Wrt besonderer Herürbsrchtrgung der Ethnologie, der KulturberhältnrssL
und des Welthnndels.
Begründet von Karl Andree.
In Verbindung mit Fachmännern herausgegeben von
Dr. Emil Deckert.
Braunschweig
Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstalten ioqa
zum Preise von 12 Mark für den Band zu beziehen.
Ein neuer Beitrag zur Ethnographie der Tscheremissen.
Von P. v. Stettin.
Im Frühling 1888 wurde von der Universität zu
Kasan eine Expedition, bestehend aus den: Professor der
Geschichte I. N. Ssmirnoff, dem Dozenten der finnischen
Dialekte M. P. Weske und dem Kustos des Museums in
Kasan P. W. Traubenberg, zu den Tscheremissen zum
Zwecke ethnographischer und linguistischer Forschung bei
diesem finnischen Volke gesandt. Als Frucht seiner Beob
achtungen veröffentlichte nun Professor Ssmirnoff eine höchst
interessante ethnographische Monographie über die Tschcrc-
missen D, aus welcher wir an dieser Stelle einen kurzen
Auszug geben, um den Lesern dieser Blätter auf das für-
alle Ethnographen gewiß im höchsten Grade wichtige Werk
Ssmirnoff's aufmerksam zu machen. Jetzt bewohnt die
Hauptmasse der Tscheremissen das Gebiet zwischen der
Wolga und der Wsatka; außerdem trifft man Tscheremissen
an der Kama (in den Kreisen Jclübuga und Ssarapul des
Gouvernements Wjatka) und an der Bjelaja und deren
Nebenflüssen (im Kreise Krasnonfimsk des Gouvernements
Perm, und im Kreise Birsk des Gouvernements Ufa).
„Das Gebiet, welches jetzt das Tscheremissenvolk iune hat,
zerfällt in zwei deutlich von einander verschiedene Theile",
sagt Ssmirnoff, „in den kleineren — das sogenannte „Berg-
land " (Nagornaja Stranck) und den größeren — das „Wiesen
land" (Lugowaja Strarm) genannt. Die Nagornaja Strana
nimmt das Territorium im Osten der Ssura ein, und
reicht von Wassilsfursk im Westen bis Jljinka im Osten.
Die Lugowaja Strana wird im Westen von der Wetluga
0 .1. N. Ssmirnoff, Tscberemissy. Istoriko-etnogra-
fitschesky otscherk. Kasan 1889.
Globus LVIII. Nr. 12.
und ihren Zuflüssen Juronga und Usta, im Norden von
der Wjatka, im Osten von der Jlet, einem Zuflusse der
Wolga, und im Süden von der Wolga und der unteren
Kama bis zur Einmündung der Wjatka begrenzt."
Nach Ssmirnoff beträgt die Anzahl der Tscheremissen
312 591, und zwar: im Gouvernement Kasan 100714,
im Gouvernement Nishny Nowgorod 5 460, im Gouverne
ment Kostroma 3000, im Gouvernement Wjatka 133 417
und in den Gouvernements Perm und Ufa etwa 70000.
Das Bergland ist mit unermeßlichen Fichten- und
Tannenwäldern bedeckt und hat einen sehr fruchtbaren
Boden. Das Wicsenland ist sandig. Wie das Land, so
sind auch die Bewohner der beiden Landstriche in ihrem
physischen Habitus und der Art, wie sie ihren Lebensunter
halt bestreiten, verschieden: während die Berg-Tscheremissen
(Gornye) größer, kräftiger und schöner als die Wiesen-
Tscheremissen (Lugowye) sind, und sich mit Ackerbau be
schäftigen, leben die letzteren, in deren Gebieten 70 Proz.
Waldland ist, hauptsächlich von Jagd, und erst in der letzten
Zeit fangen sic an Ackerbau zu treiben.
Einst hausten die Tscheremissen am Unterlaufe der
Oka. Unter dem Einflüsse der verhältnißmäßig hoch civili-
sirten Wolga-Bulgaren wurden die Tscheremissen aber ein
Ackerbau und Viehzucht treibendes Volk und breiteten sich in
dem jetzt von ihnen bewohnten Lande aus. Vom 14. Jahr
hundert an sieht sich das Tscheremissenvolk zwischen zwei
mächtigen Nationen, den Tataren und den Russen, ein
gekeilt. Es hatte nun nur die Wahl zwischen der russischen
und der tatarischen Oberhoheit, und cs entschied sich für
die letztere, weil die Macht des blühenden Tatarenreiches
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