben, und Paglia wirft die Frage ans, ob es sich nicht
vielleicht auch da um wirklichen Gletscherschutt handle.
Dürste man sie besahen, so würden diese Hügel wiederum
der schwache Abglanz einer ersten, weiter nach Süden
reichenden Vergletscherung sein.
Ohne in die ebenen Theile Veneziens herabzureichen,
breitet sich auch an den Hängen des Piave-Thales bis zu
dem großen Knie des Flusses bei Feltre i) * 2 3) ungeschichtetes
erratisches Material ans, dessen Höhenlage und Zusammen-
setzung übrigens einen theilwcisen Ursprung desselben jenseits
des Monte Croce (1632 m), in den Umgebungen des Tob-
lacher Feldes (1200m) verräth M Auch der kurze Brenta-
Gletscher hat Trümmerhalden und Blöcke bis über die
italienische Grenze vorgeschoben, und bei Rivoli lagern die
letzten Moränen des Eisstromes, der im Etschthale bis über
die Veroneser Klanse vordrang. Dazu kommt endlich eine
selbständige Vergletscherung l) des Monte Cavallo und des
Monte Premaggiore nebst seinen östlichen Fortsetzungen,
also der höchsten Erhebungen (über 2000 m) der vene-
zianischen Voralpen, die, beträchtlich unterhalb der
heutigen Schneegrenze endigend, vordem das Quellgebiet
der Livenza mit bedeutenden Massen erratischen Schuttes
besetzt haben.
Natürlich wird man erst recht für diejenigen Thäler,
welche nach der Gegend von Udine und nach dem Gardasee
znsammenstrahlen, eine theilweise Erhaltung alter Gletscher-
ablagerungen voraussetzen dürfen; namentlich von den
Seitenmoränen wird man erwarten müssen, daß sie noch
nicht gänzlich der Erosion verfallen sind. Und in der That
haben sich reichliche Spuren derselben noch allenthalben aus- j
i) Tar., t. m.
finden lassen. An den Thalhängen und auf den Sätteln
im Nordwestcn von Riva4) zeigen sich noch in ziemlicher
Nachbarschaft des Gardasees die Tonalitblöcke vom Adamcllo
in einer Meercshöhe von 1100 m und mehr; das bedeutet
eine Mächtigkeit von mehr als 500 m für das Gletscher-
meer, welches hier die Gipfel umwogte. Bei Trient
lagern Findlinge ans den centralen tiroler Gebirgsmassen,
allerdings hinter dem Monte Bondone gestaut, gar bis
nahezu 1500 m Seehöhc und 1300 m über der heutigen
Thalsohle. Der Etschgletscher hat hier und weiter südlich:>)
durch den Einschnitt Mori-Nago die größere Brasse seines
Eises dem Gardabecken zugeführt. Wer von Mori hinüber
0 Paglia, Sülle colline etc., p. 339, 341.
2) v. Mojsijovics, Die alten Gletscher der Südalpen. (Mitth.
des Oesterr. Alpenvereins, 1863, 'S. 155.)
3) Tai-., t. m.
4) v. Mojsijovics, Die alten Gletscher der Südalpen. (Mitth.
des Oesterr. Alpenvereins, 1863, S. 155.)
r>) v. Mojsisovics, a. a. O.
Dr. O. Grumprecht: Die Moränen Veneziens.
181
will, klettert vor Nag5 über eine starke Endmoräne aus der
Zeit des Gletscherrückzuges; auch die Lavini di Marco x),
östlich von Mori, haben sich nach mancherlei Schwankungen
als ein Glacialgcbilde ergeben. Was den Tagliamento-
gletfcher2) anlangt, so hat er noch in das bei Nenzone
mündende Seitenthal eine Moräne eingelagert, die bis
440 in über dem Felde von Ofoppo ansteigt, und im oberen
Gebiete war schon Stur bei Pignarosa (P. selbst hat
877 ni Meereshöhe) 650 in über der Sohle des Haupt-
thals durch einen Findling von Tiroler Granit überrascht
worden; Joche und Lehnen von annähernd gleicher relativer
Höhe, haben auch die nördlichen Zuflüsse, insbesondere der
Fella-Gletscher, nachweislich überwunden. Die Eismasse
stand demgemäß in der Gegend der heutigen Tagliamento-
quellen über den Sattel von Mauria (1300 in Mceres-
höhe) hinweg in Verbindung mit den gewaltigen Wur-
zeln des Piave-Gletschers und bezog wohl auf diesem
Wege 3 *) die Urgestcinsblöcke. Der Mächtigkeit entsprach
die Breite: in der Länge von Socchieve, oberhalb der Ein-
mündung des Canale di Gordo, des Degano-Thales, muß
dieselbe nach der Vertheilung des erratischen Materials
auf nicht weniger als 11 km angesetzt werden. In der
Zeit des Gletscher-rückzuges zeitigten die höher gelegenen
Seitenthäler eigene Endmoränen; so die schöne Barriere des
Resia-Thales bei San Giorgio H, so die Alpe Nevea, welche
die Raccolana und die Schlitza nach entgegengesetzter Rich-
tung entsendet.
Die Folgen einer so reichen Entwickelung von Moränen,
die selbst in der Gegenwart noch nicht gänzlich aufgelöst
erscheinen, ja in Gestalt ganzer Moränenlaudschaften sich in
■ die Ebene hinausgebaut zeigen, springen in zwiefacher Hin-
sicht in die Augen. Sie äußern sich nicht nur in der Ver-
theilung der Gewässer und der Sinkstoffe, sondern auch die
historischen Geschicke des venezianischen Bodens sind vielfach
an seine Moränen gebunden.
Das tiefe Becken des Gardasees — es soll 250 m unter
das Meeresniveau hinabreichcn — ist natürlich nicht einer
Aufstauung des Sarca-Wassers durch die schönen Frontal-
moränen des vereinigten Adamello-Etsch-Gletschers zuzu-
schreiben; anch sonst würde die Auffindung tertiärer Lagen
im Liegenden des Gletscher-schuttes und über dem Seespiegel
zwischen Salo Desenzano, sowie die Beachtung der kreta-
ceischcn Klippe von Sermione und des Kalksteines im Unter-
gründe von Volta5) einer solchen Ansicht hinderlich sein.
Aber als echte Moränenseen sind aufzufassen die Seen
von Santa Erocc und Aqua Morta bei Belluno, desgleichen
der Laghctto di Sau Daniele (S. Skizze 1), der von Pignarosa
im oberen Tagliamentogebiet und der Laghetto di Mcluzzo
unweit des Monte Premaggiore, nicht zu vergessen die drei
kleinen Seen zwischen dem Mincio und Lonato (S. Skizze 2).
Der Lago di Cavazzo seitlich des heutigen Tagliamento-
thores (Skizze 1) liegt, wie präglaciale Flnßschotter seines
Uferrandes beweisen, in einer älteren Durchgangspforte des
Tagliamento, und seine Abdämmung im Norden und Süden
ist durch jüngere Flnßanschwemmuugen und Wildbachabsütze
erfolgt. Aber die Ebene von Osoppo stellt sich ihrerseits
wieder als ein theils ausgefüllter, theils abgelaufener Mo-
ränensec dar. Vor der Existenz des Moränen-Amphitheaters
st Suda. Die Lav. di M. (Zeitschr. d. Deutsch, u. Oesterr.
Mpenvereins, 1886, S. 95).
2) Tar., t. m.
3) v. Mojsisovics, a. a. O.
st Zur Zeit des Gletschermaximums waren die nörd-
lichen Thalwände von dem Fella-Gletscher überwältigt gewesen.
Auch ich fand bei Stolvizza, oberhalb Sän Giorgio, un-
gerollte Chloritschieferfragmente, die nur weit nördlich zu Hause
sind.
st Tar., Gr. d. pr. v., p. 513, Anm. 2.
von Udine hatte der Tagliamento nicht die geringste Ver-
anlassung, den geraden Weg nach Süden zu meiden, feine
alten verfestigten Schotter sind denn auch vom Cormor und
Corno hie und da unter dem Gletscherschutt aufgedeckt
worden („alluvionv inframorenica“ —Tar., t. m., p. 50).
Erst als die Wälle von Moruzzo und von Caporiacco und
von Majano sich vor ihm aufthürmten und seine Wasser
sich hinter denselben zu einem See anspannten, mußte er-
sieh zu dem Ausweg zwischen Ragogna und Pinzano be-
quemen, bis die Durchschncidung der dortigen Tertiärschichten
ihn in den Stand setzte, sein Wasser wieder ohne Aufenthalt
der Ebene zuzuführen. Was er und die anderen Flüsse
Veneziens durch Zerstörung der Moränen — namentlich in
dem gebirgigen Theil des Landes — in der zu Ende gehenden
Eiszeit und in der gegenwärtigen geologischen Periode au
gröberem und feinerem Material auf der Ebene ausgebreitet
haben, mag man daraus ersehen, daß in dem mittleren
Venezien die Bedeckung der diluvialen Nagelfluh (altquar-
tären, präglacialen Flnßschotters) an manchen Punkten bis
über 100 m anschwillt1).
Die historische Bedeutung der Gletscher-Hinterlassen-
schaften beschränkt sich aus die eigentliche Moräuenlandschaft.
Hier aber liegt sie klar zu Tage und kann kaum übertrieben
werden. Diese Rücken, einer hinter dem anderen, mit ein
wenig zurückgenommenen Flügeln, dabei von mäßiger Höhe
und meist des Baumwuchscs entbehrend, gewähren dem Heer-
führer die vorzüglichsten Vertheidigungsstelluugcn. Kommt
dazu — wie bei dem Amphitheater des Gardasees — eine
verhältnißmüßig große Annäherung an einen nicht leicht zu
überschreitenden Strom — den Po — eine Erschwerung aller
Bewegungen in dem Zwischengebüude durch den Querlauf
des Mincio, die Leichtigkeit eigener Frontveränderung, und
endlich eine gewaltige Rückendeckung durch die breite Fläche
des Sees selbst und die alpine Eingrenzung seines nördlichen
Endes, so ist es begreiflich, wenn in allen größeren Kämpfen
der Neuzeit, die sich nördlich vom Po in westöstlicher Rich-
tung abgespielt haben, das Streben, dieses „Mincio-Terrain"
mit seinen schwer anzugreifenden und doch den Gegner zum
Angriff nöthigenden Stellungen zu gewinnen, nicht zu ver-
kennen ist. Die Oesterreicher, nach der Schlacht bei Magenta
bis über den Chiese zurückgewichen, hatten schon die west-
lichen Linien von Montechiaro und von Lonato aufgegeben,
als sie, im Begriff sie w'.eder zu besetzen und den Gegner-
dort zu erwarten, unvermuthet auf die Franzosen und deren
Verbündete trafen, welche in entgegengesetzter Richtung sich
j dieser Burg zu bemächtigen suchten. So ward der heiße
Tag von Medole, Solferino und San Martiuo, an welchem
die Vertheidigungskraft der Höhen sich erst erschöpfte, als
die Franzosen in der Ebene siegreich, sich anch von Süden
her gegen die Hügel wandten (24. Juni 1859). Napo-
leon III. nahm alsbald die Stellung Casteluovo-Oliosi ein,
mit der Front gegen Verona, die schon 1848 die Piemon-
tesen und 1796 General Bouaparte zum sicheren Ausgangs-
punkt ihrer Operationen ausersehen hatten. Jene verloren
sie erst, als der in Verona lauernde, minder mächtige
Radetzky ihre Hauptmacht gegen Mantua weggelockt hatte;
sic wiederzuerobern, gelang ihnen weder bei Eustoza noch
bei Volta zwei Tage später. Auch Bouaparte sah sich durch
die mannigfaltigen Bewegungen österreichischer Heere ge-
nöthigt, seine geringeren Streitkräfte zeitweilig nach anderen
Punkten zu wenden; aber fein Genie und die Fehler seiner
Gegner gestatten ihm immer wieder, zu dieser ausgesucht
günstigen Stellung zurückzukehren; bei Castiglione wußte er
das auf den westlichen Moränenwälleu aufgestellte Ost-
korps Wurmser's, das ihm gefolgt war, zu vertreiben, und
st Tar., t. m., p. 47; Tar., Gr, d. pr. v., p. 539.
182
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
Alvinzi's rechten Flügel jagte er in dem ersten Monat des
Folgejahres, von Norden zurückgekommen, an der Veroneser
Klause auseinander. Zuletzt im Jahre 1866 trafen sich
Italiener und Oestcrreichcr in nordsüdlichem Anprall wiederum
ans den Höhen des linken Mincioufers. Vom Monte
Cricol zum Monte Vento und znm Rücken von Santa
Lucia gedrängt, vom Monte della Croce aus den Monte
Torre und nach Cnstoza zurückgeworfen, gaben die Italiener
schließlich auch diese Punkte ans und wichen über den Mincio
und in die Ebene.
Eine hohe Säule erzählt von den Erfolgen dieses Tages,
wie der Rundthurm San Martino's und das schöne Bein-
haus Solferino's von den Opfern der Kämpfe, welche dort
tobten. Aber wenn sie längst zerfielen, werden die Berge
noch stehen, die eine graue Vorzeit hier schnf, und neue Ge-
schlechter werden sie mit neuem Blute tränken.
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
XIV.
(Mit sieben Abbildungen.)
Das letzte Stück des außertropischcn Südamerika, das
wir an dieser Stelle ans seine wirthschaftlichcn und kultu-
rellen Kräfte prüfen wollen, ist Südbrasilien. Es heißt
bezüglich desselben „last, dnt not toast", denn mit gutem
Gründe beschäftigt dieses Land die deutsche Kolonial- und
Auswandererpolitik seit einer längeren Reihe von Jahren in
einem noch höheren Grade wie die anderen Länder, die wir
in unseren Skizzen zu schildern versucht haben.
Indem wir uns Rio Grande do Sul, der südlichsten
unter den Provinzen Brasiliens, vom Laplata her nähern
— cs steht uns dazu eine Dampfer-Linie Montevideo-Porto-
Alegre zur Verfügung — gewahren wir sogleich, daß die-
selbe ebenso wie die Laplata-Ländcr, und selbst noch mehr
wie diese, an einer sehr schweren Zugänglichkeit von der
Seeseite laborirt. Darin liegt natürlich eine große kultur-
geographische Schwäche, und es kann kaum einem Zweifel
unterliegen, daß die Entwickelung der Provinz durch dieselbe
ganz wesentlich mit hintenangehalten worden ist.
So klein und flachgehend der Dampfer auch ist, der
einen an die Küste von Rio Grande do Sul trügt, so steht
demselben doch nur eine einzige Pforte offen — der soge-
nannte Rio Grande, von dem die Provinz ihren Namen
erhalten hat. Es ist eine niedere von einem seichten Meere
begleitete Marschen- und Dünenküste, mit der wir es bis
zur Grenze von Santa Catharina zu thun haben, und vor-
der einen breiten Oeffnung, die sie besitzt, lagert eine Sand-
Barre, die für die Regel nicht viel mehr als zwei Meter Wasser
über sich hat, und die unter der Wucht der sturmgepeitschten
Wogen und der veränderlichen Küstcnströmungen obendrein
noch vielfachem Lagenwechscl unterworfen ist I. Man
könnte die Küste eine „eiserne" nennen, ganz wie die wcst-
jütlündischc. Im Gegensatze zu der uruguayschen und
argentinischen Küste, die in Senkung begriffen zu sein
scheint, trägt die rio-grander Küste alle Charaktermerkmale
einer Hebnngsküste bezw. einer Küste mit negativer Strand-
verschiebung. Außer den Dünen ziehen sich auch die Küstcn-
flüsse und die Lagunenreihen streng parallel mit der
Richtung der Küste dahin, und es kann kaum ein Zweifel
darüber herrschen, daß der Ozean sich ihr entlang immer I
I Die mit dichtem Nebel verbundenen Stürme aus West
und Südwest (Pamperos, Port. Pampeiros) sind am häufigsten
in den Wintermonaten (Juli bis September), und auf der
Barre entsteht zur Zeit heftiger Stürme eine förmliche Bran-
dung; die Barre wird wild, wie der Sprachgebrauch sagt (ban'a
brava).
weiter zurückgezogen hat, sowie daß er vielleicht im Begriffe
ist, dies noch fernerweit zu thun.
Hinter dem „Rio Grande" breitet sich ein weites, mit
Brakwasser gefülltes Hass, das unser Kurisches Haff an
Ausdehnung noch weit überragt, das aber ringsum von ganz
ähnlichem jungen und niederen Schwamnilande — nach der
Seeseitc namentlich auch mit einer sandigen Nehrung —
umgeben ist, und das zugleich auch ganz ähnliche geringe
Tiefcnverhältnisse auszuweisen hat. Es ist die Lagoa dos«
Patos. Ihre gemessene Maximaltiefe beträgt nur zwölf
Meter I, und dieselbe ist sichtlich in noch weiterer Abnahme.
Durch den „Pampero", der auch hier noch seine boden-
nmgcstaltende Kraft geltend macht, werden jahraus jahrein
neue Staubmassen in das Wasser hineingewirbelt2), und
außerdem schütten auch mehrere große Ströme — nament-
lich der Camacuam und der Jacuhy nebst dem Rio de
Sinos — zur Zeit ihrer Hochwasser gewaltige Schlamm-
massen hinein^). Auch in ihr liegen zahlreiche Bänke, die
nicht mehr als einen Meter Wasser haben, und die Schiffahrt
hat infolgedessen in ihr mit mancherlei Gefahren zu kämpfen.
Forderte das Wasser, welches der Jacuhy, der Sinos, der
Camacnam und der Gonzalo herbeiführen, nicht seinen
Abfluß zum Meere, und hielte es sich nicht diesen Abfluß
bei Rio Grande offen, so würde die Barre wohl längst bis
über den Meeresspiegel emporgewachsen sein, und die Lagoa
dos Patos würde als ein ebenso vollkommen geschlossener
Strandsee erscheinen, wie die Lagoa Mirim, die weiter süd-
wärts gelegen ist, und die durch den Rio Gonzalo mit ihr
in Verbindung steht. Kleinere, mehr oder minder voll-
kommen geschlossene Lagunen besetzen die rio-grander Küste
noch in großer Zahl, und dieselben zeigen sämmtlich, was
der Lagoa dos Patos noch bevorstehen könnte, wenn der
angegebene Proceß noch weiter fortschreitet.
Daß dem schwierigen Zugänge zum Trotz mehrere statt-
liche Hafenplützc an der Lagoa dos Patos cmporgeblüht sind,
die sich namentlich seit Mitte der siebziger Jahre eines hohen
Aufschwunges erfreuen, ist sicherlich kein schlechtes Zeugniß
für die Hilfsquellen des Landes, das dahinter gelegen ist.
Die Stadt Rio Grande, die an der ersten großen Bucht
i) Vergl. H. v. Jhering's Aufsatz in den Geogr. Mit-
theilungen 1887, S. 289 ff.
ch Vergl. I. v. Tschudi, Reisen durch Südamerika, Bd. 4,
S. 2.
ch Vergl die Karte zu Jhering's Aussatz (G. M. 1887,
Tafel 2, 15 f.).
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
183
Eisenbahnbau bei Porto-Alegre.
Arancarienwald
184
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
hinter der Barre liegt, zählt heute gegen 30000 Einwohner-,
Pelotas, etwas weiter nördlich, an der Mündung des Rio
Gontzülo, gegen 35 000; und Porto Alegre, in dem nörd-
lichsten Winkel der Lagoa dos Patos und an der Vereinigung
des Rio Jacuhy mit dem Rio Cahy, dem Rio bc- Sinos
und dem Rio Gravatahy sogar ungefähr 50 000. Und
alle drei Städte erfreuen sich einer beträchtlichen Schiffahrts-
bewegung I und eines starken Handelsumsatzes, wie sie denn
auch ihren Wohlstand in zahlreichen schönen Bauten be-
kunden — Porto Alegre insbesondere in seinen Kirchen, in
seinem Theater (Theatro 8. Petro), in seinem Arsenal, in
seiner Markthalle, seinem Gefängniß rc. Es wohnt ihnen
auch ein bedeutender Unternehmungsgeist und starker Glaube
an eine noch viel glänzendere Zukunft inne — Dank vor
allen Dingen dem deutschen Bevölkerungselemente, daß sie in
ihren Mauern umschließen —, und das giebt sich kaum
durch irgend etwas deutlicher zu erkennen, als durch die
Hafen-Ametiorationen, die man bereits in ihrer Nähe vor-
genommen hat, oder die man in der nächsten Zeit vorzu-
nehmen beschlossen hat. Wie Buenos-Ayres, so sehen sich
auch Porto Alegre, Pelotas und Rio Grande nach einem
„Eads" um, der ihnen die lästige Barre vor der Lagoa
dos Patos durchsticht, und der den Zugang in dieselbe auf
acht Meter vertieft, so daß transozeanische Riesendampfer leicht
und sicher in sie hinein gelangen können; und um dieses
Ziel zu erreichen, wollen sie sich im Verein mit der kaiser-
lichen Negierung zu Rio Janeiro nicht scheuen, dem Neptun
viele Millionen von Milreis als Opfer darzubringen I.
Die Jguassn-Fälle.
Ein anderes Projekt (das Projekt des Dr. Sichel), das
darauf ausging, die der Lagune vorgelagerte Nehrung bei
Mostardas zu durchstechen, scheint aufgegeben worden zu
sein; und ebenso auch das Projekt, einen Kanal von Porto- !
Alegre durch die Straudlaguneu nach Domingos dos Torres, j
wo sich ein recht guter Kuusthafen zwischen ein paar Basalt-
hügeln schaffen lassen würde, anzulegen.
In den Provinzen Santa Cathariua und Parana, die
ebenfalls noch dem außertropischen Brasilien zuzurechnen
sind, bessert sich die Beschaffenheit der Küste allmählich, und
es finden sich daselbst eine Reihe von Buchten, die dem
transozeanischen Schiffahrtsverkchre ganz gute Ankerplätze
0 Rio Grande im Jahre 1886 bis 1887 insgesammt
325000 Tonnen.
gewähren. Dagegen erschwert hier ein höher aufsteigendes
Küstengebirge — die Serra Gerat und die Serra do
Mar — au den meisten Orten die Kommunikation mit
dem Binnenlande, und außerdem bietet hier auch das Küsten-
gebiet bereits verschiedene Anklänge an die Tropen. Beispiels-
weise hat sich daselbst an mehreren Punkten gelegentlich das
Gelbe Fieber gezeigt. Zu höherer Bedeutung als Hafen-
plätze haben cs hier eigentlich nur Desterro (auf der Küstcu-
insel von Santa Cathariua), Süo Francisco und Parana-
gua gebracht, an die Häfen der Lagoa dos Patos reicht
aber zuvörderst noch keiner hinan.
Begeben wir uns von einem der genannten Küstenplätze
I S. das betreffende Konkurrenz-Ausschreiben im „Export"
!. 1886, S. 441 f.
Allgemeine Uebersicht der Jguassu- Fälle.
186
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
in das Binnenland, so finden wir uns hinter einer schmalen,
vielfach aus sandigem und sumpfigem Boden gebildeten
Küstenniederung bald an dem Fuße eines steil aufsteigen-
den Gebirgswalles, der ans altem krystallinischen Ge-
stein sowie auö Porphyr, Trapp und Basalt besteht, und
durch den eigentlich nur die größeren Ströme — der Cama-
cuam, der Jacuhy, derTamaguary und der Jtajahy — etwas
bequemere Passa-
gen hindurch ge-
nagt haben, wah-
rend er im übri-
gen nur von einem
Labyrinthe von
engen Schluchten
durchsetzt ist. Es
ist dies die bereits
erwähnte Serra
do Mar, bezw.
die Serra Gerat.
In der Mitte von
Nio Grande do
Snl streicht der
Hanptgebirgszug
ziemlich genau
westlich binncn-
wärts, so daß die
Provinz durch
ihn in zwei
gleiche Hälften
getheilt wird und
nur eine niedri-
gere Abzweigung
— die Serra do Herval — hält sich parallel der Küste.
In Santa Catharina und Parana dagegen streicht der
Hauptzug binnenwärts gegen Nordwest, die Küsten-Serra
ist aber hier beinahe ebenso mächtig entwickelt. Angesichts des
Hauptzuges könnte man also füglich von einem großen süd-
brasilischen Gebirgsbogen reden, der seine konvexe Seite nach
dem Meere zu
kehrt, und der sei-
nen Einfluß auf
den Verlauf der
südbrasilischen
Küste deutlich ge-
nug äußert. Die
Gegend von La-
gnua (südlich von
Desterro) würde
den Scheitelpunkt
dieses Bogens be-
zeichnen und die
drei sudbrasili-
scyen Provinzen
erhalten dadurch
in orographischer
Bestehirng eine ge-
wisse Einheitlich-
keit und Selbst-
ständigkeit.
Was wir allenthalben in SUdbrasilien erreichen, sobald wir
das Küstengebirge überstiegen haben, ist ein Compositum von
welligen Hochebenen, von denen die Gebirge im Grunde genom-
men nichts bilden als die erhabenen Ränder. Diese Ebenen lie-
gen im allgemeinen 300 bis 1000 m über dem Meeresspiegel *),
st Die Jacuhy-Quellen (nach Bcschoren) 478 m, Passo
Fündo in Rio Grande do Snl 629 m, Curitiba in Parana 1065 m.
und die Sandsteine und Kalksteine, welche sic zusammensetzen,
scheinen vorherrschend paläozoischen oder triassischen Alters
zu sein. Bei San Jeronymo, am Südnfer des Jacuhy, ent-
halten ihre Schichten ausgedehnte Flötze von echten Stein-
kohlen. An der Oberfläche steht das feste Gestein aber selten zu
Tage, sondern an den meisten Orten ist es von einer mächtigen
Lage bodenständigen Verwittcrungsbodcns („Eluvium") oder
aus den Gebirgen
herabgeschwemm-
ter Schnttmassen
überlagert. Die
beiden verbreitet-
sten Bodenarten
sind der durch
verweste Pflan-
zensubstanzen
schwarzgefärbte
„Camp-Boden",
der für die Re-
gel gleich dem
Pampas-Löß nur
eine Gras- und
Krautvegetation
trägt, und ein
gelber Lehm, der
meist von Wald
und Gestrüpp be-
standen ist. Wir
sind geneigt, in
diesem Umstande
einen weiteren
Beweis dafür zu
erblicken, daß die Steppennatur in Südamerika in erster
Linie geologische Ursachen hat.
Während die Hänge und Schluchten der Serras dort,
wo sie nicht von Menschen besiedelt und angebaut worden
sind, durch eine artenreiche Urwaldvegetation — Lorbcer-
und Myrthengewächse, Palmen, Lianen rc. — ausgezeichnet
sind, so haben
ans den Plateaus
sowohl die Gras-
steppen (campen)
als auch die Ge-
strüppflächcn (ca-
tingas) und die
Araucaricnwäl-
dcr (pinheiros)
etwas außeror-
dentlich Einför-
miges (S. Abbil-
dung 1). Etwas
wechselvoller sind
die Plateanwäl-
der dort, wo der
Mats - Strauch
(Ilsx para-
guayensis) die
Hauptrolle in
ihnen spielt. —
Wo die Kultur platzgegrisfen hat, da hat namentlich der Lehm-
boden ohne weiteres eine große Fruchtbarkeit an den Tag ge-
legt, während der Camp-Boden dazu an den meisten Orten
eine besondere Zubereitung zu bedürfen scheint. Ob der letztere
zum Theil als äolische Bildung aufzufassen ist, wie der
argentinische und nruguaysche Löß, ist zunächst nicht gut
zu entscheiden.
Das Klima ist in Südbrasilien sowohl auf den Hoch-
Srio Leopolds bei Hochwasser.
Kolonistcnwohnnng in Germania.
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
187
ebenen als auch in dem Küstenlande ein ganz anderes als
in Argentinien. Vor allen Dingen zeichnet es sich durch
eine viel größere Niederschlagsmenge aus x), und dies spricht
sich eben bereits in der Bodengestalt und Bodenart
deutlich genug ans. Uebrigens fallen die Regen mit dem-
selben Ungestüm wie anderweit in dem außertropischen
Südamerika, und dein Kolonisten, welcher seine Felder an
Gehängen anlegt, schwemmen sie bisweilen mehr als diesem
lieb sein kann, von seinem Ackerboden weg. Zugleich
schwellen sie auch die Bäche und Ströme urplötzlich zu ge-
waltiger Höhe, und die Thalböden sind dadurch häufigen
Ueberflnthungen ausgesetzt, womit der Ansiedler natür-
lich ebenfalls zu rechnen hat (S. Abbildung 5). Was die
Temperaturen angeht, so fehlt es im Sommer nicht an
schwüler Hitze, in der Regel bricht aber bald einmal ein
Pampeiro herein, der Kühlung mit sich bringt, und so hohe
Wärmegrade wie in dem nordamerikanischen Illinois oder
Ohio sind in Rio Grande do Sul und Santa Catharina
noch niemals verzeichnet worden, obgleich diese Länder um
10 bis 20 Grade näher beim Aegnator gelegen sind als
jene. Die Plateau-Landschaften sind natürlich kühler als das
Küstentiefland, und im Winter sind dort starke Fröste und
Schnee keineswegs unbekannte Erscheinungen. Hinsichtlich der
Gesundheit der Einwanderer muß das Klima ares Grund
der gemachten Erfahrungen, die sich sowohl über bedeutende
Menschenmassen als auch über lange Zeiträume erstrecken, als
sehr günstig bezeichnet werden. Nur enge Gebirgsthäler er-
zeugen ein Siechthum, das als „mal cko terra" bekannt
ist, und im allgemeinen hatten auch Nordeuropäer niemals
große Schwierigkeit, sich zu akklimatisiren. Bei den 200000
Deutschen, die sich in Südbrasilien niedergelassen haben,
überwiegt die jährliche Geburtenziffer die jährliche Sterblich-
keitsziffer an manchen Orten drei- bis viermal.
Bezüglich des Verkehrs liegen die Verhältnisse auch im
Binnenlande nicht sehr günstig. Die natürlichen Verkehrs-
straßen des Landes — die Ströme — haben schon in ihrem
Hauptstraße
kknterlanfe die beiden Schattenseiten eines starken Gefälles
und eines stark wechselnden Wasserstandes. In dem Pla-
teanlande — dem weitaus größeren Theile Südbrasiliens —
stürzen sie von den höheren Stufen zu den niedrigeren regel-
mäßig in Gestalt eines Wasserfalles hinab. So der gewaltige
Parana, der den Hanptabzugskanal Südbrasiliens bildet, in
dem berühmten „Sette Quedas" (dem Salto von Guaira), so
sein Nebenfluß Jguassu in seinen 50 m hohen prachtvollen
Fällen (S. Abbildungen 3 und 4), so der Uruguay in dem
Mucnanno-Falle und zahllosen kleineren Katarakten, so der
Jacuhy in den Fällen oberhalb Cachocira, so der Rio
de Cadea in dem Altcnhofener Wasserfalle rc. Die
Ströme bereichern die südbrasilische Landschaft dadurch ohne
Zweifel um einen hohen Reiz. andererseits berauben sie
aber dadurch auch ausgedehnte Strecken des Landes jeder
natürlichen Kommunikation. In jedem Falle sind sie ja
i) Joinville hat 228 cm Regen, also nahezu dreimal so
viel wie Buenos Ayres. Vergl. I. Hann, Klimatologie, S. 672.
in Germania.
immer nur stückweise schiffbar, und ein Punkt, wie Porto
Alegre, in dem fünf leidlich gute Schiffahrtsstraßen zn-
sammenstrahlen, steht völlig vereinzelt da I. Auch der
Straßen- und Eisenbahnbau stieß auf mannigfaltige Schwie-
rigkeiten in dem Terrain. Es sind gewaltige Steigungen
zu überwinden, cs sind große Viadukte und Brücken zu
bauen (S. Abbildung 1), und selbst den festesten Bau-
werken droht von den wolkenbrnchartigen Regengüssen
und von den Hochwassern der Ströme des öfteren Zer-
störung. Kein Wunder, daß das gesammte Berkehrsstraßen-
uetz Südbrasiliens bis auf den heutigen Tag gar viel zu
wünschen übrig gelassen hat. Von Porto Alegre aus, in
der Gegend von Joinville, bei Curitiba u. s. w. ist aber
immerhin bereits sehr Anerkennenswerthes geschehen —
Dank immer wieder zum großen Theile deutschem Unter-
nehmungsgeiste, der in Südbrasilien so eifrig am Werke ist.
U Bergl. P. Langhaus, Die Biuucuschisfahrt in Rio Grande
do Sul („Deutsche Rundschau f. Geographie u. Statistik" 1886,
S. 529 ft-).
24*
188
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land.
Bedellkt man die angegebenen natürlichen Schwierig-
keiten, mit denen die wirthschaftliche und kulturelle Ent-
wickelung Südbrasiliens zu kämpfen gehabt hat, und zu
denen sich leider noch andere in den historischen Verhält-
nissen begründete gesellen — von denen wir noch zu reden
haben werden —, so wird man den deutschen Pionieren,
die daselbst ohne irgend welchen Rückhalt bei der Negierung
ihres Mutterlandes kolonisatorisch thätig waren, seine An-
erkennung nicht versagen. Die alten deutschen Kolonien von
Rio Grande do Sul, die schon in den zwanziger Jahren be-
gründet worden sind — wie San Leopolds (S. Abbild. 5) —
verkündigen schon durch ihr Aeußeres ihre hohe Prosperität,
und junge deutsche Kolonien, wie Reu-Petropolis, Santa Cruz,
Germania (S. Abbildungen 6 und 7), Passo Fundo, Sno Lou-
rentzv rc. bezeugen sie wenigstens, wenn man das Innere ihrer
bescheidenen, aber schmucken Häuser betritt. Welchen vortheil-
haftcn Kontrast bieten dieselben zu den armseligen Palmiten-
Hütten der Brasiliatier portugiesischer Abstammung! Die
Blüthe der Kolonie Blumenau, die die Großthat eines einzigen
energischen Deutschen ist, ist zu bekannt, als daß wir nöthig
hätten, darüber an dieser Stelle noch viel zu sagen; und ebenso
auch die Prosperität der deutschen Kolonie von Dona Franzisea.
Auch in Curitiba hält das Deutschthum seine Fahne hoch.
Es bleibt uns angesichts dieser Pflanzstätten deutschen
Geistes und deutscher Kultur im fremden Lande eigentlich
nur noch der fromme Wunsch übrig, daß man daheim auch
in den maßgebenden Kreisen endlich mit etwas mehr Auf-
merksamkeit ans sie Hinblicken möge.
V.
Deutsch-Witu-Land.
Von Lieutenant A. R. Schmidt.
(S ch
Da ich mit den Rivalen der Galla, den Somali — von
den Suaheli „Warangili" genannt — zwar häufig gelegentlich
ihrer Durchzüge durch das Witu-Land sowie gelegentlich ihres
großen 1887 unternommenen Raubzuges zusammengekommen
bin und mehrfach mit ihnen verkehrt habe, aber doch während
meines Aufenthaltes in Ostafrika keine Gelegenheit hatte,
in ihrem eigenen Lande zu reisen, so unterlasse ich cs, eine
ethnographische Skizze derselben zu geben und beschränke
mich darauf, von ihren Besuchen im Witu-Lande — freund-
lichen (d. h. geschäftlichen) und feindlichen — zu berichten.
Das Urtheil, welches ich ans Grund der sich besonders ans
die Ermordung des Barons v. d. Decken und seiner Ge-
fährten in und oberhalb Bardera und des Dr. Jühlke in
Kismayu beziehenden Gespräche habe, ist: daß ich gestehen
inuß, daß wir bei Erschließung des Somali-Landes —
einer Aufgabe, die zwar gegenwärtig vernünftiger Weise, da
wir nicht Alles auf einmal anfassen können, ohne unsere
Kräfte und Mittel zu sehr zu zersplittern, außer Acht ge-
lassen ist, aber hoffentlich bald wieder aufgenommen werden
kann — wegen des ungeheuren mohammedanischen Fanatis-
mus der Somali, wegen ihrer Habsucht und ihrer an-
geborenen Mordlust große Schwierigkeiten und Gefahren
zu überwinden haben werden. Ich meine aber auch,
daß, wenn wir mit den nöthigen Mitteln und vor allen
Dingen mit der nöthigen Macht auftreten, und zwar
rücksichtslos — denn mit Bescheidenheit und Milde werden
wir im Somali-Lande nichts erreichen können — auftreten,
daß wir dann auch Eindruck machen werden; denn ich
kann in die allgemeine Beurtheilung der Somali als eines
muthigen Stammes durchaus nicht einstimmen, indem
ich sie ganz ähnlich wie die Bararetta beurtheile, nur
daß sie wie diese durch das Unglück erst klein gemacht
werden müssen. Wenn wir also die Mittel zum energischen
Vorgehen im Somali-Lande haben werden, dann werden wir
nicht nur in der Lage sein, eine edle Sühne für die Mord-
thaten der Somali an unseren Landsleuten zu erhalten und
ein moralisches Uebergewicht über die Somali zu gewinnen,
denn ein solches haben wir bis jetzt noch nicht — wie
könnten sonst die Somali offen zu uns Europäern sagen,
daß niemand von uns nach Bardera käme, dem cs nicht
luß.)
ebenso wie v. d. Decken erginge —, sondern dann wird
uns auch außerdem in dem Somali-Lande ein in seinem
Inneren fruchtbares und reiche Schätze bergendes, den Land-
wirth und den Kaufmann zur Kolonisirung einladendes Gebiet
offen stehen, an dessen Knltivirung wir allerdings auch erst
dann gehen sollten, wenn wir faktisch über die erheblichen
Mittel, das Unternehmen wirklich durchzuführen, verfügen
werden. Sollte nicht aber vielleicht vorher schon eine
wissenschaftliche, wohl auszurüstende Forschungs-Expedition
ins Innere des Somali-Landes, besonders den Juba hinauf,
über Bardera hinaus, um den Ursprung des Flusses festzu-
stellen, in Erwägung zil ziehen sein? Es wäre dies gewiß
eine Aufgabe, die den größten Forschungsreisen ebenbürtig
anzureihen und der Opfer werth wäre.
Ich hatte —abgesehen von der kurzen Zeit meines Aufent-
halts in Aden — Gelegenheit, mit Somali zusammenzukommen
in Lamu, besonders aber im Witu-Lande selbst, vornehmlich
in Kau, wo häufig Somali durchkamen und sich mehrere
Tage aufhielten, um daselbst ihr mitgetriebenes, von ihren
Stammesgenossen meist zuvor den Galla, oder auch anderen
Somali-Stämmen abgenommenes Bich zu verkaufen. Bei
diesen Gelegenheiten besuchten sie mich dann auch häufig in
meiner Hütte in Kau, und sprach ich dann dort mit ihnen,
wobei es bisweilen zwischen ihnen und meinen Leuten zu un-
angenehmen Zänkereien kam, so daß ich mich das eine oder-
andere mal genöthigt sah, einzelne Somali — um solche
handelte es sich damals nur — wenn sie zu dreist wurden, gründ-
lich zu rektificiren und aus meinem Hause zu verweisen.
Im großen und ganzen war es mir indeß sehr interessant,
die Leute einigermaßen kennen zu lernen. Eine Verständigung
war meistens möglich, da viele dieser umherziehenden Somali
Kisuaheli sprachen. Sodann kam ich wieder bei Gelegen-
heit des großen Somali-Einfalles im vorigen Jahre mit
ihnen zusammen. Ich befand mich gerade vorübergehend
in Kau, als am 31. Januar 1887 die Somali in der
Stärke von über 3000 Mann, vornehmlich aus den Wor-
sengele und Migadeen (welche, nebenbei bemerkt, einige
Monate zuvor an der Ermordung Jühlke's in Kismayu
betheiligt waren) in aller Frühe an verschiedenen Stellen
des Galla- und Witu-Landes lieberfälle machten, und zwar
Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land.
189
die überfallenden Abtheilungen genau nach erfolgter Ver-
abredung. Die Galla wichen überall zurück, nachdem alle,
die nicht rasch genug hatten eutkouimen können, gleichviel
ob Greise, Männer, Frauen oder Kinder, von den Soitiali
theils hingemordet, theils grauenhaft verstümmelt und ver-
wundet waren. Die vom Oft, wo der eine, und die von Titu-
weida, bezw. von dem westlich von Witu gelegenen Schambas,
wo ein zweiter Ueberfall ausgeführt wurde, Entkommenen
flüchteten sich nach Kau bezw. Witu, unter den Schutz der
arabischen Besatzung und des Sultans Achmed. Die
erstere, unter ihrem „akida“, verhielt sich neutral, gestattete
jedoch nicht, wie die Somali gehofft, diesen den Durchzug
durch die Stadt. In gewisser Weise hatten die Araber näm-
lich bisher den Somali Vorschub geleistet, indem sie den
früher so übermüthigen und gewaltthätigen Galla eine herbe
Demüthigung wohl gönnten; doch war den habsüchtigen und
mordlustigen Somali, wenn sie einmal da waren, ebenso-
wenig zu trauen. Der Sultan von Witu anderer-
seits schickte den bei Witu stehenden Somali, welche ihm
selbst und seinen Suaheli einen großen Theil ihrer im
nahen Tituwcida untergebrachten Heerden geraubt hatten,
eine größere Abtheilung entgegen, der es auch gelang,
nach einem Kampfe mit geringen beiderseitigen Verlusten,
wenigstens einen Theil des gestohlenen Gutes wiederzuge-
winnen.
Ich selbst kam am 1. Februar wieder nach Witu und hatte
von dort aus Veranlassung, an der Spitze von 100 meist
mit Gewehren bewaffneten Suaheli und Galla, von welchen
letzteren einige — wenn auch nur ganz wenige — zum Wider-
stand zu bewegen waren, ins Bararetta-Land, wo die Somali
standen, zu ziehen. Es waren nämlich beunruhigende Ge-
rüchte über Herrn Gustav Denhardt, der vor den Einfällen
noch nach Ngao am Tana gezogen war, um dort die Flagge
des Sultans Achmed (bestehend aus zwei gekreuzten rothen
weißgerändertcn Dreiecken auf rothem Untergrund mit einen!
circa 6 ein breiten weißen Rande an der Fahnenstange) zu
hissen. Deshalb entsandte Sultan Achmed, der, selbst deutscher
Schützling, einem jeden Deutschen den ihm zukommenden
Schutz in seinen Ländern gewährt, in großer Besorgniß
und Unruhe um Denhardt's willen, jene 100 Mann, die
mit mir zogen, an den Tana. Auf dem Hinmarsch, der
zu jener heißesten Zeit in 16 Stunden ohne irgend welche
Pause erfolgte, hatte ich gleich zuerst Gelegenheit, das eben
vorher verlassene Galla-Dorf Tituweida zu betrachten. Die
Häuser, die Räume im Dorfe und der Weg waren angefüllt
mit Todten, die hingemordet und schrecklich verstümmelt
waren — bei der Beschäftigung in den Häusern, auf der Flucht
nach Witu, und gleichviel ob Männer, Frauen, Greise oder
Kinder. Da die Leichen nicht beerdigt worden waren, indem
einerseits eine strenge Sitte jenen Völkern verbietet, die im
Kampfe oder auf gewaltsame Weise Gefallenen zu bestatten,
und andererseits auch die Galla von Tituwcida sich nicht mehr
an die Stätte zurückwagten, so verbreiteten sie — die, wie man
sah, theils schon den Hyänen zum Fraße gedient hatten —
einen verpestenden Geruch. Es boten sich uns fernerhin noch
während des ganzen Weges im Galla-Lande solche ekelhafte
Bilder dar, wenn auch nicht in dem Umfange wie in Titn-
weida. Theilweise trafen wir auch noch auf Galla, die schwer
verwundet und dem Tode nahe waren, die sich aber trotzdem
nicht weiter von uns transportiren lassen wollten, da sie
ihre Feinde, die vereint am Tana — unserem Ziele — stehen
sollten, zu sehr fürchteten. In sehr vorgerückter Nacht-
stunde kamen wir nach den Strapazen der letzten 16 Stunden
und nach Ucberschrcitung des Mto cnkuu (des alten Tana),
der sich dicht oberhalb Ngao in den Tana ergießt, ober-
halb dieses Ortes an, wo wir dann auf das rechte Ufer
übergesetzt wurden und hörten, daß Denhardt bereits strom-
abwärts gefahren und in Kau angelangt sei; die Somali
sollten weiter tanaabwürts stehen.
Ich wollte den nächsten Tag den Rückweg zu Wasser
einschlagen, indem ich durch Cauoes bis Kali gelangen
wollte, was aber meinen Suaheli, welchen die weiter unten
am Talia gemeldeten Somali doch sichtlichen Respekt ein-
flößten, nicht eben zu passen schien. Doch zeigten sie sich
willig, als sie sahen, daß mir gerade damals eine Fuß-
wunde das Marschiren sehr erschwerte, und daß ich auch
der Messungen und Zeichnungen halber den Theil des Tana
bei Ngao, den ich damals noch nicht kannte, zu besuchen
wünschte; außerdem war ja auch die Möglichkeit vor-
handen, daß die Somali ihren Standpunkt wieder ge-
wechselt hatten. Am ersten Tage ging die Fahrt bei der
verlassenen, und bald darauf von den Somali vollständig
niedergebrannten und ausgeplünderten englischen Missions-
station Galbanti sowie an verschiedenen Galla- und Pokomo-
orten vorbei bis Komonesa herunter, wo wir Obdach in einer
Pokomohütte fanden. Außer durch Ausweisung der beiden schon
erwähnten freien Methodisten-Missionäre erlangte Galbanti
eine traurige Bekanntheit durch die im Frühjahr desselben
Jahres erfolgte Ermordung eines englischen Missionärs und
seiner Frau durch Massai, die hiermit einen Racheakt be-
gingen.
Am nächsten Morgen setzten wir die Fahrt fort bis
Tjarra, wo sich der Beledsoni — der den Tana und Osi ver-
bindende Kanal — abzweigt; wegen der Enge und des nie-
drigen Wasserstandcs des Kanals mußten wir hier aus den
Cauoes aussteigen und einen Fußmarsch von einer halben
Stunde nach dem Osi machen, bis wohin die Wapokomo, die
Besitzer der Canoes, dieselben bringen sollten. Schon vorher
sahen wir an den Ufern des Tana ganze Galla-Karawanen,
die Eltern mit den Kindern auf dem Arm, eiligst fliehen,
was auf die Nähe der Somali hinwies. Bald darauf trafen
wir auch selbst auf Somali, und zwar zunächst auf einen
Trupp von mehreren Hundert Mann, die uns den Fußweg,
welchen wir benutzten, versperrten. Ich ließ sofort den
Suaheli Pulver und Blei austheilen, ermahnte sie kurz,
kaltblütig zu schießen, und hieß sic zum Angriff in langer
Linie in aufgelöster Ordnung vorgehen, indem ich erklärte,
auf 100 Schritt die nach arabischer bezw. Suaheli-Kampfes-
art mitgebrachten Fähnchen aufstecken zu lassen, als Zeichen,
daß von dieser Linie aus erst geschossen werden dürfe.
Indeß kam es zur Eröffnung des Feuers gar nicht, denn
die Somali zogen es vor, che wir auf 100 Schritt heran
waren, Fersengeld zu geben. So schienen wir unsern Weg
unbehindert fortsetzen zu können, doch bald darauf gewahrten
wir zur Seite in mehreren Trupps dicht bei einander die
ganze Streitmacht der Somali, über 3000 an der Zahl.
Ich hielt es, obgleich der Weg uns vorläufig noch frei stand,
doch für dringend geboten, die in der Flanke befindlichen,
nunmehr in eine lange Linie zusammenschließenden Somali
anzugreifen, da das ebene Terrain für uns, die wir mit Feuer-
gewehren versehen waren, zunächst günstiger war, während wir
sicher zu erwarten hatten, bei Fortsetzung des Marsches im
hügligen und bewachsenen Terrain im Rücken gefaßt zu
werden; dann hätten uns aber unsere Gewehre gar nichts
genützt. Ich setzte dies, so gut es in der Eile ging, meinen
aufangs wenig zum Angriff geneigten Leuten auseinander, so
daß auch diese einwilligten. Darauf ließ ich anrücken und, wie
befohlen, erst in einer Entfernung von 100 Schritt das
Feuer eröffnen. Die Somali hielten nur einen Augenblick
Stand und flohen dann sogleich, nachdem wir eine verhältniß-
mäßig geringe Anzahl getödtet und verwundet hatten, da
von seiten der Suaheli unerhört schlecht geschossen wurde;
die Somali hatten sechs Todte und mehrere Verwundete,
wir einen Verwundeten, dem ein geworfener Speer tief in
190
Kürzere Mittheilungen.
den Unterleib eingedrungen war. Ich verband den Mann
und übergab ihn dann der Pflege eines arabischen Medizin-
mannes in Kau; er genas auch wieder und stellte sich mir
später mit gut geheilter Narbe vor. Wir erbeuteten einige
Waffen und mehrere Stück Vieh in der Nähe des Schlacht-
feldes. Jedenfalls beweist auch dieses Rencontre mit den
Somali, daß diesen jede Spur von wirklicher Tapferkeit
abgeht. Sie waren uns ja numerisch so bedeutend über-
legen, während wir ihnen doch nur im ersten Moment hätten
durch den Gebrauch der theilweise noch sehr primitiven und
ungeschickt gehandhabten Feuerwaffen überlegen fein brauchen.
Ich selbst hatte allerdings IO Mausergewehre (Jügerbüchsen)
unter die Leute vertheilt.
Darauf traten wir, da unsere Wapokomo unter Preis-
gabe ihrer Canoes davon gelaufen waren, den Weg nach
Kau zu Fuß an, und gelangten von dort aus nach Witu,
wo Denhardt bereits seit einigen Tagen war. Später
fanden noch sehr erbitterte Gefechte zwischen Somali und
Borani- Galla statt, die diesmal leider zu Ungunsten der
letzteren ausfielen. Ich unterlasse es, bei dieser Gelegen-
heit über die Verhältnisse des Tana und des Ost sowie
des den Tana und Ost verbindenden Beledsoni mich zu
äußern, indem diese Flüsse — der Tana wenigstens bis
Massa — ebenso wie das Volk der Wapokomo durch die
Tana-Expedition des Dr. Fischer und der Brüder Denhardt
vollständig erforscht sind. Auch hat jetzt noch der um die
Erschließung jener Länder besonders verdiente Herr Gustav
Denhardt werthvolles Material gesammelt.
Neuerdings wird, nachdem die Suaheli und Galla ein
reichliches Jahr vor den Somali Ruhe hatten, wieder von
einem Einfall der letzteren — allerdings nicht in so großem
Maßstabe — berichtet, wobei die Hcerden der Suaheli und
Galla wieder dezimirt worden sind, der schwerste Schaden
aber den deutschen, unter den Wapokomo in Ngao jetzt etwa
feit einem Jahre thätigen Missionären zugefügt worden ist.
Letztere retteten nach totaler Verwüstung ihrer Station und
ihrer Anlagen mit knapper Noth das nackte Leben und ent-
kamen nach Galbanti znm englischen Missionär Düring, von
wo ans sie nach Witu gelangten. Dieses Unglück der deutschen
Missionäre bedauere ich ganz besonders, da sich entschieden
dem Vorgehen gerade jener sowohl gottesfürchtigen als auch
einigermaßen welterfahrenen Missionäre bei dem der Vor-
mundschaft so bedürftigen Pokomo- Stamme, der nach den
schweren Verlusten durch die Somali im Frühjahr 1887
aus eigenem Antriebe jene Missionäre in sein Land zu
kommen bat, günstige Aussichten boten. Mit Bezug auf
die vielen Gefahren, die sich der Kulturentwickelung vom
Somali-Lande aus entgegenstellen, möchte ich daher wünschen,
daß möglichst bald ernstliche Maßregeln ergriffen werden
könnten, die jenes Räubervolk wenigstens von den Gegenden,
wo deutsche Interessen gepflegt werden, fernzuhalten und
den Wüstensöhnen etwas mehr Achtung vor uns Ungläubigen
beizubringen geeignet wären. Eine unmittelbare die Kolo-
nisation im Witu-Lande stark beeinträchtigende Gefahr
erblicke ich zwar in den Somali-Einfällen nicht, wohl aber
sehe ich darin eine Gefahr für die Ausdehnung der deutschen
Herrschaft nach dem Inneren, an die wir hoffentlich doch in
nicht zu langer Zeit denken können — eine Gefahr, die sich
aber jedenfalls durch Aufwendung der nöthigen Machtmittel
beseitigen läßt.
Kürzere Mi
Der Fleischkonsum in Santiago.
Aus einer kleinen Arbeit des Doktor Adolfo Murillo
über den Fleischverbrauch in Santiago ergaben sich folgende
Thatsachen. Im Jahre 1885 sind im öffentlichen Schlacht-
hause geschlachtet worden:
Ochsen (bueyes) .... 14 868
Novillos 1)...............33 449
Kühe......................21 404
Kälber ....... 1 360
Schafe................... 39 431
Lämmer und Hammel ... 77 465
Schweine................. 25 039
Zusammen . . 213 016
Das Gewicht dieser Thiere betrug 34 463 799kg, und
die Einnahme, welche die Municipalität aus dem Schlacht-
hause zog, betrug 155 087 Pesos. Berechnet man die Be-
völkerung Santiagos zu 200 000 Seelen, so kommt auf jeden
Kopf ein jährlicher Fleischkonsum von 172,3 1r§ frischen Flei-
sches. Allein der wirkliche Fleischkonsum ist weit bedeutender.
Ans der Umgegend der Stadt werden nämlich eine Menge
Hammel und Schweiue hereingebracht für den Privatverbrauch
der in der Stadt lebenden Eigenthümer oder als Geschenke.
0 Novillos sind die jung kastrirten Thiere, die nur zum
Schlachten dienen sollen, buey68 die später verschnittenen, die
als Arbeitsochsen verwendet werden.
t t h e i l u n g e n.
In sehr großer Menge wird ferner Charqui — das au der
Luft getrocknete Fleisch der Rinder — verbraucht, und endlich
ist auch der Konsum von Federvieh, Hühnern, Truthühnern,
Enten (Gänse werden wenig gegessen, sind auch nicht gut),
Tauben, Rebhühnern, sowie von Eiern und Fischen in
Rechnung zu ziehen, so daß Dr. Murillo den Fleischverbrauch
im Jahre für den Kopf auf 300 kg anschlagt. Nur ein
einziges Volk hat einen stärkeren Fleischkonsum — die Argen-
tiner. In Paris kommen auf den Kopf jährlich 84 kg, in
Bordeaux 81, in Lyon 73, in Marseille 69, in Rouen 63,
in Toulouse 58, in Lille 53, in Nantes 50, in London 139,
in München 83, in Wien 70, in Berlin 69, in Madrid 47.
Dieser große Fleischverbrauch erklärt cs auch, weshalb
jährlich eine bedeutende Menge lebender Rinder aus Argeu-
tinien in Chile eingeführt werden, ungeachtet die Anzahl der-
selben im Lande so bedeutend ist.
Auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, daß
das Landvolk in den mittleren Provinzen, sowie die Berg-
leute in den nördlichen nur sehr selten Fleisch essen. Den
ersteren ersetzt der tägliche Genuß der Vicebohnen (Phaseoleu) —
der „porrotos“ — das Fleisch, die letzteren leben außer von
„porrotos“ noch großentheils von getrockneten Feigen sowie
von Nüssen und Zucker, und besitzen dabei herkulische Kräfte,
was der Theorie widerspricht, die da behauptet, nur Fleisch
— namentlich Beefsteak und Eier — gebe Kraft.
Prof. Dr. R. A. Philippi.
Aus allen Erdtheilen.
191
Aus allen
Europa.
— Die große arktische Doppelinsel Nowaja Semlja hat
sich ein russischer Gelehrter, Herr K. Nossilof, zum Gegen-
stände sehr eingehender, Studien und Forschungen ausersehen.
Derselbe hat über ein Jahr — vom Sommer 1887 bis in
den August 1888 — dort zugebracht und ist mit reichen
Sammlungen botanischer, zoologischer, mineralogischer Art
zunächst nach Archangelsk zurückgekehrt, um sich jedoch sehr
bald zu einer neuen Jahrescampagne nach dem Jnsellande
zurückzubegeben und so der Erforschung desselben im ganzen
fünf Jahre zu widmen. Gleich das erste Forschnugsjahr
hat einen auch in praktischer Beziehung bedeutsamen Ertrag
geliefert. Herr Nossilof hat ein Eisen-, ein Kupfer-, vier
Steinkohlenlager, ein Lager von Minengold und ein Schwefel-
lager entdeckt. Davon bieten das Eisen-, das Kupfer- und
zwei der Steinkohlenlager die Bedingungen eines guten
Abbaues. Eine Menge interessanter Beobachtungen über das
Leben der arktischen Thiere — namentlich der Vögel —, viele
darauf bezügliche Mittheilungen der Samojeden, 13 Monate
meteorologischer Aufzeichnungen, Terrainaufnahmen über
etwa 2500 Quadratkilometer Landes, Beobachtungen über
die Eisverhältnisse an der Ost- und Westküste, eine über
125 Irrn sich erstreckende Küstenanfnahme gehören ferner zu
den Ergebnissen dieses Jahres. Bei letzterer Gelegenheit wur-
den drei neue Inseln entdeckt, von denen die eine (etwa 30 Irin
lang und 5 Irin breit) den Namen: Possiet-Jnscl erhielt.
Während des Winters und Frühjahrs unternahm der kühne
Forscher Exkursionen in das Karische Meer, die er in den
nächsten Jahren unter Tiefenmessungen bis an den Jenissei
fortzusetzen gedenkt. Im nächsten Winter beabsichtigt er sein
Standquartier am Ostende des Matotschkin Schar aufzu-
schlagen, dort eine zweite meteorologische Station zu errichten,
und von hier aus die Küsten und das Innere der nördlichen
Insel aufzunehmen. Möge dein wackeren Manne, dessen
Name für Nowaja Semlja epochemachend zu werden verspricht,
das Glück zur Seite stehen! F. M.
Asie n.
— Nach den neuesten Nachrichten aus China haben sich
die von uns geäußerten Befürchtungen bezüglich der Rcgu-
lirnng des Hoangho im vollsten Umfange als begründet
erwiesen. Alle Bauten, die seit September vorigen Jahres
zur Stopfung des bekannten Dammbruches und zur Rück-
staunng des Stromes in sein früheres Bett unternommen
worden sind, sind von der diesjährigen Sommer-Hochfluth in
wenigen Stunden wieder hinweggefegt worden, und die
Lage der Dinge ist auf diese Weise wieder genau dieselbe wie
im vorigen Herbste (Vcrgl. Globus, Bd. 53, S. 129, 224,
383; und Bd. 54, S. 126).
— Das Juliheft des „HoUotnno" der Italienischen Geo-
graphischen Gesellschaft enthält einen ausführlichen Bericht
über die Reisen Leonardo Feas in Tenasscrim,
insbesondere über seinen Besuch in den Höhlen bei Mulmein,
über seine Besteigung des Mount Mulei und über die Berg-
stänune der Ayain-Karenen. Der Reisende brachte auch eine
sehr bedeutende zoologische Sammlung aus Indien mit, die
dem naturhistorischen Museum zu Genua einverleibt wor-
den ist.
Erdtheilen.
— Die letzten Hefte der „Tijdschrift van het Neder-
landsch Aardrijkskundig Genootschap“ (1887) ent-
halten aus der Feder I. B. Neumann's eine ausführliche
Charakteristik über das Bata-Land und seine Bewohner,
auf die wir namentlich diejenigen Leser aufmerksam machen
möchten, welche lebhafteres Interesse an den Ködding'scheu
Aufsätzen im vorigen Bande des „Globus" genommen haben.
— Der russische Geolog Makerow ist gegenwärtig damit
beschäftigt, das Gebiet der linken Amur-Nebenflüsse zu
untersuchen, das noch wenig bekannte Goldlager enthalten soll.
— In einer der letzten Sitzungen der Akademie der
Wissenschaften zu Amsterdam sprach Professor Martin
über einen Fund, welcher Rückschlüsse auf die Formation der
in geologischer Hinsicht noch wenig bekannten Insel Ceram
gestattet. Man findet in dieser Hinsicht nur eine beiläufige
Mittheilung, worin gesagt wird, daß der südliche Theil der
paläozoischen Periode angehört. Professor Martin ist nun
in den Besitz eines von genannter Insel herrührenden
Knochenbrnchstückes gekommen, eines 46 ein laugen, noch mit
Zähnen besetzten Stückes von einem Kiefer, welcher, wie er
vermuthete, von einem Reptil herrührte. Diese Vermuthung
gewann an Sicherheit, als durch einen Zufall (Bruch des
Knochens) sich ergab, daß die Zähne sich in einer durch-
laufenden Kehlung befanden, wie dies bei dem Ichthyosaurus
der Fall ist, so daß Professor Martin der Ansicht ist, daß
das Bruchstück von einem solchen herrührt. Der Ichthyo-
saurus, welcher in Europa der mesozoischen Periode angehört,
kommt auch in Britisch-Indien, in Australien und in Neu-
seeland vor, doch nicht in solcher Größe, wie die auf Ceram
gefundenen Reste anzudeuten scheinen. Die Vermuthung
liegt also nahe, daß mesozoische Formationen — vielleicht auch
Kreide — auf Ceram angetroffen werden.
— Die Berichte der Residenten aus den britischen
Schutz-Staaten auf der Halbinsel Malakka sprechen
sich über die Fortschritte, welche die wirthschaftliche Ent-
wickelung daselbst gemacht hat, sehr günstig aus. Der Abbau
der Zinnseifen von Perak und Selangore liefert stetig
wachsende Erträge, und ebenso sind in Perak abbauwürdige
Gänge von Blei- und Silbererzen in Angriff genommen
worden. Außerdem befinden sich auch die neuangelegten
Plantagen von arabischem Kaffee, sowie von Zucker, Thee,
Reis rc. in einem blühenden Zustande. Die Unternehmer
sind sowohl im Minenbetriebe als auch im Plantagenbau
vorwiegend Chinesen, die Arbeiter indische und chinesische
Kulis, jedoch bereitet die Arbeiterfrage gewisse Schwierigkeiten.
Afrika.
— In der Schwedischen Geographischen und Anthropo-
logischen Gesellschaft erstattete kürzlich H. von Schwerin
Bericht über seine Reise in dem Kongogebiete und
in Westafrika. Der Reisende ging zu Schiff den Kongo
aufwärts bis Stanley-Falls, drang eine größere Strecke
auf dem Kasai vor, und erforschte dann das Becken des
Jnkissi. Nach der Kongo-Mündung zurückgekehrt, stattete er
ferner dem Lande der Muschirongi, welches auf der Südseite
des Stromes liegt und bisher noch niemals von einem
Europäer betreten worden war, einen Besuch ab; und ebenso
endlich dem Lande der Kakongo und Cabinda, im Norden
192
Aus oslen Erdtheilen.
vom Kongo. Die Temperatur im Kongo-Lande fand
v. Schwerin zwar nicht zu hoch (selten über 35° (£.), aber
durch ihr ununterbrochenes Anhalten für Europäer sehr ent-
nervend.
— „Le Mouvement Géographique“ (1888, p. 75)
äußert sich über die Resultate der Cambier'schen
Kongoeisenbahn-Aufnahme folgendermaßen: Die drei-
zehn Monate, welche Cambier am Kongo zugebracht hat, sind
außerordentlich arbeitsreiche gewesen, aber die Resultate,
welche durch die Ingenieur-Brigade erzielt worden sind, über-
treffen alle Hoffnungen. Die Frage der Ausführbarkeit der
Schienenstraße ist in der zufriedenstellendsten Weise gelöst
worden. Es wird kein besonders hervorragendes Werk der
Technik dazu nöthig sein, und die Kosten des Baues werden
nur gewöhnliche sein. In Begleitung der Herren Char-
manne und Vautier ist Hauptmann Cambier auf einem süd-
licheren Wege, als ihn die Karawanen für gewöhnlich nehmen,
gegen Leopoldville vorgedrungen, und er hat daselbst ein
fruchtbares und dicht bevölkertes Land entdeckt, von dessen
Bewohnern er fast jederzeit freundlich, und öfters mit un-
gewöhnlich lärmender Herzlichkeit aufgenommen wurde. Das
Terrain bot daselbst keinerlei Schwierigkeiten. Während
Hanptmann Cambier diese Recognoscirnng anstellte, haben die
in Matadi zurückgebliebenen Ingenieure sich in zwei Ab-
theilungen getheilt, und eine Variante der Linie Matadi-
Mpozo untersucht. Dieselbe umgeht in sehr glücklicher Weise
das Bergmassiv von Matadi und den Mpozo-Uebergang nahe
der Mündung dieses Stromes, so daß dadurch der gefürchtete
große Kunstbau vermieden wird. Mit der Fortführung der
Aufnahme bis Leopoldville, deren Beendigung man im No-
vember oder Dezember d. I. erwartet, ist Hector Ch ar-
ma nne mit einem Stabe von acht Ingenieuren betraut
worden. Dr. Bourguignon ist der Expedition als Arzt bei-
gegeben, und der Gesundheitszustand ihres Personals ist ein
sehr befriedigender.
Südamerika.
— Nachdem H. Coudreau in Begleitung von mehreren
Rucuyenne- Indianern von seiner elfmonatlichen Reise im
Tumac-Humac-Gebirge nach Cayenne zurückgekehrt ist, gedenkt
derselbe von da aus noch eine längere Exkursion in das Ge-
biet der Flüsse Aporaguc uudOyapock zu unternehmen.
Allgemeine s.
— Der diesjährige Deutsche Anthropologcn-
Kongreß, der am 6. bis 8. August in Bonn getagt hat,
hat in seinen Versammlungen ein reiches Programm zur
Erledigung gebracht. Unter anderem sprach Dr. Rauff über
die geologische Entwickelung des Rheinthales und die daselbst
gemachten prähistorischen Funde; Professor Birchow über
seine anthropologischen Forschungen in Aegypten; Professor
Waldeyer über das Rückenmark des Gorilla im Vergleiche zu
demjenigen des Menschen; Dr. Mies über Schädel-Indices;
Dr. Emil Schmidt über die Vererbung erworbener Körper-
merkmale; I. Evans über altbritische Münzen; und K.
Könen über die Nothwendigkeit eines Vergleiches der rheini-
schen Kulturreste mit den ethnographischen Angaben der alt-
römischen Schriftsteller.
— Der kanadische Finanzmann Owen Jones betreibt
mit viel Aussicht auf Erfolg die Herstellung eines
transoceanischen Kabels, das die britisch-columbianische
Insel Vancouver über Hawaï, Fanning und Fidschi hinweg
mit Neu-Seeland und Australien verbinden soll, und das
eine Gesammtlünge von 11 000 hin erhalten würde.
B ü ch e r s ch a u.
— G. vom Rath, Pennsylvanien. Heidelberg
1888. Karl Winter. — Wir halten dieses kleine Buch
für eine der besten und reifsten Früchte, die der kürzlich ver-
storbene Professor Vom Rath von seinen zahlreichen Welt-
wanderungen heimgebracht hat. Der amerikanische Quäker-
staat wird darin sowohl von dem Standpunkte des Historikers
als auch von dem Standpunkte des geologischen Geographen
und des Wirthschaftsgeographen in sehr ansprechender Weise
charakterisirt, und in den Anmerkungen sowie in einem an-
gehängten Auszuge ans seinem Tagebuche führt uns der
Verfasser zugleich auch in die Werkstätte seines geistigen
Schaffens ein. Die Fülle des in dem Werkchcn niedergelegten
Beobachtungs- und Gedankenmaterials ist eine sehr große.
— Dr. Leopold von Schroeder, Die Hochzeits-
gebräuche der Esten und einiger anderer Finnisch-
ugrischer Völkerschaften in Vergleichung mit denen
der indogermanischen Völker. Berlin, Ascher 1888.
8°. 265 S. — Die ethnographische Stellung der Esten und
der ihnen zunächst verwandten finnisch-ugrischen Stämme ist
schon seit Jahren Gegenstand eines erbitterten wissenschaft-
lichen Kampfes. Nachdem man diese Stämme lange fast
unbestritten zur uwngolischen Rasse gerechnet, sind in der
neueren Zeit Anderson, Köppen u. A. mit linguistischen
Beweisen dafür hervorgetreten, daß sic nahe Anverwandte
der Jndogermanen, ja möglicherweise sogar deren Stamm-
väter seien. Schroeder vertritt die Ansicht, daß eine solche
Verwandtschaft durchaus nicht erwiesen sei, und erklärt die
unleugbaren und sehr bedeutenden Aehnlichkeiten in den
Sitten sowie die zahlreichen gemeinsamen Worte dadurch, daß
die finnisch-ugrischen Stämme schon in prähistorischer Zeit,
als sie noch ein ungetrenntes Ganzes bildeten, mit Judo-
germanen — vermuthlich mit einem Zweig des Gotenvolkes —
in inniger Berührung standen, bezw. von einem solchen beherrscht
wurden. Von diesem Standpunkte aus vergleicht er nun
die mit unendlichem Fleiße gesammelten Hochzeitsgebränche
dieser Stämme mit denen der Jndogermanen. Die Ueber-
einstimmung ist eine so große und namentlich bei den Esten eine
so vollständige, daß diese geradezu wie ein Brudervolk der
Germanen erscheinen. Wohl finden sich einzelne Gebräuche
auch bei anderen Stämmen — selbst in anderen Erdtheilen —
wieder, weil sie eben, wie Raub oder Kauf der Frau, Ver-
wendung eines Freiwerbers n. dergl. allgemein menschlicher
Art sind und sich überall entwickeln können, wo Menschen
leben; aber eine so vollständige Uebereinstimmung, wie bei
Jndogermanen und Esten, kann nur die Folge einer ganz
intimen, entweder genealogischen oder historischen Beziehung
sein. Die genealogische Beziehung scheint dem Verfasser
angesichts des total verschiedenen grammatikalischen Baues
der beiden Sprachen sehr unwahrscheinlich; die von Anderson
und Köppen hervorgehobenen gemeinsamen Worte hält er für
uralte Lehnworte, welche die Esten mit merkwürdiger Treue
in der Urform bewahrt haben. Es bleibt somit nur die
historische Beziehung übrig, wie wir sie vorher angedeutet
haben. Wir hätten damit einen neuen Beweis für die An-
siedelung germanischer Völker in der russischen Ebene schon
in prähistorischer Zeit. Ko.
Inhalt: Dr. O. Gumprecht: Die Moränen Veneziens. (Mit zwei Karten.) — Wanderungen durch das äußer-
tropische Südamerika. XIV. (Mit sieben Abbildungen.) — Lieutenant A. R. Schmidt: Deutsch-Witu-Land. (Schluß.) —
Kürzere Mittheilungen : Der Fleischkonsum in Santiago. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika.—
Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 15. September 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger - Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Kerürksichtrgnng der Ethnolog re, der Kultnrberhnltnlsse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
mv miiUniMrt Jährlich 2 Bände a 24 Nummern. Dnrch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1000
"O 1 ll 11 11 | U) U» C l CJ zum Preise von 12 Mark pro Band zn beziehen. .1.0 0 0.
Die L a n d w i r t h s ch a s t in China.
Von Dr. Jose 2
2. Die gegenwärtige Organisation.
Die merkwürdige Originalität, welche das chinesische
Volk durch konsequentes Fernhalten aller fremden Kultur-
Einflüsse und dnrch freie Entfaltung seiner Volkskraft und
Eigenart sich durch Jahrtausende hindurch bewahrt hat,
spiegelt sich auch in der heutigen Agrarverfassung wider und
weist zugleich auf die Geschichte als einzige Quelle hin,
welche die letztere zu erklären im Stande ist. Bei dieser
Vergleichung der historischen Entwickelungsphasen mit dem
gegenwärtigen Zustande der Landwirthschaft löst sich für
jeden unbefangenen Beobachter das noch heute so viel ver-
kannte fundamentale Naturgesetz der Menschheit ab, daß
sich ein Volk nur dann eine ersprießliche und entwickelungs-
fähige Kultur schaffen kann, wenn es seine dnrch die natür-
liche Umgebung bedingte Originalität zum Gerüste nimmt,
um das sich alles andere Beiwerk emporranken kann. Darin
liegt das Geheimniß der chinesischen Kultur, darin liegt auch
die Erklärung für die merkwürdige Thatsache, wie dieses
größte historisch bekannt gewordene Staatswesen trotz
tausendjähriger Wandlungen stabil bleiben konnte, wie China,
trotzdem auch mongolische und mantschurische Dynastien am
Throne faßen, doch immer China blieb, indem jeder Bürger
bei der geringsten Leistung dein Staate gegenüber das größte
Maß individueller Freiheit und Wohlfahrt genießen konnte.
Deshalb wurde die chinesische Kultur von den Fremden als
ein „versteinerte" angesehen; aber China ist kein erratischer
Block, sondern ein mächtiger Baum: die Blätter fallen ab
und neue setzen sich an, der Stamm verändert sich kaum,
wächst aber doch und wird stark. Auch die heutigen agra-
rischen Verhältnisse zeigen, wie eng sich das konservative
Globus L1V. Nr. 13.
pH Grunzet.
mit dem fortschrittlichen Element paaren kann. In schein-
barem Widerspruch ist das Grundeigenthum in China ein
kollektives und zugleich ein individuelles, die Wahrheit aber
ist, daß das Grundeigenthum (tien-ti) dem Staate als dcnl
Repräsentanten der Gesammtheit des Volkes angehört,
während nur das Nutznießungsrecht (tien-mien) frei ver-
äußert und erworben werden kann *). Auf dieses Verhält-
niß lassen sich auch die Kontroll-Maßregeln der Regierung
zurückführen, welche dieser sogar einen Eingriff in das Eigen-
thumsrecht gestatten, und welche noch besprochen werden.
Die thatsächliche Oberaufsicht ermöglichte aber auch der
Regierung, der Laudwirthschaft die solideste Grundlage zu
geben, welche man sich denken kann, indem nämlich
die gegenwärtige Organisation die Bildung eines Groß-
grundbesitzes unmöglich macht. Jeder Familie gehört ein
unveräußerliches und unverletzliches Erbgut, welches in
früheren Zeiten etwa 30 Hektar, heute aber nur 3/4 Hektar
beträgt, immerhin aber dadurch, daß es von den 335 Millionen
Hektar des Reiches etwa 70 bis 75 Mill. in den Händen
dessen unbeweglich macht, der es einmal erworben, die An-
häufung von Grundstücken zu einem großen Komplex ver-
hindert. Im übrigen herrscht das System der freien Par-
zellirung, welches im Vereine mit dem Mangel an
Kommunikationen und Kapital dazu beiträgt, daß die
mittlere Größe der chinesischen Landgüter 600 bis 1000 Mou
(3V2 bis 6 Hektar) in ebenen, und 2000 bis 3000 Mou
(12 bis 18 Hektar) in hügeligen Gegenden selten übersteigt, ja
es giebt sogar Besitzungen von nur 100 bis 200 Mou. Sehr
*) G. E. Simon, .La cité chinoise (Paris 1885), p.30,32.
25
194
Dr. Joseph Grunzel: Die Landwirthschaft in China.
selten — höchstens drei bis vier in jeder Provinz — finden sich
Landgüter von 5000 bis 8000 Mou (300 bis 500 Hektar);
diese größeren Domänen werden zumeist pachtweise ausge-
beutet i). Trotz des hohen Alters der agrarischen Einrich-
richtungen und trotz der verhältnißmäßig großen Bevölkerungs-
dichle2) ist aber bei weitem noch nicht alles kultivirbare
Land der Kultur erschlossen; Hedde und Bridgmau berechnen
den kultivirten Theil der auf 335 Mill. Hektar geschätzten
Oberfläche des eigentlichen China auf 7 ** 2 9/s3), also aus
ungefähr 294 Mill. Hektar, doch dürfte die von Williams
angegebene Zahl von circa 265 Mill. Hektar der Wirk-
lichkeit am nächsten kommen. Das Verhältniß der Be-
völkerung zum Kulturlande würde sich nach dieser Rechnung
auf 7,3 Hektar herausstellen — wie es sich in Holland vor-
findet und nur von England und Belgien Ubertroffen wird,
wo 8,1 Hektar auf den Kopf kommen4).
Eine ganz besondere Art von Gütern stellen die Kron-
ländereien dar, welche ein Gesammtgebiet von etwa
3 J/2 Millionen Hektar umfassen und in drei Gruppen zer-
fallen: 1) die Apanagen, 2) die Militärlündereien und
3) die eigentlichen Kronländereien. Die Apanagen werden
von den Ländereien gebildet, welche dem Kaiser und den
Mitgliedern des kaiserlichen Hauses angehören, und auf diesen
Ländereien wurde ein ganz besonderer Bauernstand groß-
gezogen. Die Militärländereien wurden bei der Eroberung
Chinas durch die gegenwärtig regierende Tsing- Dynastie
den acht Heereskorps (den „acht Bannern") in der nächsten
Umgebung der Hauptstadt zugewiesen, und werden deshalb
den Kronländereien beigezählt, weil sie von der Krone ver-
theilt worden sind und gleich den Apanagen der direkten
Krongerichtsbarkeit unterliegen; im übrigen können sie
jedoch wie Privateigenthum auf die Kinder, Enkel, Wittwen,
Brüder u. s. w. übergehen, falls dieselben nicht bereits über
ein eigenes Grundeigenthum verfügen. Die eigentlichen
Kronländereien bestehen aus den Ländereien, mit welchen
die Stiftungen der drei in China staatlich anerkannten
Religionen — wie Tempel, Klöster, Pagoden u. s. w. — aus-
gestattet wurden, aus den Grundstücken, welche zur Er-
haltung einer öffentlichen Schule verwendet werden, aus
den Gemeinländereien, welche einzelnen Städten oder Dörfern
zur Hebung eines Nothstandes zur zeitweiligen Nutznießung
überlassen werden, aus den unbebauten Schilf- und Rohr-
ländereien und aus den außerhalb des Reiches stationirten
Besitzungen von Militärkolonien5 *).
Die Wichtigkeit der Agrikultur in China, das in seiner
traditionellen Abgeschlossenheit stets die Konsumtion des
Volkes vollauf durch die einheimische Produktion decken
mußte, brachte auch Stadt und Land in ein von dem euro-
9 Dr. S. Syrski, Die Landwirthschaft in China (Dr.
v. Scherzer, Fachmännische Berichte. Stuttgart 1872), S. 69. —
Simon, La cité chinoise, p. 37, 38, 288.
2) Von den 335 Millionen Hektar der Oberfläche des
Chinesischen Reiches haben die neun östlichen, in und nahe der
großen Ebene gelegenen Provinzen eine Bevölkerungsdichte
von l2 bis 15 Einwohnern per Hektar, die neun südlichen Pro-
vinzen dagegen eine Dichte von sechs bis sieben per Hektar.
Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte des ganzen Reiches wird
nur noch von Großbritannien und Bengalen übertroffen, die
der östlichen Provinzen dagegen steht unerreicht da. Vgl. 8.
Wells Williams, The Middle Kingdom (London 1683.
2. Aulì.), ßd. I. p. 272, und Simon, La cité chinoise, p. 3, 4.
3) Isid. Hedde , Description de l’agriculture et du
tissage. Tsoung-nong-sang-i-tsou-i-shi, Agriculture de
la Chine (Paris 1850), p. 4. — I. Plath, Die Landwirth-
schaft der Chinesen und Japanesen im Vergl. zu der europ. I.
(München, Ak., 1873), S. 803.
9 Williams, The Middle Kingdom, I, 273, 276.
9 I. Sacharosf, Ueber das GrundeigeutHuin in China
(Arbeiten der k. russ. Gesandtschaft in Peking über China.
Petersburg, 1852—57, übers. Berlin, 1858. Bd. I.), S. 28.
päischen verschiedenes Verhältniß. Da nun auch die chine-
sische Industrie sich bis heute noch nicht über eine Haus-
industrie erhoben hat und die connnercielle Bewegung int
Innern des Landes jederzeit eine minimale blieb, weil der
Boden an Ort und Stelle die Bedürfnisse befriedigte, so
ergiebt sich die natürliche Folge, daß sich das Land nicht zu
Gunsten der größeren Städte entvölkerte, und daß sich die
Bevölkerung in gleicher Dichte über das Land vertheilte;
eine Ausnahmestellung nehmen nur die größeren Küsten-
stüdte ein, welche der Weltverkehr binnen wenigen Jahren
zu gewaltigen Handels-Emporien umgestaltet hat. Die
chinesischen Städte stehen überhaupt ans einer ganz anderen
Stufe der Entwickelung als die europäischen und amerika-
nischen. Jede chinesische Stadt zerfällt ursprünglich in
zwei Theile H: die viereckige ummauerte innere Stadt, welche
die Amtsgebäude (das Da-men) und überhaupt den ganzen
politischen und militärischen Verwaltungsorganismus in sich
birgt, und die äußere Stadt, welche in der Regel durch vier
oder acht Thore mit der inneren verbunden ist, und in
welcher sich der industrielle und connnercielle Theil der
Bevölkerung niedergelassen hat; diese Theilung deutet darauf
hin, daß die Städte anfangs nur Verwaltungszweckeu
dienten, und daß sich erst in der Folge die dem Handel
und der Industrie ergebene Bevölkerung um die eigentliche
Stadt gruppirte, in ähnlicher Weise wie bei uns im Mittel-
alter die Burgen Centren der Stüdte-Entwickelung wurden.
Die Dörfer hingegen beruhen auf einer mehr zufälligen
Zusammenfassung zerstreut liegender Gehöfte, sie stehen zu
den Städten nicht im Verhältniß der Subordination, sondern
der Coordination, was am besten die Thatsache beweist,
daß es in China Dörfer von 200 bis 100 000 (gewöhnlich
300 bis 3500) Einwohnern giebt2); während solche Dörfer
von vielen Tausend Einwohnern bei uns nicht mehr als
solche bezeichnet werden, können dieselben in chinesischem
Sinne niemals zu einer Stadt erhoben werden.
Auch die politische Organisation weicht von der städti-
schen ab. Die Städte als bloße Verwaltungsorgane be-
sitzen keine so einflußreiche Volksvertretung, wie die ans
einem oder mehreren Dörfern bestehenden Landgemeinden
(hiang) in ihrem Dorfältesten (Li-tschang), welcher ge-
wöhnlich aus den ältesten und angesehensten Bewohnern der
Gemeinde durch freie Wahl oder durch das Loos dazu bestimmt
wird, und welchem nicht selten ein besonderes Vertrauens-
Kollegium zur Seite steht. Diese Dorfältesten, welche von
der Gemeinde besoldet werden, und solange im Amte bleiben,
als das Volk mit ihnen zufrieden ist, bilden eine Art Ver-
mittlerrolle zwischen der Regierung und dem Volke, und
haben eine doppelte Wirksamkeit. Einerseits haben sie alle
öffentlichen Gemeinde-Angelegenheiten, wie die Schlichtungen
von Streitigkeiten, die Polizei, die Ueberwachung der öffent-
lichen Gebäude und Anstalten, die Regelung religiöser und
anderer Festlichkeiten u. s. w. zu besorgen. Andererseits haben
sie die Regierung in Reformen, welche die Landbevölkerung
betreffen, durch Ertheilung von Auskünften oder Vorschlägen
an den Distrikts-Magistrat (Hien-kuaug) zu unterstützen,
aber auch Bitten und Beschwerden der Bevölkerung durch
eben dieses Organ zur Kenntniß der Regierung zu bringen.
Nicht selten treten die Aeltesten mehrerer Dörfer zu gemein-
samer Berathung zusammen, um ein gleiches und daher
erfolgreicheres Wirken zu besprechen 3)<
In China ist bekanntlich das Associationswesen sehr
9 E. Reclus, Géographie Universelle (Paris, 1882),
Bd. VH, p. 561 f.
2) Williams, The Middle Kingdom, I, 280. — Syrski,
Landwirthschaft, S. 59.
9 Syrski, Landwirthschaft, S. 59 f. — Williams, The
Middle Kingdom, I, 482.
Dr. Joseph Grunzel: Die Landwirthschaft in China.
195
ausgebildet; nicht nur in den Städten schließen sich Be-
völkerungsklassen zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen
oder zur Erreichung politischer Zwecke zu geheimen Cor-
porationen zusammen, sondern auch auf dem Lande bilden
steh aus der Bevölkerung einer oder mehrerer Landgemeinden
geheime Genossenschaften. Dieselben liegen unter einander
in beständiger Fehde und paralysiren die guten Einrichtungen
der Regierung sehr oft dadurch, daß sie, einmal zur Ober-
herrschaft in einer Gemeinde gelangt, die öffentlichen An-
gelegenheiten zu Parteizwecken ausbeuten. Ursprünglich dürs-
ten diese dem Ässociatiousdrange der Chinesen entsprungenen
Vereine nicht ohne Berechtigung und Nutzen gewesen sein,
gegenwärtig ist aber der ideelle Zweck durch Parteirücksichten
stark in den Hintergrund verdrängt worden, die Vereine
dienen jetzt zumeist nur als Tummelplätze für eigennützige
Führer und als Oppositionsorgane gegen die Regierung,
welche ihren Mitgliedern nicht nur im Recht, sondern auch
im Unrecht rücksichtslosen Beistand gewähren H.
Da nach chinesischen Begriffen nur persönliches Ver-
dienst einen Anspruch auf gesellschaftlichen Vorrang verleiht,
so bilden nebst der kaiserlichen Familie nur die Beamten
und Gelehrten besonders privilegirte Klassen I 2), und jeder
Kastengeist blieb dem chinesischen Volke fern; auch unter
der Landbevölkerung giebt es keine sozialen Unterschiede, der
einfache Bauer, der Gutsbesitzer und der Pächter sind sich
einander gleich. Doch kennt China eine Art von unfreien
Menschen: die Sklaven. Ursprünglich war die Sklaverei
unbekannt, nur die zum Staatsdienst verurtheilten Ver-
brecher wurden dauernd ihrer persönlichen Freiheit beraubt.
Seit dem dritten Jahrhundert wurde aber den Armen die
Erlaubniß ertheilt, ihre Kinder zu verkaufen, doch wurden
dieselben niemals in römischem Sinne als Sache (res) be-
handelt, sondern sie erhalten auf dem Gute, daß sie bear-
beiten, ein Grundstück zugewiesen, von dem sie ihre Familie
ernähren können, und sind gegen jede Mißhandlung durch
Gesetze geschützt. Im übrigen gelten sie aber wie die Ver-
brecher, Scharfrichter, Bettler, Schauspieler als „gemein"
und genießen keinerlei bürgerliche Rechte.
Das Eigenthumsrecht, oder genauer das Nntznießungs-
recht, ist nach vielen Kämpfen und Wandlungen ein freies
geworden, kann demnach vom rechtmäßigen Besitzer auf dem
Wege der Vererbung, des Verkaufes, der Verpachtung oder
der Verpfändung an einen anderen übertragen werden.
Bei der Vererbung geht das väterliche Gut auf den ältesten
Sohn über, aber seine Brüder können mit ihren Familien
darauf bleiben und ihren Antheil wieder den Kindern ver-
machen, oder cs wird auch zwischen den Brüdern ein ge-
meinschaftliches Abkommen getroffen. Die Töchter erben
nie, ebenso auch nicht adoptirte Söhne einer anderen Fa-
milie 3). Zum gesetzlichen Verkaufe eines Grundstückes
sind gewisse Formalitäten erforderlich; der Verkauf muß
nämlich vor Ablauf des dritten Jahres bei der betreffenden
Dlftriktsbehördc angezeigt werden, wobei eine Abgabe von
etwa 8 Prozent des Verkaufspreises entrichtet und die Urkunde
abgestempelt werden muß4). Will jemand brachliegendes
und herrenloses Land in Anbau nehmen, so muß er ein
I Syrski, Landwirthschaft, S. 60. — Williams, The
Middle Kingdom, 1, 498.
2) G. L. Staunton, Ta-Tsing-Leu-Lee (London, 1810),
I, 3. Zu den privilegirtcn Klaffen gehören: 1. die Mitglieder
des kaiserlichen Hanfes, 2. die durch lange Dienstzeit, 3. durch
besondere Leistungen, 4. durch große Weisheit, 5. durch hervor-
ragende Thätigkeit, 6. durch Fleiß Ausgezeichneten, 7. die Fürsten
und 8. wird denen eine besondere Beachtung des Kaisers ver-
sprochen, welche in zweiter und dritter Generation von hervor-
ragenden Männern abstammen.
3) Williams, The Middle Kingdom. II, 100 fg.
4) Syrski, Landwirthschaft, S. 67.
Gesuch an die Distriktsbehörde einreichen, und den Nachweis
erbringen, daß er die zum Anbau nöthigen Werkzeuge und
Mittel besitzt. Hierauf wird darüber eine öffentliche Kund-
machung erlassen, und falls binnen fünf Monaten niemand
das Grundstück reklamirt, erhält es der Bittsteller als
Eigenthum zugesprochen I. Verpachtung des Grundstückes
ist gegenwärtig bei größeren Gütern eine sehr beliebte Art der
Bodennutzung, und nahezu die Hälfte des ganzen angebauten
Landes wird auf diese Weise ausgebeutet. Der jährliche
Pachtzins beträgt die Hälfte oder ein Drittel des Ertrages
und wird zumeist in Naturalien entrichtet2). Bei der Ver-
pfändung ist ein eigener, an die Bestimmungen der alten
Inden erinnernder Modus in Gebrauch. Der Pfand-
gläubiger bekommt statt jeder Zinsenzahlung ein etwas höher
bewcrthetes Grundstück zur Benutzung und ist auch, so lange
das Pfand giltig ist, zur Zahlung der entfallenden Steuern
verpflichtet. Nach Ablauf der bestimmten Zeit, oder wenn
kein Termin festgesetzt wurde, binnen 30 Jahren, kann
der ursprüngliche Besitzer das Grundstück gegen Erstattung
der Originalsuinme zurück erwerben, kann er das aber
nicht, so bleibt es ihm freigestellt, sich das Recht zur
Auslösung für eine spätere Zeit vorzubehalten oder auf die
Rückerwerbung vollständig Verzicht zu leisten. Der Pfand-
gläubiger kann aber das verpfändete Grundstück gegen die
geliehene Summe an eine dritte Person verpfänden, worauf
dann der zweite Psandglänbiger zum eigentlichen Besitzer
in dasselbe Verhältniß tritt, wie der erste3).
Die Grundsteuer ist die einzige direkte Steuer in China
und bildet den Hauptbestandtheil der Staatseinkünfte; sie
wird in den der Hauptstadt näher gelegenen oder mit der-
selben durch raschen Schiffsverkehr verbundenen Gegenden in
Naturalien entrichtet und betrügt ein Sdsing und ein Ko
(— 0,6 Liter) per Mon, die südlichen und weiter im Lande
liegenden Provinzen bezahlen sieben Candarcen's per Mon
(14/z bis 5 Frcs. per Hektar). Auf die Bevölkerung vertheilt,
repräsentirt sie nicht mehr als etwa 3 Frcs. per Einwohner
und liefert der Regierung eine Einnahme von 20 Millionen
Tacls in Geld und 2,8 Millionen in Naturalien4).
Außerdem wird auch von den Provinzial-Verwaltnngcn für
die Arbeiten und Reparaturen an Straßen, Dämmen,
Brücken u. s. w., falls dieselben nicht durch eine allgemeine
Subskription gedeckt werden, durch eine Umlage, nicht über
Vs der allgemeinen Steuer sich belaufend, bestritten. Die
Maulbeerbaumpslanzungen hat Kaiser Tao - knang im
Jahre 1821 von jeder Steuer befreit3). Die Kronlä'ndc-
reien, sowie die Besitzungen des Adels und der Beamten
sind gleichfalls von jeder Steuer ansgenommen 'st.
Die Leitung und Aufsicht der Regierung über die Land-
U Sacharoff, UebcrdasGrundeigenthum, S. 27. — Staunton,
Ta-Tsing-Leu-Lee (Chin. Strafgesetzbuch), III, 90.
2) Syrski, Landwirthschaft, S. 68.
3) Staunton, Ta-Tsing-Leu-Lee, III, 95, Appendix
XV. — Amyot, Mémoires sur les Chinois,-IV, 386.
4) N a ch The Statesmans Yearbook (London 1888) be-
tragen gegenwärtig die Einnahmen:
Grundsteuer in Geld............... 20 000 000 Taels
Grundsteuer in Naturalien .... 2800000 „
Snlzmonopvl....................... 9 600 000 „
Seezölle unter fremder Verwaltung 15 000 000 „
Seezölle unter eigener Regie ... 6 000 000 „
Durchgangszölle................... 11000 000 „
Konzejsionen u. j. w............... 2 000 000 „
— 16 600 000 Pfund sterling.
Vgl. auch Plath, Landwirthschaft der Chinesen, S. 95 f. —
Simon, La cité chinoise, p. 34. — Williams, The Middle
Kingdom, I, 291, 294.
5) Plath, Landwirthschaft, S. 797.
6) Staunton, Ta-Tsing-Leu-Lee, III, 92.
25*
196
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
wirthschaft ist eine sehr weitgehende. Der Distriktsbeamte
(Hien-kuan), der Dorfälteste (Li-tschang) und in erster
Linie die Besitzer selbst sind für eine rationelle und fort-
gesetzte Bodenkultur der ihnen unterstehenden Ländereien ver-
antwortlich; die Paragraphen 90 bis 100 des dritten Theiles
des Strafgesetzbuches (Ta-Tsu-Liu-Li) enthalten in dieser Be-
ziehung eine Menge sehr strenger Bestimmungen. Wenn ein
Besitzer, ohne daß ihn eine höhere Gewalt daran verhindert
hätte, die Bebauung eines Feldes unterläßt, so wird sowohl
er, als auch die verantwortlichen Beamten mit Bambus-
schlägen bestraft, ja das Grundstück kann sogar, wenn es
drei Jahre unbebaut bleibt, konfiscirt werden I. Die Dorf-
ältesten bestimmen in Gemeinschaft mit den Beamten auch
den Tag der Eröffnung und des Schlusses der Ernte, wo-
nach dann wieder die Zeit der Steuerabgabe festgesetzt wird
(Strafgesetzbuch § 119). Wenn großen Kalamitäten, wie
andauernde Regengüsse, Ueberschwemmungen, Dürre, Fröste,
Heuschrecken u. s. w. eine Gegend heimgesucht haben, so
müssen die Beamten die verunglückten Gegenden besuchen,
st Amyot, Mémoires, VI, 307. — Staunton, Ta-Tsing-
Leu-Lee, III, 97.
den Schaden feststellen und danach einen ganzen oder theil-
weisen Steuernachlaß bei der Central-Regierung in Peking
erwirken st. Außerdem sind in jeder Provinz große Korn-
speicher angelegt, in denen ein Theil der in Naturalien ab-
gezahlten Grundsteuer aufbewahrt und jedes Jahr nach der
Ernte verkauft und durch frische Einkünfte ersetzt wird.
Aus diesen Kornspeichern werden in Zeiten großer Noth
die aufbewahrten Vorräthe - an die Bevölkerung vertheilt.
Auch aus Privatmitteln werden nicht selten solche Korn-
speicher errichtet. Die Ackerbaubehörden in Peking haben
daneben auch die Aufgabe, das noch brachliegende Land der
Kultur zu erschließen, sie haben den Morästen, Sandhügeln,
Schilf- und Rohrländereien u. s. w. eine ganz besondere
Aufmerksamkeit zu widmen und für' Boden-Amelioration
Sorge zu tragen st. * 2
st Bazin, Recherches sur les institutions administra-
tives et municipales de la China (Paris, 1854), p. 103 f. —
Plath, Landwirthschaft, S. 793. — Syrski, Landwirthschaft,
S. 64. — Sacharoff, Ueber das Grundeigenthum, S. 28. —
Staunton, Ta-Tsing-Leu-Lee, III, 91.
2) Syrski, Landwirthschaft, S. 65 f. — Plath, Land-
i wirthschaft, S. 791. — Staunton, Ta-Tsing-Leu-Lee,
l App. XIV.
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
xv.
(Mit sechs Abbildungen.)
Auch wenn wir den Begriff des „außertropischen Süd-
amerika" streng im Sinne der astronomischen Geographie
fassen wollten, so würden wir das Recht in Anspruch neh-
men dürfen, am Ende unserer „Wanderungen" noch ein
weiteres Stück von Brasilien in den Kreis unserer Be-
trachtungen zu ziehen. Auch die Provinz Sllo Paulo
liegt ja noch mit ihrer kleineren Hälfte südlich von dem
Wendekreise des Steinbockes, und die Nachbarprovinzen der-
selben wiederum — Rio Janeiro, Minas Geraes und
Espiritu Santo — sind geographisch viel zu eng mit Sno
Paulo verwachsen, als daß wir sie mit Stillschweigen über-
gehen sollten, sobald wir dessen gedenken. Ferner erscheint
auch der größte Theil der eben genannten Provinzen durch
seine vertikale Erhebung gewissermaßen ans den Tropen
herausgerückt — giebt es ja doch bekanntlich hart an dem
Aeqnator in gewissen Niveaus sogar vollkommen polare
Landschaften —, und endlich handelt es sich auch in den
Provinzen Silo Paulo, Rio Janeiro, Minas Geraes und
Espiritu Santo um die Frage der deutschen Kolonisation,
sowie um damit verknüpfte wichtige deutsche Kultur- und
Welthandels-Interessen. Der Leser wird es uns also ver-
zeihen, wenn wir ihn in unseren Skizzen noch ein kleines
Stück weiter führen, als er unserer Uebcrschrist nach von
uns erwartet hat. Durch die Beleuchtung der Verhältnisse,
die in den mittelbrasilischen Provinzen obwalten, wird
übrigens vielleicht auch manches von dem, was wir über
die südbrasilischcn gesagt haben, noch etwas klarer gemacht
werden können.
Das mittelbrasilische Küstenland ist seinen Haupt-
charakterzügen nach echt tropisches Land, daran ist kein
Zweifel. In Rio Janeiro beträgt die Durchschnitts-
temperatnr des heißestens Monats (des Februar) 26,6° C.,
und diejenigen des kühlsten Monats (des Juli) 21,2". Die
Wärmeschwanknngen von Monat zu Monat sind also sehr
geringfügige, und die schwüle Wärme, welche jahraus jahr-
ein herrscht, wird nur gelegentlich durch kühle Brisen ans
dem Süden gemildert. Dazu sind auch die Niederschlüge
besonders während des Sommers reichliche st, und ein
großer Bruchtheil des zu Boden gefallenen Wassers findet
keinen raschen Abfluß zu den Strömen und zu dem Meere,
sondern cs stagnirt und bildet mehr oder weniger aus-
gedehnte Sümpfe und Lagunen, die eine Menge von ge-
sundheitsschädlichen Miasmen aushauchen. Das Küsten-
tiefland ist infolgedessen mit gutem Grunde übel berufen
wegen seiner Wechselfieber, und namentlich wird es auch
seit dem Jahre 1849 beinahe in jedem Sommer von dem
Gelben Fieber heimgesucht. Gegen diesen unheimlichen Gast
hat man auch in Rio Janeiro bisher vergebens angekämpft.
Der in Frage stehende Abschnitt der brasilischen Küste
besitzt aber die besten Zugänge von der See her — anderen
voran die herrlichen Buchten von Rio Janeiro und von
Santos, in denen die größten Seeschiffe bequem einlaufen
und ankern können. Und dieser Umstand hat es — viel-
leicht noch mehr als die centrale Lage — bewirkt, daß sich
sowohl die südlichen als auch die nördlichen Provinzen des
ungeheuren Kaiserreiches in einem ausgesprochenen wirth-
st In Joinville (Santa Catharina) liegen die Mittel-
temperaturen des Januar (25") und Juli (15,7") noch reichlich
9 Grad aus einander.
st In Rio Janeiro ist die jährliche Regenhöhe 121 cm.
Wanderungen durch.das außertropische Südamerika.
197
Waldvegetation in Espirita Santo. (Nach einer Photographie von Richard Dietze.)
198
Wanderungen durch das außertropische Südamerika,
schaftlichen und Politischen Abhängigkeitsverhältnisse zu ihm
befinden. Wer von Europa nach Südbrasilien gehen will,
für den führt der Weg beinahe immer über Rio Janeiro,
und die Verfrachtung der Ausfuhrartikel ans den Süd-
provinzen vermittelt diese Stadt ebenfalls großcntheils.
Sollte man es vom deutsch-nationalen Standpunkte also
nicht als einen Vortheil bezeichnen und mit Genugthuung
begrüßen, wenn sich auch in den mittelbrasilischen Küstcn-
stüdten starke und einflußreiche deutsche Kolonien etablirt
haben, die als eine Art Bindeglied die Interessen des großen
und an Hülfsquellen unendlich reichen südamerikanischcn
Kaiscrstaates mit denen unseres eigenen Landes verknüpfen!
In Rio Janeiro leben etwa 5000 Deutsche als Groß-
händler, Handlnngsgehülfen, Handwerker, Lehrer rc., die
eine eigene hübsche Kirche, mehrere höhere und niedere
Schulen und ein prächtiges Klubhaus besitzen. Und ebenso
ist auch die Zahl der Deutschen in Santos, in Victoria
und in Santa Cruz (S. Abbild. 2 und 4) eine vcrhältniß-
mäßig beträchtliche, und auch in diesen Orten halten sie die
deutsche Bildung und den deutschen Geist hoch und schaffen
rüstig zum besten ihres alten wie ihres neuen Vaterlandes.
Glücklichen Konstitutionen unter unseren Auswanderern ist cs
also trotz aller feindlichen Einflüsse, die in der Landesnatur
liegen, gelungen, sich einznbürgcn und zu akklimatisircn.
Wer sich lediglich durch die Gesundheitsverhältnisse niit
überkritischen Bedenken bezüglich der Auswanderung einzelner
Deutscher in die mittelbrasilische Küstenregion erfüllen läßt,
der sollte übrigens auch nicht vergessen, daß das nord-
amerikanische New-Orleaus ebenfalls des öfteren in schlim-
mer Weise vom Gelben Fieber verheert worden ist, und daß
die Mississippi-Mündungsstadt trotzdem eine deutschredende
Bevölkerung von gegen 30 000 besitzt. Ueberhanpt dürfte
Straße in Santa Cruz.
es sehr nützlich sein, in mehrfacher Hinsicht möglichst genaue
Parallelen zwischen Brasilien und den nordamerikanischen
Südstaaten zu ziehen. Eine deutsche Massenauswandernng
nach den letzteren würden wir ebenso sehr widerrathen, wie
eine deutsche Massenausmanderung nach dem mittclbrasilischen
Küsteulande.
Durchmessen wir den schmalen Küstenstreifen, der ohne
Zweifel in verschiedenen Gegenden sehr ungesund ist, in der
Richtung von Ost nach West vermittelst einer Eisenbahn,
— mit der von Santos nach Sllo Paulo, oder mit der von
Rio Janeiro nach Onro-Preto — so befinden wir uns
aber wieder nach wenigen Stunden am Fuße der Serra do
Mar, und das Dampfroß trägt uns über dieses schöne Ge-
birge hinweg wieder in ein Plateau- und Bcrgland, das
sich sehr bedeutend über den Meeresspiegel erhebt, und in
dem von einem reinen Tropenklima nicht mehr die Rede
sein kann. In der Hauptstadt von Sllo Paulo, die mit der
Provinz den gleichen Namen trügt, und die 753 m über
dem Meere liegt, schwankt die Luftwärme zwischen 1° und
33° C., und in Onro-Preto (in 1100 m Seehöhe) giebt
es im Winter zuweilen starke Schnccsälle, und die Tem-
peratur hält sich im Juni öfters eine ganze Reihe von
Tagen ans — 3 bis 4° C. In Barbacena (südlich von
Onro-Preto, und ungefähr in der gleichen Höhe mit diesem)
hat man sogar — 6° beobachtet. Man könnte da versucht
sein, unter dem 21. Grade siidl. Br. von einem „brasiliani-
schen Sibirien" zu reden. Demgemäß sind natürlich auch
die gesundheitlichen Voraussetzungen der Besiedelung durch
Europäer in dem Plateau-Lande ganz andere als in dem
Küstenlande. In der Nachbarschaft der Senchenhecrde au
der Küste ist ja gelegentlich das Gelbe Fieber auch auf das
Hochland verschleppt worden, daß es daselbst aber boden-
Deutsche Kolonisten im Urwalde von Espirita L>anto. (Nach einer Photographie von Richard Diche.)
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
200
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
ständig sei, wird niemand behaupten können, und die meisten
Orte desselben sind bislang gänzlich davon verschont ge-
blieben. Südeuropäer akklimatisiren sich in dieser Gegend
leicht, und auch die germanische Nasse hat sich in viel
größerem Maßstabe als in den Küstenstädten den Ver-
hältnissen anzubequemen vermocht. Die Urwaldrodung und
Feldbestellung (S. Abbild. 3 und 6) mag in Sno Paulo
und Espiritu Santo allerdings noch etwas mehr Schweiß
kosten, als in Rio Grande do Sul und Santa Catharina,
aber sie ist den deutschen Kolonisten von Piracicaba und
Limeira (im Gebiete des Rio Tiete), sowie von Petropolis
(bei Rio Janeiro) und Leopoldina (in Espiritu Santo) ganz
gut gelungen, und dieselben tragen gegenwärtig ein sehr
Erhebliches bei zur brasilischen Kaffee-Ernte. Wenn ihnen
ihr Kulturwerk anfangs nicht gelingen wollte — es war
dies namentlich bei Leopoldina der Fall —, so waren daran
ganz andere Verhältnisse schuld, aus die wir noch zu sprechen
kommen. In der Stadt Sao Paulo prosperirt eine deutsche
Gemeinde von etwa 1200 Seelen, und von derselben gilt
genau dasselbe, was wir von derjenigen in Rio Janeiro und
Santa Cruz gesagt haben. Es sind wackere Pioniere
deutscher Kultur, die in ihr den Ton angeben, und dieselben
verdienen in vollem Maße die Sympathie und die moralische
Unterstützung des Mutterlandes.
Der geologische Bau des mittelbrasilischen Plateau-
Landes ist demjenigen des südbrasilischen in den Grundzügen
gleich. Die archaischen Formationen bilden auch hier große
Falten, die allein als wirkliche Gebirge erscheinen, und die
in weiten Bogen durch die Provinzen hindurch streichen; auf
viel ausgedehnteren Strecken lagern aber silurische, devonische,
Die deutsche Schule in Santa Cruz.
carbouische und mesozoische Gesteine — besonders Sand-
steine, Mergel und Schiefer — darüber, und zwar die
postsilurischcn sämmtlich horizontal oder doch ziemlich hori-
zontal. Die Ströme haben sich auch hier tiefe Thäler und
Schluchten eingegraben, und an Wasserfällen, die schöne j
Zierden der Landschaft, aber schlimme Hindernisse des Ver-
kehrs bilden, ist auch diese Gegend überreich. Wir weisen
nur auf den Parahyba, der bloß bis 82 km aufwärts von
seiner Mündung von Dampfern befahren werden kann,
sowie auf den Rio Tiete und Mogyguassu, die nur strecken-
weise (der Tiete nebst dem Piracicaba 264 km, der Mogy-
guassu 205 km) schiffbar sind. Unter den nutzbaren
Mineralien, die der in Frage stehende Landabschnitt enthält,
sind die Diamanten- und Edelsteinlager von Ouro-Preto
besonders berühmt geworden, eine viel höhere Wichtigkeit
versprechen aber die Eisenstein-Ablagerungen in der Nähe
derselben Stadt, sowie in der Nähe von^Jpanema (Sno
Paulo) mit der Zeit zu erlangen. Auch darin könnte sich
vielleicht dem deutschen Unternehmungsgeiste noch einmal
ein dankbares Feld eröffnen.
Die Produktionskraft des Bodens, der durch die Zer-
setzung und Verwaschung der anstehenden Gesteine entstanden
ist, ist unter dem Einflüsse reicher Niederschläge und inten-
siver Sonnenhitze in dem Küstenlande eine viel größere als
in dem Binnenlande, wo die Negenmeuge eine viel geringere,
die Verdunstung aber eine viel stärkere ist. Dort wuchern
Palmen der verschiedensten Art, Bignonien, die das bekannte
Jacaranda- oder Palisanderholz liefern, Cedreleu, deren
leichtes Holz uns unsere Cigarrenkästen vor die Augen
führen, Angico-Akazien, Jpe-Bäume (Tecoma Ipe), Lor-
beerbäume (Cordia frondosa), Sassafras, Sarsaparilha,
Ipecacuanha, Ricinusstauden, und Schlingpflanzen winden
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
201
Im Urwalde von Espiritu Santo. (Nach einer Photographie von Richard Dietze.)
Globus LIV. Nr. 13.
26
202
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
sich von Baum zu Baum; hier dagegen finden wir üppigen
Waldwuchs nur an den östlichen Gehängen der Bergzüge,
während die Gegend im übrigen ganz ähnlich zur Steppen-
hastigkeit hinneigt wie in dem Binnenlande der Südprovinzen.
Stattliche Araucarien-Bestände finden sich noch auf dem
Hochlande von Sno Paulo, in Minas Geraes tritt an
deren Stelle niederes Myrthen- und Figueira-Gestrüpp. Wo
der Boden aber von seinem ursprünglichen Pflanzenklcide
befreit worden ist — es geschieht dies zumeist einfach durch
das Niederbrennen desselben während der Trockenzeit (durch
die sogenannte Ro^a-Wirthschaft) —, da gedeihen auch in
dem Berg- und Plateau-Lande die mannigfaltigsten Nntz-
gewàchse; vor allcn Dingen der Kaffecbaum, ber sich fiir
die nberwiegende Mehrzahl der Pslanzer und Kolonisten
Mittelbrasiliens als die Hauptguelle des Wohlstandes bc-
wahrt Hat; sodann der Mais, der die Hauptbrotfrncht
bildet; die schwarze Bohne (,,feijà.o preto“, Phaseolus
vulgaris), und zahlreiche Knollengewachse, wie der Mandioc
(Nanihot ntilÌ88Ìma), derPams und die Batate (DÌ0860rea.
alata und D. sativa). Der Anban des Weizens, der schon
in den brasilischcn Sndprovinzen nicht an allen Orten
gelingen will, scheint in Mìittelbrasilien gar nicht mehr
v->: •
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i <ii H m fjlj K i| ■ MS HD; !
r I fi W, M 1* 'TaKtvil
Deutsche Kolonistcnwohnung bei Santa Cruz.
rathsam zu sein; und noch weniger der Anbau des Hafers,
da diese Frucht meist durch den Rostpilz vernichtet wird.
Die einheimische Thierwelt stellt bereits in Südbrasilien
viel zahlreichere Feinde des Kulturmenschen als Freunde,
und in Mittelbrasilien ist dies in einem noch höheren Grade
der Fall; namentlich haben wir an dieser Stelle wieder
ans die Myriaden von Ameisen und Fliegen und Moskitos
hinzuweisen, sowie ans eine kleine Heuschreckenart und auf die
Sandflöhe, die Zecken, die Kakerlaken, die alle den Kolo-
nisten bisweilen arge Noth bereiten *).
x) Bergt. hierzu: I. von Tschudi, Reisen in Südamerika,
Bd. 3; A. W. Sellin, Das Kaiserreich Brasilien (Leipzig 1885);
Aus der genaueren Betrachtung der mittelbrasilischen
Naturverhältnisse dürfte also alles in allem die Erkenntniß
hervorgehen: Wer uns dieses Land als ein Paradies vor-
malt, dem dürfen wir nicht glauben. Es ist ein Arbeits-
feld, vor dem wir stehen, und zwar ein Arbeitsfeld, das
manche harte Anstrengung und Mühe fordert, das aber
unter gewissen Umständen auch der deutschen Kraft und
Energie manche gute Frucht verspricht.
Wells, Physical Geography of Brasil (Proceedings of the
R. Geogr. Soc. 1886, p. 353 ft'.); und O. Derby, Phys. Geo-
graphie und Geologic von Brasilieu (Mittheilungen der Geogr.
Ges. zu Jena, 1886, S. 1 ff.).
F. Marthe: Der mittlere Kuen-lun nach N. von Prshewalski's Forschungen.
203
Der mittlere Kuen-lun nach N. v. Prshewalski's Forschungen.
Von F. Marthe.
Aus dem bald zu erwartenden großen Neisewerke, welches
die vierte Forschungsreise des unermüdlichen Prshewalski
nach Centralasien darstellen wird, bringen die „Jswestija" der
k. russ. geogr. Gesellschaft (Bd. 24, S. 1 f.) vorläufig
einen Abschnitt, der den bis jetzt völlig unbekannten mittleren
Theil des Knen-lun behandelt und folglich der geographischen
Wissenschaft durchweg neue Erkenntnisse liefert. Eine Fülle
neuer Namen von Gebirgszügen, Bergspitzcn, Thälern,
Flüssen tritt hierbei auf, und es ist rein unmöglich, eine
eingehende Beschreibung dieses neu enthüllten Stückes unserer
Erde zu geben, wenn man der orientirenden Karte entbehren
muß. Wir begnügen uns daher, den Lesern dieser Zeit-
schrift nur gewisse allgemeine Resultate vorzuführen, wie sie
sich ans jenem vorläufig veröffentlichten Bruchstücke ergeben.
Die Strecke, um die es sich handelt, zieht sich durch
zwölf Längengrade dahin, etwa vom 82. bis zum 94. Grade
östl. Br. und bildet einen nach Norden gerichteten Gebirgs-
bogen, dessen westliche und östliche Enden sich etwa auf dem
36. Breitengrade zusammenfinden, während der Ausbug an
den 38. Grad herankommt. Im Osten schließt dieser
Bogen mit der „Marko Polo"-Kette an die früher von
Prshewalski erforschte Gebirgswelt an, und wie hier sich
das als „Kuen-lun" erscheinende Gebirgssystem aus mehre-
ren Ketten zusammengesetzt erwiesen hatte, so fand es der
russische Forscher gleichfalls bei der nach Westen gerichteten
und jetzt von ihm durchwanderten Fortsetzung. Zwischen
den firnbedeckten Gebirgsparallelen (darunter eine „Kolum-
bus"-, eine „Moskauer", eine „Russische", eine —von der
russ. geogr. Gesellschaft so benannte — „Prshewalski"-
Kette) ziehen sich streifenlange, korridorartige Thäler hin,
ostwestwärts gerichtet, meist abschreckend öde nach Flora und
Fauna, aber reich an Gold — ein Umstand, der nicht
verfehlen dürfte, sobald er allgemeiner bekannt geworden ist,
nach jenen einsamen Hochgebirgen Abenteuerer aller Art zu
locken. Spuren, daß auch jetzt schon Goldgräber ihr Glück
dort versuchen, fanden sich mehrfach, und Prshewalski ver-
nahm, daß sich alljährlich zur Sommerzeit unternehmende
Leute aus Ost-Turkistan nach jenen Höhen hinter dem Rücken
der chinesischen Behörden hinaufstchlen. Eines der langen
Thäler wurde wegen der starken, darin wehenden Winde
— ja Stürme — das „Thal der Winde" benannt. Sand,
Löß und Schutt hüllen die nackten Bergabhänge derartig
ein, daß anstehender Fels selten zu bemerken ist. Als vor-
herrschende Gesteinsarten geben sich immerhin jedoch Kiesel-
schiefer und Granit zu erkennen. Wie bei allen nördlichen
Randgebirgen Tibets erscheint der Nordabhang höher, wilder,
zerklüfteter, dagegen sanfter und minder hoch die nach dem
Hochlande gekehrte Südseite. Auf dieser — der tibetanischen
Seite — in einer Seehöhe von 3600 m, traf man am Fuße
des Gebirges einen von Westen nach Osten reichlich 50 km
weit sich erstreckenden Salzsee, der am 20. December 1884
trotz einer Kälte von mehr als 30° C. nicht zugefroren war,
sondern einen tief dunkelblauen Wasserspiegel erglänzen
ließ; nur ein etwa 250 m breiter Streifen lockeren und
kaum 30 cm dicken Eises rahmte dies blaue Gewässer ein,
welches an seinem Ostende schon im Sommer des Jahres
1886 von dem englischen Reisenden Carey berührt werden
sollte, der von Indien nach Ost-Turkistan hiuüberstieg, den !
Lop-See besuchte, und von dort nach Süden gegen das
tibetanische Hochland vordrang (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 79). Carey vernahm auch den Namen des Sees:
Tschong-Kum (Kul). Die völlig glatte, mit Salz durch-
drungene Bodenflüche im Süden des Sees bezeugte un-
verkennbar, daß derselbe im Rückgänge begriffen ist; jenseit
dieses alten Seegrundes aber — weiter südlich — stellte
sich dem Auge eine wunderbare Landschaft von Lößhügeln
dar, die bei einer Höhe von 100 bis 200 m die Ge-
stalten von Thürmen, Kegeln, Festungszinnen, Brücken,
sowie Hohlwege, unterirdische Durchlässe rc. erkennen ließen.
Noch weiter südlich ragte am fernen Horizonte eine mächtige
Schneekette auf, eben diejenige, die der Vorstand der russ.
geogr. Gesellschaft als Prshewalski-Gebirge zu bezeichnen
vorschlug. Den höchsten Gipfel dieser gigantischen Kette
benannte der russische Forscher wegen der Aehnlichkeit mit
einer ungeheuren Pelzmütze sonderbarerweise: Monomach-
Mütze, wohl weil ihm dabei irgend eine Abbildung des
gleichnamigen altrnssischen Großfürsten in Erinnerung kam.
Eine besondere Wichtigkeit legt Prshewalski dem „Thal
der Winde" bei. Er durchmaß dasselbe zuerst von Ost
nach West, sodann umgekehrt von West nach Ost. Die
Länge desselben beträgt etwa 210 km, die Breite int west-
lichen , höheren Theile 21 km, in dem unteren östlichen
42 km; die Sechöhe erniedrigt sich von West nach Ost von
3900 m auf 2900 m. Ein beständig fließendes Gewässer
durchläuft nur die östliche Hälfte des Thales, welche mit
ihrer allmählichen Erweiterung in die große, sumpfreiche
Hochebene Zaidam übergeht, wo auch jenes Gewässer, der
Fluß Saissan-Ssaitu, in dem Sumpfsee Gas sein Ende
findet. Dieser Fluß tritt von Süden her, das Gebirge
durchbrechend, in die Mitte des Thals ein, empfängt
aber aus der westlichen Hälfte desselben wenigstens im
Winter leinen Zufluß, obwohl sich ein leeres Flußbett in
der westlichen Verlängerung seines Laufes thalauswärts ver-
folgen ließ. Das winterliche Ersterben des von Westen
und von links kommenden Nebenflusses hangt offenbar mit
der grimmigen und trockenen Kälte zusammen, welche ver-
bunden mit dem unaufhörlichen, oft bis zu Sturmesstärke
gesteigerten Westwinde das Winterklima jenes Hochthales
(wenigstens die Zeit von Mitte November bis Mitte
Januar) charakterisirt. Hier geschah es in der Sylvester-
nacht des Jahres 1884, daß das Quecksilber gefror, ein
Ereigniß, das selbst aus größeren Höhen in den östlicheren,
früher besuchten Theilen des tibetanischen Hochplateaus
niemals beobachtet worden war. Hier ferner raste am
27. December dem russischen General mit seinen treuen, ge-
duldigen, von ihm hochgerühmten Kosaken ein eisiger West-
sturm von solcher Gewalt entgegen, daß kaum das Athmen,
geschweige das Fortkommen möglich war. Dabei war die
Luft mit aufgewirbeltem Sand- und Lößstaub so dick an-
gefüllt, daß man höchstens 30 bis 40 Schritte weit sehen
konnte. Dichter Staub wurde überhaupt von jedem Sturm
ausgewirbelt, und häufig tanzten Sandhosen das lange Thal
hinab. Schnee siel sehr wenig und wurde bald vom Winde
wieder weggefegt und mit dem Staub der Luft vermengt.
Daß die Niederschläge auch im Sommer sehr selten sind,
und daß namentlich die kräftigen periodischen Sommerregen,
26*
204
Heinrich Hartert: Ein Tag auf einer westafrikanischen Faktorei.
welche im östlichen Hochtibet zuerst von Prshewalski nach-
gewiesen wurden, in jenen westlichen Strichen nicht mehr
niederprasseln, glaubte der Reisende aus verschiedenen An-
zeichen mit Sicherheit schließen zu können. Natürlich ist
denn auch die Pflanzen- und Thierwelt des Thales eine
dürftige. Doch dürfte eine dort vorkommende Antilopen-Art
— die Orongo-Antilope — nicht allzu selten sein, denn es
gelang, 23 Stück derselben zu erlegen.
Trotz alledem meint Prshewalski nun in jenem fast
geradlinigen Thäte den besten Verbindungsweg zwischen
Ostturkistan und dem westlichen China erkennen zu müssen.
Günstiger sei er als der nördlicher in weitaus geringerer
Meereshöhe über den Lop Nor und als der südlicher in weit
beträchtlicher Höhe dahinziehende, weil bei dem einen wie
bei dem anderen der Mangel an Wasser, Futter und Feuerungs-
mitteln größer sein müsse, als bei jenen mittleren, der
außerdem noch den Vorzug besitze,' der kürzeste zu sein. Im
Sommer könne allerdings keine der drei Straßen benutzt
werden; die nördliche nicht wegen der dann übermäßigen Hitze
und Wasser- und Pslanzenarmuth; die südliche nicht wegen
der dann so starken Regen, welche die Flüsse schwellen und
nnpassirbar machen, ferner den Argal (trockenen Mist) — das
einzige Feuerungsmittel jener Gegenden — durchnässen; der
mittelste endlich nicht, weil dann die Salzsümpfe Zaidams,
durch welche seine östliche Fortsetzung hindurchführt, zu
wasserreich und voll von Schwärmen quälender Insekten sind.
Uebrigens gelte in den Wüsten Centralasiens nirgends der
Sommer als die für längere Karawanenreisen geeignete Zeit.
Prshewalski weist nun genau und im Einzelnen nach, wie die
Straße über das Thal der Winde durch die Zaidam-Sümpfe
hindurch, die nicht ohne gangbare Durchlässe seien, am
Kuku-Nor vorbei bis zur Grenze der bewohnteren Gegenden
Chinas zu verfolgen sei. Nehme man die Oase Tschertschen
als westlichen Ausgangspunkt, die Stadt Donkyr zwischen
Kuku-Nor und Sining als östlichen, so betrage die gesammte
Weglänge 1700 km. Mit Recht dürfe man sich wundern,
daß die Chinesen, so viel sich die Sache übersehen läßt, von
dieser geraden Straße keinen Gebrauch gemacht und statt
dessen die von Sa-tschau ausgehende Uber den Lop-See be-
gangen haben. Nur einen Fall von Truppenmärschen, die
im vorigen Jahrhundert — wahrscheinlich bei der damaligen
Wiedereroberung von Ostturkistan — auf der Zaidam-Straße
stattgefunden haben sollen, konnte Prshewalski später in
Erfahrung bringen. Wahrscheinlich, schließt er seine Er-
örterung, war in früheren Jahrhunderten die Straße von
Sa-tschau zum Lop-See noch nicht so trostlos wüste wie
heutzutage, während umgekehrt die Sumpfgegenden Zaidams
wohl noch weniger gangbar waren als jetzt, oder auch die
dort hausenden Nomadenstämme wilder und räuberischer.
Wenn der aus China, bezw. der Stadt Donkyr konunende
Wanderer von dem See Gas nicht nach Westen in das
Windthal eintreten, sondern fast unter rechtem Winkel nach
Norden zum Lop-See abschwenken würde, so würde bis
hierher der Weg von jener Grenzstadt Chinas nur etwa
1400 km lang sein. Der russische Forscher schlug diese
Richtung ein, überstieg das kahle Gebirge Altyn Tag, das
er im December 1876 zuerst entdeckte, und gelangte so zum
zweiten male an den Lop-See.
Ein Tag auf einer westafrikanischen Faktorei.
Von Heinrich Hartert.
„Tis time, sir!“ ruft inein schwarzer Diener mir um
halb sechs Uhr morgens zu, und nur wenig erquickt erhebe
ich mich von meinem Bette, um nach einer glühend heißen,
größtentheils schlaflos verbrachten Nacht endlich die lang
ersehnte Kühlung zu finden.
Eingewickelt in einen langen Ueberwurf von einheimischer
Arbeit gehe ich, noch gähnend, in mein Badehaus, das
primitiv erbaut ist aus Bambu und Stroh, stelle mich in
eine hölzerne Wanne und lasse mir von bereit stehenden
Negerjungen einige Eimer möglichst kalten Wassers über-
gießen. Ah, wie das wohlthut, wie das erfrischt! Jetzt,
rasch angezogen und an die Arbeit!
Die Bücher des vorigen Tages revidiren ist das erste,
in einer viertel bis halben Stunde bin ich fertig damit;
gerade noch früh genug, um dem soeben ergangenen Ruf
zum Kaffee Folge leisten zu können. Schnell geht es hin-
unter damit, denn es ist ein wichtiger Tag und es wird
viel Arbeit geben, da mir soeben gemeldet wird, daß „King
Freeman of Teywar" und der Händler Momo Marsaqui
schon in der Nacht angekommen sind und mit mir zu sprechen,
d. h. zu handeln wünschen.
Bevor die genannten Großhändler kommen können, ist
aber noch der tägliche Bedarf an frischen Lebensrnitteln ein-
zukaufen, und stehe da, die schwarzen Schönen erscheinen
schon. — „You buy eggs?“ „Kaufen Sie Eier?" so
tönt es von den Lippen einer wahrhaft widerwärtig anzu-
schanenden alten Matrone. Nun, man ißt ja keine Eierschalen,
da thut es nichts, wenn die arme Alte nicht ganz reinlich
und sauber ist. Her also damit, und die Eier ans Licht
gehalten, ob sie auch frisch sind. Zwei Blatt Tabak und
eine Pfeife begehrt die Alte, drei Eier ist der Gegenwerth.
„Ycm buy eggs?“ so tönt es wiederum. Gerade will
ich mit einer barschen Entgegnung alles Weitere abschneiden,
da ich weiß, daß in der Salzkiste — dem gewöhnlichen Auf-
bewahrungsort der Eier — noch einige Dutzend liegen, aber
da sehe ich in ein paar große mandelförmige dunkle Augen,
die mit einem so rührenden bittenden Ausdruck auf mich
gerichtet siud, daß ich unwillkürlich in einem milderen Tone
die kleine Dalla, die wohlbekannte, niedliche Besitzerin des
ausdrucksvollen Augenpaars frage, was ihr Begehr sei. —
Da mit einem male ist die Angst verschwunden und fröhlich
lachend ihr prächtiges Gebiß zeigend, giebt sie mir zu wissen,
daß heute morgen King Freeman's Töchterchen, die hier sei,
so schöne rothe Perlen an ihrem Halse gehabt habe; die
gleichen möchte auch sie wohl haben. — Für fünf Eier ein
Perlengeschmeide? Kind, was bildest Du Dir ein? —
Nun Massa, ich werde noch ein Huhn und schönen rothen
Pfeffer bringen, dann aber, gieb mir die Perlen auch. —
Belustigt durch das muntere Geplauder der Kleinen, die,
kaum 14 Jahre alt, doch schon die Formen einer erwachsenen
Jungfrau hat, und sich ihrer Schönheit wohl ebenso bewußt
ist, wie bei uns die schönste Ballkönigin, giebt man ihr
Heinrich Hartert: Ein Tag auf einer westafrikanischen Faktorei.
205
schließlich das gewünschte, beiläufig gesagt im Werthe von
nur einer Mark, schreibt in das persönliche Konto: Ein
Strang Perlen, und denkt bei sich: „Bist 'mal wieder
dumm gewesen!"
Endlich erscheint auch der König. Stolz aufgerichtet,
seine hohe hagere Gestalt in ein lang herabwallendes schnee-
weißes Gewand gehüllt, auf den vom Alter bereits ge-
bleichten Haare eine rothe Mütze, und gestützt auf seinen
etwa zwölfjährigen Enkel, so tritt der greise Held herein.
Wie sein Gruß, der nur in einer herablassenden Hand-
bewegung besteht, so ist sein ganzes Benehmen würdevoll
und gemessen. Alan merkt sofort an seinem selbstbewußten
Auftreten, daß der, der da vor einem steht, sich seiner Macht
wohl bewußt ist, daß er unbeschränkter Despot und Herr
über Leben und Tod seiner Unterthanen ist, aber auch, daß
er den alleinigen Gott und seinen Propheten Mohammed
anbetet, und daß er nicht Heide ist, denn niemals wird ein
heidnischer Negerfürst dem christlichen Händler mit so ruhiger
und stolzer Würde entgegentreten. Der Mohammedaner
aber hält sich für über dem Christen stehend, der ja in seinen
Augen nur ein ungläubiger Hund, ein „Giaur" ist.
Vor ihm, dem Herrscher aller Veys, dem „King of
Teywar“ erhebe auch ich mich, gehe ihm entgegen, biete
ihm die Hand und lade ihn ein, in mein Wohnzimmer zu
kommen. Dort angelangt, nimmt er mit mir und seinem
Enkel Platz, wahrend die Großen seines Reiches, soweit sie
mitgekommen und anwesend sind, als Hofstaat um uns
herum stehend, mit verwunderten Blicken sich im Zimmer-
umsehen, die ihnen fremden Gegenständen anstaunen und
namentlich an den Photographien meiner Familie und an
einem prächtigen Gewehre großen Gefallen zu finden scheinen.
Allmählich kommt nun, nach Austausch der allgemeinen
Redensarten und Freundschaftsversicherungen das Geschäft
in den Gang. Die Palmkerne werden gemessen, der
„Rubber" (roher Kautschuk) gewogen und von allem der
Werth festgestellt.
„Für nur 69 Dollar kannst Du wieder mitnehmen,
King, dann sind aber auch Deine Schulden gedeckt, denn
Du weißt doch wohl noch, daß beim vorigen Male, nachdem
alles gemessen, gewogen und bezahlt war, einer Deiner
Leute einen Sack „Rubber" wieder mit zurück nahm, der
nachher bei dem Andern — bei dem schwarzen Manne aus
Amerika H — verkauft wurde.“
Nun Du siehst Alles, ja, ich habe es auch gehört, als
wir wieder zu Hause waren, ich habe einen schlechten Mann
unter meinen Leuten, ich werde ihn tobten, wenn ich wieder
nach Hause komme, ich werde ihn todten und seine Weiber
lind Sklaven und all sein Gut nehmen.
Alles ist bezahlt, nun kommt aber noch eine große
Frage — der „Dash" ?), die Dreingabe, das Geschenk
dafür, daß der König überhaupt ein Geschäft mit mir
nracht. Der König ist gnädig, er will nicht viel: einige
Pfund Tabak und einige Ellen bedruckten Kattuns, nebst
einigen Kleinigkeiten, deren er und seine Weiber gerade
bedürfen, und die ihm erst am Schltiß des Geschäftes ein-
gefallen sind. Alles zusammen für vier bis sechs Dollars.
Nach überschwänglichen Freundschafts - und Dankesver-
sicherungcn endlich verläßt Seine schwarze Majestät mich in
dem Glauben, er habe heute ein ganz besonders gutes Ge-
schäft gemacht.
Schließlich kann ich, nachdem schon das „Breakfast" im
0 Einem liberianischen Händler.
2) Uebrigens eine Unsitte, welche an der ganzen afrikanischen
Westküste besteht, am besten vergleichbar mit unserem Rabatt.
Vielfach wird bis zu 10 Proz. Dash gegeben; die gewöhnliche
Höhe ist 5 Proz. Derselbe wird jedoch niemals in Waffen
und Pulver bezahlt.
Drang der Geschäfte versäumt ist, mich zum sehr ver-
späteten „Lunch" setzen.
Rasch ist auch dieser vorüber, und ich buche nun Alles,
was ich vom Könige gekauft und an ihn verkauft habe.
Zur Ruhe aber komme ich noch lange nicht, denn nun
kommt Momo Marsaqui, den ich durch einen meiner Leute
wollte bedienen lassen, und klagt, er werde betrogen. Aber,
siehe da! Die Sache liegt umgekehrt. Momo will, die
Situation benützend, den noch wenig erfahrenen jungen
Gehülfen einmal gehörig übers Ohr hauen und denkt, man
wird dies, da „King Freeman" anwesend ist, nicht weiter
bemerken; er hat aber die Rechnung ohne den Wirth ge-
macht, denn er wird mit der durch einige Peitschenhiebe
unterstützten Mahnung entlassen, in Zukunft entweder
ehrlich zu sein oder gar nicht wieder zu kommen. Ich weiß,
er wird wieder kommen, und das erste mal wird er ganz
ehrlich sein, das zweite mal wird er aber schon wieder einen
kleinen, wenn auch ganz kleinen Betrug oder Diebstahl ver-
suchen ; gelingt er, so ist er acht Tage der glücklichste Mensch
unter der Sonne.
Nachdem nun auch dieses Geschäft abgemacht ist,
kaun's zum „Dinner" gehen, das aus einer Blechdose
Suppe und dem unvermeidlichen Hühnerfricassäe, nebst ein-
heimischen Kartoffeln — sogenannten Bataten — und ge-
trockneten Bananen besteht und durch einen Schluck Roth-
wein vervollständigt wird.
In der Abendkühle mache ich nun noch einen kleinen
Spaziergang zu meinem holländischen Kollegen, mit dem
ich, obschon wir scharfe Konkurrenten sind, auf sehr freund-
schaftlichem Fuße stehe, wie es unsere Stellung als die
einzigen Weißen inmitten einer oftmals feindseligen schwarzen
Bevölkerung ja auch nicht anderes mit sich bringen kaun.
Der freundliche Leser wird denken: „Nun jetzt ist der
Tag doch zu Ende?" — Ja, der Tag wohl, aber vom
afrikanischen Faktoristen kann in Wahrheit das Wort:
„Keine Ruh' bei Tag und Nacht re." buchstäblich ange-
wendet werden, denn auch in der Nacht kann ich mich
nicht ungestört und friedlich Morpheus Armen überlassen,
da der „Watchman", der Wächter der Sicherheit selber
auch noch überwacht werden muß, ob er nicht schläft oder-
gar ein Stelldichein mit irgend einer Schönen hat, die ihn
von Dienst und Pflicht abhält.
Halb im Schlafe rufe ich noch, mich aus einen Augen-
blick ermunternd: „Watchman!" — „Yes sir, I watch"!
Befriedigt ob dieser Antwort schlafe ich weiter. — Da, aus
einmal kracht in der Stille der Nacht ein Schuß, an den
nahen Bergen wie tausend Donner widerhallend, und nur
langsam wie fernes Gewitter sich verlierend. Ich über-
schlafe ruhig weiter, ich weiß, der „Watchman" schießt, um
allen vier- und zweibeinigen Friedensstörern zu zeigen, daß
hier ein treuer Diener für die Sicherheit seines Herrn wacht.
Nicht jeder Tag im Leben des Faktoristen geht abcr
so glatt ab. Oftmals muß er weite Touren ins Land
unternehmen um säumige Zahler zur Zahlung zu zwingen,
und er lernt dann alle Strapazen einer Reise im Canoe,
auf dem Rücken der Neger oder gar zu Fuß durch die un-
durchdringlichsten Urwälder, nur durchschnitten von schmalen
Negerpfaden, kennen. Oftmals auch kann er während
der Regenzeit keinen Fuß vor die Thüre setzen, und ist falls
er keine Bücher besitzt, auf die Unterhaltung mit seinem
farbigen Gehülfen angewiesen. In solchen Zeiten wird
dann jeder bedruckte Fetzen Papier unzählige mal gelesen,
bis man ihn fast auswendig kann, in solchen Zeiten auch
werden die alten Briefschulden erledigt, und die genauesten
und detaillirtesten Abrechnungen gehen an die Vorgesetzten,
die um derentwillen wünschen, daß in Afrika ewig Regen-
zeit sein möge.
Kürzere Mittheilungen.
2 OG
Kürzere Mittheilunge it.
Der Vulkanausbruch des Bandai-san
auf Nipon.
Ueber die verheerende Eruption, welche der Bandai-san
im Juli d. I. gehabt hat, wird uns nunmehr Näheres be-
kannt. Der betreffende Berg liegt in der Provinz Jna-
washiro, im Norden des Jnawashiro-Sees (der der Sage
nach mit ihm zugleich entstanden sein soll) und im Nordosten
der fruchtbaren Ebene von Wakamatsu (37° 36' nördl. Br.
und 1040 6' östl. L.). Er ist 1740 IN hoch und hatte elf
Jahrhunderte hindurch keine Eruption, so -daß er den Um-
wohnern als völlig erloschen galt. Sein Krater war auch durch
die Einwirkung der meteorischen Agentien — die in Japan
ungemein kräftige sind — völlig verwaschen und verschwunden,
die Lavaströme hatten sich mit einer mächtigen Lage von
Erdkrume überzogen, und eine üppige Vegetation bekleidete
den Berg vom Fuß bis zum Gipfel. Drei Solfataren, die
nordwestlich von ihm lagen, waren die einzigen für jeder-
mann sichtbaren Zeugen von seiner Vulkannatur, während
im übrigen nur die alte japanische Geschichte und Tradition
davon erzählte. Da barst am 15. Juli in der Frühe plötzlich
der Sho-Bandai-san — ein Nebengipfel des Bandai-san, der
den Solfataren unmittelbar benachbart war — durch eine
gewaltige innere Explosion, so daß von ihm später keine Spur-
mehr zu sehen war, und eine Fläche von 800 bis 1000 qlon
ringsum bedeckte sich mit einer mehr oder minder hohen
Schicht seines Schuttes. Etwa ein Dutzend Gebirgsdörfer
und gegen 600 in denselben wohnende Menschen waren dar-
unter begraben, und die blühende Landschaft mit ihren Maul-
beerhainen und Reisfeldern war eine graue Wüste geworden.
Ein furchtbarer Wirbelwind begleitete die Erscheinung und
mit den Fels- und Erdmassen des Sho-Bandai-san, die man
im Minimum ans 700 Mill. Tons schätzt, wurden auch zahl-
reiche große Bäume in die Luft emporgeschleudert, um weit von ,
ihrer ursprünglichen Stelle wieder niedergeworfen zu werden.
Der Aschenregen verdunkelte den Himmel noch viel weiter, und
ebenso erstreckten sich auch die den Vulkanausbruch begleiten-
den Erderschütternngen mit ihren Schrecken und Zerstörungen
auf einen viel größeren Umkreis. Aus dem Kraterschlnnde
aber, der sich an Stelle des Sho-Bandai-san, zur Seite des
Bandai-san gebildet hatte, stiegen unter Brüllen und Getöse
erstickende Dämpfe empor. Unter den zu Grunde gegangenen
Ortschaften befindet sich auch der kleine Kurort, welcher neben
den Solfataren des Sho-Bandai-san entstanden war. Der
Fluß Nagasegawa wurde durch einen mächtigen Damm aus
Asche, Schlamm und Steinen, der sich quer vor seinen Aus-
gang ans einem Gcbirgsthale lagerte, zurück gestaut, so daß
für die Bewohner dieses Thales eine wahre Süudflnth ent-
stand. Von den Fernerwohnenden fanden viele ihren Tod
durch Ersticken in dem Aschenregen, indem sie zu fliehen
suchten, während diejenigen, welche in den Häusern blieben
— Greise, Kinder rc. — ihr Leben retteten. Bereits vom
13. Juli an hatte sich der Vulkanausbruch durch mehrere
schwache Erdstöße und durch dumpfes unterirdisches Rollen
angekündigt, zwei stärkere Erdstöße erfolgten aber erst eine
halbe und eine viertel Stunde vor der angegebenen Explosion.
Zwischen der Explosion und dem Niederfallen der Schutt-
massen sollen nur etwa 10 bis 15 Minuten vergangen sein.
E. I).
Der Lamaismus in der Mongolei.
Den Lamaismus in der Mongolei beschreibt Armand
David in den „Nissions catholiques“ (1888, p. 272)
in folgender Weise:
Die Lamaklöster sind in der Mongolei sehr zahlreich und
verhältnißmäßig wohlhabend. Sie sind durchgängig im soge-
nannten tibetanischen Styl gebaut, viereckig und oft drei oder
vier Stock hoch. Sie werden mittelst einer Kalklösnng sorg-
fältig weiß getüncht und bieten auf diese Weise ein ange-
nehmes Gegenbild zu den dunklen mongolischen Zelten und
zu den chinesischen Häusern, welche immer ans Lehm gebaut sind.
Ueberall in dem Lande begegnet man den Lamas, die an ihren
rothen oder gelben Kleidern und an ihren glattrasirten Köpfen
zu erkennen sind. Sie wohnen übrigens nicht bloß in den Klö-
stern, sondern auch znm Theil mit ihren Familien zusammen, in
welchem Falle sie durch Handel rc. für ihren Unterhalt sorgen.
Außer den Männern giebt es auch Lama-Frauen, welche
sich gleichfarbig kleiden und ebenfalls mit kahlen Köpfen eiuher-
gehen. Die Frauen, die sich einem religiösen Leben widmen,
scheeren sich aber erst dann die Haare, wenn sie ein gewisses
Alter erreicht und ihre Familien erzogen haben. Sie werden
„Lamainnen" aus Frömmigkeit und in der Hoffnung, sich
durch Buße eine glückliche Seelenwanderung zu sichern. Was
die Männer anbetrifft, so wird ihr Beruf häufig durch den
allmächtigen Willen des Vaters bestimmt, welch letzterer von
der Thatsache überzeugt, daß die Weiden nicht in gleichem
Tempo zunehmen wie die Menschen, seine Söhne mit einer
oder zwei Ausnahmen dem Lamaismus weiht. Hierin liegt
auch einer von den Gründen, die zu der Abnahme der Be-
völkerung in der Mongolei beitragen.
Der Kultus der Lamas besitzt eine auffällige Aehnliehkeit
mit dem der römischen Katholiken. So trägt der Groß-Lama
z. B. eine Mütze, die derjenigen eines Bischofs ähnlich ist, und
eine Art Chormantel. In den Tempeln (djao) wird dreimal
am Tage die Glocke oder der Tamtam zum Gebet geläutet,
die Gebete werden von einem Chore angestimmt, die Gläu-
bigen bedienen sich immer eines Rosenkranzes, um die Zahl
ihrer Gebete zu regeln u. s. w. Ein mongolischer Lama ver-
sicherte auch, daß in besonderen Distrikten die Andächtigen eine
Art Sündenbeichte üben, und daß ihnen darauf Bnßübungen
im Verhältniß zu den von ihnen gebeichteten Vergehen auf-
erlegt werden. Alan kann unbedenklich behaupten, daß der La-
maismus, dessen Organisation nicht so sehr weit zurück datirt,
die Ceremonien der christlichen Religion, welche seit den
frühesten Jahrhunderten im Orient gepredigt worden ist,
nachzuahmen gesucht hat.
Folgende Geschichte eines bedauernswerthen Groß-Lamas
dürfte besondere Erwähnung verdienen:
Das Lamakloster von llthaudjao ist das berühmteste im
ganzen Urato. Man sagt, daß dasselbe von mehr als
1500 Mönchen bewohnt wird, welche unter der Aufsicht eines
Groß-Lamas leben, der als ein lebendiger Buddha angesehen
wird. Eine seltsame Geschichte wird nun von dem gegenwärtigen
Würdenträger erzählt, der nicht nur der Vorgesetzte von den
Lamas dieses Klosters, sondern auch Herr und Fürst von der
ganzen Umgegend ist. Infolgedessen ist er sehr reich und
besitzt nicht bloß über tausend Pferde und dreitausend Kühe,
sondern auch eine große Anzahl Kameele und Schafe. Außcr-
j dem werden ihm von Pilgern viele Opfer dargebracht, die
Aus allen Erdtheilen.
207
ihn für die Gebete und Segen, die er ihnen in tibetanischer
Sprache spendet, bezahlen sollen.
Vor einigen Jahren hatte der letzte Groß-Lama eine
Summe von 30 000 Unzen Silber (ungefähr 25OOOO Frs.)
zusammengebracht und beschloß ans reiner Frömmigkeit, diesen
Schatz dem höchsten lebenden Buddha in Lhassa als Opfer
darzubringen. Er machte sich also, von zahlreichen Lamas
begleitet, nach Tibet ans. Seine Gefährten sahen aber sehr
ungern das Geld von Urato in die Kasse des ersten Groß-
Lamas laufen und benutzten die Neberfahrt eines Flusses
dazu, ihren Vorgesetzten ins Wasser zu werfen und seinen Schatz
zu rauben. Glücklicherweise wurde der arme Ertrinkende,
nachdem er von der Strönmng ziemlich weit fortgetragen
worden, bewußtlos ans Ufer geworfen, und bald darauf, als
er sich ohne allen Beistand wieder erholt hatte, fand er den
Muth, seine Reise nach Tibet unter dem Schutze einer
Karawane fortzusetzen. Nach einer langen Abwesenheit kehrte
er sodann zwei oder drei Jahre später nach seinem alten
Kloster zurück.
Während man ihn aber noch für todt hielt, war man
ausgegangen, um das prüdestinirte Kind zu suchen, in das
die Seele des Ertrunkenen gefahren sein sollte, und man fand
in der That einen jungen Mongolen, der alle Eigenschaften
zu besitzen schien, welche den Buddha kennzeichnen. Dieser
Knabe wurde nach dem Kloster gebracht und als der wahre
Groß-Lama anerkannt. Ein Rath, aus alten Mönchen
zusammengesetzt, wurde ihm beigegeben, um ihn in den
tibetanischen Gebeten zu unterrichten und um alle Geschäfte
in seinem Namen zu erledigen. Wie groß muß also das Er-
staunen und zu gleicher Zeit die Enttäuschung der Mönche
gewesen sein, als sie eines Tages den alten Groß-Lama
lebendig vor sich erscheinen und seine frühere Stellung von
ihnen fordern sahen! Leider verlangte er aber vergebens seine
Rechte wieder, man beachtete ihn nicht, und der Neuerwählte
wollte ihm seine Stellung durchaus nicht abtreten. Der
Streit verursachte in der ganzen Provinz große Aufregung.
Der Arme, dem Tode des Ertrinkens Entgangene, der sich
vor diesem Frevel nicht zu behaupten vermochte, und der sich
machtlos fühlte, seine Rechte dem Gerichte gegenüber — wo der
Reichste immer Recht behält — zu vertheidigen, zog sich, znni
Schweigen gezwungen, nach einem entfernteren Kloster zurück,
wo er jetzt als einfacher Mönch sein Leben verbringt.
Dennoch sind zwei Männer zum Tode verurtheilt worden,
von denen es nur zu klar erwiesen wurde, daß sie an dem
Anschlage ans das Leben ihres Vorgesetzten theilgenommen
hatten. F.
Aus alleu
Asie n.
— GeneralN. v. Prshewalski hat seine fünfte Reise
nach Asien im August d. I. thatsächlich in der von uns
früher angegebenen Weise angetreten (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 335), in der Absicht, diesmal bis Lhassa vorzudringen.
Bis Samarkand wird ihn die neue centralasiatische Schienen-
straße bringen, dann denkt er sich über Semirjetschensk
direkt nach Tibet zu wenden.
— Das Quellgebiet des Kan und der Birussa
bildet gegenwärtig den Schauplatz der Forscherthätigkeit des
Geologen Clemens und des Archäologen Elenew. In den
Höhlen, welche dasselbe enthält, hofft man wichtige Denkmäler
der prähistorischen Kultur Rußlands zu finden.
— Einem Vortrage, den C. B. Cond er vor der dies-
jährigen britischen Naturforscher-Versammlung über die
alten Völker Wcstasiens gehalten hat, entnehmen wir
die folgenden Ausführungen: Die Forscher, welche sich das
Studium des arischen und semitischen Alterthums zur Auf-
gabe gemacht haben, sind seit etwa 40 Jahren in Westasien
ebenso wie in Griechenland und Italien auf Sprach - und
Rassentypen gestoßen, die weder arisch noch semitisch sind,
und die auf eine ältere vor arische und vor-semitische Kultur
hindeuten. In drei Füllen — nämlich bei dem Akkadischen,
dem Mcdischcn und dem Etruskischen — sind diese alten
Typen zweifellos turanisch; man muß also annehmen, daß in
den ältesten historischen Zeiten eine den heutigen Türken und
Turkomanen verwandte Bevölkerung in Syrien gehaust hat.
Die Gesichtsbildung sowie die Tracht und die religiösen Ge-
bräuche der Hittiteu oder Khcta (Chetiten) zwingt zu derselben
Annahme. Dieselben haben mongolische Züge, und ihre Ver-
ehrung von Sonne, Mond, Bergen, Wolken und Strömen ist
ebenfalls turanisch, ebenso die von ihnen geübte und in der
Bibel erwähnte Exogamie. Die „Kara Chitai", die zur Zeit des
Ptolemüns Ost-Turklstan bewohnt, tragen überdies einen ganz
ähnlichen Namen. Auch der hittitische Zopf ist turanisch.
Die Akadier stehen wieder den Hittiteu nahe, sowohl was ihre
Erdtheilen.
Sprache, als auch tvas ihre Religion, ihre Kriegsbränche re.
angeht. Die kleinasiatischen Ortsnamen, sowie auch die
karischen Personennamen führen zu demselben Schluffe (Vergl.
„Globus", Bd. 53, S. 221). I. S. Glennie unterstützte
in einem anderen Vortrage vor derselben Versammlung die
Conder'schen Theorien, und suchte nachzuweisen, daß außer
der alten pelasgischen und etruskischen Kultur auch die alte
iberische Kultur zahlreiche Merkmale trägt, die ans die
Beimischung turanischer oder, wie er sie vorsichtig nannte,
„archaischer" Bevölkerungs-Elemente Hinweisen.
— Nach den Berichten der chinesischen Zollbehörden ist
der chinesische Außenhandel im Jahre 1887 ans
955 Mill. Mark zu veranschlagen (ans 520 Mill. Mark
Ausfuhr und 435 Mill. Mark Einfuhr), so daß also alle
vorhergehenden Jahre sehr beträchtlich dadurch übertroffen
werden. Die beiden Haupt-Exportartikel waren nach wie
vor Seide und Thee, in Bezug auf letzteren war aber durch
die indische Konkurrenz ein bedeutender Abfall zu bemerken.
Einen hohen Aufschwung nahm dagegen der Export von
Strohgeflechten (besonders aus Tientsin und Tschi-fn). Unter
den Importartikeln spielten wie bisher Opium, Baumwollen-
waaren, Metallwaaren und Zündwaaren die Hauptrolle. Die
Baumwollenwaaren kamen außer von Manchester namentlich
von Bombay. — Was die Schiffahrtsbewegnng der chinesischen
Vertragshüfen augeht, so betrug dieselbe 22F5 Mill. Tonnen,
und den Hauptantheil daran hatten die Flaggen Englands
(66 Proc.), Chinas (25 Proc.) und Deutschlands (reichlich
6 Proc.). Die größten Zolleinnahmen verzeichneten die
Häfen: Shanghai (26 Mill. M.), Futschen (11 Cz Mill. M.),
Hankou (10 Mill. M.) und Kanton (9^/z Mill. M.).
— lieber die Antheilnahme der europäischen Völker an
dem ostasiatischen Handel und Verkehr giebt auch die Hafen-
statistik von Hongkong einen interessanten Aufschluß.
Von den 3890 See-Dampfern, die in dem Hafen einliefen,
waren 2873 englisch, 540 deutsch, 140 chinesisch, und nur
100 französisch. Alles in allem betrug die Zahl der ein-
208
Aus allen Erdtheilen.
gelaufenen Schiffe im Jahre 1887 27 599, und die Zahl
der eingelaufenen Tonnen 6 401 837 (gegen 1259 Schiffe
oder 658 196 Tonnen im Jahre 1861).
Afrika.
— Nachdem Major Barttelot mit seiner Hilfs - Expe-
dition kaum von Dambuga aufgebrochen war, um Stanley
in der Richtung auf Wadelai zu folgen, ist derselbe, wie eine
in Brüssel eingegangene Nachricht lautet, von einer Anzahl
seiner Begleiter verräth er isch überfallen und ermordet wor-
den — aller Wahrscheinlichkeit nach auf Anstiften Tippoo Tibs.
Die betreffende Nachricht ist von Jameson nach Stanley-Falls
gebracht worden, und dieser Herr sollte an Stelle des Ermor-
deten die Führung der Expedition übernehmen; derselbe ist
aber in Bangala von einem perniciöscu Fieber erfaßt worden
und ebenfalls gestorben.
— Ueber die projektirte deutsche Emin-Pascha-
Expeditiou verlautet neuerdings, daß Lieutenant Wiß-
mann zusammen mit Dr. Karl Peters ihre Führung
übernehmen soll, und daß man durch sie eine Reihe von
Stationen schaffen will, die die Kommunikation zwischen der
Küste und dem Victoria-Nyanza-See nebst dem weißen Nil
ermöglichen. Zur Deckung der Kosten sind dem Vernehmen
nach bereits 200 000 Mark aufgebracht worden.
— Hanptmann Becker ist im Aufträge der Kongo - Re-
gierung von Brüssel nach Banana aufgebrochen, um an der
Spitze einer 200 Manu starken Expedition die unbekannten
östlichen und nördlichen Distrikte des Kongo-Staates zu er-
forschen und in Besitz zu nehmen, und um nebenbei vielleicht
auch Kunde über Stanley zu bringen. Ein gewaltiger Er-
obcrnngsplan mit einem winzig kleinen Heere!
— Major A. Ai. Festing, welcher im Januar d. I.
von Port Loho aus eine Expedition zu dem Mandingo-Könige
Alimany Samodn antrat, um denselben für England zn ge-
winnen, ist nebst mehreren seiner Gefährten dem Fieber er-
legen. Es ist also zweifelhaft, ob die englische Kolonialpolitik
der französischen an dieser Stelle den erstrebten Vortheil ab-
gewonnen hat. (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 159.)
— Eine namhafte Hilfsquelle Tunesiens ist die Schwamm-
fischerei zwischen Zarzis und Sfax. Dieselbe wird gegen-
wärtig von etwa 400 griechischen, 500 sizilianischen und
1400 tunesischen Fischern betrieben. Jur Jahre 1887 ergab
sie einen Gesammtcrtrag von gegen 700 000 Mark. In den
Monaten März bis Mai, — der Periode des stärksten Wachs-
thums der Schwämme — ist die Fischerei verboten.
Nord- und Mittelamerika.
In einem „Report“ des nordamerikanischen „Signal
Office“ giebt L. Ai. Turner Rechenschaft über seine For-
schungen in Alaska, die sich über den Zeitraum von 1874
bis 1881 erstrecken, und die namentlich in klimatologischer
und thiergeographischer Hinsicht von hoher Wichtigkeit sind.
— Die amerikanische Expedition zur Untersuchung
des Nicaragua - Kanal-Projektes hat ihre Arbeiten
beendigt, und der Führer derselben wird demnächst einen
ausführlichen Bericht darüber veröffentlichen. Die bedeutend-
sten Abweichungen von den früheren Plänen bestehen darin,
daß der Kanal um den Managna-See herum geführt werden
und bei Laflor eine große Doppelschleuse erhalten soll.
Im ganzen werden fünf oder sechs Schleusen nöthig sein.
Die Kosten des Unternehmens werden nur ans 50 Mill. Doll,
veranschlagt. Man wird sich aber wohl darauf gefaßt machen
müssen, daß sich dieser Anschlag ähnlich wie der Lesseps'sche
beim Panama-Kanäle als etwas sanguistisch erweist.
— Nach den vorläufigen Publikationen der „United
States Geological Survey“ hat sich die gewaltige
Mineralproduktion der Union im Jahre 1887 in den
wesentlichsten Zweigen noch immer beträchtlich erhöht. Die
Goldausbeute (33,1 Mill. Dollars) zwar zeigte eine Ab-
nahme um 1,9 Mill. Doll, gegen das Vorjahr, und im
Vergleich mit der Ausbeute von 1853 betrug sie nur noch
etwa die Hälfte. Dagegen wurde Silber (für 53 441300 Doll.)
für ziemlich 2Hz Mill. Doll, mehr gewonnen. Die Roheisen-
Erzeugung steigerte sich von 5 683 328 Langtonnen auf
6 417 148, und die Kohlenförderung von 107 782 209
Kurztonnen aus 123 965 255; besonders in letzterer Hin-
sicht ist Amerika also nunmehr England sehr nahe gekommen.
Kupfer produzirte die Union aus den eigenen Minen
180 920 524 Pfund (im Werthe von 21 Mill. Doll.), Blei
160 700 Kurztonnen (im Werthe von 14 463 000 Doll.);
Zink 50 340 Kurztonnen (im Werthe von 4 782 300 Doll.);
Quecksilber 33 825 Flaschen (im Werthe von 1 429 000
Doll.). — Die Steigerung der Petroleumproduktion, die sich
ans 28 249 543 Barrels oder 16 949 726 Doll, bezifferte
war nur geringfügig; sehr bedeutend dagegen war die
Steigerung der Naturgas-Produktion, die auf 13 582 500
Doll, berechnet wird (gegen 9 847150 Doll, im Jahre 1886).
B ü ch c r s ch a u.
— Emil von Laveleye, Die Balkanlünder. Ins
Deutsche übertragen von E. Jacobi. 1. Bd.
Leipzig 18 88. Carl Reißner. — Der berühmte
belgische Nationalökonom Laveleye bietet uns in diesem
seinen Buche eine gewaltige Fülle von geistreichen und
scharfsinnigen Bemerkungen über die Länder und Völker, die
er auf seiner Reiseroute berührte — insbesondere über
deren gesellschaftlichen Zustände und politischen Einrichtungen.
Gelegentlich verwickelt er uns wohl in einen Trugschluß —
so z. B. wenn er sagt, daß cs besser wäre, wenn Europa
nur drei oder vier Sprachen, und am besten, wenn es nur
eine einzige Sprache hätte —, im allgemeinen aber wird
niemand das Buch aufmerksam lesen, ohne die mannigfaltigste
Belehrung daraus zu schöpfen, und ohne sein staatenkuud
liches Wissen dadurch wesentlich zn vertiefen. Der vorliegende
Baud verbreitet sich namentlich über Kroatien, Bosnien und
Serbien, und über die Zadruga (Familiengemeinde) der süd-
slavischen Völker. Die Uebersetzung ist als eine sehr gute
zu bezeichnen.
Berichtigungen.
In dem ersten Aufsatze von 90°. 11 (Die Landwirthschaft
in China) steht aus Seite 163 an verschiedenen Stellen irrthüm-
lich „Man" statt „Mou“, und „Tsiu“ statt „Tsin“, was wir
zu berichtigen bitten. — Ebenso darf es Seite 162, spalte 1,
Zeile 2 (des Textes) von unten nicht heißen „las“ sondern
„sau“; Zeile 6 der Anmerkungen nicht „Chon-lang-“ sondern
„Chou-king“; Seite 162, Spalte 2, Zeile 24 (des Textes)
von unten nicht „Wa-tuan-liu“ sondern „Ma-tuan-lin“;
Zeile 19 von unten nicht „Nau“ sondern „Nan"; Seite 165,
Spalte 2, Zeile 10 von unten nicht „Taing“ sondern „Tsing“.
Inhalt: Joseph Grunzel: Die Landwirthschaft in China. II. — Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
XV. (Mit sechs Abbildungen.) — Professor Dr. F. Marthe: Der mittlere Kuen-luen nach N. v. Prshewalski'sForschungen. —
Heinrich Hartert: Ein Tag auf einer westasrikanischen Faktorei. — Kürzere Mittheilungen: Der Vulkanausbruch des Bandai-
san auf Richon. — Der Lamaismus in der Mongolei. — Aus allen Erdtheilen: — Asien. — Afrika. — Mittel - und Rord-
amerika. — Bücherschau. — Berichtigungen. — (Schluß der Redaktion am 23. September 1888.)
Hierzu eiue Beilage von B. Martens, Cigarrenfabrikant, Bremen.
Redakteur: Dr. E. Deck er t in Berlin IV., Mrnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mrt besonderer Herüebsrchtrgung der Ethnologie, der Kulturberhnltnisse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Vallombrosa.
Von Dr. Oskar Schneider.
(Mit vier Abbildungen.)
Wer ohne optimistische Voreingenommenheit, mit objek-
tivem Sinne und klarem Auge die vielgepriesenen Berg-
nnd Hügelländer des mittleren und südlichen Italien durch-
streift, der wird sich einer gewissen Enttäuschung nicht
erwehren können, wenn sein Blick nicht nur stunden-, son-
dern tage-, ja wochenlang nur ans langgestreckte, sanft ge-
wölbte Höhenzüge fällt, die meist von der Thalsohle bis
zum Kamme, jedenfalls aber an den höheren Lehnen des
Baum- und Strauchwuchses völlig entkleidet sind, und dabei
doch der charaktervollen Großartigkeit, der packenden Mannig-
faltigkeit und Schönheit der Formen, sowie der weihevollen
Krönung durch Firnschnee und Gletschereis entbehren, welche
den baumleeren Gehängen der Hochalpen — z. B. der Dolo-
miten — einen so zauberhaften, das Gemüth bestrickenden
Reiz verleihen. Ja, der Reisende wird sich selbst eingcstehen
müssen, daß weite Strecken der Apennin-Halbinsel unter
unserem melancholischen Himmel der gemäßigten Zone als
geradezu unschön erscheinen müßten, während das südlich
der Alpen allerdings nur selten der Fall ist, da die Reinheit
des Himmels und die Klarheit und Wärme der Luft in den
Subtropen auch die öden Hügelgelände Italiens wie die
sterilen, farbenarmen Fclsmauern am Nil und am Todten
Meere mit einer Fülle von Licht und weichen Farbentönen
zu übergießen und dadurch zu oft herrlichen Landschafts-
bildern zu wandeln vermögen. Schädigt nun, dem Letzt-
gesagten zufolge, die Baumarmuth die Schönheit der süd-
lichen Länder auch nicht in dem Maße, wie wir nach den
Globus LIV. Nr. 14.
klimatischen Verhältnissen unserer Heimath zu glauben ge-
neigt sein möchten, so beeinträchtigt sie dieselbe doch immer-
hin in hohem Grade und wirkt dazu ungemein verderblich
in volkswirthschaftlicher Hinsicht, da sie Italien bezüglich
seines Holzverbranches vom Auslande abhängig macht und
den Reichthum an fließendem Wasser und die Gleichmäßig-
keit des Wasserstandes vermindert.
Unsinnige Waldverwüstung und das Weiden des allen
Nachwuchs vernichtenden Kleinviehes auf den abgeholzten
Flächen hat Italien zu einem der waldärmsten Länder
Europas gemacht: manche Provinzen, wie Novigo, haben
nichts oder fast nichts, andere, wie Forli, Venedig, Padua,
Mantua nur 0,04 bis 0,85 Proz. der Gesammtfläche
bestockt; und nur dadurch, daß einzelne Theile der Alpen
und des Apennin, wie auch der Insel Sardinien wesentlich
besser, nämlich bis zu 27 Proz. bewaldet sind, erhält man
angeblich für das ganze Königreich 13 Proz., während z. B.
Sachsen 33 Proc. aufzuweisen hat. Um auf jene 13 Proc.
zu kommen, ist es aber sicher nöthig gewesen, jeden noch
so lichten Kastanien-, Eichen- und Pinien-Hain und jedes
noch so dürftige Buchengestrüpp mitzurechnen; und selbst
wenn dies geschehen sein sollte, möchte dem, der Italien
aufmerksamen Auges durchwandert hat, jener Prozent-
satz als zu hoch gegriffen erscheinen, wenn auch andrer-
seits die von einem fachmännischen schweizer Bericht-
erstatter ausgestellte Schätzung von 3 Prozent allzu niedrig
sein dürfte.
27
210
Dr. Oskar Schneider: Vallombrosci,
Von der Küstenebene zum Apennin ansteigend, stoßen
wir zunächst auf unsere beiden Eichenarten neben der Zerr-,
Stein- und Korkeiche, der Pinie, der Strand- und Aleppo-
kiefer und verschiedenen Wachholderarten; dann folgen
Kastanien, die in Nord- und Mittelitalien etwa bis 900 na,
in Süditalien und Sicilien bis zu 1200 m sich erheben,
durchsetzt mit der unmuthigen Baumhaide; daraus kommt
in einigen wenigen Gebieten schöner Edeltannenwald und
schließlich hochstämmiger Bnchenbestand, der nach der Höhe
sich allmählich in krüppeliges Buchengebüsch als den letzten
Vertreter des Holzwuchses verliert. Dabei ist besonders
bemerkenswerth, daß im Apennin die Buche auf die Tanne
folgt, während in den Alpen das Umgekehrte stattfindet.
Das Gesammtareal des italienischen Waldes wurde
neuerdings in der schweizerischen Zeitschrift für das Forst-
wesen zu 4 717 200 ha mit 4 048 300 ha Wald und
668 900 ha Gebüsch berechnet, während ein amtlicher Be-
richt von 1876, seit welchem keine bessere offizielle forstliche
Statistik Italiens erschienen sein soll, den Waldbestand
dieses Reiches, mit Ausschluß Toskana's und alles Busch-
waldes, auf 3 625 183 ha beziffert. Davon gehören aber
dem Staate nur 150 000 ha und zwar so, daß wiederum
nur etwa 60 000 ha unter der Forstverwaltung stehen und
nicht veräußert werden dürfen, während das klebrige dein
Finanzministerium unterstellt ist und jederzeit nach Be-
dürfniß der bedürfnißvollen Staatskasse verauktionirt werden
kann.
Um nun die Weiterverwüstung der Wälder zu hindern
und die Bestockung der die Bildung zerstörender Gießbäche
begünstigenden, und damit in hohem Grade gefährlichen
öden Steilgehünge zu fördern, sind durch ein Forstgesetz vom
20. Juli 1877 alle Wälder und alle der Aufforstung dringend
bedürftigen Rücken und Lehnen über der Kastaniengrenze,
I sowie ein Theil derselben unterhalb der letzteren, unter den
Gefammtansicht von Vallombrosa.
„Vincolo forestale“, d. i. unter forstpolizeiliche Aufsicht ge-
stellt, die durch vom Staate angestellte Forstinspektoren mit
Hülfe von Unterbeamten ausgeübt wird. Nach einer amt-
lichen Aeußerung betrugen diese Schutzgebiete Ende 1883
zusammen 3 810 281ha, wovon gegen 3 000 000 ha auf
Hochwald, etwa 400 000 ha auf bebuschte und 483 000 ha
auf kahle Flächen kommen, die zu Schutzzwecken wieder be-
pflanzt werden sollen. Letzteres zu fördern hat das Acker-
bauministerium einen besonderen Kredit zur Verfügung;
auch steht dem Staate, jeder Provinz, der Gemeinde und
selbst den einzelnen Privatleuten das Recht der Expropria-
tion zu, falls sie die Absicht hegen und kund geben, ödes
Land aufzuforsten. Trotz so weit gehender Rechte, und ob-
wohl der Staat die Pflanzen bis zu den äußersten Grenzen
der Monarchie hin umsonst liefert, sind von 1877 bis 1880
jährlich durchschnittlich doch nur 700 ha besetzt worden.
Deshalb arbeitete nach der großen Ueberschwemmung Nord-
italiens im Jahre 1882, welche den unheilvollen Einfluß s
der waldlosen Höhen auf das Abströmen großer Regen-
massen wiederum klar vor Augen gestellt hatte, die Forst-
direktion im italienischen Ackerbauministerium im Auftrage
der Regierung einen Gesetzentwurf zu planmäßiger und
schnellerer Bewaldung von etwa 387 000 ha Oedland durch
praktisches Zusammenwirken von Forstleuten und Wasserbau-
Ingenieuren aus, unter Schätzung des Kostenaufwandes
auf 48 Millionen Lire; derselbe wurde aber von der Kom-
mission der Deputirtenkammer durch einen wesentlich ver-
kümmerten Plan ersetzt, der zudem bis heute noch nicht im
Senate zur Besprechung gekommen ist'/). So wird denn das
gute Werk nur langsam vorschreiten, umsomehr, als man
über Mangel an Fachinteresse und über hie und da merk-
bare Bestechlichkeit mancher der allzu gering bezahlten Unter-
es Der vorliegende Aussatz war bereits in den Händen der
Redaktion, als dem Verfasser durch Professor Perona die Mit-
theilung zuging, daß dieser Plan am t. März 1888 zum Ge-
setze geworden.
Dr. Oskar Schneider: Vallombrosa.
211
beamten klagt. Glücklicher Weise regt sich anderseits in
Italien anch außerhalb der Forstkreise — vornehmlich in den
Sektionen des italienischen Alpenvereins — allmählich die
Sympathie für den Wald-, ja, es hatte sich vor einigen Jahren
ein „Verein zur Förderung der italienischen Forstkultnr“
gebildet, dem viele der angesehensten Männer des Staates,
wie Sella, Ricasoli u. a. angehörten, doch hat sich derselbe
leider bereits nach drei Jahren — der statutenmäßig vor-
gesehenen ersten Probezeit — wieder ausgelöst.
Die höheren Forstbcamten Italiens erhalten ihre Aus-
bildung in Vallombrosa, der einzigen Forstakademie des
geeinten Königreichs. Dies herrliche, in köstlicher Waldes-
frische am Taborra-Berge, einem westlichen Ausläufer des
vom Hauptzuge des Apennin sich abzweigenden, in 4864 Fuß
gipfelnden Pratomagno gelegene Fleckchen Erde zu besuchen,
war mir zweimal vergönnt: das erste Mal Ansang August
des Jahres 1873, als ich von dem unter 32° R. seufzenden
Florenz dort für wenige Tage Erfrischung und Erholung
suchte, und dann im April 1884, wo mich coleopterologisches
Sammeln an den dafür sehr lohnenden Ort anderthalb
Wochen fesselte. Während des letzteren Aufenthaltes bot
sich mir durch das liebenswürdige Entgegenkommen des in
Vallombrosa und Tharand gebildeten Professor Perona
und seiner aus Breslau stammenden Gattin, sowie durch
die ebenso freundliche Auskunft, welche mir Herr Lanzky,
ein dort angesiedelter, philosophischen Studien lebender
Norddeutscher, ertheilte, Gelegenheit, Einsicht in die Ver-
hältnisse zu gewinnen; Durchmusterung der einschlagenden
Literatur hat dieselbe erweitert und geklärt, und so darf ich
.wohl hoffen, wenigstens volle Wahrheit zu bieten, wenn ich
zu einem flüchtigen Besuche von Vallombrosa die Führung
übernehme.
Von Florenz aus bringt uns die über Arezzo nach Rom
führende Bahn im bald enger werdenden Thäte des Arno
aufwärts in etwa drei Viertelstunden nach Pontassieve, nahe
der Mündung des Sieve-Flüßchens. Wir befinden uns
dort am Bahnhöfe 90,5 m über dem Meere. 1873 war
es im August ein gar mühsames Geschäft, einen Wagen
zur Fahrt nach Vallombrosa in dem Städtchen aufzutreiben,
1884 dagegen standen schon in der ersten Hälfte des April
mehrere Gefährte am Bahnhöfe, deren Lenker sich um unsere
Kundschaft bemühten und Empfehlungskarten der Fuhrwerks-
besitzer vertheilten — ein beredtes Zeichen dafür, wie sehr im
Laufe eines Jahrzehnts Vallombrosa bei Touristen und
Sommerfrischlern in Aufnahme gekommen war.
Der Weg geht, nachdem er das Städtchen durchzogen
und die für dessen Namen maßgebend gewesene Sieve-
Brücke überschritten, zunächst dem Arno entlang nach Süden,
theilt sich aber bald in zwei Routen, welche bei Paterno
wieder zusammenlaufen; wir wählen die südlichere und
fahren zwischen Feldern und Weinpflanzungen, Gärten,
Oelbaumterrassen, Eichenwäldchen und einzelnen mächtigen
Eichen in der Nähe der wenigen kleinen Dörfchen in etwa
anderthalb Stunden empor zu dem freundlichen Oertchen
Paterno. Das daselbst in großem Gartenraume liegende
ansehnliche Gebäude, früher ein Schloß der Grafen Guidi,
sollte der Wintersitz des Forstinstitutes werden, da es bei
377 in Seehöhe einer weit milderen Temperatur sich erfreut,
als das dritthalb mal so hoch liegende Vallombrosa; später
hatte mau es für eine laudwirthschaftliche Lehranstalt im
Auge und machte es bis zu deren Einrichtung zum Sitze
des Forstinspektors von Toskana, in allerneuester Zeit aber
hat es der Staat zum Verkauf gestellt. Von Interesse sind
uns Nordländern die bis dahin an den steileren Gehängen
neben dem Fahrwege befindlichen kleinen Felder mit Iris
florentina gewesen, deren Wurzelkuolle, die sogenannte
Veilchenwurzel, uns als Kindern das Zahnen erleichtert
hat, und von Droguen-Appreturen, z. B. der berühmten
Fabrik von Gehe und Co. in Dresden, zur Gewinnung
einer feinen Essenz ausgepreßt, in Italien aber vorwiegend
zu Gesichtspuder verwendet wird, ohne den eine toskanische
oder römische Dame nicht glaubt leben zu können.
Von Paterno aus konnte man vor zwölf Jahren nur
noch bis zu dem etwa aus dreißig Häusern bestehenden
Dorfe Tosi allenfalls mit dem Wagen gelangen; dann aber
kam steiler, mit unregelmäßigen Steinen roh gepflasterter
Pfad, der im Laufe der Jahrhunderte durch die massigen
Kufen der von Ochsen gezogenen Halbschlitten, „treggia“ ge-
nannt, durchfurcht worden war, mit denen den Mönchen
des Klosters Vallombrosa des Leibes Nahrung und Noth-
durst zugeführt, und Eis nach Florenz hinabgebracht wurde.
Auch von Schwachen und Kranken ist dieses, gleich der
russischen Telega mehr den Folterwerkzeugen als den Be-
förderungsmitteln zuzurechnende Vehikel wohl benutzt worden;
der Gesunde aber that jedenfalls besser, die Höhe —
wenn auch, wie wir in den Hundstagen 1873, im Schweiße
des Angesichts — durch lichten Kastanienwald mit einem
Bodenteppich von Haidekraut, Farnen und verstreuten Blumen
zu Fuß zu erklimmen. Er kam dann bald auf eine gelind
ansteigende Terrassenstufe und in dichten, dunklen Tannen-
wald, der ersehnte, doch fast allzu große Kühle spendete.
Jetzt führt eine treffliche Fahrstraße von Paterno in andert-
halb Stunden nach Vallombrosa hinauf. Dieselbe tritt
oberhalb des ersteren Ortes in das enge, stcilwandige Thal
des Vicauo-Baches, hoch über dem wildschüumenden Berg-
wasser am Felsen sich hinziehend, bis sie die Schlucht an
deren oberen Ende überschreitet, und steigt daun mit zahl-
reichen, engen Windungen an der jenseitigen Thalwand, bei
Tosi vorüber, zu dem schwächer sich hebenden, mit Tannen
besetzten Terrain empor. Ein letzter, kürzerer Anstieg in
kühlem Waldesschattcn führt endlich au einen großen, sanft
nach Süd gehobenen, üppig grünen Wiescnplan, auf dessen
gegenüber und damit höher liegender Seite sich die alte
Abtei von Vallombrosa aufbaut, fast ganz umschlossen von
steilen, dicht bewaldeten Lehnen, von deren dunklem Grunde
sich der stattliche Bau wirkungsvoll abhebt. In schnur-
gerader Linie zieht sich der mit alten Tannen besäumte
Weg bis zu dem schönen Portal des Klosterhofes. Vor
diesem aber wenden wir uns nach der rechten Seite zu
einem in doppelter, eckiger Hufeiseuform erbauten, ein-
stöckigen Hause, an dessen Wand der stolze Name „Albergo
la croce di Savoia“ prangt; es ist ein Gasthaus, das vom
Staate verpachtet wird und zahlreichen Reisenden aus fernen
Landen als Absteigequartier, sowie seit acht Jahren einer
starken, der besten Gesellschaft Italiens angehörenden Ko-
lonie von Erholungsbedürftigen während der Sommer-
monate zu längerem Aufenthalte dient; denn Vallombrosa
ist in neuester Zeit als klimatischer Kräftigungs-, wenn
nicht Kurort so in Mode gekommen, daß in der Zeit von
Mitte Juni bis Mitte September stets die 49 Wohnzimmer
des „Albergo" sammt denen des auf einer Felsplatte hoch über
dem alten Kloster malerisch thronenden Häuschens — des
Paradisino — und denen des 1885 erbauten „Villino Me-
dici“ kaum ausreichen, um die Zuströmenden zu beherbergen.
Und das darf uns nicht Wunder nehmen; denn die
Höhenlage von 967 m über dem Meere, die ozonreiche
Luft, die bis 10° R. unter der von Florenz liegende
Temperatur, herrliche Tannenwälder, hie und da mit dicken
weichen Moospolstern, und saftige Wiesen, die beide ja in
Italien so ungemein selten sind, und neben dem wilden, erst
in einem prächtigen Falle und dann über eine Reihe künst-
licher Stau-Terrassenstufen herabschänmendcn Vicano eine
Anzahl der trefflichsten Ouellen von 7,4 bis 11° Tempe-
ratur im August — ergeben eine Summe der denkbar gün-
27*
Dr. Oskar Schneider: Vallombrosa.
cm
stigsten Bedingungen, die noch unterstützt werden durch die
Nähe der Eisenbahn und der Stadt Florenz. Die Be-
köstigung in dem Gasthause ist recht gut, die Zimmer aber
sind in jeder Hinsicht, etwa mit Ausnahme der geräumigen
Betten, sehr bescheiden; doch giebt auf sie bekanntermaßen
der Italiener wenig. Die Preise müssen, da alle Nahrungs-
mittel heraufgeholt werden müssen, mit 7 Lires im Früh-
jahr und 9 bis 10 Lires während „der Saison" für volle
Pension, den Tischwein mit inbegriffen, sicher für mäßig
erklärt werden. An einer Auswahl leicht gangbarer be-
gnemer Spazierwege fehlt es; es sind deren thatsächlich
nur zwei vorhanden, deren einer zum „Saltino" an dem
kahlen Westgehänge führt, das den freien Ausblick ins
Arnothal oberhalb und bei Florenz gestattet, während der
andere nach Norden zum „Lago" läuft, einem kleinen See
in der Richtung nach Pratovecchio hin; der Italiener liebt
es aber auch nicht zu gehen, sondern begnügt sich damit,
sich mit einem Stuhle in den Schatten der Bäume zu setzen.
Zum Winterkurort wird sich Vallombrosa nie eignen, da es
— in fast 1000 m Höhe am Nordabhange des Bergstockes,
und dazu, wie schon der Name sagt, schattig gelegen — kalte
und schneereiche Winter und rauhe, regnerische Frühlinge
hat, wie wir in der ersten Hälfte des April so zur Genüge
erfuhren, daß der mächtige Wärmtopf (der „scaldino“) den
wir des Abends zu unserer Ueberraschnng und Erheiterung
im Bette vorfanden, dann allabendlich von uns froh begrüßt
wurde. Bei den Italienern ist es sogar sprüchwörtlich ge-
worden, daß Vallombrosa drei Monate frisch und neun
Monate kalt sei, doch beträgt die mittlere Jahres-Tempe-
ratur immerhin 7° C., und selten sinkt das Thermometer
Das Hauptgebäude nebst dem Paradisino.
bis 8° unter Null. Im April blühten in Wald und Wiese
unsere Frühlingsblumen oder deren Verwandte, wie beide
Veilchen, die gelbe Primula acaulis, Crocus vernus, Cory-
clalis cava, Scylla bifolia und die grüne Nießwurz, und
eine Waldlichtung bot beide Morchelarten zum Mittags-
tisch. Ungemein angenehm aber ist der Aufenthalt dort im
eigentlichen Sommer, wo auf genügend warme und doch
erfrischende Tage zauberisch schöne stille, milde Abende und
Nächte folgen, in denen unzählige der hell aufflammenden
südlichen Leuchtkäfer geisterhaft lautlos und in unregel-
mäßigem Fluge über den matt erhellten Wiesenplan wie
durch das tiefe Dunkel des hochstämmigen Waldes und das
dichte Gehege der jungen Nadelholzpflanzungen schweben.
Bis vor wenigen Jahrzehnten hat das damals weit
kleinere Haus des heutigen „Albergo" den Frauen, die nach j
Vallombrosa wallfahrten kamen und, der strengen Regel
gemäß, im Kloster nicht übernachten durften, zur Wohnung
gedient, weshalb es heute noch im Munde des Volkes
„foresteria delle donne“ genannt wird.
Die Vollendung des weitläufigen, im Ganzen archi-
tektonisch nicht werthvollen Hauptgebäudes mit seiner statt-
lichen Fassade, höheren und niedrigeren Eckthürmcn, einer
im Innern mit Gold und Marmorskulptur überladenen
Kirche und einem von einer hohen Mauer mit alten Eck-
schutzthürmen eingehegten großen Vorhofe soll erst im
Jahre 1637 erfolgt sein, doch datirt die feste Ansiedelung
an diesem Platze aus viel älterer Zeit. Schon im vorigen
Jahrtausend scheint das Berggehänge, wie des Ortes alter
Name „Aqua bella“ verräth, kräftiger Heilquellen halber
besucht worden zu sein, die erst 1205 durch einen gewaltigen
Dr. Os'kar Schneider: Vallombrosa.
213
Bergsturz verschüttet worden sind; auch haben bereits zur
Zeit der Christenverfolgungcn die dichten Wälder des
Casentin von heidnischer Wuth Gehetzten zur Zuflucht ge-
dient und dieselben als Einsiedler dann festgehalten. 1039
befanden sich daselbst noch zwei solche Anachoreten, die ans
dem kleinen vorspringenden Felsplateau des heutigen Para-
disino oder der „Oollo“ hausten; und wahrlich, die Welt-
verächter hatten sich, wie das ja die Mönche meist gethan,
einen beneidenswerthen Wohnsitz erwählt, der sie wohl mehr
zu äußerer als zu innerer Betrachtung geführt haben mag.
Da oben, in 90 Meter Höhe über der Bodensläche des
Klosters hat man, insbesondere am Morgen, nach Westen
hin ein entzückend schönes Bild, denn der von solcher land-
schaftlichen Pracht trunkene Blick schweift über die dunklen
Tannen- und lichteren Kastanienwälder und die hellgrünen
Wiesenteppiche hinab zu dem ftüdtebesetzten Arnothal mit
dem malerischen Florenz und darüber hinaus nach Nord-
westen zu dem vom Monte Cimone überragten toskanischen
Apennin und den vom blauen Duft der Ferne überhauchten,
zackigen Appuanischen Alpen, den Marmorbergen von
Carrara, und nach West über das Toskanische Hügelland
bis zum glänzenden Spiegel des Meeres bei Livorno. Noch
weit großartigere Aussicht gewinnt man natürlich, wenn
man durch Tannenwald und erst hochstämmigen, allmählich
aber in Buschform übergehenden Buchenhain aus leichtem
Wege hinaufsteigt zu der „gsccbolta“ — dem Gipfel des
Taborra — wo sich auch der Blick nach Osten in das ruinen-
reiche oberste Arnothal erschließt.
Än jenem Jahre 1039 nun ließ sich Giovanni Gual-
berto, ein ritterlicher Sprößling des reichen und angesehenen
Albergo" und Straße nach Vallombrosa.
Florentiner Hauses Bisdomini, das Gebiet von der Be-
sitzerin, der Aebtissin Ita des Nonnenklosters Sant Ellero
im Arnothale, schenken, die der Grafenfamilie Guidi, den
ehemaligen Beherrschern des ganzen Casentin entstammte,
— und gründete in der Waldeinöde von Aqua bella mit
einigen Gleichgesinnten ein Kloster des Benediktinerordens
mit strenger Ziegel. Darüber berichtete besonders im An-
fang des 14. Jahrhunderts der Mönch Giovanni di Ca-
tignano in seinem „Eremo di Vallombrosa“, auf den
sich später Fedele Goldani in seinem Manuskript-Codex
„(Questioni stori obo cronologiche Vallombrosane“
stützte, sowie später der irische Mönch Heinrich Ugford, der
in der „Celle“ wohnte und sich außerdem dadurch Berühmtheit
erworben hat, daß er die Kunst des Arbeitens in den später
zn erwähnenden „scagliola“ gefördert und zu größtmöglicher
Vollendung geführt hat; eine bildliche Darstellung jenes
Schenkungsaktes aber lieferte der Mönch Arsenio Mascagni
1609 in einem großen, heute noch in der Bibliothek von
Vallombrosa aufbewahrten Oelgemälde.
Die Ereignisse, welche zur Gründung unseres Klosters
führten, schildern jene alten Quellen folgendermaßen:
Giovanni Gualberto hatte sich als Jüngling einem aus-
schweifenden, wilden Leben ergeben; da wurde ihm durch
die Ermordung seines Bruders die Pflicht der Blutrache
auferlegt, die nun sein ganzes Denken und Streben voll-
ständig beherrschte. Als er nun am Charfrcitag, begleitet
von Bewaffneten, in einem Hohlwege ans den glühend ge-
haßten Mörder traf, stürzte er sich auf ihn, um ihn zu durch-
bohren; der Bedrohte aber flehte knieend um Gnade, indem
er die Arme in Kreuzesform vor sich hielt. Da gedachte
214
Dr. Oskar Schneider: Vallombrosa.
Giovanni des sterbenden Heilandes, hob den Gegner auf,
umarmte ihn und gewährte ihm Verzeihung. Als er sich
darauf in die nahe Klosterkirche von San Miniato begeben
und vor dem Bilde des Gekreuzigten niedergeworfen hatte,
wurde ihm von Gott die Weisung zu Theil in den Orden
einzutreten. Er gehorchte und gelangte bald zu solchem
Ansehen, daß man ihn nach dem Tode des Abtes von San
Miniato zu dessen Nachfolger wählte; unzufrieden mit dem
freien Leben, das in dieser Benediktiner-Abtei herrschte,
schlug er die ihm angetragene hohe Würde ans und begab
sich mit einigen Genossen in den Casentiner Wald, um da-
selbst einen Orden mit strengerer Regel zu stiften. Der
Ruf seiner Frömmigkeit drang bald bis zu Papst Leo IX.
der ihn aufsuchte. 1070 erhielten die Regeln des Vallom-
brosancr-Ordens die Billi-
gung des heiligen Stuhles
und bei dem Tode seines
Stifters zählte das Kloster
bereits 12 Filialen. Auch
weiterhin, im 12. Jahr-
hundert, hob sich der Ein-
fluß der Genossenschaft
mehr und mehr, so daß
Giovanni Gualberto 1193
vom Papst Constantin III.
heilig gesprochen wurde.
Als dann 1235 die Nonnen
von Saut Ellero besserer
Zucht halber in ein anderes
Kloster versetzt wurden, ver- .
lor deren Aebtissin auch
das bis dahin geübte Recht,
die Aebte von Vallombrosa
zu bestätigen. Inzwischen
war auch der Reichthum
des Klosters durch Schen-
kungen der bekannten Gräfin
Mathilde und vieler edler
Toskaner, bestätigt durch
Kaiser Otto II. im Jahre
1210, gewaltig gestiegen,
und der Abt hatte durch
den Letztgenannten den Titel
und Rang eines Grafen von
Magnale und eines Mar-
chese von Monteverdi er-
halten. Die Kapellen mit
den Reliquien füllten sich
mit kostbaren Geschenken
der Wallfahrer; und werth-
volle Gemälde von Peru- Das Paradisino
gino, — der eigens für
den Altar der Klosterkirche eine berühmte Himmelfahrt
und außerdem zwei Mönchsköpfe malte, die lange als
Werke Raphaels galten —, von Arsonio, Maseagni, Fab-
briui, Franccschini und Sabatclli schmückten die Kirche
und die Bibliothek, welche einen Schatz seltener Werke an-
sammelte. Viele der Mönche selbst arbeiteten in Wissen-
schaft und Kunst, zu Zeiten besonders in der Herstellung
von „scagliola“, d. i. von auf künstlich aus dem Vallom-
brosaner Kalkschiefer zusannnengesetzten und geschliffenen
Steinplatten gemalten und mit einer porzcllanartigen Glasur
versehenen Bildern, deren das „Albergo" jetzt noch eine An-
zahl besitzt. In alledem wetteiferte Vallombrosa erfolgreich
mit den beiden anderen heiligen Klöstern der alten Casen-
tinischen Herrschaft zu Camaldoli und La Verna, deshalb
pries es Ariost als „eine Abtei, reich und schön, ebenso
fromm wie gastfreundlich"; und auch Milton, der im Schatten
feiner Wälder sein „Verlorenes Paradies" plante und zum
Theil dichtete, verewigte es in diesem Epos.
Dieses stolze Klosterleben fand nach der Einigung
Italiens ein plötzliches und schnelles Ende. Die Klöster
wurden aufgehoben, und der Verkauf der Kirchengüter be-
gann; da man aber das monumentale Gebäude zu Vallom-
brosa und die von den Mönchen musterhaft gepflegten
Wälder zu erhalten und nutzbar zu machen wünschte, so
beschloß die italienische Regierung, ein Forstinstitut, dessen
das geeinte Königreich noch entbehrte, einzurichten und in
das Vallombrosaner Kloster zu legen. So wurden denn
die dortigen Mönche, an Zahl damals noch etwa 60, ver-
trieben, die meisten Gemälde und die Schätze der Bibliothek,
mit Ausnahme besonders
einer Sammlung alter
Kupferstiche Vallombrosas
von der Hand Antonio
Donati's, nach Florenz
in die Staatssammlungen
übergeführt, und die leeren
Räume mit dem weiten
Grundbesitz von 1450 ha
im April 1869 der Forst-
verwaltung übergeben, die
am 15. August desselben
Jahres mit zwei Professoren
und 25 Schülern das In-
stitut eröffnete, dessen Direk-
tor, der tüchtige Forstwirth
Bsrenger, mit Feuereifer
die Festigung und Hebung
der jungen Anstalt erstrebte.
Nur drei Mönche, deren
einer die priesterlichen
Pflichten zu erfüllen hat,
ein zweiter auch fernerhin,
wie feit Jahrzehnten, den
Beobachtungen in den beiden
mit allen nöthigen Instru-
menten wohl versehenen
meteorologischen Stationen
obliegt, wurden im östlichen,
der Kirche benachbarten
Flügel geduldet, in die
Zellen des mittleren und
westlichen Theiles aber zog
weltliches Volk, und im
alten Refektorium blicken
die würdevollen Aebte des
bei Vallombrosa. altehrwürdigen Vallombro-
saner-Ordens in ernstem
Schweigen von den Wänden herab auf den jungen Nach-
wuchs von Forstleuten des ncngeeinten Italien. Auch hier
erwies sich die Wahrheit jenes „tsinpi passati, tempi
passatü“, das Victor Emanuel dem Kardinal Trevisanato
in Venedig entgegnete, als dieser ihn in rücksichtslos über-
müthiger Weise an die Demüthigung des Kaiser Barbarossa
vor Papst Alexander III. erinnerte.
Zum königlichen Forstgebiete gehört außer jenen 1450
Hektaren auch die von Vallombrosa etwa eine Stunde ent-
fernte „Casadel Lago“ von einem noch etwas tiefer, inmitten
von Tannen und Eiben liegenden kleinen Sec benannt, —
ehemals ein Jagdschlößchen der Herzöge aus dem Hause
Medici, das einst der berühmten Bianca Capello, der
Geliebten und späteren Gemahlin des Franzcsco de Medici
als Aufenthalt gedient haben soll, sowie das Schloß von
Dr. Oskar Schneider: Vallombrosa.
215
Paterno, welches, wie schon oben bemerkt worden, dem
ersten Plane nach die Forstakademie während des Winters
beherbergen sollte, da sich die Heizvorrichtungen in dem
alten Kloster gegenüber der dort auftretenden Winterkälte
als ungenügend erwiesen. Die Mönche mögen durch
in den Versammlungssälen unterhaltene Kaminfeuer, durch
mächtige Wärmtöpfe und — Gewöhnung über die rauhe
Zeit hinweggekommen sein.
Seit 1869 haben die Lebensbedingungen der Forst-
anstalt manche Aenderung, leider nicht immer zum Besseren,
erfahren. Der thätige Forstmann Bärenger wurde durch
einen Mathematiker als Direktor ersetzt, was bei einem
Forstinstitute denn doch einen entschiedenen Mißgriff be-
deutete. Die Jahreskurse schrumpften auf — allerdings ferien-
lose — achtmonatliche Kurse (vom 15. März bis 15. No-
vember) zusammen, wodurch man die umständliche Verlegung
der Anstalt in ein wärmeres Winterquartier vermied, das
Studium aber durch wohl allzu lange Pausen unterbrach.
Das Alter der aufnahmefähigen Zöglinge wurde von 18
auf 16 Jahre herabgesetzt und die Lernzeit für diejenigen,
welche ein italienisches technisches Institut oder ein Lyceum
durchlaufen haben, von drei auf zwei Kurse herabgemindert *).
Die naturwissenschaftlichen Sammlungen, welche ich sah,
waren sehr dürftig, ungeordnet und in traurigem Erhaltungs-
zustände, sollen aber jetzt bedeutend vermehrt und ergänzt,
und unter der thätigen Leitung des gegenwärtigen Ver-
treters der Naturwissenschaften durchaus wissenschaftlich
klassificirt und in beste Ordnung gebracht sein; eine schöne
Hölzersammlung, die einer der Weltausstellungen entstammte,
war nutzlos, weil das Verzeichniß abhanden gekommen.
Sehr gut sollten schon 1884, auch nach dem Urtheile eines
deutschen Forstmannes, der Vallombrosa besucht hat, andere
Theile der Lehrmittelsammlungen sein, vornehmlich die
Modelle von Transportvorrichtungeu und die forstlichen
Meßinstrumente; sie waren im Frühling jenes Jahres in
Turin zur Ausstellung. Recht ansehnlich ist auch die Forst-
bibliothek, in welcher die betreffende deutsche Fachliteratur
besonders gepflegt erscheint. Der Unterweisung in der
Fischzucht dient eine entsprechende Vorrichtung, die jedes
Jahr mit einigen Tausend Forelleneiern aus der italienischen
Schweiz besetzt wird, die erzielte Fischbrut bevölkert dann
die nahen Gewässer. In den beiden Teichen am Institut
werden, wie zur Zeit der Mönche, denen sie Fastenspeise
boten, Fische gehalten, und im Winter liefern dieselben
große Mengen von Eis, das in mehreren Kellern auf-
gestapelt und im Sommer zum Theil nach Florenz verkauft
wird; der Abfluß treibt eine uralte, neuerdings verbesserte
Sägemühle.
Steht nun auch die Vallombrosaner Forstschule zweifel-
los den verwandten Anstalten Deutschlands nach, so wird
man das doch im ganzen weniger dem Lehrerpersonale als
dem allgemeinen Stande des Forstwesens in Italien zu-
schreiben müssen; jedenfalls thun fo manche der Professoren
ihre Pflicht aufs redlichste, vor allen der Vertreter des wichtig-
sten Lehrzweiges — der Forstwissenschaft —Professor Perona
der in Vallombrosa und Tharand seine Studien gemacht,
auch bei Königstein ein Jahr laug praktisch gearbeitet hat
und nun neben seiner Lehrtätigkeit die zu Unterrichts- und
Vermehrungszweckcn bestimmten Baumschulen verwaltet, bis
vor kurzem auch mit der Forstinspektion des Florentiner-
Kreises betraut und belastet war. Er zieht zur Aufforstung
öder Flächen in dem „Yivajo foréstale“ hauptsächlich die
europäischen Tannen-, Fichten- und Kiefernarten sowie I
I Infolge des Gesetzes vom 1. März 1888 ist die Zahl
der Kurse aus drei, bezüglich vier erhöht und ein besonderer
Unterricht über die Aufforstungsarbeiten und über die Korrek-
tion der Wildbäche eingeführt worden.
Lärchen, Rothbnchen, Ahorn und Linden, auch sommergrüne
Eichen und einige ausländische Nadelhölzer, vornehmlich
Abies Douglasi und Smithiana, Pinus strobus und
excelsa, sowie Cedrns Deodara. Das nur dem Unter-
richte dienende „Arboretum“ birgt auf vier Hektaren Land
jetzt etwa 1000 Pflanzenarten.
Nach dem neuen Regulativ vom 31. Januar 1887
besteht das Lehrerpersonal ans acht ordentlichen Professoren
und zwei Assistenten, und zwar aus je einem Professor für
Forstwissenschaft (mit einem Assistenten), für forstliche
Mathematik, Mechanik und Baukunde, für reine Mathe-
matik, Vermessungskunde und Zeichnen, für Zoologie und
Botanik, für Chemie, Mineralogie und Landwirthschaft
(mit einem Assistenten), für Rechtskunde, für italienische
Literatur und für deutsche und französische Sprache. Dabei
mag bemerkt werden, daß der deutschen Sprache in dem
Lehrpläne verhältnißmäßig viel Zeit eingeräumt ist, weil,
wie der Regierungs-Erlaß besagt, „der hohe Grad der
Vollendung, den die Forstwissenschaft und der forstliche
Betrieb in Deutschland erlangt haben, und die Fülle der
Bücher und Zeitschriften, die auf diesem Gebiete und über
einzelne Zweige der Forstwissenschaft dort beständig er-
scheinen, die Kenntniß der deutschen Sprache für die Zög-
linge zum dringenden Bedürfniß machen“.
Die Studenten, an Zahl durchschnittlich 30, gegenwärtig
aber 40, sind uniformirt und leben in strengem Internat, das
jedoch, wie ich im Jahre 1873 selbst sah, des abends ge-
legentlich durchbrochen wurde, um den verpönten Besuch der
nächsten Ortschaften zu ermöglichen, — was ja bei unsern
geschlossenen Anstalten auch geschehen soll. Die Kosten
für den Jahreskurs sammt Wohnung und Verpflegung be-
tragen 700 Lires. Am Schlüsse jedes Kursus ist eiu
Examen zu bestehen; wer aus der Reifeprüfung am Ende
der ganzen Studienzeit mit dem besten Zeugniß hervorgeht,
kann von der Regierung zur Vervollständigung seiner
Studien auf einige Zeit nach dem Auslande gesandt werden.
Jedes Jahr wird unter Führung eines der Professoren ein
wissenschaftlich-praktischer Ausflug, zumeist nach anderen
Waldgebieten unternommen. Die Jagd ist Lehrenden und
Lernenden, mit seltenen Ausnahmen, verboten und sehr wenig
lohnend, wurden doch in zwei aufeinander folgenden Jahren
zusammen nur vier Hasen erlegt; auf Erlegung der Eichhörn-
chen aber ist Schußgeld gesetzt, weil dieselben den Tannen-
spitzen schaden. Die jungen Forstleute lernen deshalb gar-
nicht schießen, dagegen hatten sie zeitweilig Uebungen im Floret-
fechten. Um tüchtige Unterbeamte zu erzielen, wurden in
letzter Zeit zweimal auch die Forstaufseher nach Vallombrosa
berufen, zu dreimonatlichen Kursen, welche ebenfalls Professor
Perona geleitet hat.
Als ein großer Mangel muß bezeichnet werden, daß der
Wald des alten Klosters nicht unter der Botmäßigkeit des
Institutes steht, sondern mit durch den Forstinspektor von
Florenz verwaltet wird, weil in dem erfahrungsgemäß nicht
seltenen Falle, daß die Direktion der Anstalt und die Forst-
verwaltung auf gespanntem Fuße stehen, der Wald als
Ganzes und in seinen Baumindividnen nicht als Lehrmittel
benutzt werden kann.
Der Boden fast des ganzen Vallombrosaner Wald-
gebietes ist tertiärer, zum Theil mergeliger Sandstein, der
in eine sehr fruchtbare, sandig-thonige Erdmasse zerfällt.
Der Betrieb der Forstwirthschast verdient volle An-
erkennung. Alle zehn bis zwölf Jahre werden die Kastanien
abgeholzt, vornehmlich zur Gewinnnug von Weinpfählen.
Das Ast- und Abholz wird zu Holzkohle gebrannt, und
zwar gewinnt man aus den schwächeren Stücken die „braee“
genannte Kohle für den kleinen Würmtopf („veggio“) den
hauptsächlichsten Wärmeapparat der mittel- und süditalieni-
216
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küsteiwölker.
schen Zimmer; es wird zu diesem Zwecke bei reichlichem
Luftzutritt verkohlt und vor dem völligen Verbrennen mit
Wasser abgelöscht, wodurch ein Brennmaterial erzielt wird,
das keine schädlichen Gase liefert und deshalb keinen Kopf-
schmerz erzeugt. Die beim Niederschlagen des Kastanien-
busches stehen gelassenen, zu Oberholz bestimmten Stämmchen,
die sogenannten Laßrcitel, werden, wenn sie ausgewachsen,
zu Bauholz, zum größten Theile aber zu Telegraphenstaugen
verwerthet. Außerdem werden besondere reine Bestände von
Kastanien angepflanzt und durch Pfropfen veredelt; sie liefern
dann die bekannten „marroni“ und andere Eßkastanien.
Den wichtigsten Theil des Forstes bildet der mächtige,
etwa 700 ha bedeckende Edeltannenwald, der nach einem
bestimmten Wirthschaftsplan ausgenutzt wird. Das Wachs-
thmn der Bäume ist besser als im mittleren Europa, so
daß mau bei achtzigjährigem Umtriebe Stämme von 30
bis 45 na Höhe gewinnt. Die starken Tannen finden zum
Schiffsbau, die übrigen zu Sägholz guten Absatz. Der
Verkauf geschieht stets auf dem Fuße durch Auktion, so daß
die Käufer die niederzulegende Waldparzelle selbst fällen
müssen. Die des Astwerks beraubten Stämme wurden
früher durch Ochsengespanne, die theils vorn zogen, theils
hinten hemmten, nach Sant Ellero zu Thal geschleift und
von da auf dem Arno verstößt; jetzt aber hat letzteres längst
aufgehört, angeblich, weil der Wasserstand des Flusses diese
Transportweise nicht mehr gestattet, vielleicht aber auch,
weil die Flößerei die Ufergelände, besonders die Eisenbahn-
dämme zu sehr schädigt, und damit ist auch das Ab-
schleifen außer Brauch gekommen. Heutzutage zieht man
das Holz nur bis auf die Hauptwege und schafft es dann
durch mit Mauleseln bespannte Karren weiter. Außer dem
Tanneuforste von Vallombrosa besitzt die italienische Re-
gierung deren noch zwei im Toskanischen Apennin, bei
Camaldoli unfern der Faltcroua, wo Arno und Tiber ent-
springen, und bei Boscolungo oder Abctone, unfern des
Monte Cimone, an der Höhe des Passes, der Toskana mit
Modena verbindet. Von forstschädlichen Insekten soll in
diesen Revieren loniieus ourvickons, der sonst in großen
Tanneubeständen häufig verheerend auftritt, selten sein, da-
gegen treten Cryphalus Piceae und Pissodes Piceae
häufiger, und deshalb als gefährlichere Feinde aus.
Neben und zwischen den Tannen hat man in Vallom-
brosa einzelne Zirbelkiefern und versuchsweise auch ganze
Wäldchen von Lärchen und Kiefern ihres raschen Wuchses
und ihrer Genügsamkeit halber angepflanzt, doch hat sich
das erzielte Holz als geringwerthig erwiesen.
Die Buchen steigen etwa von 1150 bis zu 1400 m au
und werden zumeist nur auf Brennholz verwerthet. Der
Pächter der Sägemühle muß, dem mit ihm geschlossenen
Vertrage gemäß, alles dürre Holz zu bestimmtem Preise für
den Kubikmeter übernehmen und das' der Forstverwaltung
nöthige Schnittholz umsonst liefern. Der über der Buchen-
grenze liegende, völlig bäum- und strauchlose Rücken des
Taborra ist gleich dem des ganzen „Prato maZno" wie auch
letzterer Name besagt, gleichmäßig mit einer niedrigen, fil-
zigen Grasnarbe bedeckt, die, wie es scheint, nicht zur Vieh-
weide verwendet wird.
In wissenschaftlicher Hinsicht hat das Waldgebiet von
Vallombrosa im Lause der letzten Jahrzehnte noch dadurch
besondere Bedeutung erlangt, daß es, vornehmlich durch
deutsche Forscher, als ein ausfallend reicher Fundort seltener
und interessanter Küfer bekannt geworden ist. So knüpft
sich denn an dasselbe ein sehr vielseitiges Interesse, bedingt
durch die landschaftliche Schönheit dieses waldigen Berg-
gehänges, durch sein erfrischendes Sommerklima, durch die
praktische Bedeutung des Forstes und der Forstschule, durch
die historischen Erinnerungen, welche das alte Kloster in
uns wachruft, und durch den Reichthum an wissenschaftlich
werthvollen Klcinthieren. Den letzteren einigermaßen aus-
zubeuten, bedarf es natürlich eines längeren Aufenthaltes;
das Verständniß all des klebrigen aber kann durch einen
kürzeren Besuch erschlossen werden, der, wenn die Zeit drängt,
von Florenz aus selbst in einem Tage ausgeführt werden
kann. Wir sind überzeugt, daß jeder, der einen solchen
Ausflug unternimmt, sich in hohem Grade belohnt finden
wird.
Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
Von Dr. F. Boas in New Jork.
VH.
(Mit zwei Abbildungen.)
Wenn schon bei' den Kwäkiütl die Beziehung zwischen
Abstammung und Totem undeutlich war, so tritt dieses bei
den Küsten-Selisch noch mehr hervor. Nur die Qatlöltx,
welche sich in allen Beziehungen an die Kwakiütl an-
schließen, machen eine Ausnahme hiervon. Wir haben bei
diesen Völkern keine Sagen mehr, welche von einer Ab-
stammung von Thieren oder Gestirnen erzählen, sondern
die Ahnen wurden in Menschengestalt vom Himmel herab-
gesandt. Auch wird der Gebrauch von Masken und Schnitze-
reien hier weit weniger allgemein. Der Donnervogel,
welcher sich noch auf vielen Schnitzereien findet, erscheint
anders stylisirt, die Pforten der Häuser stellen meist Ahnen
dar, — Menschen mit riesigen Hüten — oder Seehunde,
welche im Wasser umherschwimmen. Bei den Qanitschin
scheint nur das vornehmste Geschlecht, das von Siälatsa
ein Wappen zu haben, nämlich den Donnervogel. Ich lasse
hier die bezügliche Sage folgen, welche zeigt, wie durchaus
verschieden der Charakter desselben von der der nördlichen
Stämme ist.
8ialatsa.
Im Anfange war die Erde unbewohnt. Da aber kam
Siälatsa vom Himmel herab nach Vätsa (Quämitsin*(2ee)
und baute ein Haus daselbst. Am folgenden Tage stieg
Swutläq vom Himmel herab, dann eine Frau namens
Qolätsiwat. Am nächsten Tage kam Suqsäqulaq, daun
Squelem, Siäiimqen, Kto^sin, Heuqen, Xtläset, Vaiot-
semqen und Vuite^ten jeder an einem Tage vom Himmel
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
217
herab. Sie gingen nach Tsúqola nnd bauten Häuser.
Siálatsa aber trug einen bemalten Stab, vermittelst dessen
er Ungeheuer zu todten vermochte und Kranke heilte. Sein
Gesicht mar bunt bemalt mit rother und schwarzer Farbe.
Zuerst traf er einen 8'etlke (doppelköpsige Schlange). Er
ließ seine Leute eine Fichte fallen und zerschlagen. Dann
gruben sie ein tiefes Loch, in welches sie das Holz warfen.
Siálatsa ging nun aus, lockte den 8'stlkö in die Grube,
und dort wurde er verbrannt. Nun sandte er Swutláq
den Fluß hinab. Dieser traf bei T'aetsela den Sts’enkoa,
nahm einen Stab aus hartem Holze nnd spießte die Zunge
des Ungeheuers daran aus. Trotzdem verfolgte ihn der
Sts’enkoa, jedesmal aber, wenn er Svutláq beinahe ein-
geholt hatte, stach dieser ihn in die Zunge. So erreichte
er sein Haus, vor welchem sich das tiefe Loch befand.
Sts’enkoa fiel hinein und wurde ebenfalls verbrannt. Dann
ging Swutláq zu dem steilen Felsen Xnknknlas in Maple
Bay und tödtete dort einen anderen 8'étiké, welcher daselbst
wohnte.
Einst ging Swutláq nach Hánarnen bei Sámenos und
sah daselbst viele Lachse. Er theilte Siálatsa mit, was er
gesehen hatte. Da gingen sie zusammen nach Qáuamen
und bauten ein Haus. Siálatsa ließ einen Baum fällen
und das untere Ende brennen und zuspitzen. Swutláq
stellte dann den Baum aufrecht an einer Seite des Flusses
und stellte einen zweiten ebenso an der anderen Seite des
Flusses ans. Einen dritten Stamm legte er quer über
die beiden ersten und band ihn fest. So machte er das
erste Lachswehr, und die Menschen hatten reichlich Nahrung.
Siálatsa sah nun viele Hirsche und dachte nach, wie er
dieselben fangen könne. Er ließ seine Leute in den Wald
gehen und Cedernzweige holen. Dann befahl er ihnen, die-
selben zu erwärmen und Seile daraus zu machen, aus denen
er ein Netz herstellte. Niemand aber wußte, was er damit
thun wolle. Als das Netz fertig war, ging er mit den
Leuten in den Wald und ließ sie das Netz zwischen den
Bäumen aufhängen und oben an einen Querbalken be-
festigen. Dann ließ er die Hirsche gegen das Netz treiben
und tödtete sie, wenn sie sich darin gefangen hatten. Als
die Leute aber auch Elenthiere hineintrieben, brachen die-
selben durch die Netze, denn sic waren sehr stark. (Nach
anderer Version brachen die Cedernseile, als sie trocken
wurden.)
Da sann Siálatsa nach, wie er nun Hirsche fangen
könne. Er wußte aber, daß auf dem Berge Swu^’ás das
Ungeheuer Stlálaqem wohute, welches ein nadelscharscs
Horn im Genick trug. Er ging nun mit allen seinen
Leuten ans den Berg. Als diese das Ungeheuer erblickten,
liefen sie voll Schrecken von dannen. Siálatsa aber sprach:
„Was fürchtet ihr end)?“, nnd ging auf das Ungeheuer zu,
indem er sich auf seinen Stab stützte. Da schlief dasselbe
ein. Er berührte es mit dem Stabe und nannte eö Woq’as.
Er kraute es auf dem Kopfe, und Woq’as bewegte vor
Behagen die Ohren.
Dann ließ er zehn Leute ein Seil aus Cedernzweigen
machen und legte dasselbe Woq’as über den Nacken. Zehn
Leute hielten das Seil und führten ihn herab nach Tsúqola.
Dort fanden sie viele Hirsche und Elenthiere. Als Woq’as
dieselben witterte, wollte er sich auf sie losstürzen. Die
zehn Leute aber hielten ihn fest, bis Siálatsa ihnen befahl,
das Seil loszulassen. Sogleich stürzte sich Woq’iis auf
das Wild und tödtete es, indem er den Thieren das Horn in
den Bauch stieß. Siálatsa ließ nun die Hirsche abziehen und
befahl den Leuten, die Rückensehnen zu spalten und mit
Steinen weich zn klopfen. Dann ließ er Seile daraus
machen und ein neues Netz flechten. Als die Leute dasselbe
aber aufstellen wollten, zeigte es sich, daß es zu klein war.
Globus LIV. Nr. 14.
(Nach einer anderen Version brieten und aßen die Leute in
einer Hungersnoth das Netz.) Darüber ward Siálatsa
sehr zornig und legte sich ins Bett. Ein kleiner Knabe,
welcher im Dorfe spielte, kam in das Haus und sah ihn
zornig im Bette liegen. Da fürchtete er sich, lief hinaus
und erzählte es den Leuten. Die Leute versammelten sich
alle in einem Hause und sprachen zu einander: „Siálatsa
zürnt uns und wird Woq’as auf uns hetzen, laßt uns lieber
auswandern, Xaiotsémqen, Xtláset, Héuqeu, Kto^sin,
Xoú^otsin und Susq’emén wanderten nach S^uélen am
Mnaimo-Flusse aus und wurden die Stammväter der
Snanaimu^. (Diese Namen stimmen nicht mit denen der
Snanaimn^-Geschlechter überein, wie ich dieselben in
Nanaimo selbst erkundete.) Zehn andere gingen nach Sküts
und wurden die Stammväter der Xólquisala; wieder zehn
gingen nach S’élaqoatl und wurden die Ahnen der Tsi-
ménes.
Am nächsten Morgen, als Siálatsa sich erhob, fand er,
daß niemand mehr dort war und wußte nicht, wohin die
Leute gegangen waren. Auch Woq’as, den er Tags zuvor am
Hause festgebunden, war verschwunden. Da ging Siálatsa
nach Qauaimen bei Sámenos und baute sich ein neues
Haus.
Zu jener Zeit lebte auch in Sáok ein Häuptling, welcher
vom Himmel herabgestiegen war. Derselbe hatte eine
Tochter. Eines Tages sprach er zn dieser: „Iß nicht zu
viel, denn ich glaube, Siálatsa wird kommen nnd dich zur
Frau begehren. Ich weiß, in seinem Lande giebt es keine
Frauen.“ Das Mädchen gehorchte, da aber Siálatsa nicht
erschien, ward sie ungeduldig. Sie füllte einen Korb mit
Beeren und Seehuudsflcisch und ging mit einer Sklavin
aus, ihn zu suchen. Nach langer Wanderung kam sie aus
dem Gipfel der Berge an der Südseite des Hauitsellin-Thales
an. Von hier ans sah sie in Sámenos und Qumiéqen
Rauch aufsteigen, und sie dachte, daß dort Siálatsa wohnen
müsse. Sie stieg zum Flusse hinab, und als sie daselbst
ein Lachswchr sah, dachte sie, Siálatsa müsse dasselbe ge-
macht haben. Nachts legte sie sich im Walde nieder und
schlief. Am nächsten Morgen sah sie einen Mann vorüber-
gehen, der trug einen Fellmantel und Bogen nnd Pfeile.
Da dachte sie, jener müsse Siálatsa fein. Sie schlich ihm
unbemerkt nach, um zu sehen, wo er lebe und was er thue.
Er ging in sein Haus und die Mädchen lugten durch eine
Ritze hinein. Da sahen sie, daß er sich eine Frau aus Holz
geschnitzt hatte, und daß er ihr zu essen gab. Als Siálatsa
nun wieder auf Jagd gegangen war, gingen sie ins Haus,
um die Holzfigur zu besehen. Da fanden sie, daß sie eine
Spindel in der Hand hielt und daß Siálatsa ihr Hirschfett
vorgesetzt hatte. Da aßen sie das Fett und versteckten sich.
Als Siálatsa nun zurückkam und fand, daß die Nahrung,
welche er der Holzfigur vorgesetzt hatte, verschwunden war,
freute er sich, denn er glaubte, sie würde nun lebendig
werden.
Am folgenden Morgen ging er wieder zur Jagd aus,
nachdem er seiner Frau Essen vorgesetzt hatte. Da kamen
die Mädchen aus ihrem Verstecke hervor. Die Häuptlings-
tochter zerbrach die Figur, warf sie ins Feuer und hing
sich ihre Kleider um. Die Sklavin aber versteckte sich im
Walde.
Als Siálatsa nun zurückkam, war er sehr erfreut, seine
Hokzfran lebendig zu finden. Bald aber erblickte er einen
Holzarm im Feuer und wußte nun, daß jene eine Fremde
war, die sein Schnitzwerk verbrannt hatte. Er ward so
zornig, daß er roth im Gesichte wurde und sagte nur: „Ts,
ts, ts, ts“ (inspirirt). Nach einiger Zeit dachte er, cs sei
doch besser, eine wirkliche Frau zu haben, als eine Holzfran,
und ward wieder guter Dinge. Am folgenden Morgen
28
.
218
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
rief die Frau die Sklavin aus dem Walde hervor und sagte: I
„Fürchte dich nicht, komme hier her au unser Feuer."
Als Siälatsa nun die Sklavin sah, wollte er sie auch
zur Frau haben, aber die Häuptliugstochter sprach : „Sie
ist eine Sklavin und nicht gut genug für dich. Gieb sie
einem deiner Leute." 8ia1ak8a war es zufrieden. Er rief
seine Leute zusammen und frug: „Wer von euch will dieses
Mädchen zur Frau haben?" Sogleich stürzten drei Männer
hervor, um sie zu nehmen. Einer faßte sie am rechten
Arm, einer am linken und der dritte um den Leib. „Halt",
rief da 8iatat8a, „nur einer von euch kann sie haben", und
er gab sie demjenigen, welcher sie um den Leib gefaßt hatte.
8ialat8a'3 Frau gebar ihm bald einen Sohn, dann drei
Töchter und dann wieder einen Sohn. Einst peinigten die
drei jüngsten Kinder die älteste Tochter, welche Tlqäisis
hieß, mit spitzen Stöcken, bis sie blutete und leckten dann
das Blut ab. Das Mädchen ward nun sehr krank. Da
ging 8ialat8a nach Qumieken hinunter, um Qutemilt^
und Skuäwules zu rufen, damit sie das Gesicht des Mädchens
bemalten und sie so heilten. Sie erwiderten ans sein Gesuch:
„Wir wollen unseres Bruders Bitte erfüllen und seiner
Tochter Herz stark machen." Sie gingen hinauf nach
Siälatsa’s Haus und bemalten das Gesicht seiner Tochter.
Dann kehrten sie nach Qumieken zurück.
Sie hatten aber das Mädchen zu viel bemalt, und ihr
Herz wurde zu stark. Sie verlor den Verstand. Eines
Tages weinte ihr Bruder und wollte keine Milch trinken.
Da dachte Tlqäisis, ich werde machen, daß er ißt. Sie
nahm einen Todtenkopf, öffnete ihn, nahm das Gehirn
heraus und gab es dem Knaben, der es gierig verschlang.
Und sie machte sich einen Korb mit Tragbändern, legte
Schlangen, Kröten und Eidechsen hinein, und hing ihn
über den Rücken. Unter ihrem Mantel verbarg sie scheuß-
liches Ungeziefer (wie einen Lachs auf Baumrinde lebend?)
und ging dann in die Häuser, in welchen Kinder weinten.
Sie frug dann das Kind: „Warum weinst du, du bist
wohl hungrig. Ich will dir zu essen geben"; nahm es
und steckte es in den Korb. Da umwanden es die Schlangen.
8ialat8a war der erste, der Mäntel und Felle ver-
schenkte. Er ließ zwei Männer auf ein Gerüst treten und
die Geschenke unter die eingeladenen Gäste vertheilen. Diesen
Gebrauch machte er zum strengen Gesetze und deshalb wird
er noch heute befolgt. Ferner lehrte er seiner Tochter den
Wintertanz und befahl ihr, denselben jedesmal im Monate
8aiemtqel8 zu tanzen. 8iälat8a'8 Sohn ging einst auf
den Berg Xsaläatsum, um den Donnervogel Su^oäas zu
besuchen. Als er zu dessen Hause kam, begann es auf
Erden zu regnen. Neun Tage blieb er dort, am zehnten
Rassel. (Im Museum für Völkerkunde zu Berlin.)
aber kehrte er zurück und erzählte, was er gesehen hatte.
Dann schnitzte er den Donnervogel auf den Pfeiler seines
Hauses. Das Auge des Donnervogels ist Feuer, und wenn
er dasselbe öffnet, so blitzt es. Einst erblickte er einen
Finnwal im Meere und wollte denselben fangen. Zn gleicher
Zeit verfolgte ein Boot den Wal. Die Jäger aber sahen,
wie der Donnervogel sich herabstürzte und den Wal von
dannen trug. Der Donnervogel verfolgte einst den Sts’enkoa
(ein fabelhafter Vogel). Derselbe stürzte sich auf einen
Baum und spaltete denselben von oben bis unten, um hin-
einzukriechen. Der Donnervogel aber ergriff ihn und trug
ihn fort.
Es scheint, daß manche Sagen der Unterabtheilungen
von Geschlechtern einen historischen Hintergrund haben. Ein
solcher dürfte z. B. für die folgende Sage vorhanden sein,
welche die Erlebnisse eines der Stammväter der Kwiksöt’enoq
beschreibt.
Tlätla^os.
Tlatla^os baute sich ein Lachswehr in Sikyamäs. Am
ersten Tage sing sich ein Silberlachs darin. Ueber Nacht
kam der Rabe und ein Tsonöqoa, um denselben zu stehlen
und beide fingen sich in der Falle. Am folgenden Tage
war der Q’öma (ein sagenhaftes Ungeheuer, ähnlich dem
Hai) im Wehr gefangen. Tlatla^os versuchte, ihn zu tobten,
indem er ihn auf den Kopf schlug, aber ehe es ihm gelang,
tödtete jener viele seiner Gefährten. Als er todt war, zog
Tlatla^os ihn ans Land und schnitt ihm den Bauch ans.
Da sah er, daß seine Eingeweide wie Feuer waren. Er
zerschnitt und trocknete dieselben. Von nun an besam er
alles leicht, was er haben wollte sFig. 1) I.
Eines Tages ging er ans, Lachse mit der Harpune zu
fangen. Da sah er einen kleinen weißen Fisch im Wasser
schwimmen, den er harpunirte. Er wollte denselben ans
Land ziehen, fand ihn aber zu schwer. Der kleine Fisch
wuchs und wuchs und wurde endlich so groß, wie ein Wal-
fisch. Da wußte Tlatla^os, daß er den Sisiutl gefangen
hatte. Er schnitt sich in die Zunge, so daß sie blutete und
spie auf den Fisch. Sogleich nahm dieser seine wahre Ge-
stalt an und Tlatla%os fiel wie todt nieder, als er ihn
erblickte. Der Äsintl tauchte wieder in tieferes Wasser, indem
er wie mit Rudern schwamm. Da sing das Wasser an zu
steigen. Es erreichte Tlatla^os’ Füße und stieg weiter bis
i) Diese Gestalten sind auf der beistehend abgebildeten Rassel
des Geschlechtes Tllltlayos abgebildet. Der Rabe hält einen
Fisch, der durch ein Stück Kupfer dargestellt ist, Im Schnabel.
Auf seinem Rücken sieht man den Kopf des Tsonoqoa, auf dem
Bauch den Q’oma, und nahe der Grosse den Adler. Die Rassel
befindet sich im Museum für Völkerkunde in Berlin.
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
219
an seinen Leib, und endlich verschlang es ihn ganz. Auf
dem Boden des Meeres erwachte er zu neuem Leben und
sah sich dort von vielen Leuten umgeben, den 8isiutl. Diese
brachten ihn zu ihrem Häuptlinge, der Lodenakana oder
Seiten hieß, und in einem gewaltigen vierstufigen Hause
wohnte. Dort gab ihm Seiten das kleine BootAitemqaeq,
dessen Vordertheil und Hintertheil die Gestalt eines 8isiut1-
kopses hatte. Er ließ TTatla^os ganz mit Fett salben; da
wurde dieser hart wie Stein. Nur seine Stirne, seine Nase
und seine Kehle blieben weich. Dann gab er ihm den
Namen T’esumkila (— der Steinerne) und Qaqakuistalistä.
Er gab ihm das Feuer des Todes und sandte ihn dann
zurück nach Sikyamäs. T’esumkila glaubte einen Tag
drunten im Meere gewesen zu sein; es war aber in Wahr-
heit ein Jahr. Als er oben ankam, wuchs das Boot
Aitemqaeq zu gewaltiger Größe und die Flossen der
Sisiutliöpte machten, daß es von selbst ging.
Zu gleicher Zeit lebten an der Mündung des Nemkis-
Flusses Hamälakianae und
seine Frau Omaqasemäe.
Einst kam T’esumkila
von Qoaiastems herüber
gefahren, überfiel Hamäla-
kiauae und raubte seine
Frauen. Die Nemkis
wollten sich zur Wehre
setzen, konnten aber T’esum-
kila nichts anhaben, da
er von Stein war. In
der Gefangenschaft gebar
die eine der Frauen einen
Sohn, den sie Mösaqäotl
nannte. Als die andere ihre
Zeit gekommen fühlte, be-
schlossen beide, Tesumkila
zu entfliehen.
Eines Nachts gelang
es ihnen unbemerkt zu ent-
kommen. Sie gingen, so
lange sie ihre Füße tragen
konnten. Dann hielten sie
an einem kleinen Flusse
und machten ein Feuer, an
dem sie sich wärmten. Den
Knaben wuschen sie in
kaltem Wasser, damit er
stark werden sollte. Nach-
dem sie zwei Tage gegangen waren, gebar Omaqasemaäe
einen Sohn, den sie Qoäqoa^sanoq nannte. Sie wusch ihn
täglich in kaltem Wasser, und daher war er rasch stark und
groß. Mittlerweile waren sie nach Teteq’ani;*; am Qamatsin-
See gelangt und bauten sich daselbst ein Haus.
Qoäqoa^sänoq war mittlerweile zu einem kräftigen
Knaben herangewachsen und spielte eines Tages am Flusse.
Da hörte er auf dem Berge eine schreckliche Stimme rufen:
„O, o, hu, hu, hop." Da lief er zu seiner Mutter und
frug, was das für eine schreckliche Stimme sei. Jene ant-
wortete: „Das ist der große T8on6qoa (Fig. 2), welcher
in dem See oben auf dem Berge wohnt. Er tödtet jeden,
der in seine Nähe kommt." Da sprach Qoäqoa^sänoq:
„Ich will hinaufgehen in die Berge und ihn sehen." Seine
Mutter bat ihn inständig zu bleiben und sagte: „O, gehe
nicht, sonst werden meine Augen dich nie wieder erblicken."
Qoaqoaxsänoq aber ließ sich nicht abhalten, denn er glaubte,
das Abenteuer bestehen zu können. Er ging in die Wälder, den
Tsonoqoa zu suchen. Da ward das Herz seiner Mutter traurig.
Als er eine Zeit lang gegangen war, hörte er jemand
rufen: „M! m!" und sah einen Mann an einem Baume
stehen und versuchen, denselben abzubrechen. Sein Name
war A^’älkos. Qoaqoa^sänoq schlich heran und ergriff
jenen von hinten und hielt ihn fest. Da rief A%’älkos:
„Wehe! wer hat mich von hinten ergriffen und alle meine
Stärke und Kraft von mir genommen?" Qoäqoa^sänoq
gab sich zu erkennen und erzählte, daß er ausgehe den
Tsonoqoa zu bestehen. Da frug A^’alkos: „Bist du
denn stark?" „Ich bin so stark wie du", erwiderte jener.
„So versuche jene Eibe anszureißen." Qoaqoa^sänoq
versuchte es, es gelang ihm aber nicht. Da sprach A^’alkos:
„Wenn du den Baum nicht ausreißen kannst, so hast du
auch noch nicht all meine Stärke bekommen." Er besprengte
ihn dann mit ein wenig Wasser und ließ ihn nochmals
versuchen. Da Qoäqoa^sänoq noch nicht im Stande war,
den Baum auszureißen, blies A^’älkos ihn in den Mund,
und nun riß jener die Eibe mit seiner linken Hand aus. (Nach
einer anderen Version tauchte er ihn viermal in einen Fluß.)
Er ging nun weiter
den Fluß aufwärts. Als
er ein wenig gegangen
war, sah er eine Kupfer-
platte im Flusse liegen.
Er nahm dieselbe heraus
und versteckte sie in einer
hohlen Ceder, denn er-
dachte, wenn er sie mit-
nähme und nach Hanse
zurückbrächte, würden die
Leute ihn verspotten. Er-
ging weiter den Fluß hin-
auf und kam nun an ein
Haus, dessen Dach von ge-
waltigen Pfosten getragen
wurde. Er ging nicht
hinein und nahm es nicht
in Besitz, da er glaubte,
sonst würden ihn die Leute
verspotten. Er ging weiter-
und traf nun zwei Leute,
welche einander ihre Helden-
thaten priesen. Der eine
sprach: „Ich habe dreißig
Männer im Kampfe er-
schlagen." Qoäqoaxsknoq
Tsonoqoa. ward begierig zu hören,
was sie sprachen und schlich
leise herbei. Er hörte, wie der andere erwiederte: „Ich
habe nur einen Mann erschlagen, aber er war ein großer
Häuptling." Da sprang Qoäqoa^sänoq hervor und rief:
„Wovon sprecht ihr?" Da wurden beide in Steine ver-
wandelt, die er mitnahm.
Er ging weiter und gelangte endlich auf den Gipfel
des Berges. Dort fand er einen großen tiefen See, an
dessen Ufer er sich niedersetzte. Er warf die beiden steine
in den See und rief: „Tsonoqoa, komm hervor aus deinem
Hause!" Da lief der See plötzlich ganz ab und füllte sich
dann wieder. Nun erschienen viele Scelöwen an der Ober-
fläche und verschwanden wieder. Dann tauchten viele See-
ottern aus und verschwanden wieder. Nun erschien ein
Boot, in dem drei Leute saßen. Er sah in dem Boote
einen Knochenpfeil liegen, den er zu haben wünschte.
Er wußte aber nicht, wie er ihn bekommen sollte. Endlich
schnitt er sich in die Zunge und spie das hcrvorströmende
Blut auf seine Hand. Dann ging er an eine Landspitze,
watete in den See, so daß nur sein Kopf hervorsah und
28'
220
Dr. F. Bons: Die Mythologie der nordwest - amerikanischen Küstenvölker.
nahm den Pfeil aus dem Boote, als dasselbe vorbeifuhr.
Niemand bemerkte ihn. Hätte er sich aber nicht in die
Zunge geschnitten, so wäre er unfehlbar bei dem Versuche
gestorben. Als das Boot vorüber war, erblickte ihn der
Steuermann, und sah, daß er den Pfeil in der Hand hielt.
Da sprach er: „Achte gut auf den Pfeil, wenn du damit
auf einen Menschen weist, so verliert er den Verstand, und
schießt du ihn auf eine Menge Menschen ab, so sterben
alle sogleich." Da dankte ihm Qoaqoaxsänoq und kehrte
nach Hause zurück. (Nach anderer Version sah er zuerst
eiu Boot, in dem eine Harpune lag; diese nahm er nicht,
da er fürchtete, die Leute würden ihn verspotten und glauben,
er sei nur ein Jäger und könne keine Menschen todten.
Dann kam ein zweites Boot, in dem saßen zwei Männer.
Einer derselben hielt einen Pfeil in der Hand, und sie ver-
folgten einen Bären. Qoäqoaxsänoq frug: „Wie wollt
ihr den Bären todten? Ihr habt ja keinen Bogen." Jene
hießen ihn Acht geben, und der Mann .mit dem Pfeile
richtete denselben gegen den Bären, der sogleich todt nieder-
fiel. Sie schenkten ihm dann den Pfeil und lehrten ihn
seine wunderbaren Eigenschaften kennen.) Qoaqoa^sänoq
kehrte nun nach Hause zurück. Als er den Fluß hinabging,
bemerkte er, daß es beständig finstere Nacht war. Er über-
nachtete nun in dem großen Hause und zerschlug einige der
Dachlatten, mit denen er Feuer machte, um das Haus zu
erleuchten. Er ging weiter, aber immer noch blieb es
dunkel. Er kam nun an die hohle Ceder, in der er die
Kupferplatte versteckt hatte. Er nahm sie ans dem Baume
heraus, und sofort wurde es wieder Tag. Deshalb ließ er
das Kupfer liegen, wo er es gefunden hatte.
Endlich gelangte er zu seiner Heimath zurück. Eines
Tages frug er seine Mutter, ob sie keine Verwandte habe,
und sie erzählte ihm nun, wie T’esumkila sie geraubt und
ihre Verwandten getödtet habe. Da verlangte Qoäqoa^sänoq
danach, seine Halbbrüder und seinen Vater zu sehen. Die
Mutter hieß ihn ein kleines Boot machen, und als dasselbe
vollendet war, begannen sie den Fluß hinabzufahren. Die
Mutter warnte ihn aber vor den Yakchim, die im Flusse
wohnten und jeden umbrachten, der an ihnen vorbei wollte.
Zur Zeit der großen Fluth waren dieselben in den Fluß
getrieben worden, und als das Wasser ablief, dort zurück-
gelassen. Sie hieß ihn, einen großen Baumstamm vor-
dem Boote den Fluß hinabtreiben zu lassen. Qoaqoa^sänoq
folgte ihrem Rathe. Als der Baumstamm an bem Yakchim
vorübertrieb, kam dieser ans dem Wasser hervor in der Ge-
stalt eines gewaltigen Scelöwen. Da zeigte Qoaqoaxsänoq
mit dem Pfeile auf denselben, und sofort war er in Stein
verwandelt. Dann fuhren Mutter und Sohn ungefährdet
weiter. Nach einiger Zeit sahen sie einen Zwerg am Ufer
sitzen, der sein Gesicht mit bei den Händen bedeckt hielt
und indem er sich schüttelte, schrie: „bsi-tsi-tsi-tsi!"
Qoáqoa^sfmoq ging auf ihn zu und frug nach seinem
Namen, aber jener konnte nicht sprechen.
Sie fuhren weiter, den Fluß hinab und kamen endlich
zu T'éteq’au am Qamatsin - (See. Dort sahen sie ein
Haus, aus dem Rauch aufstieg. Sie landeten und gingen
hinein. Drinnen wohnte Tlésemaé. Diesen luden sie
ein mitzufahren. Er stieg in ihr Boot und alle drei fuhren
weiter. Nach einiger Zeit kamen sie wieder an ein Haus
und nahmen von dort Yiohaqalaqema mit.
Nun sah Qoaqoa^sanoq jenseits des Sees einen Mann
einen Bären verfolgen. Er ruderte eiligst ans jenen zu,
um ihm zu helfen. Er aber rief: „Halt ein, ich will den
Bären todten." Qoaqoa%sänoq war damit einverstanden
und sah der Jagd zu. Da jener aber den Bären nicht
einholen konnte, nahm er endlich seinen Pfeil hervor, deutete
damit auf den Bären, der sogleich niederfiel und in Stein
verwandelt wurde. Dann fuhr er ans Ufer und frug den
Fremden, wer er sei. Jener antwortete: „Ich bin von
o’Qkyes, mein Vater heißt Hamalakyauae.“ Da wußte
Qoaqoaxsänoq, daß jener sein Bruder Nösaqriotl war. Er-
gab sich ihm zu erkennen, und alle fuhren zusammen weiter.
Bald gelangten sie nach Kuáméla am Flusse Q’auis.
Dort fand Qoaqoa^sänoq seinen Bruder T’ésumchstsána,
dessen rechte Hand Stein war. Dieser zerschlug Qoaqoa%-
sänoq’s Boot mit einem Schlage und gab ihm ein neues,
größeres. Sie fuhren nun alle den Fluß hinunter und
Qoäqoa^sänoq tödtete alle Yakchim mit seinem Pfeile.
Noch heute sieht man die kleinen Inseln Nänis im Flusse,
welche Bären waren, die von Qoaqoa^sänoq in Steine
verwandelt wurden.
Endlich gelangten sie nach Q’ökyes und fanden daselbst
einen alten Mann an einem der Häuser beschäftigt, die
Thür in Ordnung zu bringen. Das war Hamälakyauae.
Er aber erkannte seine Frau und seine Söhne nicht, die
ans Land stiegen und auf ihn zukamen. Er frug Ömaqa-
semäe: „Wer bist bit und wer sind jene Jünglinge?"
Sie versetzte: „Erkennst du mich denn nicht, deine Frau?"
Er erkannte sie und frug: „Und hast du den jungen Mann
im Boote dort geheirathet?" „Nein, das ist mein Sohn.
Weißt du nicht mehr, daß ich schwanger war, als Tlatla^os
mich raubte?" Da fiel dem Alten alles wieder ein und
sein Herz ward froh.
Die jungen Leute bauten sich nun ein Haus und ein
Lachswehr. Eines Tages sprach Qoaqoa^sänoq zu seinem
Vater: „Sage mir, wo wohnt unser Feind T’ésumkila.
Ich will ihn tödtcn." Hamálakyauaé aber erwiderte:
„Du kannst ihn nicht tödten. Er ist von Stein. Nur
seine Stirn, seine Nase und seine Kehle sind von Fleisch."
Einst hörte Qoáqoaxsanoq, daß T’ésumkila zu dem Berge
Ts’ilkyumpaé gehen werde, um daselbst Gänsedaunen für
seine Maske Xuejue zu holen, die er im Wintertanze trug.
Um dorthin zu gelangen, mußte jener bei Tloqoe (Duvin Pt.)
vorbeikommen, und er beschloß, ihm daselbst aufzulauern. Er
rüstete sein Boot und seine Brüder Mösaqaotl und
T’ésumchstsana, sowie Mamálakius, Marnatila, Xéoten,
Tlasötletlelala und der alte Mann Tlémkyè^ fuhren mit
ihm aus. Sie landeten auf Tloqoè und erwarteten die
Rückkunft T’esumkila’s. Schon hörten sie seine Begleiter
singen, und nun sahen sie jene, die Haare mit Daunen
bestreut. Da deutete Qoaqoa%sänoq mit seinem Pfeile
auf die Vorübergehenden, und siehe! alle verloren den Ver-
stand und T’ésumkila fiel um, so daß sein Boot kenterte,
als er fiel. Da fuhrT’ésumchstsana zu dem Boote hinaus
und erschlug alle mit seiner steinernen Hand. Sie schnitten
ihnen die Köpfe ab und legten dieselben in ihr Boot, das
bis zum Rande voll wurde. Nur T’ésumkila war noch
am Leben, denn er war untergegangen und sic fanden seinen
Körper nicht. Deshalb ließen sie den alten Mann Tlemkye%
zurück und thaten, als ob sie von dannen führen. Sie
hatten jenem aber gesagt, aufzuachtcn und sie zu rufen,
sobald er T’ésumkila wieder erblicke. Nach kurzer Zeit
rief dieser: „Helft mir, kommt! Ich habe ihn gefangen!"
Sofort drehten sie um, sie sahen aber nur den Alten mit
seiner Steinaxt ans etwas loshauen, das sie nicht erkennen
konnten. T’ésumkila war an einer Felsenspalte ans dem
Wasser gekrochen. Dort hatte der Alte ihn erblickt und
schlug nun auf seinen Hals los, da er nur dort verwundbar
war, bis er den Kopf abgehauen hatte. T’ésumkila
wehrte sich, und gewaltige Wellen erhoben sich durch die
Bewegung seines Körpers. Als jene ankamen, hielt der
Alte T’esumkila’s Kopf in die Höhe und warf ihn zu den
anderen ins Boot. Dann luden sie den steinernen Körper
ebenfalls aus, und alle die Federn, welche jener auf
Kürzere Mittheilungen.
221
Ts’ilkyimpae gesammelt hatte. Als sic nach Xulkch
kamen, luden sie ihr Boot aus und gingen zum Flusse
NÄ86, um junge Bäume zu fällen. Mit diesen steckten
sie einen viereckigen Raum ab und steckten T’esumkila’s
Kopf darinnen an der höchsten Stange auf. Die anderen
Köpfe häuften sie rings umher auf, und streuten die Federn
in den Fluß.
Qoäqoa^sänoq’s Schwägerin (Schwester?) Kue^uaq’-
anoq gehörte aber zum Stamme der Kwiksöt’enoq. Ihre
Tochter spielte am Flusse und sah die Federn denselben
herabschwimmen. Da rief sie ihre Mutter und beide gingen,
um zu sehen, woher die Federn kämen. So kamen sie
dorthin, wo die Köpfe ihrer Verwandten waren. Vor
Schrecken schrien sie laut aus und entflohen. Sie schoben
ihr Boot ins Wasser und fuhren zu ihrem Stamme zurück.
In Pa^ulkch hielten sie ein wenig und Kue^uaq’anoq
tödtete Seehunde und Lachse, mit denen sie ihr Boot füllte.
Daun wuschen sie sich und bemalten ihr Gesicht mit rother
Farbe, damit man nicht die Spuren ihrer Thränen sehen
sollte. Dann fuhren sic weiter und gelangten endlich nach
Qoaiastems. Die Leute sahen aber trotz der Farbe, daß
jene gemeint hatten und frugen: „Weshalb habt ihr ge-
weint?" Sie antworteten: „Wir haben nicht geweint,
wir haben nur gelacht, aus Freude, euch wiederzusehen."
Kue^uaq’anoq lud daun ihr Boot aus, ließ die Seehunde
ins Haus tragen und schenkte Jedermann einen derselben.
Alle saßen nun dort und aßen. Mutter und Tochter saßen
bei einander und plötzlich sagte die Tochter: „Viele Federn
kamen bei Huaui^ den Fluß hinabgeschwommen." Die
Mutter verwies es ihr, denn sie wollte nicht, daß ihr Vater
es hören solle. Sie stieß das Mädchen an und sagte:
„Quäle meinen Vater nicht." Dieser aber saß da und
hörte nur den Reden seiner Freunde zu. Bald sagte das
Mädchen wieder: „Viele Federn kamen bei Quäin^ den
Fluß hinabgeschwommcn." Wieder verwies ihre Mutter
ihr die Rede, als sie es aber zum dritten und vierten Male
wiederholte, ward der Alte aufmerksam und frug, was die
Kleine sage. Da sprach Kue^uaq’anoq: „O, ich vergaß
zu sagen, daß Qoaqoaxsänoq den T’esumkila getödtet hat.
Die Kwiksöt’enoq wollten dieses nicht glauben, bis einige
Sklaven, die zugegen gewesen waren und mit entflohen
waren, die Nachricht bestätigten. Da starben Viele vor
Schrecken, deren Väter und Brüder mit T’esumkila fort-
gefahren waren.
Sie glaubten aber noch nicht ganz fest, daß Qoäqoa^-
sänoq ihn wirklich getödtet habe, und fuhren über das
Meer, um sich zu überzeugen. Qoäqoa^sänoq sah sie
herankommen und hieß seine Brüder Pfeile aus Cedernholz
auf die Ankömmlinge abschießen. Die Pfeile zerbrachen
an ihren Körpern. Da lachten die Kwiksot’enoq und
sprachen: „Er kann D’esurnkila nicht getödtet haben." Sie
ruderten weiter, um Qoaqoa^8änoq zu tobten. Als sie
aber nahe dem Ufer waren, wies dieser nur mit seinem
Pfeile auf sie, da verloren alle den Verstand und Tesumch-
stsana erschlug sie mit seiner Steinhand. Sie banden dann
die Todten und Verwundeten auf Bretter und stellten diese
in eine Reihe. Diese reichte von Äulkch bis Otsäles, so
viele hatten sie getödtet und gefangen. Sic hießen dann
einen Sklaven alle Bretter auf einen Haufen werfen. Dieser
aber flüsterte dem Stärksten der Gefangenen zu: „Versuche
das Seil zu zerreißen, mit dem du gebunden bist." Dieser
fing an sich zu bewegen und zerbrach das Brett, auf dem er-
lag. Dann streifte er die Seile ab und fing an, seine
Freunde loszumachen. Ehe er aber alle befreien konnte,
hörte Qoäqoa^sänoq, was geschah. Er eilte mit seinen
Brüdern herbei und sie erschlugen alle, die nicht entflohen.
Sie zerschnitten dann die Leichen und warfen die Eingeweide
bei Tsa-ime^otl ins Wasser.
Einst wollte ein Kwiksot’enoq eine Frau aus dem
Stamme der Lekwiltoq heirathen, und die Kwiksot’enoq
brachten eine gewaltige Kiste voll Kupferplatten als Geschenk
für die Eltern der Frau. Da versprachen die Lekwiltoq
demjenigen die ganze Kiste, der sie heben könne. Als
Qoäqoa^sänoq das hörte, kam er zum Meere hinab, lud
die Kiste aus seine Schultern und trug sie fort. Unterwegs
stieß er an die Ecke eines Hauses und stolperte. Sogleich
sprang sein jüngster Bruder herbei und unterstützte ihn,
sonst wäre er gefallen. Die Brüder gingen nun den Fluß
hinaus und bauten sich daselbst aus Stangen ein großes
Haus. Dann luden sie alle die Nachbarstümme zu einem
großen Feste ein. Qoäqoa^sänoq stand ant Ufer und sah
die Freunde ankommen. Als er nun ein großes, starkes
Boot sah, welches ihm wohl gefiel, ergriff er dasselbe und
warf es auf sein Dach. Er ließ nun alle in sein Haus
kommen und bewirthete sie. Dann begann er zu tanzen,
während jene dazu sangen und den Takt schlugen. Plötzlich
zog er seinen Pfeil hervor, den er versteckt gehalten hatte
und zeigte damit rings umher auf die Gäste. Da verloren
sie den Verstand und drängten sich zur Thür hinaus. Neben
derselben hatte aber l’esuniekstsana Platz genommen, der
sich nun erhob und alle erschlug. Nur ein alter Mann
und dessen Sohn entkamen durch eine List. Der Alte rief
T’esumchstsana zu: „Ich will meinen Sohn selbst tödten,
erschlage ihn nicht." Er ergriff den jungen Mann, der
eben zur Thür hinaus wollte, an den Haaren und riß ihn
zurück in einen finsteren Winkel des Hauses. Von dort
aus entflohen beide. Dann schnitt Qoäqoa^sänoq den
Gefallenen die Köpfe ab und pflanzte sie auf dem Giebel
seines Hauses auf.
Ganz besonders merkwürdig sind die Ahnensagen der
Qauitschin, welche im Charakter sehr wesentlich wordenen
der nördlichen Stämme abweichen, wie auch alle ihre Sitten
und Gebräuche von denen der übrigen Küstcnstämme ver-
schieden sind.
Kürzere Mittheilungen.
Dr. Karl von den Steinen über die Kultur
der Xingu- Indianer.
Nachdem Dr. Karl von den Steinen bereits im Juli
d. I. vor der Geographischen Gesellschaft zu Rio Janeiro
einen interessanten Bericht über seine zweite Tingn-Expedition
erstattet hatte, verbreitete sich derselbe in einem längeren Vor-
trage vor der Deutschen Naturforscherversammlung über den
Kulturzustand heutiger Steinzeitvölker in Ccntral-
Brasilieu. Wir entnehmen demselben, die folgenden Aus-
führungen: Die Völker am Tingn befinden sich noch im
222
Kürzere Mittheilungen.
vollkommenen Steinzeitalter; sie kennen keine Metalle,
sondern fertigen sowohl ihre Waffen als auch ihre Werkzeuge
und Schmucksachen ausschließlich aus Thierzahnen, Knochen
Muscheln und Steinen, welch letztere sie sehr künstlich zu
schleifen verstehen, — ganz wie zur Zeit des Kolumbus.
Man könnte die Schilderungen der ersten Entdecker dieser
Völker einfach als eigene Erlebnisse neu drucken lassen, sie
würden in allen Einzelheiten noch immer zutreffen. In
eins drangen die alten Entdecker allerdings niemals ein: in
das indianische Geistesleben, was zur Beantwortung der
Frage über die Entwickelung der menschlichen Begriffe so
wichtig ist. Es ist leicht, aber gänzlich falsch, dieses Geistes-
leben unter dem Gesichtswinkel des eigenen zu betrachten.
Dann halt man die sogenannten Wilden für roher und
beschränkter als sie thatsächlich sind, und man verurtheilt und
züchtigt sie für Thaten, die sich von ihrem Standpunkte aus
ganz gut rechtfertigen lassen. Im richtigen Lichte betrachtet,
leben die Wilden am Mugu im ganzen mach recht wohl-
anständigen Sitten, besonders in Monogamie — wenn auch
ohne Heirathsceremonien — und in musterhaft liebevollen:
Verhältnisse zu ihren Kindern. Ihre Lebensweise ist einfach,
aber nicht „wild", und in ihrem Mangel an Bekleidung
liegt nicht die geringste Zucht- oder Schamlosigkeit. — Die
einzelnen Stämme wohnen in Dörfern von höchstens
250 Seelen, nahe an dem Flusse, und zwar immer einige
Tagereisen von einander. Verkehr besteht zwischen ihnen
wenig, kaum eigentlicher Tauschhandel, und nur gelegentliche
Gastgeschenke bringen einige Besitzverschiebnngen zwischen
ihnen hervor. Der Begriff des Eigenthums ist ihnen aber
nicht fremd, nur spielt derselbe keine große Rolle, da der
Unterschied in der Erwerbsfähigkeit der Einzeln ein ganz
geringer ist. Ein fremder Staunn wird wohl bisweilen
bestohlen, Diebstahl in dem eigenen Dorfe kommt aber nicht
vor. „Gut" ist, wer gern und viel giebt, „schlecht", wer
ungern giebt. So kriegerisch, wie es bei der gräulichen
Bemalung und bei dem aufgeregten Gebühren öfters scheint,
ist der Xingu-Indianer nicht, und eigentlich gefährlich wird
er in der Regel nur ans Angst. — Ein großes Hemmniß
der Kulturentwickelung bei den Lingu- Völkern war die Ab-
wesenheit jedweder Hausthiere — selbst des Hundes. Im
wesentlichen sind sie Jäger und Fischer, und nur bis zu
einem gewissen Grade auch Ackerbauer. Die letztere Be-
schäftigung ist aber noch so jung bei ihnen, daß sie keinen
sehr merklichen Einfluß auf sein geistiges Leben ausgeübt
hat. — Alle Anschauungen des Indianers wurzeln in der
unmittelbaren Naturbeobachtung. Insbesondere fühlt er sich
in einen: sehr nahen verwandtschaftlichen Verhältnisse zu dem
Thiere. Der Bakairi leitet seine Abstammung vom Jaguar
her und betrachtet den schwimmgewandten Trumai, den er
verachtet, als eine Art Alligator oder Raubfisch, und er
glaubt fest, derselbe schlafe nachts auf den: Grunde der Ge-
wässer. Außerordentlich interessant ist die Ahnensage der
Bakairi (die der Reisende buchstäblich niederschreiben konnte)
— ein Epos, das ans naiver Naturbetrachtung, Erinnerungen
an die Väter, und Jagdgeschichten zusammengeflochten ist, und
das die Bakairi in allen Einzelnheiten fiir wahr halten.
Auch darin verkehren die Menschen mit den Thieren ans den:
Fuße naher Verwandtschaft, und viele Züge gemahnen an
unseren Reineke Fuchs, besonders das vielfach variirte Thema:
Klugheit überwindet Stärke. — Die Sonne ist dem Indianer
ein Ball ans den Federn des rothen Ara, der in einem
Topfe steckt, dessen Deckel morgens geöffnet und abends
geschlossen wird. Der Mond ist ihm ebenfalls ein Feder-
ball, gemacht aus den gelben Schwanzfedern des Webervogcls.
Die^ Milchstraße ist ein umgestürzter hohler Baumstainin,
der ' „Kohlensack" der Astronomen ein Loch, durch das ein
Tapir gefallen ist, und sonst sieht man am Nachthimmel
einen Jaguar, einen Ameisenbär, eine Vogelschliuge re. Die
Magelhaen'schen Wolken sind Feuer, die die Stammesväter
der Bakairi — Käme und Keri — anzündeten, um ihre Groß-
mutter zu verbrennen; der Orion ein Gestell zun: Mehl-
trocknen ; die Plejadcn ein Haufen Krümel. Und alle diese
Dinge kamen dadurch hinauf, daß der ganze Weltenbau einst
gerade umgekehrt war — der Himmel unten und die Erde
oben. Ersterer war eine ungesunde Gegend, und darüber
ward ein mächtiger Zauberer so unmuthig, daß er die Um-
wälzung bewirkte. — Die Thätigkeit der Zauberer ist bei
den Bakairi mehr eine ärztliche als eine priesterliche. Sie
heilen Kranke durch Anspucken, Anblasen und Anrauchen,
und mit denselben Mitteln bekämpfen .sie auch die Elemente.
Jeder kann Zauberer werden, aber das Studium der Kunst
ist sehr schwer. Man muß Monate hindurch ausschließliche
von dünnem Mandiokmehlbrei leben, sich nachts den Schädel
stundenlang mit den Fäusten bearbeiten rc. Göttliche Ver-
ehrung genießt der Zauberer nicht, nur Furcht und Achtung,
überhaupt ist von einen: Gottesbegriffe bei den Bakairi keine
Rede. An eine Fortdauer nach den: Tode wird dagegen
geglaubt, freilich ohne einen Gedanken an bevorstehende Ver-
geltung. Daß Leib und Seele zwei von einander unabhängige
Dinge sind, beweisen ihn: seine Träume, wo der Leib ruhig
an seinem Platze bleibt, während die Seele irgendwoanders
herumschweift. Aus diesem Grunde ist es auch verpönt,
einen Schlafenden plötzlich zu wecken; seine Seele könnte ja
gerade auf der Wanderung sein, und daun würde aus dem
Schläfer unfehlbar ein Todter. Träume vou Verstorbenen,
in denen lebende Seelen mit todten verkehren, beweisen, daß
diese eben noch vorhanden sind. — Was die Sprachen der
Mngu-Völker betrifft, so sind dieselben nicht arm an Worten.
Von den Bakairi wurden mehr als 150 Namen für Thiere und
etwa 100 für Körpertheile verzeichnet; bei den Bororo mehr
als 80 für Fische. Der Wortschatz dürfte dem eines deut-
schen Bauern in einer abgelegenen Gegend kaum etwas nach-
geben. Dagegen fehlt den Tingn - Sprachen die Architektonik
und Systematik unseres Sprachbaues. Während wir z. B. die
Arten der Fische durch ein dem Grundworte vorgesetztes
Bestimmungswort (Weißfisch, Goldfisch rc.) bezeichnen, so hat
bei den: ikingu-Jndinner jeder Fisch seinen ganz selbständigen
Namen. Andererseits zieht er wieder Begriffe in ein Wort
zusammen, die nur in gewissen: Sinne verwandt sind; so
hat er für „Wasser", „Fluß", „Wolke", „Regen" nur ein Wort
(„paru“). Auch einen Handspiegel nannten die Indianer
Wasser, weil er ihnen ebenso wie dieses ihr eigenes Bild
zeigte. Körpertheile nennen sie nie, ohne den mitzunennen,
dem sie gehören, so daß sie eigentlich keinen allgemeinen
Begriff für dieselben haben, sondern auch dabei streng an der
unmittelbaren Anschauung festhalten. Für „Blatt" haben
sie ein besonderes Wort, da sie oft dasselbe vom Baume los-
gelöst sehen. Sie sind im Beobachten stark, im Abstrahiren
aber schwach, und das stellt sie unter unsere ältesten indo-
germanischen Vorfahren, die auch schon den systematischen
Aufbau der Sprache besaßen, und die dadurch ohne weiteres
zu tiefem und folgerichtigen: Denken befähigt wurden. Zahlen
zu fasse:: und zu rechnen ist der Bakairi nicht fähig, da ihn
das Fehlen des Handelsverkehrs dieser Mühe überhob. Zahl-
worte hat er nur für „eins" und „zwei", bestimmte Zahl-
begriffe nur bis drei. Zeigt man ihm vier Maiskörner, so
ist er nicht in: Stande, diese Zahl sofort zu erkennen und zu
nennen. — Mit großer Vorliebe bildet er Thiere in Stein
und Thon nach, oder ritzt Zeichnungen davon ein. Gewisse
geometrische Figuren dienen ihm als Symbole — das Dreieck
für das Weib, weil dieses als einziges Kleidungsstück ein
kleines dreieckiges Palmblatt trägt; die Raute für den
Fisch. — Das Rüstzeug, welches bei uns der Ungebildetste
in seiner entwickelten Sprache und seinem Zahlensysteme
Aus lisien Erdtheilen.
223
besitzt, und welches ihm die Denkarbeit erleichtert, wie die
Maschine die körperliche Arbeit, fehlt dem Indianer. Die
Sprache aber ist der Entwickelungsboden für das geistige
Embryonal-Leben des Einzelnen, indem jedes Kind, welches
die Muttersprache erlernt, wahrend dieser Zeit des Fötal-
zustandes seiner Gedankenbildung in gedrängter Eile die
endlose Strecke zurücklegt, auf der seine Ahnen in ungezählten
Menschcnaltern zu höheren Denkformen gelangten.
Aus aller:
Europa.
— Aus Rußland läuft die Kunde ein von neuerdings
gemachten wichtigen Min eral funden. In der südlichen
Krim ist ein bedeutendes Steinkohlenlager erschlossen worden
und am oberen Kuban, namentlich an seinen Zuflüssen Dout
und Utschkulan, sind reichhaltige Adern von Silber- und Bleierz,
und zwar auch unfern eines Kohlenlagers, entdeckt worden.
— Die Vollendung des Kanales von Korinth,
die ursprünglich für dieses Jahr in Aussicht genommen war,
wird den neueren Nachrichten zufolge bis nächstes Jahr-
aus sich warten lassen, da man — ähnlich wie vor 1800 Jahren
Kaiser Nero — bei den Arbeiten auf lose Sandschichten ge-
stoßen ist, die auf einer Strecke von 2 km eine Ausmauerung
des Kanalbettcs nöthig machen. Der Kanal wird im ganzen
eine Länge von 5x/2 km, und durchgehends eine Tiefe von
8Vz m erhalten. Die auszuhebenden Massen betrugen
8V2 Millionen cbm, wovon seit Beginn des Baues (1883)
bis Ende 1887 53/2 Millionen cbm bewältigt waren. Der
ursprüngliche Kostenanschlag (20 Millionen Mark) wurde um
etwa 50 Prozent überstiegen; beim Suezkanal war dies aber
um 150 Prozent der Fall, und beim Panama-Kanale droht
es sogar noch schlimmer zu werden. Es giebt eben für die
Kanalerbauer hier wie dort „unvorhergesehene Schwierigkeiten".
— Der Handel und die Schiffahrt Hamburgs
befand sich der offiziellen Statistik zufolge im Jahre 1887
in einem weiteren beträchtlichen Aufschwünge. Die Zahl
der eingelaufenen Seeschiffe belief sich auf 7308, bezw.
ans3920234Tonnen (gegen6913, bezw. 3 791992Tonnen
im Jahre 1886), und zwar war die Schiffahrtsbewegnng
sowohl nach den anderen deutschen Häfen als auch nach den
ausländischen und transoceanischen Häfen eine stärkere. Nur
die australischen Häfen machten eine Ausnahme, was wohl
durch die Konkurrenz der subventionirten Postdampfer des
„Norddeutschen Lloyd" zu erklären ist. Das Gewicht der
gesammten Einfuhr betrug 76 865 044 Doppelcentner
und der Werth rund 2285S/4 Millionen Mark (gegen
71 148 772 Doppelcentner, bezw. 2080^ Millionen Mark
im Jahre 1886). Die eigene Handelsflotte Hamburgs
zählte 496 Seeschiffe mit 360 569 Tonnen, darunter
211 Dampfschiffe mit 217 594 Tonnen.
A s i c n.
— Ueber den Verlauf der Reise des Grafen Anrep-
Elmpt in Hinterindien (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 383) sind in Meran Nachrichten eingelaufen. Nachdem
der Reisende auf der Fahrt nach Hinterindien in Dschidda
und Massauah gelandet war und beim ersteren Orte das
„Grab Evas" besucht hatte, sah er sich in Singapore durch
einen Unfall mit seinem Fuße zu längerer Rast gezwungen.
Dann ging er per Dampfer den Mekhong hinauf nach
Pnom-Penh, der Hauptstadt von Kambodscha, und nach Kratic,
wo er ein Ruderboot zu besteigen hatte, um nach Sambor
E r d t h e i l e n.
und über die Katarakte des Stromes hinweg nach Stung-
Ireng zu gelangen. Dort ließ ihn der Grenzpolizei nicht
weiter, und er mußte im offenen Boote bei entsetzlicher
Sonnenhitze zurück nach Pnom-Penh. Von dort drang er
auf dem Tuan-le-Sap, einem Nebenflüsse des Mekhong,
aufwärts bis zu den Begräbnißplätzen der Könige von Kam-
bodscha (Ondong) und quer über die großen Seen nach Siam-
Reap. Bei letzterem Orte besuchte er die Tempelruinen von
Angkor-wat, die er photographisch aufnahm. In Battambang,
das er sodann erreichte, fand er in dem Hanse eines Deutschen
gastliche Aufnahme, und in einiger Entfernung davon, bei
Banane stieß er wieder auf interessante Tempelreste. Es folgte
dann eine 13tägige Fußreise nach Patschim, und von da eine
Wafferfahrt nach Bangkok. Ein heftiger Fieberanfall zwang
ihn hier seine weiteren siamesischen Reisepläne aufzugeben und
die Heimfahrt anzutreten. Da sich in Rangoon das Fieber
verloren hatte, nahm er dort aber seinen Plan in veränderter
Folge wieder aus, und im Juli d. I. stand er im Begriffe
von Malmen den Salucn-Fluß hinauf nach Papun und von
dort per Elephant nach Zimue und Luang - Prabang vorzu-
dringen, um von letzterem Orte den Mekhong abwärts wiedcr
nach Stung-treng und nach seinem ersten hinterindischen Aus-
gangspunkte zurückzugelangen. Von Zimue an soll seine
ethnographische Sammelarbeit für die Museen zu Berlin und
Leipzig beginnen.
— Professor Dr. Schweinfnrt gedenkt sich demnächst
nach Jemen zu begeben, nur daselbst während des kommen-
den Winters namentlich den Kaffeebaum zum Gegenstände
eingehender Studien zu machen.
— Die Theekultur von Assam nimmt einen immer
größeren Umfang an, und die Kapitalien, welche darin an-
gelegt sind, wachsen noch beständig. Im Jahre 1887 waren
nicht weniger als 950 000 Acres von Theegärten einge-
nommen, was gegen das Vorjahr eine Zunahme von
16 000 Acres und gegen 1882 eine Zunahme von
167 000 Acres ergiebt. Da die einzelnen Sträucher aber
zugleich auch mit zunehmendem Alter ertragfähiger geworden
sind, so hat sich die Jahresproduktion seit dem Jahre 1885
mehr als verdoppelt. 1887 betrug sie ziemlich 68V2 Millio-
nen Pfund, und für 1888 wird sie auf 71 Millionen
Pfnnd geschätzt. Der fragliche Wirthschaftszweig neigt
übrigens mehr und mehr dem Großbetriebe zu, so daß die
Zahl der Gärten (1887: 873) geringer geworden ist, obgleich
sich die Fläche derselben vergrößert hat. — Die Gcsammt-
ernte Indiens ward für das laufende Jahr auf 96 Millionen
Pfund veranschlagt, und Assam trägt dazu also nicht weniger
als 74 Procent bei.
Afrika.
— Unmittelbar vor seinem Aufbruche von Pambnga hat
Major Barttelot noch einen längeren Brief an den
Präsidenten der Emin-Pascha-Entsatz-Expedition,
W. Mac Kinnon gerichtet, der ziemlich viel Licht auf die
224
Aus allen Erdtheilen.
allgemeine Lage an den Aruwimi - Fällen und am oberen
Kongo wirft. Demnach stellte Tippoo Tib nur unter
äußerstem Widerstreben 400, statt der vorher versprochenen
800 Mann, und an seiner Wortbrüchigkeit und Treulosigkeit
ist kein Zweifel. Die Manyema - Leute wurden einem be-
sonderen arabischen Unterkommandanten, namens Muni
Somai unterstellt, den Barttelot für willig und vertrauens-
würdig hielt. Verschiedene Leute, darunter Rose Troup,
mußten aus Gesundheitsrücksichten kongo - abwärts gesandt
werden,-und alle überflüssige Baggage sollte nach Bangala
gehen. Der Plan Barttelots war für den Fall, daß von
Stanley keine Spuren gefunden wurden, nach Kavalli und
Kibero und von da. nach Wadelai zu gehen, um sodann
eventuell vereint mit Emin- Pascha Stanley zu suchen.
Namentlich seinem Begleiter Jameson (der mittlerweile in
Bangala am Fieber gestorben ist) spendet Barttelot das
höchste Lob.
— Dr. Hans Meycr's neue ostafrikanische Expe-
dition ist in Usambara von aufständischen Eingeborenen
überfallen worden, so daß sich der Reisende genöthigt ge-
sehen hat, nach der Küste zurückzukehren.
Allgemeine s.
— Dem Internationalen Geologen-Kongresse zu
London wurde von Professor Hauchecorne ein Probeblatt
der internationalen geologischen Karte von Europa
zur Beurtheilung vorgelegt. Dasselbe war im Maßstabe von
1:1 500 000 entworfen, und gemäß dem Beschlusse, welchen
die Versammlung in Bologna gefaßt hatte, kolorirt. Jede
Forinatiousgrnppe trug eine einzige Farbe, und die einzelnen
Abtheilungen derselben zeigten verschiedene Töne dieser Farbe,
derart daß die ältesten die dunkelsten, die jüngsten die hellsten
waren. Die vulkanischen Felsarten waren durch ihre
Färbung sowohl nach ihrem Alter als auch nach ihrer chemi-
schen Zusammensetzung unterschieden. Für die archaischen
Formationen waren drei, für die sedimentären vierundzwanzig
und für die vulkanischen neun Farbentöne angewandt. Das
Blatt fand bei der Versammlung großen Beifall. — Von
den Verhandlungen, welche auf dem Kongresse gepflogen
wurden, dürften für die Geographen am interessantesten sein
diejenigen über die Selbständigkeit des Quaternär
gegenüber dem Tertiär. Die Meinungen der Redner
gingen dabei diametral auseinander, doch schien die Versamm-
lung schließlich in der Hauptsache der Auffassung zuzuneigen,
daß in der Herrschaft des Menschen über die Erde allerdings
Grund genug gegeben sei, das Quaternär als ein besonderes
Erdalter gelten zu lassen. Der Schwesterwissenschaft Geo-
graphie gedachten die Herren leider nicht, sonst wäre die
Frage vielleicht noch klarer und entschiedener beantwortet wor-
den. — Der nächstjährige Internationale Geologen-Kongreß
wird in Philadelphia tagen.
— Professor H. Carrington Bolton (University
Club, New York, U. 8. A.), wendet sich in einem gedruckten
Circular au alle amerikanischen und altweltlichen Freunde von
„Folk-lore", um Auskunft über die Ausdrücke — artikulirte
und unartikulirte, jedoch mit Ausnahme der Flüche und des
Pfeifens — zu erhalten, welche im Verkehr mit dem Vieh in
den verschiedenen Ländern und Landestheilen üblich sind.
Insbesondere bittet er um Mittheilung der Ausdrücke, welche
gebraucht werden: 1) um angeschirrtes Vieh anzutreiben,
anzuhalten, nach verschiedenen Richtungen zu leiten; 2) um
Vieh beim Hüten und sonst auf dem Felde zu locken und zu
dirigiren; 3) um Vieh wegzujagen; 4) der uuartikulirten Aus-
drücke, welche zu irgend einem Zwecke irgend einem Thiere
gegenüber gewöhnlich gebraucht werden. Der Ausdruck Vieh
oder Hausthier ist hier im weitesten Sinne genommen und
schließt auch das Geflügel ein. Mr. Bolton bittet außerdem
um Nachweis einschlägiger Literatur besonders in anderen
Sprachen als der englischen. — Sein Unternehmen kann,
wenn richtig durchgeführt, von bedeutendem Interesse für
die Ethnographie werden, denn derartige Ausdrücke erben
von Generation zu Generation unverändert fort. Wir legen
deshalb die Bitte des Herrn Professor Bolton allen Lesern
des „Globus" im In- und Auslande dringend ans Herz.
Ko.
Bücherschau.
— Dr. W. Sievers, Die Cordillere von
Merida. (Geographische Abhandlungen, heraus-
gegeben von Professor Dr. Albrecht Penck, Bd. III,
S. 1.) Wien 1888. Eduard Hölzel. —
Dr. W. Sievers, Venezuela. Hamburg 1888.
L. Friederichsen & Co. —
Nachdem Dr. W. Sievers einen Theil von den Ein-
drücken und Ergebnissen seiner Reise in Venezuela bereits in
den „Mittheilungen der Hamburger Geographischen Gesell-
schaft", in der „Zeitschrift der Berliner Gesellschaft für Erd-
kunde" und im „Globus" veröffentlicht hat, hat er ihre
Gesammtheit nunmehr zu zwei stattlichen Bünden gestaltet,
von denen der erste — eine der wohlbekannten Penck'scheu
Abhandlungen — das spezielle Forschungsgebiet des Reisen-
den in sehr eingehender und vielseitiger Weise behandelt,
während der zweite ein allgemeines Charakterbild der vene-
zuelanischen Republik darbietet. Die beiden Bücher sind
ohne Zweifel das Gründlichste und Zuverlässigste, was die
deutsche geographische Literatur über die in Frage stehenden
Gegenstände auszuweisen hat. Die Cordillere von Merida
ist nach Dr. Sievers ihrem geologischen und orographischen
Baue nach ein Glied des Anden - Systems, während das
Karibische Gebirge durch die Senke des Rio Cojedes und
Rio Aaracui von ihr ebenso wie von letzterem getrennt ist.
Urgesteine und kretaceische Sand- und' Kalksteine setzen sie im
wesentlichen zusammen, eruptive Bildungen fehlen dagegen
vollständig. Eine sehr hervorragende Rolle spielen an den
Hängen Schotter-Terrassen, deren Verbreitung und Mächtigkeit
in sichtbarer Abhängigkeit von den Niederschlagsverhältnissen
steht. In wirthschaftsgeographischer Beziehung konstatirt
der Verfasser nicht bloß einen sehr erfreulichen allgemeinen
Aufschwung des Landes, sondern auch ein sehr entschiedenes
Uebergewicht seiner Handels- und Verkehrsbeziehungen zu
Deutschland. Die betreffenden Kapitel seien insbesondere
dem Studium der deutschen Kaufleute angelegentlich em-
pfohlen. — Eine vorzügliche Beigabe der elegant ausge-
statteten Werke bilden die von L. Friederichsen gezeichneten
Karten und Gebirgsprofile.
— Professor Dr. H. Baumgartner, Tausend
Höhen-Angaben. Graz 188 8. — Ein recht praktisch
angelegtes kleines Nachschlage-Buch, das sich unter den Lehrern
der Geographie an höheren und niederen Schulen sicherlich
viele Freunde erwerben wird.
Inhalt: Dr. Oskar Schneider: Vallombrosa. (Mit vier Abbildungen.) — Dr. F. Boas: Die Mythologie der
nordwest-amerikanischen Küstenvölker. VII. (Mit zwei Abbildungen.) — Kürzere Mittheilungen: Dr. Karl von den Steinen
über die Kultur der Xingu-Indianer. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Allgemeines. — Bücherschau.
(Schluß der Redaktion am 2. Oktober 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckcrt in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g und Sohn in Braunschweig.
ffiUi besonderer Herücbsichtigung der Gibnologie, der Multurberhnltnisse
und des Mett Hand eis.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Der Bergbau in A u st r a l i en.
Von Dr. R. v. L c n d c n f c l d.
I. Nen-S
Die Kolonie Neu-Süd-Wales erstreckt sich vom 29. bis
35. s. Breitengrade, und vom 1410 östl. Länge bis zur Ost-
küste des australischen Kontinentes. Ihr östlicher Theil ist
durchaus gebirgig, während der centrale und westliche Theil
größtentheils eben sind. Die Gebirge des Küstenstriches,
deren Ketten der Küste parallel laufen, bestehen aus Silur
und Granit, besonders im Norden und Süden. In der
Mitte der Kolonie, in der Umgebung der Hauptstadt Sydney
und nördlich davon, tauchen diese alten Gesteinsarten aber
unter triassische Sandsteine und ausgedehnte Carbon-Ab-
lagerungen.
In dem centralen und westlichen, ebenen Theile der
Kolonie treffen wir einen zwischen dem 30. und 32. Grad
südl. Br. west-östlich verlaufenden Streifen von Silur und
Devon an. Nördlich hiervon lagert Kreide, während die
große Ebene im Süden von tertiären Bildungen ausgefüllt ist.
Sowohl in dem gebirgigen Küstenstriche, als auch in
jenem palaeozoischen Streifen, welcher die Kreide vom Tertiär
trennt, werden Erze und Kohlen angetroffen. Bei weitem
das wichtigste Metall, welches in Neu-Süd-Wales berg-
männisch gewonnen wird, ist aber das Gold.
Es wurde in Neu-Süd-Wales vom Grafen Strzlezki im
Jahre 1839 entdeckt. Derselbe fand nämlich in der Nähe von
Wellington zu jener Zeit gold-führenden Quarz. Diese Ent-
deckung wurde jedoch von der Negierung streng verheimlicht.
Zwei Jahre später erklärte W. Clarke, daß in der Nähe
von Bathurst Gold vorhanden sei, und im Jahre 1844
Globus LTV. Nr. 15.
üd-Walcs.
wies Murchison auf die Aehulichteit der geologischen Ver-
hältnisse in Australien und im Ural hin, und schloß hieraus,
sowie aus der Untersuchung der ihm von Strzlezki gesandten
Proben, daß Gold auf der Höhe des Gebirges westlich von
Sydney vorhanden sei. Von diesen Entdeckungen und seiner-
praktischen Erfahrung in den Goldfeldern Kaliforniens
Gebrauch machend, ging H. Hargreaves im Jahre 1851
ans, um in der Nähe von Bathurst Gold zu suchen, und
er fand bald beträchtliche Mengen.
Im ganzen sind seit 1851 etwa 10 Millionen englische
Unzen Gold in Neu-Süd-Wales gewonnen worden, und
da die Unze 3 bis 4 Pfd. Sterling werth ist, so kann das
Erträgniß des Goldbergbaues in Neu-Süd-Wales zu
etwa 37 Millionen Pfd. St. (740 Millionen Mark) an-
gesetzt werden *). Das durchschnittliche Erträgniß per Jahr
beträgt demnach 0,27 Millionen Unzen im Werthe von
1 Million Pfd. St. Im Jahre 1886 wurden aber nur
101,416 Unzen mit einem Werthe von 366,294 Pfd. St.
gewonnen, was kaum ein Drittel des Jahresmittels ist.
In der That hat die Goldgewinnung jetzt, wo die leicht
zugänglichen alluvialen Goldlager ausgebeutet sind, sehr-
beträchtlich abgenommen.
Zuerst wurde nur Alluvial-Bergbau betrieben, und auch
gegenwärtig sind noch viele der Bergbanc im Alluvium.
U Bis zum letzten Dezember 1885 war das Erträgniß
9 774 803 Unzen in einem Werthe von 36469138 Pfd. St.
29
226
Dr. R. v. Lendenfeld: Ter Bergbau in Australien.
Dieselben gehen nicht zu bedeutenden Tiefen hinab — nir-
gends unter 100 m. Die wichtigsten Baue sind aber gegen-
wärtig jene, welche das Gold im Muttergesteine in den
Quarz-Reefs aufsuchen. Viele derselben haben Unglück über
jene gebracht, welche unter großen Kosten die Maschinen
aufstellten und den Bau betrieben, und eine verschwindende
Minderzahl dieser Baue hat sich wirklich als einträglich
erwiesen und während die Bergarbeiter ihr Brod ehrlich
verdienten, verloren die Kapitalisten ihr Geld. Ungeheure
Mengen von Arbeitskraft wurden vergeudet. Wäre diese
in produktiverer Weise angewendet worden, so wäre die
Kolonie viel reicher, als sie ist. Dies wird allgemein zu-
gestanden, und jede finanzielle Betheiligung an einem Gold-
Bergbaue wird als ein Hazardspiel angesehen, auf das der
Kluge nicht viel setzt.
Im Jahre 1886 gab es in Neu-Süd-Wales 6767 Gold-
gräber, davon waren 857 Chinesen. 2665 beschäftigten
sich mit Quarz-Reef-Bergbau und 4102 im Alluvium.
Der durchschnittliche Ertrag einer Tonne alluvialen
Sandes war 8 Pennyweights 7,64 Grains. Die Quarz-
riffe lieferten per Tonne Quarz 12 Pennyweights 9,67 Grains
Gold. Den niedrigsten Ertrag brachten die Gesteine des
Clarence- und Richmond-River-Distriktes im Norden von
Neu-Süd-Wales. Hier erlangte man per Tonne bloß
4 Pennyweights und 5,44 Grains. Die reichsten Quarz-
riffe waren wohl jene in Hill End, wo im Jahre 1873
102 Zentner Gold aus zehn Tonnen Gestein erlangt
wurden. Einige der Neef-Baue gehen bis zu einer Tiefe
von 300 UI herab.
Die wichtigsten Goldbergwerke in Neu-Süd-Wales sind
folgende:
im Bathurst-Distrikt: Bathurst, Trunkey, Tuena,
Carcoar, Orange, Mt. Mac Donald;
im Tambaroora- und Turon-Distrikt: Hill End,
Sofala, Stoney-Creek, Tambaroora;
im Mudgee-Distrikt: Gulgong, Hargreares, Wel-
lington, Mudgee;
im Lachlan-Distrikt: Forbes, Parkes, Grenfell-
Uoung, Cootamundra, Temora;
im Southern-Distrikt: Araluen, Goulbourne,Braid-
wood, Shoalhaven, Bermagui, Nerrigundala;
im Tumut- und Adelong - Distrikt: Adelong,
Gundagai, Tumut, Tnmberumba, Cooma, Wagga-Wagga,
Kiandra;
im Peel- und Uralla-Distrikt: Armidale, Bingera,
Nundle, Rocky River, Tamworth;
im New-England- und Clarence-Distrikt: Boo-
rook, Tenterfield, Dalmorton, Solforino;
im Albert-Distrikt: Mount Browne, Silvertown,
Milparinca, Wilcannia.
Neuerlich sind reiche Silbererze in den Barrier Ranges
in der Nähe von Silvertown aufgefunden worden. Diese
Stadt liegt nahe der Grenze der Kolonie Südaustralien, im
Inneren des Landes, und ist von Sydney aus recht schwer
zugänglich. Das Silber ist thcilwcise in Bleiglauz enthalten
und findet sich auch in Gestalt von Hornsilber und anderen
Erzen. Der Gesammtertrag des Silberbergbaues betrug im
Jahre 1886 über eine Million Unzen Silber im Werthe
von fast 200 000 Pfd. St.
'Blei ist sehr verbreitet, wird aber wenig ausgebeutet,
und der jährliche Ertrag ist nur 4000 Tonnen.
Kupfer findet sich in großer Menge im Inneren von Neu-
Süd-Wales, speziell in der Umgebung von Cobar, im Nord-
westen. Auch im Bathurst-Distrikte giebt es aber Kupfer-
bergwerke. Die Erze enthalten 9 bis 20 Prozent Kupfer,
allein der niedrige Preis des Metalles hat die Ausbeute sehr
wesentlich beeinträchtigt. Neuerlich ist der Preis des Kupfers
fabelhaft gestiegen, und es hat dies in sehr vortheilhaster
Weise auf die Kupfergewinuung zurückgewirkt, gleichzeitig
wurde auch eine Eisenbahn nach Cobar gebaut, und wir
können erwarten, daß der Export — 3968 Tonnen Kupfer
im Jahre 1886 — sich um ein vielfaches vermehren wird.
Zinn ist weit verbreitet, und zwar finden sich die Zinnerze
vorzüglich im Alluvium der Flüsse. Es wurde im Jahre
1872 entdeckt und ist seitdem im Werthe von nahezu
8 Millionen Pfund Sterling exportirt worden. Die wich-
tigsten Zinnbergwerke sind jene von Glen Innés, Tingha,
Vegetable-Creek, Wilson's Downfall und das nördliche
Grenzgebiet der Kolonie, soweit die Berge reichen. Die
Ausdehnung des Zinnerz führenden Gebietes wird zu
8500 engl. Quadratmeilen angegeben.
Diamanten sind in Bingera und Tingha gesunden wor-
den, allein die Diamantgewinnnug, welche an diesen Orten
in größerem Maßstabe betrieben wurde, rentirte nicht.
Eisen findet sich als Brauneisenstein in großen Massen
in Wallerawany und auch in Jervis-Bay und in Carcour.
Die wichtigsten Eisenbergwerke sind jene in Nattai, tnt
Lithgow-Thale und bei Mittagong. Im Jahre 1886
wurden fast 4000 Tonnen Eisen gewonnen. Es ist von
guter Qualität. Das beste und reinste ist aber das von
Mittagong Antimon wird bei Armidale und anderwärts
abgebaut, und tut Jahre 1886 wurden 217 Tonnen von
Neu-Süd-Wales exportirt.
Sehr wichtig sind die Kohlenlager, sowohl wegen ihres
Reichthums und der ausgezeichneten Qualität der Kohlen,
als auch weil die Kohlen von Neu-Süd-Wales die ein-
zigen wirklich guten Kohlen in ganz Australien und Neu-
seeland sind.
Wie oben erwähnt, finden sich im Norden von Sydney
ausgedehnte Carbon-Ablagerungen. In diesen liegen die
Kohlenflötze von Neu-Süd-Wales. Die wichtigsten Baue
liegen in der Nähe von Newcastle, an der Küste, einige
Stunden (per Dampfer) nördlich von Sydney. Im Jahre
1823 wurden nur 600 Tonnen Kohlen hier gewonnen, im
Jahre 1886 hingegen wurden 2 830 175 Tonnen zu
Tage gefördert, im Werthe von 1 303 164 Pfd. St., und
7097 Männer waren in den Gruben beschäftigt. Die
Kohlenflötze sollen in Neu-Süd-Wales eine Ausdehnung
von über 20 000 engl. Quadratmeilen einnehmen. Die
Kohle ist fast ebenso gut für Kesselfeuerung oder für den
Haushalt wie die beste Kohle von Wales, während sie für
Gasbereitungszwecke besser als die Wales-Kohle ist. Dies
ist einem offiziellen Berichte entnommen, und ich möchte
noch bemerken, daß mir persönlich nirgends auf der Welt
bessere und nur in wenigen Orten (in West-England) so gute
Kohle vorgekommen ist wie die von Neu-Süd-Wales.
In Hartley Bale werden große Quantitäten von
Petroleum aus bituminösem Schiefer gewonnen.
Die Gesammtwerthe der Mineralprodukte für die letzten
Jahre sind folgende:
1881. . . . 2 373 190 Pfd. St.
1882. . . . 2 782 344 „
1883. . . . 3 204 901 „
1884. . . . 3 003 831 „
1885. . . . 2 775 175
1886. . . . 2 928 427 „
Der Gesammtwerth der bisherigen Mineralproduktiou
von Neu-Süd-Wales aber tvird zu 70 Billionen Pfd. St.
geschätzt; etwas über die Hälfte davon entfällt auf das Gold.
Ioh. Uhrlaub: Ein Neujahrstag iu Mdo.
227
Ein N e u j a h r s t a g in Dedo.
Von Joh. Uhrlaub.
Mit sechs Abbildungen.)
„Oclg.nu8.iml>., omedeto gozaimasu!“ („Ew. Wohl-
geboren, Gluck sei Ihnen gewünscht!") so klang es mir von
acht Uhr früh ab am Neujahrsmorgen in den Ohren; kamen
doch alle Kaufleute, Beamte rc., mit denen ich in geschäft-
lichem Verkehr stehe — und ihre Zahl ist keine kleine —
einer nach dem anderen zu mir, um mir kleine Geschenke
zu bringen, und unter endlosen Verbeugungen alles Gute
vom Himmel für mich herunterznwünschen.
Bevor der Japaner feine Anrede beginnt, stößt er einen
eigenartigen Zischlaut aus — ein ganz ähnliches Geräusch,
Japanesische Mädchen
als wenn man sich bemüht, zu heiße Suppe zu schlürfen —
nnd man kann sich denken, wie meinenl noch von der Syl-
vesterfeier schweren Kopfe unter dieser schlürfenden, schnattern-
den und — last not least — meinem Gilkakümmcl
eifrigst zusprechenden Gesellschaft wurde.
Schließlich mußte ich — wäre Lessing Kaufmann
gewesen, er hätte sein Wort von dem Nichtmüssen unge-
sprochen gelassen — der Einladung einiger Kunden folgen,
mit ihnen nach Tokio zu kommen und dort den Kelch
japanischer Nenjahrsvergnügungen bis zur Hefe mit ihnen
zu leeren.
Am Bahnhöfe, der sich von derartigen Einrichtungen
in Europa durch nichts unterscheidet, wogte eine mehr oder
weniger vom Sake (Rciswein) animirtc Menge. Denn so
nüchtern wie der Japaner sonst ist, am Shogatsn, d. h. in
gewöhnlichen Standes.
den ersten Tagen des neuen Jahres, gehört es zum guten
Ton sich zu betrinken. Und dazu hatte der größere Theil
der Herren sich mehr oder weniger europäisch kostümirt.
Es wirkt unglaublich komisch, einen braunen, breitnasigen,
schiesbcinigen und langarmigen „Nipon" sein Gesicht unter
dem rauhgebürsteten Cylinderhute verzerren zu sehen. Mit
unnachahmlicher Grazie spreizt der eine die fünf behand-
schuhten Finger, ein anderer zieht die der Stiefel unge-
wohnten schmerzenden Füße abwechselnd in die Höhe, wie
ein Kranich, während ein dritter die verzweifeltesten An-
strengungen macht, ein goldenes Pincenez auf der runden
Stülpnase zu balanciren.
Nach fünfviertelstündigem Fahren durch die jetzt kahlen
Reisfelder, in deren schwarzem Schlamme sich die lachende
Sonne spiegelt, ist Tokio erreicht. Die Straßen dieser
26*
Sü«\X\XVA\\\^ SSàoxwc.'cswvsx
Joh. Uhrlaub: Ein Neujahrstag in Iedo.
229
asiatischen Millionenstadt sind festlich dekorirt. Vor jedem
Hause stehen ein paar hohe frischgeschnittene Bambus mit
unaufhörlich zitternden, zartgrünen Laubkronen. Guirlanden
von buntem Papier, Laternen, oder lange Strähne auf
Fäden gezogener Orangen spannen sich in zierlich ge-
schwungenen Bogen von einer Seite der Straße zur anderen.
An dem Saume der braunen Strohdächer flattern feine
Fransen ans Reisstroh und weißem Papier, und jeder
Wohnung sieht man den vorhergegangenen Scheuertag an,
namentlich sind die papicrnen Fenster alle erneuert und
glänzen in undurchlöchertcr Weiße. Zum neuen Jahre
gehört auch ein neuer Kimono I, und so hat jeder, der irgend
es ausführen konnte, jedes Mitglied seines Hausstandes
von Kopf bis zu Fuß neu bekleidet.
Die japanische Tracht ist ungemein kleidsam, und um
so mehr ist es zu bedauern, wenn man schon jetzt den Zeit-
punkt vorherbestimmen kann, wo Kimono und Haori I
durch Gehrock und Frack werden verdrängt sein.
In den Straßen ist ein buntes Leben. Ueberall hin
fahren die Dschinrikischas. Die Dschinrikischas sind charakte-
ristisch für Japan, es sind leichte zweiräderige Wägelchen, in
dessen Deichsel sich Männer einspannen. Der Passagier, oder
auch deren zwei nehmen im Wagen Platz, und fort läuft
das zweibeinige Zugthier, ebenso schnell und andauernd wie
ein Pferd. Der Europäer, welcher zuerst nach dem Orient
kommt, weigert sich anfangs regelmäßig an dieser Herab-
würdigung des Menschen thätigen Antheil zu nehmen, aber
sehr bald stumpft sich diese Empfindlichkeit ab, und binnen
kurzem hat man sich daran gewöhnt, den Rikischabauli ebenso
zu behandeln wie in Berlin ein Droschkcnpserd —eine Behaup-
tung, die drastisch und unwahrscheinlich genug klingen mag,
aber nichtsdestoweniger vollkommen der Wahrheit entspricht.
Eine japanesische Dame in der Dschinrikischa.
Die Insassen der an uns vorüberfahrenden Rikischas,
sind meist zur Gratulation der Vorgesetzten umhcrfahrende
und zum Theil betrunkene Beamte, welche ihre vom Sake
schweren Häupter müde auf die goldgestickten Uniformen
hängen lassen. Zwischen die Passanten hindurch winden
sich Knaben und werfen, unbekümmert um die Hüte der
Vorübergehenden, ihre Papierdrachen in die Höhe, während
junge Mädchen mit Gewandheit und natürlicher Anmuth
den Federball von einer Gruppe zur anderen treiben. Ein
Kuhhorn ertönt am unteren Ende der Straße, und alles
fährt auseinander, die Drachenschnüre werden nach Mög-
lichkeit entwirrt, die Rikischas fahren mitten zwischen die
Fußgänger — die Pferdebahn kommt.
Die Läden mit ihren hübschen Auslagen niedlicher Lack-
Kimono — Kleid, Anzug, eigentlich das lange Unterkleid.
sächclchen oder den vielgestaltigen Porzellangefäßen bieten
heute starke Anziehungskraft, um dem Bedarf an kleinen
Geschenken Genüge zu leisten. Erlaubt der Geldbeutel
nicht den Aufwand eines solchen, so schickt man seinen
Freunden znm mindesten eine schriftliche Gratulation;
letztere Sitte bringt auch dem spekulativen Straßenschreiber
dort au der Ecke heute manchen „Tempo" (eine ovale
Bronze-Münze — 100 Eash) ein, für seine zierlich
geschriebenen Glückwünsche in chinesischen Charakteren —
ein leichter Verdienst, denn sein Pinsel fährt so schnell
über die Papierrollen, daß der Diktirende kaum folgen kann.
Auch jener Erzähler von „Nnlcaslli Banashi“ (alten Ge-
schichten, Märchen oder Begebenheiten ans der Zeit der
ehemaligen Daimio-Hcrrschast) welcher gerade jetzt durch das
J) Haori — kurzer Ueberrock.
230
Joh. Uhrlaub: Ein Neujahrsiag in Aedo.
Gegeneinanderschlagen zweier Holzstübe die Aufmerksamkeit
der Vorübergehenden erregt, hat heute gewiß schon gute
Geschäfte gemacht, wenigstens zeigt die lederne Geldtasche
an seiner linken Seite eine ansehnliche Rundung. Hier
fesselt ein Taschenspieler durch geschickte Stückchen und
witziges Wortspiel feine Zuhörer in dem Maße, daß einige
bettelnde Bonzen, deren breite Pilgerhüte und zerrissene
Gewänder ihnen den Anstrich geben, als kämen sie von
einer Pilgerfahrt nach dem heiligen Fustyama, selbst durch
einen näselnden Bctaesana kein „shindjo“ von der aar
nicht zum Beten auf-
gelegten Menge er-
langen können. Nach
der alten Glaubens-
regcl nämlich soll
jeder Japaner in sei-
nem Leben minde-
stens einmal zum
Fustyama (Feuer-
berg) wallfahren, um
Verzeihung für sein
sündiges Leben zu
erhalten. Aus die-
sem Grunde pilgern
auch thatsächlich
alljährlich Tausende
und Abertausende
aus allen Provin-
zen des Reiches zum
Fttsi und erklimmen
den schneebedeckten
Gipfel dieses ausge-
brannten Vulkans.—
Die heilige Scheu
und staunende Ver-
ehrung des Japa-
ners für diesen Berg
ist nicht nur erklär-
lich, sondern jedem
Naturliebhaber, ver-
ständlich. Aus einer
endlosen Ebene er-
hebt sich der drei-
zehntausend Fuß hohe
Kegel wie ein riesi-
ger Termitenbau; cs
ist dasselbe Bild, wel-
ches wir in endlosen
Wiederholungen auf
alle den zierlichen ja-
panischen Lacksachen
wiederfinden.
Doch zurück zu
unserem Straßen-
leben. Wenn wir
die Gruppe da vor
uns einmal näher
mustern, fallen uns zunächst zwei neben uns stehende halb-
wüchsige Mädchen auf, welche, obschon selbst fast noch Kinder,
dennoch jede eines ihrer jüngeren Geschwister, auf dem Rücken
festgebunden, mit sich umhertragen. Wie allen, so ist auch
diesen Babics das Haar bis auf wenige Locken an der Stirn
und über den Ohren glatt rasirt — eine praktische Sitte,
wenn man das, im Sommer hauptsächlich, zur Plage
werdende Ungeziefer berücksichtigt. Dort jene junge Mutter
stillt den Durst ihres Säuglings, welcher leider von dem
so häufigen Aussatze über und über bedeckt ist. Gegenüber
Damen in Sommer-Straßenkleideru.
an der Häuserseite kauern einige Männer verschiedener
Altersklassen, eifrig die Tabakpfeife mit dem winzig kleinen
Kopfe unter sich kreisen lassend.
„Eia, eia, handa, handa hei“ — da kommt ein
Hatsn-Zug (Hatsu — das Beginnen, der Anfang einer
Sache) vorüber, eine Schaar Kulis schieben und ziehen einen
mit Reisballen hochbeladenen Wagen, wobei sie im Takte
jene Worte rufen. Oben auf den Ballen sitzt der Inhaber
des Geschäftes, welches den Reis verkauft hat, und neben ihm
einige Trommler und Pfeifer, deren Gesichter schwarz und roth
bemalt sind. Dem
Zuge voran sprin-
gen junge Leute mit
buntfarbigen Fah-
nen, die Burschen
haben sich drastischer
Weise auf jede Backe
das japanische Wap-
pen — eine rothe
Kugel — gemalt.
Ein jeder Kuli trägt
einen neuen Kimono,
indigoblau, auf dem
Rücken mit weißer
Farbe seinen Na-
men in chinesischen
Schriftzeichen.
Diese Umzüge,
von denen wir spä-
ter noch verschiedene
mehr oder weniger
pomphafte sehen,
feiern das erste Ge-
schäft im neuen
Jahre — nach dem
alten Brauche des
Hatsu.
In dem Viertel
der Schnittwaaren-
händler hat sich in
den letzten Jahren
gar manches ver-
ändert. Statt der
faltenreichen, seide-
nen Kimonos und
reichgestickten Obis
(Gürtel) nehmen
großkarrirte Hosen-
stoffe, schwarze Filz-
hüte, Dari, de Co-
logne, Glacehand-
schuhe und weiße
Halsbinden jetzt den
Hanptplatz ein —
man sieht, der ja-
panische Kultur-
barometer ist im
Steigen — hoffen wir, daß die Zeit nach der Vertrags-
Revision ihn nicht auf Sturm und Regen heruntertreibt.
Ein Thee- und Kuchen-Händler kommt hier die Straße
herunter und ruft sein „Ocha“ in langen Noten durch die
Gassen. „Ocha“ bedeutet „Thon“ (eigentlich „cha“),dasO —
ein verbmn honorificum •— wird davorgesetzt, um die Ver-
ehrung des Getränkes zu bezeichnen (wie sän Herr, osan
König).
An den Enden eines über die Schulter gelegten Bambus
trägt er zwei Kasten aus leichtem Holz, in dem vorderen
Joh. Uhrlaub: Ein Neujahrstag in Iedo.
231
brodelt der Thee auf glühenden Kohlen, während in dem
zweiten hinter einem Glasfenster eine Auslage der ver-
schiedensten Süßigkeiten den Gaumen kitzelt. Einige
Soldaten, von der Neujahrsfeier mehr oder weniger in
schwankende Mitleidenschaft gezogen, kaufen jenem den
größeren Theil seines Kuchenvorrathes für wenige An ab
und trinken Thee aus kleinen flachen Porzellanschälchen.
Amüsant sind die bunten Uniformen dieser schiefbeinigen
Söhne des Mars; neben dem Helm des französischen Dra-
goners und dem Käppi des Württembergers blitzt auch die
preußische Pickel-
haube. Diese Ver-
schiedenheit der Uni-
formirung beruht auf
dem häufigen Wech-
sel der europäischen
Militärinstruktenre,
welche ihrer Natio-
nalität in der Aus-
staffirung der von
ihnen eingedrillten
Truppen auf diese
Weise ein Denkmal
setzten.
Das dumpfe Dröh-
nen von Kupfer-
becken und Trom-
meln, welches von
fern die Straße her-
auftönt, meldet das
Kommen eines Lei-
chenzuges. Es muß
der Angehörige einer
nicht armen Familie
sein, den man dort
zum Scheiterhaufen
trägt; das schließt
man aus dem Auf-
wande der Prie-
ster, welche sich ihre
Dienste stets theuer
bezahlen lassen. Die
Bonzen mit ihren
kahl rasirten Schä-
deln ziehen musici-
rend voran. Hinter
ihnen folgt der „Ga-
noke", ein kleiner
würfelförmiger
Sarg, von acht Män-
nern auf einer schön
geschnitzten Bahre ge-
tragen und mit wei-
ßem Leinen behän-
gen. Die Spitzen
der Bahre zieren aus
Holz geschnitzte, ver-
goldete Zweige der Lotosblume. Zum Zeichen, daß der
„Ganoke" eine männliche Leiche birgt, hat mau einen blauen
„Kimono" darüber gebreitet. Zeichen einer weiblichen Leiche
ist ein Kimono rother Färbung.
Langsam bewegt sich die Prozession zum Platze außer-
halb der Ringmauern, auf dem die Lcichenverbrennungeu
geschehen.
Eigenthümlich ist die sitzende Stellung, welche den
Leichen im Sarge gegeben wird: die Kniee eng an die
Brust gepreßt, und die Hände unter dem Kinn gefaltet.
Es soll aber diese Lage das ewige Leben symbolisiren, indem
der Mensch in derselben Form, in der er zuerst das Leben
erhielt, auch von der Erde scheiden soll, wenn er seinen
Weg vollendebhat. Nur höhere Beamte oder ganz Reiche
machen von diesem Gebrauche eine Ausnahme und lassen
sich im langen Sarge liegend bestatten; auch ziehen diese
reicheren Klassen meistens eine Beerdigung der Verbrennung
vor. Auch die allerärmsten Stufen der Bevölkerung werden
aber zum größten Theile begraben, da sie die Kosten der
Verbrennung (zum mindesten 3 An — Mk. 10. —), nicht
erschwingen können.
Ist doch ihr Jahres-
verdienst selten über
40 bis 60 Dollars.
In sehr vielen Fäl-
len bedient man sich
übrigens statt höl-
zerner Särge großer
Gesäße ans Thon
oder Porzellan. Au
dieser Stelle möchte
ich noch eine Illu-
stration von der
Ausbeutung des
Volkes durch das
Priesterthum geben.
Bekanntlich vergeht
die kurz nach dem
Tode einsetzende Lei-
chenstarre bereits
nach einigen Stun-
den. Die schlauen
Priester haben sich
ihre Kenntniß von
dieser Naturerschei-
nung nun zu nutze
gemacht und lassen
sich „das Erweichen
der starren Gelenke"
durch Beten und Auf-
streuen eines grauen
Pulvers — „Dosha"
— bei Gelegenheit
theuer bezahlen. Das
„Dosha" aber ist
weiter nichts als
werthlose Holzasche.
Doch zurück zu
unserer Wandernug,
welche uns endlich
zum Ziele, einem
großen Theehause im
Ueno-Parke, geführt
hat. Wir werden
dort aufs höflichste
begrüßt, d. h. der
Wirth und die sämmt-
liche Dienerschaft werfen sich auf die Knie und senken das
Haupt vielfach bis aus den Boden. Die Einrichtung eines
japanischen Hauses beschränkt sich auf das Einfachste;
außer der „Hibachi", einem hölzernen oder metallenen
Kohlcngefäß, welches zugleich die Stelle des Heerdes
und Ofens vertritt, und dem „Tansu", einer Art Kom-
mode mit zahllosen Auszügen, pflegen nur selten andere
Möbel die Räume zu verengen. Der Fußboden ist mit
feinen Binsenmatten, den „Tattamis" belegt, welche — selbst
von uns — nicht mit Stiefeln betreten werden dürfen.
Soldat in alter Tracht und Bewaffnung.
Küche in einem Manischen Theehau^e
Ioh. Uhrlaub: Ein Neujahrstag in Pedo.
233
Anstatt auf Stühlen, sitzt man auf kleinen viereckigen Kiffen —
den „Foutongs" — mit gekreuzten Beinen. Die Hausflur
dient in den meisten Fällen auch zugleich als Schlafzimmer.
Bei Einbruch der Nacht wird eine Decke auf den Fußboden
gebreitet, mit einem wattirten Winterkleide deckt der Schla-
fende sich zu, der Kopf ruht auf dem „ Matura" — einem
Stücke Holz in Ambossorm — et voilà tout! Die zahl-
reichen geräumigen Gastzimmer befinden sich eine Etage
höher. Aus mehreren derselben tönt Musik und frohes
Lachen. Wir fetzen uns um die „Hibachi" herum auf die
wattirten Kiffen, und machen es uns so bequem als irgend
möglich. Inzwischen haben unsere japanischen Freunde
einige Sängerinnen und Tänzerinnen rufen lassen, welche
soeben hereintraten und uns knieend begrüßen. Es sind
sieben junge Mädchen mit hübschen Gesichtern, aufs sorg-
fältigste gekleidet, coifsirt und geschminkt. — Die „Gen-
schers" — so ist die Bezeichnung dieser Art Tänzerinnen —
verstehen cs durch Witz und Wortspiele, Komplimente und ge-
suchte Selbsterniedrigungen die Unterhaltung bald zu einer-
recht animirten zu machen. Einige kleine lackirte Tischchen sind
vor uns aufgestellt, und so geräuschlos, daß ich es kaum
bemerkte, mit einer Unzahl von Tellern, Näpfchen und
Schüsselchen bedeckt, in denen die verschiedenartigsten Ge-
richte servirt sind. Neben dem Neis spielt Fisch in allen
möglichen Zubereitungsweiscn die Hauptrolle: roh, gekocht,
gebraten, gesalzen, geräuchert und getrocknet, süß und mit
scharfer Sauce, und dazu eine Menge ziemlich schmack-
loser Gemüse und eine reiche Auswahl gezuckerter Früchte.
Fleisch war nur in einer Schüssel enthalten, und auch
dies wohl nur aus Artigkeit für mich. Die Eßstäbchen
klappern eifrigst, aber auch die Finger müssen mithelfen die
schlürfenden und schmackenden Lippen zu füllen. Es ist
kein schöner Anblick, Japaner essen zu sehen, so daß ich
mich freute, als die Tische fortgeräumt waren und durch
Sake-Flaschen und kleine Porzellanschälchen ersetzt wurden.
Der Sake, ein aus gegohrenem Reis bereitetes berauschendes
Getränk, wird sowohl herbe als auch mit Zucker versüßt
und mit Gewürz versetzt, in ganz Japan viel getrunken,
in letzter Zeit jedoch vielfach durch Bier und süße Liköre
verdrängt.
Die „Gaischas" sind eifrig im Zutrinken und wissen
uns durch höfliche Triuksprüche zum Leeren manches Schäl-
chens zu bringen.
Während die Eßtischchen fortgeräumt wurden, haben die
Spielerinnen ihre Instrumente hervorgeholt. Da ist zuerst
das „Shomisin" — eine dreisaitige Guitarre — dann das
vielsaitige „Goto", welches ich mit der Zitier vergleichen
möchte, und endlich das „Suzumi" — eine Trommel in
Form einer Sanduhr — welche letztere mit der flachen rechten
Hand geschlagen wird, während die Finger der linken durch
Anspannen eines Seidenbandes dem Tone eine höhere
Schwingung geben (etwa a bis b). Die Melodien bewegen
sich durchgängig in Moll Tonarten, mit häufigen unmotivirten
Uebergängen von tieferen in höheren Octaven, und im
ganzen haben diese musikalischen Productiouen für unsere
Ohren etwas sehr Monotones. Der nicht ungraziöse Tanz
beschränkt sich fast vollständig auf Arm- und Hand-Be-
wegnttgcn, und überrascht durch die treffcude Nachbildung
der Handlung.
Die Liebe, der Frühling, das Toben des Meeres und
das Züngeln der Flammen k. dienen als Motive für Tanz
und Gesang.
Das Theater hat aber in Pedo schon längst begonnen,
so daß wir leider an das Fortgehen denken müssen.
Die Nacht ist bereits eingebrochen und hat die Stadt in
Dunkel gehüllt. In den Straßen ertönt die schrille Pfeife
oder der klagende Nus der Blinden „Ammas", welche durch
Globus LIV. Nr. 15.
Massiren Kranker ihr Brot verdienen, und welche rufend
die Aufmerksamkeit etwaiger Patienten in den Häusern er-
regen oder durch die Pfeife den Fuhrwerken und Passanten
ein Zeichen zum Ausweichen geben wollen. Das Massiren
spielt ja eine Hauptrolle in der japanischen Heilkunde, und
die Zahl der Blinden beiderlei Geschlechts ist in Japan eine
ungeheure.
Vor jeder Hausthür brennen einige bunte Papierlaternen,
deren Lichtschein dem bewegten Straßenleben das Ansehen
eines Jahrmarktes giebt. Fahrende Restaurationen, bezw.
Küchen auf zwei Rädern, stehen an jeder Straßenecke und
versorgen die ärmeren Volksklassen um ein Weniges mit
ihren culinarischen Genüssen.
Das Nächstwichtige nach dem Essen und Trinken ist
dem reiulichkeitliebenden Japaner das Bad, und dieses
erklärt auch die Uebersüllung sämmtlicher Bäder, welche wir
passiren. Werfen wir einen Blick in eines dieser Bäder.
Der Name des Bades „Ohjo" — heißes Wasser — wird durch
die übermäßige Temperatur desselben genügend gerechtfertigt.
Es sind zwei Abtheilungen für die verschiedenen Geschlechter
vorhanden, doch ist die Scheidewand kaum eine solche zu
nennen. Nach dem Bade wird die Haut mit den Fasern
einer Melone — „Hechima" — frottirt, die Japanerinnen
haben wohl hauptsächlich dadurch den Ruf ihrer sammet-
weichen Haut erlangt.
Das hohe Dach des geräumigen Theaters ist schon von
weitem kenntlich, um so mehr, da das ganze Gebäude mit
großen Lampions behängt ist. Durch das Gedränge an
der Kasse brauchen wir glücklicherweise nicht hindurch, da
unsere Freunde schon vor Wochen einige der wenigen
„Logen" für den heutigen Tag gemietet haben. Die
Billets für den Sperrsitz sind beschriebene Holzstücke von
der Größe eines halben Fußes. Der innere Raum des
„Shibaya" (des Theaters) ist quadratisch, an der dem Ein-
gänge gegenüberliegenden Seite befindet sich die Bühne,
links von dieser das Orchester; dasselbe besteht aus fünf
Sängern, drei Shomisin-Spielern, zwei Flötisten, zwei
Trommlern, und zwei Leuten, welche den Takt bei den
Tänzen durch Holzklappern accentuiren. Quer durch den
Sperrsitzraum, vom Eingänge bis zur Bühne, laufen zwei
etwas erhöhte Gänge, ans denen die Schauspieler sich zur
Bühne begaben, die Handlung des Stückes bereits auf diesen
Gängen beginnend. Die Bühne ist etwas über das Parterre
des Zuschauerraumes erhöht und gleicht in den Einzelheiten
ihrer Einrichtung so ziemlich derjenigen eines europäischen
Dorftheaters. Die Konlissen werden auf eine originelle Weise
gewechselt. Die Bretter, welche die Welt bedeuten, bilden
nämlich eine kreisrunde, bewegliche Scheibe. Während nun
auf der einen Seite dieser Scheibe die Handlung vor sich geht,
werden an der Rückseite derselben die Koulissen für den
kommenden Scenenwechsel vorbereitet, im geeigneten Augen-
blicke wird die Scheibe umgedreht, und die neue Scene ist
dem Zuschauer zugekehrt. Ein Herold verliest das Programm
vor Auszug des Vorhanges, während zwei Spaßmacher durch
kritisirende Bemerkungen sich nach Kräften bemühen, die
endlose Länge der Vorlesung zu verkürzen.
Der Vorhang rauscht in die Höhe und zeigt die spär-
lichen Koulissen der leeren Bühne. Langsam, und einer
nach dem anderen kommen die Schauspieler auf den Gängen
zur Bühne. Die Rollen der Weiber werden durch junge
Männer auf das vorzüglichste gespielt.
Der Soufleur hat seinen Platz nicht wie bei uns in
seinem Kasten, sondern auf der Bühne. Er ist in weite
schwarze Tücher gehüllt und verbirgt sich möglichst hinter
dem Schauspieler, welcher seiner Dienste gerade am meisten
bedarf, von einem laugen Papierstreifen die Rollen ablesend.
Die eigentliche Handlung, in welcher zwei- und eindeutige
30
234
I. v. Goerne: Die Insel Trinidad.
Witze nicht auf der Goldwaage gewogen werden, wird häufig
durch eingelegte Tänze unterbrochen.
Einer der beliebtesten Tänze ist der Cappore, von dem
der erste Vers nachstehend:
Der Chorus ruft: Cappore, Cappore,
Amacha de Cappore.
Das Solo des ersten Tänzers lautet:
Okino kurai no ni In das weite Dämmerlicht
8hirahoga miyeru Blickt das weiße Segel
Are wa Kino Kuni Das ist von der Provinz Kino
Mikanbune. Das Orangenboot.
Abwechselnd, einzeln oder zu fünfen verrenken die Tänzer
ihre Arm- und,Beingelenke auf das unglaublichste, während
das Orchester im Fortissimo schmettert.
Das Aufstehen und Aufbehalten der Hüte ist hier
übrigens ebenso verpönt, wie bei uns; so passirte es mir
einmal in Yokohama, daß mich mein Hintermann mit Stentor-
stimme ans mein Vergehen aufmerksam machte mit den
drastischen Worten: „Bismarkman, doozo, okakinasai!“
(„Herr Bismarck, bitte setzen!")
Nach einem Bravourtanz des Solisten, dessen Name,
als höchster Beifall von dem enthnsiasmirtcn Hanse im
Chorns gebrüllt wurde, hat sich der Vorhang gesenkt, und
nach allen Seiten verläuft sich der Schwarm der Zuschauer.
Meine Gastfreunde können gar nicht zum Schluß kommen
in ihren Danksagungen für die Ehre, welche sie durch meine
Begleitung empfanden, und noch in.den fahrenden Zug
rufen sie mir ihr Lebewohl nach: „Saionara!"
D i e Insel Trinidad.
Von I. v o n G o e r n e.
Obwohl Trinidad nicht, wie etwa St. Thomas, an
einer großen Fahrstraße gelegen ist, welche zahlreichen
Schiffen Gelegenheit giebt, die Insel aufzusuchen, fo bietet
sie doch in mancher Hinsicht so viel des Interessanten, daß
es dem Reisenden, welcher die Antillen besucht, wohl die
Mühe lohnt, wenn er seinen Weg nach der größten und
südlichsten der kleinen Antillen, lenkt.
Wie bekannt, entdeckte Kolumbus auf seiner dritten
Reise die Insel. Am 21. Juni 1498 hatte er, nachdem
von Ferro ans drei Schiffe seines Geschwaders in gerader
Richtung nach Hispaniola entsandt worden waren — selbst
mit einem großen Schiffe und zwei Karavelen unter Be-
rührung der Kap Verde'schen Inseln einen südwestlichen
Kurs eingeschlagen. Er wollte zunächst den Aequator er-
reichen, dann gegen Westen bis znm Meridian von Hispa-
niola vordringen, und erforschen, ob nicht der Meridian,
welcher die Welt zwischen Spanien und Portugal theilte,
nahe dem Aeguator irgend ein Land kreuze. Am 13. Juli
geriethen die Schiffe des kleinen Geschwaders in die Zone
der äquatorialen Windstillen. Die Hitze wurde so uner-
träglich, daß sich niemand mehr in die unteren Schiffs-
räume begeben mochte; beim hier sprangen bereits die
Reifen von den Fässern.
Infolgedessen, nachdem der 7.° n. Br. berührt war,
gab Kolumbus seinen südlichen Kurs auf und segelte
17 Tage lang, vom Passat getrieben, wieder recht gegen
Westen, als es bereits auf den Schiffen an Wasser zu
mangeln begann. Da der Admiral die Karibischen Inseln
nordwärts vermuthete, beschloß er rasch dahin zu steuern.
Nun stieg zufällig, es war am 31. Juli 1498 des Mittags,
ein Mann auf den Mast, welcher im Westen ein Land mit
drei flachen Gipfeln — nach denen dasselbe Trinidad genannt
wurde —• erblickte.
Man steuerte der Südostecke des entdeckten Landes zu
und segelte dann, dem Lause der Küste folgend, westwärts.
Am anderen Tage, dem 1. August, kam beim Erreichen
der Südwestspitze Trinidads auch zur Linken neues Land in
Sicht, welches sich später als das Festland von Süd-Amerika
erwies, zunächst aber noch für eine Insel gehalten wurde,
der man den Namen Isla Santa gab.
Die Ureinwohner, Arouniks- und Chaimas- Indianer,
nannten die Insel „Jore" oder das Land der summenden
Vögel (Kolibris), welche von diesen Natnrkindern in großer
Verehrung gehalten und nicht geschädigt oder vernichtet wer-
den durften. Heutzutage hat sich dies freilich geändert, denn
in vielen Kaufläden des Hauptortes Port of Spain sind
ganze Massen dieser zierlichen Vögelchen im ausgestopften
Zustande zum Verkauf ausgelegt.
Etwa neunzig Jahre nach seiner Entdeckung wurde
Trinidad von den Spaniern kolonisirt und die Hauptstadt
St. Joseph, etwas landeinwärts von der jetzigen Haupt-
stadt angelegt. Hier, wie auch auf den schon von den
Spaniern bis dahin in Besitz genommenen Ländern wurden
die Eingeborenen auf das härteste bedrückt. Der Ueber-
lieferung zu Folge brachte ein indianisches Fest im Inneren
des Landes, welches auch von den Spitzen der Behörden und
der Geistlichkeit besucht wurde, den angesammelten Zünd-
stoff der Unzufriedenheit znm Entstammen; ein Kriegstanz
der Indianer ging in einen Vcrnichtnngskampf gegen ihre
Unterdrücker über, und wer sich nicht durch schleunige
Flucht zu retten vermochte, wurde gelobtet.
Zu denen, welche letzteres Schicksal ereilte, gehörte anch
der Gouverneur, sämmtliche anwesende Priester und die
Mehrzahl der Mitglieder des Cabildo (der gesetzgebenden
Versammlung). Derartige Vorfälle werden die Ausrottung
der Indianer nur beschleunigt haben, denn letztere sind seit
längerer Zeit schon nicht mehr als ein eigener Volksstamm
zu erkennen gewesen.
Die Kolonisation der Insel wies nur geringe Fort-
schritte auf.
Nachdem man aber im Jahre 1783 durch einen Gesetz-
entwurf etwa neu ankommenden Ansiedlern besondere Ver-
günstigungen gewährt hatte, trat ein erheblicher Zuzug von
Franzosen und Kreolen, welche die benachbarten Inseln
verließen, ein, so daß die Einwohnerzahl Trinidads sich im
Verlaufe weniger Jahre von 1000 auf 12000 vermehrte,
welche Zahl während der Nevolutions- und Schreckenszeit
noch bedeutend vermehrt wurde. Diese Einwanderung
drückte der Bevölkerung den Stempel einer bestimmten
Nationalität freilich nicht auf, gab ihr aber manche Eigen-
thümlichkeiten, die noch heute wahrzunehmen sind. Hervor-
zuheben sind von diesen: die Ehelosigkeit der arbeitenden
Klassen, welche durch mannigfache kirchliche Einflüsse bis
jetzt noch nicht hat gehoben werden können, und die Sprache,
I. v. ©o er ne: Die Insel Trinidad.
235
welche heute noch ein französisches Patois ist, das die Neger
und Mischlinge unter sich lieber als das Englische reden,
wenngleich sie letzteres auch meistens verstehen.
Wie oben schon bemerkt, wurden die Engländer Ende
vorigen Jahrhunderts Herren der Insel, deren Bevölkerungs-
zahl damals ans 17 718 angegeben wurde.
Im Jahre 1834 sielen auch hier, wie in allen Kolonien
des britischen Reiches, die Ketten der Sklaverei, und da
infolgedessen auf die Arbeitskraft der befreiten Neger wenig
mehr zu rechnen war, so folgte die Zuführung der Völker
Asiens: Chinesen und Hindus — der sogenannten Knlis — die
mit ihren Nachkommen gegenwärtig ein Drittel der ganzen
Bevölkerung von Trinidad ausmachen mögen. Die Ober-
fläche der Insel wird zu 4544 qkm angegeben, wovon zur
Zeit etwa 370 qkm in Kultur sind.
Die Hauptprodukte, welche Trinidad hervorbringt, sind
bis jetzt Zucker und Kakao; indessen werden große An-
strengungen gemacht, auch andere Früchte, namentlich Reis
und Mais, zum Anbau zu bringen.
Wie bedeutend die Ausfuhr in neuerer Zeit ans Trini-
dad geworden ist, zeigen die folgenden Zahlen: In den
Jahren 1839 bis 1841 betrug die durchschnittliche Aus-
fuhr eines Jahres etwa 13^ Millionen Kilogramm Zucker,
von 1879 bis 1881 aber schon 61^ Millionen Kilogramm.
An Kakao wurden in den Jahren 1841 bis 1843 durch-
schnittlich fast 11/2 Millionen Kilogramm, und von 1879 bis
1881 über 5 */2 Millionen ausgeführt.
Der Handel mit Deutschland ist gering, obwohl in Trini-
dad ein angesehener deutscher Kaufmannsstand vertreten ist.
Ein weiterer wichtiger Ausfuhrartikel der Insel ist der
Asphalt. Im Südwesten derselben findet sich nämlich in der
Nähe des Oertchens — kaum verdient dies den Namen Dorf
— La Brea, ein Bergsee, der mit seiner Oberfläche 41,4 m
über den: Meeresspiegel liegt und einen Flächenraum von etwa
40 Hektaren einnimmt. Dieser Bergsee — kein See im ge-
wöhnlichen Sinne des Wortes, da seine Oberfläche und
sein Inhalt meist nur aus Pech und Asphalt von solcher
Festigkeit besteht, daß er überschritten werden kann (bei
Anwesenheit des Verfassers überschritt ihn sogar eine ganze
Gesellschaft von etwa 50 Personen gemeinschaftlich) — liefert
nun die oben erwähnten Handelsartikel, von dem im rohen
Zustande im Jahre 1885 nahezu 32 Millionen Kilogramm
ausgeschifft wurden.
Der Asphalt des „Sees" quillt in gesonderten Hansen
von sehr verschiedener Größe ans, die dicht neben einander
liegen. Die Oberflächen sind durchaus eben; die unregel-
mäßig geformten Seiten sind rinnenförmig nach unten
geneigt. Die Breite dieser Rinnen, welche mit frischem
Wasser gefüllt sind, ist verschieden und steigt von 0,3 bis
3 m Breite und bis 1,5 m Tiefe. Nach der Mitte des
Sees wird freilich der Asphalt weich, doch kann man auch
hier noch ganz gut die Oberfläche überschreiten: bei
längerem Stillstehen würde man hier allerdings einsinken.
Zuweilen soll hier flüssiges Pech aufquellen, wobei sich un-
angenehme schweflige Dünste verbreiten.
Die Gewinnung des Asphalts geschieht, indem — am
besten in der Morgenfrühe — mit den erforderlichen Instru-
menten größere Stücke desselben losgetrennt werden. Diese
befördert man dann zu Wagen nach Palm Point, in der Nähe
von La Brea. Der etwa eine Seemeile lange Weg führt
durch ein bewaldetes, nach dem Meere abfallendes Gelände.
Auch am Meeresstrande sieht man das Pech an vielen
Stellen dem Erdboden entquellen: ja südlich von Palm
Point ragen sogar Pechhügel gleich Klippen ins Meer
hinein, und es gewinnt den Anschein, als wenn das vom
langsam dahin fließenden Pech getragene Land allmählich
in den Golf hineingeschoben werden müßte. Etwa 200 m
vom Lande gewahrt man, daß sich Pech und Erdöl auf der
Oberfläche des Wassers ausbreitet, was auf unterseeische
Quellen der genannten Stosse schließen läßt.
Die Häuser von La Brea — besser Hütten — sind meist
auf den unter dem Sande lagernden Pechschichten errichtet.
Da jene von Zeit zu Zeit einsinken, müssen sie periodisch neu
aufgeführt werden. Einige Oefen mit Pfannen, welche
zum Auskochen des Pechs dienen, hat man dagegen auf
festem Untergründe erbaut. Das gekochte Pech ist dann so
hart, daß die Fässer ohne Bodendeckel verladen werden,
während das rohe stets dickflüssig bleibt.
Des Morgens ist die Luft über dem Pechsee frisch und
kühl: man vermag dann noch in dem Wasser der Rinnen
ein kaltes Bad zu nehmen, während gegen zwei Uhr-
Nachmittags an derselben Stelle und im selben Wasser-
heiß gebadet werden kann.
Uebrigens ist das Wasser der Rinnen frisch und unter
Umständen sogar trinkbar. Die Negerinnen benutzen dasselbe
als Waschwasser.
Es kann allerdings nicht Wunder nehmen, wenn das
Wasser getrunken wird, denn der Wassermangel dort ist
groß: In La Brea ist Trinkwasser überhaupt nicht zu be-
kommen.
Neben den Rinnen findet sich an vielen Stellen, die
Oberfläche des Sees durchquerend, Erdreich mit Gebüsch.
Vielleicht hat man hier ein versunkenes Land vor sich.
Nach einer alten indianischen Ueberlieferung stand an der
Stelle des jetzigen Pechfees einst auf fruchtbarem Boden ein
Dorf der eingangs schon erwähnten Ureinwohner der Insel,
der Chaimas-Jndianer.
Die Sage berichtet, daß „hier, wo auf warmem Grunde
die Ananas besonders gediehen, wo reichliche Fische nicht
ferne waren und der liebliche Gesang der summenden Vögel
erschallte — die Indianer ihre Wigwams gebaut hatten.
Aber sie waren nicht zufrieden mit den Gaben, welche ihnen
die Natur in überreicher Fülle darbot, ihr Sinn stand auch
nach dem schmackhaften Fleisch der gefiederten Sänger des
Waldes. Diese aber waren geheiligte Geschöpfe, deren
Vernichtung den Zorn des Großen Geistes wachrief! In
einer Nacht waren alle Wigwams mit ihren Bewohnern
verschwunden — an bereit Stelle aber der Pechsee ent-
standen". — Das Klima von Trinidad kann im allge-
meinen als ein gesundes bezeichnet werden, die Umgebung
einiger sumpfiger Gegenden ausgenommen.
Auch auf den Ankerplätzen der Insel, die vorzugsweise
im Westen derselben, also im Golfe von Paria liegen, herrscht
stets eine gesunde und reine Luft. Da Trinidad in einem
Arme des nach Nordwesten fließenden Aequatorialstromes
liegt, dessen Wasser im Süden durch die „Schlangen-
mündnng" in das Wasserbecken zwischen der Insel und
dem Festlande ein- und im Norden aus dem „Drachen-
kanal" wieder austritt, außerdem aber eine bemerkbare
Gezeitenströmung stattfindet, so werden alle Unreinigkeiten,
die vom Lande herrühren, durch den Strom bald entführt,
und es findet eine beständige Erneuerung des Golfwassers
statt. Endlich können die Schiffe infolge des flachen Wassers
sich nur 1/2 bis 1 Seemeile dem Lande nähern, wodurch
die Luft an Bord um so frischer und gesunder ist.
Der größte Theil der Insel ist Flachland; nur im
Norden zieht sich ein Gebirgszug hin, von welchem einzelne
Höhen bis zu 900 m ansteigen. Derselbe endigt in den
Inseln, durch welche die verschiedenen Arme des Drachen-
kanals gebildet werden. Im Innern Trinidads kommen
dann nur noch einige Höhen bis zu 300 m vor.
Die Flüsse Trinidads sind unbedeutend und wenig
schiffbar, obwohl der Caroni, der südlich in der Nähe von
Port of Spain in den Golf von Paria mündet, eine Länge
236
Kürzere Mittheilungen.
von etwa 28 Seemeilen hat. Einige der Flüsse versiegen
in der trockenen Jahreszeit fast gänzlich, während sie in der
Regenzeit als reißende Wasser betrachtet werden müssen,
welche Schlamm, Erdreich und abgerissene Ufertheile dem
Meere zuführen. Erstere Jahreszeit rechnet man von Mitte
Januar bis Mitte Mai. Die übrige Zeit ist Regenzeit; sie
erreicht ihre Höhe im Juli und August, und die mittlere
Regenhöhe beträgt zu dieser Zeit bei etwa 22 Regentagen im
Monat ungefähr 260 mm. Auf das ganze Jahr ent-
fallen etwa 180 Regentage mit einer mittleren Regenhöhe
von 1700 mm. Die mittlere Temperatur der Lust ist
äußerst gleichmäßig: im Januar beträgt sie im Mittel
23, 90 C. und im August, September und Oktober 26,1? C.
Das Jahresmittel beträgt 25,50 C. Alle diese Zahlen
gründen sich auf Beobachtungen, welche in der Nähe der
„Savannah" — einem öffentlichen Park in der Nähe von
Port of Spain — gemacht worden sind. Indessen hat man
die gleichen Beobachtungen auch an anderen Stellen im Nor-
den und Süden vorgenommen und als Durchschnittszahlen,
abgesehen von extremeren Jahren, ähnliche gefunden wie die
oben angegebenen.
Im allgemeinen sind die meteorologischen Verhältnisse
von Trinidad ziemlich einfacher Art, denn die Insel liegt
in der Region des Nordostpassats und außerhalb der ge-
wöhnlichen Zugstraße der Orkane. An einzelnen Küsten-
pnnkten finden freilich Abweichungen in den Wind- und
Witterungsvcrhältnissen statt, die vermuthlich durch lokale
Einflüsse bedingt sind.
Die Postverbindung mit Europa wird hauptsächlich durch
die Dampfer der Royal-Mail-Linie (Trinidad-Southampton),
welche an einem Freitag ankommen und am nächsten wieder
abgehen, vermittelt. Die französischen Dampfer (Trinidad-
Bordeaux) pflegen am 11. jeden Monats einzutreffen und
die Insel gegen Ende desselben wieder zu verlassen. Die
holländischen (Trinidad-Amsterdam) erreichen Trinidad am
6. und gehen am 16. wieder fort.
Kürzere Mittheilungen.
Samuel W. Baker über die geplante deutsche
Enrin - Pascha-Expedition.
Die Autorität, welche Samuel W. Baker auf Grund
seiner Anschauungen und Erfahrungen bezüglich der oberen
Nil-Landschaften besitzt, ist eine so namhafte, daß wir es uns
nicht versagen können, einen Brief, den er in der Emin-
Pascha-Frage an die „Times" gerichtet hat, an dieser Stelle
in seinen Hauptsätzen wiederzugeben. Der berühmte Reisende
schreibt Folgendes:
Die Entsatz-Expedition unter Barttelot und Jameson ist
durch den Tod ihrer Führer gescheitert, und Stanley ebenso
wie Emin-Pascha sind augenblicklich unbekannte Größen, über
die Spekulationen völlig vergebens sind. Es wird aber be-
richtet, daß die Deutschen sich entschlossen haben, eine Expe-
dition zu entsenden, um ihrem Landsmanne Emin beizustehen,
und zwar unter der fähigen Führung des wohlbekannten
Lieutenant Wißmann, und von Zansibar ans. Sollte die
Expedition in dieser Weise thatsächlich zur Ausführung
kommen, so bin ich der festen Ueberzeugung, daß sie gelingen
wird. Es müßte nur das Ziel fest ins Auge gefaßt
und der kürzeste und beste Weg gewählt werden, nämlich
der Weg über den Tanganika-See, mit Ujiji (Kawele) als
Central-Depot und Hauptquartier. Diese Route ist seit
vielen Jahren offen, sie gewährt die größte Leichtigkeit, nach
Norden vorzudringen, und Ujiji ist, nachdem der See
von Burton und Speke entdeckt worden war, ein Haupt-
handelsplatz geworden. Dort traf Stanley mit Livingstone
zusammen, von dort setzte Cameron seine Durchquerung
Afrikas ins Werk, und von dort aus wird es auch Wißmann
am sichersten gelingen nach Uganda zu kommen. — Speke
und Graut unternahmen ihre denkwürdige Reise nach Gon-
dokoro und dem Weißen Nil ebenfalls von Zansibar aus,
über den Victoria Nyanza, Uganda und Unyoro. Man kann
also behaupten, daß alle größeren Expeditionen von Zansibar
aus geglückt sind. — Wem haben die erfolgreichen Forschungen
in der Gegend der Nilquellen freilich etwas genützt? Speke
und Grant nannten den von ihnen entdeckten Großen See
Victoria Nyanza, ich selbst den anderen Albert Nyanza, und
wir hofften, daß der von uns im Namen Englands aufge-
fundene Pfad durch das Herz Afrikas eine neue Zeit für
dieseu Erdtheil eröffnen würde. Der Khcdive Ismail erhob
Anspruch auf das obere Nilgebiet, er beschloß den schiffbaren
Strom und die Seen dazu zu benutzen, geregelten Verkehr
daselbst einzuführen und den demoralisirenden Sklavenhandel
zu unterdrücken. Als ich die ganze Gegend bis zum Aeqnator
für ihn in Besitz nahm, gab ich dem König Mtesa von
Uganda die schriftliche Versicherung, daß sein Land immer
unabhängig bleiben solle, wegen des freundschaftlichen Bei-
standes, den er Speke und Grant geleistet habe — es sei
denn, daß er selbst den egyptischen Schutz wünsche. Wir
wünschten durch die freundlichen Beziehungen zu Uganda
freien Verkehr mit Zansibar zu gewinnen, und es wurde
dieses Ziel auch wirklich erreicht. — General Gordon, mein
Nachfolger, war gleichfalls auf Freundschaft mit Uganda
bedacht, er benutzte die Dampfer, die ich hatte herbeischaffen
lassen, zur Kommunikation auf dem Albert Nyanza sowie
auf dem Nil, er setzte Emin-Pascha über die Aequatorial-
provinz, und dieser behauptet sich gegenwärtig ganz wesentlich
durch diese selben Dampfer. — Nach allen Anstrengungen,
die wir im Sinne und Interesse Englands aufgeboten hatten
— ich neun Jahre lang und Gordon fünf Jahre — wurden
alle unsere Errungenschaften infolge der Panik, die durch
die Vernichtung der Hicks'scheu Armee in Kordofan hervor-
gerufen wurde, von England einfach wieder weggeworfen.
England zwang Egypten 31t dem Verachtungswerthen Schritte,
den Sudan gegen seinen Willen aufzugeben, und dies hat
alle die bitteren Früchte getragen, die man hätte voraussehen
können. England wurde in den Wirbel vori Verwirrung
hineingerissen, den es selbst geschaffen hatte; gegen seine aus-
drücklichen Erklärungen hat es sich zum Entsenden von Trup-
pen nach Suakin solvie auch gegen Khartunl genöthigt ge-
sehen, ohne irgend etwas damit zu erreichen — außer den
Verlust seines Ansehens. Die Sklavenjäger und Sklaven-
händler lachen jetzt über die englische Flagge, die sie einst
fürchteten, und meine und Gordons Erfolge sind vollkomiucn
vernichtet. Die Engländer erreichten viel, so lange sie als
Einzelne handelten, als aber die englische Regierung auf dem
Platze erschien und sich in die Angelegenheiten mischte, die sie
Kürzere Mittheilungen.
237
unfähig war zu verstehen, da erfolgte die Katastrophe von
Khartum, und wir trauerten um Gordon. Das ist ein
Schandfleck, der niemals zu tilgen sein wird. — Gordon's
vertrauenswürdiger Statthalter, Emin- Pascha, hält sich noch
tapfer, obwohl von allem Verkehre abgeschnitten, und hoffnungs-
los verlassen — auf britischen Befehl. Britische Kanonen-
boote und Soldaten scharmützeln unterdeß unaufhörlich mit
den arabischen Vorposten bei Suakin und Wadyhalfa, und
da wir sehen, daß Deutschland sich anschickt, eine Entsatz-
Expedition zu Emin zu senden und Centralafrika möglicher-
weise der Kultur wieder zu gewinnen, so sind wir auf
Deutschland eifersüchtig. Wir haben aber eigentlich kein
Recht, andere, die männlicher sind, als wir selbst, eifersüchtig
anzuschauen. — Emin hält seine Provinz noch als egyptischer
Beamter; er besitzt große Vorräthe von Elfenbein, Dampfer
auf dem Albert Nynnza ebenso wie auf dem Weißen Nil,
zahlreiche befestigte Punkte; und das Regiment, welches er
führt, ist praktisch und den Verhältnissen des Landes ange-
paßt. Was wird aus diesem Lande werden, wenn es den
Deutschen gelingt, bis zn Emin vorzudringen, in der Absicht,
die Herren der Lage zu bleiben? Die Thatsache, daß
Emin's Landsleute mit bedeutenden Verstärkungen zu seinem
Beistände herbeikommen, wird sein hohes Ansehen zu einem
noch viel höheren machen, und wenn sich Deutschland mit
dem Khedive auseinandersetzt, so könnte eine vollkommen
neue Entwickelung der von Engländern eingeleiteten großen
Unternehmung erfolgen.
Der Roraima.
Derjenige Theil Südamerikas, welcher unter der Be-
zeichnung „Guiana" den letzten dürftigen Rest der ehemals
so ausgedehnten europäischen Besitzungen in den Tropen des
neuen Erdtheils darstellt, gehört zu den am frühesten ent-
deckten Gebieten — aber nur was die Küste anbetrifft, die
theils von Alonzo de Hojeda in Begleitung des Florentiners
A. Vespucci im Jahre 1499, theils von VicenteIanez Pinzon
im Jahre 1500 gesehen und entschleiert wurde. Das Innere
dagegen blieb, obwohl es wegen seines fabelhaften und fabn-
lösen Goldreichthums („kl dorado“!) das Ziel zahlreicher
Abenteurerfahrten wurde, in der Hauptsache bis in den An-
fang dieses Jahrhunderts unbekannt. Speziell im britischen
Antheil waren es unsere Landsleute, die Gebrüder Robert
Hermann und Richard Schomburgk, welche, den Bann
brechend, auf zahlreichen Hin- und Herreisen während der
Jahre 1835 bis 1843 sich die größten Verdienste um die
Erschließung des Innern erwarben imd eine solide Grund-
lage für die Weiterforschung gelegt haben. Ihre Bemühungen
bezogen sich vorzugsweise auf die Feststellung des Flußnetzes,
sowie auf die Untersuchung der höchst mannigfaltigen und
anziehenden Pflanzenwelt. Dagegen gelang es ihnen, trotz
mehrfacher Versuche, nicht, die Erforschung der Gebirge zu
Ende zu führen. Vor allem war es der an der Grenze von
Britisch-Guiana und Venezuela sich erhebende Berg Roraima,
der ihren Anstrengungen wie denen ihrer Nachfolger wider-
stand. Unter letzteren meinen wir den verdienstvollen
Appun, Eh. Br. Brown, den Entdecker des herrlichen
WasserfallsKayetenr, und den GeologenBoddam-Wetham.
Erst vor wenigen Jahren sollte es dem englischen Naturforscher
Dr. Er. Im Thurn glücken, den lange Zeit für unersteiglich
gehaltenen Berg zu erklimmen. Im Thurn, der sich schon
vorher längere Zeit in Guiana aufgehalten und sich durch
eine hauptsächlich die einheimischen Indianer berücksichtigende
Reisebeschreibung bekannt gemacht hatte, brach, von seinem
Landsmann Perkins und einer Anzahl Indianer begleitet,
von seiner Station am Pomernnffusse auf und, seinem Ziele
theils zu Wasser theils zu Lande zustrebend, näherte er sich
diesem von der Südostseite aus. Nachdem er am Fuße
desselben mit dem Orchideensammler Siedl zusammen-
getroffen war und neben ihm eine Art Beobachtnngs- und
Arbeitsstation angelegt hatte, ließ er sich angelegen sein, die
Verhältnisse genau zu untersuchen und an dem steilen und
zerklüfteten Absturz einen Aufstieg ausfindig zn machen.
In einer wasserreichen Schlucht emporkletternd, erreichte er
den Gipfel am 18. Dezember 1884 und bestimmte denselben
zn 8600 Fuß (2600 in). Leider war es ihm nicht möglich,
sich länger auf der Höhe aufzuhalten nnd den Berg vollständig
zu untersuchen, da der Proviant auszugehen begann. Auch
ist er der Meinung, daß wegen der großen Vereinsamung
des Berges und der Schwierigkeit seiner Ersteigung die
nähere Erforschung mit ganz besonderen Anstrengungen und
ungewöhnlich hohen Kosten verknüpft sein und daher wohl
noch geraume Zeit auf sich warten lassen werde. Und bisher
hat Im Thurn recht behalten, denn wenn schon während des
Jahres 1886 der Roraima zweimal wieder bestiegen wurde,
nämlich im Oktober von Fr. Dressel und im November von
Cromer, die beide zn der Klasse der „Orcliid collectors“
gehören, so konnten diese im wesentlichen In: Thurn's Beob-
achtungen und Mittheilungen wohl bestätigen, umfangreiche
Zusätze aber, namentlich bezüglich der weiteren Untersuchung,
nicht gewinnen. Im Thurn's Darstellungen, die er in ver-
schiedenen englischen Zeitschriften, vor allem aber in der
„Proceedings“ niedergelegt hat, bilden daher nach wie vor
die hauptsächlichste Quelle für nähere Kenntuißnahme des in
mehrfacher Hinsicht so merkwürdigen Berges.
Der Roraima bildet die höchste Erhebung der aus zahl-
reichen einzelnen Theilen bestehenden Gebirgsgrnppe, welche
am Durchschnittspunkt des 61° westl. L. und 5° nördl. Br.
liegt, nnd ist von Georgetown, der Hauptstadt des Britischen
Guiana, im Luftmaße, etwa 220 miles (360 km) ent-
fernt. Wegen der dichten, feuchten Urwälder, die den größten
Theil des Innern bedecken, muß man aber, um sich dem
Berge zu nähern, den Wasserweg einschlagen, der bis Bartica
zunächst ans dem Esseqnibo hinaufführt. Von da an kann
man entweder den Esseqnibo weiter benutzen, um dann ans
den Potaro überzugehen und den noch sehr ansehnlichen Rest
des Weges zn Fuße zurückzulegen, oder man kann dem Laufe
der Magaruni folgen, der allerdings einen großen Bogen
nach NW hin macht und mehrfach von Stromschnellen
durchsetzt wird, dafür aber den Vortheil bietet, mit seinen
Zuflüssen bis unmittelbar an den Roraima zu führen; denn
einer derselben, der Cucnya, entspringt unmittelbar an diesem
Berge. Im Thurn näherte sich ihm, wie gesagt, von SO
herkommend, wo gerade der steilste Abfall zu liegen scheint.
Zugleich wird hier der Aufstieg dadurch erschwert, daß der
Roraima an einen etwas niedrigeren Berg, den Kukenam,
stößt. Beide sind längliche, an den Abhängen bewaldete
Plateaus von unregelmäßig ovaler Gestalt, deren Längsachse
von SW nach NO verläuft, und etwa 20 km im Grundriß
betrügt, während der Breitendurchmesser beim Roraima 13 km
und beim Kukenam gegen 10 km ausmacht. Wer den Meißner
im Hessischen Berglande kennt, wird sich die allgemeine Er-
hebnngsform beider Berge leicht vorstellen können. Die
Plateauhöhe des Roraima selbst scheint aber nicht ganz flach
zn sein, sondern die Gestalt eines wenig tiefen, von Fels-
klippen umrandeten Beckens zn haben, das wieder durch
bizarre Felsen in zahlreiche, kleinere Bassins zerlegt wird, ein
Umstand, der die Orientirung wie die spezielle Durchforschung
sehr erschwert. Diese Einsenknngen enthalten eine beträcht-
liche Menge Wasser, theils in Form von kleinen Bächen nnd
Tümpeln, theils aufgespeichert in der Vegetation. Die außer-
ordentlich zerklüfteten Sandsteinklippen selbst, deren höchste
zn 25 m gemessen wurde, sind ebenfalls voll Wasser, das
allmählich in die kleinen Becken herabsickert. Dieser Reichthum
238
Aus allen Erdtheilen.
au Feuchtigkeit mußte auffallen, da Jm Thurn's Besuch zwar
in der Regenzeit, aber nach einer ungewöhnlich langen Trocken-
periode stattfand. Der Anblick, den der erste Besteiger auf
seiner einsamen Höhe genoß, war ein höchst eigenthümlicher.
Die ganze Umgebung bestand aus Felsen und Felsspitzen von
scheinbar unmöglichen, phantastischen Formen, dastehend auf
scheinbar unmögliche Weise und in Stellungen auf einander
gethürmt, welche dem Gesetze der Schwerkraft spotten, Felsen
bald in Gruppen, bald allein, bald in Terrassen, hier als
Säulen, dort als Mauern oder Pyramiden, alle möglichen
Gestalten und Karrikaturen von Menschen, Thieren und
Pflanzen darstellend. Zwischen den Felsen aber befanden sich
kleine ebene Flächen gelben Sandes, anderwärts unbedeutende
Flecken mit niedriger, struppiger und dürftiger Vegetation;
wieder anderwärts erblickte man niedrige Büsche, aber nirgends
einen Baum, und ebensowenig thierisches Leben. „Man mochte
sehen, wohin man wollte, überall war es dasselbe; in jeder
Richtung, so weit das Auge reicht, zeigte sich dieselbe wilde,
außerordentliche Scenerie."
Was übrigens das thierische Leben anbetrifft, so fand
Dressel im Gegensatz zu JmThurn doch etwas vor. Wäh-
rend seines zwei- bis dreistündigen Aufenthaltes ans der Höhe
beobachtete er nämlich einige Schmetterlinge von dunkelbrauner
— fast schwarzer — Farbe; in den seichten Becken sah er ferner
einige Exemplare einer kleinen schwarzen Kröte, mit einem
gelben Flecke am Halse, und außerdem an einigen Pflanzen eine
Millipeden-Art. Im übrigen stimmt Dressel's Schilderung des
Roraimaplateaus mit derjenigen Im Thurn's überein, aber
da ersterer seine Reise in der Trockenperiode ausführte, so fand
er die Oberfläche verhältnißmüßig trocken, ja die pflanzenbedeckten
Stellen ganz dürr. In den verschiedenen Rinnsalen befand
sich nur wenig Wasser, ebenso in den oben erwähnten Einsen-
knugen, von denen jedoch keine die Feuchtigkeit ganz entbehrte.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung des Roraima
mag es gestattet sein, darauf hinzuweisen, daß vor einigen
Jahren auch der Berg Twekkway, der etwa 80 km nord-
nordwestlich vom Roraima am Südufer des Carimauy, nahe
bei der Mündung des Aruima, gelegen ist, von dem englischen
Naturforscher H. Whitely bestiegen worden ist. Derselbe
fand den Twekkway zwar niedriger als den Roraima, und
mit Wald bedeckt, aber doch in der Gestalt jenem sehr ähnlich.
A. 0.
Aus allen
Europa.
— Professor Rudolf Credner hat das unter dem Namen
„Seebär" bekannte eigenthümliche Fluthphänomen,
welches am 16. und 17. Mai d. I. sowie auch zu ver-
schiedenen anderen Zeiten in der westlichen Ostsee beobachtet
wurde, einer eingehenden Untersuchung unterworfen, und ist
dabei zu dem Schlüsse gelangt, daß dasselbe nicht, wie viel-
fach behauptet worden ist, auf seismische Ursachen, sondern
auf Störungen in der Atmosphäre zurückzuführen sei. Nur
die Fluthbewegung, welche am 1. November 1755 im Lü-
becker Hafen auftrat, ist thatsächlich als eine Feruewirknng des
großen Lissaboner Erdbebens aufzufassen. (Vergl. Beiträge
zur Landeskunde von Vorpommern und Rügen V. Greifs-
wald 1888.)
— Daß Irland nicht grundlos die „grüne Insel" heißt,
bezeugt auch seine Statistik. Danach war im Jahre 1888
nahezu die Hälfte der Insel (9 005 408 Acres) Wiese und
Weide, nur reichlich das Viertel (5 141155 Acres) aber
Ackerland, und nur etwa lx/2 Proz. Waldland. Etwa 23 Proz.
der Fläche (4871480 Acres) kamen auf Unland (Sümpfe,
Felsen re.), und etwa 2ft2 Proz. (494 726 Acres) auf
Wasserflächen. Die Viehzucht bildet demgemäß den Haupt-
wirthschaftszwcig, und die Insel besaß im Jahre 1888:
595 345 Pferde, 203 257 Esel, 4 099 241 Rinder,
3 626 730 Schafe, 1 397 800 Schweine und 293 020
Ziegen.
Asien.
— Die k. russische archäologische Kommission
unter Graf A. Bobrirski hat im letzten Jahre eine reiche
Ernte im westlichen Kaukasus (im Gebiete des Kuban)
gehalten. Es sind daselbst eine Anzahl von Kurganen
geöffnet worden, und man hat in diesen Funde gemacht, die
ciiNjsehr interessantes Licht auf die alte scythische Kultur-
werfen. In einem der Gräber, das man für ein scythisches
E r d t h e i l e n.
Königsgrab hält, fand man unter anderem auch viel Gold-
schmuck, dessen Metallwerth man auf 160 000 Mark schätzt.
— Dem Baron Ungern Sternberg ist es gelungen,
im August d. I. den Elbrus zu ersteigen und die bisher
für unpassirbar gehaltenen Jriktschat-, Atrium- und Dschel-
kaughenkes-Gletscher zu überwinden. Obzwar die letzte Nacht
in einer Höhe von 17 840 Fuß zugebracht werden mußte, und
ans dem Gipfel ein furchtbarer Schncesturm wüthete, so blieb der
kühne Bergsteiger doch nebst seinen Begleitern vollkommen wohl.
— Der Ausbruch des Bandai-san auf Nipon scheint für-
weitere Gebiete Ostasiens eine Periode erhöhter vulkanischer
Thätigkeit eingeleitet zu haben. So berichtet man von den
Philippinen, daß in den letzten Tagen des Juli der Mayou auf
Lnzon eine furchtbare Aschen- und Lava-Eruption
gehabt hat, durch die Hunderte von Häusern und Menschen-
leben zu Grunde gegangen sind. Auf den Inseln der
Bissaya-Grnppe (Panay, Samar re.) sollen ebenfalls heftige
Ausbrüche stattgefunden haben. — Der Mayon, auch der
„Vulkan von Albay" genannt, befindet sich auf der südöstlichen
Halbinsel von Lnzon, und erscheint als ein prachtvoll ge-
schnittener Kegel von 2374 m Höhe. Er ist der Bevölkerung
seit lange als der schrecklichste unter den Feuerbergen des
Archipels bekannt, und namentlich die Verheerungen, welche
er durch die Eruptionen der Jahre 1766 und 1814 an-
richtete, sind bei derselben noch in schlinnnem Gedächtnisse.
Andere Ausbrüche hatte er in den Jahren 1827, 1828,
1834, 1835, 1845, 1846, 1851, 1853, 1855, 1857,
1871, 1872 und 1881.
— Außer den berühmten Gomanton-Höhlen von Britisch-
Nord-Borneo beherbergen auch die Höhlen der Insel
Guimaras, die der Philippinen-Gruppe angehört und
zwischen den größeren Inseln Panay und Negros gelegen ist,
in großer Zahl die bekannten Salanganen (Collocalia), die
den Chinesen ihre eßbaren Schwalbennester liefern.
Der amerikanische Reisende Stcere, der die Höhlen auf
seiner Reise in den Philippinen besuchte, beschreibt dieselben
Aus allen Erdtheilen.
239
im „American Naturalist“ als eng und finster, während
die Höhlen von Gonranton ungeheure domähnlichc Hallen
bilden, die weite, offene Zugänge haben und ziemlich viel
Tageslicht einlassen.
— Nach einem Vortrage, den I. Cunningham in dem
Parkes Museum von Calcntta gehalten hat, ist die Sterb-
lichkeit der Bevölkerung in den indischen Städten
im allgemeinen eine erschreckende, wenn man sie mit der-
jenigen in den englischen Städten vergleicht. Hier übersteigt
sie im Jahresdurchschnitt selten 20 pro mille, dort erreicht
sie in zahlreichen Städten 40, 60, 70 und 80 pro mille.
Furchtbare Verheerungen richten namentlich Epidemien an.
Der Vortragende schreibt diese Thatsachen vor allen Dingen
den schlechten sanitären Vorkehrungen und der Sorglosigkeit
der Bevölkerung zu.
— Ueber das Grab des berühmten Eroberers
Dschingiskhan berichtet Armand David in den „Missions
catholiques“ (1888, p. 273) Folgendes:
Die sterblichen Reste Tschenghis-Bogotos (d. i. Dschingis-
khan's nwngolischcr Name) werden in der Mongolei, an einem
Orte namens Kia-y-sen, oder Land der Ordos, aufbewahrt.
Sie sind in einem großen silbernen Sarge eingeschlossen, den
die Mongolen nicht aus freien Stücken Fremden zeigen wollen.
Der Sarg ist von kostbaren Stoffen eingehüllt, und zahlreiche
Pilger kommen, um denselben mit der Ehrfurcht, die man
einem lebenden Kaiser zollt, zu küssen. Er befindet sich nicht
in einem Lamakloster, sondern in einem besonderen Zelt, das
von einem Prinzen bewacht wird. Man sagt, daß dieser
massive silberne Sarg, nachdem er an den verschiedensten
Orten in der Mongolei aufgehoben worden ist, um ihn vor
gierigen Feinden zu schützen, hierher gebracht und endgültig
hier gelassen worden ist, weil das Land der Ordos wegen
seiner Lage und zugleich wegen seiner Armuth vor allen
feindlichen Einfällen gesichert ist.
— Trotz aller Anfeindungen, die die chinesischen Ein-
wanderer in Amerika und Australien über sich ergehen lassen
müssen, war die Zahl der chinesischen Emigranten,
die sich 1887 in Hongkong einschifften, eine um 18 000
größere als im vorhergegangenen Jahre, näinlich 82 897.
Nach den Straits-Scttlcmcnts gingen 9000 mehr als 1886,
nach den Vereinigten Staaten 5000 mehr, und nach
Australien und seinen Dependenzeu 3500 mehr. Da Hong-
kong der einzige wirkliche Auswaudererhafen für die Chinesen
ist, so können diese Ziffern auch als die Gesammtziffern der
chinesischen Auswanderung betrachtet werden.
— Infolge des Einflusses der Atjinesen, welcher in den
oberen Battaländern zur Geltung zu kommen sucht,
scheint bei der niederländisch-indischen Regierung der Plan
zu bestehen, die bisher diesen Ländern gegenüber befolgte
Politik zu ändern und das System der Nicht-Intervention
aufzugeben. Dieses System hat schon manche Schwierig-
keiten verursacht, namentlich aber ist es Veranlassung gewesen,
daß die von Europäern betriebene Plantagen-Wirthschaft sich
nicht nach dem Gebirge hin hat ausbreiten können. Durch
manche Vorgänge, welche in neuerer Zeit stattgefunden, haben
sich die Ansichten der Regierung verändert; das verdächtige
Auftreten von Sendboten der Atjinesen in den Battaländern
und die Möglichkeit, daß die unabhängigen Stämme, wenn
sie noch länger sich selbst und diesen Einflüssen überlassen
blieben, sich wohl einmal gegen die Niederländer wenden
könnten, hat dazu beigetragen. Man will jetzt nähere Be-
ziehungen mit diesen Stämmen anknüpfen und sie, ohne
direkten Druck auszuüben, zur Anerkennung der europäischen
Autorität zu bewegen suchen. Eine der wichtigsten Folgen
würde im Falle des Erfolges die sein, daß europäischem
Kapital und europäischem Unternehmungsgeist ein neues
Gebiet eröffnet würde. Uebrigens herrscht in Ost-Sumatra,
namentlich in Siak, Asahan und Pagnrawan eine ungeheure
Thätigkeit; in Siak allein sind 14 neue Unternehmungen
eröffnet worden, und die Anzahl der abgeschlossenen Kontrakte
ist sehr bedeutend.
— Zur Gewinnung des kostbaren Rosenöles erweitert
die russische Regierung seit einiger Zeit die Roseuzncht in
den Kaukasnslündern. Dies hat neuerdings ähnliche
Bestrebungen in der Krim hervorgerufen, wo die Centifolie
noch vortrefflich, selbst wildwachsend, gedeiht; sogar noch nörd-
licher, in den Gouvernements Charkow und Pultawa, haben
einige Gärtner mit Erfolg die Rosenzucht im großen be-
gonnen.
Afrika.
— Im weiteren Verfolge seiner marokkanischen Reise
ist Joseph Thomson zusammen mit Harold Cr ich ton-
Browne um Mitte Juli von Amsmiz nach Marokko ge-
laugt, um daselbst seine Ausrüstung zu erneuern. Von da
aus ist er aber gegen Ende August wieder in das Gebirge
aufgebrochen, um seine botanischen und geologischen Beob-
achtungen und Sammlungen weiter fortzusetzen. Aus dem
Urika-Thale durch feindliche Stämme zurückgetrieben, vermochte
er sein Ziel — die Hauptkette des Atlas in der Gegend von
Reraya — doch zu erreichen, und bis zu einer Höhe von
13 000 engl. Fuß empor zu klimmen. Sodann wandte er
sich am Fuße des Gebirges nach Jmintjannt und nach den
Sus, wo er die Howara in hellem Aufruhr gegen die
Beamten des Sultans fand und in Gefahr kam, in Ge-
fangenschaft zu gerathen. Er entrann indeß mit seinem
Gefährten glücklich nach Agadir und Mogador, in welch
letzterem Orte er am 17. September ankam. Von dort aus
gedenkt er noch einen kurzen Ausflug in das Innere von
Haha zu machen, um dann über Rabat, Mckines und Fes
nach Tanger und zurück nach England zu gehen.
— Die Idee, vermittelst einer starken Expedition eine
Stationskette von der ostafrikanischen Küste nach
den großen ccntralafrikanischen Seen zu schaffen, um
dadurch eine geregelte und gesicherte Kommunikation mit der
oberen Nilgegend und Emin-Pascha zu ermöglichen, und
gleichzeitig der Gewaltherrschaft der arabischen Sklavenhändler
die Spitze zu bieten —diese Idee des deutschen Emin-Pascha-
Komitees hat in englischen Kreisen eine Nachahmung
gefunden. Der bekannte englische Tnrchqnerer Afrikas,
Vernay Lovet Cameron, der befugt sein sollte, ein
Wort in der ostafrikanischen Frage mitzureden, schlägt nämlich
vor, England solle eine solche Expedition den Zambesi und
Schire hinauf nach dem Nyassa-See und von dort nach dem
Tanganika-See entsenden. Zu Emin-Pascha wäre das freilich
ein beträchtlicher Umweg. Die deutsche Expedition direkt
nach dem Victoria-Nyanza erklärt Cameron für aussichtslos;
man wird darauf aber kein zu großes Gewicht legen dürfen,
da der berühmte Afrika-Reisende offenbar von der ziemlich
allgemeinen englischen Eifersucht ans die deutschen Afrika-
Unternehmnngen mit ergriffen worden ist.
— Die „Transactions of the R. Soc. of Edinburgh“
(vol. XXXI, 1887) enthalten eine umfangreiche Arbeit von
Bayley Balfour über die Pflanzenwelt Socotras,
die sich namentlich auch mit den Beziehungen der Inselflora
zu der Kontinentalflora Afrikas und Asiens sowie zu der
Flora Madagaskars beschäftigt. Socotra ist von Afrika
nur 240 km entfernt, einige kleine Jnselchen bilden eine
Art Brücke dahin, und die trennende Meerstraße ist im
Maximum nur 500 Faden tief. Korallenriffe ^finden sich
rundum, und gute Häfen fehlen. Das Klima ist sehr trocken.
Das Plateau im Innern besteht ans Granit und fossilem Kalk-
stein und ist gegen 1000 Fuß hoch, die Berge im Nordwesten
aber — die Haggier - Berge — 4000 Fuß. Die letzteren
240
Aus allen Erdtheilen.
siud von den interessantesten Pflanzen bestanden, weil sie seit
den ältesten Erdaltern nicht vom Oceane überfluthet gewesen
sind, und diese Pflanzen scheinen die Theorie vom ehe-
maligen festen Zusammenhange Afrikas und Südasiens zu
stützen. Unter den Kulturpflanzen ist nur die Dattelpalme
von Belang, und dieselbe liefert der dünnen Bevölkerung
auch neben der Viehzucht den Haupt-Lebensunterhalt. Die
gezüchteten Rinder und Kameele sind sehr klein.
Nordamerika.
— Auf die Entstehung der sogenannten Muschel-
hügel (sheU mounds) an der Küste des mexikanischen
Golfes, die man bisher iinmer als eine Art indianischer
Kjökkenmöddinger auffaßte, wirft ein Ereigniß, welches
gelegentlich der großen Sturmfluth von Sabine Paß (1886)
stattfand, ein neues Licht, das jener Annahme nicht günstig
ist. Vor der angegebenen Sturmfluth nämlich befand sich
ein solcher Muschelhügel nahe bei einem gewissen Hanse, das
am Ufer des Flusses stand. Nach der Fluth war es voll-
ständig zerstört und verschwunden, dagegen fand man dann
einen ähnlichen Hügel nahezu eine halbe engl. Meile strom-
aufwärts. Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß die
großen Schalenanhäufungen einem Natnrvorgange ihren
Ursprung danken. Die häufige Beimengung indianischer
Artefakte zu den Muscheln erklärt sich vielleicht daraus, daß
die Muschelhügel hohe und trockene Stellen auf niederen
Gründen bilden, und daß sie deshalb von den Indianern
mit Vorliebe als Lagerplätze gewählt wurden (Vergl. Science
XII, p. 96).
— Von der Abrasionskraft der westindischen
Orkane giebt die Thatsache einen Begriff, daß die kleine
yukatanische Küsteninsel Pollax bei Gelegenheit des
letzten verheerenden Sturmes, der die Gegend von Kuba
und Aukatan im September dieses Jahres heimsuchte, voll-
kommen von den Wellen verschlungen wurde.
Südamerika.
— Daß man das Recht hat, die argentinischen
Pampas als eine Ebene zu bezeichnen, geht aus gewissen
Eigenthümlichkeiten der Eisenbahn von Buenos-Ayres
nach Mendoza — der unvollendeten argentinischen Pacific-
bahn — deutlich hervor. Diese Eisenbahn hat auf einer Strecke
von 340 hin nicht eine einzige Kurve, nicht eine einzige Brücke,
und nicht einen einzigen Durchstich, der tiefer ist als einen
Meter. Die Pampas würden das ideale Land für den Eisen-
bahnban sein, wenn ihre Baumlosigkcit aus Rücksicht auf den
Schwellenbcdarf nicht als eine große Schattenseite betrachtet
werden müßte; daher auch die ausgedehnte Anwendung von
Stahlschwellen bei den argentinischen Eisenbahnen.
— Dem neuesten englischen Konsularberichte zufolge be-
lief sich der Außenhandel Chiles im Jahre 1887 auf
180180820 Dollars (gegen 95410 296 Dollars im Vor-
jahre); hiervon kamen 59 549 958 Dollars auf den Export
und 48 630 862 Dollars auf den Import, und etwa 82 Pro-
zent von den Exportartikeln waren Mineralprodukte (Salpeter,
Kupfer, Silber, Gold re.).
Allgemeines.
— El. Markham veröffentlicht in den Berichten der
„Hakluyt Society“ die Beschreibung der beiden
ältesten Globen, die in England hergestellt worden
sind. Der eine ist ein Erd- und der andere ein Himmelsglobus,
ihr Verfertiger war E. Molyneux, und sie datiren ans dem
Jahre 1593. Auf dem Erdglobus sind aber nachträglich die
Entdeckungen bis zum Jahre 1603 eingetragen worden. Der
bekannte große Mathematiker Robert Hughes verfaßte eine la-
teinische Beschreibung dazu (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 351).
— Der Union-Steamer „Tartar" hat seinen Ruhm, die
schnellste Fahrt zwischen Kapstadt und Plymouth aus-
geführt zu haben, von dem „Athenian" zurück erobert, indem
er den angegebenen Weg am 8. bis 25. August in 17 Tagen
6 Stunden und 15 Minuten, d. i. um nahezu 15 Stunden
rascher als der „Athenian", zurücklegte (Vergl. „Globus", Bd. 53,
S. 224). Ungefähr gleichzeitig hat der Allan-Steamer „Pa-
risian" die Reise zwischen Irland (Tory-Island) und der
Lorenzstrom-Mündung (Belle-Jsle) in der unerhört kurzen
Zeit von 4 Tagen 17 Stunden und 10 Minuten gemacht.
B ü ch e r s ch a u.
— Schmidt, Dr. Emil, Anthropologische Me-
thoden. Anleitung zum Beobachten und Sammeln
für Laboratorium und Reise. Mit zahlreichen Ab-
bildungen im Text. Leipzig 1888. 8°, 336 S.
— Dem Wunsche, auch die Beobachtungen des Nichtfach-
mannes und des gebildeten Laien überhaupt fiir den Anthro-
pologen verwendbar zu machen, sind in neuerer Zeit mehr-
fach gediegene Anleitungen entsprungen; so die von Broca
in Frankreich, die Xotes and queries der British Asso-
ciation rc. Auch in Deutschland sind wir durch die von
Virchow bearbeitete Abtheilung in Neumayer's Handbuch und
durch den 1885 veröffenlichten Virchow'schen Fragebogen ganz
gut versorgt. Trotzdem ist die vorliegende Arbeit mit großer
Freude zu begrüßen, da sie in handlicher und übersichtlicher
Form dem Reisenden Gelegenheit bietet, sich über alle wichtigeren
Fragen der Anthropologie eingehender zu unterrichten. Die
erste Abtheilung behandelt ans 56 Seiten die Methoden des
Sammelns, einschließlich des Zeichnens und Photographirens.
Die zweite Abtheilung enthält die Anweisung zu Beobachtungen
sowohl am Lebenden wie am Todten. Im Anhang siud
gegeben: ein Beobachtungsblatt für Körpermessungen, ein
solches für Kraniometrie, das Schema der anthropologischen
Gesellschaft für die Untersuchung der Haare, und eine Tafel
Sehproben. Ein gutes Register erhöht die Brauchbarkeit
des Buches, das in der Ausrüstung keines Reisenden fehlen
sollte. Ko.
— Dr. I. Singer, Ueber soziale Verhältnisse
Ostasiens. Leipzig und Wien 1888. Franz Deu-
ticke. — Der Inhalt dieser kleinen lesenswerthen Schrift
berührt sich vielfach nahe mit den von uns veröffentlichten
Aufsätzen des Herrn Dr. I. Grunzel über die chinesische
Landwirthschaft. Sehr interessant und beachtenswerth finden
wir darin namentlich die Hinweise ans die Analogien, die
zwischen der Entwickelung der sozialen Verhältnisse Chinas
und derjenigen der europäischen Volkskörper bestehen.
Inhalt: Dr. R. v. Lenden seid: Der Bergbau in Australien. I. Neu-Süd-Wales. — Joh. Uhrlaub: Ein Neujahrs-
tag in Pedv. (Mit sechs Abbildungen.) — I. von Goerne: Die Insel Trinidad. — Kürzere Mittheilungen: Samuel W. Baker
über die geplante deutsche Emin-Pascha-Expedition. — Der Roraima. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. —-
Nordamerika. — Südamerika. — Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 9. Oktober 1888.)
Hierzu eine Beilage der Berlagsbnchhandlnng von Fcrd. Hirt & Sohn, Leipzig.
Redakteur: Dr. E. Dcckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Brauuschweig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Ethnologie, der Kulturberhültnisse
und dL5 Melthundels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braun schweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postnnstaltcn
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Die knlturgeographisch
Der um die Korrektion des Rheinstromes hochverdiente
Vorstand des großherzoglich badenschen „ Central-Burean für
Meteorologie und Hydrographie", Professor M. Honsell, hat
vor dem letzten internationalen Binnenschiffahrts-Kongresse,
der im August d. I. zu Frankfurt getagt hat, einen Vortrag
über die knlturgeographische Bedeutung der Flüsse und ihre
Entwickelung als Verkehrswege gehalten, dessen Hauptinhalt
wir uns nicht enthalten können an dieser Stelle wiederzu-
geben. Die Ausführungen Honsell's lauten etwa wie folgt:
Der Fluß hat seine physikalische und seine Kulturge-
schichte. Die erstere — ein Theil der Erdgeschichte — verfolgt
die vieltausendjährigc Arbeit, welche die Bewegung des
Wassers au der Oberflächengestaltung unseres Planeten
geleistet hat. Sie lehrt uns, wie die fließenden Gewässer
die Thäler ausgewaschen, die Gebirge durchnagt und quer
durchbrochen haben, wie dann die vordem staffelförmig ge-
trennten Seen abgelaufen, wie ihre Becken und die Meeres-
buchten durch die vom Wasser hergetragenen Sinkstoffe
ausgefüllt, dadurch die breiten Flußthäler und die weiten
Tiefländer geschaffen wurden, wie der Strom so aus einer
Vielheit von Gerinnen und Becken mehr und mehr zum
hydrographischen Ganzen sich gestaltet hat — einen Vorgang,
dem wir ganz ebenso in der Staaten- und in der Kultur-
geschichte begegnen: dem Durchdringen und Wachsen aus
dem Beengten und dem Getrenntsein — jeder Volksstamm
lebte anfänglich ein Leben für sich — zur freieren Bewegung,
zur Einheit, zur Größe.
Die physikalische Geschichte der Flüsse ist nicht abgeschlossen,
sondern unter der Wirkung der immerwährenden Erosion
Globus LIV. Nr. 16.
Bedeutung der Flüsse.
des fließenden Wassers dauert die Ausbildung der Flußge-
riuue fort. Aber so ungeheuer groß sind die Epochen der
Erdgeschichte, daß ihre stetigen Vorgänge in der Menschen-
geschichte kaum merklich werden. Das Maß jedoch, bis zu
dem die natürliche Ausbildung des Flusses vorgeschritten,
ist von Anfang bestimmend für seine knlturgeographische
Bedeutung. Zwar wenn wir an den Ufern der Flüsse,
auch in ihrem Oberlauf, die ältesten Wohnsitze finden, so
waren es zunächst die klimatisch begünstigte Lage, der frucht-
bare Schwemmbodcn und der die organische Natur belebende
Einfluß des Wassers, was hier zur Niederlassung einlud;
und wenn die großen Völkerwanderungen die Flüsse entlang
gezogen sind, so war es wieder vielmehr das Thal, dem sie
folgten, als der Fluß selbst. Ganz natürlich: beide Be-
wegungen, die des Verkehrs und die des fließenden Wassers
vollziehen sich unter der Herrschaft des gleichen Gesetzes,
des Gesetzes der Schwerkraft; ihm gehorchend hat der Fluß
sich seinen Weg gebahnt. Die Flüsse dienten deshalb in
frühern Zeiten den Völkern, wie heute noch den in fremde
Weltthcile vordringenden Forschungsreisenden als Wegweiser,
als leitende Ariadnefäden, und wir erkennen andererseits,
daß es stets schon das Vorhandensein einer gewissen vor-
geschrittenen Kulturstufe vorausgesetzt, bis der Fluß als
Verkehrsweg benutzt wird. Wenn also auch nicht überall
für die erste Besiedelung der Flußthäler und Stromniede-
rungen, so doch immer für die zunehmende Verdichtung
der Bevölkerung, für das Aufblühen der Uferstädte in der
Erwerbsthätigkeit der reichen Stromlandschaftcn, ist die
Wasserstraße die mächtig wirkende Ursache.
31
242
Die kulturgeographische Bedeutung der Flüsse.
Anderweit und hauptsächlich prüdestinirend für die kultur-
geographische Bedeutung der natürlichen Wasserläufe erachtet
Honsell eine Reihe physikalischer Bedingungen, allen voran
die geographische Lage an sich. Ans seinen diesbezüglichen
Ausführungen hier einige kennzeichnende Sätze: Die ge-
mäßigten Zonen sind die begünstigtsten — in den Flüssen
der Tropenländer mit ihren Regenzeiten wechselt Wassermangel
mit stürmischen Hochflnthen, die Flüsse des hohen Nordens
sind einen beträchtlichen Theil des Jahres hindurch vereist. —
Meridianströme, die der Richtung der Meridiane folgend
Zonen von verschiedenem Klima durchfließen, dienen dem
Austausch weit mannigfaltigerer Bodeuerzeugnisse, als solche
Stromläufe, die von Ost nach West oder umgekehrt annähernd
dieselben Wachthums- und Anbau-Zonen berühren, und werden
deshalb auch zu belebteren Wasserstraßen. — Unmittelbarer
Anschluß an die Seewege bei günstiger Lage und Be-
schaffenheit der Mündung giebt dem Binnengewässer Bedeu-
tung für den Weltverkehr. — Die in den Atlantischen Ocean
und in die Nordsee mündenden europäischen Ströme dienen
dem äußeren Handel in ungleich höherem Maße als sene,
die sich in die Ostsee, in das Mittelländische Meer oder in
Binnenmeere ergießen. Redner exemplisizirt auf den Rhein
im Gegensatz zu Donau, Wolga, Jordan und den Physisch
geschlossenen sibirischen Gewässern. Andere Ströme zer-
fasern ihre Mündungen in netzartige Deltas, wieder andere
verdampfen gar im Sande.
Je nach den obwaltenden physikalischen Verhältnissen
gestaltet sich auch die Besiedelung.
Bei jenen breiten, trompetenförmigen Strommündnngen,
in welche die Meerfluth kraftvoll spülend hineinwallt, und
die nautisch so werthvoll sind, liegt regelmäßig die Mün-
dnngs- und zugleich Seehafen-Stadt da, wo die Grenze
des Fluthgebietes ist, d. h. bis wohin die Seeschiffe noch
einlaufen können, so Hamburg, Bremen, Rotterdam, Ant-
werpen, Bordeaux u. a. Auf den britischen Inseln beruht
die Verkehrsbedeutung der Flüsse hauptsächlich in den Mün-
dungsstrecken, durch die von allen Seiten die Meeresfluth
ins Land pulsirt. An den Meeren ohne alle oder ohne
erhebliche Gezeitenbewegung halten sich die Mündungsstüdte
nahe zur Küste (so an der Ostsee und am Schwarzen
Meere); sie liegen auch wohl der Flußmündung zur Seite
(so Marseille, Venedig und Ravenna), oder gegenüber auf
einer Insel (so Kronstadt als äußerste Mündnngsstadt der
Newa, und Cadiz). Bei großen Deltabildungen finden wir
eine oder mehrere Städte in der Nähe der Deltaspitze und
bei den Abzweigungen der Hauptarme (Flußtheilungs-
städte — so Kairo, Arles, Emmerich u. a). Die Abhängig-
keit der Besiedelung des Flußlauscs von seinen physikalischen
Eigenthümlichkeiten erhellt ferner daraus, daß man überall
da aus alten Niederlassungen zu namhafter Bedeutung
herangewachsene Städte trifft, wo seine Schiffbarkeit ab-
nimmt und beeinträchtigt oder unterbrochen ist, d. i. wo Wasser-
tiefe und Strombreite sich mindert, das Gefälle wächst, wo
Stromschnellen, Furten oder Engen auftreten, wo der Lauf
scharf umbiegt, oder an den Einmündungen der schiff- und
flößbaren Seitengewässer. So spricht man von Haupt-
städten des Unter-, des Mittel- und Oberlaufes, von Strom-
schnellen- und Furtstädten, von Engen- und Brückenstädten,
von Konfluenz- und Flußwinkelstüdten.
In klimatologischer, geologischer, orographischer, hydro-
graphischer und ethnologischer Hinsicht der Götter Gunst
erfahren hat Europa I. Europa, wie in der Gestaltung
seiner Küsten, so auch im Festlandsinneren geotektonisch
fein gegliedert, ist der Ausbildung schiffbarer Flüsse größten-
Bergt, hierzu: E. Deckert, Die Hauptbahnen des Welt-
verkehrs. Leipzig 1882.
theils günstig: über wellige Hochflächen, durch Mittelgebirge
und Hügelland senken sich die Gewässer vom Austritte aus
den engen Thälern und aus den Randseen der centralen
Faltengebirge mit allmählich abnehmendem Gefälle in die
Tiefebenen und flachen Küstenländer. Im Gegensatz hierzu
steht Afrika mit seinem plumpen Aufbau: die Flüsse trennen
dort mehr als sie verbinden, in dem vorherrschenden
Terrassengebirge fallen sie stufenförmig herab, und der letzte
Absturz liegt meist schon nahe der Mündung, so daß der
langgestreckte Unterlauf fehlt, dessen gute Schiffbarkeit an
den europäischen Flüssen zur dichten Ansiedelung und fast
immer auch zur Bildung einer großen Stadt den Anlaß
gegeben hat; am Rhein ist dies Köln. Aber auch von
den europäischen Flüssen sind wenige von der Natur so
fertig ausgebildet, als daß nicht die Gebirgsdurchbrüche noch
als schluchtartige Abstürze sich geltend machten. So am
Rhein die Gebirgsdurchbrüche bei Schaffhausen und am
Binger Loch, an der Donau bei Grein, Preßburg und
Orsova.
Nachdem dann Honsell noch angedeutet, wie der Ge-
birgsban des Flußgebietes hier verkehrbeschränkend gewirkt,
dort eine weitreichende Entfaltung des kulturfördernden
Einflusses der Wasserstraße begünstigt hat, wie ferner bei
gegenseitiger Annäherung zweier Flüsse oder einer Binnen-
wasserstraße an einen weit in das Festland eindringenden
Meerbusen die Verkehrsfäden sich herüber und hinüber
spinnen, Land - und Kanalverbindungcn fast erzwingend;
nachdem er noch ans die wichtige Rolle der Konfluenz- und
Furtstädte hingewiesen (welch letzterer Art ja auch der
Kongreß-Ort angehöre) und insbesondere gezeigt hat, wie die
Anwohner solcher Stellen das natürliche Verkehrshemmnis als
einträglichen Zwangsstapel auszunützen bedacht gewesen
sind, so daß man deshalb in den Furtstädten die ältesten
Niederlassungen und Brücken und Umschlagsplätze erkennen
darf, resumirt er sich dahin: Mit ganz wenigen Aus-
nahmen liegen alle volkreichen Städte der Erde I an
Flüssen oder Meeresküsten, viele an beiden zugleich, und
meist ist es nicht schwer, in der Beziehung zum Wasser
die Ursache des Entstehens und des Großwerdens dieser
Städte nachzuweisen. Die physischen Verhältnisse als Ur-
grund der Entwickelung erkennen wir auch in der lebhaften
Wechselwirkung, die sich zwischen der Massenerzeugung der
Forst- und Landwirthschaft und des Bergbaues einerseits
und der Massenbewegung aus der Wasserstraße, dem Ge-
deihen des Großgewerbes und des Großhandels andererseits
einstellt. Wo die Dinge derart liegen, da pflegt der Ver-
kehr auf dem Flusse zur größten Höhe wirthschaftlicher Be-
deutung zu gelangen.
Neben die in physikalischen Bedingungen wurzelnden
Ursachen treten nun aber die politischen Einflüsse:
feindseliges Verhalten oder freundschaftliche Annäherung
der Völker, Krieg und Frieden, Privilegien, Zollwesen und
Handelsverträge, Kolonialpolitik und ■— ein Kind unserer
Zeit — die Eisenbahnpolitik, wodurch die kultur-geographische
Bedeutung der natürlichen Binnenwasserstraßen hier zurück-
gedrängt, dort gefördert worden ist. Die Verfolgung dieser
Vorgänge kann zu dem Schlüsse führen, daß die Einflüsse
solcher Art, wo sie sich in einer den physischen Bedingungen
entgegengesetzten Richtung geltend gemacht haben, zwar
oftmals auf geraume Dauer für die Ausbildung der Ver-
kehrsverhältnisse entscheidend gewesen sind, daß aber doch
in der Regel die Natur am Ende sich stärker gezeigt hat,
als die Politik, und daß die natürlich begünstigten Ver-
kehrswege, Orte und Landstriche früher oder später auch die I
I v. Hang: Gott fetzte nach dem weisesten Systeme — die
großen Städte meist an große Ströme.
iWWMMMWWWM»
Die kulturgeographische Bedeutung der Flüsse.
politisch bevorzugten geworden sind, daß aber immer da,
wo die politischen Ziele und das politische Geschehen mit
der in der Natur begründeten Entwickelung einig waren,
die größten Erfolge sich eingestellt haben, und endlich, daß
die weltgeschichtlichen Ereignisse sich auch in der Kultur-
geschichte der Flüsse wiederspiegeln.
Honsell verständlicht das an verschiedenen Beispielen,
zunächst am Nil und dem alten Kulturland Aegypten,
dessen „Geschenk". Aegypten ist ein Stromland im eigent-
lichsten Sinne des Wortes: seine südliche Grenze fällt mit
der Grenze der Schiffbarkeit des Nils an den untersten
Katarakten von Syene (Assuan) zusammen, und die dichter
bevölkerten Landstriche folgen dem „heiligen Strome" bis
zu seiner Mündung. Der Nil ist seit der frühesten Zeit
des Landes einzige Hauptstraße. Die ägyptische Sprache
hat für „reisen" nur das Wort „stromauf-" und „stromab-
fahren". Lange hat er nur beut inneren Verkehre gedient,
denn wie nach oben durch die Katarakte, so war er nach
unten durch das für die Schiffahrt kaum benutzbare Delta
abgeschlossen. Erst mit den Ptolemäern beginnen die
erfolgreichen Bemühungen, den Nil zur Welthandelsstraße
zu machen. „Der unausgesetzte Widerstreit zwischen den
Lagiden und den Scleueiden", schreibt Mommsen, „ist
zugleich ein Kampf des Nils gegen den Euphrat; dieser ist
im Besitz, jener der Prätendent".
Der Euphrat nun verdankt feine Bedeutung als älteste
Welthandelsstraße der Annäherung seines schiffbaren Mittel-
laufes an die syrische Küste. Er ist der Hauptverkehrsweg
der Phönizier. Basra ist von den Arabern zur Sicherung
der Euphratfahrt und als Mündungsstadt gegründet; außer
Babylon haben aber alle Hauptstädte am Tigris gelegen,
wegen der leichteren Verbindung mit Inner-Asien; Seleucia,
Ktcsiphon und Bagdad hatten auch schiffbare Verbindung
mit dem Euphrat. Der Tigris ist immer nur so, wie
Tcnophon es schildert — mit Flößen, die auf Schläuchen
schwammen —, befahren worden. Der unmittelbare Verkehr
mit Ostasien geht in der Kalifenzcit wesentlich von Bagdad
aus. Noch erhöhte Bedeutung erhielt diese Verkehrsstraße,
als die Krcuzfahrerstaaten die Vermittelung der südasiati-
schen Erzeugnisse in die Hand genommen hatten. Aber
schon vor Beginn des 14. Jahrhunderts ward der Enphrat-
weg gegenüber dem Nilwege vernachlässigt, und nach der
Zerstörung von Bagdad kommt er ganz außer Gebrauch.
Es ist die Zeit, da durch die Duldsamkeit, die politische
Freundschaft und die leichte Beweglichkeit des Nomadenvolkes
in den mongolischen Reichen den unternehmenden vene-
tianischen Kaufleuten die großen Steppenwcge nördlich des
Kaspischen Meeres, von der Krim aus und südlich von
Armenien über Tauris, eröffnet wurden.
Besonderes Interesse gewährt die Geschichte der russi-
schen Binnenwasserstraßen. Dem Alterthume, das be-
ständig im Unklaren war, ob das Kaspische Meer ein
Busen des nördlichen Oceans sei oder nicht, blieb die
Wolga (Rha) unbekannt. Erst als mit dem Aufblühen
der arabischen Reiche sich dort ein großer Bedarf an Pelz-
werk eingestellt hatte, wird das Kaspische Meer von Iran
aus lebhaft befahren. Im achten Jahrhundert wird Jtil
oberhalb des Wolgadeltas, Endpunkt dieser Fahrten und von
hier aus der ganze Wolgalauf erschlossen. Die Wolga-
Bulgaren treten zum Islam über und entwickeln sich ganz
und gar als Kaufmanns- und Schisfervolk. Und als die nor-
wegischen Waräger an den Wolgaquellcn sich festgesetzt haben,
befahren sie den ganzen Strom bis ins Kaspische Meer.
Von den Wolgagucllen erreichen sie auf kurzem Landwege
die Wasserstraße nach Nischnij-Nowgorod und die Düna
als Verbindungsweg mit Gothland, dem Mittelpunkte des
damaligen nordischen Handels, und mit der schwedischen
Küste. Mit der Zerstörung des bulgarischen Reiches im
zehnten Jahrhundert nimmt dieser Verkehr ein jähes Ende.
Bis ins neunzehnte Jahrhundert ruht die Schiffahrt auf
dem mächtigen Strome fast ganz. — Wie die Wolga für
das mohammedanische, so ist der Dnjepr für das christ-
liche Rußland im frühen Mittelalter wichtige Verkehrsstraße,
noch früher Hauptweg der Normannen im Osten. Auch
hier handelt es sich um einen das ganze Festland durch-
querenden Verkehr, indem der Isthmus zwischen Dnjepr
und den nördlichen Wasserwegen mit zerlegbaren Schiffen
übersetzt wurde. Die Eroberung Rußlands durch die Russen,
damals noch fast ausschließlich die Waräger, geht von diesen
Wasserstraßen aus, deren wichtigste Punkte, Nowgorod
(Wolga) und Kiew (Dnjepr) — der letztere oberhalb der durch
Felsrifse erschwerten Fahrt gelegen — die beiden Hauptstädte
das ganze Mittelalter hindurch geblieben sind. Wesentlich
durch die Verbindung der Wolga- und Dnjeprstraße mit
den großrussischen Seen war Nischnij-Nowgorod vom achten
bis zehnten Jahrhundert Hauptstapelplatz der orientalischen
und byzantinischen Waaren, und zugleich Staatsmittelpunkt.
Sofort mit dem Aufschwung Venedigs und der Gründung
der Kreuzfahrerstaaten unterliegt auch die Dnjeprstraße
gegen den See- und Landweg. Man darf wohl sagen, daß
kaum in einem anderen Lande, so wie im Russenreiche, die
Flüsse die ursprünglichen, für die Geschicke des Landes
wichtigen Verkehrswege gewesen sind.
Eine ähnliche Bedeutung wie die russischen haben die
amerikanischen Flüsse. Der Amazonenstrom ist durch Fluß-
schiffahrt in seinem peruanischen Oberlause, nicht von dem
schwierigen Delta aus, überhaupt entdeckt worden. Dagegen
ist der Besitz der La Plata-Mündung und damit die Be-
herrschung des großen Stromgebietes der Hauptstreitpunkt
der portugiesischen und spanischen Politik in Amerika.
Andererseits wieder ist es Vorbedingung für das Gedeihen
des kommunistischen Jesuitcnstaates am oberen Uruguay,
daß dieser im Mittellauf für die Bergfahrt durch Strom-
schnellen gesperrt ist. „Gott hat sie zu unserem Schutze ge-
setzt", heißt es dort. In Nordamerika sind für die Neu-
England-Staaten weniger die Flüsse, als vielmehr die tiefen
Seehäfen von Werth. Dagegen beruht Eolbert's umfassende
Kolonialpolitik auf dem Gedanken, daß Frankreich durch die
Ausdehnung der Kolonien Louisiana und Kanada, der beiden
wichtigsten Stromsysteme Amerikas sich bemächtige und dadurch
in den Besitz der umklammerten Landschaften gelange, eine
Vorstellung von der Bedeutung des Mississippi und des
Lorenzstromes, die hente kaum voll verwirklicht ist. In
den Vereinigten Staaten gab es vor 1812 nur sehr wenige
gute Landstraßen und noch keine Kanäle; aller Verkehr be-
wegte sich an den Küsten entlang und auf den Flüssen bezw.
Binnenseen.
Die Flußgebiete des heutigen Frankreich hat schon Sirabo
als ganz vorzüglich hervorgehoben. Zu allen Zeiten sind
hier die Flüsse als Verkehrswege benutzt worden, und früher
als anderwärts hat man begonnen, die „Lliemins courants“,
wie Pascal sie nannte, zu verbessern, bald auch sie durch künst-
liche Wasserwege zu verbinden (fossae Marianae). Die
Lage an der Seine zwischen den Mündungen der Marne
und der Oise hat wesentlich zur Größe von Paris beige-
tragen. Scharf tritt die Eigenschaft als Konflnenzstadt
bei Lyon hervor; Orleans und Toulouse sind Flußwinkel-
städte, und Frankreichs wichtigere Sechandelsplätzc sämmtliche
Flußmündungsstüdte.
Die Entwickelung der Schiffahrt auf der Donau standen
immer die Stromschnellen und -Engen in den mehrfachen
Gebirgsdurchbrüchen hindernd im Wege. Wie die Felsriffc
des „Eisernen Thores" trennend gewirkt haben, geht deut-
lich schon daraus hervor, daß die Donau im Alterthum zwei
31*
244
Die kulturgeographische Bedeutung der Flüsse.
verschiedene Namen erhalten hat: Jster unterhalb, Danubius
oberhalb jener Katarakte, und lange blieb unbekannt, daß
beide ein und derselbe Strom sind. Auch im Mittelalter
zweigt die Donaustraße regelmäßig bei Belgrad ab und geht
über Sofia und Philippopel, deren Lage durch diesen Zug
bedingt war, nach Konstantinopel. Bis ins neunzehnte
Jahrhundert bleibt die untere Donau der ödeste Strom
Europas. Aber auch in der Gegenwart ist die großartig an-
gelegte Unternehmung der Donau-Dampfschiffahrt noch nicht
zn jener machtvollen Entfaltung gelangt, wie sie um so
mehr zn wünschen wäre als die Schiffahrt ans der Donau
in den Balkanländern eine belangreiche Kulturaufgabe zu
erfüllen hat. Bekanntlich sieht der Berliner Vertrag die
Beseitigung des weltgeschichtlich wichtig gewordenen Schiff-
fahrts-Hindernisses am „Eisernen Thore" vor, und die Königl.
Ungarische Negierung hat den Vollzug übernommen. Hoffen
wir, daß ihr die schwere Aufgabe bald gelingen möge und
damit der Donaustrom wirthschaftlich das werde, was er
hydrographisch ist: Der Rückgrat der Oesterreichisch - Unga-
rischen Monarchie.
Im Nordosten des Deutschen Reiches sehen wir die Ge-
schichte der Schiffahrt auf Memel, Weichsel und Oder mit
jener des deutschen Ordens und der Hansa-Politik aufs
engste verknüpft. Berlin hat sich durchaus als Flußstadt
entwickelt und hat, was wenig bekannt, gegenwärtig den
größten Binnenschiffahrtsverkehr des Deutschen Reiches.
Und nun zum Rhein. An seinen Ufern begegnen wir
überall Stätten alter Kultur. Inwieweit Klima und Bo-
denbcschaffenhcit und der ebene Weg im Thale die Ursache,
wieviel die Benutzung des Stromes als Verkehrsweg daran
Theil hat, wir wissen es nicht. In den 400 Jahren der
Römerherrschaft hat sich am Rheine ein bewegtes Leben
entfaltet. Sicher ist, daß damals der Strom als Wasser-
straße benutzt war. In der allemannisch - fränkischen Zeit
wurden die ober- und mittelrheinischen Gegenden ausschließlich
von der Donau und der Rhone aus, auf dem Landwege auch
über die Alpen her, mit den Waaren des Orients versorgt,
und bis zu den Karolingern verlautet wenig von der Rhein-
schiffahrt. Allmählich begannen aber die Römcrstädte wieder
aufzublühen und der Stromverkehr sich zn heben. Karl der
Große wollte den indischen Waarenzng gegen den Rhein ab-
lenken durch einen Donau-Main-Kanal, doch der Bau mißlang.
Tausend Jahre später durch den Baiernkönig Ludwig I. ist der
Gedanke verwirklicht worden, allein die indischen Waaren
hatten längst andere Wege eingeschlagen. Zur wichtigen
Handelsstraße ist der Rhein erst geworden, als mit der Er-
richtung des Hansabundes, dem auch Köln angehört hat, der
Waarenaustausch sich den nordischen Häfen zuwandte. Doch
konnte die Rheinschiffahrt nicht zu gedeihlicher Entwickelung
kommen, bevor nicht der Bann des Mittelalters gelöst war,
und das hat bis in das 19. Jahrhundert gewährt. Bis
dahin ist die Geschichte der Rhcinschiffahrt eine Geschichte
von Zöllen, Stapel- und Umschlagsrcchten und willkürlichen
Zwangsmaßregeln der Städte und der vielen kleinen Ge-
bietsherren. Sie alle forderten viel von der Schiffahrt
und leisteten ihr wenig oder nichts. Die politischen Hemm-
nisse überwogen noch die physischen, auch die Strommün-
dnngcn waren für den Flußverkehr politisch geschlossen. Es
hat der umwälzenden Ereignisse zu Anfang unseres Jahr-
hunderts bedurft, um Wandel zn schaffen, und auch jetzt ward
die Schiffahrt nur allmählich von den drückenden Fesseln be-
freit. Nun kam aber die Einführung der Dampfkraft im
Verkehrswesen, zuerst in der Schiffahrt, indeß bald auch
mächtig im Landverkehr, und fast schien es, als ob die Schiff-
fahrt im Wettbewerb werde unterliegen müssen. Jetzt galt
es die Wasserstraße zn verbessern, und allerwärts begann
man die Flüsse zu reguliren und zu kanalisiren. Bald
konnte jener Engländer sagen, ein nicht regulirter Fluß
komme ihm vor, wie ein Mann in Hemdsärmeln, und cs
ist nicht unberechtigt, wenn man heute in dem Zustande der
Gewässer einen Maßstab für die Kultur des von ihnen
durchflossenen Landes erkennen will. Der Rhein in den
Gebirgsstreckcn konnte noch bis zum Jahre 1830 nur bei
höheren Wasserständen mit geladenen Schiffen befahren
werden.
Mit Ueberwindung namhafter Schwierigkeiten und mit
großen Geldopfern wurden jetzt die hochstreichenden Felsrisfe
gesprengt, und ist auch sonst die Wasserstraße durch ausge-
dehnte Bauwerke sehr viel leistungsfähiger gemacht worden,
und das Bild, wie es sich nun im Rheinverkehr entrollt, ist
ein überaus erfreuliches, wahrhaft großartiges: Wir sehen
den Strom sich beleben mit schmucken Dampfern, mit statt-
lichen Schleppzügen und mit Eilgüterbooten; von Jahr zu
Jahr nimmt die Zahl der Schiffe zu und ebenso ihre Trag-
fähigkeit. Der Verkehr steigt auf nie geahnte Höhe. Von
drei Seehäfen ersten Ranges schwimmen die wcrthvollen Er-
zeugnisse der fremden Welttheile bis hoch in das Binnenland,
den Umkreis des rheinischen Handels erweiternd. Der Berg-
bau an der Ruhr nimmt gewaltige Ausdehnung an. Aller-
wärts entstehen Fabrikanlagen, und überall macht sich das
Bedürfniß geltend nach Erweiterung der alten und Her-
stellung neuer Hafenanlagen, die Städte wachsen; ja hier,
inmitten des alten Europa und inmitten des 19. Jahrhunderts,
hat sich Mannheim, der Hauptstadt des Oberrheins und
Mündungsstadt des Neckars gegenüber, eine Stadtbildnng
vollzogen — Ludwigshafen. Gesittung und reges Treiben,
gesunder Unternehmungsgeist, Wohlstand und Frohmnth
herrschen am ganzen Rhein und an seinen schiffbaren Neben-
flüssen. Im Rheingebiet sehen wir aber auch, was bei der
Gunst der Natur die der Wasserstraße zugewandte Fürsorge
weiser Regierungen Segensreiches bewirken kann. Möge
sie dem schönen Strome, möge sie allen Wasserstraßen er-
halten bleiben oder in gleichem Maße zu Theil werden!
Im Weltverkehr gilt in erster Reihe: die Schiffahrt schafft
das rechte Leben; stolz klingt der Spruch am Seemannshause
in Bremen: Navigare necesse est, yivere non est ne-
66886. Möchte die knlturbefrnchtende Bedeutung der Flüsse
überhaupt mehr und mehr allseits gewürdigt werden! Sie
dienen, hochbedeutsam genug, ebenso dem wirthschaftlich
Schwachen wie den großen Betrieben. Der Flnßverkehr
ernährt eine zahlreiche Bevölkerung durch die selbstständige
oder verantwortungsvolle Ausübung eines Gewerbes, das
in steter Berührung mit der freien Natur Kraft und Muth
erfordert und giebt. Die Vortheile der überall zugänglichen
Wasserstraße, sie bestehen für alle Uferanwohner. Im
Gegensatz zu den Eisenbahnen wirkt so der Wasserverkehr
einem Uebel unserer Zeit entgegen: der Vermehrung völlig
vom Großkapital abhängiger Existenzen, dem ungesunden
Anwachsen der Städte und dem Rückgänge des flachen
Landes. Also nicht allein volkswirthschaftlich, insbesondere
auch von einem gesellschaftspolitischen Gesichtspunkte ans
ist es freudig zu begrüßen, wenn unsere Zeit die Pflege der
Wasserstraßen sich ernstlich angelegen fein läßt, und wenn
überhaupt das Bestreben dahin gerichtet ist, die in den
fließenden Gewässern gebotenen Kräfte so viel als möglich
zn nützen, wie andererseits den kulturfeindlichen Zustünden
und Ausschreitungen der Flüsse, den verderblichen Hoch-
fluthen, kräftig zn wehren, um auch so Pindar's Wort
immer mehr wahren machen:
xo CCQLÖTOV {isv vdcoQ,
Das Köstlichste ist und bleibt doch das Wasser.
Bruno Dietz.
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
245
Victor Girando Reise nach den innerafrikanischeil Seell.
XIII. i)
(Mit fünf Abbildungen.)
Da Giraud bei seiner Ankunft in Karema einen großen
Theil seiner Leute entlassen, bezw. an Kapitän Storms
abgetreten hatte, so waren ihm nur noch fünfzig übrig ge-
blieben — die kräftigsten und abgehärtetsten, zugleich aber
auch die undisciplinirtesten. Eingeschlossen in diese Zahl
war auch Wadi Combo nebst seinen acht Begleitern, die
nach Unianiembe gesandt worden waren, um Scsn aufzu-
finden. Deren Rückkehr mußte abgewartet werden, bevor
man von Karema aufbrechen konnte.
Als „Niambara" (Kommandanten) seiner Leute hatte
der Reisende Wadi Asmani eingesetzt, weil er der älteste
von ihnen war, derselbe entwickelte aber in seinem Amte
eine ganze Reihe von sehr schlechten Eigenschaften, so daß
ernstlich daran gedacht werden mußte, ihn zu beseitigen, und
Wadi Combo an seine Stelle zu setzen. Wahrscheinlich
weil er das ahnte, erregte er eine förmliche Revolte bei der
Karawane, die auf nichts geringeres ausging, als unter
Zurücklassung Giraud's vom Tanganika geraden Wegs gegen
Zansibar aufzubrechen. Nur Farraji, der Untcrkomman-
dant, nahm nicht Theil an der Verschwörung, einfach, weil
er dadurch seinen verdienten Lohn zu verlieren fürchtete,
und Kamna, sowie Hassani folgten nur, weil sie ihr Leben
gewagt haben würden, wenn sie sich ausgeschlossen hatten.
Sie bestätigten auch heimlich, daß Wadi Asmani selbst die
Seele des Aufruhrs sei, obwohl er sich stelle, als folge er
nur gezwungen.
Girand versuchte erst durch Kaltblütigkeit und scheinbare
Gleichgültigkeit Herr der Lage zu bleiben, endlich riß ihn
aber doch der Zorn über den Vcrräther hin, und er gebot
demselben, die Hütte zu verlassen und niemals wieder zu
betreten. Dann begab er sich hinaus, und er fand die
Karawane — ein paar Nachzügler ausgenommen ■— that-
sächlich bereits abgezogen. Raschid, der stellvertretende
Kommandant des Forts Karema, ein intelligenter Araber
von den Komoren, rieth die Sache zunächst ruhig abzu-
warten und es erst am nächsten Tage mit Unterhandlungen
zu versuchen. Die Neger zwingen zu wollen, ihrem An-
führer nicht zu folgen, könne zu nichts Gutem führen, da-
gegen sei es durchaus wahrscheinlich, daß die Leute in zwei
bis drei Tagen aus freien Stücken zurückkehren würden,
weil ihnen ihre neue Lage nicht behagte. So seien die
Schwarzen eben.
Da Wadi Asmani ans Klugheit die formelle Führer-
schaft nicht übernommen hatte, so hatten sic Songoro und
Bilali Mafta provisorisch an ihre Spitze gestellt, und nach
vierstündigem Marsche hatten sie sich bei Schata gelagert,
um von dort am anderen Tage gegen Tabora weiter zu
ziehen, nachdem sie sich vorher einen definitiven Führer-
gewählt hatten. Diese Nachrichten brachten Hassani und
Kamna, die ihrem Versprechen gemäß in der Nacht zu
Giraud zurückkamen.
Am nächsten Morgen wurde Farraji als Unterhändler
zu den Rebellen ins Lager gesandt, mit dem Auftrage,
sie über ihre Klagen zu befragen, und ihnen unbestimmte
Vorschläge zu machen. Er kehrte am Abend zurück, ohne
das geringste ausgerichtet oder gethan zu haben, und drei
Tage blieb Girand in Karema vollständig verlassen, bis
ihm endlich die Aufrührer erklären ließen, daß sie bis auf
weiteres zu ihm zurückkommen, und Wadi Combos Rück-
kunft abwarten wollten. Es geschah dies auch wirklich,
und indem sie ohne weiteres an ihre tägliche Beschäftigung
gingen, sahen die Burschen trübselig genug aus. Einige
verlangten alsbald Medizin, weil sie vom Fieber geplagt
wurden.
Endlich, acht Tage nach der Revolte, kamen Nachrichten
von Wadi Combo, in den Girand seines offenen, ritter-
lichen Wesens wegen so großes Vertrauen setzte, und der
so sehnlichst erwartet wurde. Dieselben lauteten aber keines-
wegs erfreulich. Mitten auf dem Wege zwischen Karema
und Tabora war er von einem Häuptlinge, Namens Moina
Miega gefangen genommen worden, und nur gegen ein
Lösegeld sollte er wieder freigegeben werden. Den beiden
Boten war cs auch schwer genug geworden, nach Karema
zurückzukommen.
Von der Karawane erzählten sie, daß dieselbe zweimal
von Rugas-Rugas angegriffen worden war, endlich aber
war sie auf Heeresabtheilungen Mirambos gestoßen, die
verschiedene Bomas belagerten, und einer der Heerführer,
mit Namen Moiuanga, hatte sich ihr sehr freundlich gezeigt.
Auf den Bericht der Boten hatte derselbe auch sofort eine
Schaar gegen Moina Miega gesandt, um Wadi Combo
zu befreien. Girand schickte ihm daher durch Ferraji und
Hassani ein möglichst kostbares Geschenk. Gegen die feind-
lichen Bomas führte Moiuanga den Krieg übrigens mit
aller Härte, und in Saroma, nahe bei Karema, blieb
nach seiner Einnahme nicht ein Mann leben.
Nachdem nun wieder drei Wochen vergangen waren,
kehrte Ferraji mit der Freudenbotschaft zurück, daß Wadi
Combo wieder frei sei und sich aller Wahrscheinlichkeit
nach bereits in dem Lager Moinangas befinden werde, und
zwei Tage später zog der schwer Vermißte selbst mit der
Karawane unter großem Jubel wieder in Karema ein
(S. Abbildung 1). Girand begrüßend, sagte er: „Deine
Befehle sind ausgeführt, Herr. Nur ein Gewehr habe ich
verloren, das mir ein Ueberläufcr entwendet hat. Auch
die Stoffe, die Sefu gekauft hat, sind unberührt, bis auf
ein Paar Stücke, die ich zur Bezahlung verwenden mußte."
Das war viel mehr, als erwartet werden konnte. Nun
war wieder für Unterhalt auf ein volles Jahr gesorgt, und
zugleich waren die Leute mehr als genügend ausgeruht.
Dazu die gute Bewaffnung! Was hinderte nun daran,
an die Ausführung weiterer Reisepläne zu denken, und vor
allen Dingen den Tanganika zu queren, um dadurch eine
Schranke gegen Zansibar hin zu errichten, damit die Kara-
wane nicht wieder auf Abzug sinnen könne?
Leider begannen alsbald wieder die Aeußerungen der
Unzufriedenheit im Lager. Die Leute wollten nach Zansibar
zurück, und eine Partei war offenbar noch immer gemeint,
i) Bergt. Globus, Bd. 53. S. 180.
Ankunft Wadi Coinbo's.
Victor Giraud's Reise nach den innerafriknnischen Seen.
eventuell auch ohne Giraud dahin aufzubrechen und ihn
feinem Schicksale zu überlassen. In dieser Lage nahm der
Reisende Wadi Combo bei Seite, und fragte ihn, ob auch
er ihn zu verlassen gedenke. Wadi Combo versicherte ihm
Abfahrt von Kareina.
Victor Giraud's Reise nach dm innerafrikanischen Seen,
247
Farrasi alles auf, um die Leute zur Ordnung zu bringen,
und mit einem Theile gelang es ihnen auch. Die meisten
erklärten aber mit kindlicher Offenheit, daß ihre Treue nur
eine bedingte sein werde.
Als Giraud feine Stellung auf diese Weise bei der
Mehrzahl wieder befestigt sah, entschloß er sich zu einem
entscheidenden Schritte. Er hieß den Abtrünnigen die Ge-
wehre nehmen und das Lager anzünden, und dieser sein
Befehl wurde prompt und mit förmlichem Enthusiasmus
ausgeführt. Er zeigte sich auch wirksam: am Abend
waren alle bis auf einen, der in die Wildniß zurückkehrte,
zu folgen bereit, und am nächsten Tage marschirte sie nach
Kilandu ab, weil nur dort eine genügende Zahl von Kähnen
zum Uebersetzen des Sees zu finden war. Giraud selbst
beschloß, im Kahne nach demselben Orte zu fahren, und
ein paar Tage nach dem Ausbruche der Karawane, als —
am 27. April — der starke Südwind aufhörte, sagte er
Karema Lebewohl (S. Abbildung 2). Der Seegang und
die Klippen machten die Fahrt allerdings nichts weniger
als angenehm, und mehr als einmal kam das Gepäck des
Reisenden in Gefahr. Nebenbei wurde aber auf ein Hippo-
potamus, auf badende Büffel, oder auf Gänse Jagd ge-
macht. Bei Kalearia, wo man die Nacht kampirte, beob-
achtete man eine große Zahl Flamingos, die in langer
Reihe im Wasser nahe am Ufer standen und fischten, und die
sich dabei auch durch den Knall der Büchse nicht stören ließen.
Die menschliche Bevölkerung ist in dieser Gegend des
Tanganika ziemlich dicht, trotzdem sieht man aber nirgends
Katogoro,
ein Dorf, weil sich dieselben immer in der Tiefe des Dickichts
verbergen. Auch den Besitzer eines großen Kahns, dessen
man zum Uebersetzen des Sees bedurfte, mußte man erst
dort aufsuchen, und daun brauchte es lange Zeit, um ihn
zu deni bedenklichen Unternehmen zu bewegen. Starker Süd-
wind machte die Fahrt bei Tage unmöglich, so daß man die
Nacht dazu benutzen mußte. Nach fünftätiger Reise kam
man in Katogoro, das an der schönen, geschützten Bucht
von Kilandu liegt, an, und bereits drei Tage früher war
dort auch die Karawane eingetroffen. Um sich vor einem
Löwen zu schützen, der die Gegend durch seine nächtlichen
Streifzüge unsicher machte, hatten die Bewohner des Ortes
neben ihren Hütten 7 bis 8 irr hohe Pfahlgerüste errichtet
(S. Abbildung 3). Die Bestie zu erlegen gelang auch den
Leuten Giraud's nicht, und die Eingeborenen glaubten darum
desto fester, daß sie in Wirklichkeit ein böser Zauberer
(„muzimu“) sei.
Den Preis der Ueberfahrt festzusetzen, kostete eine drei-
tägige Verhandlung. Endlich verstanden sich die Kahn-
besitzer dazu, die Karawane nach der Insel Manda, die
nahe beim anderen Ufer lag, hinüber zu rudern — an
die hundert Leute in fünf ausgehöhlten Baumstämmen.
Zuerst ging es aber nach der öden Zauberer-Insel ans
Granitfels, die nahe bei Kilandu aus dem See emporragt;
man befragte dort die höheren Mächte um die Aussichten
der weiten Reise, und erst als das Orakel infolge der
schönen Geschenke, die ihm gemacht wurden, Gutes verhieß,
da machte man sich auf zur Weiterfahrt. Da die Ein-
schiffung zeitig am Nachmittage erfolgte, so gab es aber wieder
einen harten Kampf mit Wind und Wellen zu bestehen.
Mpà
Victor Girnud's Reise nach den innerafrikanischen Secar
249
Die Boote hielten sich dabei immer möglichst fern von ein-
ander, damit im Falte eines Unglückes die Insassen des
einen nicht etwa die des anderen aus dem Wasser zu ziehen
hätten. Erst am Abende wurde es ruhig, und dann ging
die Fahrt bis Kapampa, an der Westseite des Sees, glücklich
von statten. Bei diesem Orte, der am Fuße eines etwa
400 ui hohen steilen Vorsprunges des Marungu - Gebirges
liegt und der nur aus einigen Hütten besteht, wurde nach
Mitternacht Rast gemacht. Ein paar Ficusbäume und
Ricinusstaudcn, ein kleines Tabakfeld, ein ebensolches Mais-
feld und ein großes Boot schienen den ganzen Reichthum
der armseligen Bevölkerung auszumachen, und wohl die
Hälfte derselben war gerade pockenkrank. Das Boot wurde
von Giraud gekauft, und da er auch in Kilandu eins
eigenthümlich erworben hatte, so ging die Fahrt nun-
mehr in zwei Booten an der Küste nordwärts. Bei Tonge,
einem anderen Dörfchen aus nur drei Hütten, erlegte Hassani
einen anthropoiden Affen, der Soko genannt wird und der
j sich auf den Bäumen große Nester baut. Die Leute waren
! darüber sehr entsetzt, denn sie sahen darin einen förmlichen
Mord. Für die Mais- und Sorghum-Felder ist diese
Affenart aber keine geringe Plage.
Die Küste wurde auf der ganzen Strecke durch eine
einförmige Gebirgs- Mauer, die bis auf ihre höchste Höhe
hinauf mit mäßigem Holzwnchs bestanden war, und an der
sich nur zahlreiche Wildbachbctten als dunkle Linien herunter-
zogen. Das Wetter war schlecht und hinderte sehr das
Vorwärtskommen. Zweimal schlug auch das Boot, welches
Schuppen für Kähne in Mpala.
Giraud trug, um, und vor der Manda-Bucht kam es
sogar in Gefahr auf einer vorgelagerten Barre zu zer-
schellen, aber schließlich wurden doch alle diese Fährlich-
keitcn glücklich, und ohne wesentliche Verluste an Ge-
päck, überstanden. Ein Theil der Karawane hatte, da die
Kähne nicht Raum genug boten, von Kapampa einen vier-
tägigen mühseligen Landmarsch nach Manda zurücklegen
müssen.
In Manda, das als Sklavenmarkt von Bedeutung ist,
und dessen Umgebung nicht ganz so unfruchtbar aussieht
wie die übrige Küstengcgend entlang dem Marnngu-Gcbirge,
erkrankten mehrere Leute an den Pocken, die die ganze Ge-
gend heimsuchten, und die auch Karema uicht verschont
hatten. Man gab ihnen Medicin und miethete einen kleinen
Kahn für sie, um ihnen weitere Strapazen zu ersparen, und
Globus UV. Nr. 16.
so ging es weiter an der bergigen Küste hin, immer nur in
vierstündiger Nachtfahrt, da der Gegenwind die ganze übrige
Zeit zu stark war.
Am 26. Mai lief die Expedition in den kleinen Hafen
Mpala ein, durch Freudenschüsse ihre Ankunft kund gebend,
und von Kapitän Storms am Ausschiffungsplatze freund-
lich empfangen. Der wackere Mann hatte in den letztvcr-
gangenen 2]/2 Monaten auch mancherlei durchzumachen
gehabt. Seine Ueberfahrt war noch langwieriger und be-
schwerlicher gewesen als diejenige Giraud's, und sodann
war er arg vom Fieber geplagt worden. Seine Station
lag auf einem Hügelrücken etwa 50 m über dem Sec, und
die ganze Anlage legte von der Thatkraft und dem praktisch-
klugen Sinne des Kapitän Storms ein beredtes Zeugniß ab.
Am Fuße des Hügels breitet sich auch hier eine grüne
32
250
Dr. C. Mehlis: Der Bronzefund von Nanzdiezweiler in der Pfalz.
Alluvial-Ebene aus, die reiche Ernten verspricht. Um den
Hafen zu verbessern, arbeitete Storms mit seinen Leuten
rüstig an der Herstellung eines künstlichen Dammes. Die
Station selbst bestand aus dem „Tempe" — einer Art
Citadelle, die zugleich als Hauptmagazin und als Aufent-
halt der Europäer diente — und aus dem Dorfe, in dessen
Hütten die Askaris hausten (S. Abbildung 4). Ihre Lage
ist im allgemeinen gesund, die Temperatur sank gegen Ende
Mai in der Nacht auf 6° C., und das ganze Land ist bis
Jtua (gegenüber von Ujiji) weniger bergig, als gegen Ka-
pampa hin, sowie zugleich auch viel fruchtbarer und bevöl-
kerter. Mpala an diesem günstigen Punkte zu begründen,
war Storms namentlich durch die Feindseligkeit Russingas,
der seinen Sitz zwei Tagereisen weit im Gebirge hatte, sehr
erschwert worden, und noch während der Anwesenheit
Giraud's war die Frage, wie man sich dieses Häuptlings
dauernd erwehren könne, eine der wichtigsten.
Zwei Tage später sollte von Mpala nach dem Kongo
aufgebrochen werden, da kam in der Nacht der Missionär
Brooks in seinem Dan an, mit der Botschaft, daß die
Manyema im Verein mit den Arabern sich gegen Stanley
erhoben Hütten, und daß Tipoo Tib und Juma Merikani,
die beiden mächtigsten arabischen Häuptlinge am oberen
Kongo, im Begriffe stünden, ihn mit 3000 Feuergewehren
anzugreifen l). Ein Brief Stanley's au Storms bekräftigte
diese Nachricht.
Nicht sobald erfuhren die Leute Giraud's die Neuigkeit,
als sie sich von neuem weigerten, die gefährliche Reise gen
Westen fortzusetzen, und zwar entschiedener als je zuvor.
Sie wollten zurück nach Zansibar, und gerade so wie in
Karema, zogen sie auch unverweilt von dannen. Auch
Wadi Combo, Hassani und Kamna schlossen sich diesmal
den Abtrünnigen an, ja der erstere führte sie sogar an, und
die Sache war um so schlimmer, als diesmal die Gewehre
sowie auch ein Theil der Munition und der Bagage in
ihrer Hand geblieben waren. Etwa eine Stunde wegs
entfernt bemächtigten sie sich mit Gewalt eines Dorfes, und
dort setzten sie sich fest, um einige Tage später die Station
Mpala selbst feindlich zu bedrohen. Es wurden zwar wieder
Unterhandlungen begonnen, dieselben führten aber zu nichts.
Die Aufrührer erklärten, daß sie ohne Stoffe nicht nach
Zansibar ziehen könnten, und daß sie deshalb die Umgegend
plündern würden, bis Giraud ihre Bedingungen annehmen
und ihnen folgen würde. Er sei ja ein guter Herr, aber
sie wollten endlich um jeden Preis ihre Insel wiedersehen.
0 Es handelt sich um die Zeit, in der Tipoo Tib Stanley
zu den bekannten Konzessionen zwang, und sich zum Gouverneur
am oberen Kongo einsetzen ließ.
Der Bronzesnnd von Nanzdiezweiler in der Pfalz.
Bon Dr. C. Mehlis.
Dem lang gedehnten „Bruche" oder Moore, welches sich
im Herzen der bayerischen Pfalz von Homburg über Land-
stuhl nach Kaiserslautern zu ausdehnt, entfließen nach Nor-
den zu drei bedeutendere Wasseradern: Glan, Mohrbach,
Lauter st. Die beiden ersteren Wasseradern vereinigen sich
oberhalb dem idyllisch gelegenen Orte Glanmünchweiler. Bor
der Vereinigung durchbricht der junge Glan die an 300 m
hohen Berge zur Rechten und Linken in enger Spalte. Vor
dieser Spalte breiten sich auf amnuthigem Wiesengrunde drei
kleine Ortschaften ans: zu oberst Dietschweiler, dem gegen-
über zur Linken des helläugigen Glaus Nanzweiler, und zur
Rechten Nanzdiezweiler. Der sonderbare Name des letzteren
Oertchens hat wohl weder mit „nonns", noch mit
„ d e c i m u s “ etwas zu thun, sondern ist als Kolonie der
beiden Nachbarorte Nanz- und Dietsch- (oder Diez-)weilcr
zu betrachten. In Nanz-weiler steckt der Eigenname Nanna,
davon in der Nähe Nannstuhl, in Diezweilcr der bekannte
Personenname Diez, in älterer Form Tcuzo, Tento, Tiuto
(im althochdeutsch thioda). Beide Orte sind der Endung
„Weiler" nach alamanische Gründungen.
Daß aber schon vor diesen Germanen Römer hier an-
sässig waren, beweist der 1881 oberhalb Nanzweiler auf dem
sogenannten „Buckel" vorgefundene Matronenstein, der durch
den Verfasser nach Speyer gebracht wurde.
Auf dem Ostufer des nach Norden fließenden Glaus
ziehen quer über den Höhenzug zwischen zwei 298 und 332 m
hohen Bergrücken hindurch mehrere Wege zum Mohrbach
0 Vergl. zur Geologie und Hydrographie des pfälzischen
Seebeckens: A. Leppla: „Die westpfälzische Moorniederung und
das Diluvium." München 1886.
nach Nieder-, Kirch- und Obcrmohr. Steil fällt dieser
Höhenzug hinab zum Glan. Dort, wo sich derselbe unmittel-
bar über dem Nordostende des Oertchens emporwölbt, lag hart
am sogenannten Gebreiterwege eine frisch geackerte Fläche.
Hier machte au einem Platze, an welchem nach der Ortssage
ein altes „Schloß" gestanden sein soll, der Eigenthümer
Holzhäuser Anfang April 1888 einen merkwürdigen Befund.
Unter roh gestoßenen, zu einem Gewölbe vereinigten, gelb-
grünen und rothen Sandsteinen stieß derselbe auf eine große
Anzahl von Bronze-Ringen, etwa 30 an Zahl. Die
meisten derselben (24) haben einen Durchmesser von 5,8 ein
im Lichten, 4 von 8 bis 9 ein und 2 von 14 bis 15 ein.
Der gnte Mann hielt anfangs die Masse für Gold, sandte
Proben der Ringe zum Schmied und nach Neunkirchen, steckte
einzelne ins Feuer, zerhieb andere, streckte den, sägte jenen an,
kurz, er wollte durchaus einen Goldfnnd gemacht haben.
Eine Probe sandte Distriktsschnlinspektor Pfarrer Schäfer
(alias „Fritz Claus", ein bekannter Dialektdichter) an
den Berichterstatter, und da ich sofort die alte Bronze er-
kannte, die fast bis zur völligen Oxydation vom Alter ver-
dorben war, nmchte ich mich am 27. April auf den Weg,
um in Begleitung des genannten liebenswürdigen Herrn
Geistlichen und des Herrn Lehrers Gammling von Kirch-
mohrs hochgelegenem Pfarrhaus über den Bergrücken am
Maulsberge vorüber nach dem Fundplatze zu wallfahrten.
Der Punkt ist wohlgelegen und bietet eine prächtige
Rundsicht auf den Glangrnnd zur Linken, über dessen Rand-
höhen im Südwesten die gewölbten Höhenrücken von Hom-
burg und Zweibrückcn herüberschauen, während im Norden
rechts des Glans der hochscheitelige Potzberg, links desselben
Dr. C. Mehlis: Der Bronzefund von Nanzdiezweiler in der Pfalz.
251
der Remigiusberg mit Kirchlein und Burgruine das idyllische
Bild umrahmen. Zu einer Todtenstätte war der Punkt
gut gewählt, der den Lebenden hier an die blühende Natur
erinnerte und an die heimischen Berge, denen seine Vorfahren
seit Jahrhunderten zugethan waren. Götter und Ahnen
wurden ja seit ältester Zeit auf Aussichtsgipfeln verehrt.
Sofort ließen wir von freundlichen Ausgräbern den
Fundplatz ausräumen, und nach einigen Stunden Arbeit,
in welchen es glückte noch einen 8 am im Durchmesser
haltenden Fußring aus Bronze, zwei Stücke eines mit
halbringförmigen Ansätzen versehenen Halsringes und einen
halben Armreif dem Boden zu entreißen, sowie mehrere dazu
gehörige Scherben, ein Stückchen kalcinirten Knochens — andere
Sachen, wie verrostete Messerklingen, Kohlenstücke, bunte
Scherben u. s. w. dagegen ließen wir dem Kartoffelfelde —
konstatiren wir folgende Thatsachen:
Nach noch vorhandenen Resten befand sich hier an der
Stelle des alten „Schlosses" ein Grabhügelbau, dessen Kern
zum Theil noch erhalten ist. Dieser Kern besteht ans
einem gewölbcartigen Bau, der nicht ohne Kunst aus ge-
stoßenen, keilförmigen Sandsteinen hergestellt ist. Das Ge-
wölbe hat noch eine Stärke von 20 bis 40 6m; in 40 cm
stößt man auf rothen Letten, den Urboden. In der Mitte
war dies Gewölbe im Laufe der Jahr-
hunderte zusammengestürzt, und hier
stieß der Besitzer in einer Senkung,
welche von 808 nach NWN auf eine
Länge von circa 3 m zieht, auf obige
Ringe. Am Ende dieser Vertiefung
nach 808 zu lag ein Halsring von
18 cm Durchmesser im Lichten. Der
1,5 cm starke im Querschnitt runde
Brouzering verdünnt sich an den durch
Rost zusammengewachsenen Enden; nach
vorn zu trug er sechs kleine Ringlein (von
0,2 cm im Lichten), welche zum Einhän-
gen von Presilien und Amuletten gedient
haben mochten (Vergl. Fig. b). Ein
zweiter Halsring von 14 cm Durch-
messer fand sich leider nur in Stücken.
Seine ganze Vorderseite war mit etwa
20 angegossenen Ringlein besetzt. Nach
der ganzen Sachlage trug eine Person diese zwei Halsringe,
was nicht befremdet, wenn man sich erinnert, daß die Leiche
zu Beckerslohe bei Nürnberg drei Stück Halsringe an sich
trug. Abwärts lagen zu beiden Seiten etwa 25 Stiick
kleinere Reifen, welche man nach ihrer Lage als Armringe
bezeichnen muß. Unter ihnen sind drei Typen. Der erste
von 5,8 cm Durchmesser ist mit einem Stück, die anderen
zwei Typen mit je 12 Stück vertreten. Der Querschnitt
des ersten Typus bildet ein rechtwinkliges Dreieck, dessen
Katheten von zwei Geraden, dessen Hypothennse von einem
Kreisbogen gebildet wird Z. Der zweite Typus besteht
aus einem plattenförmigen Bronzedraht mit viereckigem
Querschnitte, der dritte aus einem runden Bronzedraht mit
kreisförmigem Querschnitt. Letztere zwei Arten tragen als
Ornamente auf der Außenseite zu kleinen Gruppen vereinigte
feine Querlinien.
Zn Füßen fanden sich je zwei starke, gerundete Bronze-
ringe von 8 bis 9 cm im Durchmesser, und zwar in zwei
Typen. Der erste, rohere trägt an seinem Aeußeren weder eine
Ausladung noch ein Ornament. Der zweite ist an zwei Stellen
mit je drei scharfkantigen Stellen geschmückt (Vergl. Fig. a).
Je ein roherer und feinerer Fnßring lagen zusammen; jene
natürl.Gr., von Nanzdiezweiler i. d. Pfalz
Z Es wäre möglich, daß dieser unten platte, oben kantige
Reif als Brustschmuck diente, ähnlich den römischen Phaleren.
sind innen an je zwei Stellen abgeschliffen, diese intakt. Der
erstere ivar wohl quer von: Knöchel zum Reihen unten, der
zweite verzierte darüber oben befestigt gewesen. Noch heute
tragen die Frauen bei Negerstämmen des inneren Afrikas
solche plumpe Knöchelringe als Schmuck. — Die vorhandenen
alten Scherben sind gelb, zeigen gleichmäßige Masse, sind
ziemlich dünnwandig (5 mm) und gehörten nach einem Rand-
stücke zu einer weiten und flachen Schale, die nach der Lage
der Scherben zwischen den Fußringen stand.
Die nächste Frage, liegt hier Bestattung oder Leichen-
brand vor, ist bei dem ruinösen Zustande des Tumulus
schwer zu entscheiden. Ist nicht zu leugnen, daß bei der
Dünnheit der überlagernden Humusschicht die Knochen, auf
die noch ein schwarzer Moderrest zwischen den Bronzeringen
bezogen werden könnte, recht gut völlig absorbirt sein können,
so scheint dagegen das eine Stückchen schwarzen, porösen
Stoffes nicht kohliger Art als ealeinirter Knochen anzu-
sprechen zu sein. Für Leichenbrand sprechen auch die
Grabbefunde in Tumnlis der Nachbargegend mit analogen
Bronzefunden, welche die Herren Ingenieure Göhring und
Kollege Dr. Harster bei Aschbach und Potzbach 1884 bis
1885 gemacht haben. Auch hier Tumuli mit Steinkern,
deren Beigaben in rohem Bronzeschmnck, selbst in einigen
Feuersteinartefaeten (Pfeil!), sowie pri-
mitiven Töpfereien bestand, aber keine
Spur von Eisen aufwies (Vergl. „Die
Ausgrabungen des historischen Vereines
der Pfalz". Speyer 1886, S. 4 — 9,
mit Tafel II bis VI).
Ganz analog ist auch der zu Odern-
heim am Glan 1886 gemachte Befund
eines aus 14 Bronzearmreifen bestehen-
den Schmnckgewindes, dessen Reifen mit
dein zweiten Typus der Nanzdiezweiler-
Armringe in Form und Ornamentik
genau übereinstimmen; nur sind erstere
um eine Nuance größer (Vergl. d. V.'s
„Studien", X.Abth., S. 103 bis 106
und Abbildung 14). Die Odernheimer
Ringe haben wir in die Hallstattzeit
versetzt. Es ist kein Anstand zu nehmen,
auch den Nanzdiezweiler Bronzefnnd der
Zeit nach in dieselbe Periode zu stellen, in die erste Hälfte
des 1. Jahrtausends v. Chr. Nur sei dabei bemerkt, daß
nach Anhaltspunkten die pfälzische Bronzezeit noch in
die Periode hinabzureichen scheint, welche in den Alpen in
ihrer Nähe durch die Eisensachen der Hallstatter Zeit aus-
gefüllt wird. An Eisen erinnern hier nur einzelne Rinnen
in den Gewölbesteinen.
Während im Süden und Osten von den Gestaden des
Mittelmeeres her schon lange die Bekanntschaft mit dem
Eisen verbreitet war, hing man hier im abgelegenen West-
reiche noch an altväterlicher Sitte, welche den Todten und
besonders die Frau — denn eine solche ward hier bestattet —
mit dem glänzeudhellen Schmucke, der aber in alter Weise
gearbeitet war, ausgerüstet hat. Ob nicht daneben im ge-
wöhnlichen Leben der Gebrauch von Eisenwaffen und Eisen-
werkzeug auch damals schon einherlief, das müssen wir der
Entscheidung weiterer glücklicher Grabfunde überlassen.
Das aber kann als gesichert angenommen werden, daß
nach den Spuren eiserner Werkzeuge an den Rinnen der
Gewölbesteine dieser Tumulus mit seinem Bronzeschmnck
an das Ende der Bronzezeit im Mittelrheinlande und
in die Ilebergangsperiode zur älteren Eisenzeit gesetzt
werden muß. Der Bronzeschmnck an sich beweist ja die
Bronzezeit strikte nicht, auch nicht die durch mögliche Ueber-
lieferung fortgepflanzte Form des Schmuckes, sondern nur
252
Dr. Joseph Grunzet: Die Landwirthschaft in China.
Bronzewerkzeuge und Bronzewaffen. Gerade diese fehlen aber j
vielfach in den älteren Metallgrabhügeln des Mittelrhein-
laudes; deshalb ist gegenüber einer das Eisen ausschließen-
den Zeitsetzung dieser Hügel Vorsicht am Platze!
Zum Schlüsse noch die Mittheilung, daß auch diese
reichen Bronzefuude, wie die von Odernheim, Aschbach und
Potzbach, an das Kreismuseum zu Speyer gelangten und
zwar durch den Verfasser. Schade, daß einige Ringe gelitten
haben und einer verloren ging; erhalten blieben 30 Stück.
Dürkheim, Ende April 1688.
Die Landwirthschaft in China.
Von Dr. Joseph Grnnzcl.
3.
Das seit jeher in China zur Anwendung gebrachte
Wirthschaftssystem ist die Fruchtwechselwirthschaft, doch haben
dort andere Gründe zu derselben geführt als in Europa.
Bei uns war die Veranlassung vor allem die Sorge des
Landmannes, den Boden durch einseitige Entziehung chemischer
Stoffe nicht vollständig auszubeuten, sondern durch einen
gleichmäßigen Turnus zu bewirken, daß sich die Pflanzen
gegenseitig den Boden vorbereiten. Dem Chinesen dagegen
war es bei dem Mangel an Märkten und Kommunikationen
seines Landes vor allem darum zu thun, seinen Eigenbedarf
durch Eigenproduktion aufzuwiegen, und deshalb pflanzt er
im Sommer Reis und im Winter Getreide oder Gemüse-
arten. Denselben Zweck, welchen der Europäer durch die
Frnchtwechselwirthschaft verfolgt, erreicht der Chinese durch
eine intensive Bearbeitung des Bodens, namentlich aber
durch eine unerreichte Düngungs- und Bewässerungsmethode.
Bon der Vollkommenheit derselben kann man sich einen
Begriff machen, wenn man bedenkt, daß dem noch ziemlich
jungen Alluvialboden der großen Ebene keine große Frucht-
barkeit innewohnt i), und daß nur eine intensive Bearbeitung
eine dünne Humusschicht darüber breiten konnte.
Fast das ganze Jahr hindurch, besonders aber vom
Mürz bis November, wo die Hauptfrucht, der Reis, gebaut
wird, sieht man auf den chinesischen Feldern ganze Familien
arbeiten, und nicht selten kommt es vor, daß die Frau mit einem
Kinde auf dem Rücken den Pflug zieht, während der Mann
ihn lenkt* 2). Der Chinese bebaut sein Feld wie einen Garten,
trotzdem 9/10 der Landleute kein Vieh halten, das ihnen bei
der Arbeit helfen könnte, und trotzdem die Ackergeräthe
äußerst primitiver Natur sind 3 *). Gewöhnlich beginnt man
die Feldarbeit damit, daß man die Stoppeln, sowie andere
Kräuter, welche man auch oft zu diesem Zwecke anpflanzt,
auf dem Felde verbrennt und die Asche mit anderen groben
Düngerarten über das Feld streut. Sodann wird der Boden
mit dem Pfluge (li) durchpflügt und mit der Egge (pa) die
Erdschollen zerkleinert; diese beiden äußerst einfachen, aber
praktischen Geräthesi besorgen übrigens nur die gröbere
Arbeit, welche mit verschiedenen Arten von Hacken, Spaten
1) Dr. S. Syrski, Landwirthschaft in China, (In Dr. K.
v. Scherzer's Fachmännische Berichte). Stuttgart, 1872, S. 82.
2) Dr. K. v. Scherzer, Reise der österr. Fregatte Novara"
um die Erde. Wien, 1860, Bd. II, S. 312.
3) J. Iledde, Agriculture en Chine. Paris, 1857,
p. 15 f. — P. Hyakinth, Ueber den Ackerbau der Chinesen.
Petersburg 1844 (russ.), mit 72 Abbildungen. — 8. W. Williams,
Description of the agricultural implements used by the
Chinese —(The Chinese Repository, vol. V, p. 485—494). —
R. v. Scherzer, Fachmännische Berichte, Anhang.
si Beschreibungen und chinesische Namen in I. H. Plath,
Die Landwirthschast der Chinesen und Japaner im Vergleiche
zur europäischen, I. München, Ak. 1873, S. 819-823.
und Rechen verbessert wird. Wird dann auch noch mit
Walzen der Boden geebnet, so ist im Frühlinge der Boden
vorbereitet, die jungen Reispflanzen und Maulbeersatzlinge
aufzunehmen. Mit einem Instrument (Hang), welches als
Gartenmesser, Sichel und Sense zugleich dient, wird das
Getreide zur Erntezeit geschnitten, auf Tennen, welche durch
festes Stampfen der mit Kalk gemischter Erde vorbereitet
wurden, theils durch die Beine von Thieren, theils durch
kannelirte Steineylinder, welche über das Stroh gerollt
werden, theils — und das ist das gewöhnlichste — mit
Dreschflegeln (liang-kin) ausgedroschen und in der Regel
auf Handmühlen gemahlen; nur in größeren Städten giebt
es größere von Ochsen bewegte Mühlen, dagegen sind
Windmühlen unbekannt.
Auf den glücklichen Kontrast, in welchem die chinesische
Agrikultur zu dem europäischen Raubbau steht, hat zuerst
Liebig aufmerksam gemacht, welcher die Theorie aufstellte,
daß eine gesunde Landwirthschaft dem Boden alles das
wieder ersetzen müsse, was ihm durch den Anbau von
Pflanzen genommen worden sei. Für die verbrennlichen
Bestandtheile der Pflanze, wie Kohlensäure, Ammoniak,
Schwefel und Wasser, ivelche hauptsächlich aus der Luft
bezogen werden, brauche keine Vorsorge getroffen zu werden,
dagegen müsse man die verbrennlichen Bestandtheile:
Phosphor, Schwefelsäure, Kieselsäure, Kali, Natron, Kalk,
Bittererde, Eisen und Kochsalz dem Boden durch chemische
Bearbeitung mittels Düngung wiedergeben. Liebig niußte
in ein großes Lob der chinesischen Landwirthschaft verfallen *),
als er las und hörte, mit welcher Sorgfalt in China die
Düngung betrieben wird. Die Regierung, welche die weit-
gehendste Oberaufsicht über den Ackerbau führt und die
Zeit des Pflügens, der Aussaat, des Umpflanzens, der
Ernte u. f. w. gesetzlich bestimmt, wendet auch der jeweiligen
Düngungswcise ihre ganz besondere Aufmerksamkeit zu, und
das Buch der Riten, Tschou-li, enthält Vorschriften über
die Anwendung des Düngers bei jeder Art von Pflanzen 2).
Da in China sehr wenig Großvieh gehalten wird, so
ist der chinesische Landmann vorzugsweise auf die mensch-
lichen Exkremente als Dungmittel angewiesen, und jeder
Besucher Chinas wird in oft unangenehmer Weise an die
Sorgfalt erinnert, mit welcher dasselbe gesammelt wird.
Bei jedem Hause, an jeder Straße finden sich große, in die
Erde eingelassene, manchmal überdachte und ausgemauerte
Sammelbehälter zur Aufbewahrung desselben si, und nach
dem Handel mit Getreide und Nahrungsmitteln soll der
mit menschlichen Exkrementen der ausgedehnteste sein si.
si I. v. Liebig, Chemische Briefe. München 1876, Bd. II,
S. 454 f.
2) Eug. Simon, La cité chinoise. Paris, 1885, p. 291.
3) J. Hedde, Agriculture en Chine, p. 23.
si Plath, Die Landwirthschast, S. 805.
Kürzere Mittheilungen.
253
Jeder Getreidesamen wird vor der Aussaat in mit Wasser
verdünnter Jauche gequellt, bis er zu keimen angefangen
hat. Andere Dnngmittel sind der Schweine-, Büffel- und
Ochsendünger, seltener der Ziegen- und Pferdedünger; ferner
Oelkuchen von Erdnuß, Nübsamen, Baumwolle, Hanf rc. —
vorzugsweise zur Düngung von Reisfeldern benutzt; die in
den zahllosen Kanälen schwimmenden Wasserpflanzen, sowie
der Schlamm der Moräste und Teiche; Mengen von kleinen,
in Fäulniß übergegangenen Fischen; die Asche von ver-
branntem Holz, Stoppeln oder Kräutern; gebrannter Kalk,
welcher eigens hierzu aus Kalkstein, seltener aus Muscheln-
kalk gewonnen wird, aber nur für sandigen oder thonhaltigen
Boden in Anwendung kommt; ein Kompost, welches bereitet
wird, indem man in einer Grube vegetabilische Substanzen
in dünnen Schichten abwechselnd mit bloßer Erde oder mit
Zusatz von Schlamm, Wasser oder Urin zerstampft, durch-
mischt und länger als einen Monat gähren läßt; endlich
Straßenkoth, Kehricht, Abfälle aus Schlachtstätten und
Küchen, Menschen- und Thierhaare, Ofenruß u. s. w. *).
Das dritte Moment, welches im Vereine mit der Klein-
güterwirthschaft und einer ausgezeichneten Düngungsmethode
das agrarische System Chinas beherrscht, ist eine wohl-
organisirte Feldbewässerung. Bereits das Tschou-li (XV, 8)
erwähnt, daß unter der dritten Dynastie der Tschou (1200
bis 258) gelegentlich einer neuen Ländervertheilung die
Felder durch Kanäle getrennt wurden, denen ein weit aus-
gebildetes Kanalisations-System zu Grunde lag I 2). Jeden-
falls war dies in den alten Provinzen von Schen-si,
Schan-si und Ho-nan der Fall 3). Um aber auch die höher
gelegenen Stellen, ans denen die Saaten bei der im Früh-
ling und Sommer nicht seltenen Regennoth durch Dürre
stark leiden mußten, gehörig bewässern zu können, erfanden
die Chinesen im Laufe der Zeit allerlei Pumpwerke und
Bewässerungsmaschinen. Von den verschiedenen Arten von
Pumpen steht nur die Hub- und Druckpumpe im Gebrauch,
die Säugpumpe ist unbekannt4). Wo eine einfache Wasscr-
pumpe nicht ausreicht, wendet man eine der vielen gebräuch-
lichen Arten von Kettenpumpen oder hydraulischen Schleuder-
rädern an, welche theils durch Menschenkraft, theils durch
Anwendung von Büffeln in Bewegung gesetzt werden 5).
Die Eigenthümlichkeit aber, welche den europäischen
I P. J. B. du Halde, Description de l’Empire de la
Chine et de la Tartarie Chinoise. Paris 171)0, vol. II,
p. 76 f. — Barrow, Travels in China, p. 567 f. — F.
Davis, The Chinese, II, p. 393 f. — Fortune, The tea
districts of China and India, I, p. 220 f. — Syrski,
Landwirthschaft, S. 83 f. — Plath, Landwirthschaft, S. 805,
809 f.
2) I. G. Plath, Gesetz und Reich im alten China. Mün-
chen 1864, Ak. I, Bd. X, S. 710 f.
3) Cibot, Mémoires, p. 241—249.
4) Hedde, Agriculture, p. 27.
5) Fortune, The tea districts, I, 230. — Syrski, Land-
wirthschaft, S. 79.
Reisenden zuerst in die Augen fiel und die übertriebensten
Schilderungen des chinesischen Ackerbaues verschuldete, war
die Terrassirung, welche sich besonders in volkreichen Ge-
genden findet. Es werden nämlich die Abhänge von Hügeln
und nicht allzusteilen Bergen in Landstreifen abgetheilt und
diese sodann in Terrassen geebnet, welche durch Manerwerk
gestützt und durch Fußpfade und Ableitungsrinnen unter-
einander verbunden sind. Vor der Mühe, die Terrassen
fruchtbarer zu machen, sie regelmäßig zu düngen und zu
bewässern, scheut der Riesenfleiß der Chinesen nicht zurück I.
Die wichtigste der vegetabilischen Kulturen ist die Reis-
kultur, und man schätzt die Oberfläche der Reisfelder auf 4/z
der gesammten bebauten Oberfläche. Von den vielen Va-
rietäten ist die hauptsächlichste der Sumpfreis, von welchem
man zwei Ernten gewinnt, die eine anfangs Juli, welche
zur Nahrung dient, die andere im Oktober, welche zur
Destillation des chinesischen Weines (Samschu) verwendet
wird. Eine andere Varietät ist der Vergreis, welcher einen
viel geringeren Ertrag liefert und besonders dort angebaut
wird, wo der Boden sich zum Anbau des Sumpfreises nicht
eignet. Trotz der großen Reisproduktion wird aber kein
Reis ausgeführt, im Gegentheil, es besteht sogar ein leb-
hafter Import aus Siam, Cochinchina und selbst aus Nord-
amerika. Von anderen Cerealien werden besonders in den
nördlichen Provinzen Chinas angebaut: die Hirse, nament-
lich die Mohrhirse in verschiedenen Spielarten; der Mais,
zumeist als Zwischenfrucht angebaut; Hafer und Gerste,
meist als Viehfutter benutzt; Weizen, zu Fadennudeln und
Kuchen verwendet; und Buchweizen, welcher in Peking zur
Bereitung von Pasteten dient.
Die Hülsenfrüchte und Gemüsearten bilden eine Hanpt-
nahrungsguelle der Chinesen, indem sie theils frisch in
mannigfacher Zubereitung genossen werden, theils nach Art
von Conserven für spätere Zeit aufbewahrt werden. Die
Obstbaumzucht ist arg vernachlässigt; der Wein, welcher
namentlich im nördlichen China vorkommt, ist von geringerer
Qualität; das Zuckerrohr und die Baumwollstaude wird in
den südlichen und mittleren Provinzen viel knltivirt.
Den wichtigsten Antheil an der nationalen Produktion
hat neben dem Reis der Theestrauch, welcher auch einen
bedeutenden Handelsartikel nach auswärts abgiebt. Er wird
vorwiegend zwischen dem 25. und 31° nördl. Br. auf den
Südabhängen der Hügel gebaut und giebt in der Ziegel vier
Ernten, von denen die zweite die ergiebigste ist. Der „grüne"
und der „schwarze" Thee stammen von ein und derselben
Spezies des Theestrauches, und der Unterschied in der Farbe
rührt nur von der verschiedenartigen Znbereitungsweise her.
Der beste grüne Thee kommt aus der Provinz Tsche-kiang,
der beste schwarze aus der Provinz Fu-kien2).
^Pläth^ Landwirthschaft. S. 817 f.
2) Syrski, Landwirthschast, S. 89 f. — E. Simon, La
eite chinoise, p. 365 f.
Kürzere Mittheilungen.
Die Galapagos-Jnseln.
Die Galapagos-Jnseln wurden schon früh von den Spa-
niern, worauf auch ihr spanischer Name „Galapagos" d. i.
Landschildkröten hinweist, entdeckt. Heutzutage führen sie ihren
Namen freilich kaum noch mit Recht, da die Schildkröten
fast ausgerottet sind. Ihr Flächeninhalt beläuft sich auf
mehr als 7500 qkm (rund 140 Quadratmeilen), von denen
aber nur ein kleiner Theil in Kultur ist.
Es findet nämlich ein auffallender Unterschied zwischen
der Süd- und Nordseite dieser Inseln statt. Während der
südliche Theil derselben mit Erde und üppiger Vegetation
bedeckt ist, bestehen die nördlichen Seiten vorzugsweise aus
254
Kürzere Mittheilungen.
unbedeckter Lava, in deren Spalten ein dichtes Gestrüpp
wuchert, welches nur schwer durchdrungen werden kaun.
Die Gruppe, vom Aequator durchschnitten und vomFest-
laude etwa 130 Meilen entfernt, besteht im ganzen aus
fünf größeren und vielen kleineren Inseln vulkanischen Ur-
sprungs.
Anfänglich ganz unbewohnt, spater, bis gegen das Ende
des vorigen Jahrhunderts, den Walfischfängern Ankerplätze
bietend, weist die Gruppe auch heute nur eine mäßige Be-
völkerungszahl auf, welche fast einzig der östlichsten Insel
Chatham, mit 250 Ansiedlern zukommt. Diese Nieder-
lassung, Progeso mit Namen, liegt etwa fünf Seemeilen
landeinwärts und kann vom Meere auf einer guten Fahr-
straße erreicht werden. Obwohl die Ansiedlung erst seit
1879 besteht, gedeiht sie doch sehr gut. Sie baut vorzngs-
weile Zuckerrohr; doch werden außer den bei der Zucker-
gewinnung entstehenden Nebenprodukten — Melasse und
Branntwein — an vegetabilischen Erzeugnissen Bataten, an ani-
malischen Häute und Leder ausgeführt. Schildkrötenöl, früher
ein ergiebiger Ausfuhrartikel, kann nicht mehr verschifft
werden, da, wie schon gesagt, die Schildkröten nahezu ver-
tilgt sind. Durch Anbau gewonnen werden noch: Baumwolle,
Kartoffeln, Gemüse und alle Getreidearten, mit Ausnahme
von Reis. Den jetzigen Reichthmn an Vierfüßlern — Rindern,
Ziegen, Pferden, Eseln und Schweinen — verdanken die
Inseln einer Anzahl der genannten Thierarten, welche vor
etwa 40 Jahren besonders auf den Inseln Chatham und Charles
eingeführt wurden. Die Thiere haben sich seitdem außer-
ordentlich vermehrt, so daß im Jahre 1886 allein auf der
Insel Chatham wenigstens 6000 Rinder, Schweine, Esel
und Ziegen vorhanden waren. Freilich sind sie in der Frei-
heit sehr wild geworden, so daß bei einer Annäherung an
dieselben stets große Vorsicht erforderlich ist.
Das Klima der Inseln ist schön und gesund. Die Hitze,
welche man ihnen wegen ihrer äquatorialen Lage zuzu-
schreiben geneigt sein sollte, wird wesentlich durch den kalten,
von Süden kommenden peruanischen Küstenstrom gemildert.
Die Ansiedler der Insel Chatham theilen das Jahr in
zwei Jahreszeiten, in eine Regenzeit von Juli bis November
und in eine trockene, von Dezember bis Juni. In der
letzteren treten bei dein im allgemeinen herrschenden schönen
trockenen Wetter häufig heftige Regenschauer auf, während
sich die Regenzeit durch anhaltenden feinen Regen kennzeichnet.
Dieser feine Regen fällt aber nur an der südlichen Seite der
Inseln und läßt die nördliche trocken, daher auch die Ver-
schiedenartigkeit der Vegetation im Norden und Süden.
Ueberhaupt ist die Flora der Gruppe sehr merkwürdig,
und nicht minder die Fauna. Das Auffallendste an beiden
ist die große Zahl der auf den Inseln heimischen Arten; dies
geht sogar, selbst bei den Vögeln, so weit, daß sie auf den
einzelnen Inseln verschieden sind. Unter den Pflanzen sind
vorherrschend die Familien der Farne, Synantheren und
Leguminosen. Diese gedeihen besonders an den fruchtbaren
Höhen, während der dürre Strand nur riesengroße Kaktus-
und Wolfsmilcharten sowie Akazien hervorbringt.
Unter der Fauna waren früher die oben schon erwähnten
Landschildkröten bemerkenswerth. Eine häßliche Eidechsenart,
5 bis 8 kg im Gewicht, ist vorhanden, ihr Fleisch dient als
Nahrung. Von eingeborenen Säugethieren kommt nur eine
große Maus vor.
Die Berge der Inseln, bis 1500 m hoch und vulka-
nischer Natur, zeigen meist einen Hauptkrater, dessen Flanken
mit zahllosen kleinen parasitischen Auswnrfskegeln bedeckt sind.
Die Namen der Inseln sind von Osten nach Westen:
Chatham, mit Erhebungen von 500 m Höhe, das am frucht-
barsten und daher vorzugsweise bewohnt ist (430 qkm); Jndin-
fatigable (über 1000 qkm); James, auch fruchtbar; Albemarle,
die größte (über 4000 qkm), aber gleichzeitig fast die ödeste,
aus sechs großen, noch nicht erloschenen Vulkanen gebildet,
deren höchster sich bis 1500 m erhebt; Narborrngh, ein
einziger, thätiger Vulkan.
Unter den kleineren Inseln sind Charles (Floreana) durch
die auf ihr von Seiten Ecuadors 1832 errichtete, aber bald
wieder eingegangene Niederlassung bemerkenswerth, während
auf Abingdon im Jahre 1822 Kapitän Hall seine Pendel-
experimente anstellte. 4. v. G.
Chinesische Handelsgenossenschaften.
Das „Journal of the China Branch of the Royal
Asiatic Society“ (XXII Nr. 1 und 2) enthält einen
interessanten Beitrag zur Kenntniß chinesischer Anschauung,
dem wir Folgendes entnehmen. Eine Frage über die Haft-
barkeit chinesischer Genossenschafter wurde unter dem Titel
„Chinesische Genossenschaften — Verantwortlichkeit der ein-
zelnen Firmanten" in der Versammlung vom 18. November
durch Herrn Jamieson besprochen; derselbe hatte derselben
eine konkrete Fassung gegeben:
A, B und C fangen ein Kompagniegeschäft an, A bringt
500 Taels, B 1000 Taels, C 2000 Taels Kapital (bei
1:2:4). Nach einiger Zeit macht die Firma Bankerott,
C verschwindet; das Deficit betrügt 5000 Taels. Die
Frage ist nun:
a) In welcher Ausdehnung und in welchem Verhältniß
werden A und B dem chinesischen Gesetz resp. dem Gebrauch
nach für die Schulden in Anspruch genommen werden können?
k) Kann im Falle, daß C einer begüterten Familie ange-
hört, an deren Besitz er Antheil bat, an diesen Familienbesih
Anspruch erhoben werden? Diese beiden Fragen wurden einer
Anzahl mit dem Gegenstände bekannter Herren mit der Bitte
um Beantwortung vorgelegt und von sieben Europäern,
(meistens im Konsulardienst) und zwei Chinesen (darunter ein
anonymer Beamter) eingehend besprochen.
Herr Jamieson gab als Endresultat der eingelaufenen
Ansichten (die im einzelnen allerdings noch von einander
abweichen) folgende Uebersicht:
Wenn A, B und C gewöhnliche Theilnehmer mit Geschäft
sind und die Führung desselben mehr oder weniger gemein-
schaftlich beaufsichtigen, wird jeder im Falle des Bankerotts
nur im Verhältniß seiner Einlage für die Schuld verant-
wortlich gemacht werden können, in unserm Falle also für
V?' 2n und 4/7. Bezahlt A seinen Antheil, so muß ihm
hierauf Aeguit gegeben werden, und die Gläubiger müssen
weiter sehen, was sie von den anderen Firmanten erlangen
können. Dies ist jedenfalls als Grundsatz anzunehmen.
Wenn aber einzelne der Theilhaber ausschließlich die Ge-
schäftsleitung haben, so wird man geneigt sein die übrigen als
stille Theilnehmer zu betrachten, und in gewöhnlichen Fällen
würde man sich nicht an sie der Schulden wegen halten
können. Wenn z. B. in unserm Falle C (der sich aus dem
Staube gemacht hat) der ausschließlich geschäftsführende Fir-
mant der Firma gewesen wäre, dann würden die Gläubiger
große Mühe haben etwas gegen A und B auszurichten.
Man darf mit Sicherheit annehmen, daß sie, um dies zu
können, etwa nachweisen müßten, daß A und B zur Kata-
strophe beigetragen oder aber an dem Verschwinden des 0
betheiligt wären oder ihn dem Gericht zu verbergen suchten.
Außer dein Verlust ihres eingezahlten Kapitals würde man
von ihnen nur erwarten (und fordern), daß sie alles Mögliche
thun würden, um den verschwundenen 0 zur Stelle zu brin-
gen, darüber hinaus würden sie von rechtswegen kaum Un-
annehmlichkeiten zu befürchten haben.
Hieraus würde sich ergeben, daß wenn das Kapital einer
Aktiengesellschaft voll eingezahlt ist, es bedeutende Schwierig-
Aus allen Erdtheilen.
255
kciten machen würde, die chinesischen Aktionäre zur Deckung
einer etwaigen Unterbilans zu zwingen, wenn man nicht den
Nachweis sichren kann, daß in dieser Hinsicht ein besonderes
Abkommen getroffen worden ist. Diese Bemerkung bezieht
sich natürlich nur ans eine Gesellschaft, die ganz nach ein-
heimischer Art gebildet und verwaltet wird, und das fremde
System der Registrirung und Beaufsichtigung nicht kennt.
Eine derartige Gesellschaft würde man als eine große Ge-
nossenschaft ansehen, in welcher die Direktoren die sichtbaren
oder thätigen Gesellschafter, die Aktieninhaber die ruhenden
Theilnehmer vorstellten. Die erstgenannten würden für alle
Schulden in Anspruch genommen werden, den letzteren würde
man wahrscheinlich keinen Vorwurf machen.
Der zweite Theil der Frage, nämlich in welcher Weise
der Familienbesitz, an dem der verschwundene Schuldner einen
Antheil hat, in Anspruch genommen werden könnte, ist sehr-
schwierig zn beantworten. Auf den Familienbesitz hat jeder
Sohn oder seine Vertreter dieselben Ansprüche, die man ihm
oder ihnen nicht nehmen kann, dagegen hat der Vatcr
die Verwaltung desselben auf Lebenszeit in seinen Händen
und kann denselben verschwenden oder so verwenden, wie
es ihm gut dünkt. Er kann die Art der Verthcilung des-
selben nach seinem Tode durch kein Testainent bestimmen, aber
während seines Lebens kann er es so gebrauchen, daß keiner
seiner Sohne nach seinem Tode in den Genuß desselben tritt; er
kann auch auf gesetzlichem Wege seinen Sohn von der Erbfolge
ganz ausschließen, doch er kann dies nur thun wegen morali-
scher Verworfenheit, und der Fall kommt so selten vor, daß
er an dieser Stelle füglich außer Betracht bleiben kann.
Kehren wir also zn dem Falle zurück, daß ein Schuldner,
der verschwunden ist, Ansprüche auf ein solches noch nicht
vertheiltes Vermögen besitzt. Es scheint kein Grund zu be-
stehen, weshalb nicht ein Urtheil gegen den Familienbesitz
in den Grenzen der Schuld ermittelt werden könnte; besonders
würde dies der Fall sein, wenn das Geld, welches 6 der
Genossenschaft zubringt, aus dem Familienbesitz herrührt und
ebenso der Gewinn, solange ein solcher erzielt wurde, dem-
selben zugeflossen wäre. Es bestände also die Hauptschwierig-
keit nicht so sehr in der Erlangung eines Urtheils gegen den
Familienbesitz, als vielmehr in der Vollziehung desselben.
Der gewöhnliche Weg, auf dem die chinesischen Gerichtshöfe
ihre Beschlüsse in bürgerlichen Sachen zur Ausführung brin-
gen, ist nicht der der Besitznahme und des Zwangsverkaufes
wie es bei uns üblich ist, sondern sie bemächtigen sich der
Person des Schuldners und setzen ihn ins Gefängniß.
Schulden haben und dieselben nicht bezahlen wollen oder
können ist au sich schon ein Kriininalvcrbrechen, wofür der
Schuldige zu bestrafen ist; die Festnahme desselben muß
daher jeder anderen Maßregel vorausgehen und ehe dieselbe
stattgefunden hat, kann nichts gegen ihn geschehen. Ausnahmen
finden allerdings statt, wenn es sich um Beträge handelt,
welche Beamte der Regierung schuldig sind; in diesem Falle
wird häufig nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern auch
das seiner Familie mit Beschlag belegt. Kürzlich noch kam
ein derartiger Fall vor; als das Vermögen des schuldigen
Beamten nicht genügte wurden, auch die Besitzungen seines
Bruders eingezogen. Sie wurden aber wieder zurückgegeben,
als sich herausstellte, daß ersterer einen begüterten Sohn be-
saß, dessen Besitz nun zur Deckung der Schuld herangezogen
wurde. Hier aber wird die Maßregel durch administrative
Maßregel, nicht durch das Gesetz vorgeschrieben, und stellt
nur eine Ausnahme dar. Der gewöhnliche Weg ist der,
daß der Schuldner so lange ins Gefängniß gesetzt wird, bis
er bezahlt.
Hieraus ergiebt sich, daß, so lange in unserem Falle 6
sich dem Gefängnisse entzieht, nichts gegen das Familien-
eigenthnm geschehen kann. Des Vaters Schuld ist die Schuld
des Sohnes, und alle Maßregeln, die gegen ersteren genommen
werden, können auch gegen letzteren genommen werden; das
umgekehrte findet jedoch nicht statt; die Schuld des Sohnes
ist weder die seiner Brüder, noch die des Vaters. Keiner
der letzteren kann auf Ansuchen der Gläubiger des ersteren
ins Gefängniß geworfen werden. Die Gläubiger müssen
eben warten, bis sie seinen Antheil am Familieneigenthume
nach dem Tode des Vaters angreifen können.
Früher oder später wird man den Entflohenen doch
finden und ins Gefängniß setzen, und dann beginnen die
langweiligen Verhandlungen, welche beinahe immer in China
derartige Fälle zum Abschluß bringen; cs ist dabei nur die
Frage, wer es am längsten aushält, der Schuldner oder der
Gläubiger. Es kommt jedoch immer zn einem Kompromiß.
Die Gläubiger nehmen, was sie bekommen können, und
erklären sich befriedigt, worauf der Schuldner entlassen wird.
Im bisherigen ist auseinander gesetzt worden, wie dcr
gesetzliche Lauf einer solchen Sache sich gestalten würde; doch
giebt es bekanntlich noch andere Mittel, durch welche die
Gläubiger Bezahlung erzwingen können, ohne sich überhaupt
an die Behörden zu wenden. Sie können einmal drohen,
daß sie, wenn sie nicht bezahlt werden, sich aufhängen werden,
und dadurch einen Vergleich erzwingen, oder sic können sich
bei der Familie des Schuldners einquartiren, die es nicht
wagen würde, sie zu verjagen.
Um von derartigen, oder gar von noch größeren Uebeln
frei zu bleiben, wird der Schuldner oder seine Familie ge-
lvöhnlich zahlen, oder zu einem Vergleich zn kommen suchen.
Demnach kann allerdings das Familieneigenthum, ehe es
zur Theilung gekommen, für die Deckung von Schulden, so
weit sie auf den Antheil des Betheiligten fallen, in Anspruch
genommen werden, die Schwierigkeit besteht jedoch darin,
diesen Anspruch thatsächlich zur Geltung zu bringen; ist aber
das Eigenthum einmal getheilt, so besteht kein Anspruch auf
den Besitz der anderen Erben. E. M.
A >ls allen
Asien.
— Ebenso wie seiner Zeit das Jnselreich Japan, so
scheint sich neuerdings auch Formosa mit großem Eifer den
europäischen Neuerungen hingeben zu wollen. Ohne
daß er auf Widerstand bei der Bevölkerung gestoßen wäre,
hat der enropäerfrenndliche Gouverneur Liu-Ming alle
Haupthandelsplätze der Insel — Tamsui, Kelung und Tai-
E r d t h e i l e n.
wan-fn — quer über Land durch Telcgraphenlinien verbinden
lassen, und der Eisenbahuban ist unter ihm wenigstens in
Angriff genommen worden. Allerdings bereitet die gebirgige
Bodengestalt im Verein mit dein feuchtwarmen Klima
(Kelung hat eine jährliche Nicderschlagshöhe von drei Meter)
der Technik große Hindernisse. Das Gestein ist vielfach
morsch und macht den Tunnelban schwierig, es erfolgen
256
Aus allen Erdtheilen.
große Bergstürze, Überschwemmungen re. Aber die Pro-
duktionskraft der Insel ist nach verschiedenen Richtungen hin
eine bedeutende, und sie verspricht große Anstrengungen und
Kosten zu lohnen. Mit europäischen Betriebsmitteln und
Maschinen sind unter Liu-Ming namentlich die ausgedehnten
Steinkohlenlager und die an Nutzholz reichen Wälder in
Angriff genommen worden. In dem östlichen Hochgebirge,
dessen Gipfel bis zu 3600 in aufsteigen, und das ähnlich
wie die Gebirge des inneren China von völlig unbezähmten
Volksstämmen bewohnt wird, ist natürlich von solchen Neue-
rungen noch keine Rede. Liu-Ming hat sich vielmehr bei seinen
Versuchen, auch diese Gegend unter die chinesische Botmäßig-
keit zu bringen, zu sehr gewaltsamen Schritten und zu Blut-
vergießen veranlaßt gesehen, ohne daß damit bisher etwas
erreicht worden wäre. Mit Amoy und Shanghai ist Formosa
in regelmäßige Dampferverbindung getreten.
— Für die chinesisch-russischen Handelsbeziehungen wird
das Jahr 1888 von entscheidender Bedeutung werden. Zum
ersten Male nämlich haben in diesem Jahre russische Schiffe
kaukasisches Naphta oder Steinöl nach Ostasien (Japan
und China) gebracht, und es hat sich gezeigt, daß dieses dort
siegreich mit dem Petroleum Amerikas zu konkurriren ver-
mag. Die Rückfracht war chinesischer Thee, der in Odessa
abgeladen wurde, wo man seit Herstellung des Suezkanals
bemüht war, dem Uebergewicht, das Königsberg so über-
raschend schnell im Theehandel Rußlands seit 1862 (bis
dahin war die Theeeinfuhr aus Europa in Rußland ver-
boten) sich erworben hatte, ein Ende zn machen. Jetzt bietet
sich in dem Mineralöl des Kaukasus eine Rimesse nach
China, welche die politische Handelsstadt wahrscheinlich rascher
in den Stand setzen wird, der baltischen die Theeeinfuhr nach
Rußland größtentheils zn entwinden.
— Das Auftauchen chinesischer Agenten in Sibirien,
welche als Vorläufer chinesischer Einwanderungen betrachtet
werden, erregt in Rußland Aufmerksamkeit und Beunruhigung.
Daß der in Amerika und Australien mehr und mehr abge-
dämmte Strom der chinesischen Auswanderung nunmehr sich
in das nordische Land zu wenden beginnt, ist indessen be-
greiflich.
Polarregionen.
— Unmittelbar bevor er das Segelschiff „Jason", das
ihn von Island nach Grönlands Ostküste brachte, verließ,
hat Frithjof Nansen noch einen interessanten Brief in
seine norwegische Heimath gesandt. Danach verließ er den
isländischen Jsa-Fjord am 4. Juni, um zunächst entlang der
Grenze des Treibeises gegen Kap Dan (66° nördl. Br.) zu
segeln. Etwa 60 km nördlich von diesem Punkte kam das
Schiff am 11. Juni der Küste so nahe, daß man das ost-
grönländische Gebirge, und insbesondere das circa 1800 m
hohe Jngolsfjeld deutlich erkennen konnte, das vorgelagerte
Treibeis war aber noch so mächtig, daß ein Landungsversuch
unterbleiben mußte, um so mehr als zn erwarten stand, daß
sich die Eismassen mit dem vorschreitenden Sommer rasch
vermindern würden. Das Schiff wandte sich deshalb gegen
Island zurück, um zwischen dem Eis dem Seehnndsfange
obzuliegen, und es erlitt bei dieser Gelegenheit einen bedenk-
lichen Schaden durch ein antreibendes großes Eisfeld. Ein
Pony, den man beim Erklimmen des grönländischen Jnland-
eises zu benutzen gedachte, mußte wegen Futtermangel gelobtet
werden. Am 15. Juli kam das Schiff wieder in Sicht des
Jngolsfjelds, nördlich von Kap Dan, das Eis hinderte aber
immer noch das Landen, und der Kurs mußte wieder südlich
genommen werden. Dort fand man das Eis in der That
weniger dick, und deshalb beschloß man am Sarmilik-Fjord,
westlich von Kap Dan, das Schiff zu verlassen und in zwei
Booten der etwa 15 km entfernten Küste zuzurudern. Das
Land (Jnigsalik) zeigte abgerundetere und sanftere Formen
als weiter im Norden, und so hoffte der Reisende verhältniß-
mäßig bequem ans die Höhe des Plateaus hinauf zu gelangen.
Auch das Eis, welches hinter den Küstcnbergen hervorblinkte,
flößte Vertrauen ein, da es keine Spitzen („nuuataks“)
zeigte. Christianshaab gedachte der kühne Reisende von der
Landnngsstelle ans spätestens Anfang September zu erreichen,
um von dort aus mit der letzten Schiffsgelegenheit im Jahre
die Heimfahrt anzutreten.
Bücherschau.
— Paul Gaffarel, Les colonies françaises.
Quatrième édition. Paris, 18 88. Félix Alcan.
— Wer sich über das französische Kolonialreich und seine
Aspirationen unterrichten will, der kann es kaum durch ein
anderes Buch in angenehmerer Weise thun wie durch das
vorliegende. Der Styl ist so flüssig und elegant, als er in
einem französischen Buche nur sein kaun, und auch der sach-
liche Inhalt ist gut. Die starke Seite des Werkes liegt in
letzterer Hinsicht ohne Zweifel in den historischen Auseinander-
setzungen, während sich gegen die wirthschaftsgcographischen
vielleicht an verschiedenen Stellen kleine Einwendungen er-
heben ließen. Wenn der Verfasser an den kolonisatorischen
Fähigkeiten seiner Landsleute nicht im geringsten verzweifelt,
und wenn er voraussagt, daß die seit 1830 betretenen Bahnen
Frankreich in Nordwestafrika ebenso wie aus Madagaskar
und in Hinterindien zn einem guten Ziele führen werden,
sobald cs nur darauf beharrt, so sind wir geneigt, ihm darin
vollkommen Recht zn geben. Fraglich ist es nur, ob Frank-
reich beharren wird, und ob es nicht früher oder später sich
von neuem in schlimme europäische Händel verwickeln und
dabei nochmals die Früchte verlieren wird, die es gegenwärtig
außerhalb Europa errungen hat.
— Georg von der Gabeleutz, Konfucius und
seine Lehre. Leipzig, 1888. F. A. Brockhaus.—
Durch diese kleine Schrift gewährt uns einer der hervor-
ragendsten Kenner chinesischer Kultur und Sprache einen unge-
mein klaren Einblick in das chinesische Staats- und Geistes-
leben. Wie der große Weise ein echter Sohn seines Volkes
war, so hat er ja nach dem Verfasser auch einen ungeheuren
Einfluß auf dasselbe geltend gemacht, und der chinesische Staat
darf mit noch größerem Rechte ein konfncianischer genannt
werden, als die europäischen Staaten christliche.
— Ucbersichtskarte der deutschen Kolonien. —
Karte von Emin-Pascha's Gebiet und den Nachbar-
ländern. — Weimar, Geographisches Institut. — In
einer Zeit, wo die Wogen der deutschen Kolonialpolitik wieder
so hoch gehen, und wo jeder über das „pro“ und „contra“
unterrichtet sein will, müssen diese von I. I. Kettler redi-
girten und mit deutlichen Farben und Schriftzeichen gedruckten
Kärtchen sehr willkommen geheißen werden.
Inhalt: Die kulturgeographische Bedeutung der Flüsse. — Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
XIll. (Mit fünf Abbildungen.) — Dr. C. Mehlis: Der Bronzefund von Nanzdiezweiler in der Pfalz. — Dr. Joseph
Grunzet: Die Landwirthschaft in China. — Kürzere Mittheilungen: Die Galapagos-Inseln. — Chinesische Handelsgenossen-
schaften. — Aus allen Erdtheilen: Asien. — Polarregionen. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 14. Oktober 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View cg und Sohn in Vraunschweig.
ffilit besonderer Kerüebsrchtigung der Ethnologie, der Kulturberhnltnisse
und des Weltbundels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braun schweig
Jährlich 2 Bände à 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalteu
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Der B ergb au in Australien.
Von Dr. R. v. L e n d e n f c l d.
II. Victoria. U
Die Kolonie Victoria ist besonders in ihrem östlichen
Theile, in dem Grenzgebiete gegen Neusüdwales hin, sehr
gebirgig. An der Südostküste reichen die Berge überall bis
ans Meer. Der nordwestliche Theil ist dagegen eben. Der
Südküste entlang zieht stell der Hauptkamm der Australischen
Alpen, die Hauptwasserscheidc zwischen den theilweise nicht
unbedeutenden südlichen und südöstlichen Küstenflüssen einer-
und dem weit ausgedehnten Gebiete des Murray anderer-
seits.
Die Alpen bestehen größtentheils aus azoischem und
paläozoischem Gestein (braunem Silurschiefer), welches hie
und da von mächtigen Basaltmassen durchzogen und über-
lagert wird. An der Südostküste finden sich gürtelförmige,
der Küstenlinie parallele Zonen mesozoischer Schichten, wäh-
rend die weite Murray-Ebene im Südwesten größtentheils
tertiär ist.
Land, das der Kolonie Victoria angehört, wurde zum
ersten mal im Jahre 1767 von Europäern, welche in der
Nähe Schiffbruch gelitten hatten, betreten. Erst im Jahre
1800 wurde aber die Baß-Straße entdeckt, bis dahin glaubte
man, daß Tasmanien mit dem Festlande von Australien
zusammenhinge.
Port Phillip, das heutige Haupteingangsthor in die
Kolonie, wurde am 5. Januar 1802 von der „Lady
Nelson" entdeckt, das Schiss konnte aber damals wegen
schlechten Wetters die Einfahrt in den Hafen — die zu jeder
Zeit wegen der Untiefen und Strömungen mit Schwierig-
keit verbunden ist — nicht bewerkstelligen. Erst am 15. Fe-
bruar, nachdem die Einfahrt von einem Boote untersucht
worden war, konnte die „Lady Nelson" in den Hasen ein-
fahren, der nun zum ersten mal von einem Schiss besucht
wurde. Die Ufer wurden erforscht, und am 9. Marz 1802
wurde die englische Flagge am Ufer aufgehißt. Im fol-
genden Jahre, nachdem die Ufer des Hafens näher unter-
sucht worden waren, landeten einige Hundert von England
ausgeschickte Verbrecher in Port Phillip, allein sie fanden
Land und Klima so unwirthlich, daß sie keine Kolonie dort
gründeten und nach drei Monaten von dem Kommandeur
Oberst Collin nach Tasmanien überführt wurden.
Die Nachrichten, welche diese ersten Besucher über Port
Phillip und seine Umgebung verbreiteten, waren so ungünstige,
daß durch eine Reihe von Jahren niemand mehr dieses ver-
rufene Land besuchte.
Im Jahre 1824 unternahmen zwei Kolonisten von
Nensüdwales eine Reise über Land in südwestlicher Richtung
von Lake George aus und gelangten nach 16 wöchentlichem
Marsche nach Port Phillip. Auch ihre Exploration blieb
aber ohne Folgen.
Im Jahre 1826 wurde abermals der Versuch gemacht
eine Kolonie in Victoria, und zwar diesmal in Western Port,
zu gründen. Nachdem die Leute ein Jahr dort gewesen
waren, gaben sic jedoch die Sache auf und kehrten nach
33
i) Berql. Nr. 15, S. 225 s.
Globus LIV. Nr. 17.
258
Dr. R. l). Lendenfeld: Der Bergbau in Australien.
Sydney, von wo sie ausgegangen waren, zurück. Die Ruinen
der von dieser Gesellschaft erbauten Häuser stehen noch heute.
Im Jahre 1834 endlich gründeten einige tasma-
nische Kolonisten an der Südküste eine kleine Schaf- und
Rinderzucht-Station — die erste bleibende Niederlassung im
Lande. Ein Jahr später gründeten einige andere Ein-
wanderer aus Tasmanien eine kleine Niederlassung an der
Mündung des Aarraflusses in den Port Phillip. Diese,
vorzüglich von den Herren Bateman und Tankner etablirte
Ansiedlung, ist in den darauf folgenden 50 Jahren zu der
Weltstadt Melbourne mit einer Drittel-Million Einwohnern
angewachsen.
Ebenso schwer, wie der Anfang und die Gründung der
Kolonie war, ebenso leicht und rasch gelang ihre weitere
Ausbildung.
Ursprünglich bildeten diese Niederlassungen einen Theil
von Neusüdwales, allein frühzeitig begannen die Bewohner
der Umgebung von Port Phillip sich gegen die centrale Re-
gierung in Sydney aufzulehnen, und im Jahre 1850 wurde
der ganze südwestliche Theil von Nensüdwales — die Süd-
küste und Umgebung von Port Phillip — von Neusüdwales
abgetrennt und als unabhängige Kolonie anerkannt, welche
den Namen Victoria erhielt.
Obwohl nun das Land sich für Ackerbau und Viehzucht
eignet, und diese Industrien von Anfang an dort betrieben wur-
den und neuerlich einen bedeutenden Aufschwung genommen
haben, so verdankt Victoria doch eigentlich dem Bergbau und
vor allem dem Golde seine hohe Blüthe, seinen kolossalen
Reichthum und seine unglaublich rasche Entwickelung.
Im Jahre 1839 fand Graf Strzelezki Gold in den
Australischen Alpen, und es wurden hierauf andere Funde des
Metalles in Neusüdwales und 1848 auch in Victoria ge-
macht. In den daraus folgenden Jahren mehrten sich die
Funde derart, daß alle Bemühungen der Regierung, die
Sache geheim zu halten und das Suchen nach Gold zu ver-
hindern, an dem durch diese Funde hervorgerufenen Gold-
fieber scheiterten. Am 1. September 1851 wurden die
ersten Konzessionen zum Goldgraben ertheilt. Die ganze
Bevölkerung war nun wie von einer Epidemie befallen: Alles
zog aus, um nach Gold zu suchen; und nicht mit Unrecht.
Hatten doch diese glücklichen Goldfuude die Quelle eines
ungeahnten und, wie sich seitdem ergeben hat, unermeßlichen
Reichthums erschlossen.
Erst als die mit dem Leben eines „Digger" verbundenen
Gefahren und Entbehrungen die Leute belehrt hatten, daß
nur die starken und erfahrenen für diese Arbeit geeignet
seien, kehrten die übrigen, durch Enttäuschung klug gemacht,
zu ihren früheren Geschäften zurück, und es traten allmählich
wieder normale Verhältnisse in dem Lande ein. Mit der Zeit
begann man auch das Gold in einer mehr bergmännischen
Weise zu gewinnen. Dieses wurde um so nothwendiger,
als die alluvialen, oberflächlichen Lager bald erschöpft waren,
und die Herstellung tiefer Bergbaue und großer Stampf-
maschinen zur Gewinnung deß Goldes aus dem Quarz
bedeutende Kapitalien erforderte, die der einzelne Digger
natürlich nicht besaß. Es wurden zahlreiche Aktiengesell-
schaften zur Ausbeutung des Goldes gegründet, und diese
sind es, welche jetzt vorzüglich den Goldbergbau betreiben.
Es ist natürlich, daß damit viel Schwindel getrieben wurde,
und es haben auch sehr viele Kapitalisten ihr Geld in solchen
Spekulationen verloren. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch
ein gewisses Gleichgewicht hergestellt. Der einzelne Digger,
der durch den Fund eines „Riesen-Nugget" plötzlich reich wurde,
ist verschwunden, die schwindelhaften Aktiengesellschaften sind
zu Grunde gegangen, die Begeisterung ist verraucht, aber
ein substanzieller und verläßlicherer Erwerb, der Tausende
beschäftigt und erhält, ist geblieben.
Am 31. Dezember befanden sich in Victoria 25 214
Männer, welche sich mit dem Goldbergbaue beschäftigten und
der Gesammtertrag des Goldbergbaues für das Jahr er-
reichte die Höhe von nahezu 2 650 000 Pfund Sterling.
Es entfielen demnach im Durchschnitt auf den Mann nahezu
105 Pfund Sterling, oder 2100 Mark, ein für austra-
lische Verhältnisse zwar nicht exorbitanter aber immerhin
ganz anständiger Ertrag. Gleichwohl.ist derselbe nicht so
bedeutend als in früherer Zeit, und es hat der Ertrag seit
1885 um etwas über 77 Mark pro Mann abgenommen.
Heutzutage wird vorzüglich Gold aus den Quarzgängen
gewonnen, welchem Zweck großartige Maschinen dienen.
Diese sind neuerlich so verbessert worden, daß wenige Penny-
weights Gold per Tonne Quarz hinreichen, um einen guten
Gewinn abzuwerfen. Der Quarz der verschiedenen Distrikte
ist natürlich sehr verschieden goldhaltig. Durchschnittlich
ergaben im Jahre 1686 eine Tonne Quarz in
Ballarat .... 6 Peunyweights 18,09 Grains Gold
Beechworth . . 10 „ 28,75
Sandhurst... 9 „ 4,69
Maryborough . 9 „ 14,49
Castlemaine . . 11 „ 18,29
Ararat....... 5 „ 8,45
Gipps Land . . 19 „ 14,77
Der Gesammtdurchschnitt aller Quarzbergwerke betrug
für das Jahr 1886 9 Peunyweights 10,31 Grains per
Tonne Quarz. Es ist dies um 15,97 Grains weniger
als im Vorjahre. Im ganzen wurden in Victoria bis Ende
1886 über 22^ Millionen Tonnen Quarz zerstampft,
welche einen Ertrag von nahezu 12 Millionen Unzen, oder
per Tonne durchschnittlich 10 Pennyweights 11,96 Grains,
lieferten. Es ist also jedenfalls die Ergiebigkeit in Abnahme
begriffen, was aber wohl hinreichend dadurch erklärt wird,
daß es sich heute rentirt, goldärmeren Quarz zu verarbeiten,
als früher.
Die Bergbaue sind theilweise recht tief, so besonders
einige in Stawell und Sandhurst, welche 600 bis 750
Meter hinabgehen. Der Quarz wird in grobe Stücke zer-
schlagen, und diese werden dann der Stampfe zugeführt.
Die Stampfen haben ein Gewicht von 1 bis 5 Meter-
centnern, eine Fallhöhe von 15 bis 40 cm, und führen per
Minute 50 bis 80 Stöße aus. Eine Maschine von 10
Pferdekrästen kann acht mittelgroße Stampfen bewegen.
Der zerstampfte Quarz wird geschlemmt, das Gold von
dem zurückbleibenden Quarzschlamme durch Quecksilber aus-
gezogen, dieses dann abdestillirt und das Gold schließlich
dadurch gereinigt, daß Chlorgas Mrch das geschmolzene
Metall geleitet wird. Das Chlor entfernt die letzten Reste
von Quecksilber, sowie andere Metalle, wie Silber und Blei,
die häufig dem Golde beigemengt sind. Auf das Gold wirkt
das trockene Chlorgas nicht ein, die übrigen Metalle ver-
wandelt es in flüchtige Chlorverbindungen, die verdampfen.
Kupfer, Silber, Zinn und Antimon werden ebenfalls
bergmännisch gewonnen, aber die Ausbeute an diesen Me-
tallen ist verhältnißmäßig unbedeutend; auch nach Kohlen
wird gegraben, sie sind jedoch von sehr schlechter Qualität.
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
259
Victor Giraud's Reise nach den tunerasrtfanifd^cn Seen.
XIY.
(Mit sechs Abbildungen.)
Die aufständische Karawane Giraud's setzte die Um-
gebung von Mpala thatsächlich in großen Schrecken, und von
dem entschiedenen Wadi Combo war schließlich auch ein
Angriff auf die Station selbst zu gewärtigen. Dazu kam
noch, daß die Besatzung der letzteren den Rebellen zum Theil
eine unverhohlene Sympathie zeigte. Kapitän Storms
machte zwar wiederholt den Versuch, kräftige Schritte zur
Bewältigung des Aufstandes zu unternehmen, aber immer
bewiesen sich seine Leute dazu untanglich. Vor allem
drohten die Aufständischen, sich mit Gewalt der Stoffe zu
bemächtigen, die sie zu ihrem Rückmärsche nach Zansibar
bedurften.
In seiner verzweifelten Lage, und um die Station
Mpala, die ihm Gastfreundschaft gewährte, nicht einer großen
Gefahr auszusetzen, beschloß Giraud endlich, seinen Leuten
den rückständigen Lohn zu verabfolgen. Er wollte es ab-
thcilungsweise thun, aber er drang damit nicht durch, und
er mußte wohl oder übel alle zugleich empfangen. Sie
erschienen schweigend, aber im Aufzuge wahrer Wilder, und
mit dem, was ihnen verabreicht wurde, waren sie keines-
wegs zufrieden, sie verlangten das Doppelte, und außer
dem Zeug forderten sie auch Pulver und Patronen.
Nachdem das Geschäft abgemacht war, warf sich der
Reisende fiebergeplagt auf sein Lager. Die Karawane aber
zog ab. Bis Manda bewahrte sie eine gewisse Manns-
zncht, dann aber gerieth sie in blutige Zwistigkeiten mit
den Eingeborenen, und sie bemächtigte sich gewaltsam aller
Kähne, deren sie habhaft werden konnte, um mit ihnen
glücklich die Ueberfahrt über den Tanganika zu bewerk-
stelligen. Von Kilandu aus zogen sie dann durch die Wälder
nach Tabora, um in dem letzteren Orte einen Angriff auf
die algerische Missionsstation und P. Hautecoenr zu unter-
nehmen — den Tam - Tain und die französische Fahne
voran. Dreißig kamen richtig nach Zansibar, wo der
französische Konsul die Hauptschuldigen infolge eines
Briefes, den er von P. Hautecoenr erhielt, gefangen setzen
und bestrafen ließ; die anderen waren unterwegs zurück-
geblieben, und hatten sich zum Theil an Tippoo-Tib und die
Manyema angeschlossen; Hassani jagte für einen Araber-
in Kilandu Elephanten, und Ferraji war aller Wahrschein-
lichkeit nach zu den Rugas-Rugas gegangen, um mit ihnen
wieder als Wilder zu leben. Von seiner ganzen Kara-
wane waren Giraud nur die drei Blatternkranken übrig
geblieben.
Weiter nach Westen vorzudringen, war jetzt natürlich
ein Ding vollkommenster Unmöglichkeit. Der Reisende
konnte nur noch darauf denken, auf dem bequemsten Wege
zur Küste des Indischen Oceans zurückzugelangen.
Der Kapitän bewährte sich bei alledem als ein wackerer
Freund, und sein Rath fiel bei der Gestaltung des ganzen
Rückzugsplanes sehr in das Gewichr. Der Weg, welcher
schließlich gewählt wurde, war der über den Nyassa, weil
dieser am ehesten eine neue Karawane entbehren ließ, und
weil er zum allergrößten Theile zu Wasser zurückgelegt
werden konnte.
Zuerst galt es dabei, das Südende des Tanganika zu
gewinnen. Da diese Reise mit Hülse der Fahrzeuge, die
zn Gebote standen, nicht ausführbar war, so mußte der
Reisende aber eine Gelegenheit abwarten. Storms ent-
faltete unterdeß eine rührige Thätigkeit bei dem Ausbau
der Station, und bei der Herstellung einer guten Kommu-
nikation zwischen Mpala und Karema. Die zwei Daus,
welche er besessen hatte, waren ja zu Grunde gegangen,
und die Seetüchtigkeit des kleinen Dampfers „Cambier"
war auch eine mehr und mehr fragwürdige geworden. Seit
Monaten hatten nun die Zimmerleute daran gearbeitet,
aus dem schönen Holze, das in der Gegend wuchs, ein
großes Fahrzeug herzustellen. Da zerbrach dasselbe, nach-
dem es vollendet war, bei dem Transporte von einer
steilen Anhöhe hinab zum Hafen, und es gelang nur mit
Mühe, es wieder in einen brauchbaren Zustand zu versetzen.
Eine besondere Sorgfalt wandte Storms dem Garten zu,
und es gediehen darin die verschiedenen Gemüse ganz vor-
trefflich, was bei dem Mangel an Wildpret eine doppelte
Wohlthat war. Elephanten waren jenseits des Gebirges
häufig, aber man durfte sich dahin nicht wagen, der Feind-
seligkeit Russingas wegen. Hippopotamus und Gänse und
Enten waren nur nördlich von Mpala, wo das Ufer flach
war, in großer Zahl zu treffen, südlich davon, wo das
Gebirge steil in den See hinabstürzte, fand man sie nicht,
und ebenso waren sie in der unmittelbaren Nähe der Sta-
tion selten. Die einzigen Fahrzeuge, die sich öfters ans
dem See hin und her bewegten, waren die Sklavenlahne
der Wajiji (S. Abbildung 4). Ende Juli, nach zwei-
monatlichem langen Warten, erschien endlich der Dau der
Engländer, ans der Rückreise von Ujiji nach Jenduö be-
griffen; sogleich wurden Giraud's Sachen eingeladen, und
zusammen mit den drei von den Blattern Genesenen ging
die Fahrt von Mpala nach dem Süden, nachdem dem braven
Storms noch ein „Auf Wiedersehen in Europa!" zugerufen
worden war. Immer wieder konnte man nur bei Nacht
segeln, weil bei Tage die starke Brise aus dem Süden
es wehrte, bei Nacht ging es aber etwa sieben Stunden
lang ziemlich rasch vorwärts. Die Nächte waren übrigens
klar und herrlich, und die Rast am Tage wurde gelegentlich
zur Jagd auf Antilopen benutzt. Bei dieser Gelegenheit traf
Giraud auch wieder auf einen Solo, ohne ihn aber zu erlegen.
Allmählich wurden die Uferberge wieder niedriger, das
eigentliche Marungu verschwand aus dem Gesicht, nur hohe
Hügel umsäumten den See, und am 4. August befand sich
der Dau wieder vor Jenduö. Dort kostete es noch ziem-
lich harte Arbeit, ans Ufer zu kommen, weil ungeheure
Massen von schwimmenden Pflanzen in dieser Jahreszeit
die Flußmündung sperrten (S. Abbildung 1).
Die Herren Swann und Brooks empfingen Giraud
ebenso gastlich, wie das erste mal. Sie waren mittlerweile
arg vom Fieber geplagt worden, aber ihr Boot war sehr
gefördert worden.
Eine große Schwierigkeit bestand jetzt darin, eine ge-
nügende Anzahl Träger für die Landreise nach dem Nyassa-
260
Victor Gircmd's Reise nach
See zusammenzubringen. Noch immer waren dreißig zum
Transport der Sachen nöthig. Dank den Anstrengungen
des Herrn Swann gelang es sie zu finden, und nach vier
Tagen konnte der Marsch angetreten werden. Der Ver-
trag mit den Trägern lautete allerdings nur auf die vier-
tägige Reise bis Mambuö. Bis dahin hatten sie ihren
Lohn im voraus empfangen, und dort sollten sie zurück-
kehren dürfen, während Giraud sich andere miethete. Der
Führer der Leute, namens Kafubi, war allerdings nichts
weniger, als ein vertrauenswürdiger Mensch. Er sprach
alle möglichen Sprachen, selbst das Kisuaheli, aber im
Uebrigen war er ein wahrer Bandit, der zu allem fähig
schien. Es wurde ihm als Zugabe zu seinem Lohne ein
großes Geschenk versprochen, wenn er sich bewähren würde,
den innerafrikanischen Seen.
bezw. fünfundzwanzig Stockschläge, wenn es etwa nicht der
Fall wäre.
Nicht weit von Jenduö stieß man auf eine Karawane,
die vom Nyassa-See kam, und bei derselben befanden sich
auch die Leute, welche zwei Monate vorher Herrn Höre
von Jenduö nach dem Nyassa begleitet hatten. Diese
letzteren waren voll Entzücken von den Vorräthen an Mais
und Bataten, die sie in den Häusern der Station Konde
gesehen hatten, und eine ganze Anzahl erbot sich ohne
weiteres, Giraud gegen bloße Verköstigung und ohne jeden
Lohn wieder mit zurück zu folgen — darunter auch zwei
Knaben, die die persönlichen Diener des Reisenden wurden.
Die Karawane wuchs auf diese Weise wieder auf sechzig
Leute heran.
Zwischen den Wasserpflanzen von Jenduö.
Zunächst gab es einen anstrengenden Gebirgs-Anstieg
an dem Südende des Tanganika zu überstehen, und aus
der Höhe angekommen, genoß der Reisende noch einen
letzten prachtvollen Ansblick auf den See. Dann ging cs
guer durch eine Wüste, die gleich anderen früher passirten,
durch das Sengen und Brennen der Waömba künstlich erzeugt
worden war, und in der man hie und da noch aus hohen
Waldwuchs, sowie auf einzelne menschliche Skelette — die
Ueberreste der Bevölkerung — stieß. Honig war hier wieder
das einzige Lebensmittel, das man fand, während auf Wild-
pret ziemlich vergebens gefahndet wurde, und da die Träger
in ihrer Sorglosigkeit versäumt hatten, Mehl mitzunehmen,
so litt man von den ersten Tagen an Proviantmangel.
Am 14. August kam der Zug in Mambuö an, dessen
Hütten und Pallisaden ausnahmsweise schon einen Kilometer
vorher sichtbar waren, und das auf einer 20 bis 30 Irin
breiten Ebene lag. Fambo, der Häuptling des Ortes, hatte
sich bei seinen Nachbarn in Respekt zu setzen vermocht, und
er war infolgedessen von Plünderung verschont geblieben.
Eine kleine Rinderheerde und ein paar Schafherden weideten
ruhig neben dem Boma, und Giraud konnte für sich und
seine Leute sogar etwas Negerhirse und Mais kaufen. In
der Nähe von Mambuö findet sich überall vorzügliches
Eisenerz, und acht bis zehn stumpfkegelförmige Schmelzöfen
aus röthlichem Thon dienen für gewöhnlich zu ihrer Verar-
beitung. Während sich Giraud in dem Orte aufhielt,
ruhten sie leider, dagegen konnte der Reisende einen Schmied
bei der Herstellung eines sehr schönen Eisendrahtes beobachten.
Nach drei Tagen wurde die Reise weiter fortgesetzt, und
zwar mit denselben Leuten — die Kafubi zusammengehalten
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen
261
hatte — sowie mit einem weiteren Zuwachs von fünfzig, die
auch mit nach Konde zukommen wünschten, und die zum Theil
Salz, zum Theil eiserne Lanzenspitzcn und zum Theil Hacken
trugen, um sie unterwegs zu verkaufen und sich von dem
Erlöse zu ernähren. Die Furcht vor den Waömba ver-
suchten sic durch Lärm zu betäuben. (S. Abbildung 2.)
Die ganze Schaar wär natürlich wenig dazu angethan,
den Eingeborenen des durchreisten Landes Vertrauen einzu-
flößen, und schon das nächste Dorf verschloß seine Thore,
so daß es besonderer Unterhandlungen bedurfte, um wenig-
stens für den Reisenden und seine eigentlichen Träger
Einlaß zu erlangen. Dabei waren aber alle Häuptlinge
Mambuö.
der Gegend friedlich, und den Europäern freundlich gesinnt.
Welchem Stamme sie angehörten, wußte keiner zu sagen.
Das Land war einst ein einziger ungeheurer Wald, der
vielfach von Sümpfen durchsetzt war, und die seichten
Flüsse, welche hinter Mambuö gefnrthet werden mußten,
flössen sämmtlich in der Richtung auf den Tschambesi, so
Rückkunft der Krieger in Muipuria.
daß man also bereits vor Mambuö die Wasserscheide
zwischen dem Tanganika und dem Kongo überschritten
hatte. Hier waren Büffel, Antilopen, Elephanten rc.
wieder ziemlich häufig.
In Muipuria war man der Grenze des Gebietes der vinnen gemachten Frauen und mit einigen erbeuteten Ham-
Waömba nahe, und diese hatten vor kurzem einen Angriff meln. An der lauten Siegesfeier nahm dann die Kara-
auf das Dorf unternommen. Dafür hatten dann die Mni-
pnria-Krieger aber einen Feldzug in das Feindesland unter-
nommen, und Giraud war Zeuge, wie dieselben siegreich
heimkehrten (S. Abbildung 3), mit etwa zwanzig zu Skla-
Wajiji-Neger und ihre Kähne.
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen>
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wane regen Antheil, unter dem betäubenden Lärm des
Tam-tam und unter wildem Trinkgelage.
Bei Kapogoro, wo man am 30. August ankam, nahm
die Landschaft einen anderen Charakter an; das Terrain
wurde wellig und hügelig, und man merkte, daß man sich
den Gebirgen am Nyassa-See näherte. Am anderen
Morgen wurden diese Gebirge thatsächlich zur Linken sicht-
bar, und zugleich wehte von ihnen ein kalter Wind herab,
der bis gegen Mittag die Einhüllung in eine wollene
Decke gebot; zur Rechten dagegen breitete sich die weite
Wemba-Ebene aus.
In drei Tagen durfte Giraud nun hoffen, Kuiwanda
zu erreichen, und weil er dessen gewiß war, so sandte er
vier Männer voraus, die ihn ankündigen sollten. Als man
nach Muiputa kam, fand man die schwarzen Burschen aber
nackt und ausgeplündert in der Nähe des Boma. Der
Herr desselben hatte der Begierde nicht widerstehen können,
sich bei der gebotenen günstigen Gelegenheit einer Feuer-
waffe zu bemächtigen, und deshalb die Räuberei ausgeführt.
Man nahm den Boma ein und gab den Häuptling erst
wieder frei, als er das Gewehr ausgeliefert hatte.
Bei Msoki stieß man ans die Straße, welche die Eng-
länder zur Verbindung des Nyassa mit dem Tanganika her-
gestellt haben, und welche, wenn auch nicht fahrbar, so doch
wesentlich bequemer ist, als die Pfade der Eingeborenen.
Die Anlage hat große Anstrengungen gekostet, und [baS
Werk hat durch die Krankheiten und den Tod der drei
Ingenieure, die es leiteten, vielfache Unterbrechungen erlitten;
Benzaö.
etwa 15 Kilometer waren aber doch fertig gestellt worden.
Der Regen hatte den Dämmen freilich arg genug mitgespielt.
In Kuiwanda traf Giraud die Herren R. P. Bain
und M. Monthcith von der schottischen Missionsgesell-
schaft, und zwar den letzteren gerade im Begriff stehend,
nach dem Tanganika zu gehen, so daß er einen Theil des
Trosses, den Giraud mitgebracht hatte, wieder mit dahin
zurücknehmen konnte.
Am 6. September ging die Reise weiter, und ohne
besondere Zwischenfälle wurde Konde erreicht, und damit
zugleich eine wohlbebaute Gegend mit zahlreichen Rinder-
heerden, deren Reichthum die Leute von der Karawane
nicht aus ihrem Erstaunen herauskommen ließ. Die
Betten der zahlreichen Flüsse, die in der Regenzeit dem
Tanganika zuflössen, waren jetzt freilich trocken. — Nun
dauerte es nur noch fünf Tage, und die Karawane befand
sich in Kasagura, der Station der „African Lakes Com-
pany“, hart an dem Ufer des Nyassa. Hier bewies Herr
Nicoll, der Vertreter der Gesellschaft, dem Reisenden
große Freundlichkeit, und nach langem Darben wurden
ihm wieder alle europäischen Hochgenüsse zu Theil: Kaffee,
Zucker, Sardinen, Brot k. Uebrigens deuteten alle An-
zeichen darauf hin, daß die Schotten, seit Livingstone den
See entdeckt hatte, nicht müßig gewesen waren. Mit den
Missionären Hand in Hand war eine Handelsgesellschaft
gegangen, es war eine regelmäßige Dampferkommunikation
auf dem See und auf dem Shire eingerichtet worden, und
es schienen alle Anstalten getroffen zu sein, um der euro-
päischen Kultur in dieser Gegend Afrika's den Boden zu
bereiten. Das Elfenbein, das die Umgebung des Sees
Livingstons,
Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
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liefert, und das die Schotten aufkaufen, ist sehr schön. Ein
anderes Produkt war aber bislang noch nicht ausgeführt
worden, und im Elsenbcinhandel waren einige arabische
Händler, die nebenbei natürlich auch Menschenhandel trieben,
gefürchtete Konkurrenten. Einer der letzteren hatte be-
ständig drei Daus auf dem See. Im ganzen lebten acht
Europäer an dem Nyafsa, Europäergräber waren an seinen
Ufern zahlreicher, und das Klima ist daselbst entschieden
viel ungesunder, als am Tanganika.
Am 3. Oktober kanl der kleine Stahldampfer „Jtala" an,
und am folgenden Tage schiffte sich der Reisende auf ihm
ein, mit der Aussicht, die Küste niemals aus dem Auge zu
verlieren, und sie öfters zu betreten, da das Schiff alltäg-
lich anlegen mußte, um seinen Holzbedarf zum Heizen der
Maschine zu erneuern. Der Südwind war auf dem
Nyafsa nicht so schlimm, wie auf dem Tanganika, beein-
trächtigte aber doch bisweilen die Schnelligkeit der Fahrt.
In der Ebene von Decp-Bay bot sich eine gute Gelegen-
heit zur Jagd auf ein Zebra, sowie auf einen Eber und
ein Rhinoceros. Weiterhin wurde Bcnzaö berührt, ein
eigenthümliches Dorf, dessen Bewohner sich im See Zu-
fluchtshütten auf hohen Pfühlen errichtet haben, in die sie
sich flüchten, sobald ihnen eine Razzia aus dem Gebirge
droht, und in denen sie Provisionen für mehrere Tage
aufzubewahren pflegen (S. Abbildung 4).
Am 9. Oktober lag man vor Bandawe, das eine Haupt-
station bildet, und das auf einer weit vorspringenden san-
digen Landzunge erbaut ist. Häuser aus Ziegelsteinen und
mit Glasfenstern gemahnten hier lebhaft an Europa, und
die Ebene am See scheint reich und fruchtbar zu sein. Im
Inneren der Misfionsstation hatte Mrs. Scott auch einen
überraschenden Komfort geschaffen, und Dr. Scott sprach
sich über seine Erfolge als Missionär sehr befriedigend
aus, namentlich was das heranwachsende Geschlecht an-
geht. In der Missionsschule befanden sich etwa 160
Schüler, und dieselben wurden unter anderem namentlich
auch in dem Tischler- und Schmiedehandwerk unterwiesen.
Auch hier drohten aber nicht fern von der Station
kriegerische Nachbarn — die durch ihre Grausamkeiten
berüchtigten Angonis im Gebirge, und um ihre Erfolge
zu sichern, hatten die muthigen Schotten einen der ihrigen
ausgesandt, um eine Missionsstation unter den Angonis
selbst zu begründen.
Von Bandawe ging dann die Fahrt weiter südwärts,
und am 11. Oktober war Livingstouia erreiche, das am Fuße
einer vulkanischen Bergmasse steht, und das eine ausgezeichnete
Verkehrslage besitzen würde, wenn es nicht so außerordent-
lich ungesund wäre (S. Abbildung 6). Die Europäer
hatten es vollkommen verlassen, und nur einige Eingeborene
harrten am Strande der Ankunft des Dampfers.
üdkalifornien im Jahre 188 7.
Von Theodor Kirchhofs.
III. (Fortsetzung aus Bd. 53, Nr. 23.)
Nach einem Aufenthalte von beinahe zwei Wochen in
San Diego setzte ich meine Reise auf der „California
Southern" zunächst nach San Bernardino fort. Wir fuhren
an den Adobehäusern von Alt-San-Diego und an der False
Bay vorüber, einer Meeresbucht, die zur Zeit der Ebbe fast
ganz von Wasser entblößt ist; dann längere Zeit am Strande
des Oceans entlang, zur Rechten grünes Hügelland, wo zahl-
reiche wohlgenährte Rinder weideten. 42 amerikanische
Meilen von San Diego kamen wir an dem hart an der
See liegenden schnell empor blühenden Städtchen Oceanside
vorbei, das während der im San-Bernardino-Thalc besonders
heißen Sommermonate von den reicheren Bewohnern jener
Gegend gern als Seebad besucht wird. Das Temccula-
Canon (30 Meilen nördlich von Oceanside) ist ein zehn
Meilen langer Gebirgspaß, der rechter Hand von den
steilen Santa-Rosa-Bergen, zur Linken von Tafelland be-
grenzt ist. Die Eisenbahn läuft in vielen Windungen an
dem kleinen durch die Schlucht fließenden Santa-Margarita-
Flusse entlang. Es ist dies das Terrain, das im Winter
durch Regengüsse, Ueberschwemmungen und Bergschlüpfe
mitunter wochenlang für die Bahnzüge ganz unpassierbar
wird, wodurch der Verkehr zwischen San Diego und Colton-
Los Angeles alsdann argen Schaden leidet. Die von Santa
Ana nach San Diego führende, im Ban begriffene Eisen-
bahn wird diesen Gebirgspaß umgehen und dieselbe Route
zurücklegen, welche ich vor fünf Jahren in der Stage-Kutsche
zurücklegte.
Nachdem wir bei der schmucken Ansiedlung Murieta
vorübcrgefahren waren, überraschte mich der in Südkali-
Globus LIV. Nr. 17.
formen ganz ungewöhnliche Anblick eines ansehnlichen Land-
sees, der inmitten der Berglandschast eingebettet lag — des
Elsinore-Sees, in dessen klarer Fluth sich das schnell empor-
blühende gleichnamige Städtchen spiegelt. Ein kleiner Ver-
gnügungsdampfer befährt bereits den Landsee. Die Ufer
und die umliegenden Höhen sind freilich noch fast ganz von
Baumwnchs entblößt, und von Kultur gewahrt das Auge
nur wenig; da sich aber eine unternehmende Bevölkerung
hier ansiedelt und das Land auch ohne große Schwierigkeiten
theils vom San -Jacinto- Flusse, theils durch Tunnellirung
der Berge bewässert werden kann, so wird der See Elsinore
ohne Frage dereinst ein Juwel Südkalisorniens werden. Es
liegt im Plaue, eine Eisenbahn um den ganzen See herum zu
bauen, dessen Ufergelände im Laufe der Zeit gewiß von Villen,
Obstgärten, Farmen und Ansiedelungen umkränzt sein werden.
Der mächtige, bis 10 500 Fuß aufsteigende Gebirgs-
knotcn der San-Jacinto-Berge und die sich im Norden
emporthürmende überaus malerische San-Bernardino-Range
mit dem gleichnamigen schneegekrönten Pik, traten jetzt immer
großartiger in das Gesichtsbild. Riverside mit seinen wie
eine Oase in der Wüste liegenden grünen Obstgärten und
Weinbergen und den mit goldener Frucht geschmückten
Orangeuhainen begrüßte uns; Bewässerungsgräben beglei-
teten uns, bis wir bei Colton das Geleise der Südpacific-
bahn guerten. 125 Meilen von San Diego gelangten wir
nach San Bernardino, wo ich wieder einen längeren Auf-
enthalt nahm.
Die Stadt San Bernardino blüht, wenn auch uicht in
dem Maße wie San Diego, doch außerordentlich schnell
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Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
empor und ist fetzt die drittgrößte Stadt in Südkalifornien.
Während der letzten zwei Jahre hat sich die Zahl ihrer Ein-
wohner, die gegenwärtig etwa 7500 Seelen betrügt, beinahe
verdoppelt. Es wird dort sehr viel gebaut und das Speku-
lationssieber in Grundeigenthum läßt auch hier für die glück-
lichen Besitzer wenig zu wünschen übrig. An der Hauptstraße
erzielten die Eck-Baustellen (oorrmr lots) ohne sonderliche
Mühe 500 bis 1000 Dollars den „Frontfuß" (d. h. den
laufenden Längenfnß an der Straßenfront), und wer sich ent-
schließt, für einen solchen Preis zu verkaufen, der denkt gewiß
dabei mit Wehmuth, daß er sein Eigenthum eigentlich halb
weggeschenkt hat. Unbebaute Ländereien in der Umgegend, die
bewässert werden können, haben einen Marktwerth von 100
bis 600 und selbst 1000 Dollars der Acker. Die Atchison-
Topeka- und Santafo-Eisenbahngesellschast hat den Mittel-
punkt ihres ausgedehnten Schienensystems in Südkalifornien
nach San Bernardino verlegt und hier ansehnliche Maschinen-
werkstätten und Lagerhäuser errichtet. Zur Zeit meines
Besuches wurde eine direkte Eisenbahn nach Los Angeles
eröffnet, die „San-Gabriel-Valley-Eisenbahn, an welcher
eine ganze Reihe blühender Städte emporgesprungen ist.
Dies ist die dritte Parallelbahn, welche San Bernardino-
Colton und Riverside mit Los Angeles verbinden (die beiden
anderen sind die „Riverside- und Los Angeles-" und die
„Southern Pacific-"Bahn), an welche sich im nächsten Jahre
eine vierte, am Fuße der Gebirge zu erbauende Eisenbahn
anschließen soll. Vier Parallelbahnen, von denen jede
nur drei bis sieben Meilen von der nächsten entfernt ist, mit
einer Querbahn, die alle mit einander verbindet, auf einer
Strecke von 70 englischen Meilen! Das kennzeichnet gewiß
den ungeheuren Fortschritt dieses Landes auf das deutlichstes.
Während meines Aufenthaltes in San Bernardino machte
ich in Gesellschaft eines dort seit Jahren wohnenden wohl-
unterrichteten Deutschen fast jeden Tag längere Ausflüge in
die Umgegend und gelangte zu der Ueberzeugung, daß das
Thal von San Bernardino eins der fruchtbarsten und wasser-
reichsten Thäler in Kalifornien ist. Zahlreiche Bäche
strömen vom Gebirge herab, wo auch der Santa Ana, der
bedeutendste Fluß in dieser Gegend, entspringt. Alle jene
Wasserläufe werden zur Ueberrieseluug der Felder, Obst-
gärten rc. benutzt, und wo jene nicht verwerthet werden
konnten, hat man artesische Brunnen gegraben, von denen
sich mehr als 500 im Thäte befinden. Die Bodensläche,
auf welcher artesische Brunnen mit Erfolg gebohrt werden
können, ist jedoch scharf begrenzt. Die Lage der unter-
irdischen Wasserlüufe ist genau festgestellt worden, und es ist
ganz nutzlos, außerhalb derselben Bohrungen zu versuchen.
Ein gewaltiges Wasser-Reservoir wurde durch den Bear
Valley-Damm, 40 Miles nordöstlich von San Bernardino,
im Gebirge geschaffen und mit dem Santa Ana in Ver-
bindung gesetzt, wodurch der östliche Theil des Thales seinen
Bedarf au dem kostbaren flüssigen Elemente erhält. Das Bett
eines früheren alten Gebirgssees, der sich durch Erosion
entleert hatte, hat mau dort durch einen 300 Fuß langen
Damm aus Fels und Cement, der 60 Fuß hoch und unten
17 Fuß breit ist, wieder geschlossen. Das Reservoir hat
eine Länge von sechs und eine Durchschnittsbreite von einer
englischen Meile. Der Zufluß der kleinen Gebirgsbäche rc.
über eine Bodenstrecke von mehr als 60 englischen Quadrat-
meilen wird darin angesammelt, und es enthält hinreichend
Wasser, um 20 000 Acker damit zu bewässern.
An einem sonnenhellen Tage unternahm ich mit meinem
Landsmanne einen Ausflug nach den neuen Plätzen Redlands
i) Jede Stunde fährt ein Eisenbahnzug von San Bernar-
dino nach Cotton und jede zwei Stunden einer nach Riverside.
Außerdem sind San Bernardino und Cotton jetzt auch noch durch
eine „Motor-Bahn" mit einander verbunden.
und Lugonia. Auf trefflicher Landstraße kutschirten wir
zunächst nach der fünf Meilen entfernten Ansiedelung Alt-
San-Bernardino, auf welcher Fahrt die mächtige Kette der
San-Beruardino-Range gerade vor uns lag — ein wunderbar
schönes Bild von schweizerischer Großartigkeit! Vom San-
Bernardino-Thale aus betrachtet, steigt jene gewaltige Ge-
birgsreihe wie ein Wall empor, der ohne Zweifel von Süden
her gehoben worden ist. Auf dem Kamm des Gebirges
befinden sich Kies- und Muschellager und auch ein altes
Flußbett. Nach der nördlichen Seite ist der Absturz gegen
die Mojave-Wüste ein weit geringerer, als nach der Südseite.
Bei Alt-San-Bernardino gewahrte ich die schönsten Orangen-
haine, die ich in Südkalisornien gesehen'hatte, und auch eine
Anzahl großer Weinberge, die in vortrefflichem Zustande
waren. Das Klima in Alt-San-Bernardino, wo Nebel
und Frost nie vorkommen, ist für die Orangenzucht noch
besser, als das von Riverside, in welchem Platze die Ernte
ab und zu minder gut ausfällt, was in Alt San Bernardino
noch nie der Fall war. Zwischen den beiden Plätzen herrscht
ein ziemlich gespanntes Verhältniß. Besonders erbost sind
Farmer der letztgenannten Ansiedelung darüber, daß die von
ihnen gezüchteten Orangen unter dem Namen „Riverside
Oranges" von den großen Obstpackereien nach den östlichen
Märkten gesandt werden. In der Nähe von Alt-San-
Bernardino liegen auf einer kahlen Anhöhe nahe an der
Landstraße die Trümmer der von Indianern zerstörten gleich-
namigen alten Mission, die ein Zweig der San-Gabriel-
Mission war — ein trauriges Bild des Verfalls, das durch
eine in geringerer Entfernung von der Ruine erbaute
prächtige Villa mehr noch, als es sonst der Fall sein würde,
ins Auge füllt.
Zwei Meilen von Alt-San-Bernardino gelangten wir
nach den nagelneuen Zwillingsstädten Lugonia und Redlands,
von denen heute jedermann in San Bernardino mit Be-
geisterung redet. Hier waren die reichen spckulirenden Uankees
in ihrem Elemente! Für Ländereien in der Nähe jener
Ortschaften erzielten die Besitzer, welche das Land vor sechs
Monaten für 50 Dollars den Acker gekauft hatten, ohne
Mühe bereits 500 bis 1000 und mehr Dollars den Acker.
Eine Menge schöner Landsitze in der Umgebung war im
Bau begriffen; Gärten, Orangenhaine, Weinberge rc. er-
freuten das Auge. In Lugonia speisten wir in einem statt-
lichen Gasthause, das voll von Fremden war, so gut, als
befänden wir uns im Palace-Hotel in San Francisko. Die
kaum angelegten Boulevards waren an den Seitenwegen
mit langen Reihen von Fächerpalmen bepflanzt worden.
Eiserne Gasröhren, Wasserleitungen, wofür die Rohre aus
Cement an Ort und Stelle angefertigt wurden, legte man
in jeder Straße, selbst dort, wo noch gar nicht mit dem Bau
von Häusern begonnen worden war. Schlanke, hoch-
aufragende eiserne Mastbäume für elektrische Beleuchtung
standen schon da, und eine Eisenbahn nach San Bernardino
war im Bau begriffen.
An der Hauptstraße in Lugonia las man an erst halb
vollendeten, in großstädtischem Styl angelegten Stein-
gebäuden, in deren dachloses Innere noch der blaue Himmel
hineinschaute, au große» Tafeln die Namen und Geschäfte
der Kaufleute, die dort einziehen würden — Teppich- und
Möbelhändler, Läden für Schnittwaaren, für Herren- und
Damenkleider, Putzsachen, Kurzwaaren, Materialwaaren,
Stiesel und Schuhe, Pianos u. s. w. Zwei Banken, die
lebhafte Geld- und Wechselgeschäfte betrieben, hatten in
hölzernen Baracken ein zeitweiliges Unterkommen gefunden,
ehe sie in die für sie bestimmten erst halb fertigen stattlichen
Steingebäude einziehen konnten. Eine kleine Armee von
Arbeitern und Handwerkern bereitete künstliche Steinplatten
aus Cement und pulverisirtem Kies für die Gehwege, baute,
Theodor Kirchhofs: Südknlifornien im Jahre 1887.
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hämmerte und malte an den Häusern, ebnete die Straßen,
pflanzte Bäume und Stauden, legte die Gas- und Wasser-
leitungen an, lud die mit Bauholz, eisernen Säulen, Nägeln,
Fachwerk für Fenster und Thüren, Ziegelsteinen rc. be-
ladenen Frachtwagen ab — genug, es war ein Bild
des regsten Fleißes, wie es lebendiger nicht gedacht wer-
den kann, und zwar inmitten eines sich schnell besiedeln-
den Gebietes, das vor zwei Jahren noch als ganz wertlose
Wüste galt.
Der vornehmen Kolonie Riverside stattete ich auch aus
dieser Reise wieder einen Besuch ab. Die Stadt Riverside,
deren Geschäftstheil immer mehr ein städtisches Aussehen
annimmt, zählt bereits 4000 Einwohner und hat fast das
ganze Gebiet der Kolonie ihren Grenzen einverleibt. Das
städtische Weichbild hat jetzt eine Ausdehnung von etwas
über 56 englischen Quadratmcilen, und der Platz rühmt sich,
die größte Stadt in Amerika zu sein! Die Kolonie steht
in höchster Blüthe und dehnt sich immer weiter aus, nament-
lich an ihrer östlichen Grenze, wo eine ganz neue Ansiedelung
rasch emporblüht. Unter der Leitung eines Kanadiers, mit
Namen Mathew Gage, bildete sich im Winter 1885/86
eine Gesellschaft, welche, ganz unabhängig von der „Riverside
Land- and Irrigation-Company“, namentlich durch Boh-
rungen von artesischen Brunnen, einen bedeutenden Wasser-
vorrath im San-Bernardino-Thale erlangte, der genügte, um
15 000 Acker Land damit bewässern zu können. Dieser
Kanalbau — der durch einen kostspieligen Tunnel bis an
die Grenzen von Riverside geleitete sogenannte „Gage-
Kanal“, dessen Herstellungskosten sich auf eine halbe Million
Dollars beliefen — haben sich vollständig bewährt. Der
Marktwerth der Wüstenländereien, welche durch den Kanal
der Kultur zugänglich geworden sind, und die bis vor
kurzem niemand für den von der Regierung dafür ge-
forderten Preis von IH4 Dollars den Acker kaufen wollte,
ist bereits ans 100 bis 200 Dollars den Acker gestiegen.
Das Unternehmen des mir persönlich bekannten Herrn Gage
steht selbst in Südkalifornien fast beispiellos da. Ohne
jegliche Mittel hat er es fertig gebracht, reiche Banken
in San Francisko und Chicago zu bewegen, das nöthige
Geld für den Kanalbau und den Ankauf der Wüsten-
ländereien vorzustrecken, und ist in weniger als vier Jahren
aus einem blutarmen Uhrmacher ein halber Millionär ge-
worden.
In Riverside wird sehr viel gebaut, sowohl tut Geschäfts-
theile der Stadt als außerhalb derselben. Die Zahl der
prächtigen Landsitze und halbtropischen Anlagen in der
Kolonie hat sich während der letzten fünf Jahre fast ver-
doppelt, und der Werth des Grund und Bodens ist so hoch
gestiegen, daß nur noch reiche Leute daran denken können, sich
dort nieder zu lassen. In diesem Sommer wurde mit dem
Bau eines vornehmen Gasthauses auf dem romantisch in-
mitten der Stadt liegenden „kleinen Rubidoux-Berge“ be-
gonnen, das eins der schönsten in Südkalifornien werden
soll. Leider haben aber die Temperenzler ganzem Orte
die Oberhand gewonnen. Las ich doch im «speisesaale
eines Gasthauses in Riverside die großgedruckte Anzeige:
„No wines or liquor allowed on the tables!“ (Bei Tisch
darf weder Wein noch Branntwein verabreicht werden). Wein-
berge ringsum, deren Trauben aber in Riverside nur zu
Rosinen getrocknet oder roh genossen werden; und bei Tisch
nicht einmal ein Glas kalifornischen Wein zuhaben! Neben
jener Anzeige gewahrte ich zwei andere von Methodisten
und Presbyterianern, worin die geehrten Gäste zu Gebet
und Kirchenbcsuch ermahnt wurden. Mehr kann der ärgste
Mucker gewiß nicht verlangen! Daß ich der schönen
Nankee-Kolonie schleunigst den Rücken zukehrte, wird der
Leser begreiflich finden! 1
Einen interessanten Ausflug machte ich nach dem nörd-
lich von San Bernardino im Gebirge liegenden „Arrow
head Hot Springs“, wo ich mehrere Tage verweilte. Die
Naturmerkwürdigkeit (die Pfeilspitze, im Volksmunde das
Pik-Aß — ace of spades — genannt), wonach jene heißen
Bäder ihren Namen führen, habe ich bereits in einem
früheren Aufsatze erwähnt. Jetzt hatte ich Gelegenheit, sie
in nächster Nähe zu betrachten. Ans dem steil abfallenden
dunkeln Gebirgshange zeigt sich dort eine helle Figur, die
eine Länge von 1320 und eine Breite von 350 Fuß hat
und einer Pfeilspitze täuschend ähnlich sieht — daher der
Name. Die Stelle am Berge, wo das Bild der Pfeilspitze
erscheint, besteht aus weißlichem, verwittertem Quarz und
Hellem Granit und ist mit graugrünen Büschen und kurzen
weißlichen Gräsern bewachsen, wogegen der Boden ans
dem übrigen Theile des Abhanges dunkel ist, und ein
schwärzliches niedriges Gebüsch trügt. Eine Menge Sagen
über diese „Pfeilspitze“ sind im Volksmnnde im Umlaufe,
bei welchen der Teufel und die Indianer eine hervorragende
Rolle spielen. Brigham Poung soll durch einen Kund-
schafter von jener seltsamen Naturspielerei gehört haben, und
er prophezeihte im Anfange der fünfziger Jahre nach Süd-
kalifornien auswandernden Mormonen, daß sie dort, wo ein
Pfeil am Gebirge hänge, ein neues Kanaan antreffen wür-
den. Als die Auswanderer das göttliche Zeichen am San-
Bernardino-Gebirge erblickten, waren sie hoch erfreut und
gründeten in dem nahe liegenden fruchtbaren Thale ihre
neue Kolonie, mit der jedoch der berühmte Mormonen-
Prophet bekanntermaßen nicht viel Glück gehabt hat.
Unterhalb des „Arrow bead“ sprudeln 25 heiße,
schwefelhaltige Mineralquellen aus dem Fclsboden, mit
einem Wärmegrade von 144 bis 194° F. Die natür-
lichen Schlammbäder werden namentlich hoch gerühmt und
gegen Rheumatismus und Neuralgie mit Glück angewendet.
Die Einrichtung der Schlammbäder und die Art und Weise,
wie dieselben genommen werden, ist ganz originell. Die
Felsen sind hier mit einem zwei Fuß tiefen, pechschwarzen
Schlamme bedeckt, durch welchen die heißen Gase aus
Ritzen im Gesteine emporsteigen. Dort stehen in einem
Badehause lange hölzerne Kasten, ohne Boden, worin sich
etwa ein Fuß tiefer Schlamm befindet. In einem solchen
Kasten legen sich die Kranken nieder und werden dann mit
dem 100" F. heißen Schlamm bis an den Mund hinaus
zugeschaufelt. Ein Badewärter feuchtet den im Schlamm-
bade Ruhenden, denen der Schweiß mächtig aus allen Poren
dringt, fortwährend Stirn und Scheitel mit einem nassen
Schwamme an, damit jene nicht ohnmächtig werden. Die
sich aus dem Schlammbadc Erhebenden sehen wie leib-
haftige Teufel aus! Ein Bad in lauwarmem Wasser be-
schließt die Prozedur.
Das sowohl von Fremden als von Kranken viel besuchte
Gasthaus liegt in der Nähe der hübsch eingerichteten Bade-
anstalt. Das stärkste Getränk, das dort für gutes Geld
kredenzt wird, ist aber — Sodawasser, da der Wirth, ein Tem-
perenzler aus Neu-England, seinen Gästen nicht einmal ein
Glas Bier gönnt. Während meines Aufenthaltes in den
„Springs" wunderte ich mich über die vielen länglichen,
sorgsam in Papier eingewickelten Packete, die der Kutscher
des zweimal täglich von San Bernardino anlangenden
Hotelwagens regelmäßig für die Fremden mitbrachte. Ein
Texaner — er wurde stets mit „Colonel“ angeredet! — löste
das Räthsel, als er mich eines Tages geheimnisvoll in sein
Zimmer einlud und dort aus einem derartigen sorgsam ein-
gewickelten Packete eine Flasche Bourbon Whiskey hervor-
holte. Mehrere sehr fromm dreinschauende Amerikaner er-
hielten fast jeden Tag solche Sendungen durch den Kutscher,
der damit ein einträgliches Geschäft betrieb.
34*
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Kürzere Mittheilungen.
Die Aussicht von der Veranda des 6^/2 Meilen von
San Bernardino entfernten Gasthauses ist überaus prächtig.
Tausend Fuß in der Tiefe liegt die weite Ebene mit der
zwischen grünen Bäumen hervorlugenden Stadt San Bernar-
dino, jenseits derselben der ganz abgesondert wie ein Kastell
aufragende Slover Mountain, dessen rechte weiße Ecke wie
abgebrochen aussieht, und am südlichen Horizonte die lange
blaue Linie der Temescal-Range. Gen Westen erstreckt
sich eine mächtige Gebirgsreihe, vom Cajon-Paß und dem
San-Antonio-Pik bis zur Cucamonga- Range; ostwärts
liegen die hochaufragenden San-Jacinto-Berge und in
duftiger Ferne die St. Gregonia-„Plains", wovon jetzt als
Zukunfts-Paradies viel die Rede ist. Ein Blick nach rück-
wärts zeigt hoch oben die „Pfeilspitze" und den breiten
schneebedeckten Doppelgipfel des San-Bernardino-Pik, dessen
höchste, 11 600 Fuß hohe abgerundete Kuppe im Volks-
munde „Old Baldy“ (d. h. der alte Glatzkopf) heißt. In
der Ebene erkennt man die neuen,Ansiedelungen Red Lands
und Lugonia. Es ist dies eine großartige Fernschau, die allein
schon einen Besuch bei den „ Arrow head Hot Springs“ be-
lohnen würde. Das wie auf einer Gebirgsbastion am oberen
Ende der Schlucht erbaute Gasthaus, vor welchem sich zwei
Berglehnen nach dem Thale zu weit öffnen, sollte jeder Fremde,
der in diese Gegend kommt, besuchen, um die Schlamm-
bäder kennen zu lernen und die herrliche Aussicht zu genießen.
Erwähnen will ich noch, daß in der öden Kaktus-Ebene
an der Landstraße zwischen den „Springs" und San
Bernardino eine neue Stadt liegt, an der weiter nichts
fehlt, als — die Häuser. Ich gewahrte dort beim Vor-
überfahren eine Menge zwischen dem Gestrüpp in den
Boden gesteckte Pflöcke, welche die Boulevards und Bau-
plätze dieser Metropole kennzeichnen. - Das Grundeigen-
thum ist dort noch billig. Sobald aber die Drahtseilbahn,
welche nächstes Jahr die „Hot Springs" mit San Bernar-
dino verbinden soll, in Betrieb ist, wird die Nachfrage nach
Eck-Banplätzen in der Kaktuswüste unbedingt sehr lebhaft
werden. Den Namen der großartig geplanten Wüstenstadt
habe ich leider vergessen.
Kürzere Mi
Rundschau über die deutschen Schutzgebiete.
Wer erwartet oder verlangt hat, daß der deutsche Kolonial-
besitz schon in den ersten Jahren seiner Entwickelung und
ohne irgend welche Zwischenfälle und Rückschläge glänzende
Früchte tragen solle, der mußte sich durch die neueren
Nachrichten ans den verschiedenen deutschen Schutzgebiete
arg enttäuscht fühlen.
Sehr trübe lauteten diese Nachrichten vor allen Dingen aus
Ostafrika, bezüglich dessen solche sanguinische Hoffnungen
und Forderungen am allermeisten gäug und gäbe waren, und
dessen Fortschritte bislang am raschesten und ungehindertsten vor
sich zu gehen schienen. Mit dem Sultan von Zansibar war
ein Einvernehmen erzielt worden, durch das die Verwaltung des
ganzen zansibarischen Küstenlandes, das das deutsche Schutz-
gebiet vom Meere trennte, auf fünfzig Jahre in die Hände
der deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft übergehen sollte
(Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 319). Die Tabakernte ver-
sprach unter den Händen williger und fleißiger Arbeiter in
den nenbegrüudetcn Plantagen beträchtliche Erträge. Und man
durfte sich außerdem mit dem Gedanken tragen, durch eine Kette
von Stationen einen offenen Zugang in das Binnenland bis
hin zum Victoria Nyanza und zum Weißen Nil zu schaffen,
nur dadurch den Handel des östlichen Centralafrika durch das
deutsche Schutzgebiet zu leiten und gleichzeitig dem helden-
haften Emin den schwer entbehrten Beistand zu leisten. Da
widersetzten sich die Statthalter des Sultans von Zansibar
in den Küstenplätzen der Ausführung des erwähnten Ver-
trages, da erhoben sich gleichzeitig mehrere Häuptlinge des
Binnenlandes, die ihre Interessen in irgend einer Weise von
den neuen Eindringlingen bedroht sahen — und der stolze
Traum von einem „deutschen Indien" in Ostafrika ging in
Dunst und Nebel auf. Die Gegner jeder aktiven deutschen
Kolonialpolitik jubelten laut, und nicht minder thaten es
die Rivalen im Auslande, denen die kräftigen Schritte
der Deutschen in den überseeischen Gebieten von Anbeginn
allerlei schwere Bedenken erregten. — Was sollen wir nun
dazu sagen, die wir zu den Freunden und Befürwortern der
Kolonialpolitik unserer Regierung gehören, die wir uns aber
t t h e i l u n g e n.
auch eine nüchterne und kritische Prüfung der einschläglichen
Verhältnisse zur Pflicht gemacht haben, und die wir uns
nicht blenden lassen dürfen von den Deklamationen kolonial-
politischer Charlatane? Daß die Lage in Ostafrika eine
ernste war und noch ist, können wir natürlich nicht leugnen.
Ist doch das Blut von Deutschen ebenso wie von Ein-
geborenen geflossen, hat sich doch die deutsche Marine zu
energischem Eingreifen genöthigt gesehen, und sind doch die
Pflanzungen der deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft von
Grund aus zerstört! Nur Bagamoyo und Dar-es-Salaam
befinden sich durch die davor ankernden deutschen Kriegsschiffe
in deutscher Gewalt, während bezüglich aller anderen Küsten-
punkte den Vertrag mit dem Sultan lediglich auf dem Papiere
steht. Die deutsche Ostafrikanische Gesellschaft wird aller
Wahrscheinlichkeit nach harte Verluste zu tragen haben. —
Andererseits aber halten wir die Lage durchaus nicht für
verzweifelt, und wenn die deutsche Regierung ebensowohl mit
Energie als anch mit Vorsicht und Mäßigung gegen die Auf-
ständischen vorgeht — wie es nicht anders zu erwarten ist —,
so wird sie ohne Zweifel alle wesentlichen Positionen halten und
für neue kultivatorische Operationen — die ans besseren und
festeren Voraussetzungen beruhen, als die bisherigen — den
Boden bereiten können. Unabweisbar dürfte die Organi-
sation einer ostafrikanischen Kolonial-Truppe geworden sein.—
Im übrigen mag der thörichte Traum von einem „deutsch-
ostafrikanischen Indien" immerhin aus den Köpfen ver-
schwunden sein, das ist kein großer Schade. So schlecht ist
Ostafrika in seiner Eigenschaft als Wirthschaftsgebiet aber
entschieden nicht, daß wir rathen sollten, es infolge der ge-
machten Erfahrungen ohne weiteres wieder wegzuwerfen und
sich selbst zu überlassen. Die kultnr- und handelspolitische
Position von Zansibar-Bagamoyo halten wir für eine der
wichtigsten am Indischen Ozeane, und wenn von Europa ans
überhaupt jemals an der Aufgabe gearbeitet werden soll, Afrika
von der Gewaltherrschaft der arabischen Sklavenjäger zu be-
freien, so wird an diesem Punkte immer ein Haupthebel ein-
gesetzt werden müssen. Daß Deutschland sich in Ostafrika dabei
militärisch anch nur entfernt in der Weise zu engagiren
269
Kürzere Mittheilungen.
haben werde, wie Italien bei Massaua oder wie England im
Zulu-Lande, halten wir für durchaus unwahrscheinlich.
Dazu ist vor allen Dingen die politische Organisation der in
Frage kommenden Bevölkernngsgruppen eine viel zu lockere
und unvollkommene. — Was den Anlaß zu dem Aufstande
betrifft, so scheinen dabei mancherlei Bestrebungen mitgewirkt
zu haben, die ihre Wurzeln nicht unter den Eingeborenen haben,
und denen in Zukunft zu begegnen sein wird, sobald sie klar
erkannt sind. Eine unleugbare Thatsache ist es, daß sowohl
die englisch-indischen Händler in den Küstenplätzen als auch
die englischen Missionäre im Binnenlande die deutsche Herr-
schaft mit Mißvergnügen betrachtet und zu untergraben gesucht
haben. Ein direkter Zusammenhang des Aufstandes mit
den Bestrebungen der arabischen Sklavenhändler am oberen
Kongo und in der Gegend der großen Seen scheint dagegen
nicht zu bestehen.
Infolgedessen ist auch Deutsch-Witu-Land — sowie
Britisch-Ostafrika — nicht von dem Aufstande berührt worden,
und dort liegen die Verhältnisse also im allgemeinen noch
gerade so, wie sie in dem von uns veröffentlichten Aufsatze
des Herrn Lieutenant Schmidt dargestellt worden sind (Vergl.
„Globus", Bd. 54, S. 129 ff.).
Auch ans dem deutschen Schutzgebiete in der Süd-
see sind aber in den letzten Monaten mehrere Hiobsposten
eingegangen. In erster Linie lassen die von der deutschen
Neuguinea-Kompagnie angestellten Nachforschungen ".keinen
Zweifel mehr daran bestehen, daß die Herren von Below und
Hunstein von der bekannten großen Fluthwelle an der Küste
von Neu-Pommcrn verschlungen worden sind (Vergl. „Globus",
Bd. 53, S. 368). Ferner ist eine Expedition des Assessors
Schmiele auf der Gazellenhalbiusel durch den Verrath und
die Heimtücke der gemietheten Träger in die größte Gefahr
gekommen, und die Theilnehmer sind nur durch die Da-
zwischenknnft der befreundeten Händler Vallender und Duchro
vor dem Untergänge bewahrt worden. Und endlich ist auch
Stationsvorsteher Graf Pfeil auf einer Recognoscirungstour
nach Neu-Mecklenburg auf feindliche Eingeborene gestoßen, und
einer seiner Begleiter hat durch dieselben sogar sein Leben
verloren. Daß solches Verhalten der Eingeborenen sehr dazu
angethan ist, als ein Hemmschuh auf die wirthschaftliche Ent-
wickelung der in Frage stehenden Inseln zu wirken, ist nicht zu
bestreiten. — Haben wir uns aber nicht bei unseren kolonial-
politischen Bestrebungen von vornherein sagen müssen, daß
die Engländer, die Holländer und die Franzosen in ihren
Beziehungen mit den sogenannten Wilden noch viel stärkerem
Widerstreben begegnet sind! Wir dürfen noch immer hoffen,
daß das, was jenen gelungen ist, auch uns gelingen wird —
und vielleicht mit etwas mehr Rücksicht und Menschlichkeit gegen-
über der ursprünglichen Bevölkerung unserer Schutzgebiete. —
Die Kulturen in der Nähe der deutschen Stationen stehen
natürlich noch immer im Stadium des Experimentes, und theils
scheinen dieselben gelungen, theils halb oder ganz miß-
lungen. Etwas definitives läßt sich kaum über irgend eine
sagen, und es wird noch ziemlich viel Geduld nöthig sein,
bevor man von wirklichen Erfolgen reden kann. Zunächst
genügt es, daß für den Anbau zahlreicher wichtiger Kultur-
pflanzen — des Tabak, des Kaffee, des Mais, des Jams,
des Mandioc, der Baumwolle rc. — die Aussichten gute ge-
blieben sind, und daß die Neuguinea-Kompagnie rüstig bei
der Arbeit ist. Bezüglich der Witterung scheint das Jahr
übrigens auf Neuguinea — fast wie bei uns — kein gutes
gewesen zu sein, da Dürre und übermäßige Feuchtigkeit sehr-
schroff mit einander wechselten. — Bei Finschhafen war man
eifrig ans Sanitirung des Ortes bedacht, indem man das
massenhaft in der Umgegend liegende todte Holz verbrannte und
das Unterholz entfernte; und ebenso arbeitete man dort sowie
bei Hatzfeldhafen an der Herstellung von Wegen. Zwischen
Finschhafen und Cooktown besteht nunmehr eine regelmäßige
Dampferverbittdung mit vierwöchentlichen Fahrten, und
ebenso zwischen Finschhafen, Kelana, Konstantinhafen und
Hatzfeldhafen, sowie zwischen Finschhafen, Ralun, Matupi,
Mioko und Kerawara fl.
Bei der im Damara-Lande eingesetzten Bergbehörde
sind mehrere Anmeldungen erfolgt, indessen soll nur die
Lilienthal'sche von höherem Belang sein; dieselbe bezieht sich
außer auf Gold auch aus Silber und Scheelit (wolframsaurcs
Kali). Ueber die Untersuchungen des Dr. Gürich steht der Be-
richt noch aus, und die Expedition des Dr. Schwarz scheint
ergebnißlos verlaufen zu wollen. Die von der westafrikanischen
Kompagnie begründete Export-Schlächterei ist dem Vernehmen
nach auch noch nicht über das Aufstellen der Gebäude hinaus-
gekommen, und kämpft namentlich mit Kohlenmangel. Zur
Aufrechterhaltung der Ordnung bewährt sich die kleine Schutz-
truppe bis jetzt recht gut.
In Kamerun ist Erforschung des Landes durch den
bekannten Ueberfall der Kund'schen Expedition zwar beein-
trächtigt, aber keines völlig lahmgelegt worden, und es stehen
demnächst von den Herren Zintgraff und Weißenborn inter-
essante Berichte zu gewärtigen. Die Borembi-Station, welche
Dr. Zintgraff angelegt hat, besteht bereits aus einem halben
Dutzend Häusern, mit Gemüsegärten und Reisfeldern, welche
eine gute Ernte geliefert haben. Eine zweite Station etwa
150 km weiter binnenwärts anzulegen, war der genannte
Herr im Sommer dieses Jahres im Begriffe.
Die Expedition der Herren Francois und Wolff im
Togo-Lande sind von gutem Erfolge begleitet gewesen, über
die Einzelheiten stehen zuverlässige Angaben zunächst aber auch
noch aus. E. D.
Die Borgänge in Ostafrika.
Da die Erhebung in Ostafrika von hoher Bedeutung in
der Entwickelungsgeschichte der deutschen Kolonien ist, so
geben wir zur Ergänzung unserer vorstehenden „Rundschau"
an dieser Stelle noch die offizielle Darstellung wieder, welche
die „Ostafrikanische Gesellschaft" von der Sachlage giebt.
Dieselbe lautet:
Der Vertrag zwischen dem Sultan von Zansibar und
der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, welcher am 28. April
1888, mit Erlaubniß des Herrn Reichskanzlers, durch den
kaiserlichen Generalkonsul, Dr. Michahelles, vollzogen war,
übertrug die Verwaltung der Küste vor der deutschen In-
teressensphäre an die Deutsch - Ostafrikanische Gesellschaft.
Demgemäß sind seitens der Dentsch-Ostafrikanischen Gesellschaft
alle Maßnahmen getroffen worden, um die Verwaltung an
dem frühesten ihr vom Sultan vertragsmäßig eingeräumten
Termine, nämlich am 16. August 1888, zu übernehmen.
In den Monaten Juli und August 1888 hat der General-
vertreter der Gesellschaft, Herr Konsul Vohsen, gemeinschaft-
lich mit einem arabischen Vertrauensmann und ad hoc
Abgesandten des Sultans die Küstenplätze bereist, und es
sind hierbei die sämmtlichen seitherigen arabischen und
sonstigen Beamten des Sultans von dem Vertrage in Kennt-
niß gesetzt und über seine Bedeutung eingehend belehrt
worden. Diese Belehrung ging insbesondere darauf, daß
unter Aufrechterhaltung der Sitten und Gebräuche der ein-
heimischen Bevölkerung die Deutsch-Ostafrikanische Gesell-
schaft im Namen des Sultans die Administration führe.
Gleichzeitig wurde den seitherigen Beamten des Sultans
freigestellt, zu den bis dahin ihnen gezahlten Bezügen in den
alten Stellungen zu verbleiben. Nach diesen Eröffnungen
haben die sämmtlichen höheren Beamten des Sultans an den
fl Vergl. die „Nachrichten über Kaiser-Wilhelms-Land und
den Bismarckarchipelfl 1888, H. III.
270
Kürzere Mittheilungen.
Küstenplätzen, insbesondere die Malis, nachdem sie anfangs
zürn Theil mit ihren darauf bezüglichen Erklärungen gezögert
hatten, ihren Willen ausgesprochen, ihr Amt unter der
Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft und unter ihren euro-
päischen Ortsangestellten weiterzuführen.
Auf Grund dieser Vereinbarungen mit den seitherigen
Organen des Sultans sah die Deutsch-Ostafrikanische Ge-
sellschaft, welche nach jedem wichtigen Küstenplatze, nämlich
nach Tanga, Pangani, Bagamoyo, Dar - es - Salaam, Kiloa-
Kivinje, Lindi und Mikindani mindestens zwei ihrer deutschen
Beamten entsandt hatte, den: Herankommen des Termins
für die Uebernahme der Verwaltung (16. August) um so
ruhiger entgegen, als der Sultan von Zausibar im Vertrage
vom 28. April 1888 die Garantie für die Verwirklichung
dieses Vertrages und für die daraus fließenden Rechte der
Gesellschaft ausdrücklich übernommen hatte. In betreff des
Vorgehens vom 16. August 1888 an war von der Gesell-
schaft ins Auge gefaßt, daß die Flagge Sr. Hoheit des
Sultans von Zansibar, seinem Hohcitsrechte entsprechend,
vor dem Hause des Gesellschaftsvertreters an den größeren
Plätzen geführt, und daß daneben die Gesellschaftsflagge auf-
gezogen werden solle. Die Uebernahme der Verwaltung
und die Hissung der Gesellschaftsflagge ist an dem wichtigen
Handelsorte Bagamoyo am 16. August 1888 in besonders
feierlicher Weise erfolgt. Gleichzeitig kam es zu Weiterungen
mit dem Mali, welcher die Sultansflagge auch an anderer
Stelle, als an dem Hause des Gesellschaftsvertreters, weiter
führen und das für die deutsche Verwaltung zu Bagamoyo
bestimmte Haus nicht räumen wollte.
Auf Grund der geführten Verhandlungen hat Sr. M. Schiff
„Möwe" am 22. August 1888 zu Bagamoyo Mannschaften
ausgesetzt und den Mali veranlaßt, die Sultansflagge sowie
den Flaggenmast vor feinem Hause herunterzunehmen; ferner
wurde dem Mali durch besondere Ordre des Sultans ge-
heißen, der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft das von
ihr beanspruchte Haus freizugeben. Ter Mali von Pangani
widersetzte sich, ungeachtet seiner vor einigen Wochen über-
nommenen Verpflichtung, die Autorität der Gesellschaft vom
16. August 1888 ab anzuerkennen, dem geplanten Vorgehen
der Gesellschaft in noch ärgerer Weise. Er erklärte, die
Hissung des Autorittttszeichens der Gesellschaft direkt ver-
hindern zu wollen. Der kaiserliche Generalkonsul erwirkte
darauf einen Befehl des Sultans von Zansibar an den Mali
von Pangani, der Gesellschaft zu gehorchen. Nachdem dieser
Befehl durch Sr. Majestät Schiff „Möwe" nach Pangani
übermittelt war, erklärte der Mali, die Flaggenhissung nicht
verhindern zu wollen, indessen verweigerte er die Heraus-
gabe der öffentlichen Gebäude an die nach dem Vertrage
vom 28. April 1888 zu ihrer Inbesitznahme berechtigte
Gesellschaft und insbesondere auch die Ueberlieferung des
Gefängnisses. Es kam hierüber zu lebhaften Auseinander-
setzungen zwischen dem Ortsvertreter der Gesellschaft, Herrn
v. Zelewski, und dem Mali, infolge deren die Anhänger des
Mali zu den Waffen griffen und das Volk in Aufregung
brachten. Am 19. August 1888 früh 6*/z Uhr besetzte
darauf ein Landungscorps von Sr. Majestät Schiff „Carola",
110 Mann stark, mit Landungsgeschütz das Flußufer von
Pangani. Die Truppen umzingelten das Haus des Mali
mtb einige Nachbarhäuser, um den Mali gefangen zu nehmen,
indessen konnten sie hierin einen Erfolg nicht haben, weil
der Mali bereits geflüchtet war. Das energische Auftreten
des Militärs verhinderte alle Ausschreitungen der in drohen-
der Haltung befindlichen Bewaffneten, welche zum Theil ent-
waffnet wurden.
In Lindi, Kilon und Tanga sind gleichfalls infolge der
Haltung der seitherigen Malis sogleich am 16. August 1888
Schwierigkeiten entstanden, während die Verwaltungsüber-
nahme zu Mikindani und Dar - es - Salaam — an letzterem
Orte trotz feindseligen Auftretens des seitherigen Mali —
glatt verlaufen ist. Gegen die Malis von Kilon und Lindi
wurden Befehle des Sultans erwirkt, welche dieselben nach
Zansibar beriefen. Der Generalvertreter der Deutsch-Ost-
afrikanischen Gesellschaft reiste am 29. August persönlich
nach Kiloa und verließ, nachdem die offiziellen Akte zur
Kennzeichnung der Verwaltungsübernahme durch die Gesell-
schaft daselbst am 31. August vollzogen waren, den Ort am
gleichen Tage in der Richtung auf Lindi. In Gemäßheit
des Sultansbefehls bestieg der Mali von Lindi den Dampfer
des Generalvertreters, „Barawa", um sich dem Sultan von
Zansibar zur Verfügung zu stellen, und es wurde mu
2. September auch der Mali des nochnrals angelaufenen
Ortes Kiloa zum gleichen Zwecke an Bord genommen und
am 5. September in Zansibar gelandet. Hier waren in-
zwischen neue beunruhigende Nachrichten von den Gesell-
schaftsbeamten aus Pangani eingegangen, welche den General-
vertreter der Gesellschaft veranlaßten, in Begleitung des in
Diensten der Gesellschaft stehenden Kapitän Holtz von dem
„Jühlke", auf der „Barawa" sofort nach Pangani zu fahren.
Das Boot, mit welchem beide Genannten, nachdem die
„Barawa" auf der Rhede von Pangani Anker geworfen, den
Ort Pangani erreichen wollten, wurde, da es sich dem Lande
näherte, von einer größeren Anzahl ehemaliger Sultans-
soldaten beschossen und mußte unverrichteter Sache umkehren.
Am 6. September 1888 erschien ein Vertreter der Auf-
rührer von Pangani längsseit der „Barawa", um mit dem
Generalvertreter der Gesellschaft zu verhandeln. Dem Ab-
gesandten wurden die friedlichen Absichten der Gesellschaft
und der allgenreine Befehl des Sultans au seine Beamten,
der Gesellschaft zu gehorchen, bekannt gemacht, und es wurde
die Aufforderung daran geknüpft, alle Unternehmungen gegen
das Leben der in Pangani und Tanga befindlichen Gesell-
schaftsbeamten zu unterlassen. Sodann begab sich der
Generalvertreter der Gesellschaft auf der „Barawa" nach
Zansibar zurück. — Inzwischen war Sr. Majestät Schiff
„Möwe", lediglich in der Absicht, das von der Manda-Bucht
erwartete Geschwader aufzusuchen, nach Tanga gegangen und
am 5. September 1888 daselbst angelangt. Der Kommandant
ließ ein Boot aussetzen, um den Zahlmeister behufs Vor-
nahme von Einkäufen ans Land zu entsenden. Das Boot
wurde vom Lande aus plötzlich beschossen. Der Kommandant
ließ sofort mehrere Boote entsprechend bemannen. Es kam
zum Gefecht, bei welchem zwei Matrosen der „Möwe" Ver-
wundungen erlitten, während auf Seiten der Angreifer etwa
dreißig Todte und Verwundete waren. Der Kommandant
der „Möwe" stellte den beiden zu Tanga befindlichen
Beamten der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, den Herren
v. Frankenberg und Klenze, anheim, die „Möwe" behufs
Rückkehr nach Zansibar zu benutzen, indessen lehnten die
beiden Beamten es ab, ohne ausdrücklichen Befehl der Ge-
neralveptretnng von ihren Posten zu weichen. Die „Möwe"
war am 7. September wieder in Zansibar, fuhr aber auf
Bitten des Generalvertreters der Gesellschaft, mit dem kaiser-
lichen Vizekonsul Steifensand an Bord, sofort nach Tanga
zurück, um die beiden Gesellschaftsbcamten an Bord zu
nehmen. Dieselben sind denn auch von einem Landungs-
corps der „Möwe" glücklich erreicht worden. Das Landungs-
corps hat vergeblich versucht, den Mali zu verhaften. Bei
dem Durchsuchen des Walihanses ist ein widerständiger An-
führer niedergeschossen worden, während ein anderer Rebell
als Gefangener mit nach Zansibar geführt wurde.
Der Generalvertreter der Deutsch-Ostafrikanischen Ge-
sellschaft war mit der „Barawa" am 7. September 1888
wieder auf der Rede von Pangani, woselbst er das englische
Kriegsschiff „Algeriae" antraf. Die „Algeriae" hatte am
Aus allen Erdtheilen.
271
gleichen Tage ein Boot mit einem Suaheli-Dolmetscher ans
Land gesandt. Dasselbe war mit Gewehrschüssen empfangen
worden; als der Dolmetscher sich dennoch ans Land begab,
wurde er selbst auf das gefährlichste bedroht, so daß er
fchlennigst zu der „Algeriae" zurückkehrte. Am 7. September
1888 ging das englische Kriegsschiff „Griffin", am 8. Sep-
tember 1888 des Sultans „Silva" vor Pangani vor Anker.
Der letztgenannte Dampfer hatte den Oberbefehlshaber der
regulären Sultanstruppen, Mathews, an Bord. Mathews
begab sich sofort mit seinen Truppen ans Land und berichtete
von dort aus, daß mehrere Tausende bewaffneter Aufständi-
scher in der Stadt seien, daß indessen das Leben der
Beamten der Deutsch -Ostafrikanischen Gesellschaft verschont
geblieben sei. Am Abend des gleichen Tages erschienen diese
Beamten: v. Zelewski, Burchard, v. Hake, Lautherborn und
Mohaupt aus Pangani an Bord der „Barawa", während
Mathews in Pangani verblieben war. Der letztere meldete
am 9. September 1888 aus der Stadt, der Aufruhr sei in
bedrohlichster Weise im Wachsen begriffen, und es bedürfe
der sofortigen Entsendung von drei angesehenen Arabern ans
Zansibar dorthin, um die Rettung von Leben und Eigenthum
der Indier sicher zn stellen.
Soweit gehen die bei der Deutsch-Ostafrikanischen Ge-
sellschaft seither eingelaufenen brieflichen Berichte. Inzwischen
ist ihr telegraphisch gemeldet worden, daß die Beamten
Krieger und Hessel zu Kilon ermordet worden, und daß die
zn Lindi stationirt gewesenen Herren v. Eberstein und Küsel
und die Beamten v. Bülow und Pfrank von Mikiudani
unversehrt nach Zansibar eingezogen sind. Die Mehrzahl der
Gesellschaftsbeamten befindet sich bis auf weiteres in Zansibar.
Die Orte Dar-es-Salaam und Bagamoyo, woselbst Herr
Lene, bezw. Freiherr v. Gravcnreuth das Kommando führen,
sind von der Gesellschaft bisher keineswegs aufgegeben wor-
den. Ueber die demnüchstige Entwickelung können Andeu-
tungen an dieser Stelle nicht erfolgen.
Nach dem vorstehenden zerfällt das meiste von dem, was
über die Ursachen der aufständischen Bewegung und über die
Geschehnisse in Afrika nach dem 16. August 1888 von
anderen Stellen, insbesondere von englischen Zeitungen, be-
richtet worden ist.
Aus allen
Asien.
— Der Gefährte von E. M. James, auf seiner Reise
durch die Mantschurei, Lieutenant F. E. Aounghusband,
hat, nachdem er sich im April 1887 in Peking von der
Expedition getrennt hatte, auf eigene Hand eine Durch-
querung Central-Asiens unternommen und glücklich zu
Ende geführt. Ueber den Nan-kou-schan zunächst nach
Kuku-choto .vordringend, wandte er sich durch die Wüste
Gobi und über das Hurku-Gebirge nach Hami (Chami),
und gelaugte entlang dem Südfuße des Thianschan nach
Turfan, Karaschar, Acksu und Kaschgar, um endlich über
Jarkand und dem Mustagh-Paß nach Indien zurückzu-
kehren. Obzwar sich die Route Aonnghusbands ans längeren
Strecken mit denjenigen Prshewalski's, Carey's rc. deckt, so
ist die Reise in dieser Ausdehnung doch als ein epoche-
machendes Ereigniß in der Asien-Forschung zu betrachten,
und verschiedene Fragen werden durch den zu erwartenden
eingehenden Bericht eine neue Beleuchtung erhalten.
— Graf Anrcp Elmpt ist unweit der Grenze von Siam
(inMein-lang-gji) ein Opfer des Fiebers geworden, so daß
seine Expedition durch den nördlichen Theil des genannten
Landes also gescheitert ist. Von Seiten des deutschen Kon-
sulats sind sofort Schritte gethan worden, um die Samm-
lungen des Reisenden für die deutschen Museen, für welche
sie bestimmt waren, zu retten (Vergl. S. 223).
— Dr. Max Büchner hat eine größere wissenschaftliche
Reise nach Ostasicn und Australien angetreten.
— Bei der ungeheuren Dichtigkeit der Bevölkerung in
Britisch - Indien erscheint es sehr merkwürdig, daß in
diesem Lande die unkultivirte Bodenfläche noch immer
eine so beträchtliche ist. Von den 364 051611 Acres, die
unter dem direkten Regimente der Engländer stehen, waren
bei der letzten statistischen Aufnahme weniger als 50 Proc.
zu Agrikulturzwecken verwendet, obwohl mindestens 75 Proc,
dazu verwendbar wären. Waldflächc besaß Indien nur
40185 729 Acres. Mit Reis bebaut waren 23 114 662
Acres, mit Weizen 19 883 040, mit anderen Körner- und
Hülsenfrüchten 71439 218, mit Baumwolle 9 852 654, mit
E r d t h e i l e n.
Oelsaat 7 678 382, mit Indigo 1034 889 und mit Thee
226 412. Es scheint demnach, daß Indien sowohl noch
einer weiteren starken Steigerung seiner landwirthschaftlichen
Produktion, als auch noch einer bedeutenderen Verdichtung
seiner Bevölkerung fähig ist.
— Mit Rücksicht auf die geographischen Aehnlichkeiten,
welche zwischen Neuguinea und Sumatra bestehen, haben
wir allen Grund, die Erfolge der Hierselbst unternommenen
Kulturarbeiten mit Aufmerksamkeit zu beobachten. Da sind
es vor allen Dingen die Tabakpflanzungen des Deli-
Distriktes, die zn sehr bedeutenden Resultaten geführt
haben, trotz der Mangrove- und Dschungel-Wildniß an der
Mündung des Labuan-Flusses, und trotz des bösen Fieber-
klimas in dem Küstengebiete. Die Zahl der Plantagen, die
vorwiegend in holländischen und deutschen Händen sind,
beträgt gegenwärtig circa 500, und der Jahresexport beläuft
sich im Durchschnitt auf 20 Millionen Pfund, im Werthe
von 40 Millionen Mark am Produktionsorte. Die Deli-
Compagnie allein besitzt 24 große Pflanzungen, die mit
Hülfe von 50000 chinesischen Kulis betrieben werden. Der
Hafen von Belavan, der etwa fünf Kilometer oberhalb der
Mündung des Labuan-Flusses liegt, und der mit den Haupt-
plätzen des Tabakdistriktcs durch eine Eisenbahn in Ver-
bindung steht, hat sich dadurch, daß er den Tabak-Export
ausschließlich vermittelt, in wenigen Jahren zu einem der
wichtigsten Häfen von Nicderländisch-Jndicn emporgeschwungen.
Die Europäer, welche daselbst landen, wagen cs aber beinahe
niemals, eine Nacht daselbst zuzubringen, sondern fahren
immer möglichst ohne Aufenthalt in das höher gelegene und
gesündere Binnenland. Die Eisenbahn herzustellen, hat bei
der schlechten Beschaffenheit des Grundes große Anstren-
gungen gekostet, und auf die Labnan- Brücke allein hat man
circa 1% Millionen Mark verwenden müssen.
— Die einzige chinesische Eisenbahn, die von
Tong-san nach Uung-tsching führt, und die vor allen Dingen
den Kaiping-Kohlenminen als Abzugsstraße dienen soll, hat
sich gut bewährt. Der Personenverkehr auf ihr ist allerdings
schwach geblieben, und namentlich die höheren Stände halten
272
Aus allen Erdtheilen.
sich noch ziemlich streng von ihr fern (es gab nur gegen
1200 Passagiere erster Klasse im letzten Jahre), aber Baumate-
rialien, Kohlen und andere Güter sind in bedeutender Menge
durch sie befördert worden. Man hat deshalb auch keine Be-
denken getragen, die Bahn in diesem Jahre bis Tien-tsin
weiter fortzuführen, und ein erster ernsthafter Schritt, China
mit Schienenstraßen auszurüsten, ist somit geschehen.
Nord- und Mittelamerika.
— Ueber das Nicaragua-Kanal-Projekt enthält die
Zeitschrift „Leionoo" (Vol. XII, p. 158 f.) einen von
zwei Orientirungs-Kärtchen und Profilen begleiteten Aufsatz,
dem wir die folgenden Angaben entnehmen: Der Kanal soll
im allgemeinen der Route folgen, die bereits 1885 aufge-
nommen worden ist, die Untersuchungen des laufenden Jahres
haben aber eine wesentliche Verkürzung der auszugrabenden
Strecke möglich erscheinen lassen. Die Gesammtlänge der zu
schaffenden Schiffahrtsstraße wird demnach 169,67 englische
Meilen betragen, davon werden aber 140,78 Meilen auf
vorhandene natürliche Wasserwege und durch Abdämmung
zn füllende natürliche Becken entfallen — auf das Deseado-
Becken (4 Meilen), das San Franeisco- und Machado-Becken
(11 Meilen), den San-Juan-Fluß (64 Meilen), beit Nicaragua-
See (56,50 Meilen) und das Tola-Becken (5,28 Meilen) —,
und die auszugrabende Strecke wird statt 40,3 Meilen nur
28,89 Meilen lang sein. Die längsten auszugrabenden
Strecken liegen zwischen Greytown (dem atlantischen End-
punkte des Kanales) und dem Deseado-Becken (12,37 Meilen)
und zwischen dem Nicaragua-See und dem Tola-Becken
(8,22 Meilen). Von dem Tola-Becken bis nach Brito (dem
pacifischen Endpunkte) sind es nur 3,50 Meilen, von dem
Deseado- nach dem San-Francisco-Becken nur 3,07 Meilen
und von dem San-Francisco- nach dem Machado-Becken
nur 1,73 Meilen. Zwischen Greytown und dem Deseado-
Becken werden (drei) Schleußen liegen, und ebenso zwischen
dem Tola-Becken und Brito. Die Kosten des Baues sollen
sich durch die Verkürzung der anszugrabcndcn Strecke um
etwa 10 Proc. des ursprünglichen Anschlages vermindern.—
Wenn man erwägt, daß der Hanptmißgriff bei dem Panama-
Kanale darin bestanden hat, daß der geniale Erbauer desselben
einen schleußenlosen Kanal — das Ideal eines Kanales —
zu schaffen wünschte, so erscheint die Ausführbarkeit des
Nicaragua-Kanales, bei dem man die realen Verhältnisse von
vornherein viel mehr ins Auge faßt, in einem recht günstigen
Lichte.
— Das Eisenbahnnetz der nordamerikanischen
Union hatte am 1. Januar 1888 eine Gesammlünge von
149 912 engl. Meilen, so daß es also im Jahre 1887 um
weitere 13 080 Meilen gewachsen ist. Die Dichtigkeit des
europäischen Eisenbahnnetzes wird nunmehr von dem ameri-
kanischen um ein sehr Beträchtliches überragt, und es giebt
sehr zahlreiche Punkte, in denen 12 bis 20 Schienenstraßen
zusammenlaufen. Namentlich ist auch der Süden und Westen
neuerdings beinahe mit allen wünschenswerthen Hauptlinien
versehen worden.
Südamerika.
— Die brasilianischen Militär-Ingenieure Teiles, Mi-
randa und Villeray sind im vergangenen Juni von Cuyaba
aufgebrochen, um das Gebiet des Paratinga zn er-
forschen und diesen Strom womöglich bis zu seiner Mündung
in den Tapajos zu verfolgen. Das betreffende Forschungs-
gebiet schließt sich unmittelbar an dasjenige Dr. Karl von den
Steinen's an, da dieser Reisende den Paratinga in seinem
Quelllaufe an zwei verschiedenen Stellen zn überschreiten
hatte.
B ü ch e r s ch a u.
— Dr. Alfred Hettner, Reisen in den colnm-
bianischen Anden. Leipzig, 1888. Duncker &
Humblot. — Dieses gehaltreiche Büch giebt uns einen
besseren und vollständigeren Einblick in die Natur- und
Kulturverhältnisse Columbiens als irgend ein anderes Buch,
das in neuerer Zeit über das fragliche Land erschienen ist.
Besonders eingehend werden die Flußlauf-Aenderungen utt§ die
Schiffahrt des Magdalenenstromes, die sozialen Zustände der
Hauptstadt Bogota, der Aufbau der columbianischen Cordillere
und die wirthschaftsgeographischen Eigenthümlichkeiten der
Südstaaten Santander, Boyaca, Cundinamarca und Canca
besprochen. Bezüglich des Aufbaues der Cordillere hebt der
Verfasser hervor, daß die Central-Cordillere (in Canca und
Antiqnoja) zwar zahlreiche erloschene und thätige Vulkane
enthalte, daß die Ost-Cordillere (in Cundinamarca, Boyaca
und Santander) aber völlig frei davon sei und vorwiegend
aus sedimentären Bildungen bestehe, sowie daß das Gebirge
im allgemeinen kein eigentlich vulkanisches genannt werden
dürfe. Das Zersetzungsprodukt sei vielfach ein rother Latcrit,
der aber unter Umständen große Fruchtbarkeit besitze. Ueber
den Kulturzustand von Columbien lautet das Urtheil des
Buches: „Columbien bietet weder in Bezug auf die materielle
noch auf die geistige Kultur ein erfreuliches Bild dar, seine
Kultur steht noch weit hinter derjenigen anderer Kultur-
nationen zurück und zeigt auch nur eine langsame Wandlung
zum Besseren." „Die tropische Hitze verbietet dem Europäer
und besonders dem Germanen die Handarbeit und lähmt die
Kraft des Geistes, Fieber und Krankheiten schaden seiner
Gesundheit und kürzen oft sein Leben. Auch die heutigen
Indianer sind diesen verderblichen Einflüssen unterworfen,
nur die Neger und Negermischlinge sind dem Tropeuklima
vollkommen angepaßt." „In Folge verschiedener natürlicher
und historischer Umstände hat sich die Bevölkerung Colum-
biens, mehr als in anderen Tropenländern, im Gebirge und
besonders im Hochlande zusammengedrängt, aber der klima-
tische Vortheil, der dadurch gewährt wird, wird durch andere
Nachtheile ausgewogen" (Schwieriger Eisenbahn-und Straßen-
bau!). „Die wichtigsten Bergwerke wurden nach der Ver-
treibung der Spanier durch Engländer wieder in Betrieb
gesetzt." „Die größten Tabakspflanzungen von Ambalema,
Palmira und Carmen gehören Engländern und Deutschen,
die erste rationell geleitete Chinarinden-Anpflanzung ist ein
deutsches Unternehmen" rc. Deutsche Bauern-Eiuwauderung
ist absolut ausgeschlossen, „geschickte Kaufleute, tüchtige Berg-
leute und Techniker, vielleicht auch vermögende Landwirthe
können dagegen unter günstigen Umständen ihr Glück in
Columbien machen". — Da Dr. Hettner sich augenblicklich
wieder ans einer Forschungsreise in den columbianischen
Anden befindet, so werden wir demnächst wahrscheinlich noch
mehr von ihm vernehmen.
Inhalt: Dr. R. v. Leudenfeld: Der Bergbau in Australien. II. Bictoria. — Victor Giraud's Reise nach den inner-
afrikanischen Seen. XIV. (Mit sechs Abbildungen.) — Theodor Kirchhofs: Südkalisornien im Jahre 1887. III. (Fortsetzung.) —
Kürzere Mittheilungen: Rundschau über die deutschen Schutzgebiete. — Die Vorgänge in Ostasrika. — Aus allen Erdtheilen:
Asien. — Nord- und Mittelamerika. — Südamerika. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 21. Oktober 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deck er t in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herürbsichtrgung der Ethnologie, der Kulturberhältnrsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
N e p a l.
Von Emil S ch l a g i n t w c i t.
Nepal darf sich brüsten, der einzige Staat in Indien,
sa im ganzen weiten Ostasien zu sein, der niemals eine
Fremdherrschaft gesehen hat. Die ruhigen Gebirgsthäler,
im Norden nur durch schwer zugängliche Gebirgspässe
erreichbar, und im Süden durch einen breiten Streifen
Snmpfland bewacht, lagen außer dem Wege der fremden
Völker und Armeen, die sich über die Ebenen von Hindostan
ergossen, oder die im Norden — in Tibet — der Selbst-
verwaltung der buddhistischen Geistlichkeit ein Ende berei-
teten. Dagegen blieben dem Lande Erschütterungen im
Inneren nicht erspart, hervorgerufen durch den Nassen-
gegensatz unter den die einzelnen Thäler und Gebirgs-
abstufungen besetzt haltenden Stämmen, und einer solchen
Umwälzung danken wir die einzig dastehende Gelegenheit,
an Vorgängen in der Gegenwart die geschichtlich denk-
würdige Erhebung der altfränkischen Hausmeier zu Landes-
herren und Königen in ihrer Wirkung beobachten zu können.
Nepal zeigt sich uns in der ältesten Geschichte ausge-
theilt in zahlreiche Herrschaften. Einzelne der regierenden
Familien dürfen ein sehr hohes Alter in Anspruch nehmen.
Ihre eigenen Genealogien zählen bis 470 Ahnen. Die
Forschung ging früher über solche Listen leicht genug
hinweg, stellte sich jedoch neuerdings auf Seite der Ueber-
lieferung, und wenn es auch zu weit gegriffen sein wird,
daß einige dieser Dynastien schon alt genannt werden
konnten, als Moses die Israeliten aus Aegypten führte,
oder die Griechen gegen Troja zogen, so haben wir es doch
Globus LIV. Nr. 18.
unter den Radschputs und Thaknrs der äußeren Himalaya-
Landschaften mit Familien von reiner Abstammung zu
thun, die lieber zu Grunde gehen, als ihrer Standcsehre
zu vergeben. Reichthum darf man bei diesen Geschlechtern
ihres Nichtsthuns wegen nicht erwarten, und diese Verar-
mung durch unberechtigtes Beharren auf Vorrechten des
Gebnrtsadels erleichterte die Uebcrführung Nepals zum Ein-
hcitsstaate.
Sitz der brahmanischcn Bildung und Vorort des Landes
war von jeher Kathmandu. Mitte des vorigen Jahr-
hunderts war der damals regierende Herrscher Randschit
Mallah zur Bewältigung innerer Schwierigkeiten einen
Bündnißvertrag mit seinem Nachbar, dem Gorkha-Fürsten
Prithwi Narayan eingegangen, der für seine Leute Lnntcn-
slinten beschafft und Exercitien nach europäischem Muster
eingeführt hatte. Prithwi war es mit Hülfe seines Volkes,
das noch heute den Ruf vorzüglicher Soldaten genießt, ein
leichtes, der schwachen Herrschaft seiner Bundesgenossen ein
Ende zu machen; er schwang sich selbst auf den Thron, gab
aber damit das Zeichen zu einem jetzt ein Jahrhundert
dauernden, mit größter Grausamkeit geführten Kampfe
unter den Großen des Reiches um den herrschenden Ein-
fluß bei Hos. Krieg mit den Nachbarn und Einverleibung
ihrer Gebiete wurde jeder Partei zum Mittel, sich Anhang
zu verschaffen, und bei den kriegerischen Anlagen des Volkes
waren diese Bestrebungen fast jederzeit von Erfolg begleitet.
Dagegen verlor die königliche Gewalt. Der König wurde
35
274
Emil Schlagt ii tweit: Nepal.
eine Puppe in den Händen der Höflinge. Begünstigt wurde
dieses durch das Hausgesetz, das vor eineinhalbtausend
Jahren aus Indien übernommen worden war, und das darin
gipfelt, daß der Herrscher sich von den Geschäften zu entlasten
und die Leitung der Verwaltung einem Minister — Uparadscha
(wörtlich: Unterkönig) — überträgt, die Militärmacht dagegen
unter einen mit selbständigen Befugnissen ausgestatteten
Oberbefehlshaber stellt. Die Bürgerkriege drehten sich
immer darum, daß die Königin-Mutter für ihre minder-
jährigen Söhne Gefahr vom Minister fürchtete und gegen
ihn den Oberbefehlshaber ausspielte. In solchen Wirren
wurde 1846 Dschang Bahadur als Oberbefehlshaber von
der Königin-Mutter, Rani Radschendra Lakschmi, mit der
Rache für die Ermordung ihres Günstlings -Ministers be-
traut. Dschang Bahadur vollzieht den Auftrag mit großer
Rücksichtslosigkeit, wobei Ströme Blut fließen und wird
selbst Minister. Als solcher erweist er sich aber nicht so will-
fährig, wie die Rani erwartet hatte; sie beschließt, sich seiner
durch Meuchelmord zu entledigen, aber Dschang kommt
dem Anschlage zuvor, läßt seine Gegnerin außer Land
bringen, übernimmt zu seinen Verwaltungsämtern noch die
Würde eines General-Feldmarschalls und weiß im Besitze
einer Macht, wie sie keiner seiner Vorfahren besessen hat,
nicht nur alle Anschläge gegen sich zu vereiteln, sondern
bringt cs dahin, daß der Landesherr eine seiner Töchter
heirathet und eine andere seinem ältesten Sohne zur Ge-
mahlin giebt. 1876 stirbt der König, und der Nesse des
Ministers Dhiradsch besteigt den Thron. Dschang hatte
als Minister der englischen Herrschaft in Indien große
Dienste erwiesen, war auch selbst in England gewesen und
war im Januar 1875 bereits in Bombay zur wiederholten
Einschiffung eingetroffen, um sich von der indischen Kaiserin
für seine Enkel die Anerkennung als Landesherr zu er-
wirken. Erkrankung nöthigte' noch an der indischen Küste
zur Vertagung dieses Planes, und die bösen Vorbedeutungen,
welche die Astrologen aus der verfrühten Rückkehr folgerten,
erfüllten sich, Dschang Bahadur starb 1878. Sein Bruder
rückt in seine Stelle, kann sich aber nur halten um den
Preis der Abgabe des Armee-Oberbefehls an seinen jüngeren
Bruder. Der General und seine Familie gewinnt darauf
die Gewalt im Staate; der Minister wird 1885 ermordet,
und ein Sohn des Generals wird Minister. Beide setzen die
Bestrebungen ihres Vaters fort und erzwingen, daß unterm
23. Juni 1887 die einzige Schwester des Königs eine
unebenbürtige Heirath mit einem mediatisirten Fürsten ein-
geht, damit ihre Nachkommenschaft nicht mehr als Thron-
anwärter aufgestellt werden können. Gleichzeitig werden
die nachgeborenen Söhne des Königs (mit dessen 2lNeben-
frauen) so bedrängt, daß ihnen um ihr Leben bangt und sie
unter englischen Schutz auf britisches Gebiet flüchten. In
den letzten Monaten des abgelaufenen Jahres regen sich
die Anhänger der Verbannten im Lande. Rambir, der
Bruder des Königs, verläßt heimlich Indien, es kommt
zum Tressen zwischen den Regierungstruppen und den An-
hängern Rambirs; die Bevölkerung steht zur Regierung,
der Vertreter Rambirs wird gefangen und in einem Käfig
nach der Landeshauptstadt gebracht, der Oberst-Komman-
dirende aber begiebt sich nach Kalkutta und wird hier wohl-
wollend empfangen, denn die indische Regierung verharrt
bei ihrem Grundsätze der Nichteinmischung in die inneren
Händel des Nachbarreiches. Den Höflingen bleibt noch die
wichtige Frage der Verheirathung des Königs zu ordnen,
eine bei seiner Jugend — er ist erst zwölf Jahre —, A bei
der abgöttischen Verehrung, welche das Volk ihrem Adi-
radscha — d. i. Urkönig — zollt, und bei der Unmöglich-
keit, unter indischen Fürstenhäusern um eine Prinzessin
zu werben, sehr schwierig zu ordnende Angelegenheit. Ge-
lingt es wieder, eine Blutsverwandte der Dschang-Bahadur-
Familie zur Königin zu machen, dann ist die letzte Stufe
erreicht, und durch Palastumwülzungen, verbunden mit Aus-
nutzung des errungenen fürstlichen Ranges, ist das angestammte
Haus der Urkönige durch die Familie der Nebenkönige ersetzt.
Die Gestaltung des Landes ist ebenso ungewöhnlich, als
die Regierungsform. Nepal trägt ans seinem Gebiete den
höchsten Berggipfel der Erde. Den Nordrand des Reiches
nimmt der mittlere Theil des Himalaya-Gebirges ein. Die
mythologischen Vorstellungen, die sich an diesen Gebirgswall
in den indischen Ebenen knüpfen und seine Gipfel zu
Sitzen ihrer obersten Gottheiten machen, sind den Gebirgs-
bewohnern wohl niemals völlig eigen geworden; der indische
Buchname des Hochgebirges ist bei den Nepalesen nicht
gebräuchlich geworden, sie nennen es einfach Schneekette,
mit Worten, die theils Hindostani sind und von den Händlern
der Ebene angenommen wurden, theils der tibetischen
Sprache angehören und von den Anwohnern im Norden
gegeben wurden. Der höchste Punkt in diesem Firn-
meere, das bei günstigen Aussichtspunkten Gebirgspano-
ramas mit einer ununterbrochenen Reihe von Schnee-
bergen aus der gewaltigen Ausdehnung von über fünfzig
Längengraden bildet, liegt unterm 27° 59' nördl. Br.,
86« 54,7' östl. L. v. Greenw.; er erhebt sich zu 8840 ui
Höhe und trägt verschiedene Namen, je nachdem man ihn
von den Anwohnern im Süden oder Norden nennen hört.
Als die Beamten des indischen Vermessnngsamtes gegen
Schluß des Jahres 1849 von der neugeschaffenen Grund-
linie am Fuße des Himalaya-Gebirges 79 Gipfel im fernen
Nepal festgestellt und deren Höhe trigonometrisch mit einer
Genauigkeit bestimmt hatten, daß die Messung höchstens
infolge von Strahlenablenkung um ein bis zwei Meter zu
niedrig ausgefallen sein kann, nannten sie den gemessenen
Bergriesen zunächst Nr. 15, dann Mount Everest zur Ver-
ewigung der Verdienste des langjährigen Vorstandes des
Vermessungsamtes, der dasselbe in Indien auf wissenschaft-
licher Grundlage eingerichtet hatte. Dieser Name fand An-
feindung in England wie in Indien, auf dem Kontinente von
Europa hatte sofort der eingeborene Name Gaurisankar Auf-
nahme gefunden, nachdem mein Bruder Hermann 1857 unter
ausnahmsweise günstigen politischen Verhältnissen, die bis
heute nicht mehr wiederkehrten, Zulassung in Nepal gefunden
und dort diesen Namen als denjenigen ermittelt hatte, den die
Gebildeten des Thales Kathmandu dem Berge beilegen. Die
Nothwendigkeit, der schwankenden Bezeichnung nach dem in
den einzelnen Nationen vertretenen Standpunkte ein Ende
zu machen, kam 1886 in England wiederum zur Sprache;
hierbei wurde außer Zweifel gestellt, daß der Berggipfel
Nr. 15 derselbe ist, auf den sich in Nepal die Erkundi-
gungen meines Bruders bezogen. Mein Vorschlag, den
Vorgängen auf anderen Gebieten geographischer neuerer
Entdeckungsreisen zu folgen und die beiden Namen zu ver-
binden, ist an anderem Orte begründet worden.
Der Himalaya bildet gegen das im Norden anstoßende
Tibet nicht die Wasserscheide, und auch nicht die politische
Grenze des Reiches. Zahlreiche Flüsse durchbrechen das
Gebirge; längs ihrer findet der Ausstieg in meist gut
bewässerten und im Sommer mit Viehheerden bezogenen
Thalgründen statt, und werden nach Ueberschreitung der
Thalschlüsse die Hochthäler erreicht, die sich am Nordabhange
des Himalaya bis zur wasserscheidenden Kette erstrecken und
das Hochland Tibet bilden. Der Nordrand des tibetischen
Beckens trägt als Gebirge im Westen einen türkischen Namen
und ist weltbekannt als Karakorum. Nepal liegt in der
Mitte des langgestreckten Randgebirges, das Indien von
Jnnerasien trennt; seine Anwohner im Norden sind Tibeter,
und diese nennen das Nordgebirge „Nycmtschen Thangla",
Emil Schlagintweit: Nepal.
275
„Stcppenpaß der großen Wildniß", abgekürzt „Thangla",
„Steppenpaß". Die englischen Geographen gebrauchen
für die Kette den Namen Gangri.
Nepal ist durchweg Gebirgsland. Die südlichen Pro-
vinzen nehmen noch Theil am Klima und an den Erzeugnissen
der indischen Ebene. Der Bambus erreicht noch riesige Höhe,
und Farrenkräuter bedecken den Boden der dichten Fichten-
und Eichenwaldungen. In den weiten Thälern reifen Zucker-
rohr und Orange. Das Klima ist feucht und begünstigt den
Anbau aller Getreidearten, den Reis mit eingeschlossen.
Die Waldungen beherbergen allerart Wild, namentlich
auch Tiger und wilde Elephanten. Dieser Gürtel hat
eine Breite von 40 bis 50 km. Dann folgt auf 130 bis
150 km Breite das Gebiet der Vorberge. Eigenthümlich
ist diesem Abschnitte des Himalaya, daß alle Flußsysteme
ihre Grundlinie gegen die Ebene, die Spitze gegen das
Hochgebirge gelehrt haben; die von der Hauptkette aus-
lanfendcn Ketten nehmen deshalb eine Lage an, parallel
zur Ebene. Dabei erheben sich diese Ketten selten über
2500 rn Höhe und schließen breite, seebeckenartige Thäler
ein von anfangs 1000, höher hinauf 1200 bis 1300m
Höhe. Erst wenn inan sich der Hauptkette nähert, steigen
die Berge rasch und gewaltig an; die Seitenkämme der
Thäler fallen nicht mehr unter 3000 m, und den steilen
Aufbau der oberen Thalhälften kennzeichnet es, daß die Kar-
nali (Gogra) in den ersten 16 km ihres Laufes auf den
Kilometer 62 m Gefäll erhält. Die Kammlinie der Schnee-
berge ist durch starke Einschnitte unterbrochen, und die beeisten
Berggipfel stehen gruppenweise beisammen. Diese Tren-
nung der Hochgebirgslinie durch tiefe Einsattlungen und
Flußläufe ist eine Eigenthümlichkeit des Himalaya, und
nördlich davon, in Tibet, nicht mehr anzutreffen. Die Ur-
sache dieser Erscheinung liegt in starken Niederschlägen,
denen das Gebirge ausgesetzt ist. Für Nepal-Sikkim
schreibt hierüber der beste Kenner dieser Verhältnisse, Dr.
Eampbell: „Der Schnccfall ist viel größer im Himalaya,
als in Tibet, und infolge der größeren Feuchtigkeit und
der Bewölkung des Himmels wird er durch Verdunstung
nicht so rasch verzehrt, wie auf der tibetischen Seite, wo
vom schmelzenden Schneefeldc kein Wasserfaden abläuft.
Sodann fällt der Schnee in Tibet in leichten, Federbart-
theilen ähnlichen Formen, nicht in massigen Flocken." Die
Schneelinie, oder die Grenze, bis wohin im Sommer der
Schnee abschmilzt, während darüber ewiger Schnee liegt,
beträgt für Nepal auf dem Siidabhangc des Gebirges
4600 m, auf dem Nordabfalle dagegen 6000 m. Im
Winter fällt aber in Nepal Schnee regelmäßig bis 1600 m
herab, ja er ist vereinzelt in den Straßen von Kathmandu
bei 1200 m beobachtet worden. Das Klima ist ein kon-
tinentales, jedoch gemäßigter, als in gleichen westlichen
Breiten. So liegt Kathmandu unterm 27^/z" nördl. Br.,
also südlicher wie Kairo, erfreut sich aber eines Klima,
lute es den Süden von Europa auszeichnet. Die mittlere
Jahrestemperatur kommt Neapel gleich; im Sommer
schwanken die Durchschnittsziffern des Thermometer zwischen
22 und 23" N. (= 271/2 — 29" C.); bei Sonnenaufgang
ist es meist 8"R. (— 10" C.) kühl, und abends sinkt die
Luftwärme auf 13 bis 14"R. (16 bis 17" C.). Steigt
man die Flußthäler empor, so hat die Hitze von Nepal
binnen wenigen Tagen der Frische unserer Alpeuhochthälcr
Platz gemacht.
Dem natürlichen Wachsthum und dem Felderertrag
sind heftige Sommerregen sehr günstig. Reis braucht viel-
fach nicht bewässert zu werden, sondern gedeiht im herab-
geschwemmten, von Grundwasser feucht gehaltenem Boden
am Fuße der Bergkümme; die Abhänge sind zu Terrassen
angelegt und für Bewässerung hergerichtet. Außer an allen
Getrcidearten ist für die Ausfuhr Ueberschuß an Reis, Ingwer,
Krapp und Kardamonen vorhanden; für den Hausbedarf
wird Baumwolle und in großen Mengen Tabak gezogen;
ein Sprüchwort sagt: Zeige mir den Mann, der leben kann
ohne Tabak zu kauen oder zu rauchen. Bei allen Kulturen
leistet der Boden sehr viel, Arbeit wenig; denn der Bauer
behilft sich mit den einfachsten Gerüthcn und gebraucht
als Düngungsmittcl nur Wasser. Die Alpentriften werden
von den Hirten fleißig abgesucht nach Medizinal- und
Farbkräutern. Besonders begehrt ist die Pflanze „Dschia",
eine Nesselart; die ausgepreßten Blätter liefern einen
berauschenden Saft, die Fasern der Stengel werden zu
grobem Tuch gewoben, und die ganze Pflanze hat Zauber-
kraft gegen den bösen Dämon, der den Menschen mit
Krankheit überzieht. Alpcnweide gibt cs nur für Schafe,
von denen große Mengen gehalten werden; überwintern
läßt man die Thiere in den äußeren Thälern. Kühe
und Büffel bilden das Arbeitsvieh in den Ackerbaugegenden.
Die Thierarzneikunde liegt sehr im argen; gegen Trockcn-
werden der Kühe bei Verlust des Kalbes wird ein Kalbfell
mit Stroh ausgestopft und vor das Thier zur Melkzeit ge-
stellt; nimmt cs das Salz an, das über die Puppe gestreut
wird, so gilt dies als Zeichen, daß die Kuh bei Milch bleibt.
Seine Industrie führte Nepal 1886 in London bei der
großen indischen Ausstellung vor. Entsprechend dem Cha-
rakter als Gebirgsland, dessen Bewohner mit den ^Nachbar-
ländern wenig Verkehr unterhalten dürfen, ist die Gewerbe-
thätigkeit in der Entwickelung zurückgeblieben. Dafür verspricht
Nepal später, wenn es einmal Europäern zugänglich wird,
ein ebenso dankbares Feld zur Beobachtung des Gebrauches
von alten, meist kunstlosen Gerüthcn in den verschiedenen
Handwerken zu werden, wie cs jetzt in Indien Radschputana
ist. Die alte, hölzerne Zuckermühle, die im anstoßenden
Bihar durchgchends so allgemein durch eiserne Maschinen
englischer Bauart ersetzt war, daß 1885 kein einziges
Exemplar mehr auch nur zu einer Zeichnung aufzufinden
war, ist hier noch allein bekannt; dasselbe gilt von den Haus-
gcräthen zur Bearbeitung der Baumwolle und von dem
Vorrechte der Brahmaneufrau, daß feine Fäden nur von
ihrer Hand gesponnen werden dürfen. Meister sind die
Nepalesen in der Holzschnitzerei, doch scheint diese Kunst
zurückzugehen, seit sie nicht mehr von der Liebhaberei des
Hofes getragen wird. Eine Landeseigenthümlichkeit ist der
Guß von Geräthen, Statuetten, Schalen, Glocken, Weih-
rauch-Gefäßen und anderen gottesdienstlichen Gegenständen
aus Messing; die Gußformen bilden einen Schatz der Werk-
leute, den diese sorgsam hüten. Mein Bruder Hermann
brachte eine hübsche Auswahl solcher Fabrikate mit, die jetzt
im Völkermuseum zu Berlin aufgestellt sind.
35*
276
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen See».
XV. (Schluß-AnM.)
(Mit sieben Abbildungen.)
In dein von allen Weißen verlassenen Livingstonia traf
Giraud unerwarteter Weise mit Montagu Kerr zusammen,
der eine lange Reise von Kapstadt nach den Diamanten-
feldern von Kimberley, und von dort nach Tete (am Zam-
besi) und dem Nyassa-See ausgeführt hatte, und soeben auch
erst angekommen war — entblößt von allen Hilfsmitteln.
Die gleiche Lage brachte die beiden Reisenden einander rasch
nahe, und sic faßten den Beschluß, den Schire und Zambesi
hinab in Gesellschaft nach Ouilimane zu reisen.
Nach zweitägiger Rast in Livingstonia brachte sie die
„Jtala“ an den Schire-Ausfluß, der keineswegs leicht auf-
zufinden war, weil der Nyassa im Süden in einer ungeheuren
sumpfigen Binsen-Ebene endigt. Anfangs erhebt sich die
Livingstone- Kette etwa 30 km östlich aus derselben heraus,
allmählich verschwindet dieselbe aber, und es bleibt nichts als
diese Ebene übrig, durch die der Schire fein Wasser dem Zam-
besi zuwülzt (S. Abbildung 1). Die Fahrt auf dem Strome
ist auf diese Weise äußerst eintönig und langweilig, und
viel zu schildern würde es auch selbst dann nicht geben, wenn
Livingstone sich nicht bereits eingehend über ihn verbreitet
hätte. Wo der Strom interessant wird, da muß das Boot
verlassen werden — nämlich bei feiner etwa 40 Meilen
langen, unschiffbaren Stromschnellen-Strecke, die auf dem
Landwege umgangen werden muß. Der bcmerkenswerthcste
Gegenstand oberhalb der Schnellen ist der Pamalombe-See,
zu dem sich der Schire erweitert. Die Tiefe des Flusses
beträgt etwa 2 m und reicht für den „Jtala“ gerade zu.
Daß über dem Sumpfe eine feuchte und schwere Atmosphäre
lagert, und daß demselben sehr ungesunde Dünste entsteigen,
versteht sich von selbst. Die höheren Stellen, die an den
Hauptwindungen des Schire liegen, sind aber trotzdem
allenthalben mit leichten Hütten bestanden, die Bevölkerung
ist eine vcrhältnißmäßig dichte, und zahlreiche Leute — dar-
unter viele Zansibaritcn und Araber — kommen herbei,
sobald sic die Flintenschüsse vernehmen, um das Boot vor-
überfahren zu sehen. Sehr reich ist auch die Fauna in der
Sumpfgegend, und namentlich sind zahllose Flußpferde und
Krokodile zu bemerken. Etwa halbwegs zwischen dem Schirc-
Ausfluß und Matope erheben sich in einiger Entfernung felsige
Hügel im Osten des Flusses.
Spät abends kamen die Reisenden in Matope, dem
Endpunkte der Schiffahrt, und einer Hauptstation der
„Lakes Company“ an, um daselbst in einem Schuppen,
der zugleich als Waaren - Niederlage diente, Unterkunft zu
finden — umtönt von dem Gegrunze der Flußpferde und
von dem Gesumme der Moskitos, sowie nebenbei von fernem
Löwengebrüll. Der Ort selbst zählt kaum zwanzig Hütten
und hatte nicht eine hinreichende Zahl „Pagazi“, um das
Gepäck nach Katunga, das unterhalb der Schire-Schnellen
liegt, zu befördern. Die Reifenden mußten also warten,
bis solche von Mandala — der englischen Station mittwegs
zwischen Matope und Katunga — requirirt worden waren. Der
Aufenthalt wurde ihnen nicht lang, da er eine ausgezeichnete
Gelegenheit zu größeren Jagdausslügen gab. Büffel, Zebras,
Springböckc, Kobes und Eber waren sehr zahlreich und in der
gerade herrschenden Trockenzeit auch leicht genug zu beschleichen.
Am 17. Oktober kamen die Träger an, mit ihnen zugleich
aber auch schlechte Nachrichten von Herrn Moir, dem Direktor
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
277
der „Talros Company“. Die ganze untere Schire-Gegend
befinde sich im Kriegszustände, hieß es in seinem Briefe,
und infolgedessen sei die Kommunikation mit Quilimane
unterbrochen. Eine baldige Wiederherstellung des Friedens
sei ja zu erwarten, aber die Blockade könne immerhin noch
ein paar Monate dauern.
Da es kein Vergnügen war, länger als ein paar Tage
in Matope sitzen zu bleiben, so erfolgte trotzdem der Auf-
Blantyre.
bruch nach Mandala. Auf hügeligem, bewaldetem Lande
stieg man etwa 200 m empor, um daselbst den angenehmen
Gegensatz zwischen reiner, frischer Luft und miasmen-
gcschwüngertcr Snmpsluft bei jedem Athemzuge zu empfinden.
Wasser zum Trinken gewährten nur ein paar Bäche, und
das nächtliche Lager wurde von Hyänen umschwärmt.
Das Grabmal Tschepetulas.
In Mandala oder Blantyre, das nur wenige Jahre
besteht, fanden die Reisenden wieder all den Komfort und
all die Sauberkeit, durch die sich die englischen Ansiedelungen
auszuzeichnen Pflegen. Die Umgebung des Ortes, der ant
Fuße einer Bergmasse liegt, ist noch wenig kultivirt, aber
sehr gesund. Das Missionsgebäude und das Konsulat
sowie ein Dutzend anderer Häuser gruppen sich um eine
von Eukalypten eingefaßte geradlinie Straße, und das Ganze
macht einen überaus freundlichen Eindruck (S. Abbildung 2).
Die Gärten sind tadellos gepflegt, und das Strohdach der
rothen Ziegelhänschen ist eigentlich der einzige Charakterzug,
der einen daran erinnert daß man noch immer in Afrika
schekussa und seine Umgebung.
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen
279
ist. Die Reisenden fanden nicht weniger als zwölf Europäer-
in Blantyre, darunter zwei Missionäre, einen Arzt und
mehrere Handwerker. Der Konsul Foot war soeben ge-
storben, und seine Frau wartete mit drei unmündigen Kin-
dern darauf, daß die Verbindung mit Quilimane wieder
frei wurde, um nach Europa zurückzukehren.
Die Reisenden nahmen Quartier bei Herrn Moir, dein
Direktor der „Lakes Company“, der in Mandala wohnte —
nur etwa einen halben Kilometer von Blanthre entfernt,
und von dort ans auf einer schönen Eukalypten-Allee zwischen
Kaffee- und Ananaspflanzungen zu erreichen. Außer dem
großen Hause des genannten Herrn bestand dieser Ort
namentlich noch aus verschiedenen Magazinen und einer
Sägemühle.
Die Entwickelung der Kolonie wurde sehr gehemmt
durch die Eifersucht, die die Portugiesen gegenüber den Eng-
ländern zeigten, sowie durch verschiedene Mißhelligkeiten mit
den Häuptlingen am unteren Schire. Von einem der letzteren,
dem Makololo-Hüuptlinge Tschepetula, in arger Weise pro-
vocirt, hatte ein Beamter der „Cake« Company“ denselben
erschossen, und daraus war eine schlimme Empörung gegen
die Engländer entstanden. Als Herr Foot dieselbe mit
vieler Mühe beigelegt hatte, geriethen die Portugiesen von
Zambesi ans mit einem anderen Stamme in Krieg, und
dieser tobte eben noch, und die Eingeborenen machten zwischen
Portugiesen und Engländern keinen Unterschied. Zwei
Boote, die man hatte hinab fahren lassen, waren voll-
kommen ausgeplündert worden.
Leviathan und Tricolour.
Die Reisenden hätten nun zwar in etwa 25 Tagereisen auf
dem Landwege nach Quilimane gelangen können, eine solche
Tour ließ aber die schlechte Ausrüstung mit Schuhwerk nicht
rathsam erscheinen. Es wurde daher nach kurzem Ueberlegen
beschlossen, trotz dem Kriege den Schire und Zambesi hinab
zu gehen. Ein Boot zu diesem Vorhaben zu erlangen, war
freilich schwer genug, doch gelang es endlich den Anstren-
gungen des Herrn Moir, der zu diesem Zwecke persönlich
nach Katnnga ging.
Die Zeit, welche Giraud und Kerr in Blantyre zuzu-
bringen hatten, wurde theils zur Jagd auf Büffel, theils zu
verschiedenen Beobachtungen benutzt. Die natürlichen Be-
dingungen der Kultur sind an diesem Orte ebenso wie in
den meisten anderen Gegenden an den großen Seen keine
günstigen. Der Boden ist felsig und schlecht zum Reis-
nnd Weizenbau geeignet, dazu fehlt es an eingeborenen Ar-
beitern, und obendrein wollen die Heerdenthiere nicht fort-
kommen. Wie ganz anders lagen die Verhältnisse bei der
Besiedelung und Kultivirung Amerikas durch die Europäer!
Und was will es dagegen "sagen, daß der Kasfeebaum bei
Blantyre vorzüglich gedeiht, und daß seine Frucht von aus-
gezeichneter Qualität ist! An Hausthieren besaß die Kolonie
allerdings auch eine größere Zahl von Schweinen, Enten
und Gänsen — Thiere, die man anderweit in Afrika selten
sieht. Ziegen gab es trotz den Verwüstungen, die der Leo-
pard unter ihnen anrichtet, ebenfalls in großer Zahl.
Als die Reisenden im Begriff waren, nach Katnnga
aufzubrechen, setzte gerade die „Massika“ ein, die Atmo-
sphäre belnd sich reichlich mit Elektricität, der Himmel be-
wölkte sich stark, und Nachmittags strömten heftige Regen-
280
Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen.
güsse nieder auf die Erde. So wohlthätig nun diese letzteren
im allgemeinen auch wirken, so sehr war doch von ihnen
eine weitere Verzögerung des Marsches zu fürchten. Man
mußte sich also beeilen, und der Abstieg von dem etwa
1000 IN hohen Plateau von Blantyre nach dem nur noch
100 in hoch gelegenen Katunga wurde in zwei Tagen be-
werkstelligt, zum Theil durch dichte Nebel und unter sünd-
fluthartigem Regen.
In Katunga angekommen, sah man, daß das von dem
Häuptlinge Kasese zur Verfügung gestellte Boot zwar wohl
gebaut und genügend lang, aber zur Beförderung des ganzen
Gepäckes zu schmal war, und man sah sich deshalb genöthigt,
noch ein zweites kleineres dazu zu miethen. Außerdem ver-
ursachte eine nachträgliche Mehrforderung seitens Kasese's noch
einen weiteren Aufschub von vierundzwanzig Stunden. Für ge-
wöhnlich vermittelte in der Regenzeit die „Lady Nyassa" den
Verkehr von Katunga abwärts, infolge häufigen Strandens
war dieser Dampfer aber nicht mehr dazu brauchbar, und
so lag er ruhig auf dem User, feines Nachfolgers harrend.
Am 1. November waren die Reifenden unterwegs auf
dem Flusse, Kerr im großen, Girand im kleinen Boote. Die
Sonne brannte über Mittag heiß vom Himmel herab, und
die Moskitos summten ärger als je; dazu fuhr man auch
häufig auf Sandbänke auf, und es war zuweilen schwer, die
Ruderer in das Wasser zu bringen, um das Boot wieder
flott zu machen, weil sie sich vor den Krokodilen fürchteten.
Die Nacht verbrachte man in dem Dorfe Tschekussas,
des Sohnes Tschepetulas, das am linken Ufer des Flusses
Portugiesische Flottille.
liegt, und das durch nichts merkwürdig ist als durch das
riesige Grabmal Tschepetulas, das sich unter einem hohen,
strohbedeckten Schuppen befindet (S. Abbildung 3). Auf
dem rechten Ufer tritt der Sumpf wieder in feine Rechte
ein. — Tscheknssa ist ein junger Mann von 18 bis 20
Jahren, mit falschem Blick und wenig einnehmenden Zügen.
In der Mission erzogen, und des Englisch - Schreibens
kundig, trägt er Jacke und Beinkleider in europäischer Weise,
und nur das Hemd spart er sich, weil das Waschen desselben
eine zu schwierige Operation ist (S. Abbildung 4). In
der Nacht wurde der Hut und die Theekanne Kerr's von
irgend einem aus der Umgebung Tschekussas gestohlen, was
bemerkenswerth ist, weil die persönlichen Bedarfsgegenstände
im allgemeinen von den afrikanischen Dieben respektirt
werden. Girand erhielt aber von dem Häuptlinge ein
hübsches Boot, das von Kerr „Tricolour" getauft wurde,
zum Unterschiede von Kerr's Boote, das man „Leviathan"
nannte, und am 2. November ging die Fahrt weiter, meist
zwischen morastigen Ufern dahin. Am Abende schoß Kerr
am Rande eines großen Palmenwaldes drei Kobes, und
auf diese Weise gab es einen guten Braten, zu dem man
sich den Palmwein vortrefflich munden ließ. Hielte sich
dieses letztere Getränk länger, und wäre es verdaulicher, so
würde es sich vielleicht sehr verlohnen, cs nach Europa zu
versenden.
Am 3. November wurde der sogenannte Elcphanten-
sumpf passirt (S. Abbildung 5), wo die beiden Reisenden
getrennt der Jagd nachgingen, Kerr hinter einer großen
Elephantenheerde her, und Giraud hinter einer ganzen
Schaar von Nilpferden. Am Abende trafen sie sich dann
Victor Giraud's Reise noch den innerafrikanischen Seen.
281
wieder in einem großen Makololo-Dorfe an der Vereinigung
des Ruo mit dem Schire, das Chiromo heißt, und das den
Grenzpunkt zwischen dem Gebiete der „Untres 6omx>an^"
und dem der Portugiesen bildet. Hier fanden sie Alles in
großer Aufregung, denn es war soeben die Nachricht ein-
gelaufen, daß die Portugiesen einen entscheidenden Sieg
über die Massengeries (Masindschiri) erfochten und die
Dörfer dieses Stammes sämmtlich zerstört hätten. Die
portugiesischen Vorposten stünden nunmehr nur noch ein
paar Stunden von dem Dorfe.
Ein längerer Aufenthalt Hierselbst schien trotzdem nicht
rathsam, und die Reisenden wünschten so bald als möglich
aus dem Regen und ans den Moskito-Schwärmen heraus
zu kommen. Die Bootsleute waren durch Kriegsnachrichten
aber dermaßen in Schrecken gesetzt, daß sie nur gezwungen
zu ihren Stangen griffen, und daß auf sie in irgend einem
kritischen Augenblicke sicherlich kein Verlaß war. Endlich
ging es vorwärts, und am 6. November befand man sich
auf dem Schauplätze der Feindseligkeiten. Der Fluß war
etwa 200 bis 300 Meter breit, und seine Ufer erhoben sich
etwas höher und waren zum Theil von schönen Bäumen
begleitet, hinter denen sich mit Riesenkräutern und ver-
einzelten Bäumen bewachsene Ebenen ausdehnten. Dörfer
sah man nicht, wohl aber einzelne Banden von Kriegern
und Flüchtlingen, und wiederholt wurden die Reisenden in
unbekannter Sprache angerufen. Bei einem Dorfe gingen
sie ans Land, und von dem Häuptlinge desselben, Bararika,
erfuhren sie, daß sie sich unmittelbar gegenüber den portu-
giesischen Streitkräften befänden, die im Begriffe zu sein
schienen, wieder zurückzugehen. Es sei ihnen gestattet, die
Linien zu passiren, aber sie würden schwerlich einen guten
Empfang zu gewärtigen haben, sobald die Portugiesen
merkten, daß sie cs mit Engländern zu thun hätten. That-
sächlich handelte cs sich ja bei der Bezeichnung „Portugiesen"
keineswegs um Europäer, sondern um allerlei vom oberen
Zambesi zusammengerafftes Volk, das von Mischlingen ge-
führt wurde.
Kerr, der fließend portugiesisch sprach, ging über derüFluß,
um mit dem portugiesischen Kommandanten zu unterhandeln,
und dieser letztere machte auch kaum irgendwelche Schwierig-
Quilimane.
leiten. Da kam es im Augenblicke, als Kerr, begleitet von
einem Krieger aus dem feindlichen Lager in das Dorf
Bararika zurückkam, noch zu wilden Demonstrationen in
diesem Orte. Man wollte den einzelnen Feind zerfleischen,
und die Wuth, in die man sich hineinlärmte, dehnte sich
auch auf die Reisenden ans, die den Mann beschützten, um
so mehr, als dieser letztere sich herausfordernd genug benahm.
Da das angestellte Palaber zu keinem Resultate führte, sah
nian sich genöthigt, in einer Hütte Deckung zu suchen. Die-
selbe wurde dann ein paar Stunden von den Wilden um-
tost und mit Lanzen beworfen, zuletzt gelang es aber dem
Häuptlinge doch, die Ruhe wiederherzustellen.
Als am anderen Morgen die Reise ungehindert weiter
gehen sollte, ergab cs sich, daß die Bootsleute des „Tricolour"
davon gelaufen waren, so daß nur die von den Blattern
hergestellten Wangwana übrig blieben, um das Boot unter
großer Mühe vorwärts zu bringen. Am Mittag erreichte
man in dieser Weise ein befestigtes portugiesisches Lager,
das von Senhor Govea, einem Mischlinge, dessen Wesen
angenehm und soldatisch genannt werden muß, befehligt
wurde. Derselbe besitzt neben seinem Kommando eine Art
Globus UV. Nr. 18.
kleines Königreich, das er sich selbst zugeschnitten hat, und
das Manica heißt. Den eben beendigten Feldzug hatte er
geführt, und über die ganze Lage äußerte er sich etwa so:
Die portugiesische Regierung versteht nichts vom Kriege
mit den Eingeborenen, und was könnten europäische Sol-
daten auch dabei nützen! Wären es auch Hunderttausende, ich
würde es ihnen unmöglich machen, bis hierher zu gelangen.
Man thut am besten, uns zu verwenden. Nirgends haben
die Massengeries Stand gehalten, und wir haben nur ihre
verlassenen Dörfer niederzubrennen gehabt.
Die Engländer sind Narren mit ihrer Unterdrückung
des Sklavenhandels. Der Schwarze ist zur Sklaverei ge-
boren, wie der Europäer zur Freiheit. Die zweitausend
Sklaven, welche ich hier befehlige, sind gnt genährt, gesund,
gutes Muths — gebt ihnen die Freiheit, und ihr werdet
sehen, wie sie sich in Räuber und Bettler verwandeln.
Uebrigens behandelte Senhor Govea die Reisenden fürst-
lich, und er gab ihnen auch eine Escorte mit, um sie sicher
deu Fluß hinunter zu geleiten. Man kam nun noch an
mehreren portugiesischen Lagern vorbei, wo die Bedeckung
von großem Nutzen war, und endlich auch an der portu-
36
282
Dr. Karl von den Steinen über seine zweite Nngu-Expedition.
giesischen Flottille, die die Land-Operationen hatte unterstützen
sollen, und die aus drei großen Schaluppen und zahllosen
kleineren Kähnen bestand — ein wahrer Strom von Fahr-
zeugen, aus dem ein Höllenlärm heraustönte (S. Abbildung 6).
Am Morgen des 9. November kam die granitische Berg-
masse von Morambala in Sicht, welche sich bis zu einer
Höhe von 800 ni aus der Sumpfebeue heraus hebt, und
südlich von welcher sich der Schire durch ein ausgedehntes
Delta in den Zambesi ergießt. Dann wurde dieser letztere
Strom selbst erreicht, ohne daß sich die Scenerie wesentlich
änderte. Der Zambesi ist zwar breiter und imposanter als
der Schire, aber durchaus nicht interessanter. Oft kann
man sich auf einer weiten Lagune glauben, zwischen denen
sich Sandbänke, Jnselchen und Kanäle in jeder denkbaren
Richtung hin und her ziehen. Die ganze Fläche blendend
weiß, die Sonne vom Himmel herab brennend, kein Vogel
in der Luft, und kein Boot weit und breit, das einen den
Weg zeigen könnte, häufiges Auflaufen auf den Sand,
öfteres Verirren in Sackgassen, Schaaren von-Moskitos —
das ist beinahe alles, was zur Beschreibung der Fahrt zu sagen
ist. Die Ufer sind niedrig und mit Sumpfvegetation bedeckt.
So wurde Mazaro erreicht, das nur aus zwei Hütten
ans Pfählen und einer Niederlage besteht und von einem
einzigen Europäer — einem Beamten der „Imlros 6om-
— bewohnt ist. Auf dessen Weisung wurden alsbald
Schaluppen bereit gemacht, um die Reisenden auf dem
Kwa-Kwa, an dessen Mündung Quilimane liegt, nach
diesem letzteren Orte zu bringen. Da Kerr den Packet-
dampfer nach Kapstadt zu erreichen wünschte, so trennten
sie sich hier, und Kerr eilte voraus, während Giraud hinter
ihm her fuhr. An seiner Abzweigungsstelle vom Zambesi
nur 3 m breit, wird dieser Flußarm bald stattlich breit,
und zugleich sind auch die Gezeiten des Oceans deutlich
bemerkbar, und die Fahrzeuge lassen sich von der dadurch
erzeugten starken Auf- und Abwärtsbewegung hin und her
tragen. Freilich sind die Gezeiten sehr launisch und un-
gesti'un, etwa wie in den Strömen Cochinchinas.
Je näher man dem Oceane kommt, desto mehr ent-
fernen sich die Ufer von einander, sie erscheinen mit einer
mächtigen Schicht von thonigem Schlamme bedeckt, und
kleine Krokodile sonnen sich darauf. Flußpferde bemerkt
man selten, häufiger Entenflüge und Schmetterlinge, und
alles ist ganz anders als an dem Schire. In der Nacht
legt das Boot meist an einer isolirten Faktorei an, und die
Rast, die der Reisende daselbst sucht, wird ihm in der Regel
freundlich gewährt. Die Moskitos summen und quälen
nach wie vor Tag und Nacht in fürchterlicher Weise.
Endlich erscheint an einer Biegung des Flusses das ersehnte
Quilimane —• eine lange Reihe von rothen Ziegeldächern,
umgeben von einem großen Kokospalmen-Bestände, und
davor ein portugiesischer Aviso-Dampfer und mehrere große
Schaluppen (S. Abbildung 7). Ein lautes Hurrah ertönt
aus den Kehlen der Zansibariten. Nun - hatten alle Stra-
pazen ein Ende. Bald konnte man die einzelnen Gebäude
unterscheiden, die Kirche, die Flaggen der verschiedenen
Konsulate, und die weißen Gesichter am Quai. Von seinem
Konsul auf das Freundlichste empfangen und bewirthet, er-
holte sich Giraud nun ein paar Wochen von ziemlich voll-
kommener Erschöpfung, um dann nach zweijähriger Ab-
wesenheit nach Zansibar zurückzukehren. Kerr trat die
Fahrt nach Kapstadt bereits am nächsten Tage an. In
Zansibar hatten sich die Freunde — Ledoulx, Cambier,
Konrry und Piat — bereits mit dem Gedanken vertraut
gemacht, daß Giraud sein Leben in dem Inneren von Afrika
verloren habe, und von denselben erfuhr er auch das bereits
oben berichtete Schicksal seiner treulosen Karawane. Der
Reisende erwirkte die Freigabe von Kamna und Babaidi,
die übrigen glaubte er aus Rücksicht auf spätere Afrika-
reisende ihrer verdienten Strafe im Gefängnisse nicht ent-
ziehen zu dürfen. Von Zansibar bewerkstelligte Giraud
seine Heimfahrt auf dem französischen Kriegsschiffe „Cara-
vans.
Schlußbemerkung. Indem wir den Giraud'schen
Reisebericht hiermit abgeschlossen haben, sprechen wir an-
gesichts der schwebenden ostafrikanischen Fragen nur noch
die Hoffnung aus, daß die in dem Berichte enthaltene
Charakteristik der Zustände in der Seengegend zu dem tieferen
Verständniß dieser Fragen Einiges beitragen möge.
Dr. Karl von den Steinen übe
Dr. Karl von den Steinen verbreitete sich vor der Oktober-
Versammlung der Berliner Gesellschaft für Erdkunde in län-
gerem geistvollem Vortrage über seine zweite Xingu-Expedition.
Seine zweite Xingu- Reise, so sagte er etwa, sei eine ziem-
lich nothwendige Folge von seiner ersten Reise dahin gewesen.
Das erste Mal sei es ein dunkler Drang, zu der Erforschung
der unbekannten Gegend etwas beizutragen, gewesen, der ihn
hinaus getrieben habe. Das zweite Mal habe er sich ganz
bestimmte Probleme vor Angen halten können, deren Lösung
er an Ort und Stelle obzuliegen gedachte. Die Karl-
Ritter-Stiftung und die Humboldt-Stiftung gewährten
ihm eine ansehnliche Unterstützung, und darin lag ein An-
sporn mehr, mit Eifer die gestellte Aufgabe zu verfolgen.
Der Vetter des Reisenden, Wilhelm von den Steinen, Dr.
Paul Ehrenreich und Dr. Peter Vogel waren seine Be-
gleiter, und die Ausrüstung mit Instrumenten und Reise-
bedürfnissen war eine vortreffliche.
Ende Februar 1887 traf die Expedition in Rio Janeiro
ein, in der Absicht, ohne Verzug weiter zu reisen, und zwar
seine zweite Nngu-Expedition.
auf dem unvermeidlichen weiten Umwege über Montevideo
und Buenos-Ayres, den Parana, Paraguay, San Lourenyo
und Rio Cuyaba hinauf nach der Stadt Cuyaba, der Haupt-
stadt von Mattogrosso. Leider herrschte in der Laplata-
Gegeud gerade die Cholera, und deshalb war der Dampfer-
verkehr nach Cuyaba vollkommen unterbrochen, so daß
dadurch eine Verzögerung eintrat. Man benutzte die unfrei-
willige Muße dazu, die deutschen Kolonien von Santa
Catharina in Augenschein zu nehmen und eine Anzahl
„Sambaqnis" (prähistorische Küchenabfall-Haufen) zu unter-
suchen. Die brasilianischen Behörden bewiesen den Reisenden
hierbei sowie bei allen anderen Gelegenheiten jede denkbare
Zuvorkommenheit.
Ende Mar hörte endlich die Verkehrssperre auf dem
Parana-Paraguay auf, und nun konnte die Reise auf dem
angegebenen Wege weiter fortgesetzt werden, so daß man
Anfang Juli in Cuyaba anlangte. Hier hatten die Reisenden
einiges unter dem politischen Parteigezänk zu leiden, und cs
wurde ihnen namentlich schwierig, die nöthige Hilfsmannschast
Dr. Karl von dm Steinen über seine zweite Xingn- Expedition.
283
zusammen zu bringen. Das war um so unangenehmer, als
die Regenzeit anzubrechen drohte, wenn man Zeit verlor.
Endlich gelang es, die Hindernisse zu beseitigen. Die Provin-
zialregierung stellte den aus Frankfurt a. Mt. stammenden
Lieutenant Luiz Perrot nebst vier Gefreiten zum Schutze
der Gesellschaft, der Lieutenant de Costa, der schon die erste
Xingu-Expedition mitgemacht hatte, schloß sich freiwillig an,
man engagirte den Diener Antonio — einen geborenen
Bakairi-Jndianer, der sich ebenfalls schon auf der ersten Reise
bewährt hatte — wieder, und so konnte man am 28. Juli
nach dem Tingu abmarschiren. Da von den anderen Dienern
zwei deutsche Kolonisten-Söhne waren, so waren sieben
Mitglieder der Expedition Deutsche, und es wurde deshalb
auf der Reise vorwiegend deutsch gesprochen. 16 Maul-
thiere dienten zur Beförderung des Gepäckes.
Behufs Vervollständigung der topographischen Karte
wurde ein anderer Weg gewählt, als bei der ersten Tingu-
Reise, und durch Gestrllpp und über zahlreiche Flüsse wandte
man sich erst nördlich und dann nordöstlich, den Rio Para-
tinga überschreitend, und den Rio Batovy (den man auf
der ersten Nngu-Reise hinab gefahren war) nahe bei seinen
Quellen berührend. Ende August langte man am Kuliseo
(Xingu) an, und man verfolgte diesen Fluß bis zu einem
Punkte, den man am 7. September erreichte, und den man
zu Ehren des Jahrestages der brasilianischen Unabhttngig-
keitserklärung Jndependencia nannte. Hier errichtete man
das Hauptlager, in dem ein Theil der Leute mit den Thieren
zurnckblieb, während man für die anderen Canoes aus
Baumrinde herstellte, damit sie ihre Reise flußabwärts
weiter fortsetzen konnten. In der Nähe stieß man auch auf
die ersten Jndianerspuren. Ueber die Katarakte des oberen
Kuliseo ging es sodann thalab nach dem großartigen Tau-
nay-Falle, und nicht weit von diesem letzteren sah man den
ersten Indianer im Flusse fischen. Sobald derselbe die
Fremden gewahr wurde, flüchtete er sich scheu in das Dickicht.
Steinen rief ihm in der Bakairi-Sprache zu, daß er ein
„guter Bakairi" sei, worauf er die Antwort erhielt: „Du
bist kein Bakairi, aber ich bin einer!" Alsbald kam der
Wilde wieder zum Vorschein, Antonio's Kenntniß der Ba-
kairisprache machte ihn bald zutraulich, und der Reisende
wurde von ihm als „Pima-Kariba" (Kariben-Häuptling)
bewillkommnet und in das Dorf eingeführt. Auch dort
auf das Freundlichste aufgenommen, nahm Steinen daselbst
einen längeren Aufenthalt, um unter den Naturkindern ein
Idyll zu verleben, das er geneigt ist, paradiesisch zu nennen,
und um im vertraulichen täglichen Verkehr mit seinen
Freunden deren ethnologische Eigenthümlichkeiten nach allen
möglichen Richtungen zu studiren. Daß sich die Welt in
den Köpfen dieser Menschen anders malte als in dem der
Europäer, daß sie in einem ganz anderen Verhältnisse zur
Natur standen, daß sie unfähig waren zu abstrahiren und
bei allen Dingen zähe an der konkretesten Auffassung fest-
hielten, war dem Reisenden ohne weiteres klar, aber er
erachtete es für das erste Erforderniß des Ethnologen, der
seine Wissenschaft nach induktiver Methode fördern will,
sich seines indogermanischen Standpunktes so viel als mög-
lich zu entäußern und sich in denjenigen des Naturmenschen
hineinzuversetzen. Das Bild des letzteren ist dann etwa
das folgende: Die Bakairi leben trotz aller unleugbaren
Mängel in einem gewisicn behaglichen Wohlstände. Ihre
Hütten sind bienenkorbartig, leicht, aber gut mit Palm-
blättern gegen den Regen gedeckt. Sie stehen um einen
freien Platz herum, in dessen Mitte das stattliche „Flöten-
haus" steht — eine Art Gesellschafts- und Versammlungs-
haus für die Männer, das von keinem weiblichen Wesen
betreten werden darf, und in das man durch einen kaum
meterhohen Eingang auf allen Vieren hineingelangt. Dieses
Gebäude dient auch den Gästen des Dorfes zum Aufenthalte.
Am Dorfe vorüber fließt ein klarer Bach. Der Wald da-
bei ist auf einer beträchtlichen Strecke gerodet und mit
Mandioca, Tabak rc. bepflanzt, und da Baum für Baum
mit Steinbeilen zu fällen und zu beseitigen war, so offen-
bart sich darin eine ganz achtungswerthe Ausdauer. Die
Idee, als ob den Wilden alles von selbst zuwachse, erweist
sich in dem Bakairi-Dorfe überhaupt als ein großer Irr-
thum. Nur unermüdlicher Fleiß und starke Anstrengung
sichern dem Menschen hier seine Existenz, und es fehlt daran
auch keineswegs. Die Frauen schleppen Wurzeln herbei,
kratzen sie mit Muscheln ab, kochen sie zu einem dünnen
Brei, spinnen Garn rc. Die Männer flechten Körbe,
machen Bogen, fischen, und schaukeln sich, wenn sie genug
gethan haben, in der Hängematte. Die letzteren bilden
eine Hauptausstattung jeder Hütte, ebenso zwei Fenerplätze,
aus bereit man das Feuer niemals ausgehen läßt, da das
Wiederentzünden durch Reiben sehr mühsam ist. Im
übrigen stehen darin große Körbe mit Vorräthen, es hängen
Maiskolben an der Decke, es stehen Kalabassen und Werk-
zeuge an der Wand — und das Ganze sieht nicht unwohn-
lich aus. Die Frauen dienen dem Manne, ihre Stellung
ist aber keine so unwürdige, als gemeinhin behauptet wird,
und oft genug wissen sie eine ähnliche Herrschaft über das
stärkere Geschlecht auszuüben, wie ihre weißen Schwestern.
Meist wohnen mehrere Familien in einer Hütte. — Das
Essen wird von jedem einzeln vor seiner Hängematte ein-
genommen, und vor Anderen zu essen, gilt für so unschick-
lich, daß der Reisende allgemeines Entsetzen hervorrief, als
er sich anschickte, einen schönen Fisch, den man ihm brachte,
gleich an der Stelle, wo er sich gerade befand, und ange-
sichts Aller zu verzehren. — Ueberhaupt hält man streng
auf gute Sitte, obgleich man völlig nackt einher geht, und
obgleich das Weib als einziges Kleidungsstück ein dreieckiges
Palmblatt von 4 cm trägt. Vor allen Dingen lebt man
in Monogamie. — Die Kleidung der Reisenden war ein
Gegenstand ständiger Bewunderung, und sehr bezeichnend
für ihre konkrete Auffassung war dabei, daß sie das Kleid
als ein „Haus" bezeichneten, das Hemd als das „Rücken-
haus", den Hut als das „Kopfhans" rc. Das „Kopfhaus"
bildete auch einen Hauptgegenstand ihrer Begehrlichkeit,
es mußte von Kopf zu Kopf wandern und sich spazieren
tragen lassen, was des Ungeziefers wegen sein Mißliches
hatte. Oester suchten die Weiber das letztere allerdings
ab, und zwar, um es einfach zu verspeisen. — Trotzdem
sind die Bakairi reinlich, und namentlich baden sie fleißig,
sich dabei mit Sand abreibend. Wenn sich die Weißen
badeten, so hatten sie dabei immer zahlreiche Zuschauer,
und sie mußten es über sich ergehen lassen, daß man sie
betastete und die Echtheit ihrer Farbe prüfte. Auch die
Instrumente der Reisenden betrachteten sie mit Interesse,
und den Kompaß nannten sie „Sonne", weil er die Him-
melsrichtung angiebt, die Taschenuhr „Mond", weil sie
auch des Nachts geht. — Abends kam der Häuptling regel-
mäßig mit einem brennenden Holzscheite, um zur „Abend-
sprache" aufzufordern — zu einer Art Tabakskollcgium,
bei dem zu grünen Cigarren freundschaftlich geplaudert
wurde, und bei dem es eine vortreffliche Gelegenheit gab,
linguistische Studien zu machen, und das am Tage Notirte
auf seine Richtigkeit zu prüfen. Steinen las vor, und die
Bakairi korrigirten ihn. Es wurde auch das einfache
Zahlensystem durchgenommen und danach gerechnet. Die
ungewohnte geistige Beschäftigung ermüdete die Leute freilich
immer bald. — Bewundernswürdig waren sie in der Kunst
der Lautmalerei und in der Gebärdensprache, wodurch sie
das Charakteristische aller Naturerscheinungen — die Länge
eines Flusses durch Dehnen des Lautes rc. — auf das
36*
284
Dr. Karl von den Steinen über seine zweite Xingn-Expedition.
Treffendste bezeichneten, während die Europäer sich darin
überaus ungeschickt.bewiesen, und dadurch das Lachen der
Wilden erregten. Besonders die Stimmen der Thiere
ahmten sie meisterhaft nach, auch die der europäischen, von
denen man ihnen erzählte — das Miauen, das Bellen rc.
Aufs Aeußerste entzückt waren sie, als von Steinen ihnen
sagte, daß das wollene Kleid, das er trüge, von einem
Thiere stamme, das „Mäh!" riefe. Dieser Naturlaut
wurde von ihnen laut im Chore gerufen, und wird
aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch oft aus dem
Flötenhause ertönen, nachdem die weißen Gäste wieder
daraus fortgezogen sind. — Hausthicre besitzen die Bakairi
nicht. — Nach längerem Aufenthalte von Ehrenreich
und Vogel abgeholt, begab sich der Reisende im Canoe
weiter auf dem Knliseo abwärts, und auch in den beiden
anderen Bakairi-Dörfern, die dort liegen, fand er freund-
liche Aufnahme. — Das Nahuaqua - Dorf, noch weiter
stromab, fand man von Frauen und Kindern verlassen,
während die Männer sich drohend verhielten. Karl von
den Steinen zeigte sich trotzdem lustig und gutes Muths,
und so gelang es ihm, sich auch dort anzufreunden, und
schließlich ließ man sich von ihm sogar Photographiren.
Andere Nahuaqua-Dörfer findet man am Rio Kuluöne,
östlich vom Knliseo. — Mehinaku betrat der Reisende
allein mit zwei Bakairi, ohne Gewehr und nur mit dem
Revolver im Gurt. Alsbald sah er sich von Wilden um-
ringt, ungestüm an der Hand gefaßt, und zum „Flöten-
hanse" auf den Ehrenschemel geführt, wo dann die Aus-
sprache erfolgte, und die Leute der friedlichen Absichten
ihres Gastes sicher wurden. Hier geschah aber der seltene
Fall, daß der Reisende bestohlen wurde. Er setzte den
Häuptling darüber zur Rede, und als dieser von nichts
wissen wollte, schoß er auf einen Hauspfosten seinen
Revolver ab. Aengstliches Heulen und Klagen war die
Wirkung, und es dauerte nicht lange, so war das gestohlene
Gut zurückgebracht. — Man besuchte dann noch die Auetö,
die Uaulagiti, die Kamayura und die Trumai. Die
Trumai nahe beim Zusammenflüsse des Knliseo mit dem
Batovy, Kulnöne und Ronuro fand man in trauriger
Verfassung. Ihr Dorf war von feindlichen Botokuden
zerstört worden, und die Leute hausten in Waldverstecken.
Der Anblick der Fremden erregte große Aufregung bei
ihnen, als dieselben aber erklärten, nur bei ihnen schlafen zu
wollen, beruhigten auch sie sich. — Die Trumai waren
der nördlichste Stamm, den die Expedition erreichte, und von
ihnen ging es wieder zurück zu den Bakairi. — Was die
Klassifikation der betreffenden Stämme angeht, so war die-
selbe bei den Trumai zuvörderst noch nicht möglich. Be-
züglich der Hauptbevölkerung des oberen ltngu ist es
dagegen unzweifelhaft, daß es Kariben sind, und die
Kamayura sind ebenso unzweifelhaft echte Tupi, mit einem
ganz anderen Wortschätze ihrer Sprache. — Es haben in
dieser Gegend ebenso wie anderweit in Brasilien die mannig-
faltigsten Dnrcheinanderschiebungen stattgefunden. Diese im
Einzelnen nachzuweisen, hat man namentlich die Verbrei-
tung gewisser Artefakte zu beachten, da dieselben bestimmten
Stämmen eigenthümlich sind. Nur bei den Tupi und
Trumai finden sich Wurfbretter; im Gebiete der Trumai
kommen die Dioritknollcn vor, ans denen die Steinbeile
gefertigt werden; die Bakairi fertigen hübsche Ketten aus
Muscheln; die Aruac (insbesondere ihre Frauen) sind
Töpfer und üben die Kunst des Tättowircns rc.
Wahrscheinlich sind die Kariben die Urbevölkerung
Binnen-Brasiliens, und sie verbreiteten sich von dort ans
allmählich über den Norden und Nordosten. Die Aruac
andererseits kamen von Norden und schoben sich zwischen
die Karibenstämme ein.
Lust an künstlerischer Bethätigung war den von der
Steinen'schen Expedition besuchten Stämmen in einem
hohen Grade eigen. Es herrschte eine förmliche Sucht,
alles zu bemalen. Geometrische Figuren, die nicht in der
Natur vorkommen, werden dabei nicht angewendet, obwohl
wir sie von unserem an Abstraktionen gewöhnten Stand-
punkte aus für das Einfachste halten, wohl aber allerlei
Figuren, die man in der wirklichen Welt sieht. Wellen-
linien sind z. B. das Bild von Schlangen. — Eine wichtige
Institution bilden die Zauberer, die aber nicht sowohl
Priester als vielmehr Aerzte sind(Vergl. „Globus", Bd. 54,
S. 222). Für Gott giebt es in der Bakairi-Sprache
kein Wort, und wenn die Wilden an Götter glauben, so
hat der Begriff in keinem Falle einen ethischen Inhalt.
Ebenso wenig giebt es Idole und gottesdienstliche Hand-
lungen. — Dagegen weiß man von einer Fortdauer der
Seele nach dem Tode, und zwar aus der Erfahrung, die
der Traum gewährt. Denn alles, was im Traume ge-
schieht, geschieht wirklich, wie der Naturmensch meint. Von
einer Entschädigung für Entbehrungen auf dieser Welt
und von einer Vergeltung ist dabei aber keine Rede. Die in-
duktive Ethnologie ist auf Grund dieser Thatsachen berechtigt
zu sagen, daß der Begriff Gott kein fundamentaler Begriff
des menschlichen Denkens ist (Vergl. S. 222).
Die Rückreise ging gut von statten, so lange man auf
dem Wasser bleiben konnte, schlecht, sobald man den Land-
marsch antreten mußte. Die Indianer leisteten beim
Transport der reichen Sammlungen jede mögliche Hilfe,
und so brachte man dieselben von Stamm zu Stamm bis
Independencia. Dort erhielten die Wilden zum Danke für
ihre Dienste und die bewiesene Gastlichkeit alles zum Ge-
schenke, was von den Vorräthen zu entbehren war, nament-
lich auch elfhundert Messer und anderes Eisenzeug — was
ihnen bis dahin völlig unbekannt geblieben war —, und auf
diese Weife wurde der Steinzeit am Nngu ein definitives
Ende bereitet. Großes Erstaunen erregten bei den In-
dianern auch die Reit- und Lastthiere, indessen setzte sich
der Häuptling muthig auf das Pferd und ließ sich von ihm
tragen, und nur das Umlenken verstand er nicht. Uebrigcus
fand man das Lager Independencia in guter Verfassung. —
Von da ab begannen aber unsägliche Strapazen und Ent-
behrungen, da die Regenzeit hereinbrach, Bäche und Ströme
hoch anschwollen, und die Beschaffung von Lebensmitteln
schwierig war. Die meisten Leute wurden fieberkrank, und
obendrein verirrten sich auch zwei Mitglieder der Ex-
pedition, so daß man sie zu suchen hatte. Zuletzt nährte
man sich nur noch von Palmkohl und Wurzeln. Endlich
erreichte man eine einsame Fazenda, in der die Noth ein
Ende fand, und nach anderthalbmonatlichem Marsche (von
Independencia ab) traf man am 31. Dezember wieder in
Cuyaba ein. Dr. Vogel begab sich von dort auf dem
Landwege nach Santa Anna de Paranahyba, und Dr. Ehren-
reich wandte sich nach der Provinz Goyaz, um dort deu
Tocantins hinunterzugehen, während Karl und Wilhelm
von den Steinen mit den Sammlungen auf dem Wasser-
wege nach Rio Janeiro und Europa gelangten.
Als die Haupterfolge seiner Expedition bezeichnete der
Reisende am Schlüsse seines Vortrages: die topographische
Aufnahme der durchreisten Gegend; zahlreiche Körper-
messungen; eine vollständige Bakairi-Grammatik; ver-
schiedene Vokabularien; eine reiche Sammlung der ver-
schiedensten ethnologischen Gegenstände; einen tieferen
Einblick in die Anfänge der Kultur. Als theilweisen Miß-
erfolg beklagte er den Verlust einer Kiste, welche die geo-
logischen Sammlungen enthielt; das Schadhaftgewordenscin
vieler Photographien; und die Unmöglichkeit, den Rio
Kuluöne in derselben Weise zu erforschen wie den Tingu.
Kürzere Mittheilungen.
285
Kürzere M i
Snust auf Biti -- Levu.
Auch die fernen Inselgruppen der Südsee beginnen
allmählich sich mehr und mehr am Verkehre mit den
übrigen Theilen der Welt zu bctheiligen und der Kultur zu
erschließen, wie wir dieses dem Berichte eines unserer deutschen
Kriegsschiffe, welches seit zwei Jahren in den australischen
Gewässern stationirt ist, entnehmen.
Der Hafen von Suva — die Eingeborenen nennen ihn
Tomba-Ko-Suva — auf der Fidschi-Insel Viti-Levu, ist eine
geräumige Bucht, welche sich in einer Ausdehnung von etwa
zwei Seemeilen Länge von West nach Ost, und in einer Breite
von y2 — 2 Seemeilen ausdehnt. In ihrem nordwestlichen
Theile hat man einen durch vorstehende Riffe von der Natur
abgetrennten Theil zum Quarantäne-Hafen bestimmt, was
um so nothwendiger erscheint, als von der überaus gesunden
Insel noch nie eine Epidemie ausging, und die Einwohner,
welche sich für Suva und Umgegend etwa aus 450 Europäern
und 500 Melanesiern (vom Salomon-Archipcl), 200 Indern
(Kulis) und einigen Chinesen und Samoanern zusammensetzen,
natürlich vor Einschleppung einer solchen durch einlaufende
Schiffe bewahrt bleiben wollen. Die Einfahrt in die Bucht
von Suva ist nicht schwierig zu bewerkstelligen; es führt
eine etwa 3 Kabellängen (über 500 na) breite Ocffnung im
Strandriff hindurch, und es können Schiffe bei klarem Wetter
auch des Nachts einlaufen. Der Verkehr von Seiten fremder
Handelsschiffe ist bis jetzt noch mäßig, obgleich die Produkte,
welche Viti-Levu liefert und welche in Zucker, Kaffee, Thee,
Kokosnüssen, Kopra, Bananen, Perlmutter und Schildkrötcn-
schalen bestehen, wohl zur Verschiffung und damit auch zum
Import europäischer Artikel anregen können. Im Osten,
wo sich das Land zum Strande abflacht, ist die Stadt
Suva, welche von der See her schon den Eindruck einer
freundlichen kleinen europäischen Stadt macht, erbaut. Sie
besteht aus etwa 200 Häusern — fast durchweg massiven Holz-
bautcn mit Zinkbcdachnng, zu welch letzterer auch das bei uns
so häufig verwendete Wellblech oft benutzt worden ist. Eine
erhebliche Zahl der Wohnhäuser hat man auf Hügeln erbaut,
während die Geschäfts- und Waarenhäuser natürlich in der
Nähe des Strandes errichtet worden sind. Hier in der
Mitte der Stadt findet sich auch eine Landnngs- und Lade-
Brücke — ein starker Holzbau in solcher Lage zum Wasser, daß
selbst Schiffe mit erheblichem Tiefgänge, d. h. voller Ladung,
hier bequem anlegen, löschen und wieder laden können.
Von den Eingeborenen ist in Suva selbst nur wenig
oder gar nichts wahrzunehmen. Mit der Einwanderung
der Europäer und dem damit erfolgten Bau der Stadt haben
sie sich vor etwa sieben Jahren nach und nach zurückgezogen
und leben jetzt an der anderen Seite des Hafens, in Suva
lai lai. Von hier aus bringen sie nach Bedarf ihre Er-
zeugnisse zu Markte und kaufen gleichzeitig ihre Lebens-
bedürfnisse ein. Für die Sicherheit Suvas, also für den
Polizeidienst in Stadt und Umgegend, sorgt eine ans Fidschi-
Leuten sich rekrutirende Truppe von etwa 100 Mann, welche
der Führung eines europäischen Officiers unterstellt ist;
ihre Bewaffnung ist das Snider-Gewchr.
An Regierungsbehörden finden sich in Suva: das
Zollamt, die Post, das Tribunal, die Finanzverwaltung, die
Arbeiter-Administration, das Fidschi-Departement (nur für
ttheilunge n.
Fidschi-Leute) u. s. w. An Kirchen sind in der Stadt und in
der Nähe derselben mehrere vorhanden: eine Presbyterianer-,
Wesleyaner-, englische Kirche u. s. w.; Schulen nur eine
englische; für die Eingeborenen hat man bis jetzt noch keine
Unterrichtsanstalt eröffnet. Die Postverbindungen, durch
welche Suva mit der übrigen Welt in Berührung kommt,
sind die folgenden: die europäische Post, alle vier Wochen über
Auckland und San Francißko; ferner alle 14 Tage Ver-
bindung mit Sydney, und endlich alle sechs Wochen Ver-
bindung mit Melbourne.
Außerdem unterhält ein kleinerer Dampfer den Personen-,
Güter- und Postverkchr zwischen den einzelnen Inseln, bezw.
Plätzen der Fidschi-Gruppe selbst und den benachbarten Tonga-
Inseln.
Die Steuer ist mäßig zu nennen; jeder Eingeborene
zahlt eine Kopfsteuer von einem Pfund Sterling pro Jahr.
Für Europäer gilt dieselbe nicht; dagegen werden die von
diesen zuzahlenden Steuern durch indirecte Abgaben aufgebracht.
Zur Erlangung der Erlaubniß behufs Betreibung eines
Gewerbes oder Geschäftes sind die Abgaben ziemlich hohe, und
sie differiren zwischen 50 Pfund Sterling (etwa 1000 Mark)
für Spiritusbrenner und Destillateure und einem Pfund Ster-
ling (20 Mark) für Bäcker.
In einer Entfernung von etwa einer Viertelstunde von
der Stadt sind auf mehreren, sich an einander anschließenden
Hügeln die Baulichkeiten des öffentlichen Krankenhauses von
Suva errichtet. Gut gehaltene, mit Korallensteinen ausgelegte
Wege führen nach den verschiedenen Räumlichkeiten, welche
frei und luftig, isolirt von anderen Häusern, mit der Front
nach der See nicht fern vom Strande aufgebaut sind. Im
Ganzen ist Platz für 80 Personen vorhanden.
Auch eine Arzneischnle, welche von jungen Fidschianern
besucht wird, hat man in der Nähe des Krankenhauses einge-
richtet. Die jungen Leute werden in der Behandlung Kranker,
sowie in der Kenntniß der Arzneien soweit herangebildet, daß
sie in ihren Heimathsbezirken wenigstens einigermaßen einen
Arzt zu ersetzen im Stande sind. Eine Irrenanstalt, für
16 Personen berechnet, ist in nicht zu weiter Entfernung
vom Krankenhause außerdem vorhanden.
Da die Geschäfte in Suva zur Zeit nicht besonders in
Blüthe stehen und man dort allseitig über Geschäftsstocknng
klagt, so sind die Preise für Grund und Boden zurück-
gegangen, während die Lebensmittel im Preise gestiegen sind.
Das Klima in Suva ist angenehm, gesund und den
Europäern zuträglich. J. v. G.
Heirathsgebränchc auf dem Bismarck-Archipel.
Die Bewohner von Neu-Pommern (Neu-Britannien)
theilen sich nach zwei Klassen oder Ordnungen ab. Keiner
darf eine Frau aus seiner Klasse heirathen. Es gilt dies
für ein ebenso großes Verbrechen, als wenn unter Christen
ein Bruder seine Schwester heirathen wollte. Auf Neu-
Lauenbnrg (Duke- of -I)ork - Gruppe) werden die Knaben in
einer geheimen Gesellschaft für die Heirath vorbereitet, wäh-
rend ein solcher Vorunterricht für Mädchen nicht besteht.
Auf Neu-Mecklenburg (Neu-Jrland) trugen die Mädchen bis
zu ihrer Heirathsfähigkeit eine Art Franse auf der Schulter.
286
Aus allen Erdtheilen.
Auch kommt es vor, daß sie vier oder fünf Jahre lang in
einen sieben bis acht Fuß hohen kegelförmigen Käfig ein-
gesperrt werden. Derselbe ist aus den breiten Blättern des
Pandanus-Baumes so dicht angefertigt, daß kein Licht und
auch nur sehr wenig Luft eindringen kann. Der enge Raum
gestattet den armen Geschöpfen bloß in gekrümmter Stellung
zu sitzen oder zu liegen. Kommen sie endlich aus diesem
Gefängnisse heraus, so finden immer große Hochzeitsfestlich-
keiten statt. Ans Neu-Pommern werden die Frauen mit
Mnschelgeld gekauft und oft schon im jugendlichsten Alter
geheirathet. Der Mann mag dann das Mädchen sofort in
sein Haus nehmen oder es, bis es ausgewachsen ist, bei den
Verwandten lassen. Auf Neu - Lauenburg werden bei Per-
sonen von Rang und Ansehen besonders große Hochzeits-
feicrlichkeiten begangen. Die Frauen des ganzen Distriktes
bereiten eine Menge von Puddings, viele Schweine werden
geschlachtet, und Geschenke aller Art, welche aber später an
die Geber zurückerstattet werden, werden öffentlich dargebracht.
Eine Kokosnuß wird über den Häuptern des Brautpaares
zerbrochen, daß es von der Milch bespritzt wird. Festlichkeiten
wiederholen sich dann noch längere Zeit. Die Freunde
der Braut bewirthen die Freunde des Bräutigams und um-
gekehrt. Wenn ein Mann nach dem Tode seiner Frau eine
andere heirathet, so versammeln sich die weiblichen Anver-
wandten der Verstorbenen und suchen an dein Eigenthum
des Mannes möglichst viel Schaden anzurichten. Im übrigen
mag ein Mann so viele Frauen heirathen-, wie er bezahlen
kann. 8. 6.
Aus allen
Europa.
— Die Waldfläche der Schweiz beträgt nach Pro-
fessor Dr. Bühler in Zürich 821 452 ha. Davon entfällt
auf den Kanton Bern 144 344 ha und auf Graubündten
126 000 ha, auf beide zusammen also fast ein Drittel der
ganzen Waldfläche des Landes. Im Verhältniß zur Größe
der Kantone ist Schaffhausen am reichlichsten (zu 39 Proc.),
Genf am schwächsten bewaldet (IO Proc.). Im ganzen
beträgt die Waldfläche der Schweiz 2O Proc. der Gesammt-
fläche. Geringere Bewaldung haben in Oesterreich nur
Görz (16,5 Proc.), Triest (18 Proc.) und Dalmatien
(16,5 Proc.), also die am Adriatischen Meere gelegenen Be-
zirke; sodann in Deutschland die an der Ost- und Nordsee
liegenden Provinzen Ostpreußen (18 Proc.), Hannover
(16 Proc.), Schleswig (6 Proc.), endlich die Nord- und West-
küste Frankreichs (2 bis 16 Proc.). Die Ursache der verhältniß-
mäßig geringen Bewaldung der Schweiz findet Bühler in
dem geologischen Bau und den klimatischen Verhältnissen der
Alpen, welche große für den Weidebetrieb und Grasban
geeignete Flächen bieten. Da die Bevölkerung im Gebirge
sehr dünn ist, so ist an manchen Orten Neberfluß an Holz
vorhanden, so daß die Preise desselben niedrig stehen und die
Waldrente vielfach vom Ertrage des Weidelandes übertroffen
wird. Bühler fordert die Erhaltung des Waldes auf dem
ihm uoch verbliebenen Terrain und eine Ausdehnung desselben
ans bisher nnangebaute oder schlechter rentirende Grundstücke.
Abgesehen von dem Schutze, den der Wald gegen schädliche
Naturereignisse gewährt, ist eine Steigerung der Holz-
produktion nothwendig. Augenblicklich übersteigt die Einfuhr
an Holz die Ausfuhr. An der Einfuhr an Brenn- und
Nutzhölzern ist übrigens Deutschland in bedeutend höherem
Grade betheiligt, als die anderen drei Nachbarländer.
— Rumänien produzirte im Jahre 1886 bis 1887
aus seinen vier großen Steinsalzwerken — zu
Doftana, Slanic, Tirgu-Oena und Ocnelemari —
86 076 000 kg Salz, d. i. 2 675 000 kg mehr als im
vorhergehenden Jahre.
Asien.
— Der unseren Lesern wohlbekannte Reisende I. A.
Jacobson ist von seiner Reise im südostasiatischen
Archipel, die er im Aufträge des Berliner Museums für
Völkerkunde unternommen hat, zurückgekehrt und hat eine
E r d t h e i l e n.
große Menge von ethnologisch werthvollen Gegenständen von
dort mitgebracht. Sein Gefährte, Herr Kühne, setzt seine
zoologischen Sammlungen in der angegebenen Gegend uoch
weiter fort. Die Hauptinseln, welche die Reisenden durch-
streiften, waren Selajar, Djampeja, Flores, Solor, Alor,
Wetter, Kiffer, Kei und Timurlaut. Ihre Gesundheit war
dabei an verschiedenen Orten in großer Gefahr.
— Das territoriale Wachsthum von Britisch-
Jndien wird durch die folgenden Zahlen des „Statistical
Abstract“ für 1888 veranschaulicht: 1842 hatte Indien
eine Flüche von 626 000 englischen Quadratmeilen, 1847
(nach dem Sind-Kriege und nach dem ersten Sikh-Kriege)
war dieselbe auf 675 000 Quadratmeilen gewachsen, 1848
(durch das Aussterben des Herrscherhauses von Sakara) auf
699 000, 1855 (nach dem zweiten Sikh-Kriege, dem zweiten
birnianischen Kriege und dem Aussterben verschiedener indi-
scher Dynastien) auf 832 000, 1856 (durch die Depossedirung
des Fürsten von Audh) auf 856 000, 1865 (nach dem
Kriege mit Bhutan) auf 860 000 und 1882 (nach den letzten
afghanischen Kriegen rc.) auf 947 887.
— Nach einem Berichte aus Hakodate scheint die Be-
siedelung der Insel Jeso infolge der energischen
Thätigkeit des japanischen Kolonisations-Amtes riesige Fort-
schritte zu machen. In den Jahren 1869 bis 1886 sind
nicht weniger als 106 302 Personen dahin befördert und
22 034 Häuser erbaut worden, während vorher die gesammte
Bewohnerzahl der Insel nur 48 867 und die Häuserzahl
nur 10 397 betrug.
— Das Christenthum in Japan. Bereits vor einigen
Jahren ist die Staatsreligion als solche in Japan abgeschafft, und
die Priester hörten mit dem Tage des Erscheinens des Ediktes
auf, Staatsdiener zu sein. Unabhängig von dieser Maßregel
wurde damals von anderer Seite der Gedanke angeregt, wie
nützlich cs für die Entwickelung des Landes sein würde, wenn
letzteres sich zum Christenthum bekehrte; ob dieser eigenthüm-
liche Schritt, den Religionswechsel eines ganzen Landes aus
Nützlichkeitsrücksichtcn zu befürworten, bedeutenden Erfolg
gehabt, möchten wir bezweifeln, doch scheint es sicher, daß
das Christenthum dort bedeutend an Boden gewinnt, wie
folgende Mittheilung des Rev. H. C. du Bose, dem „Chinese
Recorder“ entnommen, beweist: Wir leben hier in der Nähe
des Landes der aufgehenden Sonne, aber so schnell ist der
Fortschritt der Civilisation, daß es für uns, welche im alten
Geleise wandeln, schwer ist, die Riesenschritte zu verstehen,
Aus allen Erdtheilen.
287
welche das junge Japan gemacht hat. Als Christen begrüßen
wir die ersten Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit, das
wahre „Nippon". Der Shintoismus ist, praktisch gesprochen,
erloschen, der Buddhismus welkt dahin und seine Priester er-
kennen, daß seine Tage gezählt sind. An manchen Orten haben
sie die ausländischen Namen „Bischof" und „Reverend" ange-
nommen, haben Sonntagsschnlen eingerichtet, und am Bud-
dhisten-Kollegimn zu Kioto lehrt ein ungläubiger Ausländer
das alte Testament. Das Kaiserreich ist beinahe bereit, die
Religion des Westens zu empfangen, und wenn die Kirche
überall erwachte und sofort tausend Prediger, Missionare
dorthin schickte, so wäre cs möglich, daß wir in wenigen
Jahren das wunderbare Schauspiel „einer in einem Tage
geborenen Nation" sähen. Die große Macht des buddhistischen
Einflusses, welche in China unsere größten Anstrengungen zu
Schanden macht, ist in Japan aus den: Wege geräumt. Alle
denkenden Männer, selbst solche, „welche sich gar nicht um
solche Dinge kümmern", sagen, daß das Christenthum die Zu-
kunftsreligion des Landes sein wird. Die besseren Klassen
begrüßen die Ankunft des Fremden im Inneren des Landes,
und hohe Beamte verkehren gern in Gesellschaft der Diener
des Evangeliums.
— Kankasien macht neuerdings ernstlich Miene, in die
Reihe der Wein-Export-Länder zu treten, und wenn
man bedenkt, daß die Rebe in dieser Gegend seit Jahrtausenden
angebaut wird, sowie, daß sie daselbst vielleicht ihre Urheimath
hat, so kann dies kaum Wunder nehmen. 1887 wurden
225 000 Liter nach dem Auslande verschifft. Nach Ruß-
land sendet Kankasien seit längerer Zeit ein viel beträchtlicheres
Quantum.
— Die Zahl der jährlich aus Rußland nach Sibirien
Deportirten beträgt nach einer in der „Neuen Zeit" auf-
gestellten Berechnung gegenwärtig etwa 12 500 Seelen;
nimmt nran die Familienmitglieder der Verbannten, die in
so vielen Fällen deren Loos freiwillig theilen, hinzu, so wird
die Gesammtzahl der ans solche Weise nach Sibirien ver-
pflanzten Russen sich nahezu ans 20 000 veranschlagen lassen,
doppelt so viel als noch vor 15 Jahren! Die Fortschaffung
dieser Menschenmenge, die für die Zunahme der Bevölkerung
Sibiriens ins Gewicht fällt, kostet jährlich die enorme Summe
von mehr als 5 Millionen Mark (21/2 Millionen Rubel).
— Wilde Thiere und Schlangen richten in
Britisch-Jndien unter Menschen und Hausthieren all-
jährlich noch immer gewaltigen Schaden an. So wurden
im Jahre 1886 durch Schlangen gelobtet 22 134 Menschen,
durch Tiger 928, durch Wölfe 222, durch Leoparden 194,
durch Bären 113, durch Elephanten 57, durch Hyänen 24
und durch andere Thiere 1169 — insgesammt 24 841.
Die Zahl der getödteten Hausthiere betrug 57 541, und von
dieser Zahl kamen etwa 80 Procent auf Rechnung der Tiger
(23 769) und Leoparden (22 275). Dagegen wurden 22 487
wilde Thiere und 417 596 Schlangen von Menschen erlegt.
Afrika.
— Professor Dr. Schwcinfurt erstattete in der
Oktobersitzung der Berliner Gesellschaft für Erdkunde einen
gedrängten Bericht über die Forschungen, welche er
während der letztvergangenen fünfzehn Jahre in
Egypten angestellt hat. Er betonte, daß Egypten trotz
seiner Nähe bei Europa und trotz seiner hohen kulturhisto-
rischen Bedeutung in geographischer Beziehung nur äußerst
lückenhaft bekannt sei, und daß er es sich nach seiner Rückkehr
aus Centralafrika (1872) zur Aufgabe gemacht habe, diese
Lücken so viel als möglich auszufüllen, um so mehr als ihm
Gesundheitsrücksichten einen längeren Aufenthalt im Lande
der Pyramiden habe rathsam erscheinen lassen. In karto-
graphischer Hinsicht sei selbst bezüglich der nächsten Umgebung
von Kairo noch so gut wie nichts gethan, und man sei bei-
nahe ausschließlich auf veraltete französische Karten angewiesen,
daher habe er sich für einzelne Distrikte bemüht, die Arbeiten
zu thun, welche in den europäischen Ländern dem Generalstabe
obzuliegen pflegen. Ebenso stehe es in geologischer Beziehung, und
gerade darin sei das Land ganz ungemein interessant; er habe
darum theils allein, theils mit Professor Zittel, Dr. Walther re.
auch diesem Gegenstände seine Aufmerksamkeit zugewandt, und
es sei ihm gelungen, mancherlei beziiglich des Schichtenbanes
der Arabischen Wüste klar zu legen. Endlich habe er die Ara-
bische und Lybische Wüste, das Nilthal und die Küstengegend
des Rothen Meeres floristisch so genau als möglich untersucht.
Die alljährlichen Exkursionen, welche der Reisende zu diesem
Zwecke unternahm, erstreckten sich zum Theil auf Weglängen
von 1000 bis 2400 lern. Seines Ausfluges nach Socotra
(1881) gedachte er nur nebenbei.
— Lieutenant Wißmann, der durch die Erfahrungen
und Anschauungen, die er bei seiner zweimaligen Durch-
querung Afrikas hat sammeln können, mehr als ein anderer
befugt ist, über centralafrikanische Dinge eine Meinung zu
äußern, hat sich über das Schicksal Stanley's und die
afrikanischen Sklavenjäger bei verschiedenen Gelegen-
heiten ungefähr wie folgt ausgesprochen: Aller Wahrschein-
lichkeit nach hat Stanley gegenwärtig Emin-Pascha erreicht.
Wäre er in der einen oder anderen Weise auf seinem Marsche
zu Grunde gegangen, so würde die bestinunte Nachricht
davon bei den afrikanischen Verhältnissen unbedingt bis zur
Küste gedrungen sein. Ebenso beweist auch der Umstand,
daß seit Monaten keine Boten mehr aus Wadelai nach Zan-
sibar gekommen sind, eher, daß Unyoro und Uganda sich gegen-
wärtig einer stärkeren Emin'schen Macht gegenübergestellt sehen,
als einer schwächeren. — Eine gewaltsame Unterdrückung der
arabischen Sklavenhänder und ein Gericht über diese Scheusale
sei augenblicklich das wichtigste afrikanische Kultur-Problem,
und mit ein paar Millionen Mark getraue er sich dasselbe zu lösen.
— Die englische Ostafrikanische Gesellschaft,
die mit dem Sultan von Zansibar einen ähnlichen Vertrag
wegen Uebcrlassung des Küstengebietes abgeschlossen hat, wie
die deutsche, ist bei der Uebernahme der Küstenplätze
glücklicher gewesen, als diese. Da sie durch die Vorgänge
in Deutsch - Ostafrika gewarnt war und von vornherein
umfassendere Vorkehrungen treffen konnte, darf dies nicht
Wunder nehmen. Es beweist aber noch bestimmter, daß ein
unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufstande in Ost-
afrika und dem aggressiven Vorgehen der Sklavenhändler im
Innern nicht besteht, wenn es sich ailch in beiden Füllen um
eine arabische Bewegung handelt. Die Lösung der deutsch-
ostafrikanischen Frage erscheint natürlich dadurch viel aus-
sichtsvoller.
— Dr. Hans Meyer und Dr. Oskar Baumann
sind über Pangani nach Zansibar gelangt, nachdem sie vorher
in die Gefangenschaft der Aufständischen gerathen waren
und arge Mißhandlungen von denselben zu erdulden hatten.
Indische Händler sollen ihnen durch Vorstreckung von Lösc-
geld die Freiheit wieder verschafft haben. — Ebenso ist auch
Graf Teleki, um dessen Schicksal man bei den augenblick-
lichen ostafrikanischen Zuständen ernstlich besorgt sein mußte,
von Samburu glücklich in Taweta (südöstlich vom Kilimand-
scharo) angekommen, um sich von dort nach Zansibar zu begeben.
— Der italienische Geführte Emin Pascha's, Haupt-
mann Casati, soll nach englischen Berichten zusammen mit
dem tripolitanischen Händler Biri auf Attstiften des Königs
Kabrega von Unyoro ermordet worden sein.
— In den Kreisen der Regierung des Kongo-Staates ist
man noch immer von der Treue und dem Wohlverhalten des
Araber-Fürsten Tippoo Tib fest überzeugt, um so mehr, als
288
Aus allen Erdtheilen.
sich derselbe von der Todesnachricht Barttelot's sehr erschüttert
zeigte, und den Mörder ohne weiteres preisgab. Lieutenant
Baert hat deshalb auch ohne Bedenken mit ihm eine Reise in
das Land südlich von Kassongo angetreten, um dasselbe
zu erforschen und Stationen daselbst zu griinden. Hoffentlich
kommt dieser Herr zuletzt nicht auch noch in die Lage, den
schlauen Araber ans Grund seiner Erfahrungen als einen
Verräther zu bezeichnen, wie der unglückliche Barttelot.
Nordamerika.
— Den Aufstellungen des „Agricultural Department“
in Washington gemäß hat sich die Wollproduktion der
Vereinigten Staaten in den beiden letzten Jahrzehnten
bedeutend gesteigert. 1870 betrug die Zahl der Schafe in
der Union nur 31,8 Millionen, 1887 dagegen 43,5 Mil-
lionen, und da man der Züchtung von guten Wollschaf-Rassen
besondere Sorgfalt zuwandte, so wuchs der Wollertrag in
einem noch viel stärkeren Maßstabe als die Zahl der
Thiere. Ebenso wie in anderen Wirthschaftszweigen hat sich
also auch in der Schafzucht der Union neuerdings die Tendenz
zu einem intensiveren Betriebe geltend gemacht. Von der
Zufuhr von Wolle und Wollwaaren aus anderen Ländern
ist das Land dadurch mehr und mehr unabhängig geworden.
Südamerika.
— Die argentinische Einwanderungsziffer be-
trug im Jahre 1887 98 898, stand also in der Besiedelungs-
geschichte des Landes nur hinter derjenigen des Jahres 1885
zurück (um ca. 10000). Bedeutender als je war der Antheil,
den das italienische Bevölkerungselement dabei hatte (67139),
aber auch der Antheil des spanischen (15 618) und franzö-
sischen (7036) war verhältnißmäßig beträchtlich; Oestcrreicher
wanderten 2498, Schweizer 1420, Deutsche 1333, Briten
1038, Russen 955 ein. Etwa 5/g von der angegebenen
Gesammtziffer wandte sich der Landwirthschaft zu.
Australien und Polynesien.
— Am Abercrombie-Flnffe, 320 km westsüdwestlich von
Sydney, wurde ein reiches Alluvial-Goldfeld von großer Aus-
dehnung aufgefunden. Ebenso wurde in der Kolonie West-
anstralicn am Pilbnrra Creek, welcher in den Aule-River
mündet, Gold entdeckt.
— Die Annexionen der Engländer im pacifischen
Oceane schreiten noch immer fort, und es ist vor kurzem auch
Rarotouga nebst den übrigen Inseln der Hervey- oder Cook-
Gruppe unter die britische Schutzherrschaft gestellt worden.
Der Archipel besteht aus neun Haupt- und zahlreichen Neben-
inseln, ist korallinen Ursprungs, und sein Flächeninhalt wird
auf 800 qkm, seine Bevölkernngszahl aber auf 7700
angegeben. Nicht ohne Bedeutung ist seine Lage zwischen
den Samoa- und den Gesellschafts-Inseln.
Polarregionen.
— Einem Aufsatze von Dr. E. Brückner über die Re-
sultate der meteorologischen Beobachtungen der
deutschen Polarstationen („Meteorol. Zcitschr." 1888,
S. 245 ff.) entnehmen wir die folgenden Daten: Am Cumber-
land-Sund wurde von der deutschen Polar-Expedition am
9. März 1883 eine Tagesschwankuug des Thermometers um
33,20 C. beobachtet (von — 29,5° um 8 Uhr 5 Minuten
abends auf ff- 3,7" um 5 Uhr nachmittags). Das absolute
Minimum betrug — 48,4°, das absolute Maximum 20,20,
die Jahresschwankung also 68,5°. Dadurch, daß an den kalten
Tagen meist Windstille herrschte, waren die niedrigen Tempe-
raturgrade aber verhältnißmäßig bequem zu ertragen. In Oknk
(Labrador) wurde eine Temperatur von — 36,5° und eine solche
von ff- 29,90 beobachtet. Starke Westwinde, die die Kälte
bringen, machen diese letzteren aber sehr empfindlich. Die Ost-
winde hatten mildes Wetter und Regen im Gefolge. Auf Süd-
Georgien war die größte Tagesschwauknng des Thermometers
nur 16,8« (26. August 1882: 4 Uhr früh — 1,7», 9 Uhr-
abends ff- 15,1"). Die höchste Temperatur betrug (11. Februar)
17,80, aber kein Monat war frostfrei, und die Temperatur war
im allgemeinen viel niedriger als an der Südspitze Südamerikas.
Daher auch die starke Vergletscherung, die indessen 1883 im
Rückgänge begriffen war. Charakteristisch für Süd-Georgien
war das vollkommene Fehlen elektrischer Entladungen.
Allgemeines.
— Unter den in unser Gebiet einschlagenden Vorträgen,
die auf der diesjährigen deutschen Naturforscher-
versammlung gehalten worden sind, heben wir außer dem
bereits besprochenen des Dr. K. von den Steinen (S. „Globus",
Bd. 54, S. 221 f.) namentlich noch hervor: denjenigen des Dr.
Weismann „über die Hypothese einer Vererbung
-erworbener Verletzungen" und denjenigen des Professor
Dr. Virchow „über künstliche Verunstaltungen des
menschlichen Körpers". Dr. Weismann kam durch die
Prüfung von einer längeren Reihe von Einzelfällen bezüglich
seiner Frage zu einem negativen Resultate. Vor allen
Dingen sei von einer Vererbung der freiwilligen Ver-
stümmelungen wilder Völker — wie der Löcher in Ohren
ilnd Nase, der Hautwunden des Tättowirens re. keine Rede.
Auch die künstlichen Zwergfüße der Chinesinnen gehen nicht
auf die Kinder über. — Nach Virchow sind die künstlichen
Schüdeldeformationen ursprünglich auf gewisse praktische Ver-
anlassungen zurückzuführen (z. B. auf den Transport der
Kinder bei Reitervölkern vermittelst Anschnallen auf ein
Brett), cs enttvickelt sich daraus aber dann vielfach eine förm-
liche Mode. Reine Mode sind die Verunstaltungen der Füße
bei den Chinesinnen, die Verunstaltungen des Brustkorbes
der Europäerinnen re.
B ü ch c r s ch a u.
— Europäische Wanderbilder. (Nr. 130 bis
142.) Zürich. Orell Füßli L Co. — Diese schön mit
Illustrationen und Situationsplänen ausgestatteten Bündchen
enthalten populäre Charakteristiken historisch und landschaftlich
interessanter Punkte aus den verschiedensten Gegenden Europas
und verdienen die Gunst, die sie sich bei dem reisenden
Publikum erworben haben, int vollsten Maße. Meist sind cs
mit ihrem Gegenstände wohlvertraute unb berufene Männer,
die sie entwerfen. Die uns vorliegenden Bändchen behandeln:
Die Brünigbahn (von I. Hardmeyer); Tharasp und seine
Umgebungen (von Dr. I. Pernisch); Görlitz (von Dr.
F. Blau); Sitten und Umgegend (von F. O. Wolf); und
Erfurt (von L. Röll).
Inhalt: Emil Schlagintweit: Nepal. I. — Victor Giraud's Reise nach den innerafrikanischen Seen. XV. (Schluß-
Aussatz. Mit sieben Abbildungen.) — Dr. Karl von den Steinen über seine zweite Xingu-Expedition. — Kürzere Mittheilungen:
Suva auf Viti-Levu. — Heirathsgebräuche aus dem Bismarck-Archipel. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. —
Nordamerika. — Südamerika. — Australien und Polynesien. — Polarregionen. — Allgemeines. — Bücher schau. (Schluß der
Redaktion am 28. Oktober 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckcrt in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
ffiil besonderer Uerürksrchtrgung der Gthnologre, der Kulturberhältnrsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben non
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1888.
N e p a l.
Von Emil S ch l a g i u t w e i t.
II.
Die Gesammtbevölkerung Nepals wird auf zwei Millionen
geschützt. Völkerscheiden bilden die Flüsse, im Osten der Kofi
für den tibetischen Stamm, im Westen der Gandak für die
indische Mischrasse. Der Raum zwischen diesen beiden Strö-
men ist politisch das Hauptland und wird von Völkerschaften
eentralasiatischen Ursprungs eingenommen, die auf den Ein-
wanderungswegen eines Theiles der Waldbewohner des vor-
gelagerten Indien sitzen, und die das Bindeglied zwischen der
nordasiatischen Rasse und den breiten hinduisirten Volts-
massen der Gangescbenc bilden.
Der Hauptstamm westlich des Kofi, an der Grenze gegen
Sikkim, im Stromgebiete der Tista, sind die Leptscha. Sie
gehören mit den Murmi, Metsch und Mischmi im äußeren
Himalaya, den Kahar in Nord-Bengalen und Gorakhpur,
den Santal an der Südbiegnng des Ganges auf dessen
rechtem Ufer, den Rabha, Khassia nnd Assauiesen im mittleren
Brahmaputra-Thäte und seitlich desselben, jenem Volke von
geringer Größe und mit pyramidalem Kopfban an, dessen
Gesicht dabei großer Kopfdurchmesser, breite Backenknochen und
spitz zulaufendes Kinn kennzeichnet; die Stirn ist abgeplattet.
Die Nase ist breit, der Sattel jedoch ist nicht eingedrückt und
steht im Profil über die Augen vor. Von Bart wird nur
kleiner Schnurrbart getragen. Die Größe bei diesen Himalaya-
Völkern schwankt von 1520 mm bei den Murmi, bis
1584 mm (im Mittel) bei den leptscha. Am unschönsten ist
der Murmi; Linien zwischen Augenwinkel, Nasenflügel und
Mundwinkel gelegt, stehen schief zu einander und geben dem
Globus LIV. Nr. 19.
Gesichte einen überaus häßlichen Ausdruck. Der Körperbau
ist kräftig, der Unterkörper gedrungen, Arme bei den Metsch
und Murmi unverhältnißmäßig lang, wie dies bei unver-
mischtcn indischen Naturvölkern häufig der Fall ist.
Einer anderen Gruppe gehören die Limbu an; sie
nehmen die Vorberge ein und sind in Sikkim den Leptscha-
Sitzen vorgelagert, in Nepal dagegen wohnen sie in der-
gleichen Höhe wie diese. Sie sind größer als die Leptscha,
1622 mm hoch, haben geradere Stirn, weniger breit ge-
drückten Kopf, längeren Oberleib. Sie gelten den englischen
Ethnographen als ein Stamm mit den Kiranti, was
nur ein anderer Name für dieses Volk sei. In diesem
Zusammenhange ist es von größter Bedeutung, daß „Kiranti"
in der Form „Kirnta" in der altindischen Geschichte wohl-
beglaubigter Name eines Gebirgsvolkes im Himalaya ist.
Die brahmanischen Geschichtsschreiber sprechen von ihnen
verächtlich; aber Ptolemäus kennt sie. Die nepalesische
Ueberlieferung rechnet den Kiranti in der Zeit nach dem
fünften christlichen Jahrhundert 27 Könige mit einer
Gesammtzahl von 1630 Regentenjahren zu, und ihre Aus-
dehnung weit nach Süden zu beweist nicht nur der griechische
Geograph, sondern das Forterhalten ihres Namens bis in
die Gegenwart in dem abgeschwächten Wortlaute „Kiradi"
und „Kirar" in dem Namen einer wenig geachteten, Ackerbau
treibenden Kaste im westlichen Central-Indien und im
anschließenden Berar. Die Untersuchung der Sprache der
nepalesischen Kiranti weist ihnen einen Platz unter den Kol
37
290
Emil Schlagintweit: Nepal.
an, einem der zurückgebliebensten Völker außerhalb der
indischen Kastcnordnung. Obgleich in steter Gemeinschaft
mit Stämmen unter Leitung brahmanischer Priester, und
von Norden her eingeengt von Anhängern des buddhistischen
Glaubens, sind die Limbu-Kiranti im niedrigsten Fetisch-
dienste befangen geblieben. Es fehlt ihnen nicht bloß der
Glaube, sondern auch der Name für Gott. In vollstem
Maße gilt dies von den Kiranti; der Limbn hat sich von der
ans ihn einwirkenden buddhistischen Geistlichkeit bereits
besondere Schutzheilige aufdrängen lassen und wagt es
nicht mehr, den sein Haus betretenden Bettelmönchen ein
Almosen zu verweigern, aus Furcht, daß diese seine Schutz-
geister abwendig machen. Die Feinde des Menschen sind die
bösen Geister, sie verfolgen ihn auf Schritt und Tritt, und
selbst die Geister der verstorbenen Anverwandten sind nicht
Schützlinge, sondern gönnen den Ihrigen Wohlstand nicht.
Blutige Opfer sind allein im Stande, diese Geister vom
Menschen abzulenken und sie zn veranlassen, unter sich selbst
sich zu beschäftigen; man opfert überall, aber damit der
Nebenmensch nicht in Verderben geräth, indem er sich
unbewußt in das Machtbereich des Opfers und des davon
sich nährenden Geistes geräth, wird die Stelle, an welcher
man es hinterlegt, durch einen Bambusstab erkennbar gemacht,
an welchem Fetzen Tuch befestigt sind. Das hohe Alter und
die große Verbreitung dieses Gebrauches unter den Gebirgs-
bewohnern beweist, daß der Buddhist tibetischen Glaubens
aller Orten solche Stangen aufrichtet, um sich bei seinen täg-
lichen Verrichtungen Gedeihen zu sichern. Derselben An-
schauung entspricht die Einsenkung aufrecht gestellter Steine
über den Berbrennungsstätten der Verstorbenen, eine Sitte,
welcher auch die Bewohner der Waldhttnge am linken
Brahmaputra-Ufer — am meisten die Khassia — huldigen.
Den Limbu-Kiranti zunächst, aber eine Stufe tiefer als
diese, stehen die scheuen Bewohner der Sumpfniederung
am Südrande des Himalaya. Am eingehendsten unter
diesen zurückgebliebenen Stämmen sind für Nepal die Hayn,
(auch Vaya) bekannt. Sie haben eine Ueberlieferung, aus
Ceylon gekommen zu sein und auf der weiten Reise in
Central-Indien längere Zeit Standquartier genommen zu
haben. Aus der Namensähnlichkeit mit Völkernamen Cey-
lons, aus Eigenthümlichkeiten der Sprache und Ueberein-
stimmung im Aeußeren folgern so bewährte Forscher, wie
Hodgson und Dalton, nicht ohne Grund ihre Zugehörigkeit
zu den Kol-Völkern Indiens, „nur sind diese viel schöner".
Die Hayn erreichen 1636 mm Höhe, sind dunkler als die
Leptscha; die Stirn ist flach, der Hinterkopf platt, die Breite
oberhalb Augen groß, die Stirn nur schwach sich zuspitzend,
das Kinn dagegen stets schmal, wie bei Leptscha, der ^Nasen-
sattel nicht eingedrückt, die Augen liegen zurück. Unter ihren
Gebräuchen ist ganz besonders beachtenswerth, daß sie ihre
Nationaltünze genau in derselben Weise vollziehen, wie die
Oraon, die Ho und andere Stammesreste dieser Gruppe in
Mittelindicn. Dreißig und mehr Paare ordnen sich zum
Ringtanze; jeder drückt fest gegen den Vormann, die Brust
des Mädchens preßt sich gegen den Rücken des Mannes, und
dessen Leib deckt ihren Rücken. Ist der Ring fest geformt,
dann heben sich die Füße nach der Musik gleichzeitig vorwärts
im Kreise schreitend, bis der Ring unter hellem Schrei
auseinander bricht und Einzeltänze sowie Gelage folgen.
Den Gegensatz zn diesen beiden Gruppen bilden die
Gorkha. Dieser Name ist ein politischer und der ihn
tragenden Bevölkerung von dem jetzt herrschenden Königs-
geschlechte gegeben, das früher ein kleines Gebiet nördlich
von der Landeshauptstadt Kathmandu besaß und in dem
Städtchen Gorkha residirte. 1767, nach Beseitigung der
regierenden Newari- Linie, als König über ganz Nepal an-
erkannt, bestem Besitze werthvolle Fürsteuthümer im Westen
und selbst tibetische Landstriche zugeführt wurden, gestattete
die Dynastie ihren Getreuen den Namen Gorkhala oder
Abkömmlinge von Gorkha. Die Einführung dieses Namens
leistete der religiösen Politik der neuen Dynastie Vorschub.
Während unter ihren Vorgängern die Volksmassen dem
Buddhismus sich zuneigten, zogen mit den neuen Herrschern
andere Götter ein. Nepal wurde in ganz Indien der einzige
Staat, in welchem sich die Negierung zum Werkzeug der
Brahmanen hergiebt, ihnen einen bevorzugten Gerichtsstand
einräumt, die Kastenvorschriften zum Staatsgesetz erhob und
Bruch derselben mit schweren körperlichen Strafen belegt,
unter denen Verstümmelung obenan steht.
Den Stämmen nach sind unter den Görkhas verschiedene
Völkergruppen zu einer Nationalität zusammengewachsen:
Newari oder Khas, Magar und Gurung. Die Newari
gaben früher die Herrscher, die Magar erhoben die gegen-
wärtig regierende Dynastie, die Gurung sind die Lands-
knechte der jetzigen Regenten. Als Volk betrachtet, sind die
Newari eine Mischrasse mit Hindus, die Magar Mischlinge
von Hindus unter Beimengung von tibetischem Blut, die
Gurung mehr die reine nepalesische Urrasse.
Die Newari leiten ihren Namen von der nepalischen Be-
zeichnung für Fasan ab; dieser Vogel zeigt im eigentlichen
Nepal zwischen den Flüssen Gaudak und Kofi ein Gefieder von
seltener Pracht und gehört zu den stolzesten seines Geschlechtes.
Mein Bruder Hermann brachte davon viele Exemplare nach
Europa, die jetzt verschiedenen Museen zur Zierde gereichen.
In der ältesten Geschichte sehen wir die Newari als Gegner
der Kiranti und als Kämpfer um die Herrschaft mit indischen
Königen. Die Nähe des Landes an Gorakhpur, der Wiege
des Buddhismus, war der Annahme der neuen Religion
günstig; sie brachte ihnen Gesittung, Schrift und Literatur.
Die „Lantsa" genannte, in Spitzen ausgezogene Devanagari-
Schrist ist dort noch heute in Klöstern geübt, wenn auch
im täglichen Leben verdrängt durch das gewöhnliche Deva-
nagari. Alle Newari-Könige tragen Sanskritnamen, die
herrschenden Familien haben durchweg Nadschput-Blut in
sich aufgenommen. Weiter hinab in die unteren Schichten
wurde die Vermischung getragen im 14. Jahrhundert, als
sich ein stärkerer Strom angesehener Brahmanen- und Radsch-
put-Familien nach Nepal wandte, um sich vor dem Mos-
lim zu retten. Diese Einwanderer vollendeten die Hin-
duisirung Nepals. Der Einfluß des Hofes nöthigte zwar
zunächst eine wichtige Abweichung von der indischen Kasten-
ordnung anzuerkennen und Kinder von Brahmanen oder
Radschputs mit einer Frau, die außerhalb der Kastenord-
nung stand, als ebenbürtig zu erklären, statt als Abschaum.
Dabei erhielt der Sohn und damit das von ihm seinen
Nachkommen gegründete neue Geschlecht den Titel des Vaters,
und daraus erklärt sich die auffallende Erscheinung, daß
Namen der ältesten indischen Brahmanen- und Nadschputen-
Geschlechter unter den Newaris auftreten. Wie wenig hoch
diese nepalischen Kasten in Indien geschätzt werden, beweist
folgender verbürgter Vorgang. König Ramsah von der
Gorkha-Linie in Nepal schickte im vorigen Jahrhunderte
einen Brautwerber an den Hof von Meywar (Udaipur),
der für seinen Herrn nur die Hand einer Tochter aus diesem
angesehenen Geschlechte der Sesodia-Radschput warb. Der
Stammbaum wurde in Ordnung befunden; da frug man
den Abgesandten um seine eigene Kaste, und als dieser sich
einen Pande-Brahmanen nannte, wurde die Heirath ge-
weigert, denn er war als militärischer und nicht als geistlicher
Würdenträger gekommen und durfte demnach nicht von Brah-
man-Blnte sein. Noch heute verfehlen sich in Nepal selbst
Brahmanen gegen die Grundregeln des Kastengesetzes sowohl
in der Frauenwahl, wie in Beruf und Nahrung; aber die
Gefahr, welche ihren Vorrechten droht, haben die Leiter
Emil Schlagintweit: Nepal.
201
erkannt, und es wurde deswegen unter der jetzt ein Jahr-
hundert regierenden Dynastie einer weiteren Verschlechterung
durch Aborignierblut ein Damm gesetzt. Die neuen Herr-
scher waren von weniger reinem Blut als ihre Vorgänger,
bedurften daher einer abgötterischcn Verehrung, um höher
gewürdigt zu werden; die Brahmanen und Großen des
Reiches halfen ihnen dazu um den Preis, daß den hiu-
duisirten Unterthanen geschlechtlicher Verkehr mit den außer-
halb der brahmanischen Religionsgemeinschaft stehenden
Gebirgsstämmeu bei schwerer Leibesstrafe untersagt ist: den
Mann trifft der Tod, die Frau Verstümmelung. Ist der
eine schuldige Theil jedoch ein Brahmane oder die Tochter
eines solchen, dann hindert die Heiligkeit der Kaste eine
Bestrafung am Leibe, und er wird den Kasten-Oberen zur
Auferlegung einer Buße überwiesen. — Ebenso streng ist
das Verbot des Schlachtens der Rinder durchgeführt, und
zwar gilt diese Bestimmung für alle Unterthanen; bei dem
Bedürfnisse an Fleischnahrung führte dies zu dem Mißstaude,
daß die außerhalb der Hindu-Gemeinschaft stehenden Be-
wohner zum gefallenen Vieh greifen und verrohen. Im
übrigen ist die Auftheilung selbst der am meisten hinduisirten
Gruppen in Berufskasten, wie in Indien, nicht durchgeführt
und fehlt es bei der verhältnißmäßig wenig entwickelten
Gewerbsthätigkeit an den Grundlagen hierzu.
Die beiden anderen großen Gruppen der Gorkha sind die
Bla gar und Gurung; erstere theilen sich in den Grund
und Boden mit den Newari-Khas, die Gurung sitzen nördlich
von den Magar. Schon die Magar zeigen in der Sprache
starke Anklänge an das Tibetische, aber noch durchsetzt vom
Indischen; es treten darin tibetisirte Redewendungen auf, die
mit Hindu verwoben sind, und es kommen indische Sprach-
regeln vor, die Ausarbeitung mit tibetischen Bütteln zeigen.
Die Magar sind eine Hauptstütze der regierenden Dynastie.
Noch reineres Gebirgsvolk sind die Gurung und daher dem
Hinduismus wie der Dynastie weniger zugethan.
Im Aeußeren spricht sich die größere oder geringere
Mischung deutlich aus, Limbu- Bildung herrscht vor, selbst
noch unter den Newari-Brahmanen. Die Newari nähern sich
mit durchschnittlich 1611 mm Höhe den Bhot (Tibetern); der
Kopf ist breit, der Obertheil jedoch weniger pyramidal als bei
den Limbu, das Kinn mäßig entwickelt. Die Nase ist selten
spitz, sondern meist stumpf, der Sattel liegt tief, so daß die
gerade stehenden Augen häufig darüber vorstehen. Die Gurung
und Magar sind durchweg kräftiger gebaut. Ihre Größe über-
steigt mit 1652 bis 1666 mm die Newari wie die Bhot, der
Kopfbau ist länglich, die Backenknochen sehr breit, das Kinn
spitzt sich zu, und die Augen sind schief gestellt. Der Nasen-
sattel ist gut entwickelt, dagegen macht Unregelmäßigkeit in
den Linien das ganze Gesicht häßlich.
Westlich des Gandak- Flusses, gegen Kumaon, betreten
wir das Gebiet des reinen Hinduismus, und der Buddhismus
hat nur in den höchsten nach Tibet sich abdachenden Thälern
Anhänger. Die Bevölkerung nennt sich Thakar, legt sich
aber auch die Namen Rawat, Rathi bei; die Anwohner der
Ebene theilen sie in Thakar, unter denen Mian den Adel
bilden, und in Bhot-Radschput. Die Thakar zeigen edle Züge;
die 'Nase ist gerade und spitz, Stirne gerade. Die Miau-
Gruppe der Thakar gilt von hohem Adel; einzelne Familien
sollen einen Stammbaum auslegen können, der bis in das
zweite Jahrtausend vor Christus hinaufreicht und werden
selbst regierenden Fürsten ebenbürtig erachtet. So stammt
der Vasallensürst von Badschanr, den jüngst die nepalesische
Königstochter ehelichte, von einer solchen Familie. Die
Bhot-Radschput zeigen die Spuren ihrer Zurückführung auf
tibetisches Blut, in starker Vermischung mit Hindu-Sklaven
ans der Ebene, einst der Abschaum der brahmanischen
Kastenwelt. Sie sind auffallend klein, 1560 mm, zeigen
außerordentlich niedrige Stirn, haben Stumpsnase mit
weiten Nüstern und tief gesenktem Nasenbein; der Unter-
kopf ist nach vorn gestellt. Dabei ist der Rumps gedrungen
und unverhültnißmäßig kurz, verglichen mit dem überaus
langen Oberkörper. In Nepal genießen Thakar die Rechte
der Newari-Radschput, die Rawat benehmen sich unrein,
legen sich im Verkehre unter den Geschlechtern geringen
Zwang auf, kümmern sich um Kaste nicht und haben des-
halb an den Vorrechten der Brahmanen und ihrer hin-
duisirten Anhänger keinen gesellschaftlichen Antheil. Zwei
Gerichtsvorkommnisse aus der neuesten Zeit mögen den
Unterschied zwischen regierenden und regierten Klassen ver-
anschaulichen: In den Theegärten Assams finden jährlich
Hunderte nepalesischer Familien Arbeit. Die Plantagen-
besitzer in Lakhimpur hatten seit Jahren mit einem Brah-
manen Kontrakt, woraus dieser die gewünschte Zahl brauch-
barer Arbeiter aus seiner Heimath pünktlich lieferte. Plötzlich
kündigte der Brahmaue den Kontrakt, und der Grund war,
daß ihm seine Ehehälfte entlaufen war, und der englische
Richter den Entführer nur zu einer Freiheitsstrafe ver-
urtheilte, nicht aber auch, wie in seiner Heimath, Ehebrecher
sowie ungetreue Frau durch Abschneiden der Nase brand-
markte. Dagegen erinnert an den Urtheilsspruch Salomons
folgende Beweis-Auflage eines nepalesischen Richters: Ein
Mann klagt eine Schuld von 60 Rupien ein. Der Schuld-
ner behauptet, niemals Geld geborgt zu haben, und der
Kläger kann keinen anderen Zeugen des Geschäftes angeben
als den Baum, unter dem er das Geld vorzählte. Weil
es sich nicht um einen Streit unter Brahmanen oder Radsch-
put handelte, sollte Her Beweis nach Landessitte durch ein
Gottesurtheil gefunden werden, wobei beide Parteien in
tiefes Wasser steigen und auf gegebenes Zeichen untertauchen;
wer zuerst emporsteigt, verliert den Prozeß. Schon treffen
die Brahmanen die Vorbereitungen zu dieser Probe, die für
sie gute Bezahlung abwirft, da beauftragt der Richter den
Kläger, sich unter den Baum zu begeben, in dessen Schatten
er das Geld auflegte. Der Mann geht ab, und der Richter
fragt nach einiger Zeit den Schuldner, ob denn der Kläger
den Baum noch nicht erreicht haben könne. Dieser ant-
wortet verneinend, der Baum stehe ganz abseits vom Dorfe.
Der Richter beauftragte nun heimlich einen Boten, dem
Klüger zu folgen und sich in der Nähe des Baumes zu ver-
stecken, den Beklagten aber beorderte er nach einiger Zeit,
selbst sich zu überzeugen, ob der Kläger unter dem richtigen
Baume stehe. Da erkannte der Schuldner, daß er sich ver-
rathen hatte, und wurde als gewöhnlicher Mann außer dem
Ersätze noch zu einer tüchtigen Tracht Prügel verurtheilt.
Für Indien ist das Land Nepal naturgemäß ein Absatz-
gebiet für Jndustrieerzeuguisse zum eigenen Bedarf, sowie
zur Weiterbewegung an das tibetisch-mongolische Hinterland.
Allein die Machthaber in Nepal sind sich wohl bewußt, daß
das künstliche Gcsellschaftsrecht des Reiches in seinem Fort-
bestände gefährdet ist, selbst wenn nur Händler indischer
Nationalität zum Gewerbsbetriebe zugelassen werden. Die
Fremden dürfen deswegen nicht weiter aufsteigen, als zu
den Indien zunächst liegenden Grenzmärkten; dort müssen
ihre Waaren au einheimische Verkäufer zu Eigenthum oder
zu weiterer Abrechnung mit den Großhändlern übergehen.
Die Handelsumsätze zeigen deshalb keine Steigerung und
beschränken sich auf Ersatz der laufenden Abgänge; sie
schwanken seit dem Jahre 1880 zwischen 24 und 25 Mil-
lionen Rupien (a 2 Mk.) und find eher in Ab- als in Zu-
nahme begriffen, obgleich die schmalspurige Tirhut-Eisenbahn
westlich bei Sigauli, östlich bei Madhubaui, nahe dem Ge-
birge endet und in Nawabgandsch nächstens bis zur Grenze
von Nepal fortgeführt sein wird. Die Nepalesen selbst sind
sich wohl bewußt, daß diese Absperrung ihrem Wohlstände
37*
292
Maskat.
schadet, vermögen aber eine Aenderung nicht herbeizuführen.
Inzwischen sucht die thatenlustigc Jugend Ableitung aus dem
militärischen Gebiete. Die Regierung gestattet den englisch-
indischen Regimentern die Abordnung von Werbekommandos,
um Gorkhas in ihre Reihen aufzunehmen. Der Andrang
ist sehr groß. Während vor zehn Jahren die Gorkha-Re-
gimenter 5100 Mann zählten, ist ihre Zahl jetzt um die
Grenz-Polizei-Bataillone vermehrt worden, die längs der
tibetisch-chinesischen Grenze hinüber bis Jünnan und zu den
Schau-Staaten stehen; sie sind hier sehr gesucht, weil sic
Ma
(M i t sieben
dem Kastengesetze nicht strenge nachleben, überall sich ver-
wenden lassen und sehr ausdauernd sind. Das Anwerbungs-
Geschäft vollzieht sich unter durchaus verbindlichen Formen;
seine Regelung hat noch keinen Staatsvertrag nöthig ge-
macht, Nepal bemüht sich vielmehr, den Wünschen des eng-
lischen Residenten hierin entgegen zu kommen. Demnach
ist der einzige Nutzen, den Britisch-Jndien aus seinem langen
Verkehre mit Nepal zieht, noch auf die Versorgung mit
einem tüchtigen Soldatenmaterial ans seinen streitbaren
Bewohnern beschränkt.
Hat
Abbildung«: n.)
Der erste Anblick von Maskat, wenn man sich ihm von Hohe steile, sonncndurchglühte Felsen erheben sich
der Sceseite her nähert, ist bezaubernd, wie es ja fast bei jeder amphitheatralisch aus dem blauen Meere und bilden für
größeren orientalischen Stadt der Fall ist. > das Bild einen großartigen Hintergrund. Es sind die
®te tLuadette von Maskat.
letzten Ausläufer des Dschebel Akhdar — des „großen Ge-
birges" —, daß das Sultanat Oman in der Richtung von
Südost nach Nordwest durchstreicht, und das in der Nähe
der Küste aus weißem Nummuliten- und Alveolincnkalk, sowie
aus grünsteinartigem, eruptivem Gestein besteht. Vegetation
tragen diese Felsen nicht, und so erinnern sie uns daran, daß
wir an dem südöstlichen Abbruche der großen arabischen
Wüstentafcl stehen. Nur in den Wintermonaten werden sie
von spärlichen Niederschlägen benetzt, während sich im Som-
mer ein völlig wolkenloser Himmel über ihnen wölbt.
Die Stadt Maskat.
Maskat. 293
294
Maskat.
Auf den Felsen thront au verschiedenen Punkten burg-
artiges Gemäuer mit eckigen und runden Thürmen, das
an das europäische Mittelalter gemahnt, und das auch
dem Ausgange des europäischen Mittelalters thatsächlich
seine Entstehung verdankt. Die Portugiesen errichteten
diese Festungsbauten unmittelbar nach ihren ersten Ost-
indien-Fahrten, in den Zeiten Albuquerques, und sie be-
nutzten sie in jener Zeit als starke Stützen ihrer Seeherr-
schaft. Sie scheinen uneinnehmbar, von der Seeseite her
wie von der Landseite, sie beherrschen durch ihre Stellung den
Eingang zur Bai so vollkommen wie den Paß über das
Gebirge, und man fragt sich verwundert, wie sich die Portu-
giesen aus ihnen vertreiben lassen konnten. Es waren hier
übrigens nicht, wie in Indien, die Holländer, die sie ans
der starken Stellung heraus-
warfen , um sich selbst
darin festzusetzen, sondern
die Eingeborenen. Am Ende
deslangenUnabhängigkcits-
kampfes, den Portugal mit
Spanien auszufechten hatte,
scheint der Handstreich die-
sen so leicht geworden zu
sein, daß die Geschichte uns
kaum etwas davon zu er-
zählen hat (S. die Abbil-
dungen 1 und 2).
In der engen Thal-
nische am Fuße der Berge
und Burgen drangen sich
sodann die weißen Häuser
der Stadt zusammen, dar-
unter namentlich im Bor-
dergrunde mehrere sehr
stattlich: der Palast des
Sultans,derDivan, das alte
Zollhaus (auch ein Ueber-
rest der Portugiesenherr-
schast) und — last but
not least — das englische
Konsnlatsgebäude.
Der Hafen ist ziemlich
belebt. Es liegen ein paar
größere englische Dampfer
in ihm vor Anker, daneben
einige kleine Kriegsschiffe
des Sultans, und außer-
dem zahlreiche Dans und
Kähne der Eingeborenen.
Man sieht, daß man es
mit einem der namhaftesten
Handelsplätze am Indi-
schen Oceane zn thun hat, und zugleich auch mit einer
sehr seetüchtigen Bevölkerung. Sollte die letztere an den
alten Fahrten der Araber nach Indien nicht in hervorragender
Weise Antheil genommen haben! Maskat hat an der
Küste von Oman allerdings mehrere Rivalen, und einige
davon — namentlich Sohar, das dem Golfe von Persien
näher liegt — scheinen in den vor-portugiesischen Zeiten
eine bedeutendere Rolle gespielt zu haben. Jbn-Batuta be-
zeichnet es im 14. Jahrhundert einfach als eine kleine
Stadt. In der Zeit, als über die Länder am Persischen
Golfe — namentlich über Mesepotamien — ein trauriger
Verfall hereinbrach, während draußen das offene Meer sich
stärker und stärker mit Schiffen belebte, erhob sich Maskat aber,
und jene sanken. Die Gründung des Sultanats Zansibar
von Maskat aus, die man als eine große kolonisatorische
Ein arabischer Kaufmann.
Leistung anzusehen hat, erfolgte erst in der neueren Zeit,
nachdem die arabische Auswanderung von Oman nach der
Suaheli-Küste allerdings schon lange vor sich gegangen war.
Im Inneren bereitet die Stadt dem Besucher im all-
gemeinen dieselbe Enttäuschung wie Konstantinopel. Die
Straßen sind eng, schmutzig, holperig, und die meisten
Häuser erscheinen halb verfallen und ruinenhaft. In
Trümmern liegt vor allen Dingen die schöne Kathedrale,
die die Portugiesen erbauten. Man hatte dieselbe nicht,
als der Halbmond in der Stadt über das Kreuz siegte, in
eine Moschee verwandelt, wie die Hagia Sophia in Kon-
stantinopel. Das Haupt-Baumaterial, aus dem die Bauten
der Stadt aufgeführt sind, ist ein sonnentrockener Lehm-
ziegel, und die Banart aller größeren Häuser ist festungs-
artig — mit einem großen
inneren Hofe. Besonders
schöne Moscheen giebt es
nicht. Dazu ist der Sinn
der Bevölkerung zn wenig
religiös und zu kosmopoli-
tisch, wie es scheint. Der
Palast des Imam, der hart
am Meere steht, zeichnet sich
von der Landseite vor den
anderen Bauten besonders
durch sein stattliches und
schön mit arabischen Skulp-
turen geziertes Thor aus;
und durch seinen Löwenhof
bekundet er, daß man sich
am Palaste eines morgen-
ländischen Herrschers befin-
det. Diese Art von Aus-
stattung der Königspaläste
ist ja im Oriente uralt,
und aus den heidnischen
assyrischen Zeiten hat sie
sich ziemlich unverändert auf
die mohammedanischen Zei-
ten vererbt (S. Abbild. 3).
Die Löwen und die Krie-
ger mit ihren langen Flin-
ten, welche vor den Käfigen
herumstehen und herum-
sitzen, könnten einen auf
den Gedanken bringen, der
Imam von Maskat sei ein
gar gewaltiger Mann. Das
ist aber ein Irrthum. In
Wirklichkeit ist er nichts als
ein stiller Vasall Britan-
niens, und der eigentliche
Herr und Gebieter in der Stadt ist nicht er, sondern der eng-
lische Konsul. Die Engländer sind cs auch, die feine Dynastie
aufrecht erhalten, und seine stets zur Revolution geneigten
Unterthanen zu Ruhe und Ordnung zwingen. — Die Stallun-
gen des Schattenkönigs enthalten Pferde von den edelsten
arabischen Stammbäumen, dieselben sehen aber ziemlich
vernachlässigt und verkümmert aus. Sie hinreichend zu
tummeln und ihre Glieder geschmeidig zu erhalten, will ja
die Gestalt des Bodens in der Umgebung der Stadt nicht
gestatten.
Den Mittelpunkt des Verkehrs in der Stadt bildet
natürlich der Bazar, und dort läßt sich auch zugleich das
bunte Gemisch, das die Bevölkerung darstellt, am besten
studiren. Sehr stark ist das indische Element vertreten,
vor allen Dingen das Element der indischen Banianen, die
Der Eingang in den Palast des Imam.
Ç6S 'lWlM
296
Maskat,
einem mit ihrem weichen, verbindlichen Wesen so außer-
ordentlich sympathisch sind, die aber im Handel und Wandel
klug ihren Vortheil wahrnehmen, und die in der Regel
nach einer Reihe von Jahren als vermögende Leute — mit
manchen aufgehäuften „thalaris“ — in ihre indische
Heimath zurückkehren. Es sind bekanntlich strenge Vege-
tarianer, die kein Fleisch essen, sondern nur von Reis,
Früchten und Zuckerbrot (hallauah) leben. — Ihre Kon-
kurrenten sind die mohammedanischen Händler, die viel
schärfer geschnittene Gesichter und härtere Augen haben,
die aber kaum nach reiner arabischer Rasse aussehen, und
die in keinem Falle von dem üblichen arabisch-mohamme-
danischen Fanatismus erfüllt zu sein scheinen (S. Abbil-
dung 4). — Unverfälschtere arabische Typen finden sich
unter dem Landvolke, das von den Oasen des Binnenlandes
auf schwierigem Gebirgspfade herbei gekommen ist, um
Datteln und andere Landesprodukte zu verkaufen, und dafür
englische Baumwollenstoffe, Werkzeuge, Waffen rc. ciuzu-
Frau nebst Kind in Maskat.
kaufen. — Der einst schwnngreich betriebene Sklavenhandel
hat dazu zahlreiche Afrikaner herbeigeführt — Sudauneger
cbeusowic Bantuneger — und so bildet auch das schwarze
und farbige Element einen Hauptbestandtheil der Bevölke-
rung. Die Frauen tragen sich bei weitem nicht so streng
verschleiert wie in anderen mohammedanischen Städten,
und auch diesen Umstand hat man ohne Zweifel darauf zu
deuten, daß Vernunft und Toleranz in dem Welthandels-
platze Verblendung und Fanatismus in die Enge getrieben
haben. Ganz fehlt aber die mohammedanische Sitte keines-
wegs (S. Abbildung 5).
Von Europäern giebt cs in nennenswerther Zahl nur
Engländer in Biaskat, und in dem großen Geschäftsleben
der Stadt hört man das englische Idiom neben dem arabi-
schen am häufigsten ertönen. Die Briten haben die Be-
deutung des Punktes für ihre Herrschaft über Indien sowie
für den Handel im allgemeinen eben richtig erkannt, und
sie behandeln es vorläufig als ein unproklamirtes britisches
Maskat.
297
Protektorat; daß sie daraus ohne Zögern ein offen prokla-
mirtes Protektorat machen würden, sobald es irgend eine
Verschiebung der Welthandelsinteressen für sie rathsam
macht, versteht sich von selbst. Sollte die Euphratthal-
Eisenbahn demnächst ernstlich in Angriff genommen werden,
so dürfte dieser Zeitpunkt vielleicht gekommen sein, wenn
man cs nicht etwa vorzieht, einen anderen Punkt, der näher
an der Straße von Ormuzd liegt, zu besetzen und in ein
weiteres Gibraltar zu verwandeln.
Auf der Landseite ist Maskat mit einer Festungsmauer
umgeben, die drei von Soldaten bewachte Thore hat, durch
die man hinaus ins Freie gelangen kann. Dieses Freie ist
freilich sehr eng umgrenzt, und allenthalben wird der Fuß
durch jähe Grünsteinselsen in seinen Wanderungen gehemmt.
Der kulturfähige Boden nimmt einen sehr kleinen Raum
ein, doch finden sich einige Gärten, die mit Hülfe von Zieh-
brunnen künstlich bewässert werden, und in denen Palmen,
Feigenbäume, Reben rc. ganz gut gedeihen. Dieselben Zieh-
brunnen liefern auch das Trinkmasser für die Bevölkerung,
die es von dort in altbiblischer Weise vermittelst großer ans
dem Kopse getragener Thonkrüge nach ihren Häusern be-
fördert (S. Abbildungen 6 und 7).
Ein einziger Hauptpaß, der im Norden der Stadt liegt,
führt landeinwärts in größere Fernen: in die fruchttragenden,
grünen Thäler des Dschebel-Akhdar, ans denen ein großer
Theil der in Maskat konsumirten oder von dort verführten
Landesprodukte stammt. Der Weg, der durch diesen Paß
führt, ist freilich primitiv und schwierig genug.
Ein Garten bei Maskat.
Wenige Meilen westlich von Maskat liegt Matrah, das
in gewisser Weise als eine Vorstadt von Maskat betrachtet
werden kann. Dahin führt auch über einen Vorgebirgs-Sattel
ein steiler Felsenpfad, derselbe ist aber wenig begangen, nnd
die Kommunikation zwischen den beiden Orten vollzieht sich
beinahe ausschließlich auf dem Seewege — durch kleine Boote,
die sich beständig hinüber und herüber bewegen. Der anbau-
fähige Grund und Boden ist bei Matrah ein viel ausge-
breiteter als bei Maskat, nnd die ganze nähere llmgebung
kann ein einziger großer Garten genannt werden. Der
Sultan hat hier seine Sommerresidenz. Nichtsdestoweniger
ist Matrah viel ärmer als seine größere Schwesterstadt, da
es nicht wie diese durch weit ausgedehnte überseeische Handels-
beziehungen blüht. Seine Bai ist offener und Wind und
Globus UV. Nr. 19.
Wogen in einem viel höheren Grade ausgesetzt, als die von
Maskat.
Unter den Festungswerken, die Maskat beschützen, ver-
dienen namentlich die von Djillali, im Osten der Stadt,
deren Standort nur zur Zeit der Ebbe landfest ist, wäh-
rend er sonst eine Insel bildet, hervorgehoben zu werden;
nnd ebenso die des hohen Felsennestes Merani, im Westen
der Stadt. Die Armee des Sultans, die diese Werke ver-
theidigen soll — zum Theil mit uralten Kanonen, die aller
Wahrscheinlichkeit nach auch noch aus der Portugiesen-Zeit
stammen —, zählt 1200 Mann.
Was den Handel von Maskat betrifft, so richtet sich
derselbe vor allen Dingen nach Kuratschi, und mit dem
hohen Aufschwünge, den dieser indische Hafenplatz in der
38
298
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
neueren Zeit genommen hat, ist derjenige von Maskat
parallel gegangen. Seine hauptsächlichsten Exportartikel sind
Salz, Datteln, Fische, Baumwolle, Perlmuscheln und Perlen,
und der Werth seines Gesammthandels übersteigt gegen-
wärtig die Summe von 30 Millionen Mark.
Hinsichtlich seines Klimas gehört Maskat zu den
Brunnen zu Maskat.
heißesten Orten der Erde, und gesund kann die Stadt
entschieden nicht genannt werden. Auch die reicheren Ein-
geborenen flüchten während der Sommer-Monate in die
Berge, wo dadurch eine Anzahl von kleinen Sanatorien ent-
standen ist.
Die Einwohnerzahl von Maskat soll 40 000, die von
Matrah 25 000, und die von ganz Oman lx/2 Million
betragen. Es versteht sich aber von selbst, daß von ge-
naueren statistischen Erhebungen im Reiche des Imam zu-
vörderst noch keine Rede ist.
Die Mythologie der nordwest
Bon Dr. F. B o
VIII. (Scl
Wir haben in den früheren Abschnitte eine Reihe von
Sagenkreisen der Stäunne zwischen dein Puget-Sunde und
dem I?ynn - Kanäle kennen gelernt, welche im großen und
ganzen eine weitgehende Gleichförmigkeit ihres Charakters
ausweisen. Dies kann uns nicht Wunder nehmen, da die
sämmtlichen Stämme dieses Gebietes ja in allen ihren Sitten
und Gebräuchen einander ähnlich sind. Eine sorgfältige
Analyse der Ueberlieferungen zeigt aber dort recht tiefgehende
- amerikanischen Küstenvölker.
a s in New Park.
uß-Aufsatz.)
Unterschiede. Hierbei darf es uns nicht beirren, daß dieselben
Sagen dennoch in den verschiedensten Kombinationen wieder
und wieder auftauchen, denn das ist ja das Eigenthümliche der
Sagen, daß sie bei ihren Wanderungen mehr und mehr durch
Zusatz schon bekannter Elemente ausgeschmückt und entwickelt
werden. Wenn wir diese gemeinsamen Züge aussondern, so
bleiben eine Reihe von Grnndgestalten der Mythen übrig,
die sich nicht aus eine gemeinsame Quelle zurückführen lassen.
Dr. F. Bons: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
299
Was zunächst die gemeinsamen Elemente dieser Sagen
betrifft, so laßt sich deren allgemeine Verbreitung sehr schön
an dem Beispiele der Ersteigung des Himmels darlegen,
welche in einer früheren Nummer dieser Zeitschrift aus-
führlich behandelt ist. Wahrend die wichtigsten Sagen der
selischen Stämme diesen Gegenstand behandeln, finden wir
denselben nur beiläufig, gleichsam als Ausschmückung bei
den Tsimschian verwerthet, und es scheint, daß diese Sage
sich sogar bis zu den Schwarzfüßen verbreitet hat. Anderer-
seits sind die listigen Streiche des Raben, welche die Grund-
lage der Tlingit-Mythologie bilden, weit nach Süden ge-
wandert und daselbst anderen Sagenkreisen einverleibt
worden.
Daß in der That die Zusätze schon bekannter Elemente
die Entwickelung der Sagen bedingt, läßt sich an dem
Beispiele historischer Sagen aus Alaska zeigen, die an die
Baranow'sche Verwaltung anknüpfen und ganz im Stile
der Mythen gehalten sind. Wir werden daher bei einer
Betrachtung der Mythen uns ihre Entstehung so denken
müssen, daß jeder Stamm mit einem gewissen Schatze von
Sagen sich an der Küste nieder ließ. Ob diese in sich
einheitlich waren, ist eine Frage, die sich schwerlich je beant-
worten läßt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine ge-
meinsame Kultur an der Küste, und zugleich fand ein Aus-
tausch der Sagen statt. Gewisse Elemente, die sich auf
gemeinsame Lebensgewohnhciten bezogen, werden sich am
raschesten verbreitet haben. So ist die Grundlage un-
zähliger Sagen das Ausbleiben der Fische und daraus ent-
stehende Hnngersnoth, Unfälle zur See, besonders bei der
Seehundsjagd und anderes mehr. Ebenso häufig wird das Ver-
lassen von Personen erwähnt, die man von bösen Geistern
besessen wähnte. Die meisten dieser Züge sind so weit
verbreitet und so oft wiederkehrend in den Sagen der ver-
schiedenen Völker, daß aus denselben kein Rückschluß aus
ihren Ursprung gezogen werden kann.
Sehen wir aber von diesem Theile der Sagen ab, so
lassen sich dieselben in eine Reihe von Gruppen bringen,
die ungefähr mit den linguistischen Abtheilungen überein-
stimmen. Die nördlichste Gruppe umfaßt die Haida und
Tlingit; die zweite die Tsimschian, die dritte die Kwakintl
und die vierte die Küsten-Selisch. Als fünfte Gruppe
könnten ihnen die Bil^ula zugesellt werden. Die Nutka
reihen sich ganz den Kwakintl an. Ich möchte hier er-
wähnen, daß der Name Aht für die Stämme der West-
küste von Vancouver-Island fallen gelassen werden sollte,
denn derselbe ist eine sprachliche Barbarei. Mit dem
gleichen Rechte könnte man uns Deutsche als „Ers" be-
zeichnen, da wir Namen bilden, wie Pommer, Engländer,
Italiener; oder Franzosen als „Ais", weil sie sich Völker-
namen mit dieser Endung bilden. Cook's Name Nutka
war bereits allgemein angenommen und von Hake und
anderen mit Bewußtsein ans diese Stämme angewendet
worden, so daß demselben das Vorrecht gebührt. Die
Völker haben keinen eigenen gemeinsamen Namen, und daher
ist keine triftige Einwendung gegen den Namen Nntka zu
erheben.
Die Sagen der Tlingit sind besonders durch Wemia-
minow und Krause, die der Haida durch Dawson bekannt
geworden. Man kann dieselben als identisch bezeichnen,
da die vorhandenen Abweichungen nicht größer sind als die
von verschiedenen Individuen desselben Stammes herrühren-
den Varianten. Wir finden bei beiden Stämmen die
Rabcnsage als Grundlage der ganzen Mythologie und die
interessante Ueberlieferung von dem Kampfe zwischen dem
Raben und seinem Onkel, dem Nenkilstlas der Haida.
Dieses ist der einheitliche Mittelpunkt beider Mytho-
logien.
Bei den Tsimschian finden wir schon mancherlei neue
Ideen, welche wir bei ihren nördlichen Nachbaren vergeblich
suchen würden. Wir gewinnen aus ihren Mythologien
den Eindruck, daß sie ursprünglich einen reinen Natur-
kultus besaßen; daß der Himmel ihre oberste Gottheit war,
und daß Bäuuic, Thiere und Naturerscheinungen die Ver-
mittler zwischen Mensch und Gottheit darstellten. Besonders
mächtige Vermittler waren Sonne und Mond. Auf diese
Grundlage erscheint nun der Naben-Mythus aufgepfropft,
und überall sieht man das Bestreben, beiden mächtigen
Wesen, dem Himmel und dem Raben, ihre gebührende
Stellung einzuräumen. Viele Züge der Himmels-Mythologie
der Tsimschian erscheinen ebenso fremdartig in der Reihe
der nordwestamerikanischen Stämme, wie ihre Sprache und
manche ihrer Sitten, die uns an das ferne Binnenland
mahnen.
Am merkwürdigsten ist ohne Zweifel die Mythologie
der Kwakintl, denn bei ihnen finden wir eine große Ver-
schiedenheit zwischen den nördlichen und südlichen Stämmen,
während die mittleren sich ganz an die Bil^ula anlehnen.
Ihre charakteristischen Sagen beziehen sich auf die großen
Wintertänze. Es ist zweifelhaft, ob die Oanikila- Sage,
welche früher ausführlich erzählt wurde, allen Stämmen
dieser Gruppe gemeinsam ist, oder ob dieselbe bei den nörd-
lichsten, den Qäisla, nicht vorkommt.
Die Hauptsage der Küsten-Selisch ist endlich die vom
Wanderer und der Erstürmung des Himmels, welche in
naher Verbindung mit den Sonnensagen steht. Die gegen-
seitige Durchdringung dieser verschiedenen Sagenkreise geht
ans dem in den vorhergehenden Aufsätzen mitgetheilten
Materiale auf das klarste hervor. Daraus ergiebt sich,
daß ein Versuch, aus diesen Sagen die ursprüngliche Be-
deutung der einzelnen Gestalten abzuleiten, fehlschlagen muß,
da die meisten derselben in fertiger Gestalt übernommen
sind und ihr Ursprung sich in dunkler Ferne verliert.
Bei einem Versuche, den Ursprung der einzelnen Sagen-
kreise zu ergründen, dürfen wir die sprachlichen Hülfsmittel
nicht übergehen. Allerdings lassen sich die Mehrzahl der
mythologischen Namen in jeder Sprache aus einheimischen
Wurzeln ableiten, doch giebt es auch andere, die sich als
Lehnworte charakterisiren und damit den Ursprung der be-
treffenden Sagen und Bräuche verrathen. Dieses ist be-
sonders mit den Namen der mythologischen Gestalten der
Fall, welche bei den Tänzen der Kwakintl vorkommen. Ich
habe dieselben bei den Nutka, den nördlichen selischen
Stämmen, den Tsimschian und Haida gefunden. Diese
Thatsache scheint anzudeuten, daß die Sagen und Gebräuche
sich erst verhältnißmäßig spät über die verschiedenen Stämme
verbreitet haben, und vor allem ist sie ein sicherer Beweis
ihrer Herkunft.
Es ist höchst interessant zu sehen, in welcher Weise die
Haida diese Stoffe aufgenommen haben. Der Gebrauch
von Kopfringen aus rothgefürbtem Cederbaste geht Hand
in Hand mit diesen Tänzen. Ein Blick auf die vorhandenen
Sammlungen zeigt, daß die Haida die mannigfaltigsten
und schönsten Formen dieser Ringe besitzen, ein Umstand,
der auch auf eine große Mannigfaltigkeit der Tänze znrück-
schließen läßt. Es scheint, daß dieser Stamm eine merk-
würdige Fähigkeit hat, fremde Anregungen in sich aufzu-
nehmen und zu entwickeln.
Wir finden noch andere Beispiele, in denen eine Assimila-
tion zweier Stämme deutlich beobachtet werden kann. Am
bemerkenswerthesten sind unzweifelhaft die selischen Stämme,
besonders die Bityula. Da bisher wenig zuverlässiges
Material über dieselben vorliegt, mag es wünschenswerth
erscheinen, aus einem kurzen Wortverzeichnisse zu erweisen,
daß die Bitynla wirklich selisch sind. Ich denke das
38*
300
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Küstenvölker.
folgende kurze Vokalnlar, in welchem Bil^nla-Worte mit
solchen anderer selischer Dialekte zusammengestellt sind, wird
beweisend sein.
Deutsch Bil/ula
Bär (Grizzly) tl’a stlatlälem (Sq^ómis)
Bart sqöbots qopögen (Qatlóltx)
Berg smt smänt (Sisiatl)
Biber- kölon qölut ( " )
Brust sqma sqma (Snanaimu^)
essen ätltp ätlten ( " )
Gesicht mosa 171008 (Qatlólty)
gut iá ai ( „ )
Hans sötl siati (Weg) ( „ ;
Kind ména men (Sq^ómis)
Alante! étsami étsámen (Pentlats)
Mund tsutsa tsótsen (Sq^Ómis)
Mutter- stän tan (Sisiatl)
Nase ina^se móqsen (Pentlats)
rasch tri tlée (Qatlöltx)
rudern asasitl é§el (Snanaiinu^)
Schürze tsiöp síap (Sisiatl)
Sclave snaaq snätq (Pentlats)
See tsätl sáeatl (Qatlóltx)
Seehund as% as% ( " ;
singen siüt si un (Sqxómis)
sitzen ämt ainöt ( „ )
todt até ma temen (Pentlats)
Vater- man man (Qatlóltj)
Vogel síxse% seséq (Sqftómis)
Unter diesen Worten mache ich besonders auf dasjenige
für „Seehund" und für „rudern" aufmerksam, welche darauf
hindeuten, daß die Bityula und die übrigen Stämme ge-
meinsam an der Meeresküste wohnten. Die ersteren sind
nun durchaus den ihnen benachbarten Kwakiutl-Stämmen
assimilirt. Sie haben deren Wintertänze angenommen,
sonne ihre Art des Hausbaues und Lebens. In ihrer
Sprache finden sich viele aus dem Kwakiutl entlehnte Worte,
und vor allem weise ich aus ihren Namen für die Schamanen
Atloqoala hin, der eine geringe Umgestaltung des Tloqoäla
der Kwakiutl ist. Dasselbe Wort ist übrigens auch von
den Nutka angenommen. Höchst eigenthümlich ist auch die
Thatsache, daß die Stammväter einiger Geschlechter der
Bil%ula Kwakintlnamen führen. Aus allen diesem müssen
wir auf eine innige Durchdringung beider Völker schließen.
Ich habe schon an früherer Stelle erwähnt, daß es mir
nicht gelungen ist, eine Hindeutung auf die schöne Masma-
salani% - Sage unter anderen Stämmen zu finden, und
leider kann ich nicht einmal angeben, welcher Sprache dieser
Name ursprünglich angehört. Da ähnliche Sagen unter
dem südlichen Zweige der Selisch nicht vorkommen, bleibt
uns nur übrig, auf eine fremde Quelle im Binncnlande zu
schließen, wenn nicht die Kwakiutl auch diese Sage ur-
sprünglich besessen haben.
Ein anderer Stamm, dessen Sagen und Sitten ganz
von denen der Kwakiutl beeinflußt ist, sind die Qatlölt%
von Comox. Bei ihnen ist dieser Einfluß offenbar durch
die häufig stattfindenden Heirathen mit den Lekwiltoq,
dem südlichsten Stamme der Kwakiutl, bewirkt worden. Auch
die Sprache beider Stämme trägt deutliche Spuren dieser
Berührung in zahllosen Lehnworten.
Es ist ungemein schwierig, zu einer richtigen Vorstellung
über die ursprüngliche Mythologie der Kwakiutl zu ge-
langen, weil die nördlichen und südlichen Stämme so stark
von einander abweichen. Es finden sich z. B. so durch-
greifende Unterschiede, wie Matriarchat unter den nördlichen
Stämmen, während Patriarchat unter den südlichen über-
wiegt. Wir müssen hieraus schließen, daß die Beeinflussung
durch benachbarte Stämme Jahrhunderte lang gedauert hat,
denn nur so läßt sich eine Aenderung so grundlegender
Begriffe verstehen. Aus sprachlichen Gründen glaube ich,
daß die väterliche Erbfolge die ursprüngliche ist, oder viel-
leicht richtiger, daß die Erbfolge in beiden Linien gleich
berechtigt war. Es dienen nämlich auch bei den Stämmen,
bei welchen wir das Matriarchat herrschend finden, dieselben
Ausdrücke zur Bezeichnung der Verwandtschaft in beiden
Linien. Es frägt sich daher, worauf dieser Einfluß zurück-
zuführen ist.
Das Studium der Sagcnsammlung zeigt, daß die
nördlichen Stämme, welchen die mütterliche Erbfolge eigen-
thümlich ist, zugleich die Rabensage in ausgedehntester Ent-
wickelung besitzen. Die Form der Nabensage stimmt mit
der bei den Tsimschian gefundenen ziemlich überein, vor
allem zeigt sich dieselbe Verbindung zwischen Sonnen- und
Nabensage. Da außerdem die Geschlechtseintheilung sich
näher an die der Tsimschian als an die der Haida anlehnt,
scheint es, daß der Einfluß der ersteren maßgebend gewesen
ist. Die Haida haben nämlich die gleiche Eintheilung in
zwei Phratrien, wie die Tlingit. Die Tsimschian haben
dagegen vier von einander unabhängige Geschlechter: den
Raben, Adler, Wolf und Bären. Die nördlichen Stämme
der Kwakiutl haben dagegen nur drei: den Raben, Adler
und Wal. Ihr Wal ist mit dem Bären der Tsimschian
gleichwerthig. Es muß vorläufig dahingestellt bleiben, ob
der Einfluß der Tsimschian die einzige Quelle gewesen ist,
welche die Sitten der nördlichen Kwakiutl beeinflußt hat,
sicher ist nur, daß ein solcher Einfluß stattgefunden hat.
Es giebt noch einen anderen Umstand, welcher dafür
spricht, daß die Gebräuche der Kwakiutl nicht unmittelbar
von den Haida beeinflußt worden sind. Es ist dieses in
der Thatsache begründet, daß sich keine ihrer Sitten un-
mittelbar zu jenem Volke verirrt hat. Nur die nächst-
wohnenden Stämme der Tsimschian haben die Tänze der
Kwakiutl ohne Veränderung angenommen, und erst gegen
Anfang unseres Jahrhunderts begannen die Haida, dieselben
den Tsimschian zu entlehnen. Ans der Thatsache, daß
nur wenige Tsimschianstämme diese Tänze angenommen
haben, darf man nicht folgern, daß dieses erst ganz neuer-
dings geschehen ist, da das Recht, solche Tänze aufzuführen,
durch Heirath erworben ist und eifersüchtig gewahrt wird.
Es ist aber bekannt, wie lange sich solche Vorrechte oft er-
halten.
Immerhin aber berührt es sonderbar, daß diese Tänze
durch Heirath sich nicht weiter verbreitet haben, wenn die
Kwakiutl selbst eine so durchgreifende Aenderung ihrer
sozialen Verhältnisse durch Berührung mit ihren nördlichen
Nachbaren erlitten haben, wie die Rückbildung des Patri-
archats in das Matriarchat.
Ich bin geneigt, noch eine andere den Völkern Nordwest-
Amerikas eigenthümliche Erscheinung auf die Kwakiutl
zurückzuführen, nämlich den Gebrauch der Wappenpfähle.
Gegen diese Ansicht scheint der Umstand zu sprechen, daß
dieselben ihre höchste Ausbildung im Norden unter den
Haida und Tsimschian finden, und daß von hier ans sowohl
nach Norden, als auch nach Süden ihre Häufigkeit und
Schönheit abnimmt. Ich habe aber schon früher darauf
hingewiesen, daß die Haida mit großer Energie fremde
Anregungen entwickeln, und das Fehlen der hochentwickelten
Formen der Wappenpfähle bei den verwandten Tlingit läßt
mich schließen, daß wir es auch hier mit einer selbständigen
Entwickelung einer fremden Anregung zu thun haben.
Die Idee der Geschlechtseintheilung ist hier bei den Haida
am kräftigsten entwickelt. Es spricht sich dieses nicht nur
in der Schönheit ihrer Wappenpfähle aus, welche selbst
Dr. F. Boas: Die Mythologie der nordwest-amerikanischen Knstenoölker.
301
die der Tsimschian übertreffen, sondern auch darin, daß sie
die schwachen Andeutungen von Tätowirung, die sich bei
ihren Nachbarn finden, zu hoher Vollendung gebracht haben,
indem Frauen sowohl wie Männer Brust, Rücken, Ober-
und Unterarm, Ober- und Unterschenkel und Füße mit dem
Abzeichen des Geschlechtes, zu dem sie gehören, bedecken.
Es ist bemerkenswerth, daß sie in Bezug hierauf die Tlingit
so weit übertreffen. Eine Prüfung der Sagen zeigt, daß
nur bei den Kwakiutl wieder und wieder die Wappenpfähle
eine Rolle in denselben spielen. Es ist allerdings wohl
möglich — besonders bei der Eitelkeit der Kwakiutl —, daß
solche Sagen entstanden, um der Sitte größere Wichtigkeit
und damit dem Besitzer des Pfahles größere Achtung zu
verschaffen, doch scheint mir für diese Auffassung die Sage zu
häufig und vor allem zu grundlegend für viele Mythen zu sein.
Der Gebrauch der Wappenpfähle hat sich ebenfalls bis zu
den Qatlöltx verbreitet. Weiter südlich ist die Sitte unbekannt.
Wenden wir uns jetzt zu einer Betrachtung der Küsten-
Selisch. Bekanntlich bewohnen Völker dieses Sprachstammes
den größten Theil des Innern von Britisch-Columbien und
Washington-Territory. Es ist daher nicht zu erwarten, daß
die Gebräuche der Küstenstämme verständlich sein sollten, ohne
auf das Binnenland Rücksicht zu nchnien. Die Lebensweise
beider Gruppen ist allerdings ganz verschieden. Die Küsten-
stämme wohnen in großen Häusern, welche ähnlich wie die
der nördlichen Stämme gebaut sind, aber bedeutendere Länge
haben. Sie sind Fischer und benutzen Canoes in ebenso
ausgedehntem Maße wie die Kwakiutl oder Tlingit. Die
Stämme des Binnenlandes leben dagegen in Erdhäusern
und sind naturgemäß ebensoviel Jäger wie Fischer. Der
Kern der selischen Sagen scheint die Sonne zu sein, von
der Ueberlieferungen vom Charakter der IläigpSage erzählt
werden. Nicht mit gleicher Sicherheit läßt sich die Sage vom
großen Wanderer ans die selischen Stämme zurückführen. An
der Küste ist er allerdings unzweifelhaft die Gottheit, aber schon
bei den Ntlakyapamux, welche den Thompson River be-
wohnen, ist er nur eine untergeordnete Gestalt. In welcher
Form die Sage bei den Kalispelm u. s. w. vorkommt, ist mir
unbekannt. Durch Gibbs wissen wir, daß sie bei den eigentlichen
Chinuk am Columbia River vorkommt, und sie ist die Grund-
lage der Mythologie der Nutka. Wir müssen daher vorläufig
die Frage offen lassen, wo ihr Ursprung zu suchen ist.
Bei den Selisch herrscht ebenfalls das Vaterrecht. Die
Trennung der Geschlechter ist aber nicht so bcutlid) wie bei
den Kwakiutl. Auch hier finden wir noch bestimmte Tänze
und Bräuche, das Vorrecht gewisser Geschlechter oder Stämme.
Besonders gilt dieses von dem Gebrauche der Masken, die
aber unzweifelhaft vom Norden her stammen, da Masken
selten sind und bei den verwandten Stämmen des Binnen-
landes gar nicht vorzukommen scheinen.
Das Studium des Gebrauches von Masken inacht uns
ans einen anderen interessanten Umstand aufmerksam. Die
Masken der nördlichsten Völker dieses Gebietes, der Tlingit,
zeigen vielfach eigenthümliche Verzierungen, die in ganzen
Figuren bestehen, welche aus den Gesichtern hervorwachsen,
oder denselben angehängt sind. Außerdem erscheinen die-
selben nicht so stark stilifirt, wie die Masken der südlicheren
Völker. Durch diese Eigenthümlichkeiten stellen sie sich den-
jenigen der Eskimos des südlichen Alaska nahe, welche die
gleichen Merkmale besitzen. Ein sorgfältiger Ueberblick über
die Sagen zeigt auch andere Eigenthümlichkeiten, die un-
zweifelhaft auf dieselbe Quelle zurückzuführen sind; vor allem
die Vorstellung von zwei Welten, in denen die Seelen leben;
die eine für die eines gewaltsamen Todes Gestorbenen, im
Himmel, die zweite für auf dem Krankenbette Gestorbene,
im gleichen Niveau mit der Erde, aber außerhalb derselben.
Ich habe in den vorhergehenden Bemerkungen versucht,
durch den Vergleich der Sagen zu einem Rückschlüsse auf
die Entwickelung der nordwest-amerikanischen Kultur zu ge-
langen, und es hat sich gezeigt, daß dieselbe keineswegs so
einheitlich ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Am
sichersten ist ein solcher Beweis, wenn wir bei Stämmen
der gleichen Sprachgruppe verschiedene Sitten und Sagen
finden. Leider ist das Material, welches mir zu Gebote
steht nicht vollständig genug, um die Untersuchung gleich-
mäßig durchzuführen. Eine Kenntniß der Stämme am
Gardner-Kanal und der Selisch des Binnenlandes, so wie
ihrer südlichen Nachbaren ist unentbehrlich, um z. B. die
Wanderer-Sage auf ihren Ursprung zurückzuverfolgen.
Eines der Resultate unserer Untersuchung ist die Er-
kenntniß des großen Einflusses, welchen die Kivakiutl auf
die Entwickelung ihrer Nachbaren gehabt haben, und welcher
vielleicht noch viel tiefer gehend ist, als es gegenwärtig den
Anschein hat. Die Grundlage ihrer Mythen ist nur zum
Theil erkennbar, da sie selbst von der zweiten wichtigen
Gruppe dieser Völker — den Haida und Tlingit — mittelbar
stark beeinflußt sind.
Diese beiden Völker bilden einen höchst interessanten
Gegenstand des Studiums. Der Bau beider Sprachen ist
bei großer Verschiedenheit des Vokabulars sehr ähnlich.
Ihre Sitten und Sagen sind fast gleichartig, nur zeigen
sich die Haida durch die Vermittelung der Tsimschian noch
stärker durch ihre südlichen Nachbaren beeinflußt, als die
Tlingit. Die Thatsache, daß diese beiden Völker trotz ihrer
Verwandtschaft sich ganz wesentlich in Bezug auf den Stil
ihrer Kunstwerke unterscheiden, halte ich für sehr wichtig,
da ich dieselbe für beweisend dafür halte, daß diese Künste
nicht bei den Haida entstanden sind, obwohl sie daselbst ihre
höchste Entwickelung erhalten haben.
In den Tsimschian-Sagen erscheinen Elemente, die sie
ziemlich sicher als spätere Eindringlinge an der Küste charak-
teri streu.
Die Nutka endlich sind so gänzlich von den Kwakiutl
beeinflußt, daß aus ihren Sitten und Sagen nach dem
gegenwärtigen Staude unserer Kenntniß nichts zu ersehen ist.
Es würde nun nothwendig sein, die aus dem Studium
ethnologischer Thatsachen gezogenen Folgerungen durch
linguistische und anthropologische Untersuchungen zu unter-
stützen und auszubauen. Im Gegensatze zu der ethnologi-
schen Gleichförmigkeit finden wir die größtmögliche Mannig-
faltigkeit von Sprachen in dem besprochenen Gebiete, und
zwar stimmen die Gruppen mit den von uns unterschiedenen
ethnologischen Gruppen ziemlich gut überein.
Die anthropologische Untersuchung wird durch die starke
Mischung der Stämme sehr erschwert. Heirathen zwischen
den verschiedenen Stämmen sind sehr häufig, und außerdem
beförderte früher die Existenz der Sklaverei ihre Vermischung.
Ferner steht uns nur wenig Material über die nördlichen
Stämme zu Gebote. Dieselben unterscheiden sich aber durch
den ganz asiatischen Charakter ihrer Züge stark von den
südlicheren Stämmen. Auf diese ist der Gebrauch, den
Schädel künstlich zu deformiren, beschränkt. Die Kwakiutl
sowohl wie die Selisch haben kurze Köpfe, eine Eigenschaft,
die bei den letzteren noch durch die Art der Deformation
verstärkt wird; doch sind beide Typen sehr von einander
verschieden, indem der Hinterkopf der Kwakiutl bedeutend
länger, und die Stirn sehr viel breiter ist, als bei den
Selisch. An der Küste haben die Qatlölt% noch den Kwa-
kiutl-Typus, welcher dann plötzlich verschwindet.
Es weisen also alle diese Erscheinungen auf eine Viel-
heit des Ursprunges der uordwestamerikanischen Kultur hin.
Wir haben uns ganz von allen Seitenblicken ans ent-
fernte Gebiete enthalten und keinen Versuch gemacht, die
302
Kürzere Mittheilungen.
Kultur dieses Gebietes mit asiatischen oder polynesischen
Kulturen in Beziehung zu setzen, obwohl wir uns gewisser
Analogien, auf welche so häufig aufmerksam gemacht wird,
wohl bewußt sind. Bei der Häufigkeit isolirt wiederkehren-
der ethnologischer Erscheinungen muß jeder Analogieschluß
gerechte Zweifel erwecken, und es erschien uns daher
wichtiger, zunächst die zu untersuchende Kultur selbst zu
analysiren. Nachdem wir erkannt haben, daß dieselbe aus
mehreren Elementen entstanden ist, würde es sich fragen,
welches derselben mit fremden Erscheinungen in Beziehung
gesetzt werden kann. Gewiß nicht die Selisch, Nutka und
Kwakiutl. Bei den ersteren zeugt der Charakter der Binnen-
landstämme gegen eine solche Verbindung, und die drei ge-
nannten Sprachstämme sind durchaus indianisch. Die
physischen Merkmale der Tsimschian, Haida und Tlingit
erinnern dagegen stark an asiatische Typen. Die Tsimschian
des Binnenlandes sind uns anthropologisch wenig bekannt;
die der Küste sind sehr stark mit Haida und Tlingit ge-
mischt.
Wir müßten uns also vor weiteren Schlüssen bemühen,
die Kultur der Nordwestamerikaner noch weiter zu analy-
siren, um wirklich mit greifbarer Bestimmtheit zu wissen,
was wir denn vergleichen wollen. Aus anthropologischen
Gründen werden wir schließen, daß die Tlingit und Haida
die Träger einer solchen Verbindung sein würden. Hier
hätte eine zukünftige Untersuchung der ethnologischen Ana-
logien anzusetzen. Vorläufig aber ist die Kenntniß der
merkwürdigen Völker der Nordwestküste noch nicht weit
genug fortgeschritten, um einen Vergleich an der Zeit er-
scheinen zu lassen. Der Bau der einzelnen Sprachen, der
Charakter der zwischen den Tlingit und Eskimo wohnenden
Stämme, und die Sitten müssen erst in weit größerem
Detail studirt werden, als bis jetzt geschehen ist, ehe selbst
das Problem mit annähernder Präcision gestellt werden kann.
Kürzere Mi
Die Wege zu Emm Pascha.
Vor der Münchener Abtheilung des Deutschen Kolonial-
vereins verbreitete sich Dr. W. Götz in einem Vortrage
über die Wege zu Emin-Pascha. Der kürzeste Weg,
der zu wählen sein würde, wenn es sich einzig um die
Erreichung Emius handelte, wäre demnach der von Mombas
über Taweta durch das Masai-Land, an dem Naiwascha-
und Baringo-See vorüber, und nach dem Nordostnfer des
Victoria-Nyanza (Kabirondo und Usoga); derselbe lüge also
ganz in der englischen Interessen - Sphäre. Ein anderer
Weg, der nebenbei für den deutschen Handel von Wichtigkeit
werden könnte, wäre der von Pangani nach Wasegua,
Tschagga, dem Natronsee und durch unbekanntes Gebiet
nach dem östlichen Victoria-Nyanza. Ein dritter Weg
endlich wäre der von Reisenden, Händlern und Missionären
am meisten benutzte, von Bagamoyo über Mpuampua und
Tabora nach Kagehi, von wo der Victoria-Nyanza in großen
Segel-Canoes zu übersetzen wäre. Am besten würden nach
Dr. Götz zwei Expeditions-Körper getrennt ans diesen
Wegen — auf dem nördlichen und auf einem der südlichen —
vorgehen, um sich am Victoria-Nyanza mit einander zu ver-
einigen. Die Wege erheben sich sämmtlich unfern der Küste
zu einer beträchtlichen Höhe über den Meeresspiegel (bis
über 1000 m), die Versorgung mit Nahrung wäre bei der
Angebautheit der Gegend und der ergiebigen Jagd nicht
schwer, und der Widerstand der Eingeborenen — namentlich
von Masai, Kabirondo und Usoga — würde in keinem
Falle ein sehr kräftiger sein. — Jede Karawane denkt sich
Dr. Götz aus etwa 220 schußgewandten Bewaffneten und
125 Trägern bestehend, und die gesammte zu transportirende
Last nimmt er zu 150 Centnern an. Zum Lasttragen will
er nebenbei 80 bis 90 Esel benutzt sehen. Von Mombas
nach Taweta ist es elf Tagereisen, von Taweta nach dem
Naiwascha-See 18 bis 19, und von Bagamoyo nach Tabora
(740 km) 35.
Wir selbst halten den Weg von Bagamoyo über Tabora
in jeder Beziehung für den praktikabelsten und aussichts-
vollsten, besonders wenn man am Victoria-Nyanza darauf
bedacht ist, Unyoro und Uganda zu umgehen. Das Haupt-
t t h e i l u n g e n.
Hinderniß, mit dem es die geplante Expedition unter den
obwaltenden Verhältnissen zu thun hat, dürfte aber über-
haupt weniger in der Beschaffenheit der Wege, als vielmehr
in dem Zusammenbringen einer gut disciplinirten und zuver-
lässigen Mannschaft liegen. Dies war schon in den nor-
malen Zeiten immer die Hauptnoth der Reisenden, und in
den gegenwärtigen Zeiten wird es sicherlich doppelt der Fall
sein. Stanley erreichte den Victoria-Nyanza (Kagehi) in
den Jahren 1874 bis 1875 von Bagamoyo aus in 103
Tagen, indem er über Mpiunnpua und Snna (Urimi) ging,
und namentlich auf dem mittleren Theile seines Weges hatte
er harte Kämpfe mit den Eingeborenen (insbesondere mit
den Waujatnru) sowie zugleich auch arge Hungersnoth zu
bestehen, vorwiegend durch Davonlaufen verlor er aber bis
zum Victoria-Nyanza etwa ein Drittel seiner Leute, und er
konnte diesen Verlust durch neue Anwerbungen nur zum
Theil wieder ersetzen. Beim Auszuge aus Bagamoyo war
seine Expedition 356 Mann stark. — Der Weg über Tabora
führt weiter westlich als der Stauley'sche und berührt im
allgemeinen bessere Gegenden. Auf dem letzten Theile seiner
Reise (zum See) fand aber auch Stanley das Land (Usukmna)
außerordentlich reich an Wild und Feldfrüchten, so daß die
Nahrungsvcrsorgung keinerlei Schwierigkeit bereitete. — Von
Tabora ans gelangte auch die hauptlose Karawane Victor
Girand's, die ihren Herrn am Tanganika treulos verlassen
hatte, nach Bagamoyo zurück. — Die Entfernung, welche
Stanley auf seinem Marsche nach Kagehi zurückgelegt hat,
betrug 1150 km, diejenige, welche auf dem Wege über
Tabora zurückzulegen wäre, dürfte dagegen nahezu 1200 km
betragen. Da aber die Hauptschwierigkeiten, welche Stanley
zu überwinden hatte, gerade auf der Strecke lagen, welche
über Tabora umgangen wird, so wäre ein viel rascheres
Erreichen des Victoria-Nyanza auf dem letzteren Wege mit
einer guten Mannschaft .recht tvohl denkbar. — Der erste
Weg, den Dr. Götz ins Auge faßt (von Mombas aus), füllt
zusammen mit der Reiseroute Joseph Thomsons (1883), der
271 Tage zubrachte, ehe er an den Victoria-Nyanza kam (bei
Seremba), der aber nur eine Karawane von 14O Maun führte,
und der wegen seiner wissenschaftlichen Forschungen nicht
darauf bedacht war, seinem Ziele direkt zuzustreben. E. D.
Aus allen Erdtheilen.
303
Aus allen
Europa.
— Oberst Bonille hat ein neues Nivellement Frank-
reichs unternommen, durch das sich das ältere Bourdalou'sche
Nivellement in vielen Punkten als mit erheblichen Irrthümern
behaftet erweist. In der Gegend von Lille ergiebt sich eine
Erniedrigung des gesammten Terrains um 0,78 ein.
— Nach einer Aufstellung des französischen Handels-
ministeriums hat sich die Zahl der Fremden in Frank-
reich vom Jahre 1851 bis zum Jahre 1886 etwa ver-
dreifacht, während die Zahl der im Lande Geborenen sich
nur um etwa 4 Proc. vermehrt hat. Am stärksten war der
Zuwachs des italienischen Elementes, das 1886 264568Köpfe
zählt, und in dem Departement Bonches-du-Rhone mehr
als 8 Proc. von der Gcsammtbevölkernng ausmacht. Belgier
lebten 482 261 im Lande, namentlich im Departement Nord;
Deutsche ca. 100 000, d. i. nicht ganz halb so viele als vor
1870; Spanier und Portugiesen 80842; Schweizer 78 584;
Holländer 37149; Engländer und Iren 36134; Nord- und
Südamerikaner 10 253. Den Hanptkonzentrationspunkt des
Fremdenzuflusscs — sowohl für die willkommenen Geld-
verzehrer, als auch für die auf Gelderwerb ausgehenden Ar-
beiter — war natürlich Paris.
Asien.
— Die Asienforschung hat durch den Tod des Generals
N. v. Prshewalski einen schweren Schlag erlitten. Der
berühmte Reisende, der an Energie und Kühnheit Stanley
vollkommen ebeuwürtig zur Seite stand, und der an wisscn-
schaftlich wcrthvolleu Beobachtungen einen viel größeren Schatz
als dieser heimgebracht hat, war auf seiner fünften Ausreise
nach Asien am Jssyk-kul angelangt, und im Begriffe die Ketten
des Thian-schan zu übersteigen starb er in dem Oertchen
Karakol, in einem Alter von noch nicht ganz fünfzig Jahren.
— In der „Jswestja" der Ostsibirischen Geographischen
Gesellschaft (vol. 19, I) erstattet L. A. Jaczcwski einen
vorläufigen kurzen Bericht über die Ergebnisse seiner mit
Botaniker Prcyn unternommenen Expedition in dem
Sajanischen Gebirge. Die beiden Herren überstiegen
das Gebirge, das im Munku Sardyk, sowie in mehreren
anderen Gipfeln die Höhe von 3500 m erreicht, an drei ver-
schiedenen Orten. Vom Süden, an den Ufern des Kirligoy-
Flusses, erscheint es als ein einziger großer Wall, der von
Südost nach Nordwest streicht. Die Gliederung in zahlreiche
einzelne Ketten ist in der Hauptsache der Thätigkeit der
Atmosphärilien zu verdanken, wie schon Tschersky erkannte.
Die alten paläozoischen (wahrscheinlich silurischen) Schichten
im Norden lagern ungestört horizontal, so daß also das
Plateau durch ungeheure Zeiträume hindurch nicht voin Meere
bedeckt war. Die Gletscher reichen im Nordabhange viel
weiter thalwärts als im Südabhange, und dieselben waren einst
viel ausgedehnter als heute, da in größerer Entfernung von den-
selben Gletscherschliffe und erratische Blöcke beobachtet wurden.
— Der neuerliche Versuch des englischen Kapitäns
Wiggins, durch das Karischc Meer zum Jenisei
vorzudringen, und den Handelswcg zur See nach Nord-
sibirien als praktikabel zu erweisen, ist wieder gescheitert.
Trotzdem vertritt der bekannte schwedische Polarforscher Torell
die Meinung, daß eine regelmäßige Schiffahrtsverbindung
zwischen Europa und Nordsibiricn möglich sei. Es müßten
nur besonders konstruirte Schiffe dazu beschafft und im An-
Erdtheilen.
fange des Sonuncrs am westlichen Eingänge des Matoschkin-
Schar stationirt werden, um ostwärts vordringen zu können,
sobald das Karische Meer eisfrei würde. Unter fünf Jahren
sei das Eis durchschnittlich nur in einem so schlimm, daß die
Fahrt dadurch unmöglich gemacht werde. — Das lautet für
die theoretische Brauchbarkeit des Weges günstiger als für
die praktische.
— Da sich der Seeweg durch das Karische Meer in dem
gegenwärtigen Jahre immer wieder schlecht bewährt hat, so
tritt das Projekt Golochwastoffs, eine Eisenbahn
zwischen dem Eismeere und dem unteren Ob zu
bauen, wieder mehr in den Vordergrund. Die betreffende
Bahn soll nur 400 Werst (km) lang werden, nördlich von
Belkow Roß ausgehen, die Tundra Bolschozcmelsk durchmessen,
den Ural in 180 m Höhe überschreiten und bei Obdorsk
endigen. Man glaubt freilich, daß der Betrieb auf dieser
Bahn nur etwa 180 Tage in jedem Jahr möglich sein wird.
— Als erste und nächste Wirkung der neuen central-
asiatischen Eisenbahn wurde berichtet, daß in den von ihr
durchzogenen Gegenden, namentlich im Gebiet von Samarkand
und im Chanat von Buchara, eine beträchtlich größere Fläche
als sonst mit Baumwolle bestellt worden sei. Jetzt melden
russische Zeitungen, daß die kaiserliche Regierung mit einer
in Centralasien thätigen Handelsgesellschaft (Kudrin & Comp.)
über folgendes Projekt in Unterhandlung steht: Der Ge-
sellschaft wird ein 65 550 Hektaren Landes umfassender
Theil der sogenannten Hnngersteppe zwischen Tschinas und
Dschisak (ans dem Wege vom Ssyr-Darja nach Samarkand)
auf 90 Jahre zur unentgeltlichen Benutzung überwiesen.
Diese gesammte Fläche hat die Gesellschaft mit Bewässernngs-
anstalten zu überziehen, welche in bestimmten Terminen sich
fortschreitend entwickeln und in 42 Jahren zum Abschluß ge-
bracht sein müssen. Werden die Werke in den bestimmten
Terminen nicht bis zu dem bedungenen Grade vollendet,
so verliert die Gesellschaft überhaupt das Recht zur weiteren
Nutzung des Grund und Bodens. Von diesem soll ferner
ein Drittel zu Bamnwollenpflanznngcn verwendet werden,
der Rest ist zu Feld-, Wiesen- und Baumanlagen bestimmt,
bezw. zum Baugrund für die Häuser der ans Rußland herbei-
gerufenen Kolonisten. Der ganze Plan unterliegt zur Zeit
der Begutachtung des Generalgouverneurs von Turkistan.
Afrika.
— Das schottische „Geographical Magazine“ (vol. IV,
p. 556) enthält eine Reihe von Bemerkungen über das
von der Britisch-Ostafrikanischen Gesellschaft über-
nommene Küstenland, unter denen wir die folgenden
hervorheben: Der beste Hafen an der ganzen Küste dürfte
Mombas sein, er ist tief, gut von Land umschlossen und doch
leicht zugänglich, und fähig etwa 20 Panzerschiffe aufzunehmen.
Während das Küstenland im allgemeinen in einer Breite
von 200 englischen Meilen sehr ungesund ist, so macht der
Strich von Mombas bis Malindi von dieser Regel eine
Ausnahme, vielleicht, weil poröser Sandstein den Untergrund
bildet, und weil die Niederschlagsmenge keine sehr große ist.
Dem entsprechend ist auch die Vegetation nicht sehr üppig,
und die Flüsse führen nur in der Regenzeit Wasser, während
solches in der Trockenzeit blos in natürlichen Teichen ent-
halten ist. Außer ans zwei Strecken zwischen Taro und dem
Kilimandscharo ist aber an Trinkwasser kein Mangel. Die
304
Aus allen Erdiheilen.
Bevölkerung ist durch die Verwüstungen, welche die Masai
angerichtet haben, sehr dünn, und im wesentlichen finden sich
kleine Dörfer, mit Feldern von Mais, Hirse, Bohnen und
Linsen und mit Heerden von Rindern, Schafen und Ziegen,
nur in den zerstreuten Wald-Distrikten. Die mohammeda-
nischen Sklavenhändler sind auch hier den Europäern feindlich,
und sie sind es, die das Eindringen der Kultur bisher am meisten
erschwert haben. Eigentliche Handelsstraßen in das Innere
giebt es nicht, sondern nur schmale Negerpfade, denen die
Sklavenkarawanen folgen, und die häufigem Wechsel unterliegen.
— Am 1. November sind endlich Nachrichten von
Stanley, die im allgemeinen als zuverlässige betrachtet
werden können, in Zansibar eingetroffen. Danach stießen
arabische Händler westlich vom Albert Nyanza und südöstlich
von Sanga (im Lande der Momfu, nahe der Wasserscheide
zwischen Kongo und Nil) auf eine Abtheilung der Stanlcy'-
schen Expedition, die sich gerade anschickte, eine Anzahl von
Sümpfen, an denen die Gegend reich ist, zu durchschreiten.
Die Abtheilung bestand aus etwa 30 Zansibarleuten und
bildete nur die Nachhut, während der von Stanley geführte
Hauptkörper zwei Tagereisen voraus war. Die Händler
vernahmen von den Leuten Stanley's, daß die Expedition
furchtbare Strapazen zu überstehen gehabt, und durch Kämpfe
mit den Eingeborenen, die ihnen keine Lebensmittel verab-
folgen wollten, sowie durch Unfälle bei Stromübergängen
und durch Desertion große Verluste erlitten habe. In den
dichten Waldungen sei man nur lx/4 englische Meile an
jedem Tage vorwärts gekommen, und außerdem habe man
wiederholt längeren Halt gemacht, in der Hoffnung, daß Ver-
stärkungen und Provisionen von den Aruwimi-Fällen an-
langen würden. Einer der weißen Begleiter Stanley's sei
gestorben, mtb Stanley selbst sei längere Zeit fieberkrank ge-
wesen, so daß man deshalb eine dreiwöchentliche Rast habe
machen müssen, nun sei er aber wieder hergestellt. Weil die
Gegend in der Richtung auf den Albert Nyanza sehr sumpfig
sei, so habe sich der Reisende vor kurzem entschlossen, den
Weg mehr gegen Nord und Nordost zu nehmen, hoffend,
daß er auf diese Weise Wadelai in 40 bis 50 Tagen erreichen
werde. Die Stärke der Karawane schützten die Araber zur
Zeit, wo sie ihrer Nachhut begegneten, auf etwa 250 Mann,
was eine Reduktion derselben auf weniger als die Hälfte be-
deuten würde. — Da die Begegnung mit der Stanley'schen
Expedition um Ende November 1887 stattfand, und Stanley
im März 1888 noch nicht zn Emin-Pascha gestoßen war
(Vergl. „Globus", Bd. 54, S. 112), so kann die neue Nachricht
kaum als eine sehr tröstliche aufgefaßt werden. Die Araber be-
richteten zwar, daß die Expedition noch einen rüstigen und
leistungsfähigen Eindruck gemacht habe, aber zwischen Ende No-
vember und Anfang März liegen nicht 50 Tage, sondern reich-
lich drei Monate. Hoffnung, daß der energische Mann sein Ziel
mittlerweile erreicht haben werde, ist aber immerhin noch da.
B ü ch c r s ch a n.
— Anleitung zu wissenschaftlichen Beobach-
tungen auf Reisen, in Einzel-Abhandlungen ver-
faßt von P. Ascherson, A. Bastian, C. Bürgen,
H. Bolán, O. Drude, G. Fritsch, A. Gärtner,
A. Gerstacker, A. Günther, I. Hann, G. Hartlanb,
R. Hartmann, P. Hoffmann, W. Jordan, D. Krüm-
mel, M Lindeman, Ritter v. Lorenz - Liburnau,
v. Martens, A. Meißen, K. Möbius, G. Neumayer,
A. Orth, F. v. Richthofen, H. Schubert, F. Schwein-
furth, H.Steinthal, F.Tietjen, R.Virchow, E. Weiß,
H. Wild, L. Wittmack und herausgegeben von
Dr. G. Neumayer. — Zweite Auflage. Zwei Bände.
Berlin, 1888. Robert Oppenheim. Das Zeitalter
der großen kontinentalen Durchquerungen und Recognos-
cirungen, das in den letzten Jahrzehnten seinen Höhepunkt
erreicht hatte, stellte an den einzelnen Forschungsreiseuden ge-
waltige Anforderungen. Jede Wissenschaft erwartete und
verlangte, daß er für sie etwas mit heimbrächte, denn
jede hatte in dein betreffenden Erdraum ihre Probleme
zu lösen. Der Reisende sollte Geograph sein, und Ortslagen
und Berghöhen bestimmen, Geolog, und über die älteren und
jüngeren Formationen Aufschluß geben, Physiker, Botaniker,
Zoolog, Anthropolog, Linguist, und was nicht sonst noch —
eine Forderung, die bei der weit fortgeschrittenen Theilung der
wissenschaftlichen Arbeit unmöglich erfüllt werden konnte.
Da kamen Bücher von der Art des vorliegenden wie gerufen.
Sie formulirten die Wünsche, die die einzelnen Disciplinen
an den Reisenden stellten, sie gaben die einfachsten Wege an,
auf denen ihnen auch von dem Nichtfachmanne bis zu einem
gewissen Grade entsprochen werden konnte, und es kann kein
Zweifel darüber bestehen, daß sie in dieser Weise unendlich
viel dazu beigetragen haben, die Gesammtwissenschaft von dem
Erdplaneten zn fördern. Nicht mit Unrecht bildeten „Neu-
mayer's Anleitungen" einen der wesentlichsten Bestandtheile
jeder wissenschaftlichen Reise-Ausrüstung. — Wäre das in
Frage stehende Zeitalter nun heute vollkommen überwunden,
so würden dergleichen Biicher ihre Existenzberechtigung ver-
loren haben, und es hätten an ihre Stelle Spezialwerke
zu treten. Es ist dies aber höchstens zum Theil der Fall.
In zahlreichen Erdgegenden handelt es sich immer noch
um die Forscherarbeit einzelner Pioniere, und in anderen
Gegenden, wo man ans verschiedenen Fachleuten zusammen-
gesetzte Expeditionen entsendet, kann man die Theilung der
Arbeit wenigstens noch lange nicht so weit treiben, daß dem
Einzelnen neben seinem eigentlichen „Fache" nicht noch
dieses und jenes verwandte Fach zufiele. Die Spezialisirung
hat zum großen Vortheile der Wissenschaft auch bei der
Explorirung Afrikas, Asiens, Südamerikas und Australiens
große Fortschrite gemacht, aber sie ist keine so weitgehende
wie daheim. Deshalb sind „Neumayer's Anleitungen" noch
immer an ihrem Platze, und cs ist von ihnen noch immer
eine bedeutende Förderung der Erdkunde und der ver-
schiedensten anderen Wissenschaften zu erwarten, wenn die
Reisenden sich ihrer bedienen. Trägt ja doch das Buch in
seiner neuen Auflage der veränderten Lage auch Rechnung,
indem es seine einzelnen Theile in einem viel höheren Grade
vertieft und erweitert hat, und indem es durch seine Gliede-
rung in zwei Hauptabtheilungen dem Einzelnen die freie
Wahl läßt, entweder der eigentlichen Geographie oder der Eth-
nologie oder der Botanik oder der Zoologie zu dienen. Das
Buch ersetzt dem Reisenden in unbekannten Gegenden eine
ganze Bibliothek. — Im übrigen genügt es zur nachdrück-
lichen Empfehlung des Werkes darauf hinzuweisen, daß die
oben aufgezählten Bearbeiter der einzelnen Abhandlungen
ohne Ausnahme hervorragende Autoritäten in ihrem Fache
sind, und daß dieselben mit den Aufgaben, welche in ihren
Disciplinen vor allen Dingen gelöst werden müssen, nach
jeder Richtung hin wohl vertraut sind. Der erste Abschnitt
des zweiten Bandes — die von A. Meißen vertretene Landes-
kunde — würde unseres Erachtens richtiger am Orte gewesen
sein im ersten Bande.
Inhalt: Emil Schlag int weit: Nepal. II. — Maskat. (Mit sieben Abbildungen.) — Dr. F. Boas: Die Mytho-
logie der nvrdwest-amerikanischen Küstenvölker. VIII. (Schluß-Aussatz.) — Kürzere Mittheilungen: Die Wege zu Emin Pascha. —
Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 4. November 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich V i e lv e g und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer HerÜLksichtrgung der Ethnologie, der Kulturberhnltnrsse
und des Welthandels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweiq
Jährlich 2 Bände a 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
1888.
Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
Von Dr. M. Hollrung.
I.
(Mit zwei Abbildungen und einer Karte.)
Es ist eine eigenthümliche Thatsache, daß unsere afrika-
nischen Kolonien viel besser gekannt sind und auch weit
mehr das Interesse des Laien wie des Fachgelehrten zu
fesseln verstehen, als sene an der Grenze des indisch-
malayischcn Archipels und des Großen Ozeans gelegenen,
offiziell unter dem Namen „Deutsches Schutzgebiet in der
SUdsee" bekannten, gemeinhin aber nach dem auf der Insel
Neu-Guinca liegenden Theile desselben als „ Kaiser-Wilhelms-
land" bezeichneten Besitzungen. Es soll daher in den nach-
folgenden Zeilen versucht werden, durch eine auf Grund
eigener Anschauung gewonnene kurze Schilderung, das
deutsche Schutzgebiet in der Südsee dem Interesse des
Lesers näher zu bringen.
Als die Neu-Guinea-Kompagnie durch den Kaiserlichen
Schutzbrief vom 17. Mai 1885 in den ausschließlichen
Besitz des Schutzgebietes, bestehend aus dem Kaiser-Wil-
helmsland und den Inseln des Bismarck-Archipels, wozu
sich etwas später noch die nördlichen Salomonsinseln ge-
sellten, gesetzt wurde und daniit eine Reihe von schwer-
wiegenden Rechten sowohl wie Verpflichtungen übernahm,
betrat sie ein Arbeitsfeld, welches weit ungünstigere Chancen
für eine gedeihliche Entwickelung bot, als irgend eine der-
jenigen Gesellschaften, welche in Afrika Ländereien im deut-
schen Interesse erworben, vorgefunden hat. Während dort
im „dunklen Erdtheil" Land und Leute bis zu einem ge-
wissen Grade schon bekannt, die Eingeborenen bereits der
Globus L1V. Nr. 20.
Kultur näher getreten und Handelsprodukte, sowie große
Handelsstraßen nach dem Innern vorhanden waren, herrschte
im Gebiete der Neu-Guiuea-Kompagnie über diese für die
Prosperität eines Landes so hochwichtigen Verhältnisse
theils vollständige Unkenntniß, theils unvollständige Kennt-
niß. Etwas genauer bekannt war wenig mehr als die
Küste, und diese nicht einmal in ihrer vollen Ausdehnung.
Zwar hatte der Russe Micklucho-Maclay in den Jahren
1871/72 längere Zeit an der Küste der Astrolabe-Bai in
der Nähe des Dorfes Bonzu und später in diesem Dorfe
selbst gelebt, hatte die meteorologischen Verhältnisse, Sprache
und Sitten der Eingeborenen daselbst studirt, hatte auch
die benachbarten Küstcngegcuden bis auf 20 Irin Entfer-
nung nach beiden Seiten hin, und das Hinterland bis ans
6 Irin in das Innere hinein besucht, aber seine Beobach-
tungen und Erfahrungen sind nicht von allgemeiner Be-
deutung geworden, da er im ganzen nur weniges Material
und das Wenige an verhältnißmäßig schwer zugängigen
Stellen veröffentlicht hat. Es besuchte danach Finsch
1884/85 im Aufträge der Neu-Guiuea-Kompagnie auf
dem Dampfer Samoa die Küsten des nachmaligen Kaiser-
Wilhclmslandes, sowie einige Partien von Neu-Mecklenburg
und Neu-Pommern. Ihm verdanken wir hierdurch eine
Reihe werthvoller Entdeckungen, Beobachtungen und Mit-
theilungen, welche sich jedoch, da Finsch, an den Dampfer
gebunden, nirgends Landaufenthalte von irgend welchem
39
306
Dr. M. Hollrung: Tas deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
Belang nehmen konnte, nur über gewisse Küstenstrecken und
ihre allernächste Umgebung erstrecken. Nach einigen Rich-
tnngen hin etwas besser bekannt waren verschiedene Theile
der Inseln des Bismarck-Archipels. Hier hatten einerseits
deutsche Kriegsschiffe, insbesondere die „Gazelle", durch zahl-
reiche Vermessungen Grund zu einer besseren Kenntniß
des Landes gelegt, andererseits zwei deutsche Handelshäuser
durch Anlegungen von Faktoreien und Nebenstationen den
Verkehr mit den Eingeborenen u. s. w. bereits eingeleitet.
Die Nen-Guinea-Kompagnie begann im November des
Jahres 1885 ihre Thätigkeit auf diesem jungfräulichen
Gebiete zunächst mit der Errichtung neuer eigener Sta-
tionen in Kaiser-Wilhelmsland, der Anlegung von Versuchs-
pflanzungen, mit der Erforschung der Eingeborenensprache
und der Einführung eines regelmäßigen Dampfschifsverkehrs
zwischen den Stationen einerseits und dem Festland von
Australien andererseits. Es folgte im Lause der Zeit die
Aussendung einer wissenschaftlichen Zwecken dienenden Expe-
dition, die Organisation genauer meteorologischer Beobach-
tungen, die Einführung deutscher Rechtsprechung, deutscher
Maße und Gewichte u. a. m. Wiewohl nun die durch
Land und Leute gegebenen Vorbedingungen im Allgenieinen
nicht als unbedingt günstig erschienen, sind doch die auf die
Kolonisirung ihres Besitzes gerichteten Bestrebungen der
Nen-Guinea-Kompagnie bisher zum großen Theil von Er-
folg begleitet gewesen, da ihre Arbeiten vielfach durch werth-
volle, in der Beschaffenheit und Natur des Landes sowie
der Eingeborenen liegende Hilfsmittel unterstützt wurden.
Von großem Werthe für die Entwickelung des Schutz-
gebietes ist die Küstenbildung im Verein mit gewissen
vortheilhasten Witternngsverhältnissen gewesen. Was erstere
anbelangt, so zeigt sie zwar im ganzen eine äußerst geringe
Gliederung, weist dagegen tut speciellen eine überraschend
große Anzahl von ausgezeichneten Häfen oder Einbuch-
Nachdruck verboten.
Der Hatzfeldthafen und die Insel Tschirimotsch. (Nach einer Photographie von Dr. Ai. Hollrnng.)
tungen, welche als sichere Ankerplätze benutzt werden können,
ans. Es kommt bei der Benutzung dieser Einbuchtungen
dem Schisser der Umstand zu statten, daß Stürme int dent-
scheit Schutzgebiet unbekannt sind und selbst stärkere Winde
nur zur Zeit des Windwechsels eintreten. Aus diesem
Grunde verursacht auch das Landen an ganz offenen Küsten-
stcllcn wenig Schwierigkeiten. Unter den Häfen, deren
Zahl in Kaiscr-Wilhelmsland auf der 450 Seemeilen langen
Küstcnstrecke von Mitrefelsen bis Kap della Torre 16 be-
trägt, ist der Friedrich-Wilhelmshafen der sicherste, während
die beiden ihm dicht benachbarten Häfen „Prinz Heinrich-
hafen" und „Alexishafen" Anspruch darauf machen können,
die geräumigsten zu sein. Der Friedrich - Wilhelmshafen,
durch seine vielen Seitenbuchten etwas dem Hafen von
Sydney gleichend, wenn auch viel kleiner wie dieser, wird
gegenwärtig noch nicht benutzt, es steht aber außer allem
Zweifel, daß er dereinst nach Besiedelung und Bebauung
der westlich von der Astrolabe-Bai gelegenen Ebene zu voller
Bedeutung gelangen wird. Unter den übrigen Häfen sind der
Hatzfeldthafen (S. Abbildung 1), der Konstantinhafen und der
Finschhafen in Kaiser-Wilhelmsland, der Hafen von Matupi
(Gazellahalbinsel auf Neu-Pommern), der Hafen von Mioko
(in der Lanenburg-Jnselgruppe) und der Hafen von Nnsa (in
der Straße zwischen Neu-Hannover und Neu-Mecklenburg)
deshalb hervorzuheben, weil sich größere Stationen in ihrer
unmittelbaren Nähe befinden. Die Hanptstation für das
gesammte Schutzgebiet steht mit dem Finschhafen (S. Ab-
bildung 2) in Verbindung, obwohl weder der Finschhafen,
noch die ihn umgebenden Länderkomplexe den im Laufe der
Zeit an die Hanptstation eines Gebietes von der halben
Größe des Deutschen Reiches gestellten Anforderungen
werden genügen können. Mit Ausnahme von Matupi
sind die genannten Häfen Korallenhäfen. Die korallinische
Beschaffenheit derselben bietet jedoch im allgemeinen keine
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet iu der Südsee.
307
nennenswerthen Schwierigkeiten, und ist nur gelegentlich
dadurch von Nachtheil, daß sie einen Mangel an genügenden
Mengen frischen Quelltrinkwassers oder dessen gänzliches
Abhandensein verursacht.
KoraÜcnbildnngcn in Gestalt von Riffen befinden sich
vielfach dicht unter der Küste, verhältnißmäßig selten da-
gegen in offener Sec. Erstere sowohl wie letztere sind
gegenwärtig genügend bekannt, um nicht mehr Schiffahrts-
Hemmnisse zu bilden.
Die Flußschiffahrt, für welche nur das Kaiser-Wilhelms-
land und einige Theile von Neu-Pommern in Betracht
kommen, ist gegenwärtig noch wenig entwickelt, da die Ober-
flächcnbeschaffcnheit des Schutzgebietes einerseits, die Lage
der Stationen andererseits Verhältnisse geschaffen haben,
welche es noch nicht erforderlich machten, die regelmäßige
Befahrung der Flüsse ins Auge zu fassen. Als Erlänte-
rung hierzu ist es nöthig, einen Seitenblick auf die eben-
erwähnte Oberslächcnformation zu werfen. Das Kaiser-
Wilhelmsland zunächst ist sehr deutlich in einen nördlichen,
ebenen und einen südlichen, gebirgigen Theil geschieden.
Die Grenze zwischen beiden Bildungen ist etwa unter
40 30' zu suchen, woselbst mit einem nahezu parallel
zum Aeguator verlaufenden Zuge das Gebirge von der
Küste vollständig zurückweicht. Die Berge erreichen hier
nur geringe Höhe (700 bis 800 in), erscheinen wenig massig
und durch sanftgeneigte, vielfach mit Gras bedeckte Abhänge
gekennzeichnet. Diesen Charakter verliert das Bergland
nach dem Süden zu immer mehr und mehr und in der
gewaltigen, compakten Masse des Finisterre-Gebirges
(ßorroborro Mana — d. i. sehr große Berge — der Bongu-
Eingeborenen) ist er schließlich ein vollständig anderer.
Im buntesten Durcheinander treten hier die zahllosen ge-
Finschhafen, von der Halbinsel Nngidn aus gesehen.
Nachdruck verboten.
(Nach einer Photographie von Dr. M. Hollrung.)
schlossencn Bcrgkämmc auf, zu einer gewaltigen, das Hinter-
land vollständig abschließenden Mauer sich empor thürmend.
Einige Bergflüsse erzeugen zwar eine Art von Gliederung,
dieselbe kommt aber nicht genügend deutlich zum Ausdruck,
da der Lauf dieser Flüsse ein zu kurzer und die Zahl der-
selben eine zu große ist. Mit verschwindend wenig Aus-
nahmen besitzen die Bergkämme schmalen Rücken und steile
Abhänge, Hochplateaus fehlen dagegen im Finisterrc-Gebirge
vollständig. Aus dieser Bergmasse, welche die ganze 80
Seemeilen lauge MaclayMstze in großer Nähe derselben ent-
lang läuft, ragen einige sich nicht allseitig deutlich abschei-
dende Erhebungen — der von Maclay so benannte Schopen-
hauer- und Kantberg nebst dem Stoschbcrg — hervor. Die
Höhe dieser Berge ist zur Zeit uoch nicht genau festgestellt.
Friedrichen giebt auf seiner Karte des westlichen Theiles
der Südsee die Höhe des Schopenhauerberges auf 6118 m
an, was indessen wohl etwas zu hoch gegriffen sein dürfte.
Wie das ganze Finisterre-Gebirge von der See her beim
Beschauer einen überwältigenden Eindruck hervorbringt, so
sind auch die einzelnen Partien des Gebirges, namentlich
die Thäler,-zumeist von reizender Anmuth und landschaft-
licher Schönheit. Für Knlturzwecke sind diese Thäler
dagegen eben so oft nicht tauglich wegen ihrer außerordent-
lichen Enge und der Steilheit der sie begrenzenden Berg-
abhänge.
Diesen Charakter bewahrt auch das südlich vom Haupt-
stock des Finisterre, in der durch den Huon-Golf im Süden
und durch die Vitiazstraßc im Norden begrenzten Halbinsel
gelegene, durchschnittlich 1000 m hohe, vom Finisterre nicht
deutlich abgegliederte Gebirgsland. Die Karte von Fried-
richscn unterscheidet innerhalb dieses Gebirgstheiles als
Unterabtheilung die Rawlinson-Berge, jedoch mit Unrecht,
denn dieselben besitzen keinerlei Charakteristicum, welches
diese Sonderung rechtfertigen könnte.
Eine entschiedene Theilung der Gebirge wird dagegen wei-
ter südwärts durch den Markham- und Franziskaslnß erzeugt.
39*
308
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
Tie Ebene, welche den nördlichen Theil von Kaiser-
Wilhelmsland einnimmt, ist eine reine Tiefebene ohne
ncnnenswerthe Steigung nach dem Innern hin, denn unter
1420 56 östl. L. 4011 s. Br. betrug ihre Höhe über dem
Meeresspiegel nur etwa 20 m. Nichtsdestoweniger finden
regelmäßig wiederkehrende Ueberschwemmungen derselben und
vor allem Ueberflnthungen der dem Meere benachbarten
Partien nur an vereinzelten Stellen statt.
Diese vorstehend kurz skizzirte Oberflüchenbeschaffenhcit
hat nur im Norden die Bildung größerer Flüsse ermöglicht,
mährend es im gebirgigen, südlichen Theile an Wasserläufen,
welche zur Befahrung mit größeren Schiffen auf bedeutendere
Entfernungen nach dem Innern hinein tauglich sind, fast
vollständig mangelt. Da nun andererseits alle Stationen
im Kaiser-Wilhelmsland tut südlichen Theile gelegen sind, so
erklärt sich hieraus die geringe Beachtung, welche die Fluß-
schiffahrt in Kaiser-Wilhelmsland, ganz im Gegensatz zu
anderen Kolonialgebieten, erfahren hat. Neu-Mecklenburg
ist von schmaler, langgestreckter Form und dabei von der
Küste ab durchaus gebirgig, so daß schiffbare Flüsse hier
nicht zur Ausbildung kommen konnten. Ebenso erreicht
Neu-Pommern nur in seinen mittleren Partien eine solche
Breitenausdehnung, welche die Formation fahrbarer Wasser-
läufe zuläßt.
Wiewohl nun gegenwärtig der größte Fluß des Nordens,
der Kaiserin-Augustafluß, noch nach keiner Richtung hin
ausgenutzt wird, so kann die Nutzbarmachung desselben doch
nur eine Frage der Zeit sein. Eine Reihe von Umstünden
stützt diese Vermuthungen. Zn diesen gehört die von allen
Einsahrtshindernissen und Deltabildungen freie Mündung
des fraglichen Stromes, die bedeutende Wassermenge, welche
den größten Schiffen gestattet, 100 bis 120 Seemeilen auf
ihm hinaufzugehen, und welche unter 1410 50 östl. L.
bei normalem Wasserstand immer noch 9 Fuß betrug, das
Gedeihen der Kokospalme bis zu 1420 50 östl. L., der
Holzreichthum der oberen Ufcrberge, dessen Gewinnung keine
nennenswerthen Schwierigkeiten bietet, und endlich die ver-
hältnißmäßig leichte Verbindung, welche vom ersten Neben-
flüsse des Kaiserin-Augnstastromes nach dem Fly-Flusse in
Englisch-Nen-Guinca zu gewinnen wäre.
Wider Erwarten günstig haben sich im Schutzgebiete in
der Südsee die klimatischen Verhältnisse und die bis zu
einem gewissen Grade von diesen abhängigen Gesundheits-
verhältnisse gestellt. Die Hitze war zwar allenthalben eine
bedeutende, dabei sedoch weniger unangenehm fühlbar, als
a priori aus Grund der äquatorialen Lage des Schutz-
gebietes angenommen werden mußte. Dazu kommt, daß
der Unterschied der Tages- und Nachttemperatnr verhältniß-
mäßig gering ist, ein Vortheil, welcher das Schutzgebiet vor
den unter gleicher Breite gelegenen afrikanischen Besitzungen
auszeichnet. Genauere Angaben, welche durch nahezu drei-
jährige Beobachtungen gewonnen wurden, zeigen, daß die
mittlere Jahrestemperatur an der Küste H 26" C., das ab-
solute Maximum 35» C., das absolute Minimum 19" be-
tragen hat. Von den Stationen des Bismarck-Archipels
liegen bis jetzt noch keine genauen meteorologischen Beob-
achtungen vor, höchst wahrscheinlich würden dieselben aber
noch weit günstigere Wärmeverhältnisse hervortreten lassen.
Es ist nicht schwer, die Gründe hierfür in der insularen
Lage der einzelnen Bestandtheile des Schutzgebietes an und
für sich schon, sowie in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft
bei der weiten Wasserfläche des Großen Ozeans und
in den das ganze Jahr hindurch mit großer Regel-
In der Ebene des Augustaflusses unter 1420 56 östl. L.
und 401t s. Br. haben die während fünf Monaten von den Mit-
gliedern der wissenschaftlichen Expedition ausgesübrten meteoro-
logischen Beobachtung nahezu gleiche Zahlen ergeben.
Mäßigkeit auftretenden, kühlen, aus NE und SE über den
Ozean kommenden und daher unverdorbenen Luftströmungen
zu finden. Der beständig hohe Wassergehalt der Atmo-
sphäre bewirkt, daß der Weiße trotz der hohen Luftwärme
wenig transspirirt. Es ist kaum nöthig, im besonderen
darauf hinzuweisen, daß die eben erwähnten klimatischen
Verhältnisse von hoher Bedeutung für die Gesundheit der
im Schutzgebiet lebenden Weißen sind. Es wird von einigen
Seiten allerdings der Einfluß, welchen das Klima im
Schutzgebiet aus die Fiebermenge und Fieberstärke beispiels-
weise hat, sehr gering angeschlagen. Dem gegenüber kann
aber schon die Thatsache, daß beim Wechsel des SE in den
NE, welcher mit dem zeitweiligen Hereinbrechen nordwest-
licher, also über die Insel Neu-Guinea hinweggegangener
Luftströmungen verbunden ist, nicht nur der Procentsatz,
sondern auch die Stärke der Fieber zu steigen pflegt, als
genügender Gegenbeweis dienen.
Die atmosphärischen Niederschläge, im engsten Zu-
sammenhange mit den Luftströmungen stehend, zeigen die
bemerkenswerthe Thatsache fehlender fester, regelmäßig wieder-
kehrender oder doch deutlich als solche sich kundgebende Regen-
bezw. Trockenperioden im allgemeinen und eine außerordent-
liche Verschiedenheit der Niederschlagsmengen in den einzelnen
Theilen des Schutzgebietes im besonderen. Die erstgenannte
Thatsache wird durch die Beständigkeit der Winde und den
Umstand, daß das Schutzgebiet die erste Landmasse ist, welche
sich ihnen entgegenstellt, die letztgenannte durch die Obcr-
flächenbeschaffenheit des Landes ausreichend erklärt. Die
meteorologische Station am Fuße des mauerartig die Küste
umsäumenden Finisterre weist dementsprechend die bedeu-
tendsten jährlichen Regenmengen (3836 mm 1886/87),
Hatzfeldthafen mit seinem 700 m nicht übersteigenden Hinter-
lande das kleinste jährliche Niederschlagsquantum (2021 mm
1886/67) auf, während Finschhafen die Mitte hält. Die
atmosphärischen Niederschläge erscheinen theils als Landregen,
theils als Gewitter. Letztere sind in der nördlichen Ebene
häufiger als an der Küste des südlichen Theiles von Kaiser-
Wilhclmsland, woselbst nur in Eonstantiuhafen Gewitter,
welche von zahlreichen, heftigen Blitzschlägen begleitet waren,
mehrfach beobachtet wurden. Auf die Bildung von Fluß-
läufen und deren Veränderungen fixtb diese Gewitter durch
die enorme Wassermenge, welche sie herniedergeheu lassen,
von größtem Einfluß. Küstenflüßchcn, deren Wasser unter-
normalen Verhältnissen kaum den Knöchel des Fußes be-
spült, werden nach einem Gewitterregen über mannestief und
so reißend, daß sie unpassirbar werden, bahnen sich neue
Betten und führen schwere Gerölle zum Strande, deren
Natur ihre Herkunft aus weit entfernten Gegenden errathen
läßt. Auch der Spiegel des Kaiserin-Augustaflusses ist
häufigen Schwankungen infolge von Gewittern unterworfen.
Es ist nicht zu verwundern, daß bei solchen Feuchtigkeits-
verhältnissen die Zahl der Wasserläufe im Schutzgebiet eine
sehr große ist. Die bedeutenderen unter ihnen sind der
Franziska- und Markhamsluß, welche auf der Westseite des
Huon-Golf münden, der Bubui südlich von Finschhafen, der
Basilisk-Fluß bei Kap König Wilhelm heraustretend, der
Kábarang, Kolli, Gábenau und Wou in der Astrolabe-Bai,
der Ama-Fluß bei Kap Eroissilles und endlich der Ottilien-
nnd Kaiserin-Augustafluß, welche bereits dem Norden an-
gehören. Nordwestlich vom Kap della Torre bis zur Landes-
grenze an der Humboldtbai sind noch die Mündungen
größerer Flüsse wahrgenommen worden, genaue Nachrichten
über dieselben fehlen jedoch noch.
Auf geologischem Gebiete liegen belangreiche Kenntnisse
von der Natur des Schutzgebietes bis zur Zeit noch nicht
vor. Da im benachbarten Englisch-Nen-Guinca jedoch Gold
gefunden worden ist, so ist die Hoffnung auch in Kaiser-
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
310
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
Wilhelmsland dieses Edelmetalles habhaft zu werden, wohl
berechtigt. Als von hohem Werthe haben sich die Phosphat-
guano-Vorkommen von den Purdy-Jnseln, vier kleinen.unter
146° 10 östl. L. und 3°f. Br. gelegenen Eilanden, erwiesen.
Das bedeutendste derselben besitzt einen Phosphorsäuregehalt
von 35 bis 36 Procent.
Sehr wechselvoll ist die Güte der Bodendecke, da dieselbe
nicht nur von der chemischen und mechanischen Zusammen-
setzung der Krume sondern auch von der mechanischen Be-
schaffenheit und Lage des Untergrundes abhängig ist. Im
allgemeinen ist der Boden im Schutzgebiet jedoch vortrefflich
für Kulturzwecke geeignet, wie aus den bisher ausgeführten
Analysen und den Resultaten, welche die Eingeborenen schon
seit langer Zeit auf ihm erzielen, hervorgeht. Am häufigsten
kommt ein heller, fetter Lehm, welcher in den Bergen zu-
weilen in Mergel übergeht, vor. Es liefert stannenswerthe
Erträge namentlich von Tarro. Ein mittelschwcrer, humus-
reicher, tiefgründiger Sandboden sowie schwerer grauer Thon-
boden bildet die Umgebung von Hatzfeldthafen. Constantin-
hafen besitzt fetten, stellenweise von Lehm unterlagerten
Humusboden, Nusa und Mioko sind Korallen-Jnsclchen mit
nur schwacher Bodendccke, Matupi, ebenfalls eine kleine
Insel, besteht aus vulkanischem Sand. In Finschhafen ist
das Land trotz seiner vorzüglichen chemischen Zusammen-
setzung dennoch für Kulturen wenig geeignet, da diese infolge
des äußerst porösen korallinischcn Untergrundes, zuweilen
unter einem Mangel an Feuchtigkeit leiden. Steriles Land,
wie es in Australien oder Afrika vorhanden ist, fehlt im
Schutzgebiet vollständig.
Eine der hcrvorstehendsten Eigenthümlichkeiten des Schutz-
gebietes, welche sich übrigens auch im holländischen und
englischen Neu-Guinea wiederfindet, ist die überraschende
Dürftigkeit der Thierwelt. Nur die Vögel haben es zur
Entfaltung einer größeren Anzahl von Arten gebracht. Da-
gegen ist die Zahl der Säugethiere eine sehr beschränkte.
Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit diese Thatsache eine
natürliche ist oder sich unter dem Einfluß der Eingeborenen
herausgebildet hat. Ausfallend muß es jedenfalls erscheinen,
daß die meisten der noch vorhandenen Säugethiere, nämlich
das Wildschwein, das Wallabi, der fliegende Hund, der
Cuscus, das fliegende Eichhorn (Pteromys) und eine kleine
Buschratte durch ihre Lebens- oder Fortbewegungsweise gegen
die Nachstellungen der Eingeboreren erheblich geschützt sind.
Reptilien und Amphiben sind durch das Krokodil, welches
sich zuweilen in den Mündungen kleiner Küstenflüsse, häufiger
in den großen Strömen des Nordens aufhält, ferner durch
einige Lacerten, Seeschildkröten und eine Anzahl kleiner und
soweit die Erfahrungen reichen nicht giftiger Schlangen ver-
treten. Der Fischreichthnm der Küsten und Flüsse ist ein
bedeutender. Die niedere Thierwelt weist nur in der Ab-
theilung der Hymenoptera und Diptera den Formenreichthum,
welcher von einem Tropcnlandc wie es das Schutzgebiet ist, er-
wartet wird; Coleopter« und Lepidoptera sind wenig zahlreich.
Es geht aus dem Gesagten hervor, daß nur geringe
Aussicht vorhanden ist, die Thierwelt des Schutzgebietes für
nutzbringende Zwecke heranzuziehen. In Betracht koinmen
würden überhaupt nur eine Reihe schön gefärbter Vögel,
wie z. B. der Paradiesvogel, welcher in drei Arten auftritt,
(Dipbyllodes, Cieinurus und Selencides) deren Bälge zur
Anfertigung von Schmnckgegenständen geeignet sind. Als
verwerthbare thierische Produkte gesellen sich hierzu noch das
Schildkrot, sowie die Perlmuttcrschale. Der Trepang ist vorhan-
den, wird aber nicht gefangen, da er von geringer Qualität ist.
Weit großartiger entwickelt ist die Pflanzenwelt. Sie
zeigt eine Fülle von Formen, eine Lebenskraft und Ueppigkeit,
welche schwerlich von einem anderen tropischen Lande über-
troffen wird. Die Flora des Schutzgebietes schließt sich,
sowie aus den vorliegenden Sammlungen und Beobachtungen
entnommen werden kann, der indisch-malayifchen Flora,
speziell der der Philippinen eng an, während sie mit der
neuholländischen nur Verhältniß mäßig wenig Berührungs-
punkte gemein hat. Durch diese Umstände wird bis zu einem
gewissen Grade auf die Pflanzenrohprodukte, welche im
Schutzgebiet voraussichtlich vorhanden sind, hingedeutet. Die
Vegetationsformcn bestehen durch das ganze Schntz-
gebiet hindurch in der Hauptsache aus Wald und Grasfläche.
Der Wald, welcher von 1000 m aufwärts die ausschließliche
Bodenbedcckung bildet, wechselt in den tiefer gelegenen Par-
tien in bunter Folge mit dem Graslande ab, derart, daß im
Norden von Kaiser-Wilhelmsland die Grasebene, im Süden
und auf den Inseln des Bismarck-Archipels der Wald vor-
herrscht. Letzterer ist zumeist sehr dicht, eine Eigenschaft,
welche er znm nicht geringen Theile den zahllosen Kletter-
und .Schlingpflanzen, die tut wildesten Durcheinander von
Baum zu Baum gehen, verdankt. Die Waldbäume sind
außerordentlich schlank und astrein gewachsen, besonders
häufig treten Bubiaceen, Apocynaceen, Sapotaceen,
Horaceen, Myristicaceen , Clusiaceen, Euphorbiaceen,
Sterculiaceen, Malvaceen, Myrtaceen und Legumi-
nosen auf.
Die Grasflächen werden in der Hauptsache von dem
hohen, harten und scharfen Lallang - Lallang (Imperata
arundinacea Cgr.), Tennisetum macrostachyum Trin.
und Saccharum spontaneum L. gebildet, von denen die
beiden letztgenannten sich gern in der Nähe von Flußufcrn
oder kleinen, die Grasflächen durchziehenden Wasserrinnseln
ansiedeln. Tanieum-, Anthistiria-, Taspalum-, Eleusine-
und Andropogon-Arten bedecken gern stark geneigte Berg-
abhänge. Selten nur sind die Grasslüchen ganz rein, da
mit Vorliebe Larcocepbalus eordatus Mig., Albizzia
procera und Cycas punktartig im Gras verstreut auftreten.
Es würde zuweit führen, die ganze Reihe der Natur-
produkte, welche die Pflanzendecke des Schutzgebietes dar-
bietet, an dieser Stelle aufzuzählen, weshalb nur einige
derselben genannt seien. Von den zahlreichen Nutzhölzern
ist die Kaurisichte (Araucaria spec. nov.), des Takamaka-
holz (Callopbyllum inopbyllum L.), das Dnri-Duriholz
(Cordia subcordata Lana.), die Maüava (Pterocarpus
indicas L.), der Bretterbaum (Heritiera littoralis Dryand),
Wormia spec., Pongamia spec., und Casuarina spec.
exportfähig. Andere vortreffliche Hölzer eignen sich nur für
den inländischen Bedarf. Aroinatische, gerbstofshaltige und
bittere Rinden bezw. Blätter und Früchte sind zahlreich vor-
handen. Mit Ausnahme der Massoirinde (Massoia aro-
matica Becc.) ist bis jetzt jedoch noch keine derselben auf
dem Markte erschienen. Zweifellos werden sich aber noch
einige, derselben einbürgern. Die Gespinnstfasern liefernden
Familien der Urticaceen, Moraceen, Malvaceen, Tiliaceen
nebst einigen Pandamus-, Musa- und Crotolaria - Arten
kommen in Menge wildwachsend vor und liefern, wie die aus
ihnen hergestellten Arbeiten der Eingeborenen beweisen, ein
sehr haltbares Material. Unter den Harzpflanzen ist Arau-
caria, Vatica und Garcinia beobachtet worden. Hauptöl-
pflanze ist die Kokospalme. Blanche dieser und anderer
Rohprodukte sind allerdings nur da, wo billige Arbeits-
kräfte vorhanden sind, mit-,Nutzen zu gewinnen. An solchen
billigen Arbeitskräften mangelt es gegenwärtig glücklicher-
weise nicht, da die Eingeborenen aus verschiedenen Theilen von
Neu-Pommern und Nen-Mecklenburg sich gern als Arbeiter
nach anderen Theilen des Schutzgebietes verdingen lassen.
Von weit größerer Bedeutung als die wildwachsenden
Pslanzenstoffe sind für die Zukunft des Schutzgebietes jene
Naturprodukte, welche auf dem Wege der Plantagenwirth-
schaft gewonnen werden können. Die kurze Spanne Zeit,
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
311
welche seit dem Beginn der zur Beantwortung dieser wich-
tigen Frage angestellten Vorversnche verflossen ist, gestattet
gegenwärtig noch nicht, ein abschließendes Urtheil in dieser
Hinsicht zu fällen. Soweit sich übersehen läßt, verspricht
dasselbe jedoch ein günstiges zn werden. Die bisher ausge-
führten Anbauversuche haben sich zunächst auf eine Anzahl
europäischer und tropischer Gemüsepflanzen, Früchte und
Nährwurzeln erstreckt, von denen namentlich Tarro, Banane,
Ananas, Jam, Melone, Kürbis, Eierfrucht (Solanum
Melongeua L.), Tomate, spanischer Pfeffer, süße Kartoffel,
Manihot, Papaya und Bohne vortrefflich gedeihen. Ebenso
sind sehr gute Resultate mit dem Mais, dem Teosintc
(Euchlaena luxurians Asch.), der Durra (Sorghum sac-
Wanderungen durch das a
XVI. (Sch
(Mit vier A
Auch bei Brasilien genügt cs natürlich zur richtigen
Beurtheilung der Knlturkraft seiner Landestheile und der
damit zusammenhängenden Kolonisations- und Answandc-
rnngsfrage nicht, einfach die Naturverhältnisse in Rücksicht
zu ziehen. Es muß auch hier, geradeso wie in Argentinien,
Paraguay und Uruguay, die bereits vorhandene Bevölkerung
nebst den durch diese geschaffenen Zuständen als eine andere
Hauptsache ins Auge gefaßt werden.
In erster Linie haben wir da auf das afrikanische Element
hinzuweisen, das durch die Institution der Negersklaverei in
das Land hinein geführt worden ist, und das dem brasilianischen
Kultur- und Wirthschaftsleben mehr als ein anderes feinen
Stempel aufgeprägt hat. Brasilien ist dreiundeinhalb Jahr-
hundert ein Sklavenhalterstaat gewesen: diese Thatsache ist
unserer Meinung nach viel bedeutsamer und unaustilgbarer in
ihren Folgen, als die, daß Brasilien zugleich auch reichlich drei
Jahrhunderte eine portugiesische Kolonie gewesen und von
seinem Mutterlande nach dem bekannten Kolonialsystcme dieser
Jahrhunderte bewirthschaftet worden ist. Der schwarze Mann
wurde herübergeschleppt aus seinem heimathlichen Erdtheile,
um durch die Peitsche des Aufsehers angetrieben, auf dem
brasilianischen Boden harte Frohndienste zn thun, und die
Kaffee- und Znckerplantagen und Baumwollenfelder für
seinen weißen Bruder rentabel zu machen. Nun ist er da,
und es zeigt sich, daß er einen viel maßgebenderen Einfluß
auf das staatliche Gemeinwesen geltend macht, als man ihm
jemals zugetraut hat — zwar nicht durch fein aktives Ein-
greifen, wohl aber durch sein passives Eingreifen bezw. durch
seinen passiven Widerstand. Dem humanen Zuge der
modernen Zeit folgend, hat man ihm ja die Sklavenketten
abnehmen müssen. Ist er dadurch aber etwa ein taug-
licheres Kulturinstrument geworden, als er vorher war?
Wir fürchten eher das Gegentheil, wenigstens was die
nächste Zukunft anlangt. Es wird in Brasilien kaum viel
besser gehen, als es in den Südstaaten von Nordamerika
gegangen ist, wo durch die Aufhebung der Sklaverei eben-
falls eine schlimme und noch lange nicht überwundene Noth-
lage geschaffen worden ist. Zu einem guten und intelli-
genten Arbeiter ist der Neger durch das Emancipations-
dekret nicht erzogen, und daß er allenthalben aus freiem
charatnrn Tors.), der Jute und der Erdnuß erzielt worden.
Baumwolle und Kaffee find in Kalnana, auf der Gazellen-
halbinsel mit gutem Erfolg angebaut und die Baumwolle
(sca-islanck) von hier bereits in den Handel gebracht worden.
Ueber die Aussichten, welche der Tabaksbau im Schutzgebiet
hat, wird sich nach dem Eintreffen der ersten in Hatzfeldt-
hafen erzielten Ernte Bestimmteres berichten lassen. Vor-
läufig hat der von den Eingeborenen gezogene, sehr roh
behandelte Tabak an competenter Stelle eine sehr günstige
Beurtheilung erfahren. Schließlich sei noch erwähnt, daß
Pflanzungen von Kokospalmen angelegt worden find, welche
jedoch erst nach fünf bis sechs Jahren Erträgnisse geben
dürften.
ßertropische Südamerika.
ß-Aufsatz.)
b b i l d u n g e n.)
Antriebe seine Schuldigkeit thun werde, können nur Opti-
misten von ihm erwarten. Ehrenvolle Ausnahmen mögen
hie und da wohl zn konstatiren sein, dadurch wird die allge-
meine Regel aber keineswegs aufgehoben.
Was das Vorhandensein des Neger-Elementes in Bra-
silien wirkte, so lange die Sklaverei bestand, das wird es also
auch fernerhin noch wirken, und von einer hochgradigen
Schwerfälligkeit und Einseitigkeit seines Kultur- und
Wirthschaftslebens wird sich das Land schon in Folge der
Eigenart seiner Arbeiterbevölkerung nicht losmachen können.
In den nördlichen Provinzen weiße Arbeiter einzuführen,
und die Neger durch dieselben in den Hintergrund drängen,
oder durch ihr gutes Beispiel zu höheren Arbeitsleistungen
erziehen lassen, ist schon ans klimatischen Gründen nicht
thunlich. In den Mittel- und Südprovinzen aber prospe-
rirt die Negerbevölkernng physisch viel zu sehr — auch
unter den armseligsten Verhältnissen —, als daß man
hoffen dürfte, sie jemals zn verdrängen, und was das gute
Beispiel der Weißen gegenüber den Schwarzen anlangt, so
fürchten wir, daß dasselbe sich in vielen Fällen nicht so sehr
viel kräftiger erweisen werde, wie das schlechte Beispiel der
Schwarzen gegenüber den Weißen. Das „süße Nichts-
thun" und das „Eile mit Weile" ist in tropischen und
subtropischen Himmelsstrichen gar zu verführerisch, das
kennen wir schon von Südeuropa her.
Wenn aber alle diese Erwägungen hinfällig sein sollten,
und wenn die Schwarzen sich in Zukunft in jeder Richtung
als tüchtige freie Arbeiter bewähren würden, so wäre damit
ihre ungünstige Einwirkung auf den gesellschaftlichen Orga-
nismus und dessen Funktionen noch keineswegs vollkommen
aufgehoben. Das Schlimmste ist, daß die Institution der
Negersklaverei dem gesammten brasilianischen Staatslcben
eine ungesunde Richtung gegeben hat. Eine üble Verthei-
lung des Grundeigenthums, ein schlecht geordnetes Rechts-,
Verwaltungs- und Steuerwesen, und ein oligarchischcs Partei-
Regiment namentlich hängen auf das engste damit zusammen,
und der Reformator, welcher alle diese Mißstände mit ihrer
Wurzel auszurotten fähig ist, wird noch gefunden werden
müssen. Eine starke Monarchie könnte vielleicht manches
ausrichten, aber wie soll sich die Monarchie unter solchen
Santa Leopoldina. (Nach einer Photographie von Richard Dietze.)
Wanderungen durch das anßertropische Südamerika.
313
Umständen auf einen starken Fuß stellen! Vielmehr spricht
man in Brasilien öfters von der Republik, und es ist die
Möglichkeit kaum ausgeschlossen, daß die Machthaber früher
oder später einmal ein Experiment mit dieser Staatsform
machen. Das würde die berührten Zustände aber aller
Wahrscheinlichkeit nach verewigen.
In allen diesen Thatsachen kann man, wenn man will,
eine eigenthümliche Rache erblicken, die die schwarze Rasse
für das jahrhundertelange Verbrechen nimmt, das die weiße
Rasse an ihr verübt hat, bezw. einen Richterakt der Welt-
geschichte.
In den brasilianischen Südprovinzen, mit denen wir es
an dieser Stelle vor allen Dingen zu thun haben, sind die
angeführten Uebelstünde natürlich viel weniger fühlbar als
in den Mittel- und Nordprovinzen, denn in ihnen hat die
Sklaverei niemals in einem so hohen Grade Platz gegriffen,
daß sie aber absolut nicht zu spüren sei, kann man nicht
behaupten. Rio Grande do Sul, Santa Catharina und
Parana sind eben doch nur die Glieder eines größeren
Ganzen, und sie haben sich dem Einflüsse der Centralorgane
niemals ganz entziehen können. Gar zu oft hatten die
freien Bauerngemeinden im Inneren dieser Provinzen
Grund, die aktiven Maßregeln, welche von Rio Janeiro
her zur Förderung ihrer Angelegenheiten geschehen, als grobe
Mißgriffe zu beklagen I. Nebrigens gab es aber auch
in Rio Grande do Sul im Jahre 1882 noch nahezu
70 000 Negersklaven (circa 12^ Proc. von der Bevölke-
rung), und die Zahl der daselbst lebenden freien Farbigen
beziffert sich heute sicherlich auf mehr als 150 000.
In den Mittelprovinzen dominirte die Negerarbeit von
Anfang an so sehr, daß alles das, was wir oben über
dieselbe gesagt haben, ganz unmittelbar auf sie angewendet
werden darf. Der Einwanderung von deutschen Arbeitern
in diese Gegenden ist deshalb entschieden zu widerratheu,
und auch Sño Paulo wagen wir dabei nicht auszuuehmen,
obgleich wir zugeben müssen, daß die Negerarbeit in dieser
Provinz mehr leistet als in jeder anderen.
Die Mischlinge von Schwarzen und Weißen bezeichnen
unserer Meinung nach im allgemeinen einen Fortschritt zum
Besseren, sobald man an ihre Intelligenz und Energie und
Santa Leopoldina. (Zweite Ansicht.)
an ihre kulturelle und wirthschaftliche Leistungsfähigkeit
denkt, und von ihnen dürste bezüglich der Entwickelung der
Nord - und Mittelprovinzen füglich das meiste zu erwarten
sein. Da die Raffenmischung in Brasilien sehr weit ge-
diehen ist, und da die Zahl der Mulatten gegenwärtig auf
nahezu vier Millionen (33 Proc. von der Gesammtbcvölke-
ruug) veranschlagt wird, so ist ihre Wirkung auch bereits
sehr deutlich sichtbar, und das Handwerk sowie der Klein-
handel liegen zu einem großen Theile in ihren Händen.
Was die Weißen portugiesischer Abstammung angeht,
die das Vorrecht des Zuerstgekommenseins geltend machen,
und die unter der rein weißen Bevölkerung des Landes die
entschiedene Majorität besitzen, so kann man von denselben
nicht gut sagen, daß sie sich einer hohen Prosperität er-
freuen. Hinsichtlich der ökonomischen und politischen Ver-
hältnisse giebt es unter ihnen ohne Zweifel sehr reiche und
einflußreiche Leute, aber im übrigen erfüllen sic uns durch
eine Reihe von Eigenschaften mit schweren Bedenken, und
wenn wir die europäischen Portugiesen —• ihr Urbild —
neben sie stellen, so können wir uns kaum enthalten, von
einer Détérioration der Rasse zu reden. In ihrem Aeußercn
Glvbus L1V. Nr. 20.
hagere, kleine Menschen mit gelblicher Gesichtsfarbe und
schlaffen Muskeln und Nerven, zeigen sie sich auch psychisch
und moralisch wenig geeignet, dem Lande durch ihre
Initiative zu einem höheren Aufschwünge zu verhelfen. Ihr
Wahlspruch ist in allen Stücken „Paciencia!" — „Ge-
duld!" —, und zu ihrer Apathie und Trägheit, die theils
durch das Klima, theils durch die Sklaverei zu erklären
sind, gesellt sich auch noch ein großer Mangel an Rechtssiun
und ein ausgeprägter Haß gegen alle neuen Ankömmlinge.
Man fürchtet nicht ohne Grund von diesen „gringos"
(„Grünen") in den Schatten gestellt zu werden, und mau
läßt daher im Staats- und Wirthschaftsleben lieber alles
gehen, wie es eben geht, als daß man der Rührigkeit und dem
Untcrnehmungsgeiste der später eingedruugencn Elemente
freien Spielraum ließe. Der Zahl nach ist das Element
der eingeborenen weißen Brasilianer wohl kaum viel stärker
als das der Mischlinge (reichlich vier Millionen). Von
den Bewohnern der binnenländischen Plateaus und Süd-
Z Ueber die Einzelheiten vergi, namentlich I. v. Tschndi,
Reisen in Südamerika, Bd. 2 bis 4.
40
314
Wanderungen durch das außertropische Südamerika.
brasiliens gilt das Gesagte wieder nicht in demselben Um-
fange, wie von denjenigen der Küstengcgenden Nord- und
Mittelbrasiliens. — In früheren Jahrzehnten gesellte sich zu
den angegebenen Schattenseiten des brasilianischen Volks-
charakters auch noch religiöse Intoleranz, es scheint aber,
als ob dieselbe neuerdings im Schwinden begriffen sei.
Daß die Wirksamkeit der neuen Einwanderer in
Brasilien durch die geschilderten Verhältnisse an tausend
Punkten beeinträchtigt werden mußte, erhellt von selbst, und
die Geschichte der einzelnen schweizerischen und deutschen
Kolonien weiß davon mancherlei zu erzählen. Man lese
da nur z. B., was der vortreffliche Tschndi I über die im
Jahre 1857 begründete Kolonie San Leopoldina sagt.
Namentlich die ersten Anfänge waren auf die angegebene
Weise immer unendlich schwer. Man ließ fast stets erst
mehrere Experimente verunglücken und eine große Zahl von
den Neuangekommenen Schiffbruch leiden, ehe man klug
wurde. War das Anfangsstadium einmal überwunden,
und hatte sich ein Mann gefunden, der von Umsicht und
gutem Willen erfüllt war, so ging es endlich vorwärts, und
aus mancher Gründung, an der man bereits verzweifelt
hatte, wurde schließlich doch noch etwas recht Tüchtiges.
So ist das bereits erwähnte San Leopoldina (S. die Ab-
bildungen) heute, nachdem die ursprüngliche Mißwirthschaft
der bei der Begründung thätigen Beamten beseitigt worden
ist, nachdem den Kolonisten zur Bewirthschaftung geeignete
Schollen zugewiesen worden sind, und nachdem der Kaffee-
bau daselbst in den Schwung gekommen ist, ein sehr blühendes
und reiches Gemeinwesen geworden. Am besten aber sind gleich
von vornherein jene Kolonien gediehen, die dem Einflüsse
der älteren Bevölkernngselemente am meisten entrückt waren,
und die sich durch besondere Umstände der weitest gehenden
Selbstbestimmung erfreuten; was denselben von Seiten der
Regierung in Rio Janeiro und in den Provinzialhauptstüdten
zu wünschen übrig geblieben ist, beschränkt sich in der Haupt-
sache auf die Herstellung guter Verkehrsstraßen, die sie sich
nicht aus eigener Kraft schaffen können. Gerade in diesem
Punkte, der für die Entwickelung ihres Wohlstandes von
Santa Leopoldina. (Dritte Ansicht.)
sehr hoher Bedeutung ist, tönt ihnen aus den Kreisen der
Machthaber immer das brasilianische „Paciencia!“ entgegen.
Daß die „Gringos“ es sind, von denen Brasilien einzig
und allein sein Heil zu erwarten hat, bedarf keiner weiteren
Ausführung, und insbesondere die Leistungen der deutschen
Einwanderer in den Südprovinzen, sowie in einem Theile
der Mittelprovinzen sind dafür ein unwiderleglicher und
klarer Beweis. Allen widrigen Umständen zum Trotz haben
sie in dem brasilianischen Urwalde eine große Zahl freund-
licher Ortschaften begründet, deren Häuser dem Fremden
auf den ersten Blick verrathen, daß in ihnen ganz anderer
Geist lebendig ist, als er sonst in dem Lande herrscht. Wie
schade, daß die starke Kulturposition, die diese wackeren Leute
uns in Südamerika geschaffen haben, bei uns daheim bisher
so ungenügend gewürdigt wird! Da die Zahl der Deutschen
in Brasilien nur etwa 200 000 beträgt, so ist ein Ueber-
wnchertwerden derselben von anderen Elementen noch
u Tschudi, a. a. O. Reisen, Bd. 3, S.. 22 ss.
immer sehr zu fürchten — selbst in den Südprovinzen.
Nicht bloß die von Fremdenhaß erfüllten Nativisten sind in
dieser Richtung am Werke, sondern auch die Italiener, deren
Zahl gerade in verschiedenen deutschen Distrikten von Jahr
zu Jahr wächst; hat ja doch das italienische Element den
Vortheil vor dem deutschen voraus, daß es von seiner
europäischen Heimath her an ein wärmeres Klima gewöhnt
ist, und steht es doch dem portugiesischen außer in bezug auf
Stammesverwandtschaft auch sehr nahe in bezug aus Genüg-
samkeit. Unter den Einwanderern aus Europa sind die Ita-
liener die einzigen, die als Plantagenarbeiter stellenweise
mit den Negern in erfolgreiche Konkurrenz getreten sind (im
sogenannten Parceria-System), und infolgedessen sind nament-
lich in Silo Paulo und Espirito Santo verschiedene Distrikte
in einem hohen Grade italienisirt worden. Das gilt z. 23.
auch von San Leopoldina. In Rio Grande do Sul hielt
die deutsche Einwanderung der italienischen im Jahre 1887
noch ungefähr die Waage, in Santa Catharina hat die erstere
bislang das entschiedene Uebergewicht behalten.
316
Togo-Land und Kamerun.
Zum Schlüsse unserer Betrachtungen haben wir noch
mit wenigen Worten der indianischen Urbevölkerung zu ge-
denken. In den Kultnrdistrikten unweit der Küste kommt die-
selbe heute nicht mehr in Betracht. Es ist ihr dort gegangen
wie in Nordamerika: zum Theil ist sie in dem ungleichen
Kampfe mit den neuen Eindringlingen zu Grunde gegangen,
zum Theil hat sie sich mit den letzteren verschmolzen, und
zum Theil ist es gelungen, sie an ein halbcivilisirtes Dasein
zu gewöhnen. Anders ist es in den binnenländischen Ge-
birgs- und Plateau-Gegenden. Dort geriethen die Kolonisten
mit den Wilden bis in die neueste Zeit wiederholt in blutigen
Konflikt, und namentlich die Botokuden und Coroados ließen
sich das Verdrängtwerden durchaus nicht gutwillig gefallen.
Das Hinderniß des Fortschrittes der Civilisation, welches
hierin liegt, ist aber bei weitem kein so großes, als jene, von
denen wir oben geredet haben.
Togo-Land u
Die von Dr. von Danckelmann herausgegebenen „Mit-
theilungen aus den deutschen Schutzgebieten" enthalten in
ihrem dritten Hefte eine Reihe von interessanten Berichten
aus Togo-Land und Kamerun.
Hauptmann Curt v. Francois, der im Togo-Lande
bis lio 28" nördl. Br., d. i. bis jenseits der Wasserscheide
zwischen dem Wolta und Niger, vordrang, und nach seiner
glücklich beendigten Recognoscirungsreise zu zeitweiligem
Aufenthalte nach Deutschland zurückkehrte, fand das hinter
der Küste liegende Land im allgemeinen von hügeliger Be-
schaffenheit und mit lehmigem Boden. Südlich von dem
nach Nordost streichenden Agome-Gebirge war das Vegeta-
tionskleid aber viel reicher als nördlich davon. Die Be-
völkerung war eine verhältnißmäßig dichte, besonders nahe
der Küste und im oberen Wolta-Gcbiete, und zugleich auch
eine friedliebende, mit Ausnahme derjenigen des wenig
fruchtbaren Dagomba- und Grussi-Gebietes. Sic trieb leb-
haften Zwischenhandel, Weberei, Töpferei, Schmiedchand-
wcrk, Ackerbau und Rinder- und Schafzucht. Haupt-
kulturgewächse bildeten: 9)cim8, Maniok, Reis, Bohnen,
Kolben- und Rispcnhirse, Mais, Erdnüsse, Bataten, Pfeffer,
Tabak, Baumwolle rc. Unter den Handelsplätzen war Sa-
laga, in dem Karawanenstraßen aus allen Theilen des süd-
lichen Nigerbeckens zusammenlaufen, der bedeutendste. Zur
Plantagenwirthschaft dürften sich am meisten die Gegenden
der Gebirgsregion eignen, namentlich die bei Aposta, Kebn
und Adeli.
Reichskommissar von Puttkam er, der von
Scbbe und Klein-Popo aus zwei größere Recognoscirnngs-
touren unternahm — die eine nach Awewe und Agome (nörd-
lich von Klein-Popo) und die andere nach Agotime (nord-
westlich davon) — schildert die besuchten Gegenden ebenfalls
in einem sehr günstigen Lichte. Das ganze Land zwischen
der Küste und dem großen Dorfe Aklaku (gegen 30 km
binnenwärts) war sorgfältig angebaut, von trockenen, guten
Wegen durchschnitten, und die Bewohner trieben eine ziem-
lich rationelle Landwirthschaft (mit Fruchtwechsel und
Brachen). Der Agome- oder Mono-Fluß war gegen
Agome hin stark versandet und selbst im Kanu schwer zu
befahren, in der Regenzeit steigt er aber um etwa 30 Fuß,
so daß ihn schwer beladene Fahrzeuge wenigstens zeitweise
befahren können. Awewe (auf französischem Gebiet) ebenso
wie Agome (auf deutschem), die beide hart an dem Flusse
liegen, sind bedeutende Handelsplätze in Palmöl und Palm-
kernen, die einen regen Verkehr mit Klein-Popo unterhalten.
— Zwischen Aguewe und Towe, auf dem Wege nach Ago-
time (Petu), fanden sich prachtvolle Oelpalmenwälder, welche
sorgsam gepflegt werden, in regelmäßigen Reihen angepflanzt
sind, und fleißige Arbeit bekunden. Außerdem wurden aber
n d K a nt c r u n.
auch mannigfaltige andere Gewächse verwerthet und ange-
baut, und Indigo und Baumwolle würden hier voraus-
sichtlich die Plantagenwirthschaft lohnen.
Sehr ersprießlich scheint die Thätigkeit des Negierungs-
arztes Dr. Wicke zu sein, und die von demselben mit-
getheilten Beobachtungen über die Krankheitsformen des
Landes werden nicht verfehlen, allgemeinere Beachtung zu
finden. Die Fülle von Malariafieber bei Europäern, mit
denen er es zu thun hatte, waren leicht zu behandeln. Von
sechs malariakranken Eingeborenen waren merkwürdigerweise
fünf Mulatten, so daß es scheint, als ob die verwandschaft-
lichen Beziehungen zu den Europäern die Widerstandsfähig-
keit gegen die Einflüsse des Tropenklimas abschwächten.
Dr. L. Wolf gelangte bis in das Adeli-Land (am achten
nördlichen Breitengrade), das den Fremden bisher ziemlich
verschlossen war, und er begründete dort inmitten einer Be-
völkerung, deren intelligenten Oberhänptling Kontu er sich
durch seine ärztliche Kunst zum Freunde machte, die Station
Bismarkburg auf dem 710 m hohen Hügel Adado. Es
wurden feste Gebäude aufgeführt und eine Versuchsplantage
angelegt. Das Land ist gebirgig, aber an vielen Orten
sehr fruchtbar, und die Station verspricht durch ihre Lage
eine hohe handelspolitische Bedeutung zu erlangen. Große
Erfolge verspricht man sich namentlich von der rationellen
Ausbeutung der Kautschuk-Liane (Landolphia,), die hier
glücklicherweise vom afrikanischen Raubbau verschont geblieben
ist, und ebenso von dem Bananen- und Reisbau. Baum-
wolle wird von den Eingeborenen gepflanzt und verarbeitet.
Auch die Viehzucht scheint ausgezeichnete Vorbedingungen
zu haben, da reichlicher Graswuchs vorhanden ist und die
von den Eingeborenen gehaltenen Rinder wohlgenährt aus-
sahen. Durch seine zauberkräftigen Fetische übt Adeli einen
großen Einfluß aus alle umgebenden Stämme aus, die ihre
Streitfälle hier entscheiden lassen, und dies dürfte für die
Entwickelung der Togo-Kolonie ebenfalls von großem Vortheile
sein. — Ebenso wie Hauptmann Francis, der auf seiner
Rückreise von Salaga nach der Küste in der Station vor-
sprach, hat auch Dr. Wolf zahlreiche Ortsbestimmungen
und Höhenaufnahmen vorgenommen, die der erstgenannte
Herr zu einer genauen Karte von dem Gebiete verarbeitet.
Auch meteorologische Beobachtungen wurden von beiden Ex-
peditionen angestellt, und in Bismarksburg werden dieselben
weiter fortgesetzt.
Im Kamernngebiete haben Dr. Zintgrafs
und Lieutenant Zeuner von der Barombi-Station
aus Reisen gegen Norden hin unternommen, und der erst-
genannte Herr war Anfang August in Ntok-Difang, nörd-
lich vom Kalabarflusse angelangt. Erfolgreich war daselbst
aber namentlich die wissenschaftliche Thätigkeit des Zoologen
Togo-Land und Kamerun.
317
Dr. Weißenborn und des Botanikers I. Braun,
obgleich die angelegte zoologische Sammlung bei dem be-
kannten Uebcrfalle durch die Bakokos der Vernichtung anheim-
fiel und die Feuchtigkeit des Klimas die Konservirung der
Gegenstände sehr erschwerte.
Dr. Weißenborn unterscheidet vier pflanzengeographische
Regionen in dem durch die Batanga-Expedition bekannt ge-
wordenen Lande: die Urwaldregion, die zum Theil durch
dichteren Bnschwald, zum Theil durch lichteren Hochwald
charakterisirt ist; die Parklandschaft, in der die Waldbedeckung
großentheils den Pflanzungen der Menschen gewichen ist; die
mit hohem, dichten Grase bestandene Savanne mit ihren eigen-
artigen Zwergbäumen; und die engbegrenzten Gebiete der
größeren Wasserlänfc und der Küste. Von diesen Regionen
zeigen sich auch die saunistischcn Verhältnisse abhängig.
„Das Gebiet des Urwaldes zeigt auf den ersten Blick nur
geringe Spuren thierischen Lebens. Eine moderige, feuchte
Luft und ein geheimnißvolles Halbdunkel, an welches sich
das Auge erst allmählich gewöhnen muß, herrschen in diesem
regellosen Durcheinander von Bäumen, Gebüschen und
Schlinggewächsen. Nur hier und da schlüpft ein neu-
gieriger Sonnenstrahl durch das dichte, hoch über dem
Wanderer gewölbcartig Lust und Licht abschließende Laub-
dach, und nur selten findet sich eine lichtere Stelle, welche
dem Zusammenbrechen eines altersschwachen Waldriesen
mit dem ihm anhängenden Lianengewirr ihren Ursprung
verdankt. Durch dieses Chaos von Baumstämmen und
Schlingpflanzen windet sich der schmale Pfad, bald über
Urgesteinsbrocken oder spitze Felstrümmer, bald über fein-
körnigen Sand oder lehmigen Laterit, bald durch pflanzlichen
Mulm oder zähen, schwarzerdigen Schlamm und Morast
führend, hier über Riesenwurzeln und Wurzelpfeiler kletternd,
dort einen Bach als Wegspur benutzend." Die einzigen
Spuren thierischen Lebens für das Auge sind die aus Erde
zusammengeklebten Ameisenbauten. Die Eicaden, deren
schrille Töne in die Ohren gellen, ahmen in Grundfarbe
und Zeichnung ihren Lieblingsaufeuthaltsort so täuschend
nach, daß es schwer fällt, sie zu sehen. Schließlich gelingt
es aber doch, eine größere Zahl Käfer, Gespenstheuschrecken,
Ohrwürmer, Asseln, Skorpione rc. zu erbeuten. Die Ameisen
bilden eine schlimme Landplage, deren sich auch die Reisen-
den stellenweise nur mit Mühe erwehrten, und ähnlich
auch die Mücken und Fliegen und Sandflöhe. Eidechsen
und Schlangen sind selten; ebenso die Säugethiere, ausge-
nommen wilde Schweine (Potamochoerus Gray), Büffel
(Bos brachyceros) und Tschimpansen (Troglodytes niger).
Nashornvögel und Riesenhelmvögel sind häufig. — Auf
den lichteren Stellen des Urwaldes hat das an die Dämme-
rung gewöhnte Auge anfangs Mühe, die hereinfluthenden
Lichtwcllen zu bewältigen, und der feuchte Modergeruch
schwindet auch. Dort vergrößert sich die Zahl der Spinnen,
es treten Fang- und Laub-Heuschrecken (Mantiden) und
Locustiden auf, die Lepidopteren werden zahlreicher. In
den Laubwipfeln hausen aber wahrscheinlich dieselben Formen
wie im Buschwalde. — Die Parklandschaft dankt der Ro-
dung mit Brand und primitiven Werkzeugen ihre Existenz,
und der eigentliche Wald kommt in ihr auch nicht wieder
auf, wenn die darin angelegten Pflanzungen nach ihrer
Ausnutzung von den Besitzern wieder verlassen werden.
Nur üppiger Gras- und Kräuterwuchs greift dann Platz,
und nur solche Bäume, die man ihrer Nutzbarkeit wegen
bei der Rodung verschonte oder künstlich anpflanzte — der
gewaltige Woll bäum (Erodendron anfractuosum), der
Colabaum (Sterculia acuminata), die Oelpalme (Elaeis
guineensis) — wachsen dazwischen. Im Bane-Lande
findet sich die Landschaft nur streckenweise, ausgedehnt ist
sie dagegen im dichtbevölkerten Iaunde-Lande, rechts vom
Njong-Flusse. Die Thierwelt ähnelt derjenigen der Wald-
gegend, leitet aber nach derjenigen der Savanne über.
Fang-, Feld- und Laubheuschrecken sind sehr stark vertreten,
ebenso buntfarbige Landwanzen und Käser, Web- und Rad-
spinnen, Schmetterlinge rc. Auch Eidechsen sind häufig,
nicht so sehr dagegen Schlangen. Unter den Vögeln spielen
Bienenfresser, Honigsauger, Würger, Sperlinge, Weber-
vögel, Tauben, Hühner, Nashornvögel, Falken rc. die Haupt-
rolle. Säugethiere, wie Antilopen, Stachelschweine, Spitz-
mäuse rc. sind scheu, und kommen deshalb nur hie und da
zu Gesicht. — „Wirkte der Urwald mit seinen hochragenden
Bäumen und durch sein geheimnißvolles Halbdunkel erhaben,
und bot uns die sonnige Parklandschaft mit ihren male-
rischen, in saftigem Grün prangenden Gebüschen und ihren
Baumgruppen ein liebliches Laudschaftsbild dar, so beschleicht
uns bei dem Anblick der Savanne, wenigstens in der
trockenen Zeit, das Gefühl trostloser Einsamkeit. So weit
das Auge blickt, sind nur Grasdickichte sichtbar, in denen
Menschen und Thiere spurlos verschwinden; über manns-
hohe Gräser, mit dicken, steifen Halmen und öfters mit
schneidenden Blättern, dazwischen hier und da ein kümmer-
licher Zwergbaum (Anona senegalensis), bedecken in
gleicher Einförmigkeit den Boden auf weite Strecken hin; nur
auf den Höhen der sanften Terrainwellen bieten kleine, aber
malerische Gruppen schlanker Fächerpalmen (Ilyxliaons?),
hin und wieder vergesellschaftet mit einigen Oelpalmen, den
Anzeichen menschlicher Niederlassungen, einen Ruhepunkt
für das ermüdete Auge und beleben die Landschaft im Ver-
ein mit den schmalen Wald- und Buschstreifcu, welche die
Wasserläufe säumen, und den Pflanzungen der Menschen.
In manchen Thalmulden gehört frisches Wasser zu den
Kostbarkeiten." „Der gelbrölhliche Lateritboden, von der
anhaltenden Hitze ausgetrocknet und ansgebacken, ist ans
weite Strecken hin mit den angesengten und rauchgeschwärzten
Halmgerippen des zum ersten mal gebrannten Grases be-
deckt oder von der spärlichen Asche des gänzlich nieder-
gelegten Graswuchscs schwärzlich gefärbt; da, wo das
Grasdickicht noch in seiner ursprünglichen Ueppigkeit auf-
ragt, zeigen die Blätter und Halme eine gelbliche Verfär-
bung, welche, durch den sengenden Sonnenbrand hervor-
gerufen, das baldige Absterben derselben vorhersagt." Das
Thierleben erscheint in der Trockenzeit (in welcher die Expe-
dition das Land durchzog) sehr arm. Die Insekten sind
durch den Brand vertrieben oder vernichtet. Nur Weber-
vögel umschwärmen die vereinzelten Banmgruppen, und
nur Falken ziehen in größerer Zahl über der Karawane
einher. Antilopen- und Büfselspurcn sind häufig. — A n
den Ufern der Flüsse ziehen sich die bekannten afrikanischen
Galeriewälder hin, und die Thierwelt in denselben ist der-
jenigen des Urwaldes ähnlich. Dagegen bergen die Flüsse
selbst ein eigenartiges Leben. Fische kommen in Menge
vor und werden von den Eingeborenen getrocknet und ge-
räuchert. Batrachier verführen allabendlich ihre Konzerte.
Auch an Schildkröten und Schlangen fehlt es nicht. Kroko-
dile finden sich in größerer Zahl nur unterhalb der untersten
Wasserfälle. An Vögeln scheint der Njongfluß arm zu sein,
ebenso auch Säugethieren. Flußpferde kamen den kreisen-
den nur in dem Mündungsgebiete der Ströme zu Gesicht.
Den gelben Ufersandgürtel am Meere bewohnen hübsch ge-
färbte Krabben, sowie Krebse, Schnecken, Regenpfeifer,
Strandläufer rc. Im nördlichen Kamerun findet sich in
der Mündnngsgegend der Ströme, besonders aber am Ka-
merun-Meerbusen, der den Mungo, den Abo, den Wuri
und den Lungasi, sowie einen Arm des Sannaga (den
Kwakwa) aufnimmt, eine ausgedehnte Brakwassergegcnd,
die mit Mangroven bewachsen ist. Darin leben zahlreiche
kleine Krabben, Pelikane, Reiher, Schnepfen und andere
318
Kürzere Mittheilungen.
Sumpfvögel, sowie auch Manatus senegalensis. — Die
Hausthiere der Eingeborenen — nur Hühner, Ziegen, Schafe
und Hunde — befanden sich in einem sehr vernachlässigten
Zustande.
Der von dem Gouverneur von Soden, sowie von
anderen Herren versuchte Gemüsebau gelang auf dem vul-
kanischen Boden des Gebirges gut und ohne große Pflege.
In Kamerun (Station) wird der leichte Boden aber durch den
anhaltenden Regen zu stark verschwemmt und verwaschen, und
die Kultur ist infolgedessen zu kostspielig und zeitraubend.
Den Berichten der „Mittheilungen aus den Schutz-
gebieten" sind zwei elegante Kärtchen beigcgcben, die der in
Arbeit begriffenen Frantzois'schen Karte gegenüber aber nur
provisorische Bedeutung beanspruchen.
Kürzere Mittheilungen.
Tieflothungen und Wassertemperatur-Bestimmungen
im Indischen Ozeane.
Nachdem die großen Expeditionen zur Erforschung der
submarinen Verhältnisse des Atlantischen und Stillen Ozeans
in den siebziger Jahren die Expeditionen des „Challenger",
der „Gazelle", und der „Tuscarora" über den Indischen Ozean
nur in geringem Maße unsere Kenntniß erweitert hatten, ist
es auch jetzt wieder wie damals England, welches den An-
stoß giebt, den in jener Zeit unerledigt gebliebenen Theil der
großen Aufgabe zum theilweisen Abschluß zu bringen.
So hat im vorigen Jahre das britische Vermessungsschiff
„Egeria" (Kapitän Pelham Aldrich) eine Kreuztour durch den
Indischen Ozean ausgeführt und dabei eine ziemliche Anzahl
(etwa ein halbes Hundert) von Mecrestiefen und Temperatur-
reihen gewonnen. Die ersten Lothnngen, auf der Fahrt von
Kap Guardafui bis zur Snnda- Straße, weisen Tiefen
von 2000 bis 3800 m auf. — Von 7° 47' S. und 105°
21' östl. L. v. Gr., südlich der Westspitze von Java, beginnt
die Lothungsreihe mit der verhältnißmäßig geringen Tiefe von
2621m, um schon ganz in der Nähe (9° 18' S. und 105°
28' östl. £.) auf 5852 m herunterzugehen.
Bald jedoch hebt sich der Boden um etwa 1000 m, sinkt
aber dann in südwestlicher Richtung auf 200 15' südl. Br.
(höher als die N. W. Kaps von Australien) und 89° 52' östl. L.
(etwa im Meridian von Kalkutta) abermals auf 5400 m.
Nunmehr beginnt in westlicher Richtung ein sehr regel-
mäßiges sanftes Ansteigen des Meeresbodens, welches seinen
Gipfel in 18° 55' südl. Br. und 63° 27' östl. L. (östlich von
den Maskarenen) mit rund 2700 m Meerestiefe findet. In
dieser Gegend kann man also geradezu von einem submarinen
Höhenznge sprechen, der sich nach S. W. und S. wiederum
bis auf 5260 m unter das Meeresniveau senkt. Alsdann
findet ein abermaliges Ansteigen statt: und hier liegt die höchste
Erhebung nur 2377 m unter dem Meeresspiegel (36° 37'
südl. Br., um weniger südlicher als das Kap der guten Hoff-
nnng, und 51° 52' östl. L.,im Meridian von Kap Guardafui).
Nunmehr senkt sich unter der letztgenannten Breite der Boden
abermals gegen Osten bis iiber 5000 m und steigt unter 38° 24'
südl. Br. (nordöstlich von den Kerguelen) und 78° 41' östl. L.
zu einer dritten Erhebung an, welche gar nur 2271m unter
der Oberfläche liegt. Darauf fällt der Boden stetig in
östlicher Richtung, bis die Tiefe im Meridian des Kap
Leeuwin 5130 m und demnächst parallel der Südküste
Australiens durchschnittlich 5500 m beträgt. Bei Van-
diemensland endigten die Beobachtungen.
Soviel über die bis dahin erforschte Gestalt des
Meeresbodens im Indischen Ozeane. Zu diesen Tiefenangaben
treten noch die gleichzeitig mit den Lothungen erhaltenen
Grundproben, welche mit denen der anderen Ozeane voll-
ständig parallel gehen. Nach der Challenger-Expedition hat
man es bei der Untersuchung der Bodensedimente der Tiefsee
mit zwei Hauptgrnppen zu thun: mit solchen nämlich, die vor-
wiegend aus den Schalen kleiner Organismen bestehen und
mit solchen, die ganz amorph, den zähen sogenannten Tiefsec-
thon bilden.
Zu den ersteren wird der Globigeriuen-, Radiolarien-
und Diatomecnschlamm gerechnet. Bekanntlich gehören die
ersteren beiden zu den Rhizopoden, den am niedrigsten ent-
wickelten Thierformen, von denen die Radiolarien in ihrem
Inneren ein kegelartiges Kieselgerüst mit daran sitzenden
langen und feinen Stacheln besitzen, während das innere
Gehäuse der Globigeriuen nicht aus Kiesel, sondern aus
kohlensaurem Kalk gebildet wird. Beide Arten sind von
mikroskopischer Kleinheit und leben in großer Zahl an der
Oberfläche. Nach ihrem Tode senken sich ihre Kalk- bezw.
Kieselgcrüste zu Boden, und je nachdem dann im Schlick die eine
oder die andere Art überwiegt, wird die Grnndprobc nach
ihnen benannt. Dieser organische Schlamm findet sich nun,
gerade wie in den anderen Ozeanen, auch im Indischen
Ozeane, ans den sanft aufsteigenden Höhenzügen, welche oben
näher erwähnt wurden: er bedeckt ausnahmslos die Um-
gebung der drei genannten Kuppen. Außerdem entspricht auch
hier die Thatsache, daß bei Tiefen über 4000 in der rothe
Tiefseethon die obengenannten Schlammarten ablöst, ganz
den analogen Erscheinungen im Pacifischen und Atlantischen
Ozeane. Die Ursache dieser Erscheinung ist freilich noch nir-
gends aufgeklärt.
Aus den von der „Egeria" erhaltenen Temperatur-Reihen
sind besondere Abweichungen von bekannten oder analogen
Thatsachen nicht hervorzuheben. Die Oberflachentemperaturen
entsprechen den im Indischen Ozeane vorherrschenden warmen
Strömungen (23 bis 24° C.) im nördlichen, und den kalten
(etwa 15° C.) im südlichen Theile dieses Weltmeeres. Die
Bodentemperaturen weisen sehr konstante Zahlen ans: sie be-
tragen im Durchschnitt für 34 Messungen 1,3° C.
Auch bei 800 m sind sie noch sehr konstant: wenig mehr
als 3° C., bei 700 etwa 4° E., bei 500 m durchschnittlich
5 bis 6° C., während endlich bei 200 und gar 100 in der
Charakter der Oberflächentemperaturen mehr und mehr
hervorzutreten beginnt. j. v. g.
Aus allen Erdtheilen.
319
Aus allen
Europa.
— Nach cincill Vortrage, den Professor Dr. I. Sepp
in der Geographischen Gesellschaft zu München gehalten
hat, beginnt die Geschichte der vordeutschen Alpen-
bewohner etwa 1200 v. Chr. Die ersten Bewohner
des Gebirges — die Liburner — kamen aus der Gegend
des Adriatischen Meeres, durch die Goldfnndstätten angezogen,
und waren illyrischcn Stammes, den alten Venetiern sowie auch
den heutigen Albanesen verwandt. Ihnen folgten als zweite
Bevölkerungsschicht die Rhäter, deren Spuren Ludwig Steub
in Tirol nachwies, und die ethnologisch mit den Etruskern
zusammenhängen. Dann kamen die Kelten, auf die zahlreiche
Orts- und Bergnamen hinweisen; dann die Römer, und
endlich die Deutschen und Slawen.
— Von M. K. Nossilof, dem energischen Erforscher
nordischer Natur (Vergl. Bd. LIV, S. 191), werden als
Frucht seiner erstjährigen Ueber Winterung auf Nowaja
Semlja zwei Arbeiten angekündigt, von denen die eine die
Strömungs- und Eisverhältnisse im Karischen und Mur-
manschen Meere während des Winters 1887/88, die andere
das Leben der Samojeden auf Nowaja Semlja, und nament-
lich ihre Fahrten im Eismeere darstellen wird.
— Herr Grum-Grshimailo, der Erforscher des
Pamir, tvar im Sommer 1888 fast drei Monate im Ural
thätig, den er von Slatoust ab bis in die nördlichen Ge-
genden bereiste und durchforschte.
— Im Donez-Gebiete, nahe bei der Station Niki-
towska, an der Eisenbahn von Kursk nach Asow, sind im
Jahre 1879 Quecksilbercrz-Lagerstätten entdeckt worden,
die sich bei genaueren Untersuchungen als abbauwürdig er-
wiesen haben, deren thatsächlicher Abbau aber erst im Jahre
1886 in Angriff genommen wurde. Die im ersten Betriebs-
jahre erzielten Resultate sind nun durchaus befriedigende ge-
wesen, und die Produktion hat (1887) 3911 Pud betragen,
so das; die Einfuhr von ausländischem Quecksilber in Rußland
dadurch erheblich zurückgegangen ist. Die in dem Lager vor-
handene Erzmenge schätzt man ans 12 Millionen Pud, was
einen Vorrath von 120000 Pud reinen Quecksilbers ergiebt.
(Vergl. „Russische Revue", XVII, 2. H., 255 ff.)
A s i e n.
— Der russische Reisende, Hauptmann Grombtschewski,
ist noch iinmcr unermüdlich thätig, die Grenzgebiete
zwischen den eentralasiatischen Khanaten, dem chine-
sischen Turkistan und Britisch-Jndien zu durchforschen.
Nachdem er im Laufe des vergangenen Sommers das Kundschut-
Gebirgc, in der Nähe des großen Indus-Knies, durchquert
hat, ist er an dem Ostabhange des Mustagh angelangt, um
dort seine Vermessungen und Aufnahmen fortzusetzen. Neben
den Forschungen Stoliczka's, Fedtschenko's, Mnschketow's und
Ssäwerzow's dürften diejenigen Grombtschewski's zur geogra-
phischen Kenntniß der betreffenden Gebiete das Wesentlichste
beitragen. (Vergl. „Globus", Bd. 52, S. 240.)
— Der frühere Statthalter von Madras, Sir M. E. G ra nt
Duff, hielt kürzlich vor den: Ediuburgher Philosophischen In-
stitut einen Vortrag über Madras und Süd-Indien,
bcm wir die folgenden Ausführungen entnehmen: Ein ein-
E r d t h e i l e n.
heitliches Indien giebt es so wenig als ein einheitliches
indisches Volk. Die Präsidentschaft Madras zählte beim
letzten Census reichlich 31 Millionen Einwohner, wovon
12 Millionen als ihre Muttersprache Tamilisch und 12 Mil-
lionen Telugu (beides drawidische Sprachen), aber weniger als
36 000 Englisch sprachen. Die große Mehrzahl bekennt sich
zum brahmanischen Glauben, ein kleiner Theil zum moham-
medanischen. Das Christenthum hat in Südindien viel mehr
Anhänger gefunden als in Nordindien, besonders das römisch-
katholische (68 Proc.). Eine furchtbare Geißel Südindiens
sind die periodischen Hungersnöthe, und die wohlwollende
Fürsorge der Regierung hat die unbeabsichtigte Tendenz, das
Uebel, sobald es kommt, noch mehr zu verschlimmern, weil ein
großer Theil der Bevölkerung auch in den normalen Zeiten
nicht satt zu essen hat. Gegen das Ende der Trockenzeit be-
findet sich auch das Vieh regelmäßig in einem bejammerns-
werthen Zustande. Etwa 75 Proc. von der Bevölkerung
leben vom Ackerbau, und daher ist eine thunlichste Vervoll-
kommnung der Jrrigationsanlagen geboten, ans die die Re-
gierung thatsächlich große Aufmerksamkeit verwendet.
— Gegenüber der Einwanderung von Chinesen in
Sibirien nimmt der große russische Sinologe W. Wassiljef
in einem von der „Neuen Zeit" veröffentlichten, sehr inter-
essanten Artikel eine von den herkömmlichen Ansichten durch-
aus abweichende Stellung ein. Ausgehend einmal von der
geographischen Thatsache, daß in Sibirien noch Raum für
zahllose Ansiedler ist, andererseits von der historischen, daß im
russischen Volke, und nicht zu seinem Schaden, viel fremdes Ge-
blüt—von dem deutschen und polnischen im Westen bis zu dem
tatarischen und mongolischen im Osten — mit eingeschlossen
ist, möchte der berühmte Kenner Chinas die Auswanderer
eben dieses Landes nicht nur ohne Bedenken auf asiatisch-
russischem Boden zugelassen wissen, sondern sogar Maßregeln
getroffen sehen, welche die Russificirung derselben zu fördern
geeignet wären. Als solche empfiehlt er, daß man die Nieder-
lassung der Chinesen in besonderen Ortsbezirken oder Ort-
schaften nicht, wie in Amerika und englischen Kolonien, zugeben
oder gar befehlen, sondern im Gegentheil streng verbieten
sollte, daß man ferner die Ablegung des Zopfes und der
chinesischen Tracht verlangen und dafür Sorge tragen müßte,
daß Kinder chinesischer Ehen (die Einwanderung chinesischer
Frauen sei auf alle Weise zu begünstigen) in russische Schulen
Eintritt suchten und fänden. Die Chinesen seien zur Assimi-
lirnng mit fremden Völkern gar nicht so abgeneigt, als es
scheine, und einen Beweis dafür will der russische Sinologe
in dem Umstande finden, daß sic überall, wo sie in der
Fremde nicht als herrschender Stamm auftreten, sehr bald
die Sprache des fremden Volkes, gleichviel ob gut oder schlecht,
zu erlernen pflegen. Auch in die Religionsform des russischen
Volkes sich za fügen, werde ihnen bei der eigenen Indifferenz
in religiösen Dingen nicht schwer fallen, nur solle man diplo-
matisch und weitherzig genug sein, nicht in das Innere der
etwaigen Neubekehrten blicken zu wollen, sondern das Hinein-
wachsen in den neuen Glauben getrost der Zukunft und den
nachfolgenden Geschlechtern überlassen! — Das merkwürdigste
ist offenbar, daß ein Sachkenner die anerkannten Umbildner
so vieler Völker hier für selber leicht nmwandlungsfähig erklärt.
320
Aus allen Erdtheilen.
A f r i k a.
— Joseph Thoulson ist gemäß einer Aufforderung,
die er von der Britisch - Ostafrikanischen Gesellschaft er-
halten hat, früher aus Marokko nach England zurück-
gekehrt, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Nachdem
er vor der Geographischen Gesellschaft zu London einen
vorläufigen Bericht über die Ergebnisse seiner marokkanischen
Reise erstattet haben wird, soll er sich unverzüglich nach
Ostafrika begeben, um daselbst die Führerschaft einer-
wichtigen Expedition in das Innere zu unternehmen. Man
wird kaum irre gehen, wenn man diese wichtige Expedition
als die englische Emin- Pascha -Expedition bezeichnet. Da
Joseph Thomson die Hin- und Herreise von Mombas zum
Victoria-Nyanza-See bereits einmal glücklich bewerkstelligt
hat, so muß der Reisende in der That als eine sehr geeignete
Persönlichkeit zur Leitung einer solchen Unternehmung gelten
(Vergl. S. 239 und 302).
— Unter den zahlreichen Expeditionen, die die Franzosen
zur Erweiterung ihrer Einflußsphäre in Nord Westafrika
ausgesandt haben, scheint diejenige des Lieutenant Bin g er
von dem bedeutendsten Erfolge begleitet gewesen zu sein.
Nach einem Briefe, den er an Oberst Gallieni gerichtet hat,
hat dieser Reisende vom oberen Niger aus zuerst das Land
Samorys durchquert, ist dann nach Fulunda und Niöle,
und endlich nach Kong (8° 54' 45" ttörbl. 23r.) vorgedrungen.
Die letztere Stadt ist 50 Tagereisen von Bamaku (am
Niger) entfernt, hat etwa 10 000 mohammedanische Ein-
wohner, und treibt lebhaften Handel und beträchtliche In-
dustrie (Weberei und Zeugfürberei). Binger gedachte sich
(im März) von dort nach Woghodogho zu begeben, und
dam: nach Kong zurückzukehren. — Um sich mit ihm zu
vereinigen und seine Operationen zu unterstützen, ist im August
eine andere Expedition unter Herrn Treich-Laplöne
von Assinie (an der Elfenbeinküste) nach Kong aufgebrochen.
Das dabei verfolgte Ziel ist natürlich das, die ganze Gegend
unter das französische Protektorat zu bringen. Mit Samorys
Staaten ist dies auch bereits gelungen.
— In dem portugiesischen West-Afrika ist als ein epoche-
machendes Ereigniß die Eröffnung der Eisenbahn von
San Paolo de Loanda nach Ambaca (an: 31. Oktober)
zu verzeichnen. Denn wenn auch der große Plan der
Portugiesen, diese Bahn zu einer afrikanischen Transkontinen-
talbahn auszugestalten und bis zur Zambesi - Mündung
weiter zn führen, vielleicht noch lange auf seine Realisirung
warten lassen wird, so wird doch die neue Schienenstraße
unzweifelhaft schon in ihrer gegenwärtigen Gestalt eine
günstige Wirkung auf die Entwickelung von Angola ausüben.
Von einem Zurückweichen des portugiesischen Einflusses, wie
es bisher der Fall war, wird nun schwerlich mehr die Rede
sein können (Vergl. „Globus", Bd. 53, S. 320).
Südamerika.
— In: Juli hat das chilenische Kriegsschiff „Angamos"
Besitz von der Osterinsel ergriffen, nachdem fast der ganze
Grundbesitz der Insel von einem Chilenen angekauft worden
war, welchem ihrerseits die chilenische Regierung die Insel
abgekauft hat. Es wurde die chilenische Flagge aufgezogen,
eine Messe gelesen u. s. w. In dem vorläufigen Bericht über
dieses Ereigniß heißt es, der „Angamos" habe auf der Insel
17 000 Stück Schafe, 2000 Stück Rinder und Pferde, und
zahllose Ratten angetroffen; wie viel Einwohner auf der-
selben waren, anzugeben, schien dem Berichterstatter von ge-
ringerem Interesse, es ist darüber nichts gesagt. Auf der
Insel wurde der Colonisationsinspektor Pedro Pablo Toro,
fünf Frauen und neun Männer zurückgelassen.
Australien und Polynesien.
— Der Mai Kassa oder Baxter-Fluß in Britisch
Neuguinea, der sich 130 km westlich von dem Fly-Fluß in
die Torresstraße ergießt, ist bisher als ein Mündungs-Arm
des letzteren betrachtet worden. Eine genauere Untersuchung,
die C. E. Strode Hall in den Monaten April und Mai in
offizieller Mission mit dem Flußlauf vorgenommen hat, hat
aber ergeben, daß dies ein Irrthum ist, und daß der Baxter
ein kleines selbständiges Stromsystem für sich bildet. Herr-
Hall verfolgte seine sämmtlichen 15 Tributärflüsse bis zu
ihrer Quelle, und fand, daß zwischen den Quellen und
dem Fly ein 40 km breites Intervall lag. Jenseits der
Mangrove-Zone ist das Uferland niedrig, dünnbewaldet und
unfruchtbar. Die Eingeborenen, deren sich Herr Hall auf
seiner Expedition bediente, bewährten sich vorzüglich. (Vergl.
die „Proceedings“ der Londoner Geograph. Gesellschaft X,
708 f.)
Polarregionen.
— Das Projekt einer deutschen Expedition nach
den antarktischen Gegenden, das von dem Vorstande
der deutschen Seewarte, Dr. G. Neumayer, betrieben, und
von dem deutsch-amerikanischen Kapitalisten Henry Billard
unterstützt wird, scheint bereits ziemlich weit gediehen zu sein.
Man versichert wenigstens, daß mit einer amerikanischen
Schiffsbauer-Firma ein Kontrakt abgeschlossen worden sein
soll, behufs Herstellung zweier für die Eisfahrt besonders
konstruirter Dampfer. Unter anderem soll die Expedition
auch die Archipele der Süd-Shetlands, der Süd-Orkneys,
Süd-Georgias und der Bouvet-Juseln besuchen.
Allgemeines.
— Das britische Vermessungsschiff „Egeria" (Kapitän
Aldrich) hat neuerdings eine größere Zahl von Loth int gen
in dem Südpacifischen Ozeane vorgenommen, und
dabei südlich von dem Tonga-Archipel Tiefen von 4295 und
4330 Faden (7855 m und 7919 m) aufgefunden. Es sind
dies die größten Tiefen, die bisher in den Meeren der süd-
lichen Halbkugel angetroffen worden sind, und dieselben sind
um so interessanter, als sich dabei eine strenge Analogie
herausstellt zwischen der südlichen und nördlichen Hälfte des
Pacifischen Ozeans. In dem Nordpacifischen Ozeane findet
sich das tiefste unterseeische Thal umnittelbar an den: Rande
der Ost-Feste (östlich von Japan). Eben dasselbe ist nun der
Fall im Südpacifischen, sobald man Neuseeland und die Fidschi-
uud Tonga-Inseln als den alten Ostrand Australiens auffaßt,
wozu die sonstigen bathymetrischen Verhältnisse unbedingt
berechtigen. Man sieht daraus immer wieder, daß in dem
Baue der Kontinente eine große Gesetzmäßigkeit waltet.
Inhalt: Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee. I. (Mit zwei Abbildungen und einer
Karte.) — Wanderungen durch das außertropische Südamerika. XVI. (Schluß-Aufsatz. Mit vier Abbildungen.) — Togo-Land
und Kamerun. — Kürzere Mittheilungen: Tieflothungen und Wassertemperatur-Bestimmungeu im Indischen Ozeane. — Aus allen
Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Südamerika. — Australien und Polynesien. — Polarregionen. — Allgemeines.
(Schluß der Redaktion am 1l. November 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Brauuschweig.
1
Jo 21.
Mrt besonderer Herüebsichtrgung der Gtbnologre, der Kuliurderhälinrsse
und des Meltbnndels.
Begründet von Karl And ree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braun schweig
Jährlich 2 Bände g. 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen.
Das deutsche Schutzgebiet in der Sndsee
Von Dr. M. Hollrung.
II.
(Mit zwei Abbildunge n.)
Eines der wichtigsten Momente für die Zukunft des
Schutzgebietes ist die Arbeiterfrage. Daß der Weiße in
gleichem Maße wie in subtropischen Gegenden körperliche
Anstrengungen zu ertragen im Stande sein würde, war bei
der Lage des Schutzgebietes als unwahrscheinlich voraus-
zusetzen. Wider Erwarten machte man die Erfahrung,
daß der Europäer eine ganze Reihe von Arbeiten ohne
Schaden für seine Gesundheit verrichten kann, wenn er
dieselben entweder in bedeckten Räumen oder auch im Freien
bei genügendem Schutz gegen die Einwirkungen der Sonne
ausführt. Immerhin mußte aber doch von Anbeginn
schon das Verlangen nach einer innerhalb der Tropen auf-
gewachsenen und hierdurch gegen die Einflüsse des Klimas
weniger empfindlich gemachten Arbeitskraft, welche vor
allem auch weit billiger als die des Weißen ist, sich geltend
machen. Angesichts der wenigen Nachrichten, welche über
die Eingeborenen hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit als Arbeiter
vorlagen, sicherte sich die Ncn-Guinca-Compagnie durch An-
werbung von etwa 100 Malayen diejenigen Arbeitskräfte,
welche zur Einleitung der Besiedelung unbedingt nothwendig
waren. Von einigen ziemlich hoch besoldeten Köchen, Auf-
sehern und Handwerkern abgesehen, erhalten diese Malayen
etwa 20 Mark Lohn, 30 Kattie (183/4 Kilo) Reis und
ein Kattie (625 g) Salz pro Monat. Diese Kulis leisten
unter der»,Aufsicht^ energischer, der malayischen Sprache
kundiger Personen ganz Borzüglichcs. Nichtsdestoweniger
Globus LIV. Nr. 21.
hat die Neu - Guinea - Compagnie sich bald nach anderen
Arbeitskräften umsehen müssen. Zu den Gründen für diese
Maßnahme gehört unter anderem das von der nieder-
ländischen Regierung erlassene Verbot der Ausfuhr von
Kulis ans Niederländisch-Jndien, sowie die bedeutende Höhe
der Anwerbungs- und Transportkosten.
Es ist deshalb schon von Anbeginn der Versuch gemacht
worden, die Eingeborenen aus der nächsten Nachbarschaft
der Stationen als Arbeiter heranzuziehen. Diese Bestre-
bungen sind in Kaiser-Wilhelms-Land von keinem oder doch
sehr geringem Erfolge begleitet gewesen. Soweit das
physische Können bei den Kaiser-Wilhelms-Ländcrn und den
llreingcborencn dcs Südsec-Schutzgcbictcs ganz im allgemeinen
in Betracht kommt, kann kein Zweifel obwalten, daß dieselben
sich als Arbeiter gut eigenen, wenn auch die Brauchbarkeit der
Eingeborenen häufig infolge örtlicher Verhältnisse eine ver-
schiedenartige ist. So legen die Bewohner des Binnenlandes
und noch mehr die der Berge außerordentliches Geschick bei
allen mit dem Urwalde in Verbindung stehenden Verrich-
tungen an den Tag, sic bekunden große Ausdauer beim Be-
gehen langer Wegstrecken und leisten Erstaunliches im raschen
Ersteigen bedeutender Höhen. Im Gegensatze hierzu zeigt
sich der Anwohner der großen Flüsse im Norden für alle
Arbeiten im Walde, überhaupt am Lande, weniger tauglich,
denn der Fluß und das Boot, mit welchem er ihn beführt,
ist sein Element. Daher ist er ein ausgezeichneter Ruderer
41
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322
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
und gewandt in allen den Verrichtungen, welche mit dem
Leben auf dem Wasser zusammenhängen. Leider herrscht
unter den Eingeborenen eine große Abneigung gegen das
Arbeiten, welche zu beseitigen bisher noch nicht hat gelingen
wollen. Im Anfange kamen sie allerdings ziemlich häufig zur
Station, um sich daselbst oft mit Frau und Kindern als
Arbeiter zu verdingen. Hierzu bequemte sich der Einge-
borene aber nur so lange als er auf diesem Wege seine
Neugier und die Sucht nach dem Besitze der europäischen
Tauschwaaren befriedigen konnte. Als ernste, andauernde
Arbeit zu einem festen Lohnsätze von ihm verlangt wurde,
hielt er sich von der Station fern; seitens der Stations-
beamten wurde nun die Abgabe weiterer Tauschwaaren
an die Eingeborenen eingestellt, wodurch schließlich anstatt
der erhofften gegenseitigen Annäherung eine gegenseitige
Entfremdung eintrat. Dessenungeachtet darf man die
Hoffnung, aus den Eingeborenen des Kaiser-Wilhelms-
Landes brauchbares Arbeitermaterial heranzubilden, nicht
aufgeben.
Im Bismarck-Archipel und auf den Salomonsinseln
liegen die Verhältnisse etwas anders. Hier haben schon seit
geraumer Zeit Arbeiter-Rekrutirungen für die Pflanzungen der
Engländer in Australien und Fidschi stattgefunden. Kann man
sich auch mit diesen Arbeiteranwerbungen, namentlich darum,
weil sie häufig mit Arbeiterraub sich deckten, nicht einver-
standen erklären, so muß man doch zugeben, daß sie in
vielen Gegenden des Bismarck-Archipels die dem Einge-
borenen vom Kaiser-Wilhelms-Land völlig fremden und un-
gewohnten Begriffe: feste Arbeitszeit, fester Arbeislohn,
Arbeitszwang und Gehorsam eingebürgert-, und auch nach
anderer Richtung hin den Gesichtskreis der Eingeborenen er-
weitert haben. Doch wird auch im Bismarck-Archipel noch
viel Mühe auf die Heranziehung der Eingeborenen zur
Arbeit verwendet werden müssen.
Nachdruck verboten.
Das Dorf Sin. (Nach einer Photographie von Dr. M. Hollrung.)
Von durchschlagendem Erfolge werden diese Bemühungen
erst dann sein, wenn Sprache, religiöse Anschauung, Sitten,
Lebens- und Ernährungsweise, Handelsinteressen, gegen-
seitige Beziehungen, Familienleben u. s. w. der Eingeborenen
vollkommen bekannt sind. Erst dann wird sich entscheiden
lassen, auf welche Weise der Eingeborene moralisch zur
Arbeit gezwungen werden kann.
Der Papua des Schutzgebietes ist im allgemeinen von
mittelgroßer, fleischiger, kräftiger Körpergestalt; seine Haut-
farbe ist schokoladenbraun, speckglänzend; das Haar ist ge-
kräuselt, locker, pechschwarz und ohne Glanz; die Augen
liegen vollkommen horizontal, die Stirn ist hoch und vor-
gerückt; die Nase ruht auf einer vcrhältnißmäßig schmalen
Basis. Lebensweise, gewisse Krankheiten, Stammes-
eigenthümlichkeiten und Trachten haben einzelne dieser
Charakteristica zwar verwischt oder modificirt, ohne jedoch
den Gesammteindruck wesentlich verändern zu können. Die
Frau ist im Durchschnitt etwas kleiner als der Mann, ihre
Gesichtszüge sind in der Jugend angenehme und ebenmäßige;
im Alter verkümmert die Frau aber außerordentlich. Unter
den Männern ist die Gesichtsbildnng eine sehr verschiedene.
Bald besitzt sie einen europäischen, bald einen semitischen
Schnitt, bald wieder erinnert sie an den Javanen und bald
an den Australneger von Victoria. Auch Lebens- und Be-
schäftigungsweise haben dann und wann nachhaltige Ver-
änderungen im Körperbau hervorgebracht. So fällt der
Binnenländer durch die stark ausgebildeten unteren Körper-
partien, der Eingeborene am Kaiserin-Augnsta-Fluß
durch schmächtige Beine, kräftige Brust und Arme auf.
Inwieweit fremde eingewanderte Elemente den ureinge-
borenen Menschenschlag verändert, verdrängt oder unter-
drückt, und welche Rasseneigenthümlichkeiten sie von ihm an-
genommen haben, ist in der Gegenwart nur noch schwer zu
entscheiden. Die Forschung hat nach dieser Richtung hin mit
den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, welche hauptsächlich
durch den Umstand, daß die Eingeborenen keinerlei Schrift und
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
Aufzeichnungen besitzen, daß das Stamm - und Sprachen-
gewirr im Schutzgebiete ein außerordentlich starkes ist, und
daß die Eingeborenen sehr zu Neuerungen geneigt sind,
verursacht werden. Am ehesten werden Aufklärungen noch
durch die Vergleichung der Sprachen unter Berücksichtigung
einiger Gebräuche und einiger noch dunkel bei manchen Stäm-
men vorhandenen Traditionen und religiösen Anschauungen zu
erhalten sein. Allen Eingeborenen ist ein stark aufgetriebener
Unterleib eigenthümlich. Der Grund für diese Erscheinung
ist darin zu suchen, daß das Hanptnahrungsmittel der Ein-
geborenen in Vegetabilicn besteht. Der Armuth des Waldes
an Thieren wurde schon oben gedacht. Um dem hierdurch
verursachten Fleischmangcl abzuhelfen, hat sich der Einge-
borene zur Züchtung einiger Thiere entschließen müssen, in-
dessen betreibt er dieses Geschäft nur in sehr kleinem Maß-
stabe. Seine Trägheit, vielleicht auch der Mangel an
geeignetem Futter oder die Furcht vor Diebstählen mögen
ihn veranlassen, seinen Züchtungsvcrsuchcn keine größere
Ausdehnung zu geben. Die Reihe der papuanischen Hans-
thiere ist eine sehr geringe, sie umfaßt nur das fast überall
anzutreffende Schwein und den Hund, wozu noch in einigen
Gegenden das Huhn kommt. Schweine und Hunde werden
nur bei festlichen Gelegenheiten verzehrt, die gewöhnliche
Fleischnahrung muß das Wasser, dem sic Fische, Schild-
kröten, Schnecken, Muscheln, Krebse, junge Krokodile u. a. m.
entnehmen, liefern. Daneben verschmähen es die Einge-
borenen aber auch nicht Garnelen, Libellenlarven, Heu-
schrecken, Schlangen, fliegende Hunde, Ratten, Eidechsen,
Frösche und anderes Gethicr zu verzehren. Die Libellcn-
larven bewahren sie sogar geräuchert und in wurstförmige,
etwa 30 bis 50 cm lange, 5 bis 8 cm dicke Rollen verpackt,
längere Zeit auf.
Die vegetabilische Nahrung der Eingeborenen besteht
vornehmlich in der Jamswurzel, der Tarro-Knolle, der Ba-
Ein Segelboot von Bili-Bili. (Nach einer Photographie von Dr. M. Hollrung.
Nachdruck verboten.
nane, der Kokosnuh, hier und da auch aus Sago und
Brotfrucht. Anherdem essen sie noch eine grohe Anzahl
von Wurzcln, Stengcln, Bluthcnstanden, Fruchtcn und
Samen, wclchc sie zum Theil in ihren Pflanzungen an-
bauen — wie Papaya, Zuckerrohr, Mais, spanischcn Psesfcr,
Gurke und Melone, zum Theil wildwachsend in der
Natur vorfinden: den Rosenapfel, die wilde Mango, die
Blimbi (Averrhoa bilimbi), den Breiapfel (Bassia
Hollrungii), wilde Wcinbeeren, wilde Feigen, die Fruchte
von Owenia, die Samen von Terminalia catappa
und Canarium, die wilde Mangostane, Fruchte von
Pandanus Inocarpus, wilde Cardamomcn, die Jngwer-,
Curcuma- und Calmuswurzel, die Blatter der Melde, die
Stengel und Samen der Lotosblume (Nelumbium spe-
ciosum), die Fruchte der Teichrose (^^mpbaea), das Mark
verschiedcner Palmcn, die Bliithenstande des wilden Zucker-
rohres u. a. m. Die eigentlichen dkahrnngsmitttel: Jam,
Tarro und Kochbanane, ebenso dic Melde und der Palmen-
kohl werden gekocht, Sagomchl in gebackenem Zustande,
Brotfrucht, wildes Zuckerrohr, die Frucht der Teichrose und
gelegentlich auch die Tarro geröstet gegessen. Die Zu-
bereitung der Speisen fällt der Frau zu, deren Kochkünste
sehr einfache sind und daher wenig Aufwand an Zeit und
Arbeit verursachen. Weit mehr Anstrengung erfordert die
Beschaffung der Lebensmittel, denn Jam und Tarro werden
in Pflanzungen, welche die Eingeborenen alljährlich neu an-
legen, gezogen. Papayen, Bananen und einige Stauden Tabak
finden sich vielfach in der Nähe der Hütten, mitunter aber
ebenfalls in eigenen Plantagen vor.
Da der Eingeborene schon herausgefunden hat, daß in
den meisten Gegenden der Boden der Grasslüchen minder-
wcrthiger als der des Waldes ist, so bebaut er nur selten
Grasland, sondern zieht cs vor, ein Stück Wald für seine
Pflanzung urbar zu machen. Vor dem Betreten des Landes
durch die Weißen war die Arbeit des Urbarmachens für
den Eingeborenen keine ganz einfache, da ihm bei derselben
41*
324
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
nur sein Steinbeil und das Feuer dienstbar waren. Augen-
blicklich bedient er sich schon vielfach der Stahlaxt. Der
Mann fällt nur die Bäume, alle übrigen Plantagenarbeiten,
bestehend in dem Wegräumen der Stämme, im Bepflanzen,
Reinhalten und Abernten, werden von den Frauen und
Kindern besorgt. Namentlich das Reinhalten der Pflanzung
ist bei der außerordentlich starken Lebenskraft der tropischen
Pflanzenwelt keine leicht zu bewältigende Aufgabe; nichts-
destoweniger sind die Plantagen der Eingeborenen immer
sehr sauber gehalten. Die Erträge pflegen im Innern
besser und höher zu sein, als in dcu Gegenden an der Küste,
weshalb die Eingeborenen im Inneren leicht mehr Nahrungs-
mittel ziehen können als sie bedürfen. Es haben sich infolge
dieses Umstandes in einigen Gegenden Jams-, und Tarro-
märkte herausgebildet, welche von den Küstenbewohnern
besucht werden. Als Bezahlung werden Schmucksachen
aus Muscheln, Arbeiten aus Schildpatt, Schnitzereien,
Hnndezähne und andere Küstenprodnkte, welche'im Innern
selten sind, verwendet.
Jagd und Fischfang, welche im engsten Zusammenhange
mit der ans die Beschaffung von Lebensrnitteln gerichteten
Thätigkeit der Eingeborenen stehen, ist allgemein verbreitet.
Soweit der Mann sich dabei betheiligt, huldigt er nur einem
Vergnügen. Bei der Jagd bedient sich der Eingeborene
des Bogens mit dem Pfeile, des Speeres, des Fangnetzes,
der Fallgruben, der Schleuder, der Schlinge, gelegentlich
auch der Anstaudshütten und Blenden. Im Beschleichen
seines Wildes zeigt er außerordentliche Geduld und größste
Geräuschlosigkeit. Den Fischfang betreibt der Eingeborene
nur mit dem Speere bei Abend oder Nacht, unter Fackel-
beleuchtung. Die Zahl der Fische, welche er ans diesem
Wege erlangt, pflegt eine geringe zu sein und ist nur selten
geeignet, den Bedarf des Hauses zu decken. Letzteres muß
daher wiederum durch die Frauen und Kinder erfolgen,
eine Arbeit, bei welcher sie sich der Netze und Fischkörbe von
verschiedenster Größe und Gestalt bedienen.
Berauschende Getränke versteht der Eingeborene des
Schutzgebietes nicht zu bereiten, wie überhaupt sein Bedürf-
niß an Getränken ein sehr geringes ist. Als eigentliche
Genußmittel sind nur der Tabak und der Betel, diese aber
fast allgemein in Gebrauch. Die Massoi-Rinde soll von den
Eingeborenen als Aphrodisiacum gekaut werden, eine Be-
hauptung, welche jedoch noch der Bestätigung bedarf.
Die Kleidung der Eingeborenen ist da, wo sich dieselben
in ihrer vollen Ursprünglichkeit erhalten haben, sehr einfach,
in einigen Gegenden von Neu-Pommern, Neu-Mecklenburg
und der Salomonsinseln fehlt sie beiden Geschlechtern ganz,
oder ist auf ein Minimum beschränkt. In Kaiser-Wilhelms-
Land, woselbst ganz allgemein das Schamgefühl stärker aus-
gebildet ist, als aus den Inseln des Bismarck-Archipels,
wurden nur am oberen Kaiserin-Augusta-Fluß unbekleidete
Männer beobachtet, im übrigen waren allerwürts Männer
wie Frauen mit der landesüblichen Bekleidung versehen.
Letztere besteht bei den Frauen aus einer von der Hüfte
bis in die Nähe der Kniee herabreichenden Grasschürze, bei
den Männern aus einem die Lendengegend mehr oder-
weniger vollständig bedeckenden, zwischen den Beinen hin-
durch gezogenen, luchartig zubereiteten Rindenstreifen, aus
den Flughäuten des fliegenden Hundes, oder aus einem
Stück Cuscusfeü. Die Grasschürzen der Frauen werden
vielfach zu mehreren über einander getragen, lieber die
Bekleidung der Hüften gehen, abgesehen von den in einigen
Landesgegenden gebräuchlichen Kopfbedeckungen, weder Män-
ner noch Frauen hinaus.
So gering das Bedürfniß der Eingeborenen nach Klei-
dung ist, so groß ist cs nach Schmuckgegenständen. Der
kunstgerechten Ausschmückung ihres Körpers wenden sie
große Aufmerksamkeit zu. Die Mittel, deren sie sich hier-
bei bedienen, sind äußerst einfache, doch wissen sie dieselben
sehr geschickt zu verwerthe». Diese Beobachtung läßt sich
in weit höherem Maße noch hinsichtlich ihrer gewerblichen
Arbeiten machen. Gegenstand der' Ausschmückung ist nicht
die Frau, sondern der Mann. So trägt die Frau das
Kopfhaar sehr einfach, häufig sogar ganz kurz geschoren,
während der Mann dasselbe je nach der Landesgegeud in
verschiedene, eigenartige Haartouren legt. In der Jabbim-
Landschaft (der Umgebung von Finschhafen) herrscht eine tur-
banartig den Kopf umgebende Haartracht vor, deren lockere
Beschaffenheit und wohlgeformte Rundung einer unausge-
setzten Bearbeitung mit einem der mannigfaltig geformten
Haarkümme oder Haarpfeile bedarf und das Schlafen auf
einem unter das Genick geschobenen, schmalen Holzbänkchen
erfordert. Anderwärts, wie in der Umgebung von Festungs-
huk und Kap König Wilhelm, wird die Sorgfalt für den
Haarputz sogar noch weiter getrieben, durch das Anlegen
eines eng an die Haare anschließenden Ueberzuges. In
Hatzfeldthafen und weiter nordwärts bis zum unteren
Kaiserin-Augusta-Fluß stopfen die Eingeborenen ihr langes,
lockiges Haar in eine aus Rottang geflochtene Röhre, deren
breitere Oeffnuug sie dem Hinterhaupt aufsitzen lassen, so
daß die Röhre nahezu senkrecht, etwa 20 bis 30 ein vom
Hinterkopfe absteht. Das Färben des Haares ist eine im
Bismarck-Archipel heimische Sitte. Hier pflegen die Be-
wohner der kleinen Insel Matupi bei Duck-Duck-Tänzen ihre
Haare mit Anilinfarbe, welche sie von der benachbarten
Station erhalten, in allen Tönen der Farbenskala zu färben.
Durch Eintauchen in gelöschten Kalk geben viele Einge-
borenen in Neu-Mecklenburg und Neu-Pommern ihren
Haarenden auf Kopf und Kinn einen rothblonden bis
schmutziggelben Ton, während die in Kaiser-Wilhelms-Land
vielfach beobachtete schmutzigrothe Färbung vom Bestreichen
der Haare mit Kokosnußöl, dem rother Oker zugefetzt ist,
herrührt. Der einzige Haarputz der Frauen wird durch das
Zusammendrehen dünner Haarbüschel und durch Einfetten
derselben mit dem Oel- und Okergemisch in dicke Striemen,
welche franzenartig auf die Schulter herabhängen, hergestellt.
Das Tragen von Bärten wird im Bismarck-Archipel und
im nördlichen Kaiser-Wilhelms-Land geübt, in den übrigen
Landestheilen wird das Barthaar durch Rafiren entfernt.
Eine wichtige Rolle bei der Ausschmückung spielen die Be-
malungen mit rother, weißer, gelber und schwarzer Farbe;
sie richten sich vermuthlich nach der Bedeutung der betref-
fenden Festlichkeiten oder Handlungen, bei welchen sie zur
Ausführung kommen. Unter den Schmuckgegenstünden sind
hervorzuheben: schöngeformtc große Stoßzähne vom Schweine,
umfangreiche polirte Platten ans Perlmutterschale, Nau-
tilus oder Cypraea, welche auf der Brust und am Halse ge-
tragen werden, Stirnbänder, Kamps-Brust- oder Tanzschmucke
aus Hundezähncn, Kauri- oder großen Cypracamuschelu
zusammengesetzt, geflochtene oder gehäkelte Täschchen, Ohr-
ringe, Armbänder, geflochtene Leibgurte, schärpenartige Gür-
tel mit Besatz von Konusmuschel, Haarpfeile, Kämme,
Nasenstifte u. A. m. Die geflochtenen Ringe am Oberarm,
am Fußgelenk und an der Hüfte werden häufig schon in
früher Jugend angelegt und darnach nie wieder von den
betreffenden Stellen entfernt. Große Hinneigung besitzen
die Eingeborenen zu den Blumen, weshalb sie solche oft als
Schmuck verwenden. Namentlich fügen sie dem Haare gern die
brennendrothgefürbten Blüthen von Hibiscus rosa sinensis,
die rothen oder gelben dicken Rispen von Celosia crista galli
und die blendend weißen, duftenden Blüthen von Crinum
asiaticum ein, während sie die eigenthümlich gefärbten und
gezeichneten Blätter von Coleus, sowie die wohlriechenden
Stengel von Anisomeles salvii folia R. Br. und Ocimum
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
325
sanctnin L. in die Armringe zu stecken pflegen. Es zeigt
der letztgenannte Umstand, daß die Eingeborenen für Wohl-
gerüche nicht nnempfindlich sind.
Die Geschicklichkeit der Eingeborenen, auf welche weiter
oben schon hingewiesen wurde und die Findigkeit, mit
welcher sie unbedeutende Hilfsmittel für ihre Zwecke nutz-
bringend zu gebrauchen verstehen, spricht am überzeugendsten
ans ihren Erzeugnissen, bei deren Anfertigung ihnen vor
dem Betreten des Landes durch die Weißen in der Haupt-
sache nur scharfgeschliffene Steine, Muschelscherben, Obsi-
dianstücke, Farberde, Feuer und Wasser zu Gebote standen.
Mit diesen geringfügigen Werkzeugen haben sie seetüchtige
Boote, complicirtes Schnitzwerk — wie Götzen, Gesichtsmas-
ken, Bootsschnäbel, Speerspitzen, Hauswände, Trommelver-
zierungcn u. s. w. — Holzschüsseln, Steintöpse, Fischkörbe,
Fischnetze, Tragnetze, geflochtene Taschen, Kalk-Kalebassen,
Betclbüchsen, sowie eine unendliche Zahl größerer und
kleinerer Schmuckgegenstände hergestellt. Ein näheres Ein-
gehen auf die sämmtlichen Erzeugnisse der Eingeborenen
würde an dieser Stelle zu weit führen, einige Bemerkungen
über die Häuser und Boote mögen jedoch hier Platz finden.
Die Hütten der Eingeborenen sind dem Klima des Landes
entsprechend leicht und luftig gebaut. Die einfachsten der-
selben bestehen nur aus einem Dach von Kokosblattmatten
oder Gras, welches direkt auf der Erde ruht. Die offenen
Seiten sind ebenfalls durch Matteuwerk geschlossen und
meist so vollständig, daß ein großer Grad'von Dunkelheit
innerhalb einer solchen Hütte herrscht. Eine Feuerstelle und
ein bankartiges Holzgestell, auf welchem der Eingeborene
schläft, bilden die innere Ausstattung. Diese einfache Bau-
art kommt offenbar überall da zur Anwendung, wo der
Boden und feine Umgebung gesund ist. An solchen Plätzen
dagegen, wo letzteres nicht unbedingt der Fall ist, stellen die
Eingeborenen das Haus auf einen mehr oder weniger hohen
Unterbau von Pfählen, welcher die Luftcirculation unterhalb
der Wohnstätte ermöglicht. Diesem Princip ist auch hin-
sichtlich aller von Europäern bewohnten Häuser Folge ge-
leistet worden. Den Fußboden, welcher bei dem aus einem
Unterbau ruhenden Eingeborenenhausc sich nothwendig macht,
stellen die Papuas bald aus dem äußeren harten Theile der
wilden Betel- oder der Brcnnpalme (Caryota urens), bald
aus Stengeln des wilden Zuckerrohrs, bald ans brcitgc-
schlagenem Bambusrohr, bald einfach ans Bohnenstangen
her. Eine einfache Holzleiter oder auch nur ein einfacher,
mit Einschnitten versehener Baumstamm geleitet zum In-
nern derartiger Hütten, welche häufig mit einer überdachten
Veranda versehen sind. Eine dritte Art von Hütten, welche
in der Bauart selbst von den übrigen Hütten sich nicht
unterscheidet, befindet sich hoch oben in der Krone kräftiger,
hoher Bäume. Diese Häuser dienen als Znfluchtsstelle für
Weiber, Kinder, Lebensrnittel und Kostbarkeiten inKriegsfüllen.
Die Boote der Eingeborenen, welche bei den Küsten-
und Flußufer-Bewohnern eine große Rolle spielen, geben ein
beredtes Beispiel für den praktischen Sinn der Eingeborenen.
Der Bootskörper selbst wird von ihnen aus einem Stück
durch Aushöhlen eines Baumstammes hergestellt. Die ge-
bräuchlichsten der hierzu verwendeten Banmarlen sind Arto-
carpus, Stephegyne und Nauclea. ÄM Verhältniß zu
ihrer Länge sind diese Bootskörper außerordentlich schmal
und wenig tief, der Rudernde würde in diesem Boots-
körper namentlich in lebhaft bewegtem Wasser daher be-
ständig der Gefahr des Umstürzens ausgesetzt sein. Diesem
Uebelstande helfen die Eingeborenen unter gleichzeitiger
Wahrung der großen Bcweglichkeitdes Kanus einfach dadurch
ab, daß sie einen sehr leichten Balken, zumeist von Ililiisons
ti1ia66N8 L. — den sogenannten Ausleger — in einiger
Entfernung seitwärts vom Boote anbringen. Die Verbin-
dung des Auslegers erfolgt durch dünne, elastische Qucr-
stangen. Für den Gebrauch auf hoher See werden diese
Kanus etwas kompakter gebaut, mit einem einfachen Matten-
scgel versehen und namentlich durch Aufsetzen von Brettern
auf den eigentlichen Bootskörper gegen das Hereinschlagen
von Wellen gesichert. In dieser Form halten die Boote
unter der geschickten Führung der Eingeborenen den stärksten
Seegang aus und erreichen bei günstigem Winde eine Ge-
schwindigkeit von 8 bis 10 Seemeilen in der Stunde. Die
Boote aus den Flüssen besitzen keine Ausleger, sie sind
daher, weil ihre Tiefe und Breite nicht größer als jene der
See-Kanus ist, fortwährend zum Kentern geneigt.
Die Tänze spielen im Leben der Eingeborenen eine
große Rolle. Mit ihnen pflegen sie die Abende auszufüllen.
Zn diesen Vergnügungen geben der Mondwechsel, das Ein-
treffen eines Besuches aus der Nachbarschaft, die Zu-
sammenkunft aller Dorfvertreter aus einem Gaue, ein
Markttag, Erntefeste, Beschneidungsfeierlichkeiten u. s. w.
willkommenen äußeren Anlaß. Manche Stämme zeigen
sich während der Tänze von ihrer angenehmsten Seite.
Jeder Einzelne sucht hierbei sowohl in der Ausschmückung
seiner Person, als auch in den eigentlichen durch den Tanz
vorgeschriebenen Bewegungen etwas Eigenartiges und jeden-
falls das Beste zu leisten, was ihnen zumeist derartig gut
gelingt, daß der Weiße sehr bald zu der ihn beschämenden
Ueberzeugung kommt, daß diese Naturkinder beim Tanzen
weit mehr Abwechselung, Grazie und Beweglichkeit ent-
wickeln als der Weiße. Es ist daher auch schwer, irgend
einen Tanz der Eingeborenen mit kurzen Worten genau zu
beschreiben. Unstreitig die schönsten Tanzbewegnngen sind
bei den Eingeborenen der Jabbim-Landschast zu finden. Hier
treten auf einem durch Feuer erhellten Platze inmitten des
Dorfes die Tänzer, welche bei besonderen festlichen Gelegen-
heiten mit einem 80 bis 90 cm hohen, aus weißen Kakadu-
federn hergestellten, thnrmartigen Kopfputze, weißer Malerei
auf Gesicht und Brust, Blättern und Baumzweigen im
Gurt und Armringen versehen sind, zunächst zu einem
Kreis zusammen, jeder derselben hält die lange, röhren-
förmige Trommel in der Hand und auf den Oberschenkel
gestützt. Frauen, welche sich nie an diesen Tänzen bc-
theiligen, und Kinder bilden die Zuschauer und gleichzeitig
den Chor, welcher die Tänze der Männer mit Gesängen
begleitet. Der eigentliche Tanz, welcher auf ein vom Vor-
tänzer vorgesungenes Zeichen hin beginnt, setzt sich aus
eigenthümlichen Sprüngen, Verdrehungen, Beugungen und
Arm- und Kopfbewegungen zusammen. Wiewohl er sehr-
anstrengend ist, da sich ein Bein während desselben fast
unausgesetzt in der Luft befindet, so pflegen die Eingeborenen
doch die Tänze bis zum kommenden Morgen fortzusetzen.
In den Angusta-Fluß-Dörfern hat sich bereits eine Art
Orchester herausgebildet, denn hier — z. B. im Dorfe Maln
— befinden sich mehrere Hütten, in denen je drei bis sechs
große, trogähnliche Trommeln vorhanden sind. Die ein-
zelnen Trommeln sind ans einen bestimmten Ton abge-
stimmt und werden von einem Manne mit zwei kurzen
Aststücken bearbeitet, Nach einem festen Rhythmn schlagen
die Trommler abwechselnd auf ihr Instrument, währenddem
die übrigen den einfachen Takt so lange schlagen, bis die
Reihe, den Rhythmus anzugeben, wieder an sic kommt.
Neben den verschiedenen Trommeln kommen bei den Ein-
geborenen nur noch die Bambusflöte, die Maultrommel, das
Tritonshorn und eine Art Krikri vor, dieselben werden jedoch
beim Tanzen wenig oder garnicht verwendet. Das eigenthüm-
lichste Musikinstrument der Eingeborenen ist jedenfalls ihr
eigener Unterleib, auf welchem sie, falls keine Tronunel zu
haben ist, durch Aufschlagen mit beiden Händen den Takt
beim Tanzen angeben.
326
Fritz Grabowsky: Kalksteinhöhlen in Süd äst- Borneo.
Kalksteinhöhlen in S ü d o st - B o r n e o.
Von Fritz Grabowsky.
Mit zwei Abbildungen nach Handzeichnungen des Verfassers.)
Dem Meratus-Gebirge, das von Süden nach Norden
Süd-Ost-Borneo durchzieht, lagern sich zu beiden Seiten
tertiäre Gebirgsmassen vor, die, von Flüssen durchbrochen,
eine Reihe einzelstehender, oft unmittelbar aus der Ebene
bis zu 400 Meter aufsteigender Kalksteinfelsen bilden,
welche reich an Höhlen sind.
Zn den bekanntesten und besuchtesten gehört die Höhle
des Gunung (Berg) Batu Hapu; man erreicht dieselbe
am leichtesten von Pengaron ans, einem Kontroleurposten
der Holländer, der bis zum Jahre 1884 wegen der dort
bearbeiteten Kohlengrube „Oranje Nassau" von einiger
Bedeutung war.
Meinem Tagebuche folgend, will ich verschiedene Höhlen,
deren Besuch mir durch die freundliche Hilfe der hollän-
disch-indischen Beamten zum Theil sehr erleichtert wurde,
in Folgendem schildern.
Am 4. April 1882, um 6 Uhr Morgens, verließ ich
mit meinem Diener Saman und sechs Trägern Pengaron.
Um 7 Uhr erreichte ich das Dorf Mengkauk, wo ich die
Träger wechseln mußte. Bis 10 Uhr ging der Pfad, der
sehr schmal und voller Löcher war, durch ein offenes, nur
mit Alang-alang-Gras bewachsenes Hügelland; dann traten
wir in hohen Wald ein — in Urwald mit ganz kolossalen
Stämmen. Unter anderen sah ich einen Tanggiran-Banm,
dessen Wurzeln sich flügelartig über der Erde fortsetzten, der
um die Wurzeln herum 45 Schritt Umfang hatte. Um
y212 Uhr machten wir bei zwei kleinen Feldhüttcn eine
kurze Rast und stieß dort ein Pembakal (Dorfhäuptling)
mit vier Mann Gefolge zu uns, der mich bis Batu Hapn
begleiten wollte. Um 2 Uhr verließen wir den Schatten
des Waldes und mußten eine halbe Stunde lang bei un-
geheurer Hitze eine Grasfläche durchqueren, bis uns wieder
der Wald in seinen Schatten aufnahm; wir überschritten
einige Bäche mit sehr niedrigem Wasser und sahen uns
um 3 Uhr plötzlich vor einer wohl 100 Meter hohen senk-
rechten Wand — der Ostseite von Gunung Batu Hapu,
der wir 15 Minuten entlang gingen, um den Eingang der
Höhle zu erreichen. Längs einer durch frühere Besucher
hergestellten Treppe gelangten wir in ein domartiges Ge-
wölbe, das in immer kleiner werdenden Kuppeln ansteigt
und oben durch eine kleine Oeffnung Licht empfängt. Links
vom östlichen Eingang der Grotte fanden wir aus Bambu
roh gezimmerte Bänke und Tische, sowie eine erhöhte Flur
zum Schlafen. Kaum hatten wir es uns bequem gemacht,
so erhielt ich Besuch von dem Pembakal des Dorfes Ta-
takkan, der einen Mann mitbrachte, den mir Herr Kon-
troleur v. B. aus meinem nächsten Standorte Rantau in
liebenswürdiger Fürsorge als Führer entgegengeschickt hatte.
Bald prasselte ein lustiges Feuer, und mein Diener beeilte
sich, für die ganze Gesellschaft Kaffee zu bereiten, wäh-
rend meine Träger die Fackeln zur Besichtigung der Grotte
in Bereitschaft setzten. — Nachdem wir Kaffee getrunken,
machten wir uns auf; dem östlichen Eingang gegenüber
befindet sich auch eine kleine, aber nie benutzte Oeffnung,
während nach Norden und Süden Gänge in den Berg
hineinführen. Zuerst wandten wir uns nach Norden. Groß-
artig in der That sind diese Naturgewölbc; von der Decke
hängen kolossale Tropfsteingebilde in phantastischen Formen
herab, und von unten bauen sich meist säulenförmige Gegen-
stücke auf, die mit einer fast milchweißen Krystallmasse
überzogen sind. Ungeheure Felsblöcke sind an einigen
Stellen von der Decke herabgestürzt und liegen in buntem
Gewirr auf dem Boden umher, der mit einer graubraunen,
staubigen Erdschicht bedeckt ist. Aus dem Nordgange zurück-
gekehrt, gingen wir in den Südgang hinein, der womöglich
noch großartiger in seinen Formen ist. Vom Ost-Eingangc
aus erreicht man auch eine etwas kleinere Höhle, wenn
man auf schmalem Pfade den Felsen hinansteigt und durch
eine der vielen engen Spalten hineinkriecht; tritt man in
den dunkeln Theil der Höhle zurück und sieht nach dem
Eingänge, so glaubt mau einen mächtigen Waringin-Baum
zu sehen, an dessen Stamme mehrere Gestalten kauern. In
weitem Bogen führt auch hier ein Gang in den Berg hin-
ein. Nach 1V2 ftünbigev Besichtigung kehrten wir ermüdet
zu unserem Biwak am Eingänge zurück und um 8 Uhr
Abends lag alles in tiefem Schlaf.
Nachdem ich am nächsten Morgen (5. April) den schön-
sten Theil der Grotte nochmals besichtigt, trat ich um
y28 Uhr die Weiterreise an. Durch einen großen Bambn-
wald gelangten wir in eine mit mannshohem Grase be-
wachsene Ebene und waren wir in kurzer Zeit vom Thau
total durchnäßt. Im Norden ragten die Spitzen der
Berge Talikor und Blasong hinter dem näher liegenden
Bobaris-Gebirge am Horizont empor. Nach einstüudigem
Marsche über sehr steile Hügel gelangten wir nach dem
Kampong (Dorf) Rantan budjur am Mengkauk-Flusse, wo
ich bis 10 Uhr ans die Ankunft meiner Träger warten
mußte, die hier durch frische Kräfte ersetzt wurden. Der
Pembakal setzte mir Kokosnußwasser und Langsat-Früchte
vor, die mich sehr erfrischten. Dann ging cs weiter, das
Bobaris-Gebirge hinan, welches wir beim Gunung Pakan
überstiegen, von dem man eine wahrhaft entzückende Aus-
sicht über ein unermeßlich großes Flachland genießt. Im
Nordosten zeigte man mir die Berge Lomot und Tamban,
im Westen den Gunung Lampinit, dessen Höhlen ich später
auch besuchte. Vom Gunung Pakan aus hat man eine
große, dürre Fläche — ein sogenanntes Alas — zu durchqueren,
wo man nur ab und zu für wenige Augenblicke unter einer
Baumgruppe Schatten findet. Um 11 Uhr passirten wir
ein mit Kalkfelsen besüetes Terrain, „Pantei liuo" genannt,
und erreichten endlich um 2 Uhr nachmittags, von Schweiß
und einem kurzen Regenguß durchnäßt, das große Dorf
Tambarangan, wo ich mich im Hause des Pcnghulu (des
mohammedanischen Oberpriesters) umkleidete und an Früchten
erquickte. Um 4 Uhr marschirte ich weiter und traf in
Benoa Padang Herrn Kontroleur v. B., der mir eutgegen-
geritten war und auch für mich ein Pferd mitbrachte. Nach
einem halbstündigen Ritte waren wir in Rantan, wo ich
bis zum 21. April blieb.
Am 8. April besuchte ich die Höhlen von Gunung
Lampinit. Um 5 Uhr ritten wir von Rantan weg und
machten um 8 Uhr bei einem kleinen Dorfe Halt. Das
Fritz Grabow sky: Kalksteinhöhlen in Südost-Borneo.
327
Wachthäuschen war sehr nett mit jungen Palmblättern
dekorirt, ein Tischchen mit Wasser und Früchten stand für
uns bereit, und eine Blenge Männer hatten sich versammelt,
um uns zu begleiten. Wir ließen die Pferde hier zurück
und brachen um ^9 Uhr auf. Wir passirten eine Stelle,
„Martagiri", wo die Sultane von Martapura einen Lust-
hof hatten, den sie jährlich einmal zur Hirschjagd besuchten.
Auf schnell hergerichteten Bambuflößen wurden wir über
den Rantau-Fluß gesetzt und nach 20 Minuten standen
wir am Fuße des (Innung Lampinit. Rings umher liegen
große Kalkblöcke, an denen ich eine gute Ausbeute von
Schnecken und Farnkräutern hatte. Bei circa 80 Fuß
Höhe stießen wir auf die Oefsnnng zu einer kleinen, nie-
drigen Grotte. Höher und höher ging's dann den Berg
hinan und um denselben herum zu dem Eingang einer
zweiten Höhle. Ein sehr niedriger Gang führt hinein, der
allmählich 10 Meter breit und 15 Meter hoch wird. Die
Höhle ist von unzähligen Fledermäusen bewohnt, deren
Exkremente den Boden schlüpfrig und die Luft unerträglich
machen. Langsam drangen wir beim Schein der Fackeln
vor; da schnellten plötzlich die Führer mit dem Schrei:
„Ular! ttlar!“ (d. h. eine Schlange, eine Schlange!) zurück.
Ich ergriff eine Fackel und sah beim Schein derselben auch
wirklich eine sechs Fuß lange Schlange langsam dahin-
kriechen; zwei Schrotschüsse, die in der Höhle ein donner-
ähnliches Getöse hervorbrachten, tödteten die Schlange; es
war ein prächtig gelb und braun gefärbtes Thier — eine neue
Art, die später von einem meiner Freunde als Elaphis Gra-
cie Grotte Liang hadangan (Gunung Mandella).
bowskyi beschrieben wurde. Bald hinderte uns eine steil
aufsteigende Wand, da wir ohne Leitern waren, am weiteren
Vordringen. Wir kehrten um und gingen dann in einen
Gang hinein, der rechts vom Eingang sich im Dunkel verliert;
aber auch hier kamen wir nicht weit, da wir auf einen circa
80 Fuß tiefen, sehr breiten Spalt stießen, in dessen Tiefe
der Lampinir-Fluß einherbrauste. Um i/Z2 Uhr traten wir den
Rückweg nach Rantau an, wo wir um ^5 Uhr ankamen.
Am 11. April besuchte ich den östlich vom Gunung
Lampinit gelegenen Berg Talikor, in dem auch eine Höhle
sein sollte. Von Rantau budjur (am Rantau-Flusse) aus,
wo ich die Nacht zugebracht hatte, brach ich mit sechs orts-
kundigen Leuten auf und war um 9 Uhr am Fuße des
Berges, der sich von West nach Ost erstreckt und dicht
bewaldet ist. Um zum Eingänge der Höhle zu gelangen,
mußten wir von der Südseite auf einem sehr steilen, gefähr-
lichen Pfade nach der Nordseite klettern. Nachdem wir
unsere Fackeln, die aus Bündeln trockner, dünner Bambu-
stübe bestanden, angezündet, gingen wir in die Höhle hinein.
Der erste, noch durch Tageslicht erhellte Raum bietet nichts
Besonderes, doch kaum ist man durch eine enge Oefsnnng
weiter gedrungen, so betritt man einen Raum, so mächtig
und groß und so herrlich mit Tropfsteinen drapirt, daß
man darüber ganz den mühsamen und gefährlichen Weg
unter sich vergißt. Immer weiter drangen wir vor, längs
spitzer Felsgräben, auf Pfaden, wo der Fuß eben noch Halt
findet und die Hände das ihrige thun müssen, um den
Körper zu stützen. Hunderttausende von Fledermäusen
umschwirrten uns auch hier, und der Koth dieser Thiere
machte den sehr zerklüfteten Boden so schlüpfrig, daß die
328
Fritz Grabowsky: Kalksteinhöhlen in Südost-Borneo,
größte Aufmerksamkeit nöthig war, um einen gefährlichen
Sturz zu vermeiden. Nachdem wir 11/2 Stunden umher-
geklettert und Herrliches gesehen, kehrten wir sehr milde
zum Eingang zurück, und traf ich noch an demselben Tage
wieder in Rantau ein.
Am 30. April, nachdem ich mein Standquartier inzwischen
nach Kendangan verlegt hatte, besuchte ich per Boot die Höhle
in dem Berge Batu laki, der am Amandit- Flusse liegt.
Wir erreichten den Eingang erst nach acht Stunden ange-
strengten Rudcrns und fuhren auf einem Bambusfloß in
Der Batu Lampau, bei Kampong Murung (Distrikt Labuan mar).
die nur 1 in breite und 4 m hohe Spalte hinein, konnten
aber des hohen Wasscrstandes wegen nur etwa 100 m weit
vordringen. Au dem Felsen hatte eine kleine Salanganen-
Art (Collocalia Linchi) ganze Kolonien ihrer zierlichen
Nestchen aus Moos angebaut, in denen sich je zwei blendend
weiße, walzenförmige Eier oder auch schon junge Vögel be-
fanden. — Gegenüber dem Felsen Batu laki (d. h. Stein-
mann) liegt mit rechten Ufer des Amanditflusses der Berg
Batu bini (d. h. Steinfrau) — ein blendend weißer Felsen von
ca. 350 m Höhe, in dem sich auch zwei niedrige, weit aus-
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F. Marthe: Natur und Bewohner der Ostabdachung des Nord-Ural.
329
gedehnte Höhlengänge befinden, Liang gigip und Liang
sarang lomot genannt, die nichts Bemerkenswerthes bieten.
Von diesen beiden Felsen erzählte man mir folgende Sage:
„In alten Zeiten unternahm ein Mann Namens Angoi
und seine Frau auf besonderen Schiffen Handelsreisen nach
einem fernen Lande und kehrten mit Schätzen reich beladen
heim. Die alte Mutter des Angoi fuhr in ihrer Herzens-
freude im kleinen Kahne dem Sohne entgegen; dieser aber,
verblendet durch seinen Reichthum, wollte seine alte Mutter
nicht erkennen. Als alle Bemühungen, sich ihm zu nähern,
vergeblich blieben, stieß sie einen fürchterlichen Fluch ans,
sprang in ihren Kahn und versank unter furchtbarem
Donner im Meere. In demselben Moment verwandelte
sich auch das Schiff des Angoi in den Batn laki und das
seiner Frau in den Batn biui genannten Felsen." — Aehn-
liche Sagen wurden mir auch bei den Höhlen Batn Hapu,
Lampinit und Talikor erzählt.
Am Fuße des Batn biui ist eine Schwefelquelle, „Mnara
Jmbangan" genannt, sowie eine warme Quelle zu finden.
Von Mnrung aus, im Distrikt Labuan mas, besuchte
ich am 7. October 1883 endlich noch zwei Höhlen im
Gunnng Mandella. Der Eingang der „Liang hadangan",
d. h. Stiergrotte, genannten Höhle (S. Abbildung) liegt
etwa 50 Meter hoch an der Ostscite des Berges; sie führt
ihren Namen nach einem — mit Zuhülfenahme von etwas
Phantasie — stierähnlichen Stein, der nicht weit vom Ein-
gänge im Halbdunkel liegt. Der Eingang zur zweiten
Grotte liegt ca. 150 m hoch an der Nordscite des Berges
und ist nur mit großen Schwierigkeiten über ein Chaos
von kolossalen Felsblöckcn zu erreichen. Der Eingang ist
so eng, daß nur ein Mensch hinein kann; der Gang fällt
erst steil schachtförmig ab, erweitert sich dann aber zu hohen
Gewölben mit ebenem Boden und verhältnißmäßig wenig
Stalaktiten, diese sind aber von blendend weißen Krystallen
bedeckt. Um eine Ecke biegend, wurden wir alle durch ein
wunderbares Schauspiel überrascht, das selbst die sonst so
gefühllosen Malayen zum Staunen brachte; es glitzerte uns
ans dem Dunkel der Grotte ein etwa einen Fuß Durch-
messer haltendes Licht entgegen, prächtig schillernd, hervor-
gerufen durch ein Bündel Sonnenstrahlen, die den Weg
durch eine ca. 150 m tiefe Spalte hierher fanden und zu-
fällig auf den mit weißen Krystallen besetzten Kops eines
Stalagmiten fielen. Nur wenige Augenblicke genossen wir
den Anblick, dann war die Sonne höher gestiegen und nur
unsere Fackeln erhellten den Raum; einige Schwalben sahen
wir durch die Spalte aus- und einstiegen; sie hatten auch
hier ihre Moosncstchen an dem weißen Felsen der Grotte
angeklebt. Früher sollen auch eßbare Schwalbennester in
dieser „Liang lumba" genannten Grotte gewesen sein;
sedenfalls zeigten halbverrottete Bambu-Leitern und mit Kohle
gemalte Figuren an den Wänden, daß sie früher besucht worden
sein mußte. Von Europäern war ich der erste, der außer
der viel besuchten Grotte von Batn Hapu auch diejenigen
von Lampinit, Talikor, Batn laki, Batn bini, Liang hadan-
gan und Liang lumba betreten hat. Von vielen anderen
Höhlen wurde mir noch erzählt, aber ich habe keine der-
selben mehr besuchen können. Eine Grotte des Berges
Batn tawar fand ich durch herabgestürzte riesige Felsmassen
versperrt, entschädigte mich aber dafür an den herrlichen
Felspartien, die durch die überhängenden Felsen des Batn
Lampau gebildet werden (S. Abbildung). Auch in Cen-
tral-Borneo, im Oberlauf des Barito, sind Höhlen, ebenso
an der Ostküste Borneos in Tjantong; diese Höhlen be-
herbergen die Schwalben, die eßbare Nestchen bauen, welche
von den Chinesen als Leckerbissen geschätzt werden.
In Ost-Java hatte ich im Jahre 1886 Gelegenheit,
die in dieser Hinsicht bekannten Höhlen von Grisee, gegen-
über der Insel Madnra, zu besichtigen, die von der Re-
gierung behufs Ausbeute der Nester und des Guano an
Chinesen verpachtet werden. Es sind 21 Höhlen, die eine
Pacht von 5300 Gulden per Monat bringen. Aus dem
Guano ließ die Negierung früher Salpeter bereiten; jetzt
findet er guten Absatz bei den Znckerplantagen.
Zum Schluß möge hier noch eine Erklärung ihre Stelle
finden, welche Dr. Posewitz in den Schlußbemerkungen
seiner Arbeit „Ueber unsere geologischen Kenntnisse von
Borneo" von den tertiären Kalkselscn giebt. Er sagt:
„daß die jetzige Gestalt Borneos aus der jüngsten Zeit
stammt; daß noch zu Beginn der Diluvialperiode bloß die
sich verzweigenden Bergketten sammt dem sie umringenden
eocänen Hügellandc aus dem Meere emporragten, welches
die stellenweise mächtigen Korallenriffe bespülte; und daß
in den Meeresbuchten vereinzelte Inseln — isolirte Berge —
zerstreut lagen. In dieser Zeit hatte Borneo dasselbe Aus-
sehen, wie jetzt Celebes oder die kleine Insel Halmahera,
es zeigte nämlich tief eindringende Meeresbuchten. Letztere
konnten sich ungestört im Laufe der Zeit mit Detritus ans-
füllen und so die weiten, niedrigen Alluvialebenen bilden,
da sie von den Meeresströmungen nicht erfaßt wurden.
Eine Senkung von wenigen Fuß würde das ganze Allu-
vium wieder verschwinden lassen und Borneo die frühere
Gestalt zurückgeben."
Die Höhlen nun in den Kalkfelsen sind durch Aus-
waschungen und nachfolgende Einstürze entstanden, wäh-
rend das von oben durchsickernde atmosphärische Wasser mit
seinen den Kalk zersetzenden Eigenschaften zum Bau der
herrlichen und phantastischen Dekorationen der Höhlen, der
Tropfsteine, beigetragen hat und noch stets dazu beitrügt.
Natur und Bewohner der Ostabdachung des Nord-Ural.
Von F. Marthe.
Unter diesem Titel veröffentlicht der russische Botaniker
N. I. Kusnezof in der „Zeitschrift (Iswestija) der russ.
geograph. Gesellschaft", Bd. 23, Heft 6 einen Bericht über
eine im Sommer 1887 nach dem Nord-Ural unternommene
Globus LIV. Nr. 21.
Erforschungsreise, die allerlei interessante Ergebnisse mit
sich brachte, von denen die wichtigsten im Folgenden hervor-
gehoben werden sollen. Zuvor mag bemerkt werden, daß
der nördliche Ural in floristischer Beziehung so gut wie
terra incognita war. Es existiren in der Litteratur über
4" •
330
F. Ma rthe: Natur und Bewohner der Ostabdachung des Nord -Ural.
diesen Punkt überhaupt nur zwei Werke, ein deutsches —
Hofmann, Der nördl. Ural rc. Bd. 2 (Flora boreali-
uralensis oder Ueber die Verbreitung der Pflanzen im
nördl. Ural v. Ruprecht), und ein russisches — Kiglof,
Materialien zur Flora des Gouvern. Perm (abgedruckt in
den Arbeiten der Gesellschaft der Naturforscher an der
Universität Kasan, Band 6, 9 und 11). Das Untersuchungs-
feld Kusnezof's beschränkte sich, dies ist ferner voraus-
zuschicken, auf drei Flußbecken: zunächst das der oberen
Petschora, auf der Westseite des Gebirges, sodann die der
Loswa und der Ssoswa, auf der Ostseite, welche beiden
Flüsse unter dem 62. Grade nördl. Br. nicht weit von
einander entspringen und sofort nach Nord (die Ssoswa)
und Süd (die Loswa) aus einander laufen, um schließlich
ihre Gewässer dem Ob zukommen zu lassen.
In jenen Gegenden nun lassen sich sowohl orographisch
wie geologisch und nicht minder floristisch drei von West
nach Ost neben einander gelegene Zoncnstreifen unterscheiden,
nämlich: 1) im Westen die Gebirgszone, bestehend a) aus
dem ebenen, meist über die Grenze des Waldwuchses hinaus-
ragenden Kammrücken des eigentlichen Ural, der die Ge-
wässer Europas und Asiens scheidet und selbst von keinem
Flusse durchfurcht wird, b)aus einer östlich davor gelegenen
Bergkette, die von tiefen Flußthälern durchbrochen ist, und
deren Gipfel theilweise den wasserscheidenden Kamm über-
ragen; 2) weiter östlich die Hügelzone oder Vorgebirgs-
landschaft, welche stark individualisirte höhere Berge nicht
auszuweisen hat, aber noch tief zerklüftet ist durch Fluß-
thäler, an deren hohen Steilwänden sich sedimentäres Gestein
entblößt zeigt, das nicht selten auch durchsetzt wird von
eruptiven Massen. Dieser Hügelstrich bricht im Osten ab
mit einem Stufenabsatze, von dem aus das Auge 3) die bis
zum fernen Horizont sich einförmig nach Osten erstreckende
Tiefebene Westsibiriens erblickt. Von Regionen sind nur
zwei zu unterscheiden: 1) die des Waldes, der in der
Ebene, im Hügeüande und über die unteren Partien des
eigentlichen Gebirges verbreitet ist, und 2) die alpine, die des
hochstämmigen Baumwuchses entbehrt. Diese obere Region
beginnt zwischen dem 61. und 62. Breitenkreise in einer
Höhe von 730 in und nimmt fast ohne Unterbrechung die
wasserscheidende Kammllnie ein, wogegen sie südlich vom
61. Parallel und ferner auf den östlichen und westlichen
Ausläufern des Ural nur inselartig auf Berggipfeln, die
durch waldgefüllte Thäler von einander getrennt werden,
hervortritt. An den höchsten Stellen weist diese Region
auf ihren: Schutt und Trümmergestein nur noch Flechten
ans (darunter auch die Renthierflechte) und niedrige Kräuter,
wie sie in den Tundren sich finden. Wenn wir sodann
abwärts schreiten, so stoßen wir auf allerlei Beerengesträuch
der Gattungen Vaccinium und Rubus (Moos-, Preißel-,
Himbeeren rc.); auch Nadelholz tritt auf, aber in Zwerg-
gestalt, mit gekrümmten Stümmchen am Boden hinkriechend,
und zuweilen kaum 5 cm hoch in die rauhen, ewig windbeweg-
ten Lüfte sich hebend; ebenso kümmerlich Birken, Ebereschen,
eine Rosenart (Rosa aciculoris Lindl.); nur die sibirische
Erle (Alnus fruticosa Ledb.) gedeiht noch ziemlich kräftig
auch in der alpinen Region.
Indessen nicht das Klima allein erklärt die Armuth
dieser Höhenregion, sondern auch die Unfruchtbarkeit ihres
schuttbedeckten Steinbodens; sobald sich irgendwo eine besser
nährende Verwitterungsschicht gebildet hat, zeigt auch im
Ural die „alpine" Region die mit saftigem Gras bestan-
denen Alpenmatten, aus denen höhere Kräuter mit
allerlei farbigen Blüthen dem Wanderer freundlich entgegen-
blicken. Nur konnten nicht die meist steilen Halden der
östlichen und westlichen Ausläufer solchen Alpenwiesen eine
Stätte bieten, sondern es sind die ebenen Flüchen oder
sanften Gehänge des Wasserscheidekamms, an denen sich hier
und da zwischen allem Trümmergestein doch fruchtbarer
Boden anhäufte. Eben dieser auch erklärt es, daß hier
— am „Ural" — den obersten Saum des geschlossenen
Waldes die Birke herstellt, was sie an jenen östlichen und
westlichen Flügelbergen mit dem steileren und ungünstigeren
Steinboden nicht vermag, denn dieser zierlichste aller Wald-
bäume des hohen Nordens verlangt einerseits besseren
Boden als die Nadelhölzer, andererseits beansprucht er mehr
Licht und zieht daher die sonnige Außenseite des Waldes
dem dunklen Inneren vor. Der freundlich helle Birken-
gürtel, mit dem auf den Höhen des Uralkammes der Wald-
wuchs abbricht, ist übrigens nur 30 bis 50 m breit. Auf
den Seitenbergen bezeichnet bald die sibirische Ceder (Rinus
cembra L.), bald die sibirische Fichte (Abios sibirica Ledb.),
bald die Tanne (Riesa vulgaris Link.) das Ende des
Waldes, doch begegnet man allen dreien in Zwerggestalt,
wie oben erwähnt, noch in dem alpinen Striche. Lärche
und Kiefer steigen auf feuchterem Boden nicht allzuhoch
hinauf und sind häufiger in dem Hügellande mit dem
trockenen Kalkgestcin. Diese letztere Zone, mit der sich an-
schließenden dritten, der unermeßlichen Ebene, ist die Trägerin
des Waldes, des auf viele, viele Meilen eintönig sich fort-
setzenden, oft undurchdringlichen Waldes, der hauptsächlich aus
Fichten und Tannen zusammengesetzt ist, es sei denn, daß
Sumpfstriche mit dem ihnen eigenthümlichen Strauchwerk zur
Abwechselung sich einschicken. Die vergleichsweise größte
Mannigfaltigkeit des Banmwuchses hat sich in der Hügel-
zonevermöge der Mannigfaltigkeit der dortigen Bodenbildung
und Bodenbeschaffenheit entwickeln können.
Das interessanteste und wichtigste Resultat der Kus-
uezofschcn Forschungsreise betrifft nun aber die eigentlich
geographische Frage, nämlich die der Verbreitung der vor-
gefundenen Pflanzen in horizontaler Richtung. Als der
russische Botaniker im Sommer an der nach Norden lausen-
den Ssoswa sammelte, fand er vorzugsweise sibirische
Pflanzenarten und vermißte die gewöhnlichsten europäischen,
die an der Westseite des Ural viel weiter nach Norden
gehen. Der Ural schien sich als eine ausgesprochene Natur-
scheide ergeben zu wollen. Indessen als der Forscher im
Herbste zur Loswa zurückkehrte, zeigten sich ihm die ver-
mißten Gewächse fast sämmtlich in der Umgebung seines
Standquartiers — der dort letzten, d. h. nördlichsten russischen
Ansiedelung. Es stellte sich mithin nur die Thatsache
heraus, daß manche Pflanzen ^ auf der asiatischen
Seite des Ural sich polserner halten als auf der
europäischen. Die Erklärung derselben kann weder im
Klima noch in der Bodenbeschaffenheit des Ssoswabeckens
gesucht werden; es fragt sich also, wo sonst? Der russische
Forscher findet sie in der Thätigkeit des Menschen und
steht den ersten Fingerzeig hierfür in dem Umstande, daß
genau dort, wo unter 601/2° die letzten, Ackerbau treiben-
den Niederlassungen der Russen endigen, auch die unten
angegebenen europäischen Pflanzenarten die Nordgrenze ihrer
Verbreitung finden. Indessen auch geologisch-historische
Vorgänge greisen mit ein, und zwar in folgender Weise:
Als die Gletscher Skandinaviens in der Eiszeit einen
großen Theil des europäischen Rußland überlagerten,
gingen andere minderen Umfanges auch vom Ural aus und
drängten den Waldwuchs nach Süden und Westen zurück.
Diese schwächere Eisdecke schmolz eher hinweg als die
0 (U. a. Dianthus deltoides L., Lychnis flos cuculi L.,
Pimpinella saxifraga L., Leucanthemum vulgare Lam.,
Sonchus oleraceus L., Polemonium coeruleum L., Bru-
nella vulgaris L., Cirsium oleraceum Scop., Veronica
chamaedrys L., Rumex acetosella L., Rhinanthus Crista
Galli L.)
F. Marthe: Natur und Bewohner der Ostabdachung des Nord-Ural.
331
mächtige skandinavische, und so konnten an der freiwerden-
den Ostseite des Ural die sibirischen Pflanzen Fuß fassen,
während den westlichen der Zugang dahin noch verwehrt
blieb. Erst mit Hülfe des Menschen gelangten diese auch
hierher. In der That sind fast alle an der Ssoswa fehlenden
Formen entweder fynanthropine, d. h. solche, die sich
theils in der Nähe menschlicher Wohnungen ansiedeln, theils
als Unkräuter seinen Saaten folgen, oder es sind mehr-
jährige Wiesenkräuter, deren Verbreitung nicht vom Winde
abhängt. Der Fluß, die Loswa, kann ihre Wanderung
nach Norden, da er nach Süden läuft, nicht fördern; eben-
sowenig die nördlich von den Nüssen das Land nomadisch
durchschweifenden Wogulen und Ostjaken, deren Hauptverkehr
von der oberen Loswa zur Ssoswa erst auf der Schlitten-
bahn des Winters sich vollzieht; endlich, wenn die Vögel
hauptsächlich durch ihre großen Herbstwanderungen der
Pslanzenverbreitung Vorschub leisten, so könnten sie eher
von dem nördlichen Flusse zum südlichen Pflanzensamen
hinübertragen als umgekehrt. Somit ist die Flora des
Ural noch verhültnißmäßig jung und unfertig, insofern
sie als Produkt des Kampfes zwischen der sibirischen und
der europäischen sich kennzeichnet.
II.
Unter dem 61. Grade nördl. Br. hören die russischen
Kolonien, hört der Ackerbau damit auf. Weiter nordwärts
wird die Bevölkerung immer dünner, wird die Einöde der
Wälder immer drückender, lautloser. Die russischen An-
siedler nun theilen die so spärlichen Eingeborenen des Landes
in drei Kategorien: Tributpflichtige, Wogulen und
Ostjaken. Mit dem ersteren Namen (russisch: Jassat-
schnyje) werden ansässige, in Dörfern wohnende Wognlen
bezeichnet, welche einen russischen Ofen in ihren Hütten
haben, sich russisch kleiden, in den Grnbeu arbeiten, ziemlich
rein Russisch sprechen, die ursprüngliche Volkssprache zwar
noch nicht verlernt haben, aber alles als Wogulischc verachten
und sich gar nicht gern Wogulen nennen hören; vielmehr
sehen sie sich als Russen an, die nur nicht Steuern, sondern
Jassak, Tribut, zahlen. Diese Halbrnssen sind die nächsten
nördlichen Nachbarn der echten Russen. Die noch un-
verfälschten Wogulen grenzen weiter nördlich an, und ferner
nördlich an der oberen Ssoswa folgen die Ostjaken. Doch
heißen „Ostjaken" auch einige der Eingeborenen von der
Loswa. Es dürfte aber überhaupt schwer fallen, zwischen
Wogulen und Ostjaken einen wesentlichen Unterschied zu
entdecken; die Sprache ist bei beiden ganz dieselbe, und nur
in dem Grade der Aneignung russischer Kleidung, Wohnung,
Geräthe rc., der von Süden nach Norden abnimmt, offen-
baren sich gewisse Verschiedenheiten, so daß man beide als
Glieder eines Stammes, nämlich des wogulischen,
anzusehen hat. Dieser Stamm ist aber wenig zahlreich;
im Becken der Loswa leben auf einem Raume von 6000 bis
7000 qkm nur etwa 15 wogulischc Familien, und im
Ssoswa-Gebiete ist die Anzahl derselben sehr wenig höher.
Meistens liegen nur zwei bis drei Jurten, d. h. Hütten,
als „Ort" beisammen; nur an einer Stelle sind es ganze
16 Hütten, die den „Ort", gewissermaßen die Hauptstadt
Woguliens, bilden!
Das Wogulen-Volk lebt noch halbnomadisch, insofern es
vom Sommer zum Winter seinen Wohnort wechselt. Die
Winterjurten sind Blockhütten, welche ungefähr 4 bis 8 m
lang, 3 bis 6 m breit, 2 m hoch, und deren Wände mit
Moos gedichtet sind; zuweilen sind sie, wie die Sommer-
hütten, ohne Fenster, oder haben es im Dache, wo es zugleich
als Rauchloch dient, während als Herd in der Mitte einige
Steine zusammengelegt sind. Meistens jedoch sieht man
die Feuerungsstelle in einer Ecke, und es ist eine Art Kamin
mit Abzugsrohr darüber angebracht —Kamin und Rohr aus
Stangen, die gehörig mit Lehm verschmiert sind, zusammen-
gesetzt. An den Wänden läuft eine niedrige Pritsche entlang,
mit Rentierfellen gedeckt; auf derselben sitzt man beim Essen
und bei geselliger Vereinigung, und streckt man sich ans zum
Schlafe. Ueber derselben sind Brettchen an den Wänden
befestigt, auf denen das kunstlose Geräth des Wogulen prangt,
das er bei seinen Wanderungen immer mit sich schleppt:
irdene Töpfe, kleine Kessel, Kästchen und Körbe aus Birken-
rinde rc. Die Sommerhütte ist in der Regel kleiner, nicht mit
- Moos verstopft, ohne Fenster und mit offenem Herd in der
Mitte, infolge dessen zwar voll Rauch, aber auch — mücken-
frei, was höher geschätzt wird als gute Luft und Sauberkeit.
Während sich an das Winterhans ein kleiner, gedeckter Vor-
raum mit Vorrathskämmcrchen anzuschließen pflegt, steht
ein kleiner Speicher — oder selbst zwei solcher — getrennt
neben dem Sommerquartier und zwar in Gestalt eines
kleinen Pfahlbaues, nämlich eines aus Brettern oder auch
aus rohen Balken zusammengefügten Kastens, der auf vier
nicht voll iy2 m hohen Pfählen ruht; der kleine Speicher-
selbst ist etwa 3 m lang und breit, bis 1 m hoch und beherbergt
den Hanptproviant — getrocknete Fische — sowie daneben das
Hausgeräth, Kleidungsstücke rc. Oft genug steht auch die
Sommcrhütte so leer, wie zur selben Zeit das Wintergelaß,
denn der Hunger treibt den Wogulen, entweder aus die Jagd
oder den Fischfang auszuziehen, oder auch bei den Russen
Arbeit zu suchen. Die wenigen Renthierbesitzer ziehen auf
die alpine Region des Ural hinauf, wo sich nicht nur gute
Weide findet, sondern auch die den Renthieren so verderblichen
Mücken fehlen. Neuerdings haben einige Wognlen Rindvieh-
zucht begonnen und sind infolge dessen im Uebergange znr
Seßhaftigkeit; wenigstens ein Theil der Familie bleibt jetzt
im Winterhause mit der Kuh oder den Kühen zurück, um hier-
für den nöthigen Wintervorrath au Heu zu sorgen; dcr
andere zieht zum Fischfang aus und lebt dann je zu zweien
aus den leichten offenen Böten; nur bei Nacht pflegen die
Fischer, ans Land steigend, sich hier ein Schutzdach aus
Birkenrinde herzustellen. Mit der letzteren sind auch die
Sommer- und Winterhüttcn gedeckt, ferner dient sie 'zu
allerlei Geräth, aus welchem Frauenhände mit dem Messer
oft hübsche Muster ausschneiden, und so spielt sie im Leben
des Wogulen eine große Rolle; in jedem Sommer werden
beträchtliche Massen derselben abgeschält, ausgekocht und zu
größeren Stücken zusammengenäht. Von gleicher Wichtigkeit
ist dem halbwilden armen Arktiker das Renthierfell, das
ihm warme Kleidung, Schuhwerk und das Nachtlager liefert.
Im Sommeranzuge beider Geschlechter finden stets Tücher
Verwendung, indem sie theils um den Hals geschlungen,
theils auf dem Kopse zur Abwehr der Mücken getragen
werden, sie sind ferner auch ein Erfordernis; der Sitte zur
Zeit der Tänze. Endlich ist zu erwähnen, daß die wogu-
lischen Frauen mit Glasperlen allerlei hübsche Muster ans
Aermeln und Kragen aufzunähen verstehen, ferner daß sie
Perlen in ihre Zöpfe flechten. Letztere werden von Mann
und Weib getragen, sind mit Zwirn umwickelt und bleiben
lange Zeit unberührt und — ungekämmt.
Daß die Wognlen sich an Händen und Füßen tätowiren,
I wird in unserer Quelle nur mit kurzen Worten erwähnt,
dagegen spricht sie etwas mehr von einer Art Zeichenschrift
derselben, mit der gleichsam kurze Siegesbulletins übcr
errungene Jagderfolge ausgegeben und verewigt zu werden
pflegen, nicht lapidar, sondern arboral, insofern sie auf
Bäumen des Waldes eingeschnitten werden. Wir geben hier
zwei Proben mit den nöthigen Erklärungen (S. d. Abbildgg.).
Der Elch bedeutet das Hauptwildpret für den Wogulen,
und die auf ihn bezüglichen arboralen Siegesberichte sind
im Walde nicht selten. Indeß der größte Stolz des Wo-
42*
332
Kürzere Mittheilungen.
guten ist die glückliche Jagd auf den Bären, der im Ural
weniger zahlreich als das Elenthier ist und ja auch dem
Jäger ernstlich zu Leibe geht. Der Sieg über einen Bären
wird daher als großes, mehrtägiges Fest mit Branntwein-
trinken, Essen und Tanzen gefeiert. Hierbei wird eine Maske
aus Birkenrinde vor das Gesicht gelegt, Taschentücher in
die Hände genommen und unter allerlei Verrenkungen
zum einförmigen Klang eines dreisaitigen Instruments,
der Shangura, getanzt, zwischendurch auch in einem
besonderen, winselnden Tone die ganze Jagdgeschichte mit
allen ihren Zwischenfällen dra-
matisch vorgetragen, indem ein
Stock dabei das Gewehr vor-
stellt. Ein anderes Fest ist das
Pferdefest, bei welchem ein
weißes Roß der Hanptgottheit
(dem „Shaitan", d. h. dem
Bösen) im Herbst zum Opfer
gebracht wird. Das Thier wird
gebunden, die Festgenossen, mit
Messern bewaffnet, umtanzen
dasselbe, stoßen ihm von Zeit
zu Zeit die Messer in den Leib,
fangen das Blut in einer Schale
auf und setzen die Quälerei so
lange fort, bis das arme Ge-
schöpf verendet ist. Dann wird
das Fleisch gekocht und gegessen.
In Ermangelung einer Mähre
muß ein Renthier herhalten.
Der auf solche Weise verehrte h------
Dämon gilt als ein furchtbares
Wesen, das auf Bergen und
in Flüssen wohnt, und dessen
Residenzen als heilig und dem
Menschen unzugänglich geachtet
werden. Ein solcher Ort ist die Stelle, an der sich die
Wischaja in die Loswa ergießt. Nähern sich die Wogulen die-
sem Punkte im Boote, so werden zuvor die Weiber ans Land
gesetzt, denn nie sollen Weiberaugen die heilige Mündung
der Wischaja schauen. Die Männer legen Tücher über den
Kopf, verstummen und fahren in andächtigem Schwei-
gen dahin, und an der Mündung selbst werfen sie eine
Silbermünze in das Wasser. Heilige Stellen sind im Ural
häufig, aber wenn sich auch zu bestimmten Zeiten die
Männer ihnen nahen dürfen, so doch niemals die Weiber.
Diese nehmen überhaupt scheinbar eine mißachtete Stellung
ein, in Wirklichkeit jedoch steht fast jeder Wogule unter dem
Pantoffel seiner Lebensgenossin. Diese wird allerdings er-
kauft, so daß „eine Tochter verheiräthen" bei den Wogulen
,,eine Tochter verkaufen" heißt, der Frau wird alle Hausarbeit
aufgebürdet, dafür aber gehört ihr auch alles Gut, und der
Berichterstatter erlebte einen ergötzlichen Beweis hierfür.
Er begann Unterhandlungen mit einem Wogulen wegen
Ankaufs verschiedener Hausgerüthstücke, während gerade die
Entbindung der Frau desselben vor sich gehen sollte. Nach
wogulischer Sitte hatte diese das Haus verlassen müssen, um
nicht dasselbe nebst allem Zubehör, dem Gewehr, den Hun-
den rc., zu verunreinigen. In
. H einem nahen Hohlwege hatte
V sie ihr temporäres Wochenbett
aufgeschlagen, und nun rannte
der Mann wegen jeder Klei-
nigkeit zu ihr, um ihr ge-
wichtiges Ja zu dem bedun-
genen Preise und Kaufe ein-
zuholen.
Die hier mitgetheilten Züge
aus der Denk- und Lebens-
weise eines am Ural hausen-
den Volkes sind nicht nur
an sich interessant, sondern
namentlich auch dadurch, daß
sich ziemlich zu allen Analoga
bald aus dem einen, bald aus
dem auderen der sibirischen
Völker und zwar bis nach
Kamtschatka und der Bering-
straße hin würden beibringen
lassen; so ist es z. B. mit
dem Bären- und dem Pferde-
feste, den maskirten Tänzen,
der Absperrung der Frauen
zu gewissen Zeiten rc. In
unserer russischen Quelle wird zuletzt die Frage aufge-
worfen , ob die Wogulen aussterben. Der Verfasser ent-
hält sich — und mit Recht — einer bestimmten Antwort
darauf, weil es dafür cm der nothwendigen statistischen
Unterlage gebricht, aber nach seinen Erfahrungen spricht
er sich ohne Bedenken dahin aus, daß die Ursprünglich-
keit des Wogulen wie auch seine Sprache dahinschwindet,
indem das heranwachsende Geschlecht sich mehr und mehr
durch die Zwischenstufe als Jassatschnyje dem Russenthume
anschließt, welches den wogulischen Stamm wie so manchen
anderen, in gar nicht ferner Zeit wird vollständig aufge-
sogen haben.
W
1. 1 Wogule mit 2 Hunden hat hier ein Eichhörnchen erbeutet.
2'. 3 Wogulen mit 2 Hunden erlegten hier einen Vielfraß.
Kürzere Mittheilungen.
Die Jusel Diego Garcia.
Die Koralleninsel Diego Garcia, zum Chagos-Archipel,
südlich der Malediven-Gruppe gehörig, und unter 70 14' s. Br.
und 720 26' östl. L. liegend, hatte früher drei Besitzer, ist aber
jetzt in den Besitz einer einzigen Gesellschaft übergegangen, deren
Sitz iil London ist. Die Niederlassungen der ersteren waren
Point Marianne, Fast Point und Minni-Minni, welch letzte-
rer Ort jetzt der Wohnsitz eines Beainten der Regierung
von Mauritius ist, der die Regierungsgeschäfte leitet. Zu
seiner Unterstützung und zur Ausübung der polizeilichen
Aufsicht sind ihm zehn farbige Polizisten von Mauritius
unterstellt.
Auf der Insel, welche im allgemeinen nur eine Höhe von
0,9 bis 1,5 in über Hochwasser hat, gedeihen fast aus-
Aus allen Erdlheilen.
333
schließlich nur Palmen von durchschnittlich 34 m Höhe, und sie
sind es auch, welche das einzige Ausfuhrerzeugniß der Insel,
die Kopra, liefern. Da die Kokosnüsse auffallend klein sind,
aber sehr viel Oel enthalten, so wird die Kopra gleich an
Ort und Stelle gepreßt, und das erzielte Oel kommt in
Fässern zur Versendung.
Die Lebensmittel sind knapp und theuer, denn Rinder
und Schafe gedeihen nicht auf der Insel, so daß Schweine
und Hühner vorhanden sind. Auch viele und gute Fische,
welche man angeln kann, sind vorhanden; ebenso zwei Arten
von Landkrebsen, deren eine Art, welche unseren Flußkrebsen
ähnelt, große Verwüstungen in den Kokosnuß-Plantagen an-
richtet. Verschiedene Früchte, wie Citronen, Custard Apples
(Flaschenbaumfrüchte), Suroop (von: stacheligen Flaschenbaum),
Pumelons, Tamarinden, Kürbisse und Bananen sind in
kleiner Menge zu haben.
Die Schildkröten sind durch die Eingeborenen fast gänz-
lich ausgerottet.
Nur auf Middle Island findet man gutes Trinkwasser.
Auf Diego Garcia selbst ist keins vorhanden. Man fängt
hier nur das Regenwasser in eisernen Wasserkästen ans.
Das Wetter ist während des ganzen Jahres angenehm,
aber es regnet viel. Die beste Zeit sind die ersten vier
Monate im Jahre. Im März und April treten Windstillen
auf, welche von geringem Regen begleitet sind. Vom Mai
bis November währt die kalte Jahreszeit; es weht dann der
Südost-Monsun.
Die vielen dort auftretenden Moskitos und Fliegen-
schwärme sind sehr lästig. Dyssenterie tritt häufig bei Ncu-
ankommenden auf, und nur wenige Europäer können länger
als ein Jahr hier bleiben, ohne anderswo Erholung suchen
zu müssen. J. v. G.
Aus allen Erdtheilen.
Europa.
— Die russische geographische Gesellschaft hat eine be-
sondere Kommission eingesetzt, welche die Verbreitung des
Flugsandes in Rußland und besonders die Frage des
Kampfes mit dieser im Süden und Südosten des Reiches
viel Schaden anrichtenden Bodenform studiren soll; Mit-
glieder derselben sind K. v. Muschketow, Stebnitzkii und
Rykatschef.
— Den Berechnungen des französischen statistischen Büreaus
zufolge gab es im Jahre 1887 in Frankreich 842 797 Todes-
fälle und 899 333 Geburten, also eine natürliche Bevölkc-
rungszunahme von nur 56 536. Im Jahre 1886 betrugen
diese Zahlen 860 222, bczw. 912 838, bezw. 52 616. Die
Verminderung der Zahl der Geburten schreitet also noch
immer weiter fort.
— Die Auswanderung aus der Schweiz betrug im
Jahre 1887: 7558 Personen (d. i. 1216 mehr als im
Jahre 1886, aber 5944 weniger als 1883), deren Mehrzahl
aus den Kantonen Bern, Zürich, Tessin, Neuenburg und
Aargau stammte. Reichlich 85 Procent der genannten Zahl
(6445) wandten sich nach den Vereinigten Staaten, ziemlich
10 Procent (732) nach Argentinien, reichlich 3 Proceut nach
Brasilien, und etwa 2/3 Procent (51) nach Uruguay, reichlich
1/2 Procent (40) nach Chile und reichlich Proccnt (29)
nach Australien.
— Die Kohlenschätze Portugals sind nicht sehr be-
trächtlich, so daß Portugal ähnlich wie Italien wenig Aussicht
hat, jemals ein eigentlicher Industriestaat zu werden. Indessen
fehlen die fossilen Brennstoffe im Lande nicht vollständig. Die
produktive Steinkohlenformation ist entwickelt im Nordosten
von Coimbra (bei Bussaco) und im Nordosten von Oporto
(bei Valongo), nur bei letzterem Orte aber sind die Flötze
reich genug, um den Abbau zu lohnen. Die Kohle ist daselbst
anthrazitartig (durch Coutactmctamorphose), und die Mine
von San Pedro da Cova ist bereits seit 1801 im Betriebe.
— Kohlen sekundären (jurassischen und kretaceischen) Alters
finden sich bei Figueira (am Kap Mondego) und bei Leiria,
und die zuerst genannten Minen werden ebenfalls bereits
gegen ein Jahrhundert abgebaut.
— Unserer Notiz über die Schnelligkeit der eng-
lischen Eisenbahnzüge (Vcrgl. „Globus", Bd. 54, S. 93)
tragen wir an dieser Stelle nach, daß der sogenannte
„Fliegende Schottländer" („Flying Scotsmen“) die Fahrt
zwischen London und Ediuburg am 29. August in 7 Stun-
den und 29 Minuten bewerkstelligt hat.
Asien.
— Mit den geographischen Arbeiten auf der Insel
Flores ist der Ingenieur R. van den Brock durch den
Vorstand der Königlichen Geographischen Gesellschaft zu
Amsterdam beauftragt worden; derselbe hat am 10. Oktober
die Reise nach Indien angetreten. Professor Wichmann und
Professor Max Weber, welche die geologische resp. zoolo-
gische Untersuchung der genannten Insel beabsichtigten, waren
laut Brief vom 13. September im Begriff, sich von Batavia
dorthin zu begeben. — Der Vorstand der oben genannten
Gesellschaft steht auch mit dem jetzt als Mitglied der „Ilernen-
way South Western Expedition“ in Nord - Amerika be-
findlichen Dr. Ten Kate in Unterhandlung, der wahrscheinlich
1889 die anthropologischen Untersuchungen auf Flores über-
nehmen wird. Ueber die Expedition nach den Key-
Inseln kann nur mitgetheilt werden, daß der Lieutenant
H. O. W. Planten sich dorthin begeben hat, um die geo-
graphische Arbeit anzufangen, während von dem mit der geo-
logischen Untersuchung beauftragten Herrn C. I. M. Wertheim,
der seine Thätigkeit bereits angefangen hat, bisher keine
näheren Berichte eingelaufen sind.
— Die Eröffnung des Karun-Flusses für die
freie Schiffahrt ist ein bemerkenswerthes handelspolitisches
Ereigniß, da Persien dadurch in einem viel höheren Grade
als bisher zugänglich gemacht wird. Freilich wird die be-
treffende Verfügung des Schah vorläufig noch dadurch zum
Theil in ihrer Wirkung beeinträchtigt, daß die Stromschnellen
und Klippen von Ahwas das Befahren dieses einzigen schiff-
baren Flusses von Persien hindern. Erst wenn ein kurzer
Kanal zu ihrer Umgehung angelegt würde, wäre eine in
allen Jahreszeiten brauchbare Wasserstraße von einem Meter-
Tiefe bis nach Schuschter gewonnen, und der beschwer-
liche Landweg von der Küste nach Jsfahan (circa 800 km)
wäre auf seine größere Hälfte verkürzt. Die Neigung des
Stromes, zur Zeit seines Hochwassers in gewissen Ge-
334
Aus allen Erdtheilen.
genden des Tieflandes seinen Lauf zu verändern, und an
seiner Mündung Sandbänke abzulagern, sind geringere Schwie-
rigkeiten.
— Die Linienlänge der Eisenbahnen in Britisch-
Jndien betrug am 31. März 1888 14 383 englische Meilen
(23 147 km), sie wuchs also seit 1887 um 993, und seit
1884 um 3599 Meilen (d. i. im Durchschnitt um 900 Meilen
in jedem Jahre). Telegraphenlinien besaß das Land
im Jahre 1887 30 034 Meilen und 1878 nur 17 600
Meilen.
— Die englische Regierung hat mit der britischen Nord-
Borneo-Kompagnie, dem Sultan von Brunei und dem Rajah
von Sarawak einen Vertrag abgeschlossen, nach welchem deren
Gebiete, also der ganze Norden und Nordwesten von
Borneo, mit einem Flächeninhalte von ungefähr 190000 qkm,
unter englisches Protektorat gestellt werden. DerSüden
und Südosten der Insel, von beträchtlich größerem Umfange,
verbleibt in holländischem Besitz. Der übliche Jahresbericht
der Nord-Borneo-Kompagnie zeugt von dem raschen Fort-
schritte ihrer Ansiedelung. Auf dem entwaldeten Lande
werden Tabak, Mais, Reis u. s. w. angebaut und werthvolle
einheimische Erzeugnisse gepflegt, und Forschungen nach
Mineralien haben ebenfalls zu günstigen Resultaten geführt.
Die Einwanderung von Europäern und Chinesen nimmt
beständig zu, und der Export und die Einkünfte steigern
sich von Jahr zu Jahr. — Was das Sultanat Brunei
anlangt, so hat es schon seit Jahren durch seine Nachbarn,
d. i. durch die englische Kompagnie im Norden, durch das
Rajahnat Sarawak ans der Südseite und durch die Holländer
nach dem Inneren zu, starke Einbuße in seinen Grenzen
erlitten und dürfte jetzt wohl kaum mehr als 6475 qkm
umfassen. Brunei ist sehr waldreich und steigt landeinwärts
zu Gebirgen an. Die zahlreichen, stark getvundenen Flüsse
bilden große Deltas und Sümpfe. — Das Reich Sarawak
wurde im Jahre 1840 durch den englischen Abenteurer
James (später Sir James) Brooke (der jetzige Rajah ist sein
Neffe) gegründet und hat schon recht gute Fortschritte ge-
macht. Die höheren Civilstellen sind mit Engländern besetzt.
Auch Sarawak hat große Waldungen und Gebirge, welche
bis 2450 m ansteigen, und,besitzt ebenfalls viele Flüsse mit
Deltabildungen. Es soll an Sago mehr als die Hälfte
von dem produciren, was davon auf der Erde überhaupt
konsumirt wird, und alle Anzeichen sprechen dafür, daß bei
gründlicher Nachforschung, woran es bisher gefehlt hat, werth-
volle Mineralien sich werden auffinden lassen. Die Be-
wohner, hauptsächlich Dajakken, Malayen und Chinesen,
leben friedlich neben einander und sind meistens entweder
Mohammedaner oder durch protestantische und katholische
Missionäre zum Christenthum bekehrt. Der Rajah unterhält
eine nach europäischer Weise einexerzierte Truppe von 250
Mann. — Der gesammte jährliche Handelsverkehr der vor-
erwähnten drei Staaten reprüsentirt gegenwärtig einen un-
gefähren Werth von einer Million Pfund Sterling. Borneo,
mit 749 700 qkm, ist bekanntlich nächst Neu-Guinea, mit
786 853 qkm, und Grönland die größte Insel der Erde.
— Die Gesammtbevölkerung des chinesischen
Grenzbezirkes Tarbagatai wird von dem russischen
Konsul zu Tschugutschak jetzt auf 64000 Seelen geschätzt; die
überwiegende Mehrheit derselben besteht aus Nomaden, die
theils mongolischen Stammes und buddhistischen Glaubens,
theils tatarisch-kirgisische Mohammedaner sind, welche letzteren
die ersteren um etwa 600 Zelte oder 3000 Seelen über-
ragen. Der Sitz des Gouverneurs ist indeß nicht mehr
Tschugutschak, sondern das am Jenlel-Flnsse in mehr centraler
Lage seit den siebziger Jahren neuerbaute Dorbulshin mit
etwa 5000 Seelen Bevölkerung, während jener Grenzort
etwa 4500 zählt, unter denen sich 1000 russische Unter-
thanen befinden (Ssarten, Tataren und Kirgisen). Es sind
dies die besten Bertreiber russischer Waaren, deren sie im
Betrage bis zu einer Million Rubel jährlich an ihre
Stammes- und Glaubensgenossen theils im Hausirhandel,
theils in Ladengeschäften absetzen. Die Hauptartikel sind
Baumwollengewebe Moskauer Fabrikation, sowie Produkte
aus Turkestan.
— Der Außenhandel Japans bezifferte sich im
Jahre. 1887 auf rund 345 Millionen Mark (165 Millio-
nen M. Ausfuhr und 180 Millionen M. Einfuhr), was
gegen das Vorjahr eine Zunahme von 50 Millionen M.
(vorwiegend in der Einfuhr!) ergiebt. Der Handel kon-
zentrirte sich nach wie vor zum größten' Theile (zu etwa
65 Proc.) in Uokohama und (zu 32 Proc.) in Osaka. Die
Hauptverkehrsländer waren England, die Vereinigten Staaten,
China, Frankreich, Indien, Deutschland, Kanada und
Australien. Deutschland war mit nicht ganz 6 Proc. an
dem Gesammtwerthe des Handels betheiligt. An der frem-
den Schiffahrtsbewegung Japans (12/3 Millionen Tonnen)
nahm Deutschland nächst England den stärksten Antheil
(17 Proc. gegen 62 Proc.). Unter der fremden Bevölkerung
Japans gab es in dem in Frage stehenden Jahre 1145
Engländer, 575 Amerikaner, 292 Deutsche und 234 Fran-
zosen.
— Ueber Kleidungsstücke aus Baumrinde und ihren
Gebrauch bei der Bevölkerung der Ranau-Distrikte (Djambi)
enthalten die „Notulen“ der „Batavischen Gesellschaft für
Künste und Wissenschaften" (1888, S. 3) eine interessante
Mittheilung von der Hand des Herrn A. G. Valette, der wir
folgendes entnehmen: Derartige Kleidungsstücke werden nur
noch bei Wald- und Feldarbeit getragen und bei der Rück-
kehr in das Dorf sofort gegen selbstgewebte Kattunkleidungs-
stücke vertauscht. Die Rinde wird nur zwei bestimmten
Baumsorten, dem Kerbang Z, einer Art Brotbaum, und dein
Kajoe Kawat (Ficus benjaminea L.?) entnommen. Der Um-
fang des Baumes oder Astes, dessen Rinde man gebrauchen
will, soll nicht mehr als höchstens einen halben Meter betragen;
nach dem Fällen wird die Rinde gleich nach Hause gebracht
und die äußere Rinde mit einem Messer abgeschabt. Hier-
auf wird die faserige innere Rinde mit einem runden Stück
Holz, in welches der Länge oder der Quere nach oder in
Schranbeuform Vertiefungen eingeschnitten sind, geklopft, bis
die Fasern lose und biegsam geworden sind. Nun wird die
Rinde der Länge nach durchschnitten, vom Baume abgelöst
und in klarem (am liebsten fließendem) Wasser abgeschält und
getrocknet, worauf dann die Stücke in der für die gewünschten
Kleidungsstücke erforderlichen Form zugeschnitten werden.
Gewöhnlich werden die einzelnen Stücke mit groben, selbst-
gesponnenen Fäden an einander gebunden; früher geschah
dies immer mit getah Karet, einer Art elastischen Gummi.
Die Bereitung der Rinde und die Verfertigung von Kleidungs-
stücken aus derselben ist beinahe ausschließlich Männerarbeit.
Wie die Eingeborenen angeben, muß das Fällen des Holzes
und das Bereiten der Rinde an demselben Tage vorge-
nommen werden, sonst würden die Fasern bei dem Klopfen
brechen. Uebrigens werden außer den Lendentüchern auch
Kopftücher in dieser Weise verfertigt.
Afrika.
— M. Quedeufeld, der bereits durch seine Reisen in
Marokko, namentlich im Gebiete der Schlu, in weiteren
Kreisen bekannt ist, ist vor kurzem wieder nach Nord-
)) Weder der einheimische noch der wissenschaftliche Name
find in der Publikation des Kol. Mus. zu Haarlem (Inland-
scke houtsoorten) angegeben.
Aus allen Erdtheilen.
335
afrika aufgebrochen, um daselbst namentlich ethnologische
Beobachtungen und Sammlungen anzustellen.
— Lieutenant Swaine hat im Aufträge der Britisch-
Ostafrikanischen Gesellschaft von Mombas aus eine
Reise in das Innere angetreten, ein Zeichen, daß von
einem allgemeinen ostafrikanischen Aufruhrzustande keine
Rede sein kann.
— Einem Berichte des deutschen Generalkonsuls
Michahelles in Zansibar zufolge würde zwischen der auf-
ständischen Bewegung in Mikindani und Lindi und dein
aggressiven Vorgehen der arabischen Sklavenhändler am
Ryassa-See ein Zusammenhang bestehen, was bei der Lage
beider Gebiete zu einander nicht zu verwundern wäre.
Immerhin wäre es denkbar, daß die Sklavenhändler des
Binnenlandes erst nachträglich ihr Interesse in dem Wider-
stände der Malis erkannt und denselben Succnrs geleistet
hätten. Dem genannten Berichte entnehmen wir den fol-
genden Passus: Die dort entfesselte Bewegung ist keine
örtliche, ans persönlichem Uebelwollen gegen die deutsche Ver-
waltung beruhende gewesen, sondern hat ihren Ausgangs-
punkt südlich vom Rovuma hinter den portugiesischen Pro-
vinzen und aus den Gegenden des Ryassa-Sees genommen.
Die bethciligten Jao-Bölkcrschaften wohnen zum Theil nicht
in der deutschen Interessensphäre, und wenn sie in Wande-
rung geriethen und nach der Küste strömten, so mußte dies
auf ganz anderen Ursachen beruhen. Schon seit mehreren
Monaten war es in der Umgegend des Ryassa-Sees unruhig
gewesen, dort ist ein großer Komplex arabischer Sklaven-
händler ansässig, und letztere hatten die englischen Missions-
stationen am Sec angegriffen und thcilweise belagert. Diese
arabischen Elemente sind nun aller Wahrscheinlichkeit nach
von Zansibar aus inspirirt worden und haben den An-
drang nach der Küste ins Werk gesetzt. Während nun noch
am 19. September in Mikindani alles ruhig und friedlich
war, strömten in den nächsten Tagen Tausende von Bewaff-
neten, von dem Südnfer des Rovuma kommend, gegen die
Stadt, und erklärte der Mali den Deutschen, mit denen er
im besten Einvernehmen stand, er könne sie einem derartigen
Andränge gegenüber nicht schützen. Auf beit Rath des
Mali bestiegen die beiden deutschen Angestellten eine Dhan,
die zeitweise ans einem Dorfe in der Mikindanibucht be-
schossen wurde, und entwichen nach Norden, bis sie inKilwa
von S. M. Kreuzer „Möwe" aufgenommen wurden. So
weit hier bekannt, hat in Mikindani der Mali nach der
Abfahrt der Deutschen wieder die Regierung in alter Weise
übernommen; ob ihm aber gehorcht wird, ist zweifelhaft.
Als die Schaarcn der Aufständischen gegen Lindi heran-
zogen, rückten ihnen die in der Stadt befindlichen arabischen
Soldaten entgegen, angeblich um sie zurückzuschlagen, in
Wirklichkeit wurde nur zum Schein viel Pulver ver-
schossen und beide Parteien machten gemeinschaftliche Sache.
Die Sultanstrnppen kehrten darauf in die Stadt zurück
mit der Nachricht, sic konnten gegen die Uebermacht des
Feindes nichts ausrichten; sie hielten den Bezirkschef unter
strenger Ueberwachung, um nicht zu sagen Gefangenschaft,
und letzterer konnte aus ihren Gesprächen entnehmen, daß sie
ihn in Ketten den herannahenden Aufständischen auszuliefern
beabsichtigten. Durch die Unterstützung eines wohlgesinnten
Arabers, der mit 200 bewaffneten Sklaven aus der Umgegend
von Lindi zu ihm eilte, aber ihn gegen die Schaaren der Ein-
dringlinge nicht zu halten vermochte, gelang es dem Bezirksches,
Herrn von Eberstein, mit seinem Genossen in einem offenen
Ruderboote zu entfiiehen und in die See zu stechen. Vor
der Abfahrt übertrug Herr von Eberstein jenem Araber in
aller Form die Verwaltung des Ortes und ernannte ihn zu
seinen: Vertreter. Die Flüchtlinge retteten sich auf eine
vorübersegelnde Dhan und gelaugten unter mancherlei Fährlich-
keiten endlich nach Kilwa an Bord von S. M. Kreuzer
„Möwe".
— Der portugiesische Hafenplatz Quilimane,
etwa 20 Km oberhalb der Mündung des Kwa-Kwa (Zambcsi)
in den Indischen Ozean gelegen, hat nach dem letzten eng-
lischen Konsnlarberichte eine europäische Bevölkerung von
116 und eine asiatische (britisch-indische und arabische) von
276, während die eingeborene Bevölkerung des Distriktes
sich ans eine Million belaufen mag. Der Hauptexport-
Artikel ist das Elfenbein, das sowohl von den Ufern des
Zainbesi und Schire, als auch durch die Vermittelung
arabischer Karawanen aus größerer Ferne stammt, und
dessen Ausfuhrwerth sich im Jahre 1884 auf 650 000,
und im Jahre 1885 auf 750 000 Mark bezifferte. Der
Haupthandcl befindet sich in den Händen der indischen
Kaufleute, die das Elfenbein zum Vertriebe erst nach Bombay
senden. Direkt nach Europa (London) verschifft dasselbe nur
die „African Lakes Company“.
Nordamerika.
— Das Projekt der Regulirung der Felsen-
geb irgs ströme, dessen wir in dem laufenden Bande des
„Globus" bereits gedacht haben (S. 14), scheint von der
geologischen Landesuntersuchung der Vereinigten Staaten
ernstlich in Angriff genommen zu werden. Der wohlbekannte
Hauptmann C. E. Dutton ist damit betraut worden, die
Voruntersuchungen im Gebiete der Südplatte, des Arkansas,
des Colorado, des Gila und des Humboldtflusses anzustellen,
und die ihm unterstehenden Expeditionen sollen sich unver-
wcilt an die Arbeit machen.
— Eine der bemerkenswerthesten Erscheinungen in dein
Wirthschaftsleben der nordamerikanischen Union ist der An-
lauf, den neuerdings verschiedene Süd stauten bezüglich der
Ausbeutung ihrer Mineralschätze und der damit
zusammenhängenden Industrien genommen. In vorderster
Reihe steht dabei Alabama, das im Jahre 1880 nur
323 000 Tonnen Kohlen aus seinen Bergwerken förderte, im
Jahre 1886 aber 2 225 000 Tonnen. Der weitaus größte
Theil der alabamischen Kohlenprodnktiou (circa 86 Proc.)
kommt ans das große Kohlenfeld am Warrior-Flusse, das an
Ausdehnung der Kohlenfläche Englands gleichkommen, und
100 000 Millionen Tonnen Brennstoff enthalten soll. Die
letztere Zahl ist natürlich, wie manche andere, die aus
amerikanischen Quellen stammt, rund gemeint.
— Die höchste meteorologische Station Nord-
amerikas ist die auf dem Mount Lincoln in Colorado,
14 297 engl. Fuß über dem Meeresspiegel; die zweithöchste
die auf dem Pike's Peak, 14 134 Fuß hoch. Es darf
diese Lage nicht sehr wunder nehmen, da die Hochgipfel des
Felsengebirges während des Sommers viel leichter zugänglich
sind als unsere Alpengipfel. Pike's Peak, Gray's Peak re.
sind alsdann ganz bequem zu Pferde oder gar zu Wagen
zu ersteigen. Die höchste meteorologische Station Europas
— die ans dem Sonnenblick — liegt nur 3090 m
(10 300 engl. Fuß) über dem Meere.
Australien und Polynesien.
— Dr. Frankois, von der naturwissenschaftlichen
Facultät zu Rennes, wird sich im Anftrage des französischen
Unterrichtsministeriums nach Tahiti begeben, umdie dortigen
Korallen und Korallcnbildungen einer eingehenden Unter-
suchung zu unterwerfen.
— Nach Angabe des Regierungsstatistikers der Kolonie
Victoria, des Herrn Henry H. Hayter, belief sich zu Anfang
1888 die Zahl der in den australischen Kolonien lebenden
336
Aus allen Erdtheilen.
Chinesen auf 51 330 (gegen 43 706 im Jahre 1881). Davon
entfielen 16 828 auf Neu-Süd-Wales, 12 564 auf Victoria,
8950 auf Queensland, 6900 auf Südaustralien und dessen
Nordterritorium, 4OO auf Westaustralien, 1000 auf Tas-
manien und 4688 auf Neu-Seeland.
— Ju keinem Lande der Erde, China vielleicht, über dessen
Theekousum keine Statistik vorliegt, ausgenommen, wird das
Jahr über so viel Thee verbraucht wie in den australischen
Kolonien. Dieselben hatten Ende 1886, ohne die Ein-
geborenen, eine Gesammtbevölkerung von 3 426 562, und ihr
Theekonsum betrug in diesem Jahre 25 628 353 englische
Pfund (11 624 764 kg) bezw. 7,48 Pfund (3,39 kg) pro
Kopf. Neu-Süd-Wales konsumirte 8478 320 bezw. 8,46,
Victoria 7 070 130 bezw. 7,05, Queensland 2 768 803
bezw. 8,08, Südaustralien 1 958 918 bezw. 6,26, West-
australien 443 979 bezw. 11,21, Tasmanien 862 705 bezw.
6,29 und Neu-Seeland 4 045 503 bezw. 6,86 englische
Pfnnd Thee.
Polarregionen.
— Nachrichten aus Christiania und Kopenhagen zufolge
ist die Wanderung Frithjof Nansen's über das grön-
ländische Inland-Eis von gutem Erfolge begleitet gewesen,
und der Reisende ist nebst seinem Begleiter Sverdrup am
3. Oktober wohlbehalten int Godthaab angekommen, während
seine vier anderen Begleiter mit dem Gepäck des Abgeholt-
werdcns durch ein größeres Boot an: Amaralik-Fjord harrten.
Ueber die Einzelnheiten des kühnen Unternehmens verlautet
in den Briefen Nansen's und Sverdrnp's folgendes: „Nach-
dem die Reisenden das Schiff „Jason" verlassen hatten, hatten
sie sich zunächst 12 Tage lang durch das Treibeis hindurch
zu arbeiten. Endlich gelang es ihnen, reichlich vier Breiten-
grade südlicher, als sie beabsichtigt hatten, und nur wenig
nördlich von: Kap Farwel (der Südspitze Grönlands), die
Küste zu erreichen. Hier begann nun am 15. August die
Wanderung über das grönländische Inland-Eis nach Godthaab
(statt nach Christianshaab, das etwa 4^/z Breitengrade nörd-
licher liegt). Die höchste überschrittene Höhe lag nicht weniger
als 3000:71 über dem Meere, cs mußten böse Schneestürme be-
standen werden, und die Kälte betrug zu Zeiten 40—50 Grade.
Der mit Kryolith beladene Dampfer „Fox", der die Nachricht
nach Europa brachte, konnte leider die Ankunft der Expedition
in Erikstadt nicht abwarten, so daß die wackeren Männer
sich nach Ueberstehung der unsäglichen Strapazen, die die
^/Monatliche Gletscher-Tour mit sich brachte, dazu ver-
urtheilt sahen, den Winter in Grönland zuzubringen.
— Nach einer Mittheilung des Hrn. H. Rink an die
„Geographischen Mittheilungen" (Bd. 34, S. 348) haben die
dänischen Grönlandforscher Hansen, Steenstrup,
Kolderup und Rosenvinge ihre Arbeiten im vergangenen
Sommer weiter fortgesetzt. Sören Hansen betrieb seine
anthropologischen Untersuchungen namentlich in Nordgrönland,
nördlich von Holstenbnrg, bis ziemlich gegen Upernavik hin,
Steenstrup seine geologisch-mineralogischen und Rosenvinge
seine botanischen dagegen in Süd-Grönland, zwischen Godt-
haab und Julianehaab.
— Der bekannte isländische Reisende Th. Tho-
roddsen ist während des vergangenen Sommers wieder eifrig
am Werke gewesen, die Kunde von seiner nordischen Heimath
zu fördern. Zuerst untersuchte er die Ruinenstätten des
Fossar-Thales, deren Entstehung angeblich auf einen Ausbruch
des Raudukambar im Jahre 1343 zurückzuführen sein soll.
Er fand dabei, daß der Raudukambar gar kein recenter
Vulkan, sondern blos ein Liparitrückcn war, der in historischen
Zeiten nicht gut eine Eruption gehabt haben kann. Dagegen
dürften die Verwüstungen der betreffenden Gehöfte durch den
Hekla-Ausbruch des Jahres 1341 angerichtet worden sein.—
Später durchstreifte Thoroddsen die Gebirgsgegend südlich
von Hofsjökul, die bislang von keinem Reisenden besucht
worden war, und er entdeckte daselbst in mehreren Thälern
heiße Schwefelquellen und vielfarbige kochende Schlamm-
vulkane in großer Zahl. Das interessante Gebiet übertraf
an Großartigkeit auch selbst diejenigen von Krusavik und
Myvata. In der Gegend von Hoeravellir fand der Reisende
die vulkanische Thätigkeit seit Henderson's Besuche (1815)
stark verändert. Die „brüllende Höhe" namentlich war stnmn:
geworden. Am Borgar-Fjord entdeckte er ein paar neue
Fundstätten fossiler Pflanzen.
B ü ch c r s ch a u.
— Dr. Ferdinand Löwl, Siedelungsarten in den
Hochalpen (Forschungen zur deutschen Landes- und
Volkskunde, Bd. 2, Heft 6). Stuttgart, 18 88.
I. Engel Horn. — Eine sehr exakte Untersuchung über die
Abhängigkeit des Menschen und seiner Siedeluugen von
der Bodenbildung, deren Methode hoffentlich bald noch auf
andere Gebirgsgegenden angewandt wird. Die Kategorien,
in die der Verfasser die Siedeluugen der von ihm studirten
österreichischen Alpengebiete (18 Thäler) bringt, sind: die
Halden-, Schuttkegel-, Becken-, Staffel-, Boden-, Terrassen-,
Leisten-, Hang- und Rundhöcker-Siedeluugen.
— Die hygienischen Verhältnisse der größeren
Garnisousorte der Oesterreichisch - Ungarischen
Monarchie. I. Graz. II. Budapest. Wien, 1887
und 188 8. — Diese reich mit graphischen Darstellungen
und Plänen und Karten ausgestatteten Bändchen zeigen nicht
nur, wie sorgsam man in Oesterreich-Ungarn auf die Ge-
suudheit der Truppen bedacht ist, sondern sie bilden auch
zugleich sehr beachtenswerthe Beiträge zu einer genaueren
Ortskunde.
— Dr. Hentschel und Dr. Märkel, Umschau in
Heimath und Fremde. Zweiter Band. Breslan,
1887. Ferdinand Hirt. — Seinen Zweck, als geo-
graphisches Lesebuch zu dienen und das Material der Lehr-
bücher durch lebendige Schilderungen zu ergänzen, wird
auch der zweite Band dieser Anthologie nicht verfehlen, wenn-
gleich die Auswahl betreffs der Autoren etwas einseitig und
eng ist, und bezüglich Spaniens Passarge, bezüglich der
Balkan-Halbinsel Schweiger-Lerchenfeld und bezüglich Ruß-
lands Roskoschny rc. zu ausschließlich dominirt.
— Amand Gregg, Uebersceische Reisen. Zürich,
1888. I. Schabelitz. — Man kann ein halbes Jahr-
hundert in der Welt herum reisen und schließlich doch für-
andere Leute nicht gar viel mit nach Hause bringen. Das
Buch läßt sowohl seiner Form als auch seinem Inhalte nach
mancherlei zu wünschen übrig.
Inhalt: Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee. II. (Mit zwei Abbildungen.) — Fritz Gra-
bo w s k y: Kalksteinhöhlen in Slldost-Borneo. (Mit zwei Abbildungen.) — F. Marthe: Natur und Bewohner der Ostabdachung
des Nord-Ural. (Mit zwei Abbildungen.) — Kürzere Mittheilungen: Die Insel Diego Garcia. — Aus allen Erdtheilen: Europa.
— Asien. — Afrika. — Nordamerika. — Australien und Polynesien. — Polarregionen. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion
am 19. November 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Berücksichtigung der Ethnologie, der Kulturberkaltnisse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andrer.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände n 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postaustalten
zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen.
1888.
Das deutsche Schutzgebiet iu der Südsee.
Von Dr. M. Holl rung.
III.
(M it zwei Abbildunge n.)
In geistiger Beziehung muß man dem Einge-
borenen des Schutzgebietes auf Grund seiner Erzeugnisse
und nach den im Verkehr zwischen Europäer und Papua
gemachten Beobachtungen eine ziemlich hohe Stufe ein-
räumen, wenn auch zugegeben werden muß, daß seine
Geistesthütigkeit sich häufiger als Schlauheit, Verschlagen-
heit, Hinterlist und Egoismus, wenig oder gar nicht da-
gegen nach der von den Missionaren gepflogenen Richtung
hin sich äußert. Schönheits- und Ordnungssinn ist allent-
halben bei den Eingeborenen zn finden. In der Wahrung
ihrer Handelsinteressen bekunden sie eine große Geschicklich-
keit, nicht immer zum Vortheil des Weißen. Für gewisse
Begebenheiten, namentlich solche, welche eine Ungerechtigkeit
nach seinen Begriffen involviren, hat der Eingeborene ein
bedeutendes Gedächtniß. Noch nach 16 Jahren war die
ungeschickte Behandlung, welche Miklucho- Maklay einst
einem Bewohner von Maragun hatte angedeihen lassen,
unter den Maragun-Leuten nicht vergessen. Das Stehlen
an und für sich scheint bei den Eingeborenen nicht für
unehrenhaft zu gelten, wohl aber ist es eine Schmach, welche
lange Zeit ans dem Betroffenen ruht, wenn der Stehlende
sich ertappen läßt. Boote und Plantagenfrüchte scheinen
„tabu“ zu sein, d. h. es kommt nicht vor, daß diese Gegen-
stände gestohlen werden. Der Werth des Menschenlebens
wird gering geachtet, trotzdem sind Morde nicht häufig.
In Kaiser-Wilhelmsland sind in dieser Hinsicht die Zustände
Globus LIV. Nr. 22.
entschieden günstigere als im Bismarck-Archipel. Es ist
schwer zn sagen, inwieweit das Vorhandensein von Ge-
wehren der Mordlust im Bismarck-Archipel Vorschub ge-
leistet hat, von nachtheiligem Einflüsse ist die Verabreichung
von Gewehren durch gewissenlose, zumeist englische Arbeiter-
anwerber an die Eingeborenen jedenfalls gewesen.
Das Verhältniß zwischen den Eingeborenen und den An-
siedlern ist fast allerwärts im Anfang ein friedliches, ja
fast herzliches gewesen, erst nach und nach haben sich Zwistig-
keiten unter ihnen eingestellt, welche ihren Grund wohl der
Hauptsache nach in der dem Eingeborenen kommenden Er-
kenntniß haben, daß der Weiße bei aller Milde doch ihre
Freiheit einschränkt. Namentlich sind es die Landestheile
nördlich von Hatzfeldthafen, welche ganz im allgemeinen
dem Europäer weniger freundlich entgegentreten, als der
Süden, woselbst namentlich in der Umgebung der Stationen
Finschhafen und Konstantinhafen ein sehr gutes Einver-
nehmen zwischen Eingewanderten und Ureingeborenen herrscht.
Im Bismarck-Archipel liegen die Verhältnisse ungünstiger.
Mehrmals pflegt im Jahre von hier die Nachricht, daß der
eine oder andere der sogenannten „Händler" von den Ein-
geborenen beraubt oder sogar ermordet worden ist, sich zu
verbreiten. Es ist der Grund für diese bedauernswerthe
Erscheinung ausschließlich in der Behandlung zn suchen,
welche die Eingeborenen durch Führer und Mannschaft
der Arbeiterschiffe in früherer Zeit erfahren haben. Der
43
338
Dr. M. H ollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
einzige physische Vortheil des Weißen gegenüber den Ein-
geborenen liegt in der Schießwaffe. Ein mit Feuerwaffen
versehener Eingeborener ist dem Weißen gegenüber diesem
sogar weit überlegen, namentlich im Gelände, durch sein
scharfes, ans außerordentlich weite Entfernungen die ge-
nauesten Details erspähendes Auge, durch seine Kunst, die
kleinsten Deckungsmittel zweckentsprechend auszunützen, durch
seine katzenühnliche Beweglichkeit, welche ihm gestattet, ge-
räuschlos über den Boden hinzugleiten oder Bäume in
Blitzesschnelle zu erklimmen, ferner durch sein fein ausge-
bildetes Gehör, durch sein Geschick, Thicrstimmen auf das
täuschendste nachzuahmen und als Signal oder Zeichen zu
verwenden, sowie durch seine Fähigkeit, sich rasch zu orien-
tiren u. a. m. Dazu kommt noch, daß der persönliche
Muth des Eingeborenen ein bedeutender ist, so daß es nicht
wunder nehmen darf, wenn der Weiße im Bismarck-Archipel
vielfach unter den Angriffen der Eingeborenen zu leiden hat.
Mit vollem Rechte hat daher die Neu-Guinea-Kompagnie
sofort nach der Besitzergreifung ein Verbot über die Verab-
reichung von Waffen und Schießbedarf an die Eingeborenen
erlassen. Für das Kaiser-Wilhelmsland ist diese Verordnung
noch zur rechten Zeit gekommen, für den Bismarck-Archipel
leider zu spät. Höchst bedauerlich ist cs hierbei, daß es
gegenwärtig der Deutsche ist, welcher für die von den An-
gehörigen anderer Nationen verübten Vergehen büßen muß.
Die Eingeborenen des Schutzgebietes sind in eine sehr
große Anzahl von Stämmen oder Verbünden gesondert, welche
im ganzen gesonderte Interessen verfolgen und deshalb nur
so weit, als gewisse Handelsbeziehungen es. bedingen, mit
einander verkehren. Die umfangreichsten Gaue finden sich
auf Neu-Pommern vor, die kleinsten in der Astrolabe-Bai
und nördlich von dieser bis nach Kap Croisilles hin.
Größere Gaue in Kaiser-Wilhelmsland sind der Jebbimgau,
(die Umgebung von Finschhafcn) mit zehn bis elf Dörfern
Nachdruck verboten.
Das Landeshauptmanns-Hans in Finschhafen. (Nach einer Photographie von Dr. M. Hollrnng.)
sowie der Tsimbingau (die Umgebung von Hatzfeldthafen) mit
sechs bis sieben Ortschaften. Die Gaue Gümbu, Bongn
und Tsubia in der Astrolabe-Bai, Blüla und Maiükar in
der Nähe von Kap Croisilles bestehen im Gegensatz hierzu
nur aus einer oder zwei Siedelnngen. Die Einwohnerzahl
der Dörfer schwankt nicht minder ganz bedeutend. Am
Kaiserin-Augustaflusse sind Ortschaften mit 1000 Einge-
borenen nicht selten, während die Küstendörfer im Süden
von Kaiser-Wilhclmsland dnrchgehends eine geringere Kopf-
zahl besitzen. Eine Bewohnerschaft von 400 Eingeborenen
ist hier nicht häufig zu finden. Diese Kleinheit der Dörfer
im Süden erklärt auch die freundliche Stellung, welche da-
selbst der Eingeborene dem Weißen gegenüber annimmt.
Die von einigen Seiten geäußerte Ansicht, daß die Dichte
der Bevölkerung nach deni Innern hin abnehme, entspricht
nicht den thatsächlichen Verhältnissen; die Bevölkerung ist im
Innern des Landes vielfach zahlreicher, als an der Küste.
Ein Staatenlebcn, wie wir es von Afrika her kennen, existirt
im Schutzgebiete nicht, und schon die Familie trägt hier einen
ganz anderen Charakter als dort im dunklen Erdtheile.
Frei ist der Mann, frei ist auch die Frau. Allerdings ge-
winnt der Europäer oft die Ansicht, daß die Frau des
Mannes Sklavin sein müsse, weil sie nahezu alle Arbeiten
des Hauses und des Feldes zu verrichten hat. Bei einer-
näheren Prüfung dieser Verhältnisse erweist sich diese An-
sicht jedoch als unhaltbar, da sich namentlich der geistige
Einfluß der Frau auf den Mann überall in deutlichster
Weise erkennen läßt. Die Männer leben zumeist in Mono-
gamie, cs sind jedoch auch Fälle von Polygamie beobachtet
worden. Es liegt die Vermuthung nahe, daß die Frau
vom Manne erkauft wird, für einige Gegenden der Gazelle-
halbinsel ist diese Vermuthung sogar zur Gewißheit ge-
worden. Der Preis für eine Frau ist daselbst 189 Faden
(ein Faden — 1,3 bis 1,7 m) des auf den Lauenburg-Jnseln,
in der Blanche-Bai und anderwärts gebräuchlichen Diwarra-
Geldes. Die Kinder, deren Zahl innerhalb einer Familie
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
839
immer ziemlich gering ist, wachsen in vollständiger Freiheit
aus. Bon früher Jugend an werden die Mädchen zur Ar-
beit herangezogen, während die Knaben sich im Fischen,
Jagen, Klettern, Rauchen, Betrügen und Nichtsthun üben.
Ueberraschend an denselben ist nur ihre genaue Kenntniß
der Natur; so vermögen gewecktere Knaben bereits mit 12
bis 14 Jahren für jede Pflanze ihrer Umgebung den Namen
anzugeben. Mit 14 bis 16 Jahren werden die Knaben,
etwas früher schon die Mädchen heirathsfähig. In einigen
Gegenden erwerben die Knaben erst durch die zwischen dem
12. und 15. Jahre erfolgende Beschneidung das Heiraths-
recht. Diese Sitte herrscht u. a. in der Jcbbim-Landschaft.
Innerhalb zweier Jahre einmal findet hier ein „balum“,
d. h. ein Fest der Beschneidung, statt. Sämmtliche Dörfer
des Gaues und die Nachbardörfer ans den angrenzenden
Landschaften erscheinen bei diesem Feste, in dessen Gefolge
ausgiebige Schmausereien und Tänze einhergehen. Die
jungen Leute, an welchen die Beschuciduug vollzogen worden
ist, haben sich bis zur Ausheilung der Schnittwunden in
einer einsam in der Nähe ihres Dorfes gelegenen Wald-
hütte zu verbergen, da unter den Jebbimleuten der Glaube
verbreitet ist, daß Frauen, welche einen Neubeschnittenen
erblicken, sterben müssen. Glücklicherweise sind die diesem
Glauben zugeschriebenen Folgen sehr dehnbarer Natur. Be-
sondere Hochzeitsgebräuche sind bis jetzt noch nicht beobachtet
worden, und nicht viel bedeutender sind die Kenntnisse, welche
wir über ihre Ceremonien bei Begräbnissen, ihre Ansichten
über den Tod, sowie ihre religiösen Anschauungen ganz im
allgemeinen besitzen. Große Meinungsverschiedenheiten
haben von jeher über die Verbreitung des Kannibalismus
im Schutzgebiete geherrscht. W. Powell, dessen Berichte
freilich allem Anscheine nach mit Vorsicht aufzunehmen sind,
behauptet, aus der Gazeüehalbinsel Zeuge eines Menschen-
mahles und der diesem vorausgegangenen Schlächterei ge-
Nachdruck verboten.
Dorf Suam mit den Götzen. (Nach einer Photographie von Dr. M. Hollrung.)
wesen zu sein. Unbedingt glaubwürdig ist aber jedenfalls Finsch
und dessen Erzählung einer Scene von Kannibalismus, so
daß ein Zweifel darüber, daß im Bismarck. Archipel Kan-
nibalen vorhanden sind, nicht mehr bestehen kann. Dem
gegenüber muß hinzugefügt werden, daß trotz der weit
reichenden Beobachtungen in Kaiser-Wilhelmsland niemals
ein Fall von Menschenfresserei beobachtet worden ist. Zwar
erscheint der Umstand, daß manche Stämme ihre Nachbarn
für Menschenfresser erklären, äußerst auffällig, da aber
andererseits die Eingeborenen den gestorbenen Stammcs-
angehörigen einen Kultus, welcher viel Pietät gegen die
Verstorbenen verräth, widmen, so liegt die Vermuthung
nahe, daß es sich bei etwaigen Menschenfressereien nur um
Stammesfeinde und die Erfüllung eines vielleicht durch
dunkle, religiöse Anschauungen vorgeschriebenen Gebrauches
handelt. Die über den Kannibalismus in der Südsee all-
gemein verbreiteten Ansichten bedürfen jedenfalls noch sehr
der Modificirung. — Die Pietät für Verstorbene äußert sich
in mannichfacher Weise. Besonders legen die Eingeborenen
hierfür Zeugniß durch die Pflege der Grabstätten ab. Im
Jebbimgau befinden sich letztere in nächster Umgebung der
Hütten, sind mit Steinen roh eingefaßt, mit kleinen Korallen-
stückchen bestreut und mit einigen Zierpflanzen bepflanzt.
In anderen Gegenden sind diese Grabstätten eingezäunt,
und es befindet sich eine Schale mit Wasser für den Todten
auf denselben. Vielfach begraben die Eingeborenen ihre
Todten in der Hütte selbst. Schwarzfürben der Brustfläche
und des Gesichtes gilt als Zeichen der Trauer. — Ueber die
Schicksale des Menschen nach dem Tode scheinen sich die
Eingeborenen keine oder nur sehr unbestimmte Vorstellungen
zu machen. Am besten werden letztere wohl charakterisirt
durch das „Ü6 stop tkere“, welches ein Kanake als Ant-
wort auf die ihm vorgelegte Frage nach dem Schicksal eines
soeben begrabenen Schwarzen ertheilte. — Ebenso lückenhaft
und unsicher sind unsere Kenntnisse über die religiösen An-
schauungen der Eingeborenen, sei es, weil letztere eine ge-
43*
S40
Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee.
wisse Scheu besitzen, von religiösen Dingen mit dem Weißen
zn reden, sei es, weil ihre religiösen Begriffe sehr mangel-
haft find, sei es endlich, weil unsere Sprachkenntnisse noch
nicht zur Aufhellung ihres Geisteslebens hinreichen. Zn den
Zeugnissen von der Anerkennung eines höheren Wesens ge-
hören jedenfalls die geschnitzten Figuren, welche an allen
Plätzen, die in Kaiser-Wilhelmsland berührt wurden, sich
vorfanden. In Finschhafen führen sie die Bezeichnung
„abumtan“, eine Bezeichnung, welche auch der Sonne,
dem Monde, den Sternen, dem Blitze und Donner beige-
legt wird. In der Astrolabe-Bai gehen diese Holzgötzen unter
der Bezeichnung „tjelüm“ und zeichnen sich durch die
unförmliche Vergrößerung gewisser Körpertheile ans. Wie
weit gewisse Gebräuche auf das Vorhandensein religiöser
Gefühle und wie weit auf abergläubische Vorstellungen ba-
sirt sind, ist mitunter schwer zn unterscheiden. Das Rupfen
von Geflügel in einer Feldhütte erregte beispielsweise das
Mißfallen des Besitzers, und unter dem Hinweis auf ein paar
am Thürpfosten aufgehängte Iamswurzeln bat er jetzt uns,
künftig derartige Verrichtungen abseits von der Hütte zu
besorgen. Die Eingeborenen einiger Theile Neu-Pommerns
verzehren kein Schweinefleisch, weil sie glauben, nach dessen
Genuß sterben zu müssen. Auf religiöses Gebiet fällt wohl
auch die Wirksamkeit des räthsclhaften Duck-Duck, der ans
den Lauenburg-Jnseln und der Gazelle-Halbinsel heimisch ist.
Das Erblicket! des Duck-Duck soll für die Frauen tödtlich
sein. Eine Art Erntedankopser wurde schließlich noch beim
Besuche des Dorfes Maln am Kaiserin -Augnstafluß ge-
legentlich eines Erntefestes beobachtet. Es war hier an
einem Ende des sehr langen Dorfes eine hölzerne mensch-
liche Figur von etwa einem Meter Höhe aufgestellt, über-
reich mit Schnlncksachen behängt und mit Waffen versehen
worden. Vor dieser Figur standen auf einem großen Nym-
phaeablatt ausgebreitet mehrere Schüsseln, theils mit Wasser,
theils mit zerschnittener Melde angefüllt, daneben lagen
noch Stücke von Nymphaea-Blattstielen — einer Speise der
Eingeborenen — ferner Zuckerrohrschnitte, mbandi (Früchte
von Tabernaeinontana) n. st. Hl. Fremde wurden ange-
halten, bei dieser Figur ein kleines Geschenk niederzulegen.
Recht zn bedauern ist es, daß die Eingeborenen keinerlei
Schrift und schriftliche Aufzeichnungen besitzen. Es er-
schwert dieser llmstand nicht nur die Nachforschungen nach
der Herkunft und den Veränderungen, welche die gegen-
wärtige Rasse im Laufe der Jahrhunderte erlitten hat, son-
dern auch das Stndiuin der Sprache ganz ungemein. Als
erschwerendes Moment für die Erlernung der Papna-Sprachen
kommt hierzu noch, daß die Zahl derselben eine ungewohnt
große ist. Es kommt vor, daß auf einer Küstenausdehnung
von 36 km 12 grundverschiedene Sprachen im Gebrauch
sind. Einige dieser Sprachen besitzen nicht über 50 An-
hänger, wie beispielsweise das Dorf Gnmbn in der Astro-
labe-Bai und das Dorf Blata bei Kap Croisilles. Sehr
gehemmt werden die auf die Erlernung der Sprache ge-
richteten Bestrebungen auch durch die geringe Geduld, welche
der Eingeborene gegenüber den Bemühungen des Sprach-
forschers an den Tag legt. Es wird daher eines großen
Aufwandes von Zeit bedürfen, bevor einmal eine der Papna-
Sprachcn genügend genau bekannt ist. Infolge des häufigen
Sprachenwechsels sind Eingeborene namentlich an den Han-
delscentren nicht selten, welche drei bis vier Papna-Sprachen
beherrschen. Zweifelsohne wird eine Vergleichung der ver-
schiedenen Papua-Sprachen sowohl unter sich als mit den
Sprachen benachbarter Gebiete eine Reihe interessanter Be-
ziehungen zn Tage fördern. Bereits jetzt läßt sich ans dem
wenigen Material entnehmen, daß malayische Wortelemente
stark in die Sprachen des Schutzgebietes übergegangen sind.
Ja sogar Anklänge an Worte, welche einerseits von der
Westküste der Insel Neu-Guinea, andererseits auf Hawai
und Tahiti wieder zn finden sind, haben sich unter den be-
kannten Worten bemerken lassen. Eine baldige gründliche
Erforschung der Hanptsprachen wird zweifelsohne von vor-
theilhaftem Einfluß auf die raschere Entwickelung der Be-
ziehungen zwischen Ureingeborenen und Weißen sein. Be-
mühungen, den Eingeborenen die deutsche Sprache zu lehren,
sind bisher weder von den Missionaren noch von den Sta-
tionsbeamten gemacht worden. Dagegen ist das sogenannte
Püschen-Englisch unter den Kanaken der Gazellehalbinsel
vielfach verbreitet.
Die Neu-Guinea-Kompagnie hat dem ihr zugehörigen
Gebiete eine zwar stille, aber doch rührige und erfolgreiche
Thätigkeit entfaltet. Ihre erste Maßnahme nach der Be-
sitzergreifung war die Errichtung von drei Küstenstationen
in Kaiser-Wilhelmsland, sie hat im Laufe der Zeit sodann
weitere Stationen, theils im Bismarck-Archipel, theils am
oberen Kaiserin-Augnstafluß angelegt, hat einige derselben
später wieder ganz aufgehoben und andere an geeignetere
Plätze verlegt, so daß augenblicklich sechs Stationen der Kom-
pagnie im Schutzgebiete vorhanden sind. Die Namen der-
selben sind: Hatzfeldthafen, Konstantinhafen, Nebenstation
Bogadjim (Astrolabe-Bai), Finschhafen, Nebenstation Bn-
taneng und Kerewara, auf einer der Lauenburg-Jnseln im
Bismarck-Archipel. Im Jahre 1887 sind am oberen Kaiserin-
Angnstasluß die beiden Stationen Zänep und Maln versuchs-
weise errichtet, später aber wieder aufgegeben worden. Die Sta-
tion Kelana wurde im Beginne des Jahres 1888 angelegt,
nicht geeigneter Bodenverhältnisse halber aber ebenfalls wieder
abgebrochen. Außer den der Kompagnie zugehörigen Sta-
tionen befinden sich im Bismarck-Archipel noch die Fak-
toreien und Nebcnfaktoreien zweier deutscher Handelshäuser.
Matupit, in der Blanche-Bai (Gazellehalbinsel) ist der Sitz
der Firma Robertson und Hernsheim, während die deutsche
Handels- und Plantageggesellschaft in Hamburg sich auf
Mioko (Ncn-Lancnburg) niedergelassen hat. Eine größere
Zweigfaktorei besitzt die Firma Robertson und Hernsheim auf
der Insel Nusa (an der Straße zwischen Neu-Mecklenburg
und Neu-Hannovcr). Beide der genannten Firmen haben
außerdem eine große Zahl sogenannter Händler an Küsten-
pnnkten mit reichen Beständen von Kokospalmen behufs des
Koprahandcls mit den Eingeborenen stationirt. Endlich sind
noch zwei in keinerlei Verhältniß zum Mntterlande stehende
Ansiedelungen: die von Schnlle, gegenüber der Insel Nasa,
auf Neu-Mecklenburg und jene unter dem Namen Farell'sche
Pflanzung in Kalum (auch Kaluana), am Südufer der
Blanche-Bai, zu erwähnen.
Die gegenwärtige Haupt- und Centralstation ist Finsch-
hafen. In Anbetracht des Umstandes, daß der Schwer-
punkt der von der Kompagnie in Angriff genommenen
Arbeiten zur Zeit im Süden des Kaiser-Wilhelmslandes
liegt und eine Anlehnung an das benachbarte Australien
immer noch besteht, ist diese Wahl eine glückliche zn nennen.
Diese Verhältnisse werden sich jedoch zweifelsohne ändern,
sobald ein direkter Verkehr mit dem Schutzgebiete nordwärts
von Neu-Guinea im Anschluß an die Fahrten des Nord-
dentschen Lloyd nach Ostasien oder durch eine selbständige
Linie hergestellt sein wird. Finschhafen ist daher auch als
Verkehrscentrnm der Sitz der Verwaltung, welche dem
Landeshauptmann untersteht. Hier in Finschhafen sind auch
bereits Straßen ausgelegt, es ist eine ansehnliche Reihe
von Gebäuden vorhanden, unter denen das Hans des Landes-
hauptmanns (S. Abbildg.) auf der kleinen Halbinsel Salang-
kaüa das stattlichste ist. Es befindet sich ferner in Finsch-
hafen ein Arzt, dem ein wohleingerichtetes Hospital zur
Verfügung steht, es fehlt nicht an einem geräumigen Gast-
hause, woselbst ein im Dienste der Kompagnie stehender
Dr. Emil Deckert: Die mongolische Wüste.
Oekonom zu verhältnißmäßig geringen Sätzen (3'/2 Mark
pro Tag) die Verpflegung an die Beamten und zu etwas
erhöhtem Preise an Fremde verabreicht; ans den von der
Kompagnie unterhaltenen Lagerhäusern sind ebenfalls zu
festen Sätzen alle sonstigen Bedürfnisse des täglichen Lebens
erhältlich; für die Arbeiter aus Java und dem Bismarck-
Archipel sind geräumige, ans Blattwerk hergestellte Woh-
nungen in nächster Nähe von Finschhafen vorhanden; eine
Dampfsägemühle sorgt für das nöthige Material an Holz;
ein wohleingerichteter, mit Schweinen, Hühnern, Ziegen und
Rindern (theils nordanstralischer, theils ceylonischer Her-
kunft) besetzter Viehhof für den Bedarf an frischem Fleisch.
Die Anfgabe der etwa zwei Stunden von Finschhafen ent-
fernten, an der Einmündung des Bntaneng in den Bubui
belegenen Nebenstation Bntaneng ist es, die die für die
schwarzen Arbeiter erforderlichen Jams und Tarro, sowie die
Gemüse für die Weißen zu bauen.
Weniger umfangreich sind die ans den übrigen Stationen
getroffenen Einrichtungen, auf keiner derselben fehlen jedoch
gute Wohnhäuser für die Weißen und die Arbeiter, sowie
reichhaltige Waarenlager und Pflanzungen.
Der Sitz des kaiserlichen Richters ist Matnpit. Gleich-
mäßig durch das ganze Schutzgebiet ist die deutsche Sprache
als Amtssprache, sowie deutsche Münze, Maße und Gewichte
und deutsche Rechtsprechung eingeführt. Seit einiger Zeit ist
ferner das Schutzgebiet dem Weltpostverein angeschlossen
worden. Den regelmäßigen Postdienft zwischen dem Fest-
lande von Australien (Eooktown) und dem Schutzgebiete
einerseits und den einzelnen Stationen andererseits versehen
drei der Ncu-Gninea-Kompagnie zugehörige Dampfer der-
art, daß eine regelmäßige vierwöchentliche Verbindung mit
Eooktown im Anschluß an die Dampfer der British-Jndia-
Steam-Navigation-Kompagnie stattfindet.
Die Zahl der im Schutzgebiete sich aufhaltenden Weißen,
welche zumeist Deutsche sind, betrügt etwa 300 bis 400.
Der größere Theil derselben befindet sich im Dienste der
Ncu-Guinea-Kompagnie. Neben den durch die Verwaltung
verursachten Arbeiten haben sich die Beamten der Erfor-
schung und Vermessung des Landes, der Anlegung und
Durchführung von Pflanzungen, der Anknüpfung neuer
Beziehungen zwischen den Eingeborenen und den Stationen
oder Ansiedlern, der Erlernung der Eingeborenensprache,
der Anstellung genauer meteorologischer Beobachtungen, dem
Straßenbau u. s. w. zu widmen. Es ist das Bestreben
der Kompagnie, möglichst solche Kräfte, welche bereits durch
einen vorausgegangenen Aufenthalt in den Tropen ver-
trauter mit den einschlägigen Verhältnissen geworden sind,
für das Schutzgebiet zu gewinnen. Die Ergebnisse dieses
Verfahrens zeigen sich bereits in einem sicheren Vorwärts-
schreiten auf allen in Angriff genommenen Gebieten. Man
darf daher mit Hoffnung auf die Zukunft des dcuschen Be-
sitzes in der Südsec blicken.
Die mongolische Wüste.
Bon Dr. Emil Deckert.
(Mit vier Abbild unge u.)
In klassischer Weise hat F. v. Richthofen den durch-
greifenden Gegensatz klar gelegt, der in physikalisch-geogra-
phischer und kultur-geographischer Hinsicht zwischen den cen-
tralen und den peripherischen Theilen Asiens besteht. Hier
benetzt ein reiches Maß von feuchten Niederschlägen den
Boden; die Flüsse strömen hinaus in das Meer, um mit
ihrem Wasser auch das zersetzte Gestein fortzuführen und
dem Menschen als Verkehrsstraßen in die Außenwelt zu
dienen; es entsteht eine bunte Mannigfaltigkeit der Lebens-
bedingnngen für Pflanzen, Thiere und Menschen, und dem-
gemäß auch eine bunte Mannigfaltigkeit von pflanzlichen,
thierischen und menschlichen Lebensformen; dem Menschen
insbesondere aber wird es ermöglicht, sich feste Wohnsitze
zu gründen, Herr des Bodens zu werden, sich gesellschaft-
liche und staatliche Einrichtungen zu schaffen und zu höherer
Kultur und Geistesbildung zu gedeihen. Dort dagegen ist
das Maß der Niederschläge ein karges; die fließenden Ge-
wässer, die von den Gebirgen herabkommen, schwinden in
der trockenen Atmosphäre zusammen, um zuletzt in einem
abflußlosen See oder in einem Sumpfe zu endigen; alle
Zersctzungsprodnkte der Gesteine — Salze, Sande, Ge-
rölle — bleiben im Lande, so weit sic nicht etwa von den
Winden in die peripherischen Gebiete verweht werden; es
herrscht infolgedessen eine Tendenz, alles zu nivelliren, alle
Gegensätze zu tilgen oder zu maskiren und eine möglichst
vollkommene Monotonie herzustellen; die im Lande blei-
i) China I, S. 1 ff.
bcnden löslichen Salze durchsetzen allerwärts den Boden
und machen den Ackerbau unmöglich; das Thier- und
Pflanzenleben ist arm und verkümmert; des Menschen Hei-
math aber ist überall und nirgends, und die Natur zwingt
ihn zu einem unsteten Nomadenleben, das eine Verfeinerung
der Sitten nicht zulassen will.
Seine typische Ausbildung hat nun das centrale Asien in
dem weiten Landraume gefunden, der sich von dem Pamir-
plateau bis zu dem Chingaugebirge ausdehnt, und der im
Süden von dem Kuen-lnn und Nan-schan nebst ihren öst-
lichen Fortsetzungen, im Norden aber von dem Sajanischen
Gebirge und dem Jablonoi-Gebirge begrenzt wird, während
sich die Ketten des östlichen Thian-schan und Altai weit
in ihn hineinschieben. Dieser an die 5000 km lange und
500 bis 1200 km breite Raum wird von den Chinesen
sehr bezeichnend „Han-Hai", d. i. „trockenes Meer", genannt,
und er würde diesen Namen ohne Zweifel auch daun ver-
dienen, wenn seine genauere geologische Untersuchung die
Theorie, daß er thatsächlich ein erst in einem späteren Erd-
alter trocken gelegter Meeresboden sei, etwa nicht bestätigen
sollte'). An seine geologische Vorgeschichte haben ja die-
jenigen, welche ihm den Namen gaben, natürlich nicht ge-
dacht.
Dadurch, daß in der Gegend von Chami und Tung-
hwan-sien (unter dem 93. Meridian östlich von Greenwich)
') Bergt. F. v. Richthofen, a. a. £)., S. 25; und Ed. Süß,
das Antlitz der Erde, Bd. 2.
842
Dr. Emil ®eifert: Die mongolische Wüste,
die Gebirgssysteme des Kuenlun und Thian-schan einander
bis aus einen Abstand von nur 330 km nahe kommen, glie-
dert sich das „Han-Hai" in eine westliche und eine östliche
Hälfte: in die osttnrtistanische Wüste oder das Tarim-
Becken und in die mongolische Wüste oder die Gobi, bezw.
das Scha-mo, und diese beiden Hälften stehen sozusagen
nur durch eine breite „Meerstraße" mit einander in Ver-
bindung. Die mongolische Wüste ist die weitaus größere
von beiden Hälften, und ihre Fläche dürfte auf etwa
2^/z Millionen qkm zu veranschlagen sein. Ihre Charatte-
Laudschast im Innern der mongolischen Wüste.
risiik soll in dem gegenwärtigen Aufsatze ans Grund der i zwischen dem mittleren Hoangho- Laufe und dem Jablonoi-
zu Gebote stehenden neueren Quellen versucht werden. ! Gebirge und hat zwischen der chinesischen Mauer nördlich
Der Hauptkörper der mongolischen Wüste liegt im Osten, | von Lantschu-fu und Urga eine Breite von etwa 1200 km,
Eine Flugsandgegeud.
im Westen theilt sie sich durch die eingeschobenen Ketten des
Altai und Thian-schan in eine Anzahl schmalere Buchten,
von denen die bedeutendste die dsnngarische ist, zwischen der
Südtette des Altai und dem Thian-schan. Sehr streng
begrenzt ist sie im Süden und Osten, wo der Ucbcrgang in
das mit Abfluß versehene peripherische Gebiet ein außer-
ordentlich schroffer und überraschender ist; im Norden und
Westen dagegen giebt es eine breite Uebergangszone, in der
abflußlose und mit Abfluß ausgestattete Strecken vielfach
in einander übergreifen.
Hypsometrisch betrachtet, ist die mongolische Wüste ebenso
wie die ostturtistanische ein ungeheures Becken, das sich in
Dr. Emil Deckert: Die mongolische Wüste.
343
seinem Inneren tut Durchschnitte noch nicht 1000 in über
den Meeresspiegel erhebt, während es gegen seine Ränder
hin im allgemeinen sanft bis zu Höhen von 1500 m und
darüber aufsteigt. Einzelne Stellen der Bcckensohle liegen
aber beträchtlich tiefer als der Durchschnitt und nordwestlich
von Gu-tschcn (nahe bei der Mitte der dsnngarischen Bucht)
fand Prshcwalski einen Punkt, der nur 560 m hoch war,
während der Spiegel des Ebi-Nor (im Westen der dsun-
garischen Bucht) sogar nur 213 m über dein Meeresspiegel
gelegen ist. Die Herren Fuß und Bunge (1830) bestimmten
den tiefsten Punkt der Karawanenstraße von Urga nach Kal-
gan auf 607 m, H. Fritzsche (1872) denjenigen der östlicher
gelegenen Straße zwischen diesen beiden Plätzen (bei Oezön-
choschu) auf 840 m, Ney Elias (1872) denjenigen seiner
Reiseroute von Kwei-hwa-tschöng (Knku-khoto) nach lllias-
sutai auf 862 m, und die Bntin'sche Expedition (1870)
denjenigen der ihrigen zwischen Lama-miao (Dolon-noor,
nördlich von Peking) und Nertschinsk auf 1136 m'). Füglich
Die Prinzen Sia und Hyghen von Ala-schan.
könnte man ein höheres Hauptbecken, im Osten, und ein
niedrigeres Nebenbeckcn, im Westen, unterscheiden. Die
Bcrgzüge, welche die mongolische Wüste in allen ihren
Theilen durchziehen, streichen meist von West nach Ost oder
von Nordwest nach Südost, dieselben erheben sich aber nur
ausnahmsweise beträchtlich über das allgemeine Niveau, in
der Regel erreichen sie kaum die relative Höhe von 100 m.
Der bedeutendste Zug ist der Arzi-Bogdo- und Gurban-
Saichat-Zng, der als eine südöstliche Fortsetzung des süd-
lichen Altai betrachtet werden muß.
Die Gebirge, die die Wüste umranden, sind nur zum
Theil sehr gewaltig hoch: der schnce- und gletscherbedeckte
Nan-schan etwa 6000 m, der Ala-schan 3500 m, der Jn-
schan 2600m, der Chingan 2700m, das Jablonoi-Ge-
birge 2500, das Sajanische Gebirge 3500 m und der
Thian-schau über 6000 m. Die meisten erscheinen nur
außerhalb der Mongolei als steile Gebirgsmanern, weil
i) Vergl. G. N. Potanin's Forschungen in der westlichen
Mongolei (Gcogr. Mittheilungen, Bd. 27, S. 182 ff.).
344
Tr. Emil Deckert: Die mongolische Wüste.
man sich innerhalb der Mongolei bereits in bedeutender
Höhe befindet, wenn man sich ihnen nähert. Als Wetter-
mauern bewahren sie sich immerhin verhüngnißvoll genug,
um so mehr, als gegen Süd und Südost, von wo die regen-
bringenden Seewinde kommen, hinter den unmittelbaren
Randgcbirgen noch andere Gebirge lagern, die ihre Wirk-
samkeit vervollständigen. Da der Abstand des mongolischen
Beckens vom Meere gegen Südost hin kein sehr großer ist
— nur 400—500 km —, so würde sich die große Trocken-
heit seines Klimas und seine daraus resultirende Wüsten-
haftigkeit ohne die zahlreichen Parallelketten, von denen die
Provinzen Pe-tschi-li, Schan-si und Schen-si erfüllt sind,
kaum erklären. Dem in der Mongolei vorherrschenden
Westwinde, der aus dem Inneren der altweltlichen Kon-
tinentalmasse herausweht, wohnt selbstredend eine hohe
wasserdunstaufsaugende Kraft inne, die es zur Wolkenbil-
dung schwer kommen läßt; zugleich berauben die.zuletzt ge-
nannten Gebirge— welche selbst im Sonnn er sehr regenreich
sind — die von dem Chinesischen Meere her strömende Luft
eines großen Theiles ihrer Feuchtigkeit, und die von ihnen
her wehenden Winde bewähren sich für die Mongolei als
Fallwinde, denen
bekanntlich eben-
falls sehr aus-
dörrende Eigen-
schaften zukom-
men. Wenn man
sich diese Berhält-
nisse klar macht,
so wird man sich
nicht wundern,
daß Prshewalski
zwischen dem
Fuße des Nan-
schan und Urga
an die 1600 km
weit reisen konnte,
ohne auf einen
einzigen Flußlanf
zu stoßen, und daß
andere Reisende
uns versichern,
daß sie trotz mo-
natelangen Ver-
weilens niemals
einen Tropfen Regen in der Mongolei gesehen haben.
Gelegentlich giebt es aber doch ganz heftige Güsse während
des Spätsommers, und infolgedessen fehlt es in den meisten
Gegenden wenigstens nicht an Quellen und Brunnen, sowie
an salzigen Seen.
Die Ströme, die den Randgebirgcn des mongolischen
Wüstenbeckens entquellen, um in das Innere dieses Beckens
hinein zu fließen, kämpfen mit der trockenen Atmosphäre
ititb mit dein trockenen Sande und Kiese einen harten
Kampf ums Dasein, dem sie endlich erliegen, indem sie
einen Salzsee oder Salzsumpf füllen. So namentlich der
Su-la-ho und der Etsin, die von den Gletschern und Schnee-
feldern des Nan-schan gespeist werden, und die anfangs eine
große Wasserfülle besitzen; so der Chao-lai-ho und der
Ta-Ho, von der östlichen Fortsetzung des Nan-schan; so der
Schandu-gol, der Dsiral-gol, der Chara-gol rc. vom Chingan;
und so auch der Dsabchyn, der Kobdo, der Kiutin, der
Loklon und andere Flüsse vom Altai und vom Thian-schan.
Wo diese Ströme aus den Gebirgen herausbrechen, da
rufen sie dadurch, daß der Mensch sie zu künstlicher Be-
wässerung des Bodens benutzt, zum Theil sehr reiche Kultur-
Oasen hervor. Im Inneren der Wüste, in größerer Ferne
von den quellenreichen Hochgebirgen, sind die natürlichen
Vorbedingungen für die Entstehung solcher Oasen im allge-
meinen nicht gegeben, und dort hat sich der Reisende damit
zu begnügen, daß er hier und da an einer Quelle oder in
einer Cisterne etwas trinkbares Wasser und daneben Weide
für seine Thiere findet.
Hinsichtlich der Temperaturverhältnisse waltet ein aus-
gesprochenes Kontinentalklima über der mongolischen Wüste.
Die Winter sind sehr kalt, und die Külte ist um so
empfindlicher, als sie mit heftigen Stürmen und mit großer
Trockenheit Hand in Hand geht. Die Reisenden haben
ihre Gesichter gegen sie durch Filzmasken zu schützen.
Entlang der Südgrenze läuft die Januar-Isotherme von
— 100 C. Die Sommer dagegen sind glühend heiß, und die
Szecheny'sche Expedition erlebte in der Gegend von Sn-
tschou 400 C. unterm Dach x). Ebenso bestehen große
Gegensätze zwischen den Tag- und Nachttemperaturen.
Ans dem Gesagten lassen sich die übrigen Haupteigen-
schaften der mongolischen Wüste unschwer ableiten. Vor allen
Dingen ergeben sich daraus auch die Kategorien des Bodens
im einzelnen, soweit die bodenbildenden und bodenumgestal-
tenden Agentien
des gegenwärti-
gen Erdalters
— mit denen
es nach unserer
Auffassung die
Geographie im
Gegensatze zur
Geologie zu thun
hat — dabei in
Frage kommen.
Das Wasser
verrichtet in der
Wüste nur einen
sehr geringen Be-
trag von boden-
unigestaltender
Arbeit. Immer-
hin führen die
Ströme, die von
ihrem Rande her
in sie hinein
fließen, gewaltige
Massen von Ge-
birgsschntt in sie hinein — Steinblöcke, größere und kleinere
Rollkiesel, Sand, Schlamm und Salze —, und sie lagern
denselben dort, wo ihr Gefäll zu ihrem Transport zu schwach
wird, in ihrem Bette und an ihren Ufern oder in den Seen
und Sümpfen, in die sie schließlich münden, ab, seine wei-
tere Zerkleinerung, Umwandlung und Verführung anderen
Kräften überlassend. Belangreiche Erosions - und Trans-
portationswirkungen des fließenden Wassers sind also nur
in der Randzone der Wüste zu beobachten, und auch dort
erscheinen sie durch Gegenwirkungen der anderen Kräfte
meist sehr beeinträchtigt und abgeschwächt.
Als ein viel gewaltigeres und allgemeiner wirksames
physikalisch-geographisches Agens ist der Temperaturwcchsel
in der Wüste zu bezeichnen. Wenn man bedenkt, daß in
Urga und Uliassutai die Temperatur im Januar des öfteren
unter den Gefrierpunkt des Quecksilbers sinkt, während sie
sich im Juli zu afrikanischer Gluth steigert, und daß Prshe-
walski es in der südöstlichen Mongolei erlebte, daß das
u Vergl. Kreitner, Im fernen Osten, S. 571. — Prshewalski
beobachtete sogar 45° C. im Schatten, und den Boden fand
er auf 65" durchglüht. (Vergl. Geogr. Mittheilungen, Bd. 22,
S. 171.)
Uroten-Mongolen.
345
Dr. Emil federt:
Thermometer am 16. März + 20,5° int Schatten zeigte,
in der darauf folgenden Nacht aber — 18°, so ist einem
dies ohne weiteres klar. Vor allen Dingen hat das lau-
nische Spiel solcher Temperatnrgegensätze natürlich ein sehr
energisches Zcrarbeiten aller jener niedrigen Felsengebirge
ini Gefolge, die die mongolische Wüste durchziehen, und wir
sind sogar geneigt, uns ihre Niedrigkeit und ihr Gleichmaß
zum größten Theile daraus zu erklären. Im Winter, bezw.
bei Nacht, erfolgt eine starke Kontraktion ihrer oberflächlichen
Gesteinsschichten, und im Sommer, bezw. am Tage, dagegen
greift eine starke Expansion derselben platz. Mögen die
Gesteine nun krystallinische oder klastische sein, sie unter-
liegen dadurch einer beständigen Zersprengung und Zer-
splitterung, und sie zerfallen dabei in ihre constituirendcn
Elemente: der Granit in Quarz- und Feldspathstücke und
Glimmcrblättchen, der Sandstein in losen Sand, der Kalk-
stein in Staub rc. Dieser Zersprengungs - und Zer-
splitterungSproceß schreitet dann mit den Bruchstücken des
Gesteins noch weiter fort, und er erstreckt sich zugleich auch
auf den gesammten Gebirgsschutt, welcher von den hohen
Rändern der Wüste hcrstammt. Und so spärlich Schnee
und Regen auch in der Mongolei fallen, so reicht die da-
durch hervorgerufene Bodenfeuchtigkeit doch hin, die Zer-
störuugsarbeit des Frost- und Hitzewcchsels wenigstens zeit-
weise zu unterstützen und zu vervollständigen. Das Wasser-
gefriert in den Gesteinsspalten zu Eis und hilft ans diese
Weise zersprengen, und andererseits löst cs auch, was löslich
ist, sobald cs darin erwärmt wird. Bei Urga, das aller-
dings nur an der Eingangsschwelle zur eigentlichen Wüste
liegt, beläuft sich die Jahresmenge der Niederschlüge immer
noch auf ungefähr 24 cm. Daß die ab und zu sehr heftigen
Regengüsse in der Nähe der Felsenrücken auch an der Um-
lagernng der Gesteinsbruchstücke betheiligt sind, erwähnen
wir nur nebenbei. Ein Hauptagens ist das Wasser ja
doch auch hier nicht.
Ganz imposant als bodenumgestaltendc Kraft erscheint
aber der mongolische Wüstenwind. Er hüllt die Reisenden
in ungeheure Staubwolken ein und macht den Tag dadurch
finster wie die Nacht, er schleudert ihnen Saud und kleine
Steine ins Gesicht H, und er vollbringt auf diese Weise mit
dem Gesteinsschutte, was das Wasser nur sehr ungenügend
damit thut: er transportirt ihn in größere und kleinere
Fernen, und er sondert und ordnet ihn auch zugleich nach
seiner Art mit) nach seinem Gewichte, das eine hierher, das
andere dorthin lagernd. Nur das ganz fein zerriebene
Material wirbelt er so hoch empor, daß es zu einem großen
Theile über die Randgebirge der Wüste hinwegzugelangen
vermag, damit cs sich jenseits derselben in dem Hoangho-
Gebiete als Löß ablagere. Den Sand erhebt er zu mäßigeren
Höhen, und die Kiesel rollt er in der Regel nur auf dem
Boden fort; beide bewegt er auch nur innerhalb des weiten
Wüstcnbeckcns hin und her, mit den Kieseln alle tieferen De-
pressionen ausfüllend, und den Saud zu Dünen austreibend.
Anders wirkt er, wenn er nur in normaler Stärke weht, anders,
wenn er als Sturm, und anders, wenn er als Orkan auftritt.
Das letztere ist und zwar in der mongolischen Wüste häufig
genug der Fall, aber die Orkane und die Stürme haben
hier wie anderweit auf Erden einen mehr lokalen Charakter,
während kräftige Winde jahraus jahrein und allerwärts
herrschen. Außer den erwähnten Felskämmen sind infolgedessen
namentlich noch drei andere Bodcnformen in der Wüste zu
unterscheiden: Lößgcbiete, denen zum Hervorbringen reicher
Ernten nichts fehlt als reichlichere Benetzung mit befruch-
tendem Regen und Schnee und Befreiung von dem über-
i) Verist. Kreitner, n. a. 0., S. 647; H. Michaelis, Von
Hankau »ach Sutschou (Gotha 1686), S. 33.
Globus LIV. Nr. 22.
Die mongolische Wüste.
müßigen Salzgehalte; Flugsandgegenden, deren Dünen in
beständigem Hin- und Herwandern begriffen sind; und Kies-
und Steinflüchen, aüf denen die hölzernen Karren dahin fahren,
wie auf frisch beschotterten Straßen. Die Flugsandstriche oder
„Mngeri" (S. Abbildung 2) haben der mongolischen Wüste
den chinesischen Namen ,,©d)amß“ eingetragen, die Kics-
und Steinflächen den Namen „Gobi" x). Da die beiden
Bezeichnungen etwas Schwankendes und Unbestimmtes haben
und dem genauen Sinne nach eigentlich immer nur auf ge-
wisse Theile, in denen die betreffende Formation vorherrscht,
angewendet werden sollten, so haben wir hier die in Frage
stehende Hälfte des „Han-hai" aber lieber einfach die „mon-
golische Wüste" genannt. Auf die ganze Wüste wendet
man in Europa herkömmlicherweise den Namen „Gobi"
häufiger an, als den Namen „Schamo", und das ist wohl
auch richtig, da die Stein- und Kiesslächen den Beschrei-
bungen der Reisenden nach in der That den bei weitem
größeren Raum einnehmen. — Daß die Steinflächen der
mongolischen Wüste ziemlich streng den Sserirflächen der
Sahara entsprechen, die „Tingeri" aber der Areg- Wüste
derselben, haben wir nicht nöthig, besonders zu betonen.
Aehnliche Ursachen rufen eben ähnliche Wirkungen hervor.
Und wenn die imposante Hammada-Wüste Nordafrikas in
den Felskämmen der Mongolei nicht ganz wieder erkannt
wird, so tragen daran nach unserer Meinung vor allen
Dingen die kräftigeren meteorodynamischen Agentien des letzt-
genannten Erdraumes bei, die an dem Abtragen der Felsen
und an deut Ausfüllen der Thäler arbeiten: besonders die
viel stärkeren Fröste und die viel stärkeren Winde. Durch
diese ist sozusagen ein vollkommenerer Ausgleich zwischen den
verschiedenen Formen bewirkt worden. Uebrigens stammt
der Sand der Sahara aller Wahrscheinlichkeit nach zum
größeren Theile aus dem Gebiete des nnbischen Sand-
steins^), der Sand der mongolischen Wüste aber — ebenso wie
auch das gröbere Material — vorwiegend von den Ketten, die
sie selbst durchziehen. — Der Mangel einer dichten Vegetation
erleichtert dem Winde sein Spiel natürlich ganz wesentlich,
und wenn dt. Pumpclly von einer förmlichen Anshobclnng
von Thälern durch denselben redet — natürlich mit Hilfe
des Sandes, den er bewegt —, so hat dies kaum viel Un-
wahrscheinliches. Der Wind erzeugt übrigens dadurch, daß
er den Sand gegen den Felsen schlendert, oder daß er ihn
mit Ungestüm über die Steinflüchen hinwegfegt, auch selbst
noch einen guten Theil fein zerriebenen Staubes, bezw.
hilft er dadurch den mit ihm verbündeten Agentien bei der
fortschreitenden Zerkleinerung des vorhandenen Gesteins-
materiales.
Die Wüstenflora ist sowohl an Individuen als auch an
Arten arm. Wie wäre dies anders denkbar, da Trockenheit,
Glmhhitze, Kälte, Sturm und salzdurchtränkter Boden sich
vereinigen, das Pflanzenlcben zu vernichten! Diejenigen
Formen, welche den harten Existenzbedingungen zum Trotz
gedeihen, sind aber von hoher Eigenart. Den Sauddünen
charakteristisch ist der Saksaul-Strauch (Haloxylon Ammo-
dendron), der Kharmyk (Nitracia Schoben) und den durch
seinen nährenden Samen besonders für die Landschaft Ala-
schan sehr wichtige Sulchyr (Agriophyllum gobicum); dem
salzigen Lößboden der Dyrissnn (Lasiagrostis splendens),
die Budurgana (Kalidium gracile), die Artemisia rc.
Wirkliche Bäume finden sich nur hie und da an quellen-
reichen Stellen der Nordgehänge von Bergzügen. Im Osten
und Norden des Gebietes werden die Bewässerungsvcrhält-
nisse günstiger, und dort tritt auch allmählich wieder eine
b Vcrgl. Kreitner, a. a. 0., S. 567.
2) Vergl. Zittel, Beiträge z. Geologie der Lylnschcn Wüste,
CXXXVI ff.
44
346
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner.
reichere Vegetation ein; namentlich giebt es dort wieder gute
Weide für die Heerden.
Die Wüstensauna, die sich direkt oder indirekt von den
Blättern und Früchten der genannten Pflanzen nährt, so
gut sie eben kann, ist gleichfalls eine arme. Die Dseren-
Antilope (Antilope gutturosa) und der Sandhase (La-
gomys Ogotono) sind die Hauptbewohner der Einöde, und
neben ihnen der Sandmarder, das Steppenhuhn, die Step-
penlerche, die Krähe, der Habicht rc. Die Gesammtzahl
der Säugethierarten beziffert Prshewalski nur auf etwa 50.
Am besten mit Thieren bevölkert sind die Gebirgsgegenden,
wo das Argali, der Wildesel, das Murmelthier, der Wolf
und der Fuchs Hausen. Unter den Hausthieren, die den
Hauptreichthum der Wüstenbewohner ausmachen, sind das
Fettschwanzschaf, das Rind, das zweihöckerige Kameel und
das Pferd in besonders großer Zahl vorhanden. Im Nord-
westen züchtet man daneben den Grunzochsen. Pie besten
Kameele besitzen die Khalkhas, im Norden der Wüste; denen
von Ala-schon merkt man an ihrer schwächlicheren Konsti-
tution die schlechtere Ernährung an. Obgleich die Heerden
oft große Noth leiden und große Verluste zu ertragen haben,
so erholen sie sich doch in der besseren Jahreszeit in der
Regel rasch wieder, und alles in allem hat man die Vieh-
zucht doch als ein Gewerbe zu bezeichnen, das in der mon-
golischen Wüste prosperirt. Ein intensiver Betrieb desselben
ist unter den angegebenen Verhältnissen freilich nicht
denkbar.
Da die nomadisch betriebene Viehzucht das einzige Ge-
werbe in der mongolischen Wüste ist, so ist natürlich die
ganze soziale und politische Organisation ihrer Bevölkerung
diejenige einer Hirtenbevölkerung. Die Einrichtungen sind
durch und durch patriarchalische, und die chinesische Herr-
schaft hat das Wesentliche derselben völlig unberührt ge-
lassen. Mehrere verwandte Familien vereinigen sich zum
Zeltdorfe, an dessen Spitze der Aelteste steht, mehrere Dörfer
¿um Geschlechte (Khoschun), mehrere Geschlechter zum Stamme
(Aimak) und mehrere Stämme zur Stammesgrnppe oder
zum Lande; je weiter ins Große die Gliederung geht, desto
loser wird aber der Zusammenhang. Am kompaktesten ist
die Bevölkerung in der Randzone der Wüste, und dort ist
das Gefühl der Zusammengehörigkeit deshalb auch am
lebendigsten. Die Geschlechter oder Stämme haben ein-
heimische Fürsten (Wans) zu Oberhäuptern, die ihre Ab-
kunft vielfach von Dschingiskhan ableiten; zu einem engeren
Zusammenschlüsse der Stämme und Stammesgruppen ist
es aber immer nur ausnahmsweise gekommen. Heute geht
die Politik der chinesischen Regierung, die in der Mongolei
noch allenthalben als Fremdherrschaft empfunden wird,
systematisch darauf ans, die Zersplitterung so viel als mög-
lich auszudehnen oder zu erhalten, und außerdem sucht sie
die Geschlechtcr-Fürsten zu sinisiren und sich durch Gnadeu-
gehälter zu Freunden zu machen — ein System, wie es die
englische Regierung in Indien auch anwendet. Und der Erfolg
davon war bisher der gewünschte: China erfreute sich
seines Besitzes sehr ungestört, und es hatte sich nicht vor
einem neuen Dschingiskhan, der die ganze Kraft der Wüsten-
stämme in seiner Person zu vereinigen verstand, zu fürchten.
Uebrigens stellt es den mongolischen Fürsten in der Regel auch
einen Gouverneur (Amban) zur Seiteund außerdem geht
neben der politischen Verfassung noch eine besondere Militär-
verfassung einher. Die Fürsten von Ala-schan (S. Ab-
bildung 3) unterstehen dem Vicekönig von'Kan-su, während
die Aimaks der Tnnieden und Uroten (S. Abbildung 4) direkt
von den Ambans von Khuku-khoto, und die der Suniten nnd
Tschakharen von den Ambans von Kalgan verwaltet werden.
Da die Chinesen sehr genau wissen, daß jenseits der
mongolischen Wüste die Russen wohnen, so wenden sie
neuerdings namentlich den nördlichen und nordwestlichen
Aimaks eine große Aufmerksamkeit zu. Dem General-
gouverneur von Uliassutai fällt die Obhut über die ganze
Dsungarei und über die Khalkha-Aimaks Sai'n-Noin und
Tsasagtu-Khan zu, und zugleich ist demselben auch die höchste
Militärgewalt über die mongolischen Stämme anvertraut.
Die nordwestlichen Aimaks unterstehen dem Amban von
Kodo. — Dort, wo die Bevölkerung der Mongolei mit
Chinesen in beständiger Berührung steht — namentlich
also in den an das eigentliche China anstoßenden Distrikten
und an den Karawanen- und Poststraßen — hat sie zum
Theil chinesische Sitten und Gebräuche sowie chinesische
Tracht angenommen, in einem sehr umfassenden Maße ist
dies aber nicht der Fall. Würden sich die Rnssen daher
vielleicht dereinst der nördlichen Mongolei bemächtigen — die
durch ihre Flußsysteme dem russischen Asien näher steht als
dem eigentlichen China —, so wäre es ihnen vielleicht gar
nicht so schwer, sich die dort wohnenden Stämme zu assimi-
liren. Mit den südlichen Stämmen dürfte dies viel schwie-
riger sein, da die Wüste mit ihren großen Verkehrsschwierig-
keiten zwischen ihnen und Russisch-Asien liegt, und ihres
Besitzes darf sich China deshalb auch nach dieser Seite hin
ziemlich ungestört erfreuen.
Ob der Buddhismus und der Lamaismns, der in der
Mongolei sehr feste Wurzeln gefaßt hat, die Wüsten- und
Steppenvölker so sanft gemacht hat, daß sie weiterhin
nicht mehr daran denken, ihre Nachbarn durch Vorstöße
voll wilder Energie zu bedrohen, darf man vielleicht be-
zweifeln.
Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner.
Von Dr. Heinrich von Wlislocki.
I.
Wo die Karpathen mit ihren Spitzen voll Schnee, den
kein Strahl der Hochsommersonne vom Felsen trennt, mit
ihren waldigen Berglehnen voll kriechenden und fliegenden
Gcthiers, mit ihren rauschenden Quellen und Bächen, ihren
träumerischen Thälern voll zauberhaften Schattens, kastell-
artig sich erheben; wo ungehemmt und fernhinleuchtend im
Glanze des Morgens und des Abends die Wogen und die
Wellen des Marosch- und Altflusses nach Osten und Westen
hingleiten, um dann in traumhafter Ferne zu verschwinden;
dort im transsilvanischen Hochlande, in Siebenbürgen,
fanden die Zigeuner vor mehr als 400 Jahren ein Terrain,
ans dem sie ungehindert rmd ungezügelt, fern vom trübseligen
'
9MB5S8SnmhBB53B8RB
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebräuche der iranssilvanischen Zeltzigeuner.
Staube ausgetretener und wohlbewachter Heerstraßen, ihre
alten Sitten und Gebräuche bis auf den heutigen Tag auf-
recht erhalten konnten. Abgesehen von der allgemeinen
Toleranz, der die Zigeuner in diesem Lande von jeher be-
gegneten, so müssen wir nur noch nebenbei daran erinnern,
daß es eine längst ausgemachte Thatsache ist, daß Abcr-
und Wunderglaube in den Köpfen der Gebirgsbewohner
fester sitzen, als in denen der Leute im flachen Lande; halten
sich doch dicke Nebel auch am längsten in den tiefen Wald-
gründen der Gebirge auf. Kein Wunder also, wenn hier
in Siebenbürgen sich zigeunerisches Denken und Fühlen,
Sitte und Brauch, Glaube und Aberglaube bis auf den
heutigen Tag am reinsten und unverfälschtesten erhalten haben
und für den Ethnologen von hoher Bedeutung sind.
Im folgenden will ich — so weit mir bekannt und
ich auf meinen häufigen Zigeunerfahrten Gelegenheit dies
zu beobachten hatte — die Festgebräuche der transsilvani-
schen Zeltzigeuner in flüchtigen Strichen dem Leser vor-
führen. Es sind dies Gebräuche, die sich zumeist an die
drei Hauptfcste unserer christlichen Kirche anschließen, und
die schon aus diesem Grunde unser Interesse in Anspruch
nehmen können, weil sic, auf heidnischer Grundlage fußend,
mehr oder weniger eine christliche Staffage haben.
Kommt der St. Michaelistag und mit ihm der Spät-
herbst ins Land gezogen, da denken die transsilvanischen
Wanderzigeuner, die die milde Jahreszeit unter luftigen
Zelten und auf steter Wanderschaft zugebracht haben,
daran, sich vor den Schrecknissen des transsilvanischen Win-
ters, so gut es eben geht, zu schützen, indem sie an den —
gewöhnlich südlichen — Berglehnen der Karpathen sich
Erdhöhlen bauen und die sogenannten „Winterquartiere"
herrichten. Gewöhnlich werden die Erdhöhlen, welche der
Stamm, dessen einzelne Sippen sich zur Winterszeit ver-
einigen i), auch im verflossenen Winter bewohnt hat, wieder
„wohnbar" gemacht. Bevor jedoch der Stamm seine
Winterquartiere endgültig bezieht, wird vor jeder einzelnen
Erdhöhle ein Feuer mit Stcchapfelstauden angemacht; auf
Kohlen wird dann Alaun verbrannt, und wenn dieser auf-
hört zu brodeln, so nimmt man ihn vom Feuer und wird
finden, daß er die Gestalt der Person angenommen hat, die
im Laufe des Winters dem Stamme eventuell Schaden zu-
fügen könnte. Um dies zu vermeiden, wird der gebrannte
Alaun zerstoßen und einem schwarzen Hunde zum Fressen
gegeben. Dann sticht der Aelteste jeder Sippe mit einer
im Feuer erhitzten Nadel mehrere Löcher in ein Stechapfel-
blatt und sagt bei jedem Stiche einzeln: „Dies das Auge,
dies der Mund, dies die Hand, dies das Herz" u. s. w.
und verbrennt dann das Blatt. Sind die ärmlichen Hab-
seligkeiten in den Erdhöhlen untergebracht, dann versammelt
der Wojwodc seinen Stamm und „zählt die Häupter seiner
Lieben", aber da fehlt nicht selten gar manches „liebe
Haupt", das entweder irgendwo in Dienst getreten oder
mit den Behörden in Kollision gerathen, ins „kühle Haus"
— in den Kerker — gesetzt worden ist. Nach allgemeiner
Schmauserei wird unter Gesang und Tanz eine mit
Tannenreisig und Epheu umhüllte Strohpuppe — der
„schwarze Mann" (Mio rnanush) — verbrannt und die übrig
gebliebene Asche in den Erdhöhlen verstreut, um die „bösen
Geister" den Winter über fern zu halten. Dieser „schwarze
Mann" stellt wahrscheinlich den Tod dar, worauf der Ge-
brauch hinzuweisen scheint, daß jede Sippe etwas Asche von
der verbrannten Puppe in einem Säckchen aufbewahrt, um
damit vorkommenden Falles die Fußsohlen Todtkranker ein-
zureiben, die dadurch den Tod von sich fern halten können.
Langsam und unbemerkt ist der Spätherbst in den
i) L>. meinen Aufsatz im „Globus", Bd. LUI, S. 183.
Winter übergegangen, und da beginnt die Zeit der Schreck-
nisse, des Elends und des Jammers für den transsilvauischen
Zcltzigeuner. Voll resignirenden Humors ergiebt er
ins Unvermeidliche und singt:
Perei yiv te brishindoro,
Amen pál báro shilálo!
Te shilyárás te meras,
Mende cergá náni bás!
Pál ceroro guie del
Mende sik the sátyárel,
The men o yiv mudárel,
Ko les ákkor áshárel?
regnet, bald
schneit,
Kälte herrscht jetzt weit und
breit!
Aus der großen, weiten Welt
Haben wir kein Heim, kein Zelt!
Daß im Frost wir nicht ver-
derben,
Daß vor Kälte wir nicht sterben,
Hilf uns Gott, im Himmel
droben,—
Denn sonst wird dich niemand
loben!
Die einzige Zerstreuung in dieser entbehrungsvollcn
Jahreszeit bildet auch für den traussilvauischen Zeltzigeuner
das Weihnachtsfest. Schon die Woche vorher wird mit der
Bereitung verschiedener Heil- und Schutzmittel zugebracht.
Haseufett, in dieser Woche gesammelt, bildet ein Geheim-
mittel, das Eheleute, die Söhne haben wollen, benutzen.
Das Blut einer in der Weihnachtswoche erlegten Fleder-
maus heilt Thiere, die an Blähungen leiden. Am Weih-
nachtsabende gehen die Mulos st herum und stellen den
schwangeren Weibern nach; es ist daher gut, wenn man
eine Muskatnuß und etwas Kampher in ein Tüchlein ein-
bindet und dasselbe an den Eingang der Erdhöhle aufhängt.
In der Christnacht reden die Thiere mit einander, doch darf
man sie nicht belauschen, denn sonst könnte man von den
Urmen (Feen), die um diese Zeit die Thiere besuchen und
sie „segnen", getödtet werden. Die Geister haben in dieser
Nacht überhaupt besondere Gewalt, wie denn auch die
Christnacht für Thiere und Menschen als bedeutsam ange-
sehen wird und sich mancher Aberglaube an sie knüpft.
Schüttet man die Asche eines verbrannten Eschenzweigcs in
dieser Nacht unter die Pferde, so werden dieselben das ganze
Jahr hindurch von dem Dämon — dem sogenannten Cha-
grin 2) (Qágrino) — ntcf)t gequält werden. Wenn in dieser
Nacht die Hunde viel bellen, werden im Jahre viele Todes-
fälle vorkommen; wenn hingegen die Schweine und Esel
unruhig sind, werden bis nächsten Christtag viele Hochzeiten
abgehalten werden. In dieser Nacht werfen die Zigeuner-
Mädchcn den Schweinen und Eseln gesalzenes Brot vor
und beobachten das Grunzen und Schreien derselben, aus
dem sie dann auf ihre Verehelichung schließen; ist der Ton
der Thiere hell und laut, dann hcirathet die Maid bald.
Knochen und Fischgräten in der Christnacht an die Bäume
und auf die Felder geschüttet, vermehrt für das nächste Jahr
die Fruchtbarkeit derselben. Es scheint dies der Nest eines
Opfers, gebracht der Gottheit, welche über den Baum- und
Flursegen waltete. Hiermit stehen auch die Wetterbeob-
achtungen in Verbindung; ist die Christnacht hell und klar,
so ist der Frühling nicht mehr weit, und der Sommer wird
st Der Mulo ist ein vampyrartiges Wesen, das aus todt-
geborenen Kindern entsteht; er wächst bis zu seinem dreißigsten
Jahre, dann erst kehrt er ins Todtenreich ein. Er hat keine
Knochen im Leibe, und an beiden Händen fehlt ihm der Mittel-
finger, den er im Grabe zurücklassen muß. Jedes Jahr wird
er an seinem Geburtstage von seinen Kameraden gekocht, damit
er neu erstarke. Die Mulos leben oben im Gebirge und be-
wachen die Schätze, welche sie auf ihren nächtlichen Fahrten
rauben.
st Dieses dämonische Wesen, das die Thiere zur Nachtzeit
quält, soll die Gestalt eines Stachelschweines haben, von gelb-
licher Farbe und ungefähr einen halben Meter lang und eine
Spanne breit sein. Vgl. dazu den nordindischen Har ginn
bei Leitn er (Results of a Tour in Dardistan etc., Bd. I,
S. 13) und Liebrecht (Zur Volkskunde, S. 102).
44*
348
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner.
trocken, beinahe ohne Regen sein; eine trübe, wolkige Christ-
nacht aber bedeutet das entgegengesetzte.
In der Christnacht kann man gar oft auch den „All-
samenbaum" sehen; es ist dies der heilige Baum des alten
Indien, von dessen Zweigen Honig träufelt, zwischen besten
Blättern wunderbare Vögel singen, und der alle Samen der
Crde trägt. Dieser „Allsamenbaum", dessen Ende eine
riesige Schlange im Munde hält, ragt bis in den Hinnnel
hinein, und schon sein Anblick macht jung. Um diesen All-
samenbaum sehen zu können, schlagen die transsilvanischen
Zeltzigeuner ans dem nächstgelegenen Hügel ein Weiden-
bäumchen in die Erde, dessen Zweige sie in Knoten schlingen; !
daneben schlägt man ein Tanncnbüumchen ein und um- I
wickelt beide Bäumchen mit einem rothen Faden; dies
nennen sie „Verheirathung der Bäume". Am nächsten
Tage werden diese Bäumchen verbrannt und die Asche der-
selben zur Steigerung der Geburtskraft von den Weibern
verwendet. Gar oft geschieht es in dieser Nacht, daß in
der Nähe dieser Bäumchen der „Allsamenbaum" erscheint.
Wer ihn erblickt, darf bis zu seinem Verschwinden kein
Wort sprechen, sonst wird er wahnsinnig. So wurde vor
vielen Jahren der 1886 verstorbene Greis Pischta Laboschu
des Aschani-Stammcs wahnsinnig, weil er beim Anblick des
Allsamenbaumes ausgerufen haben soll: „Ist das Honig
oder Wein?" —
Am ersten Christtag, bevor „die verheiratheten Bäum-
chen" verbrannt werden, versammeln sich die Leute auf dem
betreffenden Hügel, und während einige das Feuer anmachen,
bilden Männer und Frauen eine zusammenhängende, lange
Reihe, und während sie sich drei Schritte nach vorn und
drei Schritte nach links bewegen, singen sie dazu Lieder, oft
heterogenen Inhalts; gewöhnlich wird dabei dies Lied in
einem schnellen, monotonen Takte gesungen:
Sigo ävel kolondä, Christian wird sehr balde
nah'n,
Käsht, mänro nä dikhela; Ach! seit lang' kein Holz wir
sah'n:
Helä shäloske bicä Ende, Gott, des Armen Noth,
Xäsbtä enke märiklä. Schick' ihm Holz und weißes
Brot.
Nach Schluß des Liedes bleiben sie stehen, und eine
kurze Weile sich bald rechts, bald links biegend, thun sie mit
dem Rufe: „O rother, o schwarzer, o weißer Vogel! gieb
uns Brot!" (Ob lolo, ob kalo, ob pärno cirikleyä! de
menge marikla!) eine Bewegung nach vorwärts. Nach
diesem Rufe beginnen sie ihre früheren Bewegungen und den
Gesang von neuem, was sie erst nach Verbrennung der
Bäumchen einstellen. Unter dem rothen, schwarzen, weißen
Vogel verstehen sie die „Himmelsvögel", die den Menschen
nützen oder schaden können.
Nach diesem Feste begeben sie sich in die Erdhöhlen, wo
jeder Familienälteste seine Stiefel oder Bundschuhe auszieht
und in dieselben etwas Asche von den verbrannten Bäum-
chen streut, worauf jedes männliche Familienmitglied diese
Beschnhung anziehen muß. Es heißt: dadurch werde die
Anhänglichkeit der Familienmitglieder unter einander be-
stärkt. Sollte dies wohl nicht mit dem deutschen Rechts-
symbol zusammenhängen, demgemäß „mit einem in den
Schuh steigen" so viel bedeutet, als Annahme an Kindes- !
statt (Grimm, R. A. 155, 463; Rochholz, Alemannisches !
Kinderlied und Kinderspiel, S. 380)?
In den drei Christnächten kann man auch zu großem
Reichthum gelangen, vorausgesetzt, daß man beim Unter-
nehmen Muth und Unerschrockenheit besitzt. Ich will nur
zwei bisher weniger oder gar nicht bekannte Gebräuche an-
führen, die sich meines Wissens auch bei anderen Völkern
vorfinden. In einer der drei Festtagsnächte wird ein Holz-
gestell, ähnlich einer Bahre, dreimal in die Kirche getragen.
Es muß dies binnen einer halben Stunde nach Mitternacht
geschehen, ist aber gar schwer zu vollbringen, denn die
Mulos, die zu dieser Zeit unsichtbar sind, setzen sich auf
dieses bahrenähnliche Gestell und machen es so schwer, daß
die Träger es nicht fortschaffen können; dann sind sie ver-
loren und werden von den Mulo-Leuten getödtet. Darum
muß einer mitgehen, der mit einem neuen, nie gebrauchten
Leinenstück das Holzgestell fortwährend wischt, damit sich
diese dämonhaften Wesen nicht darauf setzen können. Kommen
die Leute mit dem Tragen dieses Gestelles zu Stande, so
erhält im Laufe des Jahres jeder von ihnen einen Haufen
Geld. Viel sicherer — heißt es — ist das Vorgehen, wenn
man die zuletzt beerdigte Leiche aus dem Grabe scharrt und
in einer der Christfestsnüchte dreimal um eine Kirche zieht;
dabei müssen nur zwei Lebendige zugegen sein; der eine
schleift die Leiche, während der andere mit einer gabelför-
migen Weidenruthe, deren obere Enden drei Knospen haben,
fortwährend auf die Leiche einhant, damit sich die Seele
derselben entferne. Gefährlich aber ist dies Unternehmen,
weil die hernmflatternde Seele der Leiche sich leicht in den
Körper der Lebenden hineinzieht und sie zum Selbstmord
bewegt. Daß dergleichen Unternehmungen die transsil-
vanischen Zigeuner in früheren Zeiten ausgeführt haben
mögen, bezeugt der Umstand, daß im Jahre 1831 zwei
Zigeuner des Leila - Stammes wegen überwiesener Leichen-
schändung in der Christnacht zum Tode am Galgen ver-
urtheilt wurden. Das Urtheil wurde am 2. Februar
1832 in Szitasch-Kereßtur an ihnen vollzogen. Sie hießen
Nikolaj Vretschan und Michael Mastreho. So erzählte cs
mir eine Matrone dieses Stammes.
Der übrige Theil des Winters ist für den transsil-
vanischen Zeltzigeuner weniger dazu angethan, ihm Lust
und Liebe zu abergläubischen Experimenten einzuflößen.
Erst mit des Frühlings Beginn nimmt für ihn ein neues,
leichteres und sorgenloseres Leben seinen Anfang.
Jedes Volk, das noch nicht ganz in den Rahmen unserer
modernen, complicirten Kultnrbestrebungen eingetreten ist,
feiert des Lenzes Wiederkehr mit verschiedenen für die Volks-
kunde stets interessanten Gebräuchen. Was Wunder, wenn
auch die transsilvanischen Zeltzigeuner, die im Winter und
Sommer, zu jeder Zeit des Jahres, draußen in der freien
Natur ihr „Heim" haben, die Wiederkehr der milderen
Jahreszeit durch verschiedene Gebräuche feiern. Schon an
der Schwelle des Winters spricht der transsilvanische Zelt-
zigeuner seine Sehnsucht nach dem Sommer mit eigenthüm-
lichem Humor also aus:
Nä bin äkänä niläy
Cin e vreme lulerväv;
Te kämeskro tätipestär
Devleskero bä<jt mäy jial.
Cin krecuno hin ^äben
Te yevende soviben,
Pal pdträyi me ushcäv,
Hin selenes e besä!
Für den Wandcrzigeuner
des Hungerns und Darbens:
und die laue Sommerluft sei
er Armuth und Elend, Noth
Rasch entfloh die Sommerszeit
Und der Lenz ist noch gar weit;
Mit dem warmen Sonnenschein
Zieht auch Gottes Segen ein.
Bis Weihnachten, Gott sei
Dank!
Hab' ich reichlich Speis' und
Trank,
Und bis Ostern schlaf' ich halt!
Wach' erst auf, wenn grün der
Wald!
ist eben der Winter die Zeit
; wenn aber „grün der Wald"
n Zelt umweht, dann vergißt
und Pein:
Niläye o gulo käm män
tätyärel,
Mro coripen äkänä män
bisterel!
Co me keräv, tbe me som
coro?
Mänge dostä, the o käm
täto!
Golden scheint auf mich der
Sonnenschein,
Läßt vergessen mich die Noth
und Pein!
Was kann ich dafür, daß ich
so elend, arm?
Mir genügt's,daßjetsidie Sonne
scheint recht warm!
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebränche der transsilvanischen Zeltzigenner.
Ñ49
Die fast allen europäischen Völkern eigenthümliche Idee
vom Kampfe der beiden, schon von den Alten personifizirten
Jahreszeiten, Winter und Sommer, findet sich auch bei den
transsilvanischen Zeltzigeunern vor, deren diesbezügliche Ge-
bräuche — meiner Ansicht nach — mehr oder weniger auf
ihre Urheiniath, auf Indien hinweisen, wo um diese Zeit der
Sieg der Göttin Talami über den Herrscher der Finster-
niß (des Schattens) gefeiert wird.
Schon am Nachmittage des Sonntags vor Ostern wird
„die Alte zersägt" (p^nres yon einen), d. h. der Winter
wird bezwungen; das Volk giebt dabei gleichsam den zu-
schauenden Chor ab und preist den Ueberwinder, indem es
folgendes heterogene Lied singt:
Devlá diuál te cirlá
Lume mreske luludyá,
Euke tátyáres lumá,
Enke difí al páshálá;
Devlá já te pál man ge,
Kere more shuládyom
Kai skámino me shárdyom.
Gott, Du hast die Welt ent-
zückt,
Hast mit Blumen sie geschmückt,
Hast erwärmt die weite Welt
Und den Ostertag bestellt;
Kehr' nun, Gott, bei mir auch
ein,
Meine Hütt' ist ausgefegt,
Reines Tischtuch aufgelegt.
Es wird nämlich ein Strohpopanz in Frauenkleidern
auf einem freien Platze über Balken gelegt, von den An-
wesenden mit Knütteln geschlagen und dann von ver-
mummten Männern entzwei gesägt und schließlich ver-
brannt. Diese Ceremonie gilt der „Schattenkönigin"
(ushalyakri thagari) und heißt daher dieser Sonntag vor
Ostern „der Schattentag" (ushalyakri jives). Diesem
Popanz werden Kleider der zuletzt Wittwe gewordenen Frau
angezogen, die sie gerne hergiebt, da ihrem Glauben gemäß
das Verbrennen der Kleider für einen Gruß an ihren ver-
storbenen Gemahl gilt.
Die ganze Charwochc hindurch beschäftigen sich die
transsilvanischen Zeltzigeuner mit der Verfertigung von
Zauber- und Charlatanmitteln, von denen ich einige hier
anführen will.
Haselruthen, in der Charwoche geschnitten, beschützen
vor dem Blitze Gebäude und Zelte, in denen sie aufbewahrt
werden. In dieser Woche kommt auch die Haselschlange,
die sonst hundert Meilen tief in der Erde haust, zwischen
die Wurzeln des Haselstrauches. Wer sie bei der Gelegen-
heit, wo sie den Osterthau trinkt, fangen kann, der wird vor
Schaden und Unglück bewahrt und erlangt sogar allerlei
übernatürliche Gaben und Kenntnisse. Solche Hasel-
schlangen verkaufen die schlauen Zcltzigeunerinncn der
rumänischen Landbevölkerung Siebenbürgens am ersten
Ostertage dutzendweise; sie fangen nämlich schon den Som-
mer vorher kleine, junge Eidechsen, die sie getödtet an der
Sonne oder am Feuer trocknen und dörren, den Kadaver fär-
ben sie mit einer Lackmuslösung und schließlich verkaufen sie
dieses Wunderthicr den leichtgläubigen Bäuerinnen. Ein
gabelförmig endender Haselzweig, der in der Christ-, Char-
freitags- oder Johannisnacht mit einem noch nie gebrauchten
Messer abgeschnitten wird, besitzt die kostbare Befähigung,
unter der Erde liegende Metalle, Erzgängc, Schätze und
Wasser aufzufinden, aber nur in dem Falle, wenn man das
besondere Glück gehabt hat, den Zweig gerade zu der Zeit
zu schneiden, zu welcher die Haselschlange ein Ei gelegt hat.
Um die Befähigung dieser Wünschelruthe zu erproben, faßt
man dieselbe mit beiden Händen so, daß man die beiden
dünnen, gabelförmigen Enden des Haselzweigcs in die Hände
nimmt, indem man die kleinen Finger gegen einander, die
Daumen aber aufwärts kehrt, so daß die Ruthe dem
Himmel zugewendet ist; sodann durchschreitet der Suchende,
ohne einen Ton von sich zu geben, die Gegend, wo er
Schätze vermuthet, und wenn er dem gesuchten Gegenstände
nahe kommt, so wendet sich die Ruthe uni, indem das gegen
den Himmel stehende Ende gegen die Erde schlägt. Eine
weiße Flamme bricht dann aus dem Erdboden, wo der
Schatz begraben liegt, hervor; um diese Flamme muß der
Suchende dreimal im Kreise gehen und den Spruch hcr-
murmeln:
Ttznvusheyá, P§uvusheyá!
The árákáv sommákuñá:
Tut me sigo sátyáráv
Keráv tute trin láncá;
Yeká keráv devleske,
Somnakuni guleske
Jesuseske, rákleske
Dáv me yeká rupune;
Keráv ákkor me trite
Guie Máriáke!
Devleske á,náveste prejiá!
Pfuvusch-Mann, Pfuvusch-
Mann U,
Wenn ich das Gold finden kann:
Will ich dein Heil erretten,
Machen lass' ich drei Ketten;
Die eine für Gott, so gütig
und hold,
Die lass' ich machen aus lau-
terem Gold;
Für Jesus Christus, das Gottes-
kind,
Zur Kette ich blankes Silber
find';
Die dritte, die lass' ich machen
traun!
Für Maria, die schönste aller
Frau'n!
Im Namen Gottes weich' von
mir!
Dann kaun er den Schatz heben.
Wer zu Ostern ein Eulenei findet, kann gar leicht in
Besitz des „Glückswurmes" (kirmo bagtalo) gelangen;
denn zu dieser Zeit legt die „Eulenmutter" Eier, die, in die
Erde unter einen Haselnußstrauch vergraben, nach sieben
Jahren ein Würmchen enthalten, das den jeweiligen Besitzer-
reich und glücklich macht. Dieser Glaube ist unter den
transsilvanischen Zeltzigeuuern so sehr verbreitet, daß —
wovon ich selbst Augenzeuge war — sie schon Wochen
lang vor Ostern nach Eulennestern ausspähen, um dann
die Eier am Ostertage sich anzueignen. Ein Märchen der
transsilvanischen Zigeuner, das ich hier in genauer Ueber-
setzung mittheilen will, illustrirt gar treffend diesen Oster-
glauben. Es lautet also:
Das Eulenei.
Vor vielen Jahren lebte einmal im Stamme der Aschani
ein Ehepaar, das geizig und ruchlos und von allen Stamm-
genossen gemieden wurde. Zum Glück hatte Gott diese
Ehe nur mit einem Kinde — einem Sohne —gesegnet. Als
dieser Sohn heranwuchs, da hatte sein Vater und seine
Mutter Tag und Nacht keine Ruhe, denn obwohl es ihnen
Leid that um das Essen, das sie ihrem Söhnchen verab-
reichten, so dachten sie doch bei sich, daß sie mit diesem
ihrem Kinde ihr Glück machen würden. Die Mutter hatte
nämlich in einer Osternacht, nachdem sie am Abend vorher
Fische gegessen Haltes, geträumt, daß ihr eine „kluge"
Frau * 2 3) gesagt habe, ihr Sohn werde das Ei der Eulen-
mutter finden und reich und glücklich werden. Dies stak
nun den geizigen Eltern im Kopfe. Ihr Sohn war gerade
sechszehn Jahre alt, als dieser Stamm das Fest der Schatten-
königin feierte. Die Leute führten die Gestalt der Schatten-
königin hinaus in den Wald und wollten sie gerade ver-
brennen , als ein Maschnrdalo4) heranstürmte und rief:
*) ZZfuvusche sind unterirdische Wesen von menschlicher Ge-
stalt. Sie haben unter der Erde ganze Städte, bewachen uner-
meßliche Schätze und kommen oft auf die Oberfläche der Erde.
S. „Globus" Bd. Dill, S. 187.
2) Fische vor dem Schlafengehen gegessen, bewirken, dem
Glauben der Zigeuner gemäß, Träume, die früher oder später
in Erfüllung gehen.
Ueber „die klugen Frauen", die im Besitze verschiedener
Geheimmittel sind, s. meinen Aufsatz: „Zauber- und Besprechungs-
sormeln der transsilvanischen und südungarischen Zigeuner" (in
den „Ethnologischen Mittheilungen aus Ungarn", herausg. von
Prof. A. Hermann in Budapest, Bd. I, Heft 1).
4) Der Maschurdalo (richtiger wohl Maschmurdalo, d. i.
Fleischtödter) ist ein Riese, der große Borliebe für Fleisch, be-
350
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner.
„Was, ihr wollt ein Weib verbrennen! Her damit!" Die
^eute liefen erschreckt zu den Zelten zurück, als der Maschur-
dalo die Strohpuppe ihnen entriß; nur der Sohn der
geizigen Eltern blieb ruhig am Platze. Als ihn der Ma-
schurdalo bemerkte, rief er: „He, du Junge! Du entschlüpfst
mir nicht! Komm' her! du sollst dies Weib mir nach Hause
tragen; dann werde ich dich schlachten und verzehren!"
Der junge Zigeuner mußte nun die Strohpuppe aufheben
und mit dem Maschurdalo nach dessen Wohnung hoch hin-
auf ins Gebirge gehen. Als sie in das Haus des Maschur-
dalo eintraten und derselbe die Strohpuppe untersuchte und
fand, daß sie kein menschliches Wesen sei, da rief er erschreckt
ans: „Du bist ein Zauberer! Du hast dies Weib in eine
Strohpuppe verwandelt! Verzeihe mir und lass' mir das
Leben, ich will dir Alles geben, was ich habe!" Schnell
gefaßt versetzte der Jüngling: „Ja, du hast Recht! Ich bin
ein Zauberer und will nun sehen, was du eigentlich besitzest!"
Hierauf ging er mit dem Maschurdalo aus einem Zimmer
in das andere und fand endlich in dem letzten Zimmer eine
wunderschöne Maid. Er fragte den Maschurdalo: „Wer
ist diese Maid'?" — „Sie ist die Tochter eines Königs",
versetzte der Maschurdalo, „und soll zu Ostern meine Frau
werden!" Der Jüngling sagte: „Das wird sie nicht werden!
Ich werde sie mit mir führen! Deine Schätze kannst du
behalten, wenn du mir ein Ei der Eulenmutter ver-
schaffst!" — „Das sollst du haben", versetzte der Maschur-
dalo, „ich führe dich hin zu ihrem Nest!" Und er führte
den jungen Zigeuner noch weiter hinauf in das Gebirge,
wo auf einem Baume aus goldenen Strohhalmen das Nest
der Eulenmntter stand. Der Maschurdalo holte ein Ei
herab und sprach: „In diesem Ei, das schon vor sieben
Jahren die Eulenmutter gelegt hat, ist der Glückswurm
schon drinnen!" Der Jüngling legte das Ei in seinen
Sack, holte sich die schöne Königstochter ab und ging zu
seinen Eltern. Als er ihnen sein Abenteuer erzählte, da
freuten sie sich so sehr, daß sie vor Freude starben. Der
junge Zigeuner beschenkte seinen Stamm reichlich und zog
zum König, dem Vater der schönen Maid, die er bald
hcirathete und in Glück und Frieden bis an sein seliges
Ende lebte.......
Gleich der Eule hat auch der Kuckuck seine Bedeutung
für die Osterwoche. Während dieser Zeit unter einem
Baum zu stehen, worauf sich ein Kuckuck setzt und schreit,
wird für eine gute Vorbedeutung gehalten. Wer ein Nest
mit einem Kuckucksci zu Ostern findet, wird das ganze Jahr
hindurch in seinen Unternehmungen Erfolg haben; wer aber
diesen Vogel im Jahre zum ersten mal gerade zu Ostern,
und zwar in sitzender oder liegender Stellung schreien hört,
der wird das ganze Jahr hindurch krank sein, und um
solches zu verhüten, muß er neun nial um den Baum
gehen, auf welchem der Kuckuck saß und etwas von der
Rinde essen. Wer seiner Sau zu Ostern Kuckuckseier oder
Euleneicr zu fressen giebt, bekommt von derselben in dem-
selben Jahre viele und schöne Ferkel. Wer am ersten
Ostertage einen Schmetterling stiegen sieht, der wird den
ganzen Sommer über Tag für Tag betrunken sein; wer
Frösche oder Fische schwimmen sieht, wird den Sommer
über nur Wasser trinken, uud wer eine Schlange erblickt,
der bekommt im Laufe des Jahres viele Geschenke.
Das eigentliche Frühlingsfest ist bei den transsilvanischen
Zeltzigeunern der „grüne Georg" (seien« Georgio), der
St. Georgitag, der nicht nach dem Kalender, sondern bei
den meisten Zigeunerstämmen gewöhnlich ani zweiten Oster-
tage abgehalten wird.
Am zweiten Ostertage, schon zeitig in der Frühe, strömen
die braunen Zeltbewohner an einen abgelegenen Ort, wo
sie vor jeder fremden Einmischung sicher sind. Am Vor-
abende wird zu dieser Feierlichkeit ein Weidenbäumchen ge-
fällt. Nun werden Blumen, Kränze und Laubgewinde am
Stamme befestigt. Dieser Baum wird von den Burschen
aufgehoben, worauf sich der Zug an einen abgelegenen Ort
begiebt, wo der Stamm in den Boden eingetrieben wird.
Die Hauptfigur des Festes ist ein Bursche, .der vom Kopf
bis zu den Füßen in grüne Blätter und Zweige, Blumen
uud Blüthen eingehüllt ist und deshalb eben der „grüne
Georg" heißt. Während die Zeltbewohucr sich um den
geschmückten Weidcnstamm lagern, giebt der „grüne Georg"
dem Vieh seiner Stammgenossen eine Hand voll Gras zu
fressen, wodurch dasselbe das ganze Jahr hindurch überall
saftiges, frisches Grün in Hülle und Fülle finden soll.
Dann wirft der „grüne Georg" drei eiserne Nägel, die
vorhergehend drei Tage und drei Nächte im Feuer gelegen
haben, ins nächste fließende Wasser, um dadurch die Nivaschi,
die Wassergeister, dem Stamme günstig zu stimmen. Schließ-
lich wird der „grüne Georg" zum Scheine ins Wasser ge-
worfen — zum Schein, denn in der That wird nur ein laub-
umwundener Popanz den Fluthen übergeben. Den Schluß
dieser Festlichkeit bildet die Vertheilung des sogenannten
Georgi-Kuchens, welcher die geheimnißvolle Kraft besitzt, daß
jeder, der davon zehrt, sich mit dem Geber — sei er ihm noch
so verhaßt — versöhnen muß x). In der Nacht des St.
Georgitages darf niemand außerhalb des Zeltes, im Freien,
schlafen, denn die Hexen können ihm gar leicht ein Leid zu-
fügen * 2). Ein Weib, das am St. Georgitage niederkommt,
kann — wenn nicht sofort Vorsichtsmaßregeln getroffen
werden, gar leicht Kröten zur Welt bringen; hierauf bezieht
sich das folgende Lied:
Adá ráklyi mán gogádyás,
Te mán bicáces thávdyás,
Andre cik yoy the kerneí
Ann Jivese Gregoreskro.
Arágádyol, ákáná
Está máy báre jámbá
Íáven leskre pera
'e bicáce vodyá!
Jene Maid, die mich belogen,
Die mich treulos hat betrogen,
In dem Koth verfaulen mag
An dem heil'gen Georgstag.
Liegt sie dann in Kindes-
nöthen,
Sollen sieben große Kröten
Fressen ihren schwnng'ren Bauch
Und ihr falsches Herze auch!
Ostern ist überhaupt die Zeit der „Liebesahnungen".
Am zweiten Ostertage, dem „grünen Georgstage" fasten die
Zigeunerburschen und Mädchen und essen nur vom „Gcorgs-
kuchen" (marildi Gorgeskro), um sich dann beim Schlafen-
gehen ein Frauen- beziehungsweise ein Mänuerkleidungsstück
unter das Haupt zu legen, im Glauben, daß man daun
seine zukünftige Ehehälfte im Traume sehen werde.
Noch eines besonderen Ostergebrauches der transsilva-
nischen Zeltzigeuncr müssen wir an dieser Stelle gedenken,
der uns einen tiefen Blick in den geistigen, religiösen und
sittlichen Zustand dieses Wandcrvolkes thun läßt. Am
Abend des zweiten Ostertages nämlich verfertigen die trans-
silvanischen Zeltzigeuncr ein hölzernes, einer Schachtel ähn-
liches Gefäß, das sie „Sendung", „Gabe" (bicapen) be-
nennen. An der äußeren Fläche des Bodens sind zwei
Querhölzer angebracht, so daß das Gefäß die Gestalt einer
Wiege hat. In dieses Gefäß werden Kräuter und andere
sonders Menschenfleisch, hat, doch muß dasselbe von gesunden
Individuen herrühren. Er haust in Einöden und Wäldern,
wo er Thieren und Menschen auflauert. In Folge seiner
großen Dummheit und Leichtgläubigkeit wird er von den Men-
schen gar häufig überlistet und seiner großen Schätze beraubt.
Wer ihm in der Noth beisteht, dem ist er stets behülflich.
0 S. meinen Aufsatz: „Stamm- und Familienverhältnisse
der transsilvanischen Zeltzigeuner" („Globus", Bd. LIII. S. 188).
2) Aehnlich bei Halirich-Wolsf, Zur Volkskunde der
Siebenbürger Sachsen, S. 286. ein siebenb. - sächsischer Aber-
glaube.
kürzere Mittheilungen.
351
Heilmittel, die vorerst jeder der Anwesenden mit den Fin-
gern berührt hat, hineingelegt; dann wird das Gefäß mit
rother und weißer Wolle umwickelt und vom ältesten der
Anwesenden von Zelt zu Zelt getragen. Sobald dies
geschehen, wird das Gefäß zum nächstgelegencn fließenden
Wasser getragen und dort zurückgelassen, nachdem es jeder
einzelne der Truppe einmal angespieen hat. Durch diesen
sonderbaren Gebrauch glauben sie alle die Krankheiten,
welche ihnen für das laufende Jahr vom Schicksal bestimmt
worden sind, vertrieben zu haben. Kommt nämlich jemand
und findet das Gefäß, so werden ihn und seinen ganzen
„Stamm" diese Krankheiten heimsuchen, wenn er das Ge-
fäß öffnet, und es nicht sammt dem Inhalt desselben in den
Fluß wirft. (Schluß folgt.)
Kürzere Mi
Der Sklavenhandel in Uganda.
Der französische Missionär Pöre Lourdel macht über den
Sklavenhandel in dem Königreiche Uganda folgende Angaben,
und weiß auch über die Lage Emin Pascha's im April dieses
Jahres Einiges zu berichten:
Die arabischen Händler halten sich einen Theil des Jahres
am Hofe von Mwanga aus, um die Sklaven zu erkaufen,
die der König auf seinem Gebiete und auf denen seiner
Nachbarn jagen und fangen läßt. Zn diesen Sklavenjagden
schickt er öfters Arnreen von mehreren Tausend Mann ans,
die nach siegreichen Kümpfen nicht selten mit drei- oder vier-
tausend Sklaven zurückkehren. Der König sucht dann die-
jenigen aus, die er für sich oder für seine Häuptlinge bestimmt,
und überliefert die übrigen den mohammedanischen Händlern,
die sie entweder in Oberägypten verkaufen, oder ihren Glau-
bens- und Gcschäftsgenossen an der Küste, welche den ara-
bischen Markt versorgen. Das lukrative Geschäft bereichert
nicht nur die Araber, sondern versorgt König Mwanga mit
dem, was er bedarf, um sein Reich zu vergrößern, seine
Macht zu befestigen und die Zahl seiner Sklaven zu vermehren,
nämlich mit Waffen und Munition. Die Araber sind natürlich
von den Eingeborenen, unter denen sie wohnen, gefürchtet
und verhaßt, aber zu gleicher Zeit ist ihre Macht über den
schwachen Mwanga eine ungeheure. Sie benutzen dieselbe
mit Erfolg, um die Unternehmungen der Missionäre und
Europäer zu verdächtigen.
Als Herr Gordon, der Nachfolger des Herrn Mackay bei
der englischen Mission, nach Uganda kam, zeigten ihm die Araber
einen langen Brief an den König, wodurch dieser von dem
Vorhaben der europäischen Mächte, das ganze Land der Ein-
geborenen „aufzuessen", in Kenntniß gesetzt wurde. Die
Deutschen sollten die ganze Region zwischen der Zansibar-
küste und Unyanyembe, die Engländer Uganda und die be-
nachbarten Gebiete in Besitz nehmen. Nach Pöre Lourdel
brachte Herr Gordon ein Geschenk an den Bischof Parker
mit, sammt einem Briefe, in welchem auseinandergesetzt
wurde, daß er nicht hingekommen sei, um den Tod des
Bischofs Hannington zu rächen, sondern sein Volk zu unter-
richten. Mwanga wurde darüber sehr ärgerlich und sagte
dem Missionär, daß er ihn als Kriegsgefangenen betrachten
würde, falls die Europäer ihre Absicht ausführten, und falls
die Engländer etwa Uganda angreifen, oder sich in seinen
Handel an der Küste hineinmengen sollten, so würde er ihn
sogar tödtcn. Darauf sandte er einen Brief an Bischof
Parker, etwas Asche als Symbol der Kriegserklärung ent-
haltend, indenl er Pulver und Waffen requirirte, und sich an
sein Volk wendend, rief er mit wüthender Stimme: „Seht
ihr, wie mich dieser Weiße ins Gesicht beleidigt! Verhöhnt
ihn!" worauf der ganze Hof Gordon mit Schimpfreden
ttheilungen.
überschüttete. Es muß hier hinzugefügt werden, daß, wäh-
rend Päre Lourdel absolut zuverlässig ist, Herr Gordon in
seinen kürzlich erschienenen Briefen keine Schwierigkeiten mit
Mwanga erwähnt.
Die Absichten, welche der König den Europäern zuschreibt,
lassen ihn einen bevorstehenden Krieg für tvahrscheinlich
halten. „Kauft Flinten und Pulver!" predigt er seinem
Volke, und seine Häuptlinge versichern ihn, daß sie ihn mit
ihrem letzten Tropfen Blute vertheidigen und alle Weißen
vertilgen werden. Aber die Hauptgefahr in Uganda und in
Centralafrika überhaupt rührt nicht von den vermeintlichen
Absichten der Europäer, sondern vielmehr von den wirklichen
Thaten der Araber her.
Von dem schlechtesten Gesindel der Küste begleitet, schwärmen
sic gegen den Victoria Nyanza und besonders gegen Uganda
hin. Pöre Lourdel ist der Meinung, daß die Araber in
Wirklichkeit irgend ein größeres Eroberungsprojekt im Sinne
haben. Sicher ist es, daß sie ihr Möglichstes thun, um
die Weißen verhaßt zu machen und aus dem Kontinente
zu vertreiben. Das erste, meint Pore Lourdel, was die
Europäer, welche an die Gründung von Kolonien in Afrika
denken, thun müssen, ist: mit den Arabern und der Küsten-
bevölkernng vollständig ins Reine zu kommen. Um dies zu
bewirken, müßte man allen Handel an der Küste den Arabern
unmöglich machen und sic durch Verhängung der strengsten
Strafen an dem Jmportiren von Waffen und Pulver hindern.
Letzteren Schritt hätte man freilich schon längst thun sollen,
denn cs befindet sich augenblicklich eine ungeheure Zahl Feuer-
waffen in den Händen der Eingeborenen. In Uganda allein
giebt es viele Tausende von allen möglichen Konstruktionen, und
daraus erklärt sich auch die trotzige Haltung von Mwanga. Noch
einige Jahre dieses Handels, und das Reisen in Afrika wird
für Europäer unmöglich werden, außer unter Begleitung
einer wohldisciplinirten Armee. Der Handel in Waffen ist
es auch, der den Sklavenhandel so erfolgreich macht, denn die
Flinten dienen zur Bewaffnung der Schurken, welche die
Sklavenhändler begleiten, und das Unglück, das sie in Central-
afrika weit über den Albert Nyanza hinaus verursachen, ist
ein ganz unberechenbares.
Im April 1888 hatte man in Uganda noch keine Nach-
richten von Stanley. „Lebt er oder ist er todt?" fragt Pore
Lourdel, und auch er findet keine Antwort auf die Frage.
Als Thatsache behauptet er, daß man in dem Augenblick, wo
Stanley im Begriffe war, den Kongo zu verlassen, in Uganda
von seiner Reise und von seinen Plänen hörte. Mwanga
wurde dadurch so sehr in Schrecken versetzt, daß er das Ende
seiner Regierung für nahe hielt. Alle fürchteten hinge-
schlachtet zu werden, sobald Stanley Uganda betreten sollte.
Aber ein Jahr ist vergangen, ohne daß man etwas weiteres
von Stanley vernommen hätte, eine Thatsache, die Pore
352
Aus allen Erdtheilen.
Lourdel sehr eigenthümlich findet, da der König augenscheinlich
die Mittel besitzt alles zn erfahren, was in der Nähe seines
Gebietes vorgeht. Leute, die in Wadelai gewesen und nach
Uganda zurückgekehrt waren, ehe der Missionar seinen Bericht
schrieb, behaupteten, daß Stanley nicht bei Emin Pascha sei. I
Es scheint Père Lourdel aber ebenso unmöglich, daß eine
kleine Armee von mehreren Hundert bewaffneten Leuten ver-
schwinden sollte, ohne daß jemand wüßte wohin, als daß
die Nachricht von Stanley's Tod unbekannt bleiben könnte,
wenn letzterer wirklich stattgefunden hätte. F.
Aus allen Erdthe ilen.
Europa.
— Auf der kleinen Karls-Insel, westlich von Goth-
land, ist vor kurzem eine Höhle entdeckt worden, in der sich
ähnliche Spuren von Höhlenbewohnern fanden, wie in
den Höhlen Schwabens, Englands rc. Dr. L. Kolmodin hat
dieselbe im Aufträge des Stockholmer Museums genauer
untersucht, und seine Ausbeute an Hausthierknochen, Topf-
scherben und Stein- und Knochenwerkzeugen ist eine reiche
gewesen. Auch ein Bruchstück von einem Menschenschädel
wurde gefunden.
— Der dänische Ingenieur Gläsner hat den Plan
eines Kanales von der Nordsee nach dem Kattegat
entworfen, der dem dänischen Reichstage zur Ausführung
empfohlen werden soll. Der Kanal soll bei Rödhuse, an der
Jammerbucht, beginnen und im ganzen neun dänische Meilen
lang und 25 Fuß tief werden, und an seinen beiden Mün-
dnilgen sollen geräumige Häfen von derselben Tiefe angelegt
werden. Die Kosten veranschlagt man nur auf 36 Millionen
Kronen (40 Vs Millionen Mark). Natürlich handelt es sich
bei dein Unternehmen um ein Konkurrenzunternehmen des
deutschen Nord-Ostsee-Kanales blos insoweit, als die dänischen
Häfen in betracht kommen. Eine Strecke sehr gefährlicher
See — die bei Skagen — wird ja zwar durch den Kanal
vermieden, nicht aber die Schwierigkeiten der Sund- oder
Belt-Passage. Selbst für Kopenhagen darf deshalb der
Erfolg angezweifelt werden.
— Nach den neuesten statistischen Aufstellungen hat
Bulgarien z n s a m in e n m i t O st - R u in el i e n eine Ein-
wohnerzahl von 3154 375. Der Nationalität nach sind da-
von 2 326 250 Bulgaren, 607000 Türken, 58000 Griechen, !
50 000 Zigeuner und 23 400 Inden.
Nordamerika.
— Auch das zweite Heft des „llournal of American
Folklore“ zeichnet sich durch mannigfachen und interessanten
Inhalt aus. Den Jndianerstämmen fällt natürlich der !
Haupttheil zu, aber neben den Cherokesen, Moques, Omahas I
und Missisagua werden auch die Schwarzen in Louisiana be- !
handelt, lind was für deutsche Leser von ganz besonderem
Interesse ist, die Deutschen in Pennsylvanien, welche in den
abgelegenen Distrikten den aus der heimischen Pfalz mitge- !
brachten Aberglauben zäh bewahrt haben, und daneben auch ein -
gutes Theil deutscher Sitten, von denen manche den prüden j
Amerikanern sehr anstößig erscheinen. Wir werden auf
diese von Dr. Hofmann herrührenden Artikel zurückkommen,
sobald die in Aussicht gestellten Fortsetzungen erschienen sind.
— Dem Kongreß der Vereinigten Staaten liegt gegen-
wärtig eine Bill vor, welche einige Distrikte des Südwestens
zn Nationaleigenthum erklärt, um die darauf befindlichen
indianischen Mounds vor Zerstörung zu schützen. Die An-
regung dazu ist von zwei Damen ausgegangen, die sich beide
durch Arbeiten auf dem Gebiete der Jndianerforschung einen
Namen gemacht haben, von Mrs. Alice C. Fletchcr und Mrs.
I. Stevenson. Das Gesetz ist dringend nöthig, wenn nicht
binnen weniger Decennien die letzten Bauwerke der Mound-
builders vom Boden verschwunden sein sollen.
Allgemeines.
— Vor kurzem hat das Repräsentantenhaus der Ver-
einigten Staaten von Amerika einen Beschluß genehmigt,
wodurch die Einladung Deutschlands, dem internationalen
Erdmessungsverein beizutreten, angenommen wird.
Somit sind nunmehr au diesem 1868 unter dem Namen
„Mitteleuropäische Gradmessnng" gegründeten Vereine außer
den deutschen Staaten beiheiligt: Oesterreich-Ungarn, Rußland,
Frankreich, Belgien, die Niederlande, Italien, Portugal, die
Vereinigten Staaten, Schweden, Norwegen, Dänemark,
Rumänien, Spanien und die Schweiz. Das Centralbüreau
der internationalen Erdmessung ist mit dem geodätischen
Institut zn Berlin verbunden. Den Beitritt der Vereinigten
Staaten zu dem Erdmeffungsverein hatte man schon längst
erwartet, da im Oktober 1884 auf Einladung der Regierung
der Bereinigten Staaten in Washington eine internationale
Meridian-Konferenz stattfand, welche sich für Einführung
eines einzigen Anfangs-Meridians bei allen Nationen ans-
sprach und empfahl, als ersten Meridian denjenigen der
Sternwarte zn Greenwich anzunehmen.
B ü ch e r s ch a u.
— Deutschlands Großindustrie und Großhandel.
(Abtheilung Thüringen. Bon L. C. Beck.) Berlin
18 88. — Es ist dies ein sehr werthvoller Beitrag zur
deutschen Wirthschaftsgeographie, der der rührigen Leitung des
„Centralvereins für Handelsgeographie", bezw. der „Deutschen
Exportbank" ebenso große Ehre macht wie dem Verfasser.
Die behandelten Distrikte (Rudolstadt, Sonneberg) sind kleine,
aber äußerst interessante. Wir wünschen dem groß angelegten
und schön ausgestatteten Werke guten Fortgang.
Inhalt: Dr. M. Hollrung: Das deutsche Schutzgebiet in der Südsee. II. (Mit zwei Abbildungen.) — Dr. Emil
Decker!: Die mongolische Wüste. (Mit vier Abbiidungen.) — Dr. Heinrich von Wli stockt: Festgebräuche der transsilvani-
schen Zeltzigeuner. — Kürzere Mittheilungen: Der Sklavenhandel in Uganda. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Nord-
amerika. — Allgemeines. — Bücherschau. (Schluß der Redaktion am 28. November 1888.)
Redakteur: Dr. E. Decker! in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschweig.
S|lit besonderer Herüclrsichtigung der Ethnologie, der Kulturderhältnisse
und des Melthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herailsgegeben von
Dr. Emil Deckert.
rr • Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 O O
<5 \ (l U U f u) IX) C l(J zum Preise von 12 Mark pro Baud zu beziehen. looo.
Das heutige Japan.
(Mit vier Abbildungen.)
Es sind nur 35 Jahre vergangen, seit der amerikanische
Cominodore Perry mit seinem Geschwader in die Bai von
Pedo hineindampfte und durch seine Energie die Regierung
Japans zwang, ihr altes Abschließungssystem aufzugeben;
und es sind nur 20 Jahre vergangen, seit das japanische
Staatsoberhaupt ans seiner gottähnlichen Verborgenheit
heraustrat, um aus eigener Initiative den Weg der euro-
päischen Reformen einzuschlagen. Und welche gewaltige
Umwandlung hat sich in dieser kurzen Spanne Zeit mit
dem ostasiatischen Jnselreiche vollzogen!
In der Bai von 2)cdo ebenso wie in derjenigen von
Osaka laufen nunmehr alljährlich Hunderte von europäischen
Schiffen ein; submarine Kabel setzen Japan mit der ge-
sammten anderen Welt in Verbindung; ein Netz von elek-
trischen Drähten sowie von Schiencnstraßcn überzieht anch
das Land selbst; das japanische Heer und die japanische
Flotte handhaben europäische Waffen; an den Hochschulen
zu Tokio tragen europäische Gelehrte über ihre Wissenschaften
vor, und eine förmliche Wallfahrt von jungen Leuten bewegt
sich alljährlich nach Europa, um daselbst die Geheimnisse der
europäischen Civilisation an der Quelle zu studiren. Denkt
man an die Zeiten v. Sicbold's zurück, wo Japan sich des
europäischen Einflusses spröder und hartnäckiger erwehrte
als selbst China, so will einem dies beinahe unbegreiflich
erscheinen.
Es scheint sich an Japan dieselbe geographische Regel
zu bewähren, die sich an allen Inseln, welche bis in das
Zeitalterder Entdeckungen ein abgeschiedenes Dasein fristeten,
Globus LIV. Nr. 23.
bewährt hat: ihre menschlichen Bevölkerungen und ihre Kultu-
ren vermochten vor einer ernstlichen Invasion nicht stand zu
halten — so wenig wie ihre thierischen und pflanzlichen Be-
wohner. Bezüglich der letzteren hat man bekanntlich hinter
dieser Regel das Walten eines Naturgesetzes zu erkennen ge-
glaubt. Sollte man vielleicht dasselbe glauben dürfen anch be-
züglich der ersteren? Unwillkürlich gedenken wir hierbei des
resignirten Wortes, das die Maori über das Schicksal ihrer
Rasse im Munde führen: „So wie der Klee das Farnkraut
tödtcte und der europäische Hund den Maori-Hund, wie
die Maori-Ratte von der Pakeha-Rattel) vernichtet wurde,
ebenso wird nach und nach auch unser Volk von den Euro-
päern verdrängt und vernichtet" 2).
Auf einer kleinen Zwerginsel oder aus einer Gruppe
von solchen Zwerginseln sind die originellen Formen durch
den plötzlich über sie hineinbrechenden Kampf ums Dasein
— an den sie nicht gewöhnt und für den sie nicht gewappnet
sind — allerdings rascher von den fremden Eindringlingen
verdrängt und von dem Erdboden weggefegt wie auf einer-
großen. Auf einer Rieseninsel mit Millionen von Be-
wohnern, oder auf einem aus Rieseninseln zusammengesetzten
Archipele, der eine geographische Einheit bildet, kann von
einer Ausrottung der menschlichen Bevölkerung durch ein
paar Tausend neuer Eindringlinge natürlich nicht die Rede
i) Das Maori-Wort „Pakeha" bedeutet „Fremder",
ch Vergl. Ferd. v. Hochstetter, Neu - Seeland (Stuttgart
1863), S. 479.
45
354
Das heutige Japan.
sein. Auch wenn die Waffen, die diese führen, übermächtige
sind, so stellen sich für die Eingeborenen mit der Zeit allerlei
Vortheile der natürlichen Position voraus, die dieselben be-
nutzen können, um sich zu halten. Der wichtigste dieser Vor-
theile liegt in der Regel in dem Klima, dem die Eingeborenen
adaptirt sind, die Fremden aber nicht. — Und dasselbe gilt
im allgemeinen auch von der Kultur, wenn auch in dieser
Beziehung die Zahl und Masse der beiden Gegner weniger
das ausschlaggebende Moment sein mag. Auf den Sand-
wich-Inseln mit ihren 58 000 Bewohnern ließen sich die
gesammten Kultur- und Wirthschaftsverhältnisse sozusagen
im Handumwenden von Grund aus umgestalten, und es
ließ sich aus einer Horde von anthropophagen Wilden ein
kleines christliches Völkchen mit europäischer Staatsform
machen. War aber eine ähnliche radikale Umwandlung der
Kultur auch von Japan zu erwarten, das an Territorial-
größe und Volkszahl europäischen Großmachtsstaaten wie
Britannien und Italien zur Seite gestellt werden kann?
Gewiß nicht; und um so weniger wohl, da die Kultur der
Japanesen nach vielen Richtungen hin eine hoch entwickelte
war, und da die damit zusammenhängenden wirthschaftlichen
und politischen Institutionen zum Theil von außerordentlich
komplicirter Art waren. Und wenn man Japan mit Neu-
seeland vergleicht, so muß man außerdem auch noch sagen,
daß seine Bevölkerung und seine Kultur bei weitem nicht so
insular genannt werden dürfen, wie die neuseeländische, und
daß ihm wenigstens in seinen Beziehungen zu Ostasien ein
Gewappnetsein im Kampfe um das Dasein durch seine Lage
keineswegs völlig erspart blieb.
Die Thatsachen, die wir heute an Japan beobachten,
bezeugen uns, daß die europäische Civilisation sich zwar in
ihrer Berührung mit der japanesischcn zweifellos als die
stärkere erwiesen hat, daß sie aber trotzdem fern davon ge-
blieben ist, die letztere vollkommen auszutilgen. Zum Theil
beschränken sich die Reformen, welche platzgcgrisfen haben,
auf die Oberfläche — sie erscheinen wie ein bloßer äußerer
Firniß oder wie eine bloße Politur —, und soweit sie
wirklich tiefer gegangen sind, so sind sie wenigstens nicht
mehr gewesen als ein Ferment, das gewisse neue Gührungen
in der japanischen Kultur eingeleitet hat, das aber das
wirkliche Wesen derselben nicht hat verändern können. Ge-
waltig sind die Umwandlungen, die in den beiden letzten
Jahrzehnten mit Japan vor sich gegangen sind, sicherlich,
und in vielen Beziehungen sind sie kaum weniger frappante
wie bei den Inseln Polynesiens, aber man muß sich hüten
sie zu überschätzen, und man muß sich vor allen Dingen
nicht zu der Erwartung verleiten lassen, als werde das
Vorwärtsschreiten in dem europäischen Gleise mit denselben
Riesenschritten weiter gehen, wie es begonnen wurde.
Sehen wir uns die häuptsächlichsten Neuerungen, um
die es sich hierbei handelt, etwas näher an.
Als die wichtigsten und folgenreichsten derselben, und
zugleich auch als diejenigen, bezüglich denen Rückschläge so
gut wie ausgeschlossen sind, sehen wir die europäischen
Verkehrseinrichtungen an, die Japan angenommen hat.
Die Kabel, die Nipon mit Wladiwostock und Shanghai-
Hongkong in Verbindung setzen, wird man schwerlich wieder
zerschneiden. Dieselben halten das Land aber in einem intimen
Eonnexe mit Europa, und sie dienen gleichsam als Kanäle,
in denen beständig europäischer Geist nach Japan überfließt.
Dieselbe Funktion üben sodann auch die regelmäßigen Dampfer-
linien von Yokohama nach London, Liverpool, Bremen, Mar-
seille, Triest, San Franzisko und Vancouver, und sie thun
es um so kräftiger, als sie auch die gesammten wirthschaft-
lichen Verhältnisse Japans enger und enger mit denjenigen
der europäischen Länder verknüpfen. Auch an ein Wieder-
einstellen ihrer Fahrten ist nicht gut zu denken. In dieser
Beziehung sind die Zeiten Taikosamas, der das berühmte
Verkehrsverbot erließ, das bis zu der Perry'schen Flotten-
demonstration in Kraft blieb, ein für allemal vorüber. —
In seinem Innern besitzt Japan heute ein alle Hauptorte
mit einander verbindendes Telegraphen-Netz von nahezu
10 000 Irin Länge, und die Benutzung zum Geschäfts-
verkehre und Gedankenaustausche ist seitens der einheimischen
Bevölkerung eine stetig steigende gewesen, so daß sich die
Zahl der aufgegebenen Depeschen bereits im Jahre 1885 auf
mehr als 2Hz Millionen belief. Eisenbahnen waren ansang
1888 nahezu 1000 km im Betriebe H, und auch dieses
Kommunikationsmittel erfreut sich der steigenden Gunst des
Publikums, so daß man sich beeilt, die noch vorhandenen
Lücken so rasch, als es die Finanzen erlauben, auszufüllen
— trotz der Schwierigkeiten, die das gebirgige und zer-
klüftete Terrain an vielen Orten bereitet. Auch in dieser
Beziehung sind also offenbar Schritte geschehen, die nicht
mehr zurück gethan werden tonnen. — Daß die Post-
einrichtungen ausgezeichnete sind, und daß Japan ein Mit-
glied des Weltpostvereins ist, darf hierbei auch nicht ver-
gessen werden.
Wie nun bei uns in Europa die mittelalterlichen Kultur-
und Wirthschaftsverhültnisse durch die modernen Verkehrs-
mittel erst vollständig beseitigt worden sind, und wie dadurch
bei uns eine ganz neue Aera eingeleitet worden ist, so kann
ähnliches auch in Japan nicht ausbleiben. Da es aber eine
Haupttendenz des Schnellverkehrs ist, das wirthschaftliche
und politische Leben der Völker zu centralisiren, so werden
dadurch uameutlich die mit Europa am engsten verbundenen
Punkte (Yokohama-Tokio und Osaka-Hiogo) einen immer
maßgebenderen Einfluß erlangen.
Einen Theil seiner Eigenart wird Japan nichtsdesto-
weniger auch tut Verkehrsleben behalten. Man weiß vor
allen Dingen, welche hervorragende Rolle die Menschen-
arbeit bei der Beförderung von Lasten und Personen in
dem Lande spielt, wie in den Straßen der Hauptstädte
schwerbeladene Frachtkarren statt von Zugthieren von Men-
schen in Bewegung gesetzt werden (S. Abbildung 2), wie
die Dschinrikischas (S. Abbildung in Nr. 15, S. 229)
zusammen mit den geschlossenen Sänften („Noriuions")
und offenen Tragstühlen („Kagos") unsere Droschken ersetzen
müssen, wie man an den Furtstellen der Ströme auf den
kräftigen Schultern einer bestimmten Klasse von Trägern
von Ufer zu Ufer gelangt rc. Auf den großen Heerstraßen
von Hauptstadt zu Hauptstadt — dem Tokaido, dem Naka-
sendo rc. — wird diese Transportweise nun aller Wahr-
scheinlichkeit nach durch die Eisenbahnen mehr und mehr in
den Hintergrund treten. Auf den Nebenstraßen des Landes
sowie auch innerhalb der Städte wurzelt sie aber zu tief
in dem natürlichen Bedürfnisse und in der historischen
Entwickelung, als daß sie dort auch aufgegeben werden
sollte. Der Bau von fahrbaren Kunststraßen nach unserer
Art ist durch die gebirgige Beschaffenheit des Bodens, durch
die Heftigkeit der Niederschläge und durch die Hochflutheu
der reißenden Ströme ungemein erschwert, und zugleich
ist die menschliche Arbeit infolge der Dichtigkeit der Be-
völkerung , sowie infolge gewisser Eigenthümlichkeiten der
wirthschaftlichen Entwickelung — wir denken besonders an
das Dominiren der Agrikulturinteressen — auch sehr billig.
Daß in den Verrichtungen der Träger und Karreuleute
eine Verleugnung der Menschenwürde liege, kann man nur
0 Die Hauptlinien führen von Yokohama nach Tokio, von
Tokio nach Majebaschi, von Takasaki nach Pokogawa, von Ta-
ketoso nach Kisogava, von Omipa nach Utsunomiha und Shira-
gawa, von Osaka nach Hiogo, von Osaka nach Kioti und Otsu,
von Osaka nach Sakai. Kioto-Yokohama und Hiogo-Osaka sind
also bereits namhafte Eisenbahnknotenpunkte.
Das heutige Japan,
355
vom europäischen Standpunkte aus behaupten, nicht aber
vom japanischen.
Aehnliche entscheidende Reformen wie im Verkehrswesen
sind auch im Unterrichts- und Bildungswesen vorgenommen
worden, und auch dabei hat die europäische Kultur un-
zweifelhaft einen weittragenden Sieg über die Kultur des
ostasiatischen Jnselreiches davon getragen. Dadurch, daß
in Japan bereits ein volles Jahrtausend obligatorischer
Schulunterricht besteht, war dieser Sieg nur um so glän-
zender und vollständiger. Die Insulaner begriffen leicht,
was man in der Sternenkunde mit dem Teleskop, und was
man ut der Stein- und Pflanzen- und Thierknnde mit dem
Mikroskop anfinge, wie man die Stoffe chemisch analysiren
könne, wie man genaue topographische und geologische
Karten aufnähme rc. Die Fortschritte, die Japan in dieser
Richtung gemacht hat, sind in der That außerordentliche,
Der Tokaido unterhalb Hatta.
und auch darin kann von einem Zurückweichen keine ¿)tcbc
mehr sein. Aber auch dabei wird der Europäisirnngsprozcß in
einer bestimmten Linie seine Grenze finden. Der japanische
Volksgeist hat auch darin durch eine tausendjährige Ge-
schichte nationale Eigenart genug erhalten, als daß zu be-
fürchten sein sollte, er werde uns schließlich nur eine Kopie
des französischen oder des englischen oder des deutschen
zeigen. Anfangs konnte das vielleicht scheinen, aber schon jetzt
ist ein gewisses Emancipationsstreben in der Ration lebendig,
und mit der Zeit wird dasselbe sicherlich stärker und stärker
werden. Die Mehrzahl der fremden Gelehrten, die an den
japanischen Bildungsanstalten thätig sind, werden sich dann
ihres Lehrmeisteramtes begeben müssen, und nationale Ge-
lehrte werden an ihre Stelle treten, um ihr Werk fortzu-
setzen; dieses Werk wird aber dadurch natürlich den mannig-
faltigsten Modifikationen unterworfen sein. Eine große
Zahl junger Männer, die an den europäischen Universi-
täten und Fachschulen ihre Ausbildung erhalten, berechtigt
aber zu der Hoffnung, daß Japan auch dann noch schöne
Knltnrblüthen hervorbringen werde. So unmittelbar bevor-
45*
356
Das heutige Japan.
Waaren - Transport in Japan.
Das heutige Japan.
357
stehend, wie die nationale Eigenliebe vieler Japanesen glaubt,
dürfte dieses Entwickelungsstadium allerdings nicht sein.
Was das politische Leben anlangt, so ging es damit
im Anfange ebenfalls Hals über Kopf. Man wollte das feu-
dalistische Mittelalter in einem einzigen Anstürme über-
winden, man wollte die Daimios (den hohen Lehnsadel),
ebenso ohne weiteres bei Seite schieben wie den Schognn,
man wollte die parlamentarische Staatsform einführen rc.
Gerade bei den politischen Umgestaltungen stellte es sich aber
durch die Erfahrungen, welche man machte, gar bald her-
aus, daß es ein übles Ding ist, dabei einfach nach einem
fremden Muster zu verfahren. Es bildeten sich zwei Par-
teien, die einander schroff gegenüberstanden, und von denen
die eine zäh an den althergebrachten Einrichtungen, sowie
an der alten Tracht festhielt, während die andere nur dulden
wollte, was rationell und europäisch war. Sodann brachen
offene Empörungen ans, zuerst (1873) die von Saga,
die mit Hilfe der europäisirten Kriegsmittel, über die die
Regierung des Mikado verfügte, rasch gedämpft wurde,
und später (1877) die von Satsuma, die die schlimmste
Typus eines japanischen Kleinhändlers.
Krisis bezeichnet, welche das neue Japan zu bestehen gehabt
hat. Ging sic doch von dem hochverdienten General Saigo
Kichinosuke aus, dem der Mikado eigentlich die Retablirnng
seiner weltlichen Macht verdankte, und der sich unter den
japanischen Staatsmännern des allerhöchsten Ansehens zu
erfreuen hatte. Schließlich ist ein stillschweigender Kom-
promiß zwischen den japanischen Fortschrittsleuten und
Konservativen geschlossen worden, als dessen Ergebniß man
den gegenwärtigen politischen Zustand des Landes zu be-
trachten hat. Das Alte ist dadurch in jedem Falle nichts
weniger alsZvollstündig beseitigt. Da die ganze politische
Entwickelung Japans schon vor der Europäer-Invasion
mannigfache Anklänge an diejenige Deutschlands bvt, so
darf man es vielleicht als eine günstige Wendung für den
Staat bezeichnen, daß man neuerdings darauf bedacht ge-
wesen ist, die politischen Institutionen eher nach Analogie
der deutschen zu gestalten, als nach Analogie der englischen
oder der (kaiserlich-)französischen. Die öffentliche Meinung
und die politische Presse hat es rasch zu beträchtlichem Ein-
flüsse gebracht, und darin erblicken wir wieder auf der einen
358
Das heutige Japan.
Seite eine Garantie gegen das Zurückfallen in überlebte
Formen, andererseits aber auch eine Garantie gegen das
vollkommene Ueberwnchertwerden des national Eigenartigen
und des historisch Gewordenen und Gewachsenen.
In der Organisation der Rechtspflege nach europäischem
Muster hat inan, veranlaßt durch den Wunsch, die Kon-
sulargerichtsbarkeit der Femden zu beseitigen, große Fort-
schritte gemacht, und da nian voraussichtlich auf dem betre-
tenen Wege beharren wird, so ist die Zeit wohl nicht mehr
sehr fern, in der man Japan als einen ebenso vollkommenen
Rechtsstaat wird gelten lassen müssen, wie die europäischen.
Und das ist um so anerkennenswerther, als die Schwierig-
keiten, welche dabei zu überwinden waren, besonders große
waren. O. Rudorfs sagt darüber sehr richtig: „Wir
müssen uns vergegenwärtigen, wie zunächst ans dem Groben
heraus zu arbeiten war, daß die Grundlagen des Staats-
wesens verrückt waren, daß auf den Trümmern des zer-
schlagenen Lehnswesens nach besten europäischen Mustern
ein Rechtsstaat aufgerichtet werden sollte, für dessen Ban
nichts weiter als eben diese große allgemeine Idee bereit
war, keine Gesetze, keine Richter und am wenigsten ein
Volk, daß diese Idee auch nur verstanden hätte, wie es
denn (außer den Samurai, die nur zu bald einsahen,
daß der neue Kulturstaat die eigene Existenz bedrohte
und vernichten mußte) an dieser ganzen Umwälzung von
oben keinen Theil hatte. Man suchte sich also ganz
verständig zunächst die allgemeinen Grundlagen zu ver-
schaffen, schickte Japaner zum Rechtsstudium nach Frank-
reich, Belgien, England, Deutschland, Amerika, zog zuerst
französische Rechtsgelehrte ins Land und' bemühte sich
wenigstens äußerlich die Justiz von der Verwaltung zu
trennen und jene selbständig auszubauen. Dabei herrscht
offenbar Systemlosigkeit, während die materielle und geistige
Entwickelung des Landes und Volkes mit dem Bestreben
Straße in
der Regierung, europäische Rechtseinrichtungcn einzuführen,
nicht gleichen Schritt hält und namentlich Mangel an Per-
sonal und Verkehrsmitteln oft störend in die Organisation
eingreift. Obwohl diese Hindernisse heute noch nicht be-
seitigt sind, scheint man schon bei Beginn des zweiten Jahr-
zehnts * 2) in maßgebenden Kreisen der Ansicht gewesen zu
sein, daß sie gehoben seien, und daß nun mit systematischer
Organisation in großem europäischen Stile begonnen werden
könne. Wenigstens glaubte man einer solchen Ansicht da-
mals, kurz vor Eröffnung der Präliminar-Konferenz über
die Vertragsrcvision I öffentlichen Ausdruck geben zu müssen,
indem man 1880 zwei große Gesetzbücher nach durchaus
europäischem Schnitt: die Straf-Prozeßordnung und das
Strafrecht mit Gesetzeskraft vom Januar 1882 publicirte.
I Mittheilungen der deutschen Gesellschaft für Natur- und
Völkerkunde Ostasiens in Tokio, 1888. S. 426.
2) Seit 1881.
8) 25. Januar 1882.
Iokohama.
Damit wurde also die Epoche systematischer Organisation
eines Rechtsstaates eröffnet, in welcher wir uns noch gegen-
wärtig befinden." Der praktischen Ausführung dieser Ge-
setze stellen sich freilich die realen Verhältnisse noch allent-
halben entgegen, das Land und Volk ist dafür noch immer
nicht genügend vorbereitet, und in der Hauptsache stehen
sie zuvörderst noch immer nur auf dem Papiere. Vielleicht
könnte aber gerade im Nechtswcsen die Europäisirung Japans
im Laufe der Zeit am allerweitesten fortschreiten.
Gedenken wir schließlich noch der Heeres- und Flotten-
organisation, so haben wir darauf hinzuweisen, daß Japan
im Jahre 1886 eine reguläre Armee von etwa 70 000
Mann besaß, die ganz in europäischer Weise geschult und
bewaffnet war, und daneben auch noch eine Kriegsmarine,
die ans 25 größeren und kleineren Fahrzeugen bestand, und
die 172 Geschütze von der besten Konstruktion führte.
Außerdem war man auch eifrig am Werke, die beiden
großen Kriegsapparate noch weiter zu verstärken, und zwar
Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner
wie zur Genüge bekannt ist, vorwiegend nach dem bewährten
deutschen Muster. Ob sich die Umgestaltung Japans
in dieser Hinsicht auf mehr als auf die äußere Form er-
streckt, das ließe sich gründlich wohl nur in einem Kriege
mit irgend einer europäischen Macht beurtheilen; ein solcher
ist aber für das Land glücklicherweise nicht sehr in Aussicht.
Sollte es sich dereinst einmal als Bundesgenosse Englands
und Chinas und als Gegner Rußlands an dem Kampfe
um Korea betheiligen, so würde es immerhin leicht ein
Faktor sein, mit dem zu rechnen sein würde. So wie das
Heer und die Flotte Japans jetzt sind, haben sie sich wenig-
stens bereits als starke Stützen der Mikado-Gewalt und der
durch die Mikado-Regierung vertretenen Reformbestrebungen
bewährt. Das Element der Ausländer hat in dem japa-
nischen Vertheidigungswesen im Beginne der neuen Aera
zwar eine sehr wichtige Rolle gespielt, der Zahl nach ist es
aber eigentlich niemals sehr stark gewesen.
Bezüglich der Tracht, der Lebensweise, der Art zu
wohnen rc. ersparen wir uns die Diskussion im Einzelnen.
Es sind in dieser Hinsicht bisher nur die oberen Stände
und die großen Städte von der neuen Strömung fortge-
rissen, die niederen Volksklassen und das platte Land sind
dagegen der Hort des Nationalen geblieben. In Tokio,
Yokohama und Osaka hat man sich zum Theil in europäische
Fracks und Stiefeln kleiden, Fleischkost genießen, in Stein-
häusern wohnen gelernt, in der weitaus größten Mehrzahl
der Ortschaften ist dies aber nicht der Fall, und selbst in
Tokio und Yokohama giebt es zuvörderst genug Bilder, die
man als specifisch japanische wird gelten lassen müssen.
(S. Abbildung 3 und 4.)
Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigenner
Von Dr. Heinrich von Wlislocki.
(Schluß.)
Auch die Pfiugstgebräuche der transsilvanischen Zelt-
zigeuner beziehen sich zumeist auf die Vertreibung und Ver-
hütung von Krankheiten, Unglück u. dgl. m. Pfingsten,
dies wundervolle Fest des christlichen Kosmopolitismus,
feiert auch der transsilvanische Zigeuner, freilich nach seiner
Gesühlsweise, im Liede:
Shukar ciriklo shadel,
Romores räkles gucel:
„Hei! pinkeshish mar ävel,
Thehamär yevendbidshtel!“
Froh das Bögleiu im Walde
singt,
Froh das Zigeunerkindlein
springt:
„Wird es nur einmal Pfingsten
sein,
Ist vergessen des Winters
Pein!"
Die Nacht vor Pfingsten ist besonders geeignet zum
Verfertigen verschiedener Mittel, durch welche man sich vor
Krankheiten schützen kann. Wenn jemand das ganze Jahr
hindurch gesund bleiben will, der muß in dieser einen Teig
anmachen, in welchen er neun Zwirnfäden von verschiedener
Länge hineinknetet; daun muß er diescu Teig in ein neues,
nie gebrauchtes Thongefäß legen und das Ganze, sich der
Wasserströmung zuwendend, in den nächstgelegenen Fluß
oder Bach werfen, und zwar mit den Worten: „Gehe, gehe!
komm' nimmer zurück! Der Nivaschi (Wassergeist) soll dich
fressen!" („Ja tu,ja! tenaava! Tut the gal Nivashü“)—
Wer in der Pfingstnacht drei Frösche findet, gelangt in den
Besitz eines guten Mittels gegen das Fieber; denn die drei
Froschlungen und Lebern getrocknet und zu Pulver gerieben,
werden in Branntwein dem Fieberkranken zu trinken ge-
geben, wodurch seine Krankheit „gebrochen" wird; jedoch
muß der Kranke beim Trinken die Worte hersagen: „Frösche
in meinem Bauch, fresset alles Schlechte; Frösche iu meinem
Bauch, gebt dem Schlechten den Weg, damit cs weggehe!"
(„Quckerdya pal mre per, gaven save misege; gucker-
dya pal mre per, den misegeske drom, odoy prejial!“)
Bei diesen Worten muß der Kranke dreimal auf einen
Kreuzweg speien; wer dann in den Speichel tritt, der be-
kommt das Fieber. — Auch gegen das Berufen der
Kinder ist es gut, in der Pfingstnacht das folgende, unter
den transsilvanischen Zeltzigeunern allgemein verbreitete
Schutzmittel für vorkommende Fälle zu bereiten: In ein
Töpfchen Wassers, welches nicht gegen, sondern dem Flusse
nach geschöpft worden ist, werden sieben Kohlen, sieben
Hand voll Mehl und sieben Knollen Knoblauch gelegt und
zuin Feuer gestellt. Beginnt das Wasser zu sieden, so wird
der Inhalt des Napfes mit einer gabelförmigen, dreizackigen
Ruthe bei Hersagen folgenden Spruches umgerührt:
Miseg yakha tut dikhen,
Te yon kathe mudaren!
Te atunci efta coka
The gaven misege yakha;
Miseg yakha tut dikhen,
Te yon kathe mudaren!
But prahestar e yakha
Atunci kores th’ avnä;
Miseg’ yakhä tut dikhen,
Te yon kathe mudaren!
Pgabuvena, pgabuvena
Andre devleskero yakha!
Falsche Augen, die dich seh’n,
Sollen hier zu Grunde geh'n!
Sollen sieben Raben
Bald gefressen haben;
Falsche Augen, die dich seh’n,
Sollen hier zu Grunde geh’n!
Sollen durch recht vielen Staub
Werden bald der Blindheit
Raub;
Falsche Augen, die dich seh’n,
Sollen hier zu Grunde geh’n!
Sollen brennen, immer brennen
Und der Blitzstrahl sie ver-
sengen!
In dieser Formel, glaube ich, entsprechen die Raben
den in das Töpfchen geworfenen Kohlen, der Staub dem
Mehl, und die Knoblauchsknollen sollen etwa den Blitzstrahl
symbolisiren. Sagen doch die Zigeuner, daß der Blitz einen
Geruch zurücklasse, der dem des Knoblauchs ähnlich fei! —
Dieser Brei wird in ein Säckchen gefüllt und dasselbe bei
vorkommenden Fällen dem Kinde um den Hals gehängt.
Wer ferner in der Pfingstnacht Fische ißt und deren Gräten
unter einen Baum vergräbt, der bewahrt sich vor dem Blitz-
schlag uud kann während des größten Gewitters draußen
im Freien so lange weilen ohne Gefahr, bis daß die ver-
grabenen Fischgräten verfault sind; bis dahin ist er geschützt
vor dem „Gottesfeuer" (devleskero yakh).
In der Pfingstnacht blüht auch die „blaue Blume"
(vunete luludyi), die über verborgenen Schätzen aus dem
Erdboden hervorspießt; wer diese Blume, die gleich einer-
bläulichen Flamme weithin leuchtet, erblickt, der darf sie
nicht pflücken, sondern er muß warten, bis sie sich in die
mm
vwux
360
Dr. Heinrich von Wlis lockn Festgebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner.
Erde zurückzieht und daun kann er an dem Orte nach dem
Schatze graben. Ebenso kann man bisweilen in der
Psingstnacht die „Unsichtbarkeit", d. h. die Eigenschaft, in
mondheller Nacht nicht gesehen zu werden, sich aneignen,
wenn man um Mitternacht auf einen Kreuzweg geht, mit
der linken Hand einen Kreis auf die Erde um sich selbst
zieht und diese Worte spricht: „Nicht sieh, wenn ich sehe;
wenn ich nicht sehe, dann sieh du! Drei Phuvusche mögen
mir geben drei Haare auf meinen Kopf, damit mich Nie-
mand sehe, wenn ich es nicht will!" („Ná dikh, káná me
dikháv; káná me ná dikháv, átunci dikh! Trin Phu-
vushá den mánge trin bálá upro pro mro shero; ná
the dikhel niváso, káná me ná kámáv!“) Mit diesen
Worten legt der Betreffende Mist vor sich und entfernt sich
nur beim Anbruch der Morgendämmerung aus dem Kreise
und zwar im Glauben, daß auf seinem Haupte bald die
gewissen drei Haare wachsen werden, welche ein jeder Phu-
vusch besitzt, wodurch er eben in mondheller Nacht sich
unsichtbar machen kann.
Das Pfingstfest nennen die transsilvanischen Zeltzigenner
„weißen Sonntag" (párno kurko); und zwar, wie ich
glaube, nicht aus dem Grunde, weil sie an diesem Tage
neue Leibwäsche anzuziehen für glückbringend glauben, son-
dern vielmehr aus dem Grunde, weil sie an diesem Tage
ein eigenthümliches Todtenfest begehen. In der Pfingst-
morgendämmerung geht jeder einzelne Zeltbewohner für sich
allein zu einem Felsen oder Baume, an welchem er so viele
Eier zerschellt, als er Hingeschiedene zählt, an deren Tod er
sich selbst noch erinnern kann. Gut ist es, wenn diese Eier
aus einem Lcrchenneste genommen worden sind, denn nach
ihrem Glauben ist die Lerche der Lieblingsvogel der noch
nicht ins Todtenreich gelangten Seelen; daher wird es auch
für den kommenden Tag als gutes Zeichen angesehen, wenn
man morgens beim ersten Austritt ins Freie eine Lerche
singen hört. In weißen Kleidern begehen beide Geschlechter
dies Todtenfest, und ich glaube daher, daß sie auch das
Psingstsest den „weißen Sonntag" nennen; weiß ist übrigens
ihrem Glauben gemäß die Lieblingssarbe der Todten;
aus diesem Grunde wird auch in der Johannisnacht den
Todten in einem weißen Gefäße Milch und Wasser vor
das Zelt gestellt, damit sie sich daran laben mögen I. —
Die Vögel spielen überhaupt in den Psingstgebräuchen der
transsilvanischen Zeltzigeuner eine große Rolle. Am Pfingst-
morgen, bevor noch das Todtenfest begangen wird, stellen
sich die jungen Mädchen hinaus ins Freie, und wenn sie im
Osten Wolken bemerken, so werfen sie grüne Zweige in der
Richtung gen Himmel und rufen die Worte: „Flieg' fort,
Vogel, und nicht vertreib' meinen Liebsten!" (Prejia cirik-
leyá te ná trádá m’re piránes.) Sie glauben nämlich,
daß wenn am Psingstmorgen Wolken am östlichen Horizonte
schwimmen, in dem Jahre viele Maide ledig bleiben; wenn
aber dunkelblau der östliche Himmel ist, dann heirathen viele
Jungfrauen. Den Keim dieses Gebrauches finden wir viel-
leicht im indischen Mythus, demgemäß die glanz- und segen-
spendende Morgen- oder Frühlingssonne vom azurblauen
Vogel herstammt, der die Nacht oder den Winter versinnbild-
licht. Die Excremente dieses azurblauen Vogels sind eben die
Sonne, daher halten es auch die transsilvanischen Zigeuner
für glückverheißend, wenn auf Jemanden Vogelinist aus
der Luft herabfällt. Hiermit hängt wohl auch der Glaube
der Zigeuner zusammen, daß, wer zu Pfingsten das Ende
eines Regenbogens finden könnte, in den Himmel hinauf-
steigen und sich ewige Gesundheit und Schönheit von da
zu holen im Stande sei. Dem Glauben der transsilva-
nischen Zigeuner gemäß, erlangt ein Kind außergewöhnliche
i) S. meinen Aussät; im „Globus", Bd. PI, S. 249 ff.
Schönheit, wenn „das die Erde berührende Ende des Regen-
bogens über dasselbe hinwegzieht"; daher heißt es im Lied:
Käna m’re day man ker- Als die Mutter mich gebar,
dyas,
Upro ritos päsholyas, Grüne Au' ihr Lager war,
Deshvärselvar angruski Und dann ist ein Regenbogen
Upro pro man strafelyi! Ueber mir hinweggezogen!
Andakode den räklä Für mich gäbe schweres Gold
Vash man sei somnakuha. Deßhalb Mancher, der mir hold!
Sieht man zu Pfingsten einen Regenbogen, so ist es gut,
ein Messer in die Erde zu stecken und dasselbe bis zum
Verschwinden des Regenbogens dort zu lassen; mit diesem
Messer kann man am sichersten den „Tollwurm" unter
der Zunge rasender Thiere schneiden. Auch ist es gut,
wenn man zu dieser Zeit eine Kreuzspinne fängt, dieselbe
in eine Schachtel gelegt und sieben Tage lang über den Rauch
hängt; diese Spinne bei abnehmendem Mond verzehren, ist
ein „sicheres" Heilmittel gegen den Kropf.
Zum Schlüsse muß ich noch zweier interessanter Psingst-
gebräuche der transsilvanischen Zeltzigeuner gedenken. Am
„weißen Sonntag" wird nämlich das Holz zur „Zauber-
trommel" geschnitten und das Fell dazu präparirt. Diese
„Zaubertrommel" (covaganeskro buglo) ist eine trommel-
ähnliche Schachtel ohne Boden, deren Deckel durch eine
Thierhaut ersetzt ist. Diese Haut ist mit Strichen ver-
sehen, von denen jeder eine besondere Bedeutung hat; aus
diese Haut werden 9 bis 21 Körner von Stechapfelsamen
(peshosheskro) gestreut und durch eine bestimmte Anzahl
von Schlägen (9 bis 21) vermittelst eines kleinen Hammers
an die Seitenwand der Trommel in Bewegung gesetzt. Auf
und zwischen welche Striche diese Stechapfelsamenkörnchen
nun zu liegen kommen, wird auf Genesung oder Tod, Glück
oder Unglück u. s. w. geschlossen. Die gebräuchlichste und
einfachste Zaubertrommel ist die, deren Fell neun Striche
hat, die — wie aus folgender Figur
ersichtlich — also zu liegen kommen:
Die Seite A wird stets der Wahr-
sagerin zugekehrt, weshalb auch der Strich
a durch ein besonderes Zeichen hervor-
gehoben ist. Es werden nun neun
Stechapfelsamenkörnchen auf das Fell
geworfen und mit der linken Hand ver-
mittelst des kleinen Hammers oder in Ermangelung eines
solchen mit der Handfläche durch neun Schläge in Be-
wegung gesetzt. Kommen z. B. alle Stechapselsamen-
körner innerhalb der Striche begh zu stehen, so hat die
betreffende Unternehmung Erfolg, besonders wenn drei
innerhalb der Striche adef zu liegen kommen; fallen zwei
davon in den Raum zwischen ai, so ist beim Unternehmen
eine Frau behülflich, fallen sie aber zwischen if, so ist ein
Mann der Beförderer. Fallen aber alle, oder die meisten
Stechapfelkörner außerhalb der Striche begh, so ist Miß-
erfolg zu erwarten u. s. w. Es ließe sich überhaupt eine
ganze Abhandlung über das Verfahren bei der Wahrsagerei
mit der Zaubertrommel schreiben; vielleicht ist es mir ein-
mal vergönnt, den Lesern dieser Blätter eine ausführliche
Beschreibung dieses mystischen Verfahrens zu liefern.
Charakteristisch für die Zigeuner ist auch der Apparat,
zu dem sie das Holz in früheren Zeiten ebenfalls zu
Pfingsten zu schneiden pflegten. Dieser Apparat, der be-
rechnet war, aus der Leichtgläubigkeit der „weißen" Leute
Geld zu schlagen, steht heutzutage nicht mehr in Gebrauch,
und meines Wissens besitzt nur noch eine Matrone des
Aschani-Stammes —die als „kluge Frau" weithin berühmte
Julia Kardalo (genannt Bibalengro = Haarlose) aus der
Sippe Tukoro — einen solchen Apparat, dessen Einrichtung
zu erforschen mich schwere Mühe und viel Geld gekostet
hat. Dieser Apparat diente dazu, daß man durch ihn den
Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
361
sehen konnte, der z. B. etwas gestohlen hat, und besteht
derselbe aus einem kleinen Schranke, in welchem eine von
außen drehbare, vierseitige Walze angebracht ist; über der
Walze ist ein Spiegel angebracht und zwar oberhalb der
Walze, einem in der Seitenwand des Schrankes befindlichen
Guckloche gegenüber. Ans zwei Seiten der vierseitigen Walze
ist je ein Bild eines Mannes oder Weibes angebracht. Wenn
der Fragende durch das Loch in den Schrank sieht, so erblickt
er sein Gesicht im Spiegel, weil die bilderlose Seite der Walze
dem Spiegel zugekehrt; während die Zigeunerin ihn durch
Fragen unterhält, dreht sie unbemerkt au der Walze, so daß,
wenn der Fragende abermals in den Schrank hineinblickt,
das Bild von der Walze im Spiegel erblickt; freilich sind
diese Bilder absichtlich .verwischt und erscheinen nur ver-
schwommen im Spiegel, indessen kann die erregte Phantasie
des Fragenden darin den vermeintlichen Dieb erblicken.
Solche Apparate sind, wie gesagt, nicht mehr im Gebrauche,
immerhin aber liefern sie einen Beitrag zur Kenntniß der
Spitzfindigkeit und somit auch zur Kenntniß des geistigen
und moralischen Lebens der transsilvanischen Zigeuner.
Dies wären in flüchtigen Strichen die Festgebräuche
der transsilvanischen Zeltzigeuner, in denen sich nicht
nur das Denken und Fühlen und der Charakter dieses
Volkes auf eine eigenthümliche Weise ausspricht, sondern
auch die Natur selbst, in der das Volk gegenwärtig
athmet, spiegelt sich getreu darin ab: der Charakter des
Landes, in dem cs lebt, die Farbe des Himmels, der auf
sein Wirken und Walten, sein Leben, sein Lieben und
Leiden herniederschaut, die Beschaffenheit des Klimas, das
auf die menschliche Natur stets einen bedeutenden Einfluß
ausübt, der oft genug zur Herrschaft wird; dies Alles
drückt den Gebräuchen und Sitten der transsilvanischen
Zeltzigeuner neben dem alten indischen, einen neuen, eigen-
thümlichen Stempel auf.
Südk aliso rni en im Jahre 1887.
Von Theodor Kirchhofs.
Die Süd-Pacific-Eisenbahn brachte mich von Colton
nach Los Angeles (58 englische Meilen von Colton). Das
schon öfters von mir bewunderte großartige Gcbirgs-
panorama der Sierra Madre entzückte mich wie früher.
Die Ansiedelungen an der Bahnlinie hatten sich, seit ich das
letzte mal diese Fahrt zurücklegte, ansehnlich vergrößert.
Ontario, 39 Meilen von Los Angeles, wo vor fünf Jahren
nur ein einzelnes Stationsgebäude stand, war zu einem
freundlichen Städtchen herangewachsen. Eine sieben Meilen
lange elektrische Eisenbahn lief von dort guer durch die Ebene
nach der nordwärts liegenden Sierra Madre hinüber.
Pomona, sechs Meilen westlich von Ontario, war eine an-
sehnliche Stadt von mehreren Tausend Einwohnern geworden.
Das bei Pasadcna im San-Gabriel-Thale liegende Riesen-
hotel „Raymond" krönte wie ein königliches Schloß mit
breiten Thürmen einen hohen Hügel und bildete eine präch-
tige Landmarke in der reich bebauten Gegend.
Die im Jahre 1780 von spanischen Mönchen ge-
gründete Stadt Nucstra Señora la Reina de Los Angeles,
kurzweg Los Angeles genannt (482 Meilen südlich von
San Francisco), hat sich zur zweitgrößten Stadt in Kali-
fornien emporgeschwungen. Hatte mich schon das Empor-
blühen von San Diego in Erstaunen gesetzt, so muß ich
den Aufschwung, den Los Angeles während der letzten Jahre
genommen hat, als einen geradezu phänomenalen bezeichnen.
Die Stadt, welche 1880 nur etwas über 11000 Ein-
wohner hatte, verdoppelte ihre Einwohnerzahl in den letzten
zwei Jahren. Heute zählt sic bereits 60 000 Seelen und
marschirt sozusagen mit fliegenden Fahnen auf das erste
100 000 los. Deutsche giebt cs ungefähr 5000 in Los
Angeles; auch eine tägliche deutsche Zeitung, die „Süd-
California Post" erscheint dort. Man kann Los Angeles
füglich schon jetzt als Großstadt bezeichnen. Bauten, Ver-
kehr rc. haben dort einen entschieden großstädtischen Anstrich.
Straßenbahnen mit elektrischer Triebkraft, Drahtseilbahnen,
elektrische Beleuchtung, prächtige Gasthöfc, Banken und
IV.
Geschüftshüttser, reiche Läden u. s. w., auf den Straßen ein
Gewimmel von Menschen und Fuhrwerken beweisen dies
zur Genüge. Auffallend ist die geringe Anzahl von hübschen
Frauen, denen man in den Straßen begegnet. Schönheiten,
wie man sie in San Francisco auf Schritt und Tritt sieht,
sind in der Engelsstadt geradezu eine Seltenheit. In un-
glaublicher Menge wachsen neue stattliche Steiugebäude in
allen Stadttheilen ans dem Boden empor. Wo man hin-
sieht, wird gebaut, Hügel werden abgetragen, neue Straßen
mit Röhrenleitungen für Wasser und Gas angelegt u. s. w.
— genug, es ist ein Bild regsten Fortschritts und stannens-
werther Entwickelung, worauf jede Großstadt stolz fein könnte.
Die Privatwohnungen stehen meistens jede für sich in
einem Garten, der fast ohne Ausnahme mit Grasbcetcn,
halbtropischen Pflanzen und einem herrlichen Blumenflor
geschmückt und von hohen Hecken umrahmt ist. Im Winter
erfreut sich Los Angeles eines wahrhaft paradiesischen Wetters.
Man schwelgt dort alsdann förmlich in der warmen balsa-
mischen Luft. Die Nächte sind allerdings kühl, aber cs
wird wohl niemand etwas dawider haben, abends im Winter
auch in Südkalifornien einen Ueberzieher tragen zu müssen.
Im Sommer wird cs zeitweilig hier recht warm; eine Hitze
von 100 und mehr Graden Fahrenheit ist dann durchaus
keine Seltenheit. Aber die Nächte sind zu jeder Jahreszeit
in Los Angeles, wie überall in den kalifornischen Küsten-
distrikten, angenehm kühl. Nach einem erfrischenden Schlafe
ist auch die Tagcshitze hier weit leichter zu ertragen, als im
Osten der Union, wo im Sommer die nächtliche Ruhe fast
zu einer Plage wird.
Inmitten eines den Horizont umschließenden Gebirgs-
krcises, dessen schöne Formen sich in wunderbar scharfen
Umrissen vom Himmel abzeichnen, liegt Los Angeles wie in
einem meilenweiten Garten. Man kann sich nicht satt sehen
an der Farbenpracht der Geranien und Heliotropen, der
Fuchsien, Jasmine, Rosen, Calla-Lilien und Kamelien, die
von buntschillernden Kolibris im hellen Sonnenschein um-
362
Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
flattert werden. Orangen-, Citronen- und Limonenhaine,
Obstgärten und Weinberge von der Ausdehnung kleiner
Planlagen, liegen theils noch im Weichbilde der Stadt, theils
umgeben sie dieselbe in weitem Kranze. Die schimmernden
Früchte in dem dunkelgrün gesättigten Laubwerk der mit
hohen glatten Stämmen und prächtiger Krone in endlosen
Reihen dastehenden Orangenbäume, die mit hellerer Frucht
beladenen Limonen- und Citronenbäume bilden den goldenen
Schmuck dieses herrlichen Landschaftsbildes. An den Straßen
der Privatquartiere stehen reihenweise die mit zierlichem
Laubwerk geschmückten Pfefferbäume, Akazien und hochauf-
strebende Eukalypten; in den Gärten wird das in hohen
Büscheln wachsende, wie weiße Federn aussehende Pampas-
gras besonders gern gepflegt. Um die für den Pflanzen-
wuchs in diesem Klima unentbehrliche Feuchtigkeit das ganze
Jahr über zur Verfügung zu haben, wurde der Los-Angeles-
Fluß vermittelst eines umfassenden Systems von.Bewässe-
rungsgräben durch die Stadt und ihre Umgebungen geleitet.
Einen wunderlichen Gegensatz zu dem in neuerem groß-
städtischen Stile angelegten Geschäftstheile der Stadt und den
schmucken Quartieren der Privatwohnungen bildet der
mexikanische Siadttheil, das sogenannte „Sonora Town“,
in welchem sich auch die Chinesen niedergelassen haben. Die
einstöckigen, mit drei Fuß dicken Mauern versehenen Lehm-
häuser der Mexikaner versetzen den Beschauer in eine ärm-
liche Binnenstadt des Aztekenlandes, während die Paläste
der bezopften Mongolen nur infolge der breit angelegten
Straßen die Riechorgane der vorbcispaziereuden Kaukasier
weniger unangenehm berühren, als dies in dem eng gebauten
Chinesenviertel von San Francisco der Fall ist. Sonora
Town liegt au der Straße, welche vom Bahnhöfe nach dem
Geschäftstheile der Stadt führt, muß aber den amerikanischen
Neubauten rasch Platz machen und wird ohne Frage binnen
weniger Jahre ganz verschwunden sein.
Eine prächtige Aussicht genießt man von dem hoch auf-
steigenden Hügel an dcr Templeton-Straße, auf welchem einst
ein altes von Fremont erbautes Fort stand. Die sich über
Hügel und Flachland weit ausdehnende Stadt — die städti-
schen Grenzen umschließen 36 englische Quadratmeilen —
liegt einem dort zu Füßen ausgebreitet, umkränzt von grünen
Höhenzügen, Hainen und Fluren, und senseits derselben steigt
die Sierra Madre mit ihren schönen Formen in den sonnen-
hellen Aether empor. Sehenswerth ist eine im „Washington
Garten" angelegte Straußenfarm, bereits die dritte ihrer
Art in Südkalifornien. Seit die erste derselben (bei Norwalk,
an der Eisenbahn nach Anaheim) sich als ein vollständiger
Erfolg herausgestellt hat, und namentlich die Fortpflanzung
der Vögel keine Schwierigkeit mehr verursacht, können die süd-
kalifornischen Straußenfarmen als ein lohnender Industrie-
zweig dieses Landes betrachtet werden, der sich im Laufe der
Jahre ohne Zweifel immer mehr entwickeln nmb1).
Die Umgebungen von Los Angeles bieten mannigfaltige
interessante Punkte für die Fremden, und dieselben sind leicht
zu erreichen. In einem viele Meilen weiten Kranze dehnen
sich die zahlreichen neuen Villenstädte um die Metropole des
kalifornischen Südens aus. Die nach Tausenden zählenden
Touristen aus den Oststaaten kutschircn in prächtigen
Wagen durch die Straßen der Stadt und schwärmen in der
Umgegend umher; Eisenbahnzüge entführen sie ins San
Gabriel-Thal, nach Pasadcna, Santa Anita, Suuny Slope
und Sierra Madre Villa, nach entfernteren Ansiedelungen
im Inneren oder an die Küste, nach den Seebädern Santa
Monica, Loug Beach, Newport u. s. w. Es ist ein unauf-
hörliches Kommen und Gehen der Vcrgnüguugsreisenden
von einem der zahlreichen neuen, prächtigen Gasthöfe in
Südkalifornien nach dem andern. Aber die Engelsstadt ist
und bleibt doch das Hauptquartier aller jener Fremden.
Los Angeles ist der Mittelpunkt des großen „boom“
in SUdkalifornien. 480 Makler (brokers) machen es sich
dort zur Lebensaufgabe, die Käufe und Verkäufe von
wünschenswerthem Grundeigenthum in der Stadt und Um-
gegend an Millionär - Aspiranten zu vermitteln. Im Ge-
schüftstheile der Stadt erzielt dasselbe ohne Mühe Preise bis
2000 und mehr Dollars für den „Frontfuß“. Der Umsatz
darin beläuft sich selten auf unter 200 000 Dollars, oft auf
eine halbe Million und noch mehr Dollars an einem Tage!
In dem mit dein 1. Juli 1887 abschließenden Ausweise
von sechs Monaten über die Grundeigenthumsübertragungen
in der Stadt Los Angeles beziffern sich diese auf 15 077
— im Werthe von nahe 42 Millionen Dollars — gegen
13 359 im ganzen vorhergehenden Jahre, im Werthe von
etwas über 28 Millionen Dollars. Der erhöhte Werth
des städtischen Grundeigenthums tritt bei einer Vergleichung
dieser Zahlen sofort ins Auge. Der steuerpflichtige Werth
des gesammtcn Eigenthums in Stadt und County Los
Angeles hat sich in einem Jahre (1886 bis 1887) von
40 Millionen Dollars auf 160 Millionen Dollars ver-
mehrt.
Das Hauptfeld für jene fast ein halbes Tausend zäh-
lenden Makler sind nebst der Stadt Los Angeles selbst die
zahlreichen, in jüngster Zeit gegründeten Städte in der Um-
gegend der südlichen Metropole, von denen sehr viele aber
nur auf dem Papier vorhanden sind. Nicht wenige von
den neu angelegten Landstädten haben ohne Frage ein be-
rechtigtes Dasein, denn in einem Lande, dessen Bevölkerung
so rasch zunimmt wie die in Südkalifornien, muß sich selbst-
verständlich eine große Anzahl von neuen Ortschaften bilden.
Der Preis des Grnndeigenthnms ist in allen jenen Plätzen
unglaublich rasch gestiegen; die Hunderte von Dollars haben
sich dort in kurzer Zeit in Tausende verwandelt, und immer-
noch ist kein Stillstand oder Rückgang in den Werth-
verhältnissen zu bemerken. Natürlich kann das nicht ewig
so fortgehen. Aber daran denkt vorläufig niemand; im
Gegentheil, jeder rechnet bestimmt darauf, sein Eigenthum
bald wieder mit großem Nutzen verkaufen zu können. Daß
sich bei den oft ganz unsinnig hohen Preisen und dem
offenbaren Schwindel in vielen neuen Städtcanlagcn immer-
noch kein Krach eingestellt hat, erscheint fast wie ein
Wunder. In jedem alten europäischen Lande wäre ein
solcher Zustand der Dinge auf die Dauer unmöglich. Aber
in einem neuen Lande, wie Südkalifornien, sind die Ver-
hältnisse ganz eigenartig. Die vielen reichen Neuankömm-
linge aus den östlichen Staaten sorgen nach Kräften dafür,
daß sich dieses an natürlichen Hilfsquellen überreiche Gebiet,
wo sie viele Millionen Dollars Kapital angelegt haben,
auch stetig weiter entwickele.
Wie bereits erwähnt wurde, kam die Mehrzahl der
reichen Neuankömmlinge aus dem Osten der Union nicht
nach Südkalifornien, um dort Geld zu verdienen. Sie
wollten ihr Leben in einem schönen Klima, womöglich
unter Orangenhainen, zur Winterszeit angenehm verbringen,
und zahlten irgend einen Preis für einen Platz, der ihnen
gefiel, um dort in prächtigen Landsitzen ihr neues Heim
aufzuschlagen. Aber cs befindet sich unter ihnen doch eine
erkleckliche Anzahl von Pankee-Nabobs, welche sich das Ver-
gnügen nicht versagen, in diesem gelobten Lande so nebenbei
einen ehrlichen Dollar einzuheimsen, und diese nebst der
großen seßhaften Klasse der alten Einwohner betreiben den
„boom“ als Geschäft. Mit Kleinigkeiten geben sich jene
nicht ab, und auch die Einheimischen sind gelehrige Schüler
i) Siehe „Kalifornische Kulturbilder“, L>. 229 ss.
Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
363
der Pankees geworden. Ein großer Theil des Landes, bis
zur mexikanischen Grenze, ist in städtische Grundstücke
„ausgelegt" worden. Wer ein Stück Land in romantischer
Lage besitzt, der läßt dies womöglich als Stadt vermessen,
da ein in städtische Grundstücke zertheilter Acker mit Leichtig-
keit 4000 bis 10 000 und noch mehr Dollars erzielt, wo-
gegen dasselbe Land, für Farmer und Obstzüchter an den
Markt gebracht, nur einige hundert und höchstens tausend
Dollars den Acker einbringen würde. Daß auf diese Weise
zahlreiche Orangenhainc, Weinberge und halbtropische An-
pflanzungen verwildern und in Grundstücke umgewandelt
wurden, die vorläufig niemand bewohnt — wodurch der land-
wirthschastlichen Entwickelung des Landes ein nicht geringer
Schaden zugefügt wird — ist eine der schlimmsten Folgen
jener Landspckulationen. In Südkalifornien ist heute
eigentlich alles feil — vom Palast bis zur Hütte, von einer
meilengroßen „Ranch" bis zu einer bescheidenen Baustelle.
Wer genug zahlt, der kann sogar einen Kirchthurm kaufen!
Da hat z. B. so ein schlauer Yankee ein Stück wüstes
Land, zwanzig oder auch hundert englische Meilen von
Los Angeles, spottbillig erworben. Die Lage ist selbst-
verständlich die herrlichste in der Welt, das Klima kann
nirgends sonstwo auf diesem Planeten an Schönheit über-
troffen werden! Der nächste Ort ist vielleicht zehn Meilen
entfernt, Ansiedler giebt's vorläufig fast gar keine in der
Nähe, aber eine Eisenbahn führt in geringer Entfernung
vorüber, und ein Bewässerungsgraben ist leicht vom Gebirge
hinzuleiten, um das öde Land der Kultur zugänglich zu
machen. Der Uankee läßt sein Besitzthum als Stadt ver-
messen, der er einen wohlklingenden Namen, z. B. Aurora,
giebt. Ein Park und Banplätze, die der Stadt von
ihrem großmüthigen Gründer geschenkt werden und dazu
bestimmt sind, um ein Gerichtshaus, Kirchen und Schulen
darauf zu errichten, nehmen die beste Lage ein. An ver-
schiedenen Embryo-Straßen mit schön klingenden Namen
werden fünf hübsche Häuser erbaut, einige Hundert Orangcn-
büunie oder Fücherpalmen werden angepflanzt, ein artesischer
Brunnen wird gebohrt, um das Wachsthum der Bäume
zu fördern, und schließlich läßt der unternehmende Städte- j
gründer einen schönen farbigen Stadtplan in zehntausend
Abzügen anfertigen, der überall in Südkalisornien, auf
den Eisenbahnen, in allen Wirthshäusern, Schänken k.
und an allen besuchten Orten massenweise vertheilt wird
und jedermann in die Augen fallen muß.
Wochenlang liest man jetzt in jeder Tageszeitung mit
fetter Schrift folgende, meistens eine ganze Seite einneh-
mende Anzeige:
Achtung! Achtung! Achtung!
Aurora!!! Aurora!!!
Arbeiter! Farmer! Kaufleute! Rentiers!
Am 1. April wird die nengegründetc Stadt Aurora
öffentlich versteigert werden. Die Stadt der Zukunft!
Ein neues Riverside! Ein Nebenbuhler von Pasadena!
Das vorzüglichste Klima der Welt! — Balsamische
Lüfte! — Kein Nebel, kein Fieber! — Der Boden un-
glaublich fruchtbar! — Wasser in Hülle und Fülle; ein
artesischer Brunnen ein Factum, ein großer Kanal bereits
vermessen! — Die Eisenbahn — — — führt nahe an
der Stadt vorüber!
Ein Paradies auf Erden!
Die Scenerie — hochromantisch — erhaben — großartig! —
No Saloons!!! („Keine Trinkstuben"!)
Nur nüchterne, arbeitsame Menschen sollen in Aurora
wohnen! —
Jetzt ist die Zeit da, für eure Kinder zu sorgen!
Wer „lots" (Bauplätze) an der Hauptstraße kauft, der
wird fein Geld in zwei Monaten vervier-
fachen!! —
In diesem Stil geht es fort, und zum Schluß heißt es:
„Fünf wunderschöne Villas, die der Gründer von
Aurora bereits in der Stadt erbauen ließ, werden gleich
nach der Auktion verschenkt werden!!! — Die Käufer
von Grundstücken in Aurora sollen jene Villas unter
sich ausloosen.
Die Eisenbahnfahrt von Los Angeles nach Aurora
kostet — hin und her! — nur 2 5 Cents!!! — Wer ein
„lot“ kauft, dem wird das Fahrgeld zurückerstattet! —
Für „Free Lnncli“ (freie Beköstigung) wird ausreichend
gesorgt sein! — Eine Musikbande begleitet den Exkursions-
zug! —"
So ungefähr und vielleicht noch verlockender wird die
Anzeige lauten.
Vierzehn Tage lang sieht man nun jeden Tag einen
mit Fahnen und Blumen geschmückten großen vier-
spännigen Wagen langsam durch die Straßen von Los
Angeles fahren. Eine abenteuerlich herausgeputzte Musik-
bande wirbelt eine dröhnende Janitscharenmusik vom Wagen
herunter, um welchen ringsherum breite weiße Tücher
gespannt sind, auf denen mit großen schwarzen Lettern
gedruckt steht:
Aurora!!! Aurora!!!
Am 1. April Auktion der neuen Stadt
Aurora!
Free Lunch!! — No Saloons!!
V
Rundreisebillet nur 25 Cents!
Aurora!!! Aurora!!!
Am 1. April werden nach dieser großartigen Reklame
unfehlbar einige Tausend Kauflustige in der Nähe der Zu-
kunftsstadt Aurora versammelt sein, wo die öde Gegend
durch die Menschenmenge bereits ein heiteres Bild zur
Schau trügt. Jeder von den Anwesenden hofft eine Villa
zu gewinnen und wagt gern ein paar Hundert Dollars,
selbst wenn er von dem Humbug überzeugt ist. Die freie
Beköstigung und die Musik sorgen für die nöthige Begeiste-
rung. "Nachdem der Städtegründer eine prächtige Rede
vom Stapel gelassen hat, läßt er seine sämmtlichen Grund-
stücke in Aurora versteigern, die ohne Mühe Käufer finden.
Schließlich werden die fünf Prämienhänser ehrlich verlost.
Die ganze Gesellschaft fährt wieder nach Los Angeles zu-
rück, mit Ausnahme der fünf Glücklichen wüthend darüber,
daß Fortuna ihnen keine Villa bescheert hat, und Südkali-
fornien ist um etliche tausend Grundbesitzer reicher ge-
worden. Was schließlich aus Aurora wird, bleibt dem
Pankee ziemlich gleichgültig. Die erste Anzahlung der
üblichen 10 Proc. von der Kanfsumme seitens der Grund-
eigenthumskäufer war für ihn schon ein ausgezeichnetes
Geschäft. Wird etwas ans der Stadt, was immerhin
möglich ist, so ist er ein gemachter Mann. Wahrscheinlich
ist aber, daß Aurora nie mehr als fünf Häuser zählen wird.
Fast jeden Tag kann man Reklame-Wagen, wie sic vor-
hin beschrieben wurden, mit Pauken und Trompeten durch
die Straßen von Los Angeles fahren sehen. Es ist schon
vorgekommen, daß sich die Spekulanten in Los Angeles bei
festem Angebot für Grundstücke abends, wie beim Vorver-
kauf von Opernbillctts in Reih und Glied stellten und
die ganze Nacht hindurch auf der Straße gewartet haben,
um am nächsten Morgen das Recht des Ersten zu erlangen.
In den bereits bestehenden Ortschaften verfährt man ebenso
wie in Aurora. Jede Tageszeitung in allen Plätzen Süd-
kaliforniens enthält Dutzende von langen, oft eine ganze
364
Theodor Kirchhofs: Südkalifornien im Jahre 1887.
Seite ausfüllenden Anzeigen, deren auffallend groß ge-
druckte Ueberschrist (wörtlich übersetzt) z. B. so lautet:
Der letzte Hahnenschrei (nämlich für Grundstücke) im
lieblichen Lugonia! — (daneben ein großer krähender
Hahn abgebildet).
Magnolia, das idyllische Magnolia! Kein Brannt-
wein, kein Bier, aber zahlreiche Kirchen und Schulen!
Oceanside, du Nizza am donnernden Pacific!
Beaumont, das Sanitarium der Mutter Natur!
Kaufe „lots" in SanBernardino, und du brauchst
keine Diamanten!
Escondido, du thronst wie eine Fee im Gebirge!
Lordsburg, die Stadt der Zukunft! Kommt alle
nach Lordsburg!
Riverside, der Orangengarten der Welt!
Glückliches, anmuthiges Pafadena, du Wunder aller
Städte ! No Saloons !!!
Ramona, die irdische Vollkommenheit! Gesundheit!
Bildung! Glück und Gewinn!
Alhambra an der Front!
Melrose, die blühende Jungfrau!
Ontario und Pomona, die holden Zwillings-
schwestern !
Gladstone, das Herz von Agusa!
Claremont, du schöne! das die christlichen Väter, so
da sangen: „O, könnte ich nur steh'n, wo Moses stand“ nie
sahen!
Das Klima, die Fruchtbarkeit des Bodens, dieGeschäfts-
anssichten, die Scenerie und Lage aller jener Plätze werden
in langen Doppelspalten als noch nie dagewesen in blühender
Sprache geschildert. Die Kapitalanlagen müssen sich in
allen Fällen in zwei bis höchstens vier Monaten verdop-
peln! Große und kleine Farmen, meilengroße ,Manches",
billige Grundstücke für Villas oder Geschäftshäuser, Heim-
stätten, Weideland, Orangenhaine u. s. w. werden auf ähn-
liche Weise in Ratenzahlungen in jeder Zeitung massenhaft
zu Kauf angeboten. In den größeren Ortschaften wird
die Marktschreierei in womöglich noch bombastischerem
Stil betrieben. Aber die lächerliche Reklame erfüllt überall
ihren Zweck. Wo die reichen Amerikaner einen Platz be-
sonders begünstigen, ist die Entwickelung desselben geradezu
phänomenal. Kaufleute, Handwerker, Arbeiter aller Art
strömen dort zusammen. Solche Städte blühen empor, als
ob ein Zauberer darin thätig sei!
Große Vermögen werden von geriebenen Spekulanten
oft in Südkalifornien mit geringer Kapitalanlage auf die
Weise erworben, daß jemand ein Stück werthvolles Land
„in bond“ kauft. Er zahlt einige Hundert oder auch Tau-
send Dollars an den Eigenthümer und erhält dadurch das
Recht, den in Frage kommenden Grundbesitz nach einer
ausbednngenen Zeit (meistens in vier Wochen) für eine ge-
wisse Summe zu kaufen. Vermag er die Kaufsumme nicht
bis zu der bestimmten Zeit aufzutreiben, so verliert er den
angezahlten Betrag. Große „Ranches", oft zu einem
Werthe von y4 bis l/^ Million und mehr Dollars,
wurden nicht selten auf diese Weise, meistens von Syndi-
katen, erworben. Der Verkäufer, in der Regel ein einfacher
Farmer, der nichts von Landspekulationen versteht, wagt
dabei gar nichts, der Käufer kann höchstens die angezahlte
geringe Summe verlieren. Der letztere speknlirt meistens
nur darauf, das ihm unter „bond" zeitweilig zur Ver-
fügung gestellte Grundeigenthum vor Ablauf der Versallzeit
wieder an eine dritte Person mit Nutzen loszuschlagen. Bei
der unglaublich schnellen Wertherhöhung der Ländereien in
Südkalifornien erzielt ein schlauer Spekulant auf diese
Weise nicht selten ein Vermögen aus einem Grundbesitz, der
ihm eigentlich gar nicht gehört.
Der ungeheure Fortschritt, den die von den Pankees
besonders bevorzugten Distrikte in der Nähe von Los An-
geles gemacht haben, wurde mir bei einem Besuche in
Pasadena, das neun Meilen von Los Angeles im San Gabriel-
Thale an der vor kurzem bis nach San Bernardino aus-
gedehnten Eisenbahn liegt, recht veranschaulicht. Die Stadt,
welche erst ein paar Jahre alt ist, zählt bereits nahezu
7000 Einwohner. Stattliche, drei und vier Stockwerke
hohe Steingebäude, Banken und Läden, schmücken dieselbe;
Straßenbahnen, elektrische Beleuchtung, Wasser- und Gas-
werke, cementirte Gehwege rc., alle Einrichtungen einer
Großstadt — sogar ein Opernhaus! — sind dort vorhanden.
Eine elektrische Eisenbahn uach Los Angeles ist im Bau
begriffen. Der Werth des Grundeigenthums ist in Pasa-
dena fast so hoch wie in Los Angeles. Etwa eine englische
Meile von der Stadt liegt das vorhin erwähnte riesige
„Raymond-Hotel" wie ein fürstliches Schloß auf einem
hohen Hügel und blickt weit in das Land hinaus. Breite
Verandas umkränzen dasselbe; die Blumenpracht in den An-
lagen erinnert an das berühmte „Hotel del Monte" inMon-
terey. Das Raymond-Hotel und die Gasthäuser in Pasadena
sind im Winter von Fremden so überfüllt, daß in ihnen
alsdann kaum ein Unterkommen zu finden ist. Werden doch
die 400 Prachtgemächer im „Raymond" meistens schon vor-
dem Beginn der „Saison" bis zum Frühjahr sämmtlich
von reichen Bostonern mit Beschlag belegt! Eine Kurbel-
bahn wird das Hotel bald mit Pasadena verbinden. Die
Aussicht von einem der Thürme des Gasthofes auf die
nahe Sierra Madre und das San Gabriel-Thal ist ent-
zückend schön. Ringsum liegen prächtige zahlreiche Villen
mit Erkern und Thürmen, große Orangenhaine, Parkanlagen,
Gärten u. s. w.
Leider hat aber auch in Pasadena der Temperenz-Fana-
tismns die Oberherrschaft erlangt und ist mit dem unter
Hochdruck arbeitenden Unternehmungsgeiste der Yankees in
die reizende Stadt gezogen. Hier, und fast in allen vor-
nehmen Gasthöfen Südkalifornieus, sind Wein und Bier-
geradezu verpönt. In Los Angeles, San Diego und
anderen größeren Städten besitzt dieser heuchlerische Tem-
perenzfanatismus noch nicht Macht genug, um seine Herr-
schaft geltend zu machen. Dort kann ein vernünftiger
Deutscher oder Amerikaner so viel Wein oder Bier rc. be-
kommen, als ihm beliebt; und guter vortrefflicher Wein
wird auch von unseren Landsleuten in großer Menge in
Südkalisornien auf sonnigen Nebcngeländen gebaut und in
mächtigen Kellern und Gewölben zum Labsal der Dürstenden
und Fröhlichen gekeltert und verzapft. Aber in den kleineren
neuen Städten haben die frommen Soda-Trinker ganz das
Uebergewicht. Da „local option“, d. h. das Recht jeder
einzelnen Municipalität, ihre Gesetze für den Ausschank
von Wein, Bier oder geistigen Getränken selbst zu be-
stimmen, neuerdings von der obersten Gerichtsbehörde in
Kalifornien anerkannt worden ist, so stehen unseren lebens-
frohen Landsleuten in den von den Pankees regierten klei-
neren südkalifornischen Ortschaften gewiß schlimme Tage
bevor. Sonntags- und Temperenzzwang im fröhlichen
Kalifornien! man sollte es nicht für möglich halten! —
Und doch werfen jene finsteren Gespenster bereits ihren
Schatten vor sich hin in das sonnige Land, dem wohl
mancher erbitterte Kampf mit ihnen als unerfreuliche Zu-
gabe des herrlichen „booms“ in Aussicht steht.
Der Ehrgeiz von Los Angeles nimmt in neuerer Zeit
einen immer höheren Flug. Es wird dort jetzt öffentlich
dafür agitirt, aus Südkalisornien einen neuen Staat zu
bilden, dessen Hauptstadt selbstverständlich Los Angeles sein
würde. Seitdem die Pankees ihre Unternehmungen auch
nach dem mittleren und nördlichen Kalifornien ausgedehnt
Kürzere Mittheilungen.
365
haben und sich in diesen Gegenden ebenfalls ein fröhlicher
„boom“ bemerkbar macht, hat sich der Haß der Bewohner
der Engelsstadt besonders gegen den großen Bruder San
Francisco gerichtet. Die Metropole am goldenen Thor ist
in Los Angeles arg verschrieen. Man dichtet ihr dort die
sinnloseste Eifersucht gegen das Emporblühen von Los An-
geles an, obgleich gerade San Francisco dieselbe beglück-
wünscht und der Aufschwung Südkaliforniens seinem Handel
unermeßliche Vortheile gebracht hat. Vorläufig hat es aber
mit einer Zertheilung des Staates in zwei Hälften gute
Wege, da zwei Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung
damit einverstanden sein müßte. San Francisco allein
enthält fast ein Drittel der Einwohnerzahl von Kalifornien,
und in allen nördlichen Counties würde eine überwältigende
Stimmenmehrheit gegen einen solchen Plan sein.
Mehr als alles Andere wünscht Los Angeles einen
guten Seehafen zu erwerben, um seinem Handel neue
Bahnen zu eröffnen. Der von den Vereinigten Staaten
mit einem Kostcnaufwande von mehr als 700 000 Dollars
an der Wilmington- Bucht angelegte künstliche Hafen von
San Pedro war von jeher das Gespött der bitter gehaßten
San Franciscoer; San Diego, als Nebenbuhler der Engels-
stadt, kommt vollends gar nicht in Betracht. Den Plan,
den Los-Angeles-Fluß zu vertiefen und so den Seeschiffen
einen Zugang unmittelbar bis nach Los Angeles zu ver-
schaffen, wurde als unpraktisch wieder aufgegeben. Da ent-
deckten die Pankees am niedrigen Strande der Bai von
Santa Monica, 17 Meilen von Los Angeles und vier
Meilen vom Seebad Santa Monica entfernt, eine Lagune
und dahinter eine ansehnliche Strecke Sumpfland. Dies
war der Platz für den ersehnten Hafen, der den Namen
Ballona (Bajona) führen soll. Flugs ward dort die
Stadt Ballona „ausgelegt". Man ist jetzt hart an der
Arbeit, die Lagune in ein zwei Meilen langes und eine
halbe engl. Meile breites Tiefwasferbassin, mit geräumigem
Ausgang für Seedampfer, umzuwandeln. Zwei 1500 Fuß
lange und 200 Fuß von einander entfernte Molos sollen
vom Hafen in die See hinausgebaut werden. Am Ufer
des Hafens errichtet man bereits stattliche Stcinquais; eine
18 Meilen lange Eisenbahn wird Ballona mit Los Angeles
verbinden. Die Bewohner der Engelsstadt reden davon,
das Sumpfland ausgraben zu lassen und dort einen Hafen,
so groß wie die Bai von San Francisco, herzustellen!
Man kann sich des Lächelns nicht erwehren, wenn eine
Zeitung in Los Angeles selbstbewußt schreibt: „Karthago
und Syrakus haben große künstliche Seehäfen erbaut; wes-
halb können wir nicht dasselbe thun?" — Der Verkauf
von Grundstücken in Ballona City wird das für die Hafen-
anlagen nöthige Kapital liefern — und Los Angeles wird
und muß, San Francisco und San Diego zum Trotz, ein
Seehafen ersten Ranges werden!
Den Hafen von San Pedro, der mit Los Angeles durch
eine 25 Meilen lange Eisenbahn verbunden ist, lernte ich
auf meiner Rückreise nach San Francisco, die ich auf dem
Seewege zurücklegte, etwas genauer kennen. Er besteht ans
einem durch einen Steinmolo und zwei Felsinseln geschaffenen
laugen Tiefwasser-Bassin, vor dessen Einfahrt aber eine
Sandbarre liegt, auf welcher zur Zeit der höchsten Fluth
nur 16 Fuß Wasser, zur Zeit der Ebbe nur zehn Fuß
Wasser steht. Die Seedampfer bleiben deshalb stets zwei
engl. Meilen draußen in der offenen San-Pedro-Bai liegen
und befördern Passagiere und Fracht vermittelst Lichterfahr-
zeugen (lsiAÜtsrs) an Bord und ans Ufer, was für die
Passagiere äußerst unangenehm und zeitraubend ist und die
Güter-Versendung bedeutend vertheuert. Im inneren Hafen
gewahrte ich nur kleinere Fahrzeuge, meistens Schoner vom
Puget-Sund, die mit Bauholz beladen waren. Um die
Sandbarre auszubaggern und den Hafen in einen einiger-
maßen guten Zustand zu versetzen, würde noch einige Hundert-
tausend Dollars Ausgaben verschlingen und die Summe
von einer Million Dollars voll machen, die auf die Bundes-
regierung fällt, welche alle Kosten für die Anlage des San-
Pedro-Hafens trügt.
Bei stürmischenl Wetter bietet die Bai von San Pedro
der Schiffahrt nur geriugen Schutz. Die See ist dort als-
dann so unruhig, daß die Dampfer mitunter gar uicht an-
halten. Die Santa-Catalina-Insel liegt etwa 20 Meilen
westlich von San Pedro entfernt und hindert die schweren
Wogen des Oceans nicht, bei Südweststürmen ungehindert
in die Bai hineinzurollen. Jene Insel umfaßt 48 825 Acker
und ist sehr gebirgig. Ihr höchster Punkt erhebt sich
2800 Fuß über die Meeresfläche. Die Insel Santa Ca-
talina gehörte zum Nachlasse des bekannten Millionärs James
Lick in San Francisco, der sein ganzes riesiges Vermögen
für gemeinnützige Zwecke bestimmt hat. Von den Ver-
waltern des Lick-Nachlasses wurde die Insel neuerdings für
200 000 Dollars verkauft. An ihrer Westseite befindet
sich eine schöne Bucht, an welcher die gegenwärtigen Besitzer
der Insel ein großes Gasthaus erbauen lassen wollen, mit
der Absicht, dort ein Seebad ersten Ranges einzurichten.
Kürzere Mi
M o z a m b i q u c.
Zur Charakteristik der Insel und Stadt Mozambique
entnehmen wir einem Aufsatze des Herrn R. P. Courtois
in den „Ni88i0li8 Catholiques“ folgendes:
Die Insel Mozambique ist unter dem 15. Grade s. Br.
und unter dem 40. Grade L. L. von Greenwich gelegen.
Sie ist im allgemeinen stach und niedrig und ruht ans einer
Korallenbank. Der Küste entlang erheben sich an einigen
Punkten steile röthliche Felsen, welche zackig sind wie eine
t t h e i l u n g e n.
Säge. Vorwiegend ist der Boden aber sandig und mit
einem üppigen Palmenwuchse bedeckt. Ihre Lage an einer
der besten Buchten von Ostafrika hat sie zum Sitz der Re-
gierung und zu einem Punkte von hoher strategischer Wichtig-
keit gemacht.
Entdeckt von Vasco da Gama am 1. März 1498, war
die Insel zu dieser Zeit der Sitz einer beträchtlichen An-
siedelung, und ihr Hafen wurde schon damals von zahlreichen
Schiffen aufgesucht. Vasco Gomes de Abrea ließ das erste
Festungswerk errichten, dort wo sich heute der Palast des
366
Kürzere Mittheilungen.
Gouverneurs erhebt; Don Juan de Castro aber verlegte
es nach seiner heutigen Stelle, an die nordöstliche Spitze
der Insel, am Eingänge in die Mozambique-Straße, wo
es von einem undurchdringlichen Gürtel von Felsen beschützt
wird.
Die Stadt ist klein, aber hübsch und freundlich, und es
giebt sonst nur wenige Städte, die sich einer so peinlichen
Reinlichkeit erfreuen können. Die Häuser sehen orientalisch
aus, mit ihren Terrassen und Verandas und mit ihren
etwas grellen, im Lande üblichen Wandmalereien. Diese
blauen, rothen, gelben und braunen Bilder haben den Vor-
theil, daß sie die Sonnenhitze mäßigen und dem Auge sehr
wohlthuend sind. Man bemerkt einige gute Lüden und eine
Unmenge kleiner Buden und Schenken, in denen sich die
kleineren Geschäftsleute herumtreiben. Die Hauptfaktoreien
gehören zwei französischen Großkaufleuten. Die imposante-
sten Gebäude der Stadt sind die alte Festung von St. Se-
bastian und das noch unfertige neue Hospital. Der Palast
des Gouverneurs, als welcher das frühere Jesüitenkolleg
dient, ebensowie die Schatzkammer, die Kunst- und Gewerbe-
schule, der Wohnsitz des Bischofs und das Rathhaus sind
hübsche Bauten, sind aber weder hinsichtlich ihrer Architektur
noch ihrer Ausschmückung besonders bedeutend. Der erst-
genannte Palast, der seinen früheren Namen, „Palast des
Heiligen Paulus", noch immer beibehält, ist in dem besten
Stadttheil gelegen, mit Aussicht auf den Hafen und den
Quai und etwa 50 in von dem Meere entfernt, von dem er
durch eine schöne, schattige Promenade getrennt ist. Mitten
auf dem Platze beftudct sich der Pavillon der Stadtmnsiker,
die hier au jedem Sonntag und Donnerstag die Vorüber-
gehenden durch ihre Weisen ergötzen. Rechts vom Palast
sieht man die verlassene Kirche des alten Jesuitenkollegs,
dessen Thurm jetzt als Standort einer Wache dient, welche die
Aufgabe hat, die Stunde mit einem Hammer auf der Glocke
zu schlagen.
Das übliche Transportmittel in der Stadt und auf der
Insel überhaupt ist die „Machila", eine Art Tragstuhl für
zwei Personen, die sich einander gegenüber sitzen. Dieser
Stuhl hängt von einer starken Stange herab, welche an ihren
beiden Enden von je zwei Negern auf dem Kopfe getragen
wird. Merkwürdig ist es, daß Esel als Lastthiere auf der
Insel nicht eingeführt werden, da sie auf dem gegenüber
liegenden Festlande von Mossuril in großer Zahl vorhanden
sind.
Die Stadt besitzt eine Nationaldrnckerei, deren Wirksam-
keit aber aus Mangel an guten Arbeitern sowohl wie an
hinreichenden Typen eine sehr beschränkte ist. Das Arsenal,
das früher nur aus einigen unvollständigen Werkstätten be-
stand, ist heutzutage viel besser in: Staude und wäre wohl zu
der Ausführung größerer Arbeiten fähig. An der Spitze der
Insel, wo sich der Boden allmählich nach dem Meere hin
senkt, befindet sich das Pulvermagazin, ein wenig weiter der
katholische Friedhof St. Francois Xavier und endlich die
verlassenen und unknltivirten Stätten, wo die Eingeborenen
ihre Todten verbrennen oder sie dem auflösenden Eiustusse der
Sonne überlassen.
Die Stadt Mozambique theilt sich in zwei Viertel: das
europäische Viertel und das Viertel der Eingeborenen. Das
erstere, welches zugleich das ausgedehnteste Viertel ist, nimmt
bei dem Hospital seinen Anfang und erstreckt sich bis zu der
Festung von St. Sebastian, die durch eine schöne, mit
Bäumen bepflanzte Promenade mit der Stadt verbunden ist.
Das zweite, im Süden, führt den Namen „Jnselspitze".
Die Bevölkerung ist eine sehr gemischte und wird auf un-
gefähr 12 000 Einwohner geschätzt. Drei Viertel sind
Koffern verschiedenen Stammes, indische Banianen, Bathias,
Parst, Araber rc. Verhältnißmäßig groß ist die Zahl von
Indiern aus Goa, die zum Theil Kaufleute, zum Theil
Deportirte sind. Die Mohammedaner machen Proselyten
unter den Schwarzen, die bei ihnen in Diensten stehen, aber die
meisten sind nur denr Namen nach Bekehrte. Die Negerinnen
der Stadt tättowiren sich das Gesicht mit gelber oder rother
Farbe, indem sie lange, punktirte Linien auf Stirn und
Backe ziehen, während andere Gesicht und Haare mit Kalk
bestreichen.
Es giebt in Mozambique kein trinkbares Quellwasser,
sondern nur wenige Brunnen, die Brakwasser enthalten. Als
Ersatz besitzt die Insel eine große Anzahl gewaltiger Cisternen,
die sich während der Regenzeit füllen und das ganze Jahr
hindurch Wasser für den Haushaltungsbedarf liefern. Wenn
aber der Regen'ausbleibt, herrscht eine furchtbare Wassers-
noth, und das Trinkwasser muß dann von der Küste von
Mossuril mittelst Kähnen und mit bedeutendem Aufwand
von Zeit und Geld herbeigeholt werden.
Das Klima kann man weder schön noch gesund nennen,
dennoch verdient es nicht den sehr schlimmen Ruf, den es
früher genoß; wurde doch die Insel von ihren ersten Erobe-
rern als „Kirchhof der Portugiesen" bezeichnet. Jeder, der
die üblichen Gesnndheitsmaßregeln beobachtet, kann sich ebenso
wahrscheinlich in Mozambique des Wohlseins erfreuen wie
in Europa. Exzesse jeder Art sind indessen äußerst gefährlich
und jugendliche Fehler und Extravaganzen, die in Europa
an so vielen Schwächen des Alters schuld tragen, rächen sich
hier noch rascher und in noch ernstlicherer Weise.
Vor der Insel Mozambique liegen die beiden Korallen-
inseln Goa und Seua. Auf der ersteren steht ein Leucht-
thurm, der mit dem von der Festung von St. Sebastian in
Verbindung die Durchfahrt durch die Barre anzeigt.
F.
Eine Legende der Salomons- Insulaner.
Eine sehr interessante Legende, welche gleichzeitig auf die
Entstehung derartiger Sagen ein Helles Licht wirft, erzählt
Woodford gelegentlich einer naturwissenschaftlichen Mitthei-
lung im zweiten Hefte der „Proceedings“ der Londoner
Zoologischen Gesellschaft. Auf den Salomons-Inseln fludet
sich ein naher Verwandter des australischen Tallegalla,
NögnpoäiuZ Brenchleyi, der aber seine Eier nicht in Haufen
verwesender Blätter, sondern in den von der Sonne durch-
glühten Sand legt. Er ist besonders häufig auf der Insel
Savo und seine Eier bilden in allen Stadien der Ent-
wickelung ein wichtiges Nahrungsmittel für die Bewohner
dieser Insel. Es mußte denselben natürlich auch bald auf-
fallen, daß der Vogel seine Eier nur an zwei Stellen der
Insel ablegt. Die naheliegende Erklärung, daß diese Stellen
die einzigen kahlen Sandflächen der Insel sind und also auch
nur an ihnen der Sand genügend von der Sonne erhitzt
wird, um die Eier auszubrüten, genügt der Phantasie der
Insulaner nicht; sie haben darum folgende Legende ersonnen:
Die Insel verdankt ihr Dasein und ihre Bevölkerung
dem Haifisch; er trug so lange Steinblöcke zusammen, bis sie
über die Meeresfläche emporragten, dann setzte er einen
Mann und eine Frau, eine Iamsstaude und ein Mega-
podiuspürchen darauf und übergab ihnen die neue Insel.
Sie gediehen und vermehrten sich. Damals nisteten die
Vögel noch, wo sie wollten, und darüber gab es bald Streit,
die Menschen liefen zum Strande, riefen den Hai und klagten
ihm, daß die Vögel ihnen immer die Aamspslanznugen zer-
wühlten, und daß sie nicht länger mit ihnen zusammen wohnen
könnten. Der Hai erhörte endlich die Klagen und nahm
alle Vögel von der Insel weg. Aber damit verschwanden
auch die delikaten Eier, und die Insulaner sahen sich aus-
schließlich auf Aamswurzeln und Fische angewiesen, und
Aus allen Erdtheilen.
367
das gefiel ihnen auf die Dauer gar nicht. Schließlich er-
barmte sich der Hai und brachte die Vögel wieder zurück,
aber um fernere Beschwerden zu verhüten, wies er ihnen die
beiden kahlen Flächen zn Nistplätzen an. Die Insulaner waren
damit sehr zufrieden und vertheilten alsbald diese Stellen
unter sich. Jede Familie besitzt seit alter Zeit ein Stück der
Sandfläche, ans denen sie ausschließlich nach den Eiern graben
darf, und nur die großen Monitor-Eidechsen machen ihnen
eine rücksichtslose Konkurrenz. Merkwürdig ist nur, daß die
Vögel trotz der eifrigen Verfolgung nicht nur nicht ausgerottet
werden, sondern recht häufig sind; Woodford konnte für
einen kleinen Strang Tabak zehn Stück eintauschen. Ko.
Aus allen
Europa.
— In der ethnographischen Sektion der russischen Geograph.
Gesellschaft hielt der rnssische Konsul aus Hammerfest, Herr
Ostrowski, einen interessanten Vortrag über das Volk der
Lappen. Die Gesammtzahl derselben, sowohl der zu
Norwegen wie der zu Rußland gehörigen, beträgt jetzt nicht
mehr ganz 30 000 Seelen. Der größere Theil, 17 000 bis
18 000, lebt auf norwegischer Seite, wo diesem Volksstamme
jetzt in Erforschung seiner Sagen, Sitten, Lebensweise eine
besondere Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die norwegischen
Lappen machen int allgemeinen nicht den jämmerlichen Ein-
druck, wie die russischen, obwohl diese letzteren unter verhältniß-
mäßig nicht ungünstigen ökonomischen Bedingungen leben.
Für die ersteren ist jetzt der Uebcrgang zun: seßhaften Leben
charakteristisch, und in Gegenden, wo sie, unvermischt mit
anderen Völkern, für sich allein leben, ist eine gewisse Zu-
nahme und keine Abnahme der Bevölkerung bei ihnen wahrzu-
nehmen. Dagegen vermindert sich das Lappenthum überall
dort, wo andere Stämme ihnen den Boden streitig machen,
und das geschieht von Seiten des finnischen Elementes, welches
in unaufhaltsamem Fortschritte nach Norden sich allmählich
ausbreitet.
— Der charakteristische Zug der Landwirthschaft in
den mittleren Strichen Rußlands ist nicht sowohl
der Getreidebau, als vielmehr der Flachsbau. So kommt
cs, daß Rußland nach Aussage eines Natioualökonomen um
ein Viertel oder ein Fünftel mehr Lcinfaser produzirt, als
die ganze übrige Welt zusammengenommen, und daß die
Linnenindnstrie dort noch einen sehr bedeutenden Platz neben
der sich immer kräftiger entwickelnden Baumwollenindustrie
behauptet hat. Um so mehr erregt es Schrecken, daß
seit einigen Jahren starker Raupenfraß die Flachssaaten
heimsucht, ein Uebel, das in diesem Jahre besonders die
Gouvernements Wladimir, Kostroma, Jaroslaw, Twer, Mos-
kau, Nischni-Nowgorod, Smolensk und theilweise Wologda be-
troffen hat. Infolgedessen hat man sogar angefangen, sich
nach einen: Ersatz für die seit Jahrhunderten so intensiv be-
triebene Flachskultur umzusehen und hat in den südlichsten
Gouvernements — in der Krim, im Kaukasus, auch in dem
neugewonnenen transkaspischen Gebiete — Versuche mit der
Jutepflanze angestellt, die selbst in der Krim, unweit
Jalta, an der Südküste, noch erfolgreich gewesen sind.
Asien.
— Ein Vortrag, den Dr. El. Paster am 15. November
vor der Geographischen Gesellschaft zu München hielt, ent-
hält die folgenden Darlegungen über die Insel Su-
matra: Die Malaycn nennen die große Insel „Polo
Percha“, d. i. „Insel der Gutta-Percha". Das Vulkan-
E r d t h e i l e n.
reiche Barissan-Gebirge, welches sie von N.W. nach S.O.
durchstreicht, stürzt gegen die Südwestküste und den offenen
Ozean steil ab, während cs gegen die Nordostküste und das
südostasiatischc Jnselmecr hin allmählich in ein von großen
schiffbaren Flüssen durchströmtes Tiefland übergeht. Die
Vegetation ist infolge des feuchtwarmen Klimas eine über-
aus mächtige, und zugleich auch im Gegensatze zu der java-
nischen noch eine sehr urwüchsige. Auch die Fauna zeichnet
sich sowohl durch Mannigfaltigkeit als auch durch Größe
und Schönheit der Arten ans. Die malayischen Bewohner, die
sich selbst „orang malayu“, d. i. „herumschweifende Leute",
nennen, erinnern durch ihre vorstehenden Jochbogen an die
Mongolen und sind von Charakter ruhig und bedächtig, aber
auch rachsüchtig und hinterlistig. Ausgesprochene Vorliebe
haben sie für Schmuck aus edlem Metall und für schöne
Waffen (Kris). Ihre Hauptnahrung ist der Reis, ihre Haupt-
beschäftigung Handel und Schiffahrt. Die malayische Sprache ist
sehr einfach in ihrer Granunatik und hat aus diesem Grunde
eine große Verbreitung durch den hinterindischen Archipel er-
langt. Die Religion ist seit lange die mohammedanische.
Die wichtigsten Stämme sind die Battaker und die Atschi-
nesen. Die Anthropophagie der ersteren ist im Abnehmen.
Nach einer amtlichen russischen Aufstellung bezifferte sich
der Handel Rußlands nach China auf dem Land-
weg e 1 8 8 7 in runder Summe auf 34 Millionen Rubel,
wovon aber kaum 25 Proc. auf deu Export kamen. Die
Hauptartikel des letzteren waren Getreide, Schweine, Zucker,
Baumwollenwaaren, Schaffelle, Leder, Pelze. Thee (für
reichlich 24 Millionen Rubel) bildete den weitaus wichtig-
sten Artikel der Einfuhr. Die Ziffer des Exportes soll aber
in starkem Steigen, die des Importes dagegen im Sinken be-
griffen sein.
Afrika.
— Der italienische Reisende L. B. Robecchi hat an
den Präsidenten der Geographischen Gesellschaft zu Rom
unter dem Datum des 18. Juli 1888 einen Brief ans
Harrar gerichtet, demzufolge es ihm gelungen war, in Be-
gleitung von einigen Somalis diesen Punkt von Zeila ans
zu erreichen, dabei eine Reihe topographischer Aufnahmen
und Höhenmessungen vornehmend und auch den botanischen
und zoologischen Verhältnissen seine Aufmerksamkeit zuwen-
dend. Er bezeichnet den Weg als vcrhältnißmäßig sicher,
stieß in Harrar selbst aber auf starkes Mißtrauen bei der
Bevölkerung (Vergl. das „Bolletino“ der Jtal. Geogr. Ge-
sellschaft 1888, x. 820 ff.).
— Das Deutsche Emin-Pascha-Komite hat den Beschluß
gefaßt, Lieutenant W iß mann sobald als thnnlich nach
Ostafrika zu entsenden, damit derselbe auf einem von ihm
t
Aus allen Erdtheilen.
368
selbst gewühlten Wege den Versuch mache, nach Wadclai
vorzudringen und Emin Beistand zu bringen. Man glaubt,
daß der Reisende als Ausgangspunkt seiner Expedition
Deutsch-Witu-Land wählen wird.
— Joseph Thomson äußert sich nach einem heftigen
Ausfalle gegen die deutsche Kolonialpolitik —der nichts Freund-
liches von seiner geplanten Emin-Pascha-Expedition für
Deutschland erwarten läßt — über den ostafrikanischcn
Sklavenhandel und über die dcntsch-englisch-portugiesische
Blockade zur Verhinderung desselben, wie folgt: Die Untcr-
drückung des Sklavenhandels hat nichts mit den Ereignissen in
Ostafrika zn thun, und die über die ostafrikanische Küste ver-
hängte Blockade wird ihn nicht im geringsten verhindern. Der
Sklavenhandel ist gegenwärtig im wesentlichen ein Binnen-
handel, unterhalten, um die Gegenden im Inneren mit Waaren
und die Plantagen und Haushaltungen an der Küste mit
Arbeitskräften zu versorgen. Das ganze Resultat der Blockade
wird also sein, daß man einige hundert Sklaven, “bte unter
anderen Umständen nach Pemba befördert worden wären, in
Reserve halten wird, bis sie genügend zugestutzt sind, um
als Träger und Hausdiener passiren zu können. Der Handel
im Binnenlande wird völlig ungestört weiter betrieben werden.
Die deutsche Emin-Pascha-Expedition zn nnterstiitzen, warnt
Herr Thomson sowohl die Britisch-Ostafrikanische Gesellschaft
als auch die englische Regierung.
— Nach einem Referate I. Hann's über Tacchini's
Untersuchungen bezüglich des Klimas vonMassaua
(„Meteorologische Zeitschrift", 1888, S. 155 ff.) ist dieser
Ort, der bekanntlich für den heißesten der Erde gilt, nicht
sowohl durch die höchsten absoluten Temperaturen ausge-
zeichnet, als vielmehr durch das Anhalten sehr hoher Tem-
peraturen. Die Temperatur des heißesten Monats (des August,
mit 34,7° C.) wird von der Julitemperatnr des Pendschab,
Mesopotamiens rc. noch übertroffen, aber die Temperatur
ist dort nicht so gleichmäßig hoch. Die mittleren Jahresextreme
sind 41,50 190, und selbst in Süd-Europa hat man
höhere Temperatur-Maxima beobachtet. So hatte Palermo
im Jahre 1885 am 5., 8. und 4. August 43,1° bezw. 40° und
45,5°, während Massaua an denselben heißesten Tagen nur
38,1°, bezw. 38,1°, bezw. 38,2° hatte. Die mittlere Tem-
peratur des heißesten Monats in Palermo bleibt aber trotzdem
noch um ein Geringes hinter der mittleren Temperatur des
kältesten Monats in Massaua znriick. Die mittlere Tem-
peratur des Jahres beträgt in Massaua 30,2°, die des
Sommers 34,1° und die des Winters 26,0° (des Januar
25,4°). Der jährliche Gang der Temperatur ist der eines
typischen Seeklimas. — Der Regenfall ist sehr spärlich und
ans den Winter beschränkt, während in den benachbarten
Gebirgslündern ziemlich das Umgekehrte der Fall ist.
Allgemeines.
— Der Internationale Amerikanisten - Kongreß
zu Berlin hat sein Programm im allgemeinen genau in der
Weise erledigt, wie es vorher aufgestellt worden war (Bcrgl.
S. 80), und seine Verhandlungen werden nicht verfehlen auf
die ethnologische Durchforschung der Neuen Welt in einem
hohen Grade befruchtend einzuwirken. Sehr imposant zeigte
sich die deutsche Wissenschaft auf dem Kongresse, und es kann
danach kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die deutschen
Gelehrten zur Lösung der großen Räthsel, welche uns die
amerikanischen Kultur- und Naturvölker aufgeben, in den
letzten Jahren das allermeiste beigetragen haben — dank der
strengen induktiven Methode, der sie bei ihren Untersuchungen
gefolgt sind. Freilich hatten die deutschen Forscher bei ihren
Vorträgen auch den unschätzbaren Vortheil, die großartige
Schöpfung Bastians — das Berliner Museum für Völkerkunde
— unmittelbar zu ihrer Verfügung zu haben. Die deutschen
Namen, welche in den Verhandlungen besonders hervortraten,
waren diejenigen von Reiß und Stübel, Bastian, Virchow,
Karl von den Steinen, Emil Schmidt, Nehring, Fritsch,
Steinthal, Strebet, Seeler, Uhle, Andree, H. 'H. Müller rc.;
die ausländischen diejenigen von Hamy, Gaffarel, Morse,
Cora, Borsari, Netto rc. Auf den Inhalt einzelner Vor-
träge, von denen wir voraussetzen dürfen, daß sic für unsere
Leser von höherem Interesse sind, gedenken wir zurückzu-
kommen.
— Guyot Daubäs hat in der „Hsvuo ä'^.ntllrc>po-
logie“ eine interessante Untersuchung über Anomalien
der menschlichen Finger veröffentlicht. Bezüglich der
anomalen Zahl derselben unterscheidet er Etrodaktylie (Unter-
zähligkeit) und Polydaktylie (Ueberzähligkeit) und er vertritt
die Ansicht, daß beide Anomalien dazu neigen, sich zn ver-
erben. So könnte nach seinen Ausführungen durch Zucht-
wahl füglich eine scchsfingerige Menschenrasse entstehen, von
der man aber kaum behaupten dürfte, daß sie besser mit Glied-
maßen ausgerüstet sei wie die fünffingerige.
— Professor Robert Wallace macht in seinem Buche
„India in 1887“ auf die Thatsache aufmerksam, daß die
Hausthiere Indiens (Büffel, Schafe, Schweine, Pferde)
bis auf einen ganz geringen Prozentsatz, der aus schwäch-
lichen Individuen gebildet werde, eine schwarze oder doch
dunkle Hautfarbe besitzen, auch wenn das Haar darüber
hell sein sollte, und er ist geneigt, dies als eine Schutzein-
richtung bezüglich des Klimas anzusehen. Freilich erscheine
cs seltsam, daß eine dunkle Haut, die einen größeren Betrag
von Sonnenstrahlen absorbire, ein Thier besser befähigen
solle, ein heißes Klima zu ertragen, als eine helle, die einen
großen Theil der Sonnenstrahlen zurückwerfe. — Bemerkens-
wert!) ist in jedem Falle die Analogie, die in der fraglichen
Hinsicht zwischen den menschlichen und thierischen Bewohnern
der Tropen besteht.
— Das französische Marine- (und Kolonialministcrium
hat vor kurzem einen Bericht über die französischen
Kolonien (ausgenommen Algerien und Tunis) veröffent-
licht. Abgesehen von dem Kongogebicte, dessen Umfang nicht
genau angegeben werden kann, umfaßt das französische Kolo-
nialreich demnach rund 2 Mill. 9km und 22 Milk. Ein-
wohner. In Bezug auf die direkten Handelsbeziehungen
zum Mutterlande stehen unter den Besitzungen obenan Mar-
tinique und Guadeloupe, die im letztvergangenen Jahre für
17 Mill. Franks Waaren nach Frankreich sandten. Ihnen
zunächst steht Französisch-Jndien mit einem auf das Muttcr-
laud gerichteten Export von 16 Mill.; dann folgen St. Pierre
und Miquelon mit 15 Mill., Senegambien mit 14 Mill.,
Reunion mit 10 Mill. und Guyana mit 5 Mill. — Alle
anderen französischen Besitzungen (besonders in West- und
Ostafrika) senden zusammengenommen für 8 Mill. Franks.
Jnhalt: Das heutige Japan. (Mit vier Abbildungen.) — Dr. Heinrich von Wlislocki: Festgebrauche der trans-
silvanischen Zeltzigeuner. (Schiusi.) — Theodor Kirchhoff: Stldkalifornien im Jahre 1887. IV. — Kurzere Mittheilungen:
Mozambique. — Eine Legende der Salonions-Jnsulaner. — Aus alien Erdtheilen : Europa. — A sten. — Afrika. — Allgemeines.
(Schiusi der Rcdaktion am 4. December 1888.)
Hierzn zwei Beilagen: B. Martens, Cigarrenfabrikant, Bremen, nnd Th. Griebeills Bering (L. Fcrnau) in Leipzig.
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg nnd Sohn in Braunschweig.
\
ffiit besonderer Heruedsichtigung der Ethnologie, der Kulturderhälinisse
und des MeIt Handels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben van
Dr. Emil Deckert.
Jährlich 2 Bände ä 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten 1 qq'q
-O I CI U li | U) IU 6 l Q zum Preise von 12 Mark pro Band zu beziehen. JL o o O
Dr. O. Finsch's Typen aus der Steinzeit Neuguineas.
(Mit zwei Bildertafeln.)
Zu der geringen Zahl von Völkern, welche bis zur
Gegenwart fast unberührt von dem sonst so mächtigen Ein-
flüsse der Weißen wie auch der Kulturvölker Ostasiens ge-
blieben sind, gehören vor allen die Papua von Neuguinea —
ganz besonders die Bewohner der Nord- und Ostküste, also
auch des Kaiser-Wilhelmslandes. Denn diese Gegenden
wurden bis auf die neueste Zeit äußerst selten besucht, keines-
falls aber in den Verkehr hineingezogen, der sonst in diesen
Theilen der Südsec vorzugsweise aus Kopra- Handel und
Arbeitcrerwerbung besteht; auch die Mission hatte noch nir-
gends Fuß gefaßt. Man darf daher sagen, daß die Papua
der Nordküste sene volle Originalität ihrer Lebenszustände
wie ihrer Handfertigkeitserzeugnisse bewahrt haben, welche
anderen Zweigen ihrer Rasse ganz oder theilweise verloren
gegangen ist. Und diese Thatsache ist um so erfreulicher,
als die eben genannten Eingeborenen nicht etwa ausschließ-
lich auf die Erwerbung ihres Lebensunterhaltes bedacht sind,
sondern trotz ihrer einfachen Werkzeuge, die vorzugsweise
ans Steinen und Muscheln gefertigt werden, aus den ihnen
von der Natur dargebotenen Produkten Erzeugnisse herzu-
stellen verstanden, die wegen ihrer ZNannigfaltigkeit, Brauch-
barkeit und Eleganz in ihrer Art den Anspruch von kunst-
gewerblichen Gegenständen machen dürfen. Aus diesem
Grunde muß es daneben begrüßt werden, daß der wissen-
schaftliche Entdecker des Kaiser -Wilhclmslandes — Dr. O.
Fin sch — seinem kürzlich erschienenen Reisewerke, betitelt:
Globus LIV. Nr. 24.
„Samoafahrten “, einen einzeln käuflichen Ethnolo-
gischen Atlas unter der Bezeichnung: „Typen aus
der Steinzeit Neuguineas" beigegeben hat. Derselbe,
enthaltend auf 24 lithographischen Tafeln 154 Abbildungen,
nach Originalen gezeichnet von O. und C. Finsch und von
einem erläuternden Text in deutscher, englischer und franzö-
sischer Sprache begleitet, bezieht sich auf Steingeräthe,
Hausbau und Hausgeräth, Töpferei, verschiedenes Geräth,
Kanus, Fischereigeräth, Strickereien, Waffen, Masken,
Tabu-Gegenstände, Bekleidung und Schmuck; letztere ist am
reichlichsten, mit acht Tafeln, bedacht worden. Beide Dar-
stellungsmittel, Bilder und Textworte, zeichnen sich nicht
nur durch große Deutlichkeit und Anschaulichkeit ans, son-
dern bieten selbstredend auch die weitgehendste Gewähr für
sachliche Richtigkeit. Daher kann es für den Bericht-
erstatter nur eine angenehme Aufgabe sein, alle Freunde
und Kenner der Ethnologie aus dieses ebenso werthvolle wie in
seiner Art einzig dastehende Werk aufmerksam zu machen I. Die
folgenden Zeilen sollen nur einige Hauptpunkte hervorheben.
Die Steinäxte oder Steinbeile, welche nicht als
Waffe, sondern als Werkzeug zum Fällen von Bäumen,
zum Bau der Häuser und Kanus, zur Zurichtung der Holz-
stücke für nachfolgende Schnitzereien u. a. m. dienen, inter-
i) Dr. O. Fiusch's Ethnologischer Atlas zu den Samoa-
sahrten. Leipzig 1888. Ferd. Hirt & Sohn.
47
370
Dr. O. Fins ch's Typen aus der Steinzeit Neuguineas.
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Steingeräthe von Neuguinea.
Aexte: 1. 2. 3. von der Astrolabe - Bai ; 4. von Finschhafen- 5. vom Sechstroh - Fluß ; 6. vom Kap Gonrdon;
7. von Gnap; 8. von Normanby.
Dr. O. Finsch' s Typen aus der Steinzeit Neuguineas.
371
essiren eben so sehr durch das verwendete Material, wie
durch die Art ihrer Herstellung. Für die Klingen, die
zurecht geschliffen werden, verwendet inan entweder harte
Steine, meist passende Geschiebestücke von Diorit, Kiesel-
schiefer, Basalt und amorphem Grünstein oder den Schloß-
theil gewisser Muscheln, am häufigsten von Tridacoa gigas,
seltener Hippopus, Mitra oder Terebra. Zum Stiel
wählt man in der Ziegel ein dünnes Stämmchen, das einen
recht- oder spitzwinkelig abstehenden Ast besitzt; an den stär-
keren Theil befestigt man die Klinge mit Schnüren ans Lianen,
gespaltenem Rotaug oder starken Bindfaden. Die voll-
kommensten Formen werden im Westen des Kaiser-Wil-
helmslandes hergestellt; hier ist der runde, gerade Holzstiel
durchbohrt und in das dadurch entstandene Loch das runde
Holzstück, welches vorn die Klinge trägt, eingesteckt. Wo
man Eisen erlangen konnte, ersetzt dieses den Stein oder die
Muschel.
Eine ziemlich große Mannigfaltigkeit zeigt der Haus-
bau. Man kaun zunächst zwei Haupttypen unterscheiden.
Der eine derselben entspricht der Hüttenform, indem das
Dach beiderseits bis auf die Erde reicht. Bei der anderen
Form steht das Hans selbst auf einem Rost von Pfählen,
die bald niedrig, bald hoch sind. Der Grundriß ist vor-
wiegend rechteckig; der Eingang erfolgt bei dem ersten Typus
durch eine ebenerdige Thür, bei dem zweiten führt ein ent-
sprechend langer, schräg gestellter, eingekerbter Treppenbalken
empor; die Thüröffnung selbst ist in vielen Fällen besonders
überdacht oder mit einem Vorplatze — einer Art Plattform —
versehen. Die innere Einrichtung der gewöhnlichen
Häuser jist sehr einfach; man erblickt darin einige Ruhe-
bänke, etwas Hausgeräth (wie Töpfe, Schusseln u. a.) und
einige Vorrathsbündel mit werthvollerem Schmuck, in der
Mitte endlich die Feuerstätte, wo beständig Feuer gehalten
wird; denn einige Stämme verstehen es nicht, die lebendige
Flamme zu erzeugen. Größer und kunstvoller als die Wohn-
häuser sind die sogenannten Versammlungs Häuser,
welche, in fast keinem Dorfe fehlend, verschiedenen Zwecken,
— als Schlafstätte der nnverheiratheten Männer, als Festhütte,
zum Empfange fremder Gäste u. a. — dienen und von den
Weibern nicht betreten werden dürfen. Mitunter sind sie
mit Schnitzereien an den Stützbalken sowie mit geschnitzten
und bemalten Thicrgestalten aus Holz ausgestattet; zugleich
werden in ihnen die großen und kleinen Holztrommcln auf-
bewahrt, unter denen die sogenannten Signaltrommeln für
die Weiber strengstens „tabu" sind. Wasserbauten kommen
in Kaiser-Wilhelmsland nicht vor, wohl aber in der benach-
barten, zu Niederlündisch-Neuguinea gehörenden Humboldt-
bai; dieselben sind zwar schon von früher her, zuerst durch
die Reise des Kriegsschiffs „Etna", bekannt, aber die von
Finsch sowohl im Atlas als im Reisewerke gegebenen Ab-
bildungen und Mittheilungen vermitteln uns doch erst eine
richtige Vorstellung von diesen interessanten Pfahlbauten,
insonderheit von dem Versammlungshause in Tobadi, „dem
großartigsten und bewnndernswcrthestcn Pfahlbau in Neu-
guinea und vielleicht der Steinzeit überhaupt". Noch
wollen wir erwähnen, daß die Holzbildnerei der Papua
eine Reihe überlebensgroßer menschlicher Figuren hervor-
brachte, welche, je nach der Oertlichkeit, mit verschiedenen
Namen — als „Telnm" oder „Gabiang" — bezeichnet, wohl
in den Proportionen verfehlt sind, aber doch von dem
Fleiße und der Ausdauer der Verfertiger ein beredtes
Zeugniß ablegen.
Wenden wir uns zu den Arbeitsgeräthen und
Arbeitsleistungen, so sind über die Fischerei, den Kanu-
bau und die Töpferei schon früher einige Andeutungen in
diesem Blatte gemacht worden, die nicht wiederholt werden
sollen. Dagegen verdient die Strickerei der Papua wegen
ihrer vollkommenen Technik Beachtung. Man macht in
dieser Richtung hauptsächlich Tragbentel, verschieden in
Größe und Ausschmückung, die zu den unentbehrlichsten
Ausrüstungsgegenständen gehören, indem sie den Männern
zur Aufbewahrung der täglichen Bedarfsartikel, den Weibern
dagegen zum Tragen der Kinder und der Lasten (Feld-
früchte, Holz u. dergl.) dienen. Diese Beutel sind aus
bald einfarbigem, bald abwechselnd schwarzem und braunem
Bindfaden geknüpft und in mannigfachster Weise mit
kleinen Muscheln, Hundezähnen, geflochtenen Pflanzenfaser-
kettchen, halbdurchschnittenen Coixkernen u. s. w. besetzt und
verziert.
Minder hervorragend sind die Leistungen in der Her-
stellung von Waffen, die wegen des geringfügigen Jagd-
betriebes hauptsächlich für den Krieg in Frage kommen.
Die Hauptmasse ist der Wurfspeer, vorzugsweise eine zwei
bis drei Meter lange, oft ziemlich schwere Stange, meist
aus Palmenholz; das Basis-Ende ist verdünnt, das Spitzen-
ende etwasxverdickt und zuweilen mit ein paar Kerbzähnen
oder einer Furche versehen. Daneben findet man eine
zweite Art Wurfspeer, an dem eine breite, lanzettförmige,
etwa 70 cm lange Spitze aus Bambu angebracht, an der
Verbindungsstelle aber oft sehr kunstvoll mit Federn, Kuskus-
fell u. a. verziert ist. Die zweite Art vermag gefährliche
Wunden hervorzubringen, wirkt aber doch nur auf 40 bis
50 Schritte. Häufig, aber nicht ganz allgemein, kommen
Bogen und Pfeile vor; ersterer aus Palmenholz gefertigt,
etwa zwei Meter lang, meist glatt und ohne allen Auspntz,
hat eine Sehne aus gespaltenem Rotang; letztere, etwa
140 cm lang, sind von mannigfaltiger Beschaffenheit: fast
ausnahmslos aus leichtem Rohr und mit einem runden
Spitzenkeile versehen; die Spitze, in Feuer gehärtet, ist öfters
mit verschiedenartig geschnitzten Kerb- und Sägezähnen
oder Widerhaken ausgestattet. Vergiften der Pfeile kennt
man in Neuguinea nicht. Außerdem begegnet man an
einzelnen Stellen auch Keulen, Dolchen, Schilden und
Kürassen. Die Keulen bestehen meist aus einem über
einen Meter langen, flachen, schwertartigen Holzstück, in das
bisweilen eigenthümliche Ornamente eingravirt sind. Solche
aus Kasuarknochen, ebenfalls hübsch ornamentirt, und
vorzugsweise im Westen des Kaiser-Wilhelmslandcs ge-
bräuchlich, werden gewöhnlich im Armbande getragen.
Schilde, stets aus Holz, zeigen sich in Form und Ver-
zierung an jedem Orte ihres Vorkommens verschieden. Einer
der von Finsch abgebildeten, von der Insel Trobriand
stammend, zeichnet sich durch kunstvolle Bemalung in Weist
Roth und Schwarz aus und stellt wohl das Vollkommenste
dar, was von Papuas in Malerei geleistet wird. Kürasse
endlich, fein aus Rotang geflochten, lernte Finsch nur in
Angriffshafen kennen.
Von Musikinstrumenten im engeren Sinne des
Wortes gebrauchen die Papua im allgemeinen nur die
Panflöte und die Rohrflöte; beide, in Neubritanuien häufig,
sind in Neuguinea kaum zu finden. Um so ausgebildeter
ist dagegen hier der Gebrauch von Trommeln, welche,
ähnlich wie in Kamerun, zur Signalisirung gewisser
Ereignisse dienen. Die Form derselben ist verschieden;
manche bestehen in einem etwas ausgehöhlten trog-
sörmigen Baumstamme und werden mit einem Stocke
geschlagen. Andere sind ausgehöhlte Holzröhren, in der
Mitte sanduhrähnlich eingebogen, an der einen Seite mit
Eidechsenhaut überzogen und theilweise mit geschmackvollen
Schnitzereien verziert; mit der einen Hand am Henkel
gehalten und mit der anderen geschlagen (wie bei den
Malaycn und Singhalescn), haben sie den Zweck, bei
den Gesängen, welche die sogenannten Tänze begleiten, den
Takt anzugeben.
47*
mtm—
372
Dr. O. Finsch's Typen aus der Steinzeit Neuguineas.
Haus gern th von Neuguinea.
1. Kopfstütze ; 2. Haken ; 3. Schlüssel von Fiuschhasen; 4. Raudverzieruug von der Teste-Insel.
-,
Dr. R. v. Lendenfeld: Der Krater von Littleton.
37 3
Zur Erhöhung der Festfreude werden bei den Papua
wie bei vielen anderen Naturvölkern Masken getragen,
die interessanter Weise ebenfalls mitunter an der Stelle
der Nase einen Vogelschnabel haben. Diese Masken,
hauptsächlich im Westen in eigenthümlicher Form vor-
kommend, sind aus einem soliden Stück gearbeitet, bunt
bemalt und mit mancherlei Dingen (Blattbüscheln,
Menschenhaaren, Muscheln u. dergl.) behängt. Minia-
turmasken, von den Männern gelegentlich an den Trag-
beuteln befestigt, scheinen die Bedeutung von Amuletten
zu haben.
Im Anschluß an diese Amulett-Masken äußert sich Fiusch
über einige Gebräuche, die vielfach mit Religion in Zu-
sammenhang gebracht werden. Das polynesischc „Tabu",
sagt er, ist mehr oder minder auch in Melanesien verbreitet
und die bildlichen Darstellungen von menschlichen Figuren,
welche nicht als „Götzen" gedeutet werden, stehen zum Theil
in Beziehung zu diesem Tabu, haben aber „nichts mit Re-
ligion zu thun, sondern hängen mit einem gewissen Ahnen-
kultus zusammen". Um in dieser Frage Stellung zu
nehmen, müßte man sich erst über die Ausdehnung des
Begriffs „Religion" verständigen. Ohne aber diese An-
gelegenheit hier weiter verfolgen zu wollen, bemerken
mir nur, daß der Ahnenkultus allerdings einen Theil von
Religion ausmacht und als solche weite Verbreitung unter
den Völkern höherer und niederer Kultur genießt. Außer
den schon früher erwähnten kolossalen Ahnenfiguren kommen
auch kleine vor/ welche sowohl Männer als Frauen in
Landestracht darstellen.
Ad. vocem Tracht zu den Lebenden zurückkehrend,
theilen mir mit, daß eigentliche Nacktheit in Neuguinea nur
ausnahmsweise vorkommt. Abgesehen von kleinen Knaben
pflegen nämlich beide Geschlechter eine Art Leibschurz zu
tragen. Bei den Männern ist dies der sog. „Mal", d. h.
ein mehrere Meter langes, bis 50 cm breites Stück
geschlagenen Baumbastes („Tapa") welches, zuweilen
bemalt, um den Leib geschlungen und zwischen den
Schenkeln durchgezogen wird. Die Vertreterinnen des
weiblichen Geschlechtes bekleiden sich von früher Jugend
an entweder mit zwei, mitunter volantartigen Schürzen
oder mit einem bis zum Knie reichenden Grasrock;
beide Stücke fertigt man aus den zerschlissenen Blatt-
fasern der Kokos- oder Sagopalme; in letzterem Falle
fügt man, namentlich für die Festgewünder, bunte Fär-
bung hinzu.
Unvergleichlich viel mannigfaltiger und werthvoller als die
Kleidung ist aber der Schmuck der Papua, und mau kann
sagen, daß die Leute alle drei Naturreiche durchsucht haben,
um Stoffe zur Verzierung ihres Leibes ausfindig zu machen.
Doch sind es nicht rohe Naturerzeuguisse, mit denen man
sich behängt und umwindet, sondern jedem Stück wurde ein
bestimmtes Maß von Arbeit und Geschmacksrichtung zu-
gewandt, bis es die gewünschte gefällige Form erhielt. Und
wenn man schon keinen Hauptthcil des Körpers bei der
Verzierung und Ausschmückung völlig leer ausgehen läßt, so
sind cs besonders das Haar, die Nase, das Ohr, der Hals,
die Brust und der Oberarm, welche durch Schmuckgegeu-
stände der mannigfachsten Art ausgezeichnet werden. Zu-
gleich wechselt der Geschmack nach Geschlecht, Ort und Zeit.
Für gewöhnlich trägt man wenig Zicrrathen, etwa den Nasen-
keil, eine Halskette und ein Armband, das wäre also etwa
die Werktagstracht; bei Festlichkeiten aber wird der volle
Schmuck angelegt und diesem Bemalung, vorzugsweise mit
rother Farbe, hinzugefügt. Sodann sind es in erster Linie
die jungen Männer, die sich am buntesten und vollständigsten
herausputzen, dann folgen in abnehmender Linie die älteren
Männer, daraus die Mädchen und jungen Frauen; den
Beschluß machen mit den wenigsten und schlechtesten Schmuck-
stücken die alten Weiber. Was endlich die Variabilität der
Ausschmückung anbetrifft, so lassen sich nach Finsch in dem
von ihm mit der „Samoa" besuchten Gebiete etwa drei
Hanptprovinzen, auf Grund des Vorwaltens gewisser
Eigenthümlichkeiten, unterscheiden: diese sind der Osten,
die Mitte und der Westen. Indeß würde es uns zu
weit führen, tiefer in derartige ethnologische Fragen ein-
zudringen. Auch die Einzelheiten bezüglich der Form
und Herstellung der so zahlreichen Schmuckgegenstände
wollen wir hier nicht weiter verfolgen, denn ohne von
Abbildungen unterstützt zu sein, well die Beschreibung
wenig besagen. Wer sich dafür interessiert, und wir
hoffen, daß dies bei recht Vielen der Fall sein wird, dem
rathen wir, den „Ethnologischen Atlas" selbst zur Hand
zu nehmen; dieser wird jede gewünschte Auskunft und
Belehrung aufs Beste gewähren. A. 0.
Der Krater von Littleton.
Von Dr. R. v. L e n d e n f e l d.
(Mit zwei Abbildungen.)
Der mittlere Theil der Südinsel von Neuseeland wird
nahe seinem nordwestlichen Rande von den Alpen durch-
zogen, welche hier ihre mächtigste Entwickelung und be-
deutendste Höhe erreichen. Im Südosten breitet sich eine
weite Ebene aus, welche von den Flüssen durchzogen wird,
die von dem Ostabhang der Alpen herabkommen. Diese
Ebene besteht größtenthcils ans postpliocenem Geröll und
sie senkt sich sehr allmählich gegen die flache Küste hin.
Die Flüsse, welche im Herbst und Winter fast verschwinden,
nehmen im Frühling, zur Zeit der Schneeschmelze im Ge-
birge gewaltige Dimensionen an und bringen dann unge-
heure Massen von Geröll und Sand aus dem Gebirge
herab in das Flachland. In viele Arme zertheilt, breiten
sie sich über das flache Land aus und überschütten dasselbe
mit immer frischem Material, während Sand und kleinere
Steine ins Meer hinausgeführt werden. Verschleiert durch
•1
374 Dr. R. v. Lenden selb:
mächtige Sanddünen vor den Flußmündungen, und durch
sie vor der Brandung geschützt, rückt die Küstenlinie selber
allmählich vor und das Land dehnt sich immer weiter gegen
das Meer hin aus.
Ebenso wie heute die Canterbury-Ebene fortwährend
nach Südosten hin vorrückt, ebenso ist sie auch ursprünglich
entstanden. Die Küstenlinie selber bildete stets einen con-
caven Bogen, der sich zwischen den angrenzenden Vorgebirgen
ansbreitete, und der sich immer mehr der geraden Verbin-
dungslinie der benachbarten Kaps näherte.
Bevor und während sich die Canterbury-Ebene auf diese
Weise bildete, fanden heftige vulkanische Eruptionen im
Meere — etwa 40 km von der ursprünglichen Küstenlinie
entfernt — statt. Im Zusammenhange mit diesen Ausbrüchen
wurde eine kleine Scholle palaeozoischen Gesteins an jener
Stelle gehoben, und bald erschien der Gipfel des sub-
marinen Vulkans über dem Spiegel des Meeres. Die 'so
Der Krater von Littleton.
gebildete Insel vergrößerte sich rasch durch wiederholte
Eruptionen. Die Kraterwände erreichten eine Höhe von
1000 m, und die Insel selber erlangte einen Durchmesser
von 30 bis 40 km. Obwohl die verschiedenen Ausbrüche
nicht alle an derselben Stelle stattfanden, so waren doch die
Centren, von denen mindestens fünf unterschieden werden
können, nahe beisammen innerhalb eines Kreises von 12 km
Durchmesser.
Der Boden eines jeden dieser fünf Krater blieb unter
dem Niveau des Meeres, und es wurden im Laufe der Zeit
die Kraterwälle überall dort von der Brandung und den
Atmosphärilien durchbrochen, wo sie den geringsten Wider-
stand boten — die geringste Dicke besaßen. In dieser
Weise traten die fünf Krater in Verbindung mit dem
Meere und sie erscheinen heute als ebcnsoviele Buchten.
Die große vulkanische Insel füllte durch das, von der-
selben herabgeschwemmte Material allmählich das Meer in
1
Mt. Sinclair. Rbodcs Suaar Loaf. Kerkert Beat. Castle Kill.
ihrer nächsten Umgebung an und schützte gleichzeitig die da-
hinter liegende flache Küste vor der Brandung. Infolge
dieser Ursachen schob sich die Strandlinie gegen die vulka-
nische Insel vor, indem das durch die Flüsse von den Alpen
herabgebrachte Material, sich in dem ruhigeren Wasser der
Meerenge hinter der vulkanischen Insel ablagerte. Endlich
erreichte das Festland die Insel und es bildete sich eine
lveit ausgedehnte, vollkommen flache, durchschnittlich kaum
sechs Meter über dem Meer liegende Ebene,^welche die nun
zu einem Vorgebirge gewordene Vulkangruppe mit dem Fest-
lande verband. Auf dieser Ebene steht die wichtigste Stadt
Neuseelands — zugleich die Hauptstadt der Provinz Canter-
bury — Christchurch. Die vulkanische Halbinsel heißt
Banks' Peninsula, und der größte Krater in derselben,
welcher nach Nordost mit dem offenen Meer in Verbindung
steht, ist der wichtigste* Hafen der Südinsel von Neuseeland
— Port Littleton, in dessen Hintergründe die gleichnamige
Stadt liegt.
Fast der ganze transmarine Verkehr der Provinz Canter-
bury — und dieser Verkehr ist ein sehr bedeutender —
geht über Christchurch und Littleton. Mehrere Wege führen
über den alten Kraterrand von der einen Stadt in die
andere, da aber der Kamm nirgends unter 250 m hcrab-
sinkt, so war der Transport mit Schwierigkeit und Zeit-
verlust verbunden. Es wurde aus diesem Grunde ein
Tunnel durch den Kraterwall gebant, welcher jetzt die Eisen-
bahnverbindung zwischen diesen Städten vermittelt. Der
Tunnel ist gegen 2 km lang und deshalb von Interesse, weil
er die einzige Durchbohrung eines großen Kraterwallcs
auf der Erde ist. Die Richtung des Tunnels ist zwar
keineswegs streng radial gegen das Centrum des Kraters
hin aber doch hinreichend so, daß die Schichtenfolge auf
diesem künstlichen Durchstich in natürlichen Verhältnissen
erscheint.
Mein Freund, der verstorbene Julius von Haast, hat wäh-
rend des Tunnelbaues die geologischen Verhältnisse studiert
i
\
Dr. R. v. Lendenfeld: Der Krater von Littleton.
375
und giebt an (Geology of Canterbury and Westland,
p. 355), daß der Kraterwall an jener Stelle ans 61 Strömen
kompakten oder phorphyritischen Basalts; aus 54 Strömen
lockerer Lava; aus 39 Schichten von Conglomeraten rc.; aus
19 Schichten von durch Hitze gehärtetem Erdboden (Laterit);
und aus einer Schicht von Felstrmnmern — im ganzen also
174 unterschiedlichen Schichten besteht.
Zu beiden Seiten an den Tnnnelenden findet sich Löß.
Dann folgen, von außen gegen den Krater fortschreitend,
zahlreiche etwa 20° nach außen geneigte Schichten von
Lava u. s. w., bis gegen den inneren Rand hin, wo die
Schichtenfolge eine unregelmäßigere wird, und wo bedeutende
Btassen von Asche und Lapitli angetroffen werden. Es
kommen hier, am inneren Stande, sogar nach innen geneigte
Schichten vor.
Das ganze Gebiet wird von zahlreichen vulkanischen
Gängen von Trachyt, Diorit u. s. w. durchzogen, und es
Lake Ellesmere.
H_______________________
1
sind bei keinem anderen bekannten Vulkane diese Gänge so
reich entwickelt und so gut erhalten wie gerade hier.
Alle Gänge erscheinen als große vertikale Platten,
welche Spalten in dem Gestein ausgefüllt haben. Alle
strahlen von den vulkanischen Centren — die meisten von
einem Punkte in der Mitte des Hafens von Littleton — aus
und erscheinen wie Speichen eines riesigen Rades. Die
gute Erhaltung dieser Gänge, welche zum Theil eine Dicke
von zehn Metern überschreiten, und die Thatsache, daß sie alle
— selbst die obersten und äußersten Lavaschichten — gleich-
mäßig durchsetzen, weist darauf hin, daß sie zu einer Zeit
gebildet wurden, als der Vulkan schon fertig war. Viele
dieser Gänge traversiren den Tunnel; andere werden an
der Oberfläche vielerorts in Steinbrüchen abgebaut; und alle
erscheinen deshalb auffallend, weil sie infolge ihrer be-
deutenderen Resistenz gegen Verwitterung über die Berg-
hänge gleich Mauern hinausragen. An einzelnen Stellen
The Kiiobs.
Jt
\
Msel.
Governor Bay.
(Südaussicht von Mount Pleasant.)
ist das umgebende Gestein so weich und verwitterbar, daß
diese Mauern eine bedeutende Höhe erreichen.
Obwohl in der Mitte einiger der Kraterbuchten und
speziell auch im Hafen von Littleton kleine Inseln, respektive
schmale Landzungen jüngeren Alters vorkommen, welche aus
vulkanischem Gestein bestehen, so weist doch keine Beob-
achtung darauf hin, daß an dieser Stelle die vulkanische
Kraft heute noch thätig wäre.
Die zahlreichen Erdbeben, die in Neuseeland verspürt
werden, gehen fast alle entweder von Rotomahana in der
Nordinsel oder von einem submarinen vulkanischen Centruin
in Cooks Straits, zwischen der Nord- und Südinsel, ans.
In keinem Falle ist beobachtet worden, daß Banks' Pen-
insula der Mittelpunkt eines stärkeren Erdbebens gewesen
wäre.
Obwohl Banks' Peninsula im Umfange dem Aetna
gleichkommt, so erreichen doch die höchsten Punkte der
Kraterwülle heute nirgends eine so bedeutende Höhe. Der
höchste Punkt ist Mount Herbert, im Süden von Port
Littleton, mit einer Höhe von ungefähr 1000 m.
Wenn man einen der vorragenden Punkte des Krater-
walles zwischen der Canterbury-Ebene und dem Hafen von
Littleton besteigt, so genießt man eine ebenso lehrreiche wie
freundliche Aussicht.
Im Osten breitet sich die Canterbnry-Ebene aus, geziert
durch glänzende Flußläuse, welche von dem reichgegliederten
Gebirge im Hintergründe herabkommen. In der Mitte
steht die Stadt mit zahlreichen Thürmen, umgeben von
waldreichen Anlagen, und durchzogen von dem vielfach ge-
wundenen Avonflnsse, der langsam und ruhig durch das
flache Land dahin zieht. Im Süden liegt der Ellesmere-
See, durch eine zarte Sandbarre vom offenen Meer ge-
trennt. Das Niveau desselben steigt infolge der Zuflüsse
fortwährend, bis der hohe Wasserdruck die Sandbarre durch-
bricht, dann bleibt das Niveau mit jenem des Meeres gleich,
bis bei einem heftigen Südwestwinde die Sandbarre durch
Í
Der Krater von Littleton. (Nordaussicht von den „ Knobs" .)
M/MS
H. chroeter: Bericht über eine Reise nach Kwnng-si.
377
die gewaltige Brandung wieder aufgethürmt wird und das
Spiel von neuem beginnt. Ueber das Land hinaus dehnt
sich im Norden und Süden der weite glatte Horizont des
hohen Meeres. In der nächsten Umgebung fesseln die
scharfen Formen des alten Kraterwalles das Auge: nach
außen sanft geneigt, fällt dieser Bergrücken nach innen steil,
in seinen oberen Partien sogar mit senkrechten Wänden ab.
Den Fuß der Steilhänge bespült das Wasser des Hafens,
auf dessen unbewegter Oberfläche große Dampfer von ihrer
Weltumsegelung ausruhen.
Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Von H. Schroeter.
V. (Fortsetzung aus Nr. 7.)
Der Handel Kwang-si's und Wu-tschou-Fu
als Vertragshasen der Zukunft.
Der erste Europäer, welcher den Westfluß jenseits von
Schao-king-fu erforscht hat, ist ein Offizier der englischen
Marine, Lieutenant Bullock, gewesen, welcher während der
Flottendcmonstration vor genannter Stadt im Jahre 1859
eine Expedition nach Wu-tschou-fu unternahm, und von
Sam-schui bis dahin eine Karte gezeichnet, sowie Materialien
über die Schifffahrt jener Strecke geliefert hat, welche im
sogenannten „China Pilot" aufgeführt sind, Nach ihm
machte der damalige englische Vicekonsul in Canton, Herr-
Mayers, im November 1862 einen kurzen Ausflug nach
Wu-tschou-fu, über welchen er seiner Zeit einen Artikel für
die „China Mail" schrieb.
Der erste und einzige ausführliche Bericht über den
großen Strom ist von Herrn Michael Moß geliefert worden,
welcher, im Jahre 1870 von der Handelskammer zu Hong-
kong abgesandt, über Wu-tschou-fu hinaus bis nach Nan-
ning-fu gelangte. Leider wurde er durch die unfreundliche
Bevölkerung gezwungen, vor jener Stadt umzukehren, ohne
sie besichtigt zu haben. Ueber den Handel des Westflusses
hat er damals eine Menge interessanter Notizen veröffent-
licht, welche ich mit dem Resultate meiner eigenen Beob-
achtungen habe vergleichen können.
Seit jener Expedition hat, mit Ausnahme Colquhoun's
(im Jahre 1882), welcher bis nach Pack-schnik (Pese), wo
seine eigentliche Reise „Across Chryse“ erst begann, sein
Boot nur selten verlassen zu haben scheint, kein Europäer
den Westfluß wieder besucht, der etwas Uber den Handel
jener Gegenden veröffentlicht hätte. Viele Verhältnisse
haben sich während der letzten Jahrzehnte auch geändert,
und cs ist daher vielleicht ganz am Platze, wenn ich die
vorstehende Reisebcschreibung mit einigen allgemeinen Mit-
theilungen über die commcrziellen Verhältnisse des West-
flusses beschließe.
Das mich hier angehende Terrain beginnt mit der
„Dreiwasscrstadt" Sam - schui.
Ich möchte aber vorweg vergleichsweise das zwischen
diesem Platze und Hongkong und Macao gelegene, städte-
reiche Delta heranziehen. Die einzelnen, inländischen Häfen
desselben versehen sich direkt von Hongkong aus mit Jmport-
artikeln und liefern nach dieser Handelsmetropole Süd-
Chinas auch schon unter Umgehung Cantons mit jedem
Jahr mehr der Landesprodnkte und Fabrikate für den
Export.,
Das ganze Delta bezahlt mit Ausnahme weniger Artikel
(z. B. das Opium und Petroleum) im Großen und Ganzen
Globus MV. Nr. 24.
merkwürdig geringe Steuern auf per Dschunke verladene
Waaren, wenigstens nicht annähernd so viel, wie das unter
Leitung von Europäern stehende Zollhaus auf per Dampfer-
kommende fordert. Hierdurch, sowie durch den Umstand,
daß mit fremden Schiffen kommende und gehende Waaren
häufig noch Extragebühren nach dem Lande oder vor der
Verschiffung in Canton zu tragen haben, erklärt es sich,
daß die Hongkong-Flußdampfer einen solch kleinen Antheil
an dem enormen Waaren-Transport zwischen Hongkong
und dem Herzen des Konsumlandes — Canton — sich er-
worben haben. Denn wo das europäische nur mit Dampfern
und Seglern sich befassende Zollhaus z. B. 5 Procent ad
valorem erhebt, wozu also in vielen Füllen noch weitere,
immerfort wechselnde und unter neuem Namen auftauchende
Taxen kommen, rechnet das chinesische nur etwa 2 Procent
auf per Dschunke gesandte Güter, mit wenig Unterschied,
ob dieselben in einem der kleinen Häfen in Hongkongs
nächster Nachbarschaft, oder z. B. an dem höchst gelegenen
Punkte des Deltas — H sin am — gelandet werden. Diese
2 Procent ad valorem will ich übrigens nicht als eine
Durchschnittstaxe hinstellen, sie werden nur in demselben
Verhältniß und mit ähnlichen Modificationen gerechnet, wie
z. B. die 5 Procent des kaiserlichen See-Zollamts. Wenn
ich nun von dem Factum ausgehen darf, daß China per
Dschunke nach und von Hongkong, also dem Auslande,
kommende und gehende Waaren zu besteuern ebensogut das
Recht hat, wie per Dampfer gesandte, so behaupte ich, daß
die noch während der letzten Jahre regelmßäig, wie die
Seeschlange, in den Hongkonger Zeitungen wiedergekehrten
Artikel über die Blockade-Frage sich auf seit vielen Jahren
gar nicht mehr existirende Verhältnisse beziehen.
Zu leugnen ist freilich nicht, daß die Dampfer den
Dschunken gegenüber benachtheiligt werden, doch geschieht
dies weniger den letzteren zu Liebe, als um zu erreichen,
daß ein Theil der Zölle, anstatt durch die Beamten des
General-Zoll-Jnspektors einkassirt zu werden und so in den
kaiserlichen Säckel nach Peking zu wandern, in den Pro-
vinzial-Kassen oder in der Tasche des Hoppo bleiben.
Wenngleich ich somit nicht in Abrede stellen, sondern viel-
mehr ausdrücklich betonen will, daß in wenigen von Europäern
bewohnten Ländern so geringe Stenern auf Importe ans
dem Auslande erhoben werden, wie gerade in unserem, da-
durch mit reichgewordenen Canton-Delta, so liegt es durch-
aus nicht in meiner Absicht, als Bewunderer der fiskalischen
Verhältnisse unserer zwei Provinzen aufzutreten, denn so
liberal unser direktes Hinterland bis nach Sam-schni hinauf
behandelt wird, so schlecht verfährt man mit den jenseits
desselben liegenden Distrikten.
48
378
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Nicht lediglich die Eröffnung der Mng-tse-Häfen ist
es gewesen, welche den Handel mit Kwang-si und weiter
mil unseren Nachbarprovinzen Hunnan, Kweitschau und
Ljunnan im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr dem
Westflusse entrissen haben, auch die Folgen der Taiping-
Nebellionen haben allein es nicht verhindert, daß der Handel
Kwang-sis heutzutage noch so wenig entwickelt, und daß
diese Provinz mit anderen verglichen ein so unbedeutendes
Absatzfeld für europäische Waaren geblieben ist. Es ist
neben der großen Entfernung in nicht geringem Maße auch
die ungeheure Anzahl von Likiu-Stationen gewesen, auf
welche ich in den vorstehenden Mittheilungen vielfach hin-
gewiesen habe, die sich den ganzen Strom hinaufziehen.
Die chinesische Regierung suchte nämlich nach den Re-
bellionen die durch Unterdrückung derselben erwachsenen,
großen Unkosten dadurch wieder dem Laude auszupressen,
daß sie fast bei jeder einigermaßen bedeutenden, an: User
des Stromes gelegenen Ortschaft eine Zollstation errichtete,
deren ich allein zwischen Hsinam und Ping-na-schien acht
auszuzählen Gelegenheit hatte. Diese Stationen sind, einem
Heer von Beamten Sinecuren verschaffend, bis auf den
heutigen Tag verblieben. Aus einer jeden werden die den
Fluß ans- oder abwärts passirenden Waaren, mit nur wenig
Modificationen und mit geringer Rücksicht darauf, daß sie
schon so und so oft vorher Zoll bezahlt haben, besteuert,
und so muß also dieses System um so verderblicher wirken,
je weiter die betreffenden Güter reisen.
Den Handel in manchen Artikeln hat dieser Zoll buch-
stäblich vernichtet. Das System ist auf der Cantón -Wu-
tschon-fu-Route um so lästiger, als die Likin-Tarise durch-
aus unzuverlässiger Natur sind, und jede kaufmännische
Kalkulation zu nichte machen. Auch der durch das Unter-
suchen der Waaren entstehende, oft ganz willkürliche Auf-
enthalt der Dschunken hindert bei der so wie so schon
großen Entfernung eine freie Entwickelung des Geschäfts.
Ein großer Theil der für Kwang-si bestimmten Waaren
findet daher heutzntage seinen Weg über Pakhoi, von dessen
Nachbarschaft aus die Güter auf kleinen Flüssen, so weit
dieselben befahrbar sind, nach dem Norden wandern, um
von Lastträgern über das Gebirge geschleppt zu werden,
und dann auf dem einen oder anderen Wege den Westsluß
zu erreichen. Eine beliebte Route ist z. B. die im Sommer
stark benutzte Route Lien-tschou-fu, Vu-lin-tschon, Pei-liu-
schien, Bung-schien, Tang-schien. Auf diesem und ähn-
lichen Wegen werden Wu-tschou-fu und Nanning-fu mit
dem Meere in Verbindung gebracht.
Der Gesammthandel in fremden so gut wie in einhei-
mischen Waaren, deren Transport, wie ich bei Beschreibung
eines Theils der letztgenannten Route aufgeführt habe,
entsetzlichen Zeitverlust und große Kosten erfordert, wird
nothweudigcrweisc ein ganz beschränkter bleiben müssen, so
lange wir auf Dschunken, Flöße und Lastträger als Trans-
portmittel angewiesen bleiben; selbst wenn die Zollbarrieren
einmal aufgehoben werden sollten, wird die Entfernung von
Pakhoi sowohl, als von Cantón nach Wu-tschou-fu und
Nanning-fn ein zu laut sprechender Faktor sein.
Um mittelst schnell fahrender Dampfer die Distanzen
zu kürzen, die Likin-Barrieren zu durchbrechen und so eine
freudige Entwickelung des Geschäfts mit Kwany-si zu er-
möglichen, solltet! daher, wie es auf dem Mngtse-Kiang
schon lange geschehen ist, auch auf dem Si-Kiang Vertrags-
Häfen eröffnet werden.
Ich weiß sehr wohl, daß gewichtigere Federn, als die
meinige, dieses Thema schon vor mir behandelt haben, und
vielleicht es jetzt thun. Es ist mir auch nicht fremd, daß
solche Neuerungen nicht im Handumdrehen geschaffen werden
können. Jeder Tropfen hilft aber den Krug mit füllen,
und es mag daher von Interesse sein, wenn auch ich mich
mit der praktischen Ausführung der schwebenden Frage be-
schäftige und einiges Material für dieselbe liefere.
Wie die Verhältnisse vorläufig liegen, kann es sich nur
um zwei Häfen handeln. Der erste und wichtigere ist Wu-
tschou-fu, der zweite Nanning-fu, wozu noch zwei Haltestellen
für Dampfer, zum Einnehmen und Landen von Passagieren,
bei Schao-king-fu und Tu-shing, kommen sollten.
Was die Schifffahrt von Canton, bezw. Hongkong nach
Wu-tschou-fu anlangt, so ist sie für'Dampfer von bis zu
12 Fuß Tiefgang bei jeder Jahreszeit nicht nur möglich,
sondern auch niit keinen nennenswcrthen Schwierigkeiten ver-
bunden. Lieutenant Bullock hat diese Thatsache durch seine im
Jahre 1859, im Januar, also während des niedrigsten Wasser-
standes des ganzen Jahres, vorgenommenen und auf genauen
Karten niedergelegten Vermessungen bewiesen. Während der
Regenzeit, also vom Februar bis September, können meiner
Ueberzeugung nach sogar um ein Erhebliches tiefer als
12 Fuß fahrende Dampfer bis nach Wu-tschou-fu gelangen.
Mit der Schifffahrt nach Nanning-fu liegt es nicht so günstig.
Ich beschrieb bereits die zwischen Wu-tschon-fn und Ping-
nam-fchien gelegenen Stromschnellen, und ganz ähnlicher,
jedenfalls aber nicht schwierigerer Natur sind alle den Fluß
weiter hinauf liegenden Schnellen. Hart am Ufer mich
haltend, bin ich mit meinem Hortau nur einmal den Fluß
langsam hinaufgeklettert, und auf der Rückkehr in hurtiger
Fahrt mitten durch die Schnellen zurück getrieben. Wenn
ich mir danach, sowie nach den Aussagen der Lootsen und
Bootsleute und nach anderweit eingeholten Erkundigungen
ein Urtheil erlauben darf, so behaupte ich zunächst, daß
an den Geländen der Ufer, wo vom Lande aus gezogene
Dschunken allein die Gewalt des Stromes besiegen können,
allerdings kein Dampfsahrzeug sich über den flachen und
felsigen Boden hinweg den Fluß auswärts bewegen kann.
Ziehe ich die Fahrt durch die Mitte des breiten Stromes
in Betracht, so muß ich bestätigen, daß nach Aussage aller
dem Schifferstande angchörigen, vielleicht etwas interesstrt
sprechenden Eingeborenen jegliche Dampffahrt selbst für
Pinassen unmöglich ist. Die Chinesen, welche sich von der
Idee nicht freimachen können oder wollen, daß aufwärts
fahrende Schiffe vom Ufer aus gezogen werden müssen,
legen indessen mehr Werth auf die Gewalt des Stromes,
welche allerdings durch Ruder- oder Segelkraft nicht zu
überwinden ist, als auf die Natur des Flußbettes, welches
ihnen überhaupt nur so weit bekannt zu fein scheint, als es
ihnen für ihre eigenen, feichtfahrenden Boote von Interesse
sein kann. Die Schnelligkeit des Stromes an den gefähr-
lichsten Stellen betrug im September und Oktober etwa
sechs Meilen und wird daher von Dampfern leicht über-
wunden werden können. Auch sollte für kleine, slachfah-
rende Dampfer selbst während der trockenen Monate ein
Weg durch die der großen Mehrzahl nach unter der Wasser-
fläche liegenden Felsen zu finden sein, ja die Menge des
Wassers läßt dieses als sicher voraussetzen. Möglich wird
es nicht zu großen Dampfschiffen daher schon sein, sich im
Zickzack zwischen den Felsen des verräterischen Flußbettes
hindurch zu winden. Nach meiner Ansicht wird es sich
hauptsächlich darum handeln, ob nicht die Gefahr, von dem
starken Strom versetzt und gegen einen der zahlreichen
Felsen getrieben zu werden, namentlich auf der Rückreise
so groß ist, daß man die ganze Fahrt nicht wagen wird.
Diese Frage wird erst entschieden werden können, wenn das
Flußbett nach allen Regeln der Kunst von Fachleuten gründ-
lich untersucht worden ist. Obige Bemerkungen beziehen
sich namentlich auf die Fahrt während der trockenen Jahres-
zeit. Nachdem das Wasser feit Wochen schon kräftig im
Fallen gewesen war, sah ich kurzgcbaute Dschunken von
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-ff. 379
3 V2 Fuß Tiefgang mitten durch die Stromschnellen treiben.
Wenn ich nun bedenke, daß in den Niederungen während
des Sommers die Tiefe des Flusses um 20 bis 25 Fuß
wächst — in manchen Jahren sogar um ein Erhebliches
mehr — so ist anzunehmen, daß auch in der Gegend der
Stromschnellen das Niveau des Wassers sich beträchtlich
hebt. Die vom Wasser an den sogenannten Fischerfelsen
gelassenen Spuren beweisen dies auch. Somit halte ich
es für möglich, daß Nanning-fu, wenn auch vielleicht nur
im Sommer, von Dampfern erreicht werden wird. Sollte
daher die Eröffnung des Westslusses wieder in ernstliche
Ueberlegung in Peking gezogen werden, so wird es ge-
nügen, wenn Nanning-fn ähnlich behandelt wird, wie
Tschungking in der Tschi-fu- Convention vom 13. Sep-
tember 1876.
Ich muß übrigens erwähnen, daß ich selbst nicht in
Nanning-fu gewesen bin. Ich bemerkte indessen nur sehr
wenige Handels-Dschunken ans dem Wege von Wu-tschou-fu
nach Ping-nam-schien. Nach von Chinesen eingeholten
Erkundigungen bin ich gleichfalls zu dem Glauben geneigt,
daß heutigen Tages via Wu-tschou-fu nur wenig direkter
Handel zwischen Canton und Nanning-fu, welches durch
Landwege mit Pakhoi in Verbindung steht, existirt. Schon
aus diesem Grunde kann cs sich in der Präzis vorläufig
nur um die Ernennung Wn-tschon-fu's zum Vertragshafen
handeln. Zn beweisen, daß dieselbe vom kaufmännischen
Standpunkte betrachtet wünschenswerth ist, soll meine letzte
Aufgabe sein.
Ein Blick auf die Karte wird darthun, daß Wu-tschon-fn
im Mittelpunkte eines Kreises liegt, welcher von Canton
(bezw. Hongkong), von Kwei-lin-foo (der Hauptstadt
Kwangsis), von Nanning-fu und von Pakhoi gebildet wird.
Bei Wu-tschou-fu mündet der Fu-ho in den Westfluß, ein
freilich nur für ganz flach gebaute Dschunken (kaum für
Dampfer) schiffbarer Fluß. Seine Quellen entspringen aber
denselben Bergen, deren Wasseradern auch die nach dem
Aaug-tse-Kiang führenden Gewässer Hunnans speisen. Wu-
tschou-fu scheint daher schon von der Natur zur Sammel-
stelle eines Handelsgebietes ausersehen zu sein, für welches
die bei Hongkong mündende Wasserstraße die natürliche
Schlagader sein sollte.
Zwischen dem Handel Wn-tschou-fu's und demjenigen
Pakhois, wie er vor Eröffnung dieses Platzes war und
gegenwärtig ist, ziehe ich nunmehr eine Parallele.
Die Natur des Bodens und seine Erzeugnisse, die
Kultur und die Bedürfnisse, der Reichthum und die Armuth
seiner Bewohner sind in dem Gebiet beider Städte wenig
von einander verschieden. In Wu-tschou-fu hat sich der
Handel seit den Taiping-Rebellionen nicht wieder zu der
Blüthe entwickeln können, welche er früher gehabt hat, und
welche mau von seiner günstigen Lage erwarten sollte, weil
die lauge Entfernung von Canton via Sam-schui, welchen
Weg chinesische Frachtboote je nach ihrer Schwere oder der
von der Jahreszeit bedingten Gewalt des Stromes nur in
12 bis 25 Tagen zurücklegen tonnen, im Verein mit den
vielen Zollbarrieren gar zu hemmend einwirkten. In
Pokhoi bezw. Lien-tschon-fu haben daher große Dschunken
von Macao und Hongkong aus schon vor Jahrzehnten ein
verhältnißmäßig schwunghafteres Geschäft entwickelt, als in
Wu-tschou-fu heutzutage existirt. Trotzdem die als Schnell-
segler bekannten Pakhoi-Fahrzenge ihre Seereise in ver-
hültnißmäßig kürzer Zeit zurücklegen, und ähnlich, wie im
Canton-Delta, durch das chinesische Zollhaus billiger, als
durch das europäische, den Waarenaustausch bewerkstelligen
können, hat sich seit Eröffnung dieses Hafens allmählich ein
Handel vermittelst europäischer Dampfer in Pakhoi ent-
wickelt, welcher nach der Statistik des kaiserlich chinesischen
Zollamtes im Jahre 1886 schon 4h/z Millionen Dollars
betrug und beständig im Steigen ist.
Das vom Meere begrenzte Handelsgebict Pakhois ist
kaum halb so groß, wie dasjenige Wu-tschou-su's, seine nach
dem Inlands führenden Wasserstraßen sind ebenfalls nicht
frei von Zollbarrieren, und deshalb glaube ich behaupten
zu können, daß, sobald das viel günstiger gelegene Wu-
tschou-fu von europäischen Dampfern befahren werden kann,
der Handel dieser Stadt ganz enorm sich heben und den-
jenigen Pakhois in wenigen Jahren überflügeln wird. Nach
Pakhoi hatten in früheren Jahren die Dschunken einen
freien Weg über die See, wo keine Zollbehörde sie be-
lästigen konnte, wir haben aber gesehen, wie viele Hebe-
stellen auf dem Westfluffe verhindern, daß vom Canton-
Delta kommende Güter nur erst einmal einen sicheren
Sammelpunkt int Inneren, also in Wu-tschou-fu, erreichen.
Dasselbe läßt sich natürlich auch von den in Kwang-si erzeug-
ten Export-Waaren sagen. Daß trotzdem heute ein lebhafter
Handel zwischen Wu-tschou-fu und dem Delta existirt, ist
jedenfalls ein gutes Zeichen für die Lebensfähigkeit dieses
Platzes. Ich habe die Ueberzeugung, daß bald nach Er-
nennung Wu-1schou-fu's zum Vertragshasen europäische
Dampfer den gesammten Dschunken-Handel zwischen ge-
nannter Stadt und den verschiedenen Distrikten des Deltas
an sich reißen werden. Abgesehen von dem durch die
Dampferfahrt vermiedenen Likin ist ja die Entfernung ans
dieser Route, wenn sie per Dschunke zurückzulegen ist, so
enorm und selbstredend auch so kostspielig, daß ein chine-
sisches Boot mit einem Dampfer absolut nicht konkurriren
können wird, selbst wenn dem Kaufmanne der Umstand,
daß er per Dschunke verladene Waaren nicht versichern
kann, kein mitsprechender Faktor wäre. Wo für die Fahrt
aufwärts eine der schwerfälligen Dschunken also 12 bis
25 Tage braucht, wird ein Dampfer dieselbe Distanz in
11/2 bis 2 Tagen zurücklegen, und wenn auch für die
Reise den Fluß herunter die Dampfer einen nicht so großen
Vorsprung den Dschunken gegenüber haben, so wird doch
die Fahrt der letzteren allmählich aufhören müssen, wenn
dieselben keine Fracht mehr aufwärts finden.
Wird morgen Wu-tschou-fu zum Vertragshafen ernannt,
so werden nach meiner Ueberzeugung sofort chinesische und
europäische Waaren neben eingeborenen Passagieren in ge-
nügender Fülle angeboten sein, um zwei Dampfern von
der Größe der „Kiukiang" (986 tons) ohne irgend welchen
Zeitverlust eine regelmäßige Fahrt nach und von jenem
Platz profitabel zu machen, welche sich immer mehr ent-
wickeln muß. Daß wir in Wu-tschou-fu etwas Aehnliches
erleben, wie seiner Zeit in Pakhoi, wo die Dampfer nur
au Schnelligkeit und größerer Sicherheit den Dschunken
etwas voraus hatten, brauchen wir nicht zu befürchten.
Auf der Pakhoi-Linie hatten nämlich, ehe sich der Dampfer-
verkehr von Hongkong aus entwickelte, die chinesischen Kauf-
leute ihre Komptore in Macao, dieselben mußten erst
sammt ihren Lagern nach Hongkong verlegt und ihre kost-
baren See-Dschunken abgeschafft werden. Deshalb waren
die den Kaufleuten selbst gehörenden einheimischen Boote
im Stande, länger als ein Jahr die Dampfer in Pakhoi
aus dem Felde zu schlagen. Diese Möglichkeit fällt auf
der Canton-Wu-tschou-fu-Linie aber weg. Denn erstens
sind die auf ihr gebrauchten Boote, welche überall auf dem
Fluß Beschäftigung finden können, wenig kostbarer Natur,
zweitens sind diese langsamen Schleppsahrzeuge schnellen
Dampfern gegenüber, welche alle Likin-Stationen einfach
ignoriren, gar zu sehr im Nachtheile.
Für die ersten Jahre wird die Fahrt nach Wu-tschou-fu
ohne Zweifel von Canton aus durch den Saiwan-Kanal,
anstatt von Hongkong ans, stattfinden, denn in Canton und
380
H. Schroeter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si.
Fa-tschan ist die Mehrzahl der Kwang-si-Händler etablirt.
Ein großer Theil des gewöhnlichen Stückgüter-Verkehrs
mit dem vielgenannten Platze wird heutzutage von einer
Gesellschaft vermittelt, welche von Canton fünf, von Fa-tschan
acht große Dschunken regelmäßig fahren läßt. Allein diese
13 Boote transportiren in einem Monate zusammen circa
35 000 Piculs chinesischer und europäischer Waaren auf-
wärts und ein gleiches Quantum einheimischer Produkte
abwärts. Hierzu korumt eine große Anzahl kleinerer, aber
schnellerer Boote, welche den Postdienst und die Passagier-
fahrt besorgen, ferner sogenannte „Hortaus", „Fytengs"
und eine Anzahl ähnlicher, von Beamten und wohlhabenden
Chinesen benutzter Reisefahrzenge. Für ein großes Quantum
einheimischer Produkte sind weiterhin besondere Boote be-
schäftigt, z. B. für Reis, Indigo, Grundnußöl, sowie für
Hornvieh und Mastschweine. Auch für die Reise den Fluß
aufwärts werden besondere Fahrzeuge benutzt, z.B. für frische
Früchte, getrocknete Seefische, Petroleum und ganz beson-
ders für Salz.
Ich bin leider nicht im Stande, eine genaue Statistik
über die einzelnen chinesischen Produktions- und Konsum-
artikel zu liefern, da zuverlässige Quellen darüber überhaupt
nicht existiren.
Ist Wu-tschou-fu erst einmal Vertragshafen, und finden
in der Stadt gelandete Waaren somit ein sicheres Asyl
gegen eine allzuwillkürliche Besteuerung von Seiten der
chinesischen Unterbeamten, so wird diese Stadt bald eine
Niederlage und ein großer Markt für eine Menge Artikel
werden, welche bisher entweder gar nicht in größerem
Maßstabe gehandelt werden konnten, oder in einheimischen
kleinen Fahrzeugen direkt vom Prodnktionsplatze nach dem-
jenigen ihrer Bestimmung wanderten. Viele große Stapel-
Artikel, z. B. Grundnußöl und Grundnußkuchen, welche
heutzutage der vielen Likin-Stationen wegen per Dschunke
nur auf kleine Distanzen versandt werden können, würden
einen Ccntralmarkt in Wu-tschon-fu bilden und per Dampfer
bis nach Canton und Hongkong versandt werden können.
Der größere Theil des jetzt von Pei-liu-tschien auf kost-
spieligem Wege über die Gebirge nach Pakhoi und von
da in so enormen Quantitäten weiter nach Macao und
Hongkong sich einen Weg suchenden Indigo würde ganz auf
der Wasserstraße bleibend, via Tang-schien und Wu-tschou-fn
nach Canton und Hongkong gelangen. Der gesammte
Handel würde sich heben, und durch die größer werdende
Ausfuhr der Reichthum des Landes, daher aber auch die
Kaufkraft seiner Bewohner, sich vergrößern — handle es
sich um europäische oder chinesische Waaren.
Ich habe in vorstehender Reisebeschreibuug verschiedent-
lich die Hanpthandelsartikel von Kwang-si aufzuführen Gele-
genheit gehabt, möchte aber noch auf zwei bisher nur kurz er-
wähnte besonders aufmerksam machen, auf Reis und auf Salz.
Reis ist, wie fast überall in China, auch in Kwang-si
einer der wichtigsten Handelsartikel. Je nach der Ernte
hilft ein Distrikt dem benachbarten mit dem Ueberschusse
der eigenen Ernte aus, und importirt oder exportirt eine
Provinz von oder nach der anderen. In der durch die Güte
seines Reises berühmten Provinz Kwang-si ist Tung-tschuen,
eine jenseits von Wu-tschou-fn am Westflusse gelegene Stadt,
der Haupt-Reismarkt, von welchem aus die Nachbardistrikte
sich verproviantiren. Nach Dürren und namentlich während
großer Ueberschwemmungen tritt in manchen Jahren jedoch
furchtbarer Mangel an dieser unentbehrlichen Frucht ein,
so daß Kwang-si anstatt zu exportiren importiren muß. Ich
brauche nur an das Jahr 1885 zu erinnern, in welchem die
Ueberschwemmungen solche arge Verwüstungen in Kwang-si
anrichteten. Damals war es fast unmöglich, nennenswerthe
Quantitäten von Reis in unhandlichen Dschunken gegen
den Strom den angeschwollenen Westsluß hinauf zu trans-
portiren und den durch Hochwasser verwüsteten Gegenden
zuzuführen. Ganze Ortschaften waren damals dem Hunger-
tode nahe, trotzdem die Kornhäuser geöffnet, die chinesischen
Beamten gemeinschaftlich mit dem bekannten Wohlthätig-
keitsvereine in Canton — dem „Oi-chuk-Tong" — und
sogar europäische Missionare sich unsägliche Mühe gaben,
dem Uebel zu steuern. Viel Elend wäre aber verhütet
worden, wenn zu jener Zeit der von Saigon und den
A)ang-1se-Kiang-Häfen nach Canton kommende Reis in
Dampfern schnell hätte nach Wu-tschou-fu transportirt
werden können. Auch schöne Frachten wären vermuthlich
damit verbunden gewesen.
Etwas Aehnliches läßt sich nach Eröffnung Wu-tschou-fu's
vielleicht auch einmal vom Salze sagen. Salz wird nicht
in Kwang-si produzirt, es muß vom Meere her, chaupt-
sächlich von der Küste Hainaus, eingeführt werden, und
geradezu fabelhafte Quantitäten wandern alljährlich von
Canton nach Kwang-si. Ich überholte auf meiner Reise
einmal eine in langer Linie fahrende Flotte von vierzehn
schwer beladenen Dschunken, welche, mit zusammen circa
30000 Piculs Salz befrachtet, von etwa 350 keuchenden
Kulis den langen Weg nach Wu-tschou-fu hinauf gezogen
werden mußten. Der Verkauf von Salz ist bekanntlich
Monopol der Regierung, wie in den Verträgen speziell vor-
gesehen worden ist; sie wird dasselbe sobald nicht aufgeben.
Aber es dürfte nicht unmöglich sein, daß europäische Schiffe
einmal die ihnen heute noch vorenthaltene Erlaubniß be-
kommen, an dem Transport dieses Artikels sich zu bethei-
ligen. Ist dies der Fall, so wird den Flußdampfern da-
durch ein weiteres, sehr werthvolles Frachtgut werden.
Man schätzt das alljährlich von Canton nach Kwang-si
wandernde Quantum Salz auf viele hunderttausend Piculs.
Chinesische Fnellen sind, sobald es sich um so große Zahlen
handelt, bekanntlich sehr unzuverlässig und voll von Wider-
sprüchen, ich glaube aber nicht zu hoch zu greifen, wenn
ich aus allen eingeholten Erkundigungen das Fazit ziehe,
daß allein nach Wu-tschou-fu 600 000 Piculs Salz inner-
halb eines Jahres gesandt werden. Beiläufig gesagt giebt
diese Zahl einigen Anhalt für die Feststellung der in dem
Handelsgebiete von Wu-tschou-fu lebenden Bevölkerung;
weitere Schlußfolgerungen aus dieser Bemerkung zu
ziehen, will ich indessen kompetenten National-Oekonomen
überlassen.
Nunmehr auf das speziell europäische Waarengeschäft
Wu-tschou-fn's übergehend, muß ich bestätigen, daß dasselbe
noch sehr der Entwickelung bedarf. Vorbereitet scheint
das Terrain aber zu sein, denn ich fand in den offenen
Läden der Stadt, um einen bei Beschreibung derselben
gebrauchten Ausdruck zu wiederholen, „von fast allen
europäischen Import-Artikeln etwas". Die Entfernung
war auf der Canton-Route bisher zu groß, und die Likin-
Abgaben waren zu hoch, um eine Ausbreitung des Handels
zu gestatten. Ein großer Theil solcher Waaren, welche in
kleine Pallete leicht zerlegt werden können, muß daher von
Canton aus geschmuggelt oder von Pakhoi aus den langen
Weg seichter Flüsse hinauf wandern, um über hohe Gebirge
hinweg nach Nebenflüssen des Westflusses geschleppt zu
werden. Besonders erwähnen will ich unter den Importen
Wu-tschou-fu's: Uhren, Lampen, Nadeln, Farben, Schirme,
Zündhölzer und alle möglichen sogenannten „Kleinen Ar-
tikel", ferner Tuche, wollene und baumwollene Fabrikate,
z. B. Camlets, Shirtings, „T. Cloth" und ähnliche Manu-
fakturen, ferner Petroleum, Metalle und große Quantitäten
von roher Baumwolle und von Baumwoll-Garnen.
Wie der Procentsatz, der via Canton-Sam-schni und der
via Pakhoi nach Wu-tschou-fn gelangenden Waaren sich zu
einander verhält, wage ich nicht zu entscheiden. Ich habe
aber in Erfahrung gebracht, daß in den erwähnten dreizehn
Canton- und Fatschan-Dschunkcn alljährlich zwischen 40 000
und 50 000 Colli oben aufgeführter europäischer Waaren
nach Wu-tschou-fu verladen werden. Dazu kommen etwa
8000 Kisten Petroleum. Unerwähnt lassen darf ich auch
nicht die europäischen Metalle, welche zum großen Theile
noch in den Städten des Canton-Deltas für den Konsum
prüparirt und dann als chinesische Artikel ins Inland ver-
sandt werden; sie erreichen indessen setzt schon Wu-tschou-fn
als Rohwaare, freilich nur in kleinen Quantitäten.
Der Handel Kwang-sis muß und wird sich aber noch
ganz besonders heben, selbst wenn sein Hafen vorläufig noch
fremden Dampfern verschlossen bleibt, sobald erst das
Transitpaß - System zufriedenstellend entwickelt und geregelt
worden ist. Seit die Verträge der chinesischen Regierung
mit den fremden Mächten den europäischen Kaufleuten das
Recht verbrieft und versiegelt haben, mit Hülfe von Transit-
pässen Geschäfte im Inneren zu treiben, ist bis zum Jahre
1886 nicht einziger Transitpaß in Canton benutzt worden.
Erst im vorigen Sommer hat eine deutsche Firma das
Eis gebrochen und nicht unbedeutende Transitpaß-Geschäfte
mit dem Inneren Kwang-sis zu Stande gebracht. Die-
selben haben aber schon im vorigen Herbste einen jähen Ab-
schluß durch energische vertragswidrige Maßregeln der chine-
sischen Behörden gefunden.
Wenn erst die von jener Firma gegen die Provinzial-
Regierung eingereichten Klagen auf Schadenersatz erfolg-
reich durchgeführt worden sind — was in nicht allzu ferner
Zeit liegen kann — wenn dadurch das Vertrauen auf die prak-
tische Durchführung des Transitpaß-Systems wieder herge-
stellt ist und sich befestigt hat, wird dasselbe im Süden Chinas
einen verhältnismäßig ähnlichen Aufschwung erleben, dessen
es sich schon seit vielen Jahren im Norden erfreut hat —
aber keinen Tag früher!
Der gegenwärtige Stand der Dinge in unseren zwei
Provinzen ist, was das Transitpaß-System anlangt, ge-
radezu eine Ungeheuerlichkeit zu nennen, wie sie eben nur
in China auf die Dauer bestehen kann, trotzdem sich dieser
Staat zu den civilisirten rechnen will. Der chinesische Be-
amte in Kwang-tung und Kwang-si erklärt den Vertretern
des europäischen Handels ganz ungescheut: „Ich weiß sehr
wohl, daß meine Vorgesetzten in Peking Verträge mit euch
Fremden abgeschlossen haben, nach welchen europäische
Waaren nur die und die Zölle zu zahlen haben, und nach
Entrichtung gewisser Transit-Gebühren das Recht erlangen,
nach irgend welchen, wenn auch noch so entlegenen Plätzen
des Inlandes gesandt zu werden, ohne weitere Zölle tragen
zu müssen. Dieselben erhebe ich auch gar nicht von dem
Europäer, oder von seiner Waare, sondern von den chine-
sischen Käufern derselben — meinen Unterthanen — welchen
ich so viel Zölle abnehmen kann, als ich Lust habe." Aber
heißt dies nicht einfach den von Kaisern und Königen feier-
lichst unterzeichneten Verträgen offener Hohn gesprochen?
Haftet das Vorrecht der Zollquittung oder des Transitpasses
an dem die Zölle bezahlenden Europäer, oder an der Waare
selbst? Doch an der letzteren, wie übrigens ausdrücklich in
den Verträgen stipulirt ist! Weshalb schließen wir Ver-
träge mit fremden Mächten, so lange noch irgend ein Satrap
sie schnöde lächelnd und ungestraft ignoriren kann? Ueber-
tragen wir doch einmal einen Fall, der hier in der Praxis
vorgekomnien ist, vergleichsweise nach Europa: Eine spanische
Firma verkauft eine Partie Korkholz nach Hannover. Die
Waare wird in Hamburg importirt und weiter verladen,
der vertragsmäßige Zoll wird an der Grenze bezahlt, und
der Korkfabrikant ist eben im Begriff, die Waare vom
Bahnhöfe in Hannover abzuholen, als er von Zollbeamten
ergriffen, ins Gefängniß geworfen und erst wieder in Frei-
heit gesetzt wird, nachdem er das Zweifache des schon in
Hamburg erhobenen Einfuhrzolles bezahlt hat. Würde
nicht ein Schrei der Entrüstung erhoben werden, welcher
von Madrid bis in die Hallen des deutschen Reichstages
erschallte? Würde nicht das ganze spanisch-deutsche Ge-
schäft stocken oder wenigstens auf die Küsten, bezw. die
deutsche Grenzlinie beschränkt bleiben, bis die Frage zu-
friedenstellend geregelt worden wäre?
In einem civilisirten Lande, wie Deutschland, ist solch
ein Fall nur in der Theorie denkbar, eben weil ein Beamter
in Hannover einfach nur das zu thun hat, was ihm von
Berlin diktirt wird. Der Verfassung nach ist nun ein chine-
sischer Provinzial-Beamter, sei sein Rang auch noch so hoch,
ebenso abhängig von der kaiserlichen Regierung in Peking,
wie ein hannoverscher Landrath es von Berlin ist. Aber
der chinesische Beamte sagt sich, so oft er den Europäern
ein Schnippchen schlägt: „Von Canton nach Peking ists
ein langer Weg, die Negierungsmaschinen in der Haupt-
stadt arbeiten langsam, sehr langsam; bis die Sache in Pe-
king ventilirt und zur Entscheidung gebracht ist, bin ich
vielleicht gar nicht mehr im Amte. Daher machen wir
lieber Heu, so lange die Sonne scheint! Früher oder-
später muß mein Amtsdistrikt ohne Zweifel das dem
fremden Eindringling abgezwungene Geld zurückerstatten,
aber dies wird mich kaum noch etwas angehen, wir wollen
die Sache lieber durch unseren Nachfolger regeln lassen, falls
der hartnäckige, mit seinem „Oivis romanus sum!“ sich so
gern in die Brust werfende Barbar auf seinem verbrieften
Rechte bestehen sollte."
Sobald solche vorsündfluthliche Ideen durch energische
Maßregeln von Peking ans unseren Provinzial-Beamten
ein einziges Mal gründlich genommen worden sind — was
eine einzige, wirklich ernst gemeinte Depesche der kaiserlichen
Regierung in Peking an hiesige Beamte erreichen kann —
wird davon in erster Linie das von Likin - Stationen um-
gebene Wu-tschou-fn Nutzen ziehen — besonders wenn diese
Stadt einmal zum Vertragshafen ernannt worden ist, und
man mitten im Jnlande Transitpässe ausnchmen kann.
Hongkong würde sich dadurch für seine Importe eine neue
Kundschaft erwerben, welche ihm bisher nur wenig bekannt
war. Mit Hypothesen und spitzfindigen Schlußfolgerungen
will ich mich hier nicht aufhalten, sondern nur einmal auf
eine Stadt, und zwar die am Fu-ho gelegene Hauptstadt
Kwang-sis — Kwei-lin-fu — hinweisen. Nach der Sta-
tistik des Han-kou-Zollhauscs wurden im Jahre 1882 allein
unter Transitpaß nachverzeichnete Waaren von Han-kou nach
Kwei-lin-fu verladen:
63 040 Stück.............Grane Shillings,
23 580 „ .........Weiße
5 425 „ .........T. Cloth,
3 520 „ .........Drills,
950 „ .........Chintzes,
300 „ .........Brokate,
972 „ .........Velvets und Velvetecns,
763 „ .........Twills und Jeans,
4675 „ .........Shillings,
1 040 Dutzend...........Taschentücher,
372 Piculs............ . Baumwollene Garne,
1 490 Stück...........Lustres,
1 600 „ .........Camlets,
617 „ .........Medium Cloth,
468 „ .........Lastings,
960 „ .........Long Ells,
1 068 „ .........Spanish Stripes,
790 Groß ............. . Zündhölzer,
382
Kürzere Mittheilungen.
2 500 Mille..............Nadeln,
950 Gallonen...........Petroleum,
500 Stück..............Diverser Artikel.
Der Werth dieser Waaren beträgt ungefähr 300 000
Dollars.
Nun möchte ich darauf aufmerksam machen, was Andere
freilich schon vor mir gethan haben, daß Kwei-lin-fn von
Canton ans auf dem Wasserwege von bis zu 500 Pienls
tragenden Booten erreicht werden kann, während von Han-
kon nach Kwei-lin-fn verladene Waaren unterwegs viele
Meilen weit Uber Gebirge geschleppt werden müssen, ehe
sie den Fu-ho erreichen. Ein Blick auf die Karte Chinas
wird ferner darthnn, daß die Entfernung von Han-kou nach
Kwei-lin-fn ungefähr viermal so groß ist, als die von
Canton nach Kwei-lin-fn.
Man kann keine frappanteren Zahlen, als diese ', zum
Beweis dafür anführen, daß nach Regelung des Transitpaß-
Systems und nach Ernennung Wu-tschou-fus zum Vertrags-
hafen sich vielen von Hongkong zu importirenden Handels-
artikeln ein nicht zu unterschätzendes Absatzgebiet eröffnen
wird. Denn wenn Märkte, wie z. V. dcrfenige Kwei-lin-
fn's, auf dem großen Hinwege via Shanghai erreicht werden
können, so muß dies von Hongkong ans noch viel eher
möglich sein, wenn einmal die wie gierige Vampyre von
Canton aus bis in die Provinzen Hunan und Amman sich
hinein ziehenden Likin-Stationen gebrochen sind; vorläufig
saugen dieselben jedem Handel das Lebensblut aus, welcher
auf dieser von der Natur Kwang-si und einem Theile jener
beiden Provinzen, sowie auch Kwei-tschou, verliehenen Wasser-
straße sich zu entwickeln sucht.
Aehnliches wird sich auch von der Ausfuhr chinesischer
Landesprodukte einmal sagen lassen. Ich will hier nur die
für den europäischen und amerikanischen Markt bestimmten
Waaren ins Auge fassen, und glaube voraussagen zu können,
daß ein großer Theil des Handels in Cassia, Cassia-Florcs
und Cassia-Oel, in Nanning-fu-Produkten (Gallnüssen,
Stern-Anis-Samen und Oel), ferner in Kuhhäuten, Kuh-
hörnern, Schweinsborsten und Federn, in Papier, Stöcken,
Galangal und vielen jetzt nur via Shanghai zur Verschif-
fung gelangenden Drognen, möglicher Weise auch in Thee,
in Zinn von Amman, und in einer Menge anderer, unserem
Markte bisher nicht zugänglich, vielleicht kaum bekannt ge-
wesenen Produkte, sich in Wu-tschou-fn konzentriren kann,
nachdem dieser Hafen geöffnet und das Transitpaß-Systeni
praktisch eingeführt worden ist.
Auf meine oben gegebenen statistischen Zahlen über den
Handel Kwei-lin-fn's zurückkommend, mag man mir viel-
leicht vorwerfen, daß jenes Jahr ein ganz ausnahmsweise
günstiges für den Handel genannter Stadt gewesen sein
muß, weil gleich nach 1882 das Transitpaß-Geschäft nach
Kwei-lin-fn ganz bedeutend sich verringert hat. Aber wie
ist dieser Umstand zu erklären? Weil die Likin-Beamten
auf der Shanghai-Han-kou-Kwei-lin-fn-Linie einsahen, daß,
so lange sie bei ihren hohen Taxen blieben, sie durch die
Transitpüsse einfach ganz und gar ihre Einkünfte verlieren
würden. Sie erniedrigten ihre Taxen daher gerade um so
viel, daß die Transitpüsse nutzlos werden mußten. Durch
den auf diese Weise ermöglichten, größeren Waarenaustausch
standen sich die Provinzialkassen vielleicht gar nicht schlechter,
als vorher, als die Zölle noch hoch waren, der Umsatz aber
klein! Das Transitpaß-System mag daher für viele
Distrikte nur von temporärem, sichtbarem Vortheil sein.
Aber überall erreicht es den Zweck, daß es entweder die
Likin-Barrieren ganz aufbricht, oder die Beamten zwingt,
vernünftige, leichte Taxen zu erheben. So eröffnet es als
Pionier des Handels neue Absatzgebiete und vergrößert den
Umsatz. Und dies ist Alles, was wir Kaufleute erreichen
wollen!
Die Transitpässe möchte ich daher mit Jagdhunden ver-
gleichen, welche wir Cantonesen den Westfluß hinauf, dem
Otterngezücht — den in den Likin-Stationen sich mästenden
Zöllnern und Sündern — an die Kehle hetzen müssen. Wenn
dieses einmal vollkommen erreicht und Wn-tschou-fn den
Fremden geöffnet worden ist, wird der Handel Cantons
eine neue Aera erleben.
Kürzere Mittheilungen.
Der Peloponnes.
In einem Vortrage, welchen Dr. A. Philippson in
der Novembersitzung der Berliner Gesellschaft für Erdkilnde
hielt, wurde etwa Folgendes über den Peloponnes aus-
geführt: Unsere Kenntniß Griechenlands entspricht in keiner
Weise dein hohen Interesse, das dasselbe als Wiege unserer
Kultur, als natürliche Bildung — mit seiner merkwürdig
reichen, horizontalen und vertikalen Gliederung und, durch
seine Stellung — als Brücke zwischen Europa und Asien
in geologisch-geographischer wie in organischer und kultur-
geographischer Beziehung — einflößt. Nur Attika und die
Umgebungen von Olympia sind genau erforscht. Eine
einigermaßen genügende topographische Karte im ^Maß-
stabe 1 : 200 000 wurde nach der Schlacht bei Navarino
von französischen Offizieren aufgenommen. Die ansgezeich-
neten geologischen Arbeiten Neumayr's und Bittner's be-
ziehen sich nur auf Mittelgriechenland und konnten nur
extensiv betrieben werden. Unterstützt von der Karl-Ritter-
stiftung beschloß Dr. Philippson deshalb, die Lücke so viel
als möglich auszufüllen, und zunächst den wissenschaftlich
ganz vernachlässigten Peloponnes bezüglich seines geologischen
Baues, seiner Oberflächengestaltung, seines Klimas, seiner
Vegetation und seiner Bevölkerungs- und Wirthschaftsver-
hältnisse zu durchforschen. Der hervorstechendste Charakter-
zug des Landes ist seine durch und durch gebirgige Natur.
Gegen das Meer geöffnete Ebenen giebt es nur in Argos,
Messenien und Elis. Ebenso fehlt es an großen Scheide-
gebirgen und an langgestreckten Thälern, die das Land aus-
schließen könnten, wogegen den Verkehr erschwerendes Anf-
und Absteigen des Terrains und Zerschnittensein desselben
durch steilwandige Schluchten ganz allgemein ist. Ein solches
Land ist nicht von einem Mittelpunkte ans zu regieren, son-
dern kann nur von außen, von einer Seemacht, zusammen-
gehalten werden. Zugleich mußte das darin hausende Volk
ein Mischvolk aus sehr verschiedenartigen Typen werden.
Gothen, Slaven, Bulgaren, Albanesen, Türken haben ihre
Spuren hinterlassen, in geringerem Umfange die Nor-
mannen. Die albanesische Sprache wird noch heute in einem
beträchtlichen Theile des Peloponnes gesprochen (von etwa
90 000 Bewohnern), nur verstehen wenigstens die albanesi-
schen Männer nebenbei auch Griechisch, und im National-
Aus allen Erdtheilen.
383
bewußtsein kommt der Gegensatz zu keinerlei schroffem Aus-
drucke. Höchstens gilt der Albanese dem Griechen für unbeholfen,
ebenso wie seine Sprache. Die albanesische Nationaltracht
ist die griechische geworden. Kirchen- und Gerichtssprache ist
das Griechische, doch kann man nicht sagen, daß das Alba-
nesische im Aussterben begriffen sei. — Die Lebensbediu-
gnngen sind sehr gleichartige und einförmige durch den ganzen
Peloponnes. Der Industrie fehlen die natürlichen Voraus-
setzungen — Mineralschätze, Wasserkräfte, Arbeiter, Kapitalien,
Unternehmungsgeist — völlig, und beinahe ebenso dem Handel.
Patras ist die einzige Handelsstadt des Landes, durch die
Ausfuhr des einzigen wichtigen Vertriebsartikels — der
Korinthen — und die Einfuhr von Getreide. Auch sogar
die Schiffahrt ist, abgesehen von Patras, unbedeutend, und
die Fischerei bleibt den Italienern und Kretern überlassen.
Die Haupterwerbszweige sind demnach nur Ackerbau und
Viehzucht. Es sind hierbei vier Regionen zu unterscheiden:
1) die der Korinthe, 2) die des Oelbaumes, 3) die des Ge-
treides und 4) die der Viehzucht. Die Korinthe gedeiht nur
unter ganz besonderen klimatischen Verhältnissen, und deshalb
wird ihre Kultur nur in einer sehr beschränkten Zone des
Peloponnes und der Jonischen Inseln gebaut. 1887 führte
Griechenland für 54Hz Millionen Franks aus, und davon
kamen auf den Peloponnes mehr als 80 Proeent. — Der
Oelbaum steigt gleich der Korinthe bis 400 na über das
Meer, seine Kultur ist aber allgemeiner, und immer mit
anderen Kulturen gemischt, besonders mit der des Weinstockes
und des Obstes. Mais und Wein baut man bis 1100 m,
Weizen bis 1500 m. Höher hinauf giebt es nur noch Schaf-
und Ziegenzucht, die in der Getreide- und Oelbaum-Region
nur nebenher geht, und die in der eigentlichen Viehznchtregion
nomadisch betrieben wird. — Als Stätten der Siedelnngen
werden freie Berggehänge bevorzugt, weil oben auf der Höhe
Stürme und unten iin Thale Fieber die Existenz erschweren.
Den Mittelpunkt und Stolz der Ortschaften bildet die plata-
nenbeschattete Quelle. Die Häuser der Armen sind roh und
ohne Mörtel gefügt, und nur die Häuser der Wohlhabenden
enthalten inehr als ein Gemach (ein Sommer- und ein Winter-
zimmer). Die rnmeliotischen Hirten ans der Höhe führen
ein romantisches Lagerleben.
Der Cook-Archipel.
Im Mai 1888 richteten die Königin Makea und die
Oberhäuptlinge der Cook- oder Hervey-Gruppe eine Petition
an die Königin von England, in welcher sic um Stellung
unter britisches Protektorat baten. Das Gesuch ward ge-
nehmigt, und schon am 20. September ließ die englische Re-
gierung durch ihren Vicekonsul auf Rarotonga das Protektorat
durch Aufhissung der englischen Flagge proklamiren. Gleich-
zeitig wurden den drei vornehmsten Häuptlingen besondere
Flaggen übergeben, welche sie aufhissen sollten, wenn sie durch
fremde Schiffe belästigt würden.
Der Archipel ward, wie bekannt, im Jahre 1777 von
Kapitän Cook entdeckt und nach ihm benannt. Er umfaßt
folgende Inseln (Korallenbildungen), deren Umkreis und Ein-
wohnerzahl wir in Parenthese beifügen: Mangaia (80 km,
2000 Einwohner), Rarotonga (651cua, 2000 Einwohner),
Aitutaki (48 km, 1800 Einwohner), Atm (221cm, 900 Ein-
wohner), Mitiero (261cm, 300 Einwohner), Manki (161cm,
900 Einwohner) und Manauai, bestehend aus drei von
einem großen Riffe umschlossenen kleinen Inseln, mit 200
Einwohnern. Der Handelsverkehr im Archipel fällt fast
ausschließlich der central gelegenen Insel Rarotonga zu, denn sie
allein besitzt einen guten Hafen und ihre Fruchtbarkeit ist
eine ganz außerordentliche. Die Bewohner der Cook-Grnppe
sind infolge ihrer Bekehrung durch englische Missionare in
der Civilisation wesentlich vorgeschritten. Die Form ihrer
Regierung ist eine monarchische, unter der jetzigen Königin
Makea. In Rarotonga tagt das Parlament, und hier be-
finden sich auch das Obergericht, die Untergerichte und die
anderen Staatseinrichtungen. Eine permanente Ansiedelung
auf den einzelnen Inseln ist Europäern, ans der nicht unbe-
gründeten Furcht, daß sie sich, nach alter Erfahrung, sehr bald
des fruchtbaren Grund und Bodens bemächtigen würden, nicht
gestattet, und ebenso ist der Import und Export von Arbeitern
verboten. Der gesammte jährliche Handelsverkehr hat zur Zeit
den ungefähren Werth von 60 000 Pfd. Sterl. Davon ent-
fallen 20 000 Pfd. Sterl. auf die Einfuhr von Bekleidungs-
sachen, Brotstoffen, Material- und Eisenwaaren. Die Ausfuhr
besteht meistens in Baumwolle, Kaffee und Früchten. Sänunt-
liche Bewohner gehören einer und derselben Kirchengemein-
schaft an, was wesentlich dazu beiträgt, daß sic in ungestörtem
Frieden mit einander gliicklich leben. H. Greffrath.
A us allen
Europa.
— Ueber einen Depots«nd von Bronzebeilen bei
Krön Poritschen in Böhmen berichtet Szombathy in den
Annalen des Hofmuseums. In ganz geringer Tiefe unter
der Oberfläche und ohne besondere Verwahrung lagen 16 Pol-
stäbe und ein Hohlcelt, meistens einem Typus angehörig, der
in Oesterreich sehr selten, in der Westschweiz dagegen häufig
ist, einige davon zerbrochen. Es scheint sich um die Nieder-
lage eines fahrenden Hausirers zu handeln, welcher alte
Bronze in Tausch gegen neue Werkzeuge nahm.
— Am 15./27. Juni 1888 wurde in der russischen
Hauptstadt eine Volkszählung veranstaltet, bei der nicht
nach dem Namen, Fancilienstand, Gewerbe re. des Einzelnen
gefragt wurde, sondern nur die Zahl der gesammten Ange-
hörigen eines Haushaltes, die Vertheilnng derselben nach dem
Geschlecht, und endlich das Alter in der Beziehung, ob über oder
unter 15 Jahr, erhoben wurde. Das Resultat wird als ein
E r d t h e i l e n.
nur annähernd richtiges bezeichnet, aber cs würde immerhin
ergeben, daß St. Petersburg im Sommer 1888 weniger
Einwohner hatte als bei der letzten Zählung im
Winter 1881. Die Gesammtzahl stellte sich ans 842 883
Menschen (davon 488 990 männlichen und 353 893 weib-
lichen Geschlechts); die Verminderung würde also 85133 Seelen
betragen , ja unter Abzug der nur zu Sommerarbeiten zeit-
weilig herbeigekommenen Bevölkernngsklasse sogar 127 793
Seelen, d. h. 13,7 Proc. Wie diese auffallende Thatsache
zu erklären ist, darüber vermissen wir jegliche Andeutung.
Die Menge der sich zu St. Petersburg nur im Sommer auf-
haltenden Arbeiterbevölkerung (42 660) ist sicherlich ebenso
groß, wenn nicht höchst wahrscheinlich größer, als die Zahl
der Wohlsituirten, die im Sommer der Stadt den Rücken
kehren. Die Zahl der bewohnten Häuser betrug 12483.
m
Aus allen Erdtheilen.
A s i e n.
— Auch auf den Philippinen geht man nunmehr
an die Herstellung eines Eisenbahnnetzes. Zu-
nächst ist eine Linie von Manila nach Dagnpan, an der
Lingayen-Bucht, im Bau begriffen, die eine Länge von etwa
210 km erhalten wird, und von der man eine bedeutende
Steigerung der Zucker-, Reis-, Tabak- und Manila-Hanf-
Produktion des fruchtbaren Hinterlandes von Manila er-
wartet. Die technischen Schwierigkeiten sollen bei dieser
Bahn keine sehr großen sein, da das Terrain im allgemeinen
eben ist.
Afrika.
— Wenn schon die Nach richt, welche vor kurzem über
Stanley aus Zansibar nach Europa gelangte (vergl. „Glo-
bus", Bd. 54, S. 304), trotz ihrer inneren Wahrscheinlichkeit
stark angezweifelt wird, so wird man eine neuere Nachricht,
als ob der Reisende mit einer stark bewaffneten Macht im
Niger-Gebiete angekommen sei, und die Stämme in der Ge-
gend der großen Oelflüsse mit viel Erfolg der britischen Bot-
mäßigkeit unterwerfe, von vornherein mit noch viel größerer
Vorsicht aufnehmen müssen. Wäre sie begründet, so bezeich-
nete sie sicherlich eine sehr überraschende Wendung in den:
Stanley - Drama.
— Die guten Erfolge, welche die französische Kolouial-
politik durch die Binger'sche Expedition (Vergl. S. 620) in
Obergn in ea errungen hat, haben die englische Regierung
veranlaßt, eine aus vier Weißen und 100 Hanssa- Leuten
zusammengesetzte Expedition unter dem Kommando
von Hauptmann Lethridge von Accra gegen Kong hin
zn entsenden, um im Quellgebiete des Assinie-Flusses die bri-
tischen Interessen wahrzunehmen. Möglich, daß die Expe-
dition gleichzeitig auch ein Vordringen in das Gebiet des
oberen Volta-Flusses beabsichtigt, da die durch Hauplmann
Francois und Dr. Wolf bewirkte Erweiterung der deutschen
Interessensphäre von Togo-Land die Eifersucht Englands eben-
falls in einem hohen Grade erregt hat.
— Nach Boinet's Aufstellungen hat sich die Kultur
fläche Aegyptens seit Mehemed Ali's energischem Regi-
ment alljährlich um 22 000 bis 23 000 Acres vermehrt,
bis unter Tewfik (1880 bis 1883) diese Ziffer plötzlich
auf 5500 Acres hinabsank, und unter der englischen Occn-
pation (1883 bis 1887) wieder ans 20 000 Acres stieg.
Gegenwärtig ist die Fläche auf 4 961 462 Acres zu ver-
anschlagen, und wenn man in Riicksicht zieht, daß ein großer
Theil in jedem Jahre zwei verschiedene Ernten nach einander
liefert, ans 6134 364 Acres. Mit Weizen waren bebaut
ziemlich 11/4 Millionen Acres, mit Klee 940 000, mit
Baumwolle 866 000, mit Bohnen 756 000, mit Mais
684 000, mit Gerste 520 000, und mit anderen Getreide-
arten (Sorghum, Reis rc.) und Hülsensrüchten (Erbsen,
Linsen rc.) 1 126 000. Die Baumwolle, deren Kultur
Mehemed Ali 1821 einführte, erzielte 1821 bis 1830 nur
eine Jahresernte von 139 000 Cantars (a 4472 kg), 1880
bis 1887 aber eine solche von 2 877 000 Cantars, ihr Er-
trag verzwanzigfachte sich also seit jener Zeit. Zucker gewann
man 1883 bis 1887 im Jahresdurchschnitt 950 000 Can-
tars, die starke Depression des Zuckerhandels wurde aber von
dem Lande schwer gefühlt.
Nord- und Mittelamerika.
— Gleich anderen tropischen Insel-Kolonien leidet auch
Santa Lucia momentan unter der Zuckerkrisis, obwohl
man daselbst neben der Rohrzucker-Kultur cmd) Rübenzucker-
Kultur eingeführt hat. Man hat sich deshalb wie ans Tri-
nidad, Tobago rc. neuerdings mehr dem Kakaobau zugewandt,
und wie es scheint mit gutem Erfolge. Die Arbeiten, welche
man auf die Amelioration des Hafens Port Castries ver-
wendet hat, haben die Kolonie sehr mit Schulden belastet,
zugleich aber auch den Verkehr sichtlich vermehrt. Aus-
gezeichnet bewährt sich die botanische Versuchsstation, die man
eingerichtet hat.
Australien und Polynesien.
— Eine „Exploring Party“ unter Führung des Herrn
Jardine hat ans der Pork-Halbinsel südlich von Cape Gren-
ville an der Küste von Temple Bay sehr reiche goldhaltige
Quarzriffe aufgefunden.
Allgemeines.
— In der Münchener Anthropologischen Gesellschaft hielt
Professor Bannet im November d. I. einen Vortrag
über die Vererbung von Verstümmelungen, aus dem
als die Hauptsache hervorzuheben ist, daß seine Untersuchungen
ihn zu denselben negativen Ergebnissen geführt haben, wie wir
sie von Professor Weismann dargelegt haben (Vergl. „Globus"
Bd. 54, S. 188). Auch an Thieren vorgenommene Ver-
stümmelnngen (z. B. conpirte Schwänze) vererben sich nicht.
B ü ch c r s ch a u.
— Johann von Asboth, Bosnien und die Her-
zegowina. Wien 1888. Alfred Hölder. — Ver-
fasser hat den österreichisch-ungarischen Finanzminister v. Kal-
lay vier Jahre hindurch auf seinen Reisen in Bosnien und
der Herzegowina begleitet, und die dadurch gebotene Gelegen-
heit zu sehr vielseitigen Beobachtungen und Studien über das
interessante Land und seine interessanten Bewohner benutzt.
Indem er in dem vorliegenden Werke darüber Rechenschaft
ablegt, wählt er die Form der Reisebeschreibnng, und er thut
damit nach unserer Meinung einen sehr glücklichen Griff. Er
belehrt uns über die Archäologie und Geschichte der beiden
Provinzen, über die natürliche Scenerie und die Kulturphysiog-
nomie ihrer Städte und Straßen, über das Denken und
Treiben ihrer verschiedenen Bevölkerungselemente, über die
wirthschaftlichen Verhältnisse und Aussichten, und zugleich
läßt er uns einen guten Theil des Genusses, den die Krenz-
nnd Querfahrten durch derlei Länder gewähren, nachempfinden.
Die Darstellung ist eine ebenso elegante als lebendige, und
dadurch, daß die Schilderungen durch zahlreiche gut ausge-
führte Illustrationen unterstiitzt werden, sind sie nur um so
wirkungsvoller. Auch die bcigegebenen statistischen Tabellen
und Karten verdienen nach Inhalt wie nach äußerer Er-
scheinung hohes Lob.
Inhalt: Dr. A. Oppel: Typen aus der Steinzeit Neuguineas. (Mit zwei Abbildungen.) — Dr. R. v. Lendenfeld:
Der Krater von Littleton. (Mit zwei Abbildungen.) — H. Schr0eter: Bericht über eine Reise nach Kwang-si. — Kürzere
Mittheilungen: Der Peloponnes. — Der Cook - Archipel. — Aus allen Erdtheilen: Europa. — Asien. — Afrika. — Nord- und
Mittelamerika. — Australien und Polynesien. — Allgemeines. — Bücherschau. — (Schluß der Redaktion am 10. Dezember 1888.)
Redakteur: Dr. E. Deckert in Berlin W., Nürnberger-Straße 2.
Druck und Verlag von Friedrich View eg und Sohn in Braunschwcig.
Illustrile